Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.


Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.

»Ich, Alexander Manette, ein unglücklicher Arzt, gebürtig von Beauvais und später seßhaft in Paris, schreibe diesen Jammerbericht in einer schauerlichen Zelle der Bastille während des letzten Monats im Jahre 1767. Ich schreibe daran in verstohlenen Zwischenräumen und unter allen möglichen Erschwernissen. Die Schrift soll in der Kaminwand verborgen werden, in die ich langsam und mühevoll einen Versteck gearbeitet habe; vielleicht findet sie eine mitleidige Hand, wenn ich mit meinem Schmerz in Staub verfallen bin.

Die Worte sind im letzten Monate des zehnten Jahres meiner Gefangenschaft mit einem rostigen Nagel geschrieben und nur mit Mühe hingekritzelt. Als Tinte dienten mir Ruß und Kohle aus dem Kamin, die ich mit meinem Blute mischte. Die Hoffnung ist aus meiner Brust entschwunden. Ich weiß aus den schrecklichen Anzeichen, die ich schon an mir wahrgenommen habe, daß meine Vernunft nicht viel länger standhalten wird, erkläre aber feierlich, daß ich zur Zeit noch im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte bin, daß mein Gedächtnis mir treu ist bis ins einzelne und daß ich die Wahrheit schreibe, wie ich sie vertreten werde vor dem ewigen Richterstuhle, ob nun die Geschichte meiner Leiden je vor Menschenaugen kommen möge oder nicht.

An einem wolkigen, aber doch mondhellen Abend in der dritten Woche des Dezembers 1757 (ich glaube, es war der zweiundzwanzigste dieses Monats) erging ich mich an einem abgelegenen Punkte des Seine-Kais (er war fast eine Stunde von meiner Wohnung in der Straße der medizinischen Schule), um mich in der kalten Luft zu erfrischen. Da kam rasch eine Kutsche hinter mir hergefahren. Während ich in der Furcht, überfahren zu werden, beiseite trat und die Kutsche an mir vorbeilassen wollte, sah ein Kopf zu dem Fenster heraus und gebot dem Kutscher haltzumachen.

Der Mann hielt die Pferde an, und dieselbe Stimme rief nun meinen Namen. Ich antwortete. Der Wagen war so weit über mich hinausgefahren, daß zwei Herren Zeit hatten, den Schlag zu öffnen und auszusteigen, bis ich nachkam. Ich bemerkte, daß beide in Mäntel gehüllt waren und augenscheinlich sich vermummt halten wollten. Während sie Seite an Seite neben der Kutsche standen, bemerkte ich ferner, daß sie ungefähr von meinem Alter, vielleicht etwas jünger waren; auch schienen sie, soweit ich unterscheiden konnte, in Größe, Haltung, Stimme und Gesicht einander sehr ähnlich zu sein.

»Ihr seid der Doktor Manette?« sagte der eine.

»Ja.«

»Doktor Manette, früher in Beauvais«, ergriff der andere das Wort, »der junge Arzt, ursprünglich ein geschickter Chirurg, der in den letzten paar Jahren sich in Paris einen schönen Ruf errungen hat?«

»Meine Herren«, entgegnete ich, »ich bin der Doktor Manette, von dem ihr eine so vorteilhafte Meinung hegt.«

»Wir sind in Eurer Wohnung gewesen«, sagte der erste, »wo wir nicht so glücklich waren, Euch zu treffen. Man sagte uns, Ihr werdet wahrscheinlich in dieser Gegend zu finden sein, und so fuhren wir Euch nach in der Hoffnung, Euch einzuholen. Wollt Ihr so gut sein, in den Wagen zu steigen?«

Das Benehmen der beiden war gebieterisch, und sie nahmen, während sie sprachen, eine Stellung, daß sie mich zwischen sich und den Kutschenschlag brachten; auch führten sie Waffen, während ich unbewehrt war.

»Meine Herren, entschuldigt«, versetzte ich, »aber ich pflege zuerst zu fragen, wer mir die Ehre erweist, meinen Beistand zu suchen, und aus welchem Grunde ich gerufen werde.«

Die Antwort erfolgte aus dem Munde des zweiten Sprechers. »Doktor, Eure Klienten sind Personen von Stand. Was die Beschaffenheit des Falles betrifft, so gibt uns unser Vertrauen in Eure Geschicklichkeit die Versicherung, daß Ihr dies selbst besser werdet beurteilen können, als wir es zu beschreiben vermöchten. Genug. Wollt Ihr so gut sein, einzusteigen?«

Was konnte ich tun? Ich entsprach schweigend der Aufforderung. Die beiden kamen nach, der letzte mit einem Sprung, nachdem er den Tritt hinaufgeschlagen hatte; der Wagen wandte um und fuhr mit der früheren Eile von hinnen.

Ich wiederhole dieses Gespräch genau so, wie es stattgefunden hat, und zweifle nicht daran, daß ich es Wort für Wort wiedergegeben habe. Was vorgefallen ist, zeichne ich mit der größten Genauigkeit auf, und ich gebe mir angelegentlich Mühe, meinen Geist nicht von den Tatsachen abschweifen zu lassen. Wenn ich solche abgebrochenen Bemerkungen mache, so höre ich für den Augenblick auf und verwahre mein Papier in seinem Versteck.

Der Wagen verließ die Stadt an der Nordbarriere und fuhr auf der Landstraße weiter. Dreiviertel Stunden von der Barriere ich schätzte die Entfernung damals nicht, sondern erst später, als ich sie wieder zurücklegte lenkten wir von dem Hauptwege ab und machten bald vor einem einsamen Hause halt. Wir stiegen alle drei aus und gingen auf einem feuchten weichen Fußpfade durch einen Garten, in dem ein vernachlässigtes Springbrunnenbecken übergelaufen war, nach der Haustür. Sie wurde auf das Klingeln nicht sogleich geöffnet, und einer von meinen beiden Führern schlug den Mann, der endlich aufmachte, mit der Reitpeitsche über das Gesicht.

Es lag nichts in dieser Handlung, was mir besonders auffallen konnte, denn es war an der Tagesordnung, daß man einfache Leute ärger als Hunde behandelte. Der andere von den beiden, der auch zornig war, schlug den Mann in gleicher Weise mit der Hand; der Blick und die Haltung der Brüder zeigte bei jener Gelegenheit eine so große Ähnlichkeit, daß ich jetzt zum erstenmal bemerkte, sie seien Zwillingsbrüder.

Von der Zeit unseres Aussteigens am äußeren Tor an, das wir verschlossen gefunden und das von einem der Brüder geöffnet und wieder geschlossen wurde, hatte ich von einem oberen Gemach her schreien hören. Man führte mich geradewegs nach diesem Zimmer; das Geschrei wurde beim Hinaufsteigen immer lauter, und ich fand einen Patienten, der an einem Fieber mit heftigen Phantasiedelirien darniederlag.

Der Patient war ein junges Frauenzimmer von großer Schönheit, augenscheinlich nicht viel über zwanzig. Sie hatte ein wild zerrauftes Haar, und die Arme waren ihr mit Schärpen und Taschentüchern an den Leib gebunden. Ich bemerkte, daß diese Bande lauter Stücke von einem Herrenanzug waren. An einem derselben, einer Galaschärpe mit Fransen, sah ich das Wappen eines Adeligen und den Buchstaben E.

Dies war mir schon in der ersten Minute meiner Krankenuntersuchung aufgefallen; denn bei ihrem unruhigen Umherwerfen hatte die Patientin das Gesicht über den Rand des Bettes hinausgebracht und das Schärpenende im Munde nachgezogen, so daß sie zu ersticken drohte. Ich sorgte zuerst dafür, ihren Atem zu befreien, und als ich die Schärpe beiseite zog, fiel sogleich die Stickerei in der Ecke auf.

Ich rückte sie sanft ins Bett zurück, legte, um sie zu beruhigen und niederzuhalten, meine Hände auf ihre Brust und sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen traten wild aus ihren Höhlen hervor, und sie schrie ohne Unterlaß in durchbohrenden Lauten, wobei sie häufig die Worte wiederholte: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder! Dann zählte sie bis zwölf und sagte: Pst! Sie lauschte einen Augenblick, und dann kam das zeternde Geschrei wieder, der Ruf: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder‘, das Zählen und das Pst! So ging es fort ohne eine Abwechslung in der Art oder Ordnung kein Nachlassen als die regelmäßige augenblickliche Pause, ehe das Geschrei wieder von neuem anfing. ›Wie lange dauert dies schon?‹ fragte ich.

Um die Brüder zu unterscheiden, will ich den einen den Älteren und den andern den Jüngeren nennen; unter dem Älteren meine ich den, der die meiste Autorität übte. Dieser antwortete denn auch:

›Seit gestern abend um diese Zeit.‹

›Sie hat einen Mann, einen Vater und einen Bruder?‹

›Einen Bruder.‹

›Spreche ich vielleicht mit ihm?‹

Die Antwort war ein verächtliches Nein.

›Was hat sie in letzter Zeit mit der Zahl zwölf zu schaffen gehabt?

›Mit der Zahl zwölf? erwiderte ungeduldig der jüngere Bruder.

›Ihr seht, meine Herren‹, sagte ich, ohne meine Hände von der Brust der Kranken zu entfernen, wie nutzlos ich bin, nun ihr mich hierhergebracht habt. Hätte ich gewußt, um was sich’s handelt, so hätte ich mich vorsehen können; wie es aber jetzt steht, geht viele Zeit verloren. An diesem einsamen Platz sind keine Arzneien zu haben.

Der ältere Bruder sah den jüngeren an, der stolz erwiderte, es sei eine Hausapotheke hier. Er holte sie aus einem Kabinett herbei und stellte das Kistchen auf den Tisch.

Ich öffnete einige von den Flaschen, roch daran und brachte die Stöpsel an meine Lippen. Ich würde nichts davon in Verwendung genommen haben, wenn ich nicht einige narkotische Mittel gebraucht hätte, die ohnehin giftig sind.

›Traut Ihr ihnen nicht?‹ fragte der jüngere Bruder.

›Ihr seht, mein Herr, daß ich sie anzuwenden im Begriff bin, entgegnete ich, ohne etwas Weiteres beizufügen.

Mit Mühe gelang es mir endlich, die Kranke zu bewegen, daß sie die Dosis verschluckte, die ich ihr zu geben wünschte. Da ich sie nach einer Weile zu wiederholen beabsichtigte und es nötig war, ihre Wirkung zu beobachten, so setzte ich mich neben dem Bette nieder. Im Zimmer befand sich eine stille schüchterne Frauensperson, das Weib des unten wohnenden Mannes, die sich in eine Ecke zurückgezogen hatte. Das Haus war feucht und baufällig, ganz gewöhnlich möbliert und augenscheinlich erst seit neuerer Zeit bewohnt. Man hatte einige alte dicke Behänge vor die Fenster genagelt, um das Geschrei zu dämpfen. Letzteres währte im regelmäßigen Wechsel mit dem Rufe: Mein Mann, mein Vater und mein Bruder, dem Zwölfzählen und dem darauf folgenden Pst fort. Das Phantasieren war so ungestüm, daß ich die Bande um die Arme nicht entfernen mochte, obschon ich Sorge dafür trug, daß sie ihr nicht weh taten. Den einzigen Funken von Hoffnung sah ich in dem Umstand, daß meine Hand, die ich auf der Brust der Kranken ruhen ließ, auf diese einen beschwichtigenden Einfluß übte und für Minuten wenigstens das wilde Umherwerfen bändigte. Das Schreien aber machte ungestört fort; kein Pendel hätte regelmäßiger sein können. Da, wie ich vermutete, meine Hand eine so günstige Wirkung übte, so blieb ich wohl eine halbe Stunde an dem Bette sitzen, während die beiden Brüder zusahen. Endlich sagte der ältere:

›Es ist noch ein Patient da.‹

Ich wurde betroffen und fragte, ob es ein dringlicher Fall sei.

›Es wird am besten sein, wenn Ihr selbst nachseht‹, antwortete er gleichgültig, indem er ein Licht aufnahm. *****

Der andere Patient lag eine Treppe höher in einer Hinterstube, und ich wurde dahin durch eine Art Bühne über dem Stall geführt, die teilweise eine niedrige gegipste Decke hatte, während seitlich sich das Ziegeldach mit seinem Sparren- und Balkenwerk anlegte. Es lag Heu und Stroh, auch Reisig hier aufgehäuft; desgleichen bemerkte ich einen Haufen Äpfel auf Sand. Ich mußte über diesen Teil der Bühne gehen, um zu dem andern zu gelangen. Mein Gedächtnis ist nicht erschüttert und erinnert sich der kleinsten Umstände; ich ersehe dies daran, daß hier in der Bastille, in meiner Zelle, nach fast zehnjähriger Gefangenschaft alle jene Einzelheiten noch so deutlich vor mir stehen, wie ich sie an jenem Abend sah.

Auf einem am Boden ausgebreiteten Heuhaufen lag, ein Kissen unter dem Kopf, ein schöner Bauernbursche, der höchstens siebzehn Jahre zählen mochte. Er lag auf dem Rücken, seine Zähne waren verbissen, die Rechte hielt er fest an seine Brust gedrückt, und seine wild funkelnden Augen starrten nach der Decke hinauf. Als ich mich neben ihm aufs Knie niederließ, konnte ich nicht sehen, wo er verletzt war; so viel aber wurde mir klar, daß er an einer Stichwunde rasch dahinstarb.

›Ich bin ein Arzt, mein armer Bursche‹, sagte ich zu ihm; ›laß mich dich untersuchen.

›Brauche keine Untersuchung‹, antwortete er. ›Laßt’s nur gehen.

Die Wunde befand sich unter seiner Hand, und ich brachte ihn so weit, daß er mich sie wegnehmen ließ. Die Verletzung rührte von einem Degenstoße her, den er vor etwa zwanzig oder vierundzwanzig Stunden empfangen haben mochte. Aber keine Geschicklichkeit hätte ihn retten können, selbst wenn augenblicklich Hilfe aufgeboten worden wäre. Er lag im Sterben. Als ich meine Blicke dem älteren Bruder zuwandte, der mich heraufbegleitet hatte, bemerkte ich, daß er auf den schönen Jungen, der so bald von dem Leben scheiden sollte, niederschaute, als sei derselbe nur ein verwundeter Vogel, ein Hase oder ein Kaninchen, nicht aber ein Mitmensch.

›Wie ging dies zu, Herr?‹ fragte ich.

›Ein verrückter, gemeiner junger Hund! Ein Leibeigener! Zwang meinen Bruder, gegen ihn zu ziehen, und fiel durch meines Bruders Degen wie ein Kavalier.

Es lag keine Spur von Mitleid, Bedauern oder einem verwandten menschlichen Gefühl in dieser Antwort. Der Sprecher schien nur anzuerkennen, daß es unbequem sei, wenn diese ganz andere Art von Wesen hier ende, und es viel besser sein würde, wenn er in der gewöhnlichen dunkeln Weise seines Wurmlebens hinstürbe. Einer Teilnahme für den Knaben oder sein Schicksal war er ganz unfähig. Während er sprach, hatten sich die Augen des jungen Menschen langsam auf ihn geheftet; dann aber wandten sie sich mir zu.

›Doktor, sie sind sehr stolz, diese Adligen; aber wir gemeinen Hunde sind bisweilen auch stolz. Sie plündern und beschimpfen uns, schlagen uns und bringen uns um; aber mitunter regt sich doch ein bißchen Ehrgefühl in uns. Sie Ihr habt sie gesehen, Doktor?

Das Geschrei war auch hier hörbar, obschon durch die Entfernung gedämpft; er bezog sich darauf, als ob die Kranke mit im Zimmer liege.

Ich antwortete ihm, daß ich sie gesehen habe.

›Sie ist meine Schwester. Diese Adligen haben ein verjährtes schändliches Recht auf die Zucht und die Tugend unserer Schwestern; aber es gibt auch wackere Mädchen unter uns. Ich weiß es und habe meinen Vater davon sprechen hören. Sie war ein braves Mädchen. Sie heiratete einen braven jungen Mann einen Grundholden 3 von ihm. Wir sind lauter Leibeigene dieses Mannes da, der hier steht. Der andere ist sein Bruder, der schlimmste aus einer schlimmen Sippschaft.

Der junge Mensch brachte nur mit Mühe die Worte hervor, da es ihm an körperlicher Kraft gebrach; aber sein Geist sprach mit einem furchtbaren Nachdruck.

›Wir sind diesen höheren Wesen gegenüber nur gemeine Hunde, und der Mann, der hier steht, beraubte uns nach Belieben, besteuerte uns ohne Erbarmen und zwang uns, für ihn zu arbeiten ohne Lohn; wir mußten Korn auf seiner Mühle mahlen, seine zahmen Vögel in Scharen auf unsern ärmlichen Feldern ernähren und durften unter Todesbedrohung keinen einzigen zahmen Vogel selbst halten. Dem Raub und der Plünderung in aller Weise ausgesetzt, aßen wir den Bissen Fleisch, den wir zufällig erhielten, hinter verschlossenen Türen und Läden, aus Furcht, seine Leute könnten ihn sehen und uns wegnehmen. Ja, so sehr sind wir armen Leute Bedrängnissen aller Art ausgesetzt, daß unser Vater uns sagte, es sei etwas Schreckliches, wenn uns ein Kind geboren werde, und wir sollen hauptsächlich darum beten, daß unsere Weiber unfruchtbar bleiben und unser armseliges Geschlecht aussterbe.

Ich hatte nie zuvor das Gefühl der Bedrückung in so heller Lohe aufflackern sehen. Wohl dachte ich mir, es müsse irgendwo im verborgenen glühen; aber zur Anschauung kam es mir nie, bis ich jenen sterbenden Knaben sah.

›Gleichwohl heiratete meine Schwester, Doktor. Ihr Liebhaber war um jene Zeit krank, und sie heiratete den armen Burschen, um ihn gemächlich in unserer Hütte unserm Hundestall, wie sie dieser Mann nennt pflegen zu können. Sie war noch nicht viele Wochen verheiratet, als der Bruder dieses Mannes sie sah, einen Gefallen an ihr fand und von diesem Mann verlangte, daß er sie ihm borge denn was gelten Ehemänner unter uns? Er war krank und schwach; aber meine Schwester war brav und tugendhaft und haßte seinen Bruder mit ebenso bitterem Haß wie ich. Was taten nun die zwei, um ihren Mann zu überreden, daß er seinen Einfluß auf sie übe und sie willig mache?

Die Augen des jungen Menschen, die bisher auf mir gehaftet hatten, wandten sich nun langsam dem Zuschauer zu, und ich las in den beiden Gesichtern, daß die Wahrheit gesprochen worden war. Ich kann mir selbst in der Bastille noch die verschiedenen Arten von Stolz vergegenwärtigen, die sich hier begegneten der Herr voll nachlässiger Gleichgültigkeit, der Bauer mit seinen in den Staub getretenen Gefühlen voll leidenschaftlicher Rachsucht.

›Ihr wißt, Doktor, daß es zu den Rechten dieser Adligen gehört, uns gemeine Hunde in den Karren zu spannen und auf uns loszupeitschen. Sie spannten ihn ein und ließen ihn die Peitsche fühlen. Ihr wißt, daß sie das Recht haben, uns die ganze Nacht durch auf ihren Feldern festzuhalten, wo wir die Frösche zum Schweigen bringen müssen, damit ihr edler Schlaf nicht gestört werde. Sie schickten ihn nachts hinaus in den ungesunden Nebel und ließen ihn bei Tag im Karren ziehen. Er wollte sich aber nicht bereden lassen. Nein! Eines Mittags aus dem Geschirr genommen, um sich abzufüttern, wenn er anders Nahrung finden konnte, schluchzte er zwölfmal einmal bei jedem Schlag der Glocke und starb an ihrer Brust.

(Kein menschliches Mittel hätte den armen Jungen so lange am Leben erhalten können; aber der Wunsch, all das erlittene Unrecht zu offenbaren, hielt ihn aufrecht. Er drängte die nahenden Schatten des Todes zurück, wie er seine Faust zwang, zusammengeballt zu bleiben und seine Wunde zu decken.)

›Dann nahm mit Erlaubnis und unter Beihilfe dieses Mannes sein Bruder sie weg trotz dem, was sie, wie ich weiß, seinem Bruder gesagt haben muß und was Euch nicht lange unbekannt bleiben wird, wenn Ihr nicht etwa jetzt schon davon Kunde habt nahm sein Bruder sie weg auf eine kurze Weile zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. Ich sah sie auf der Straße an mir vorbeikommen. Als ich mit der Nachricht zu Hause anlangte, brach unserm Vater das Herz. Er vermochte nicht mehr zu sprechen, wie schwer ihm die Worte auch auf der Seele lagen. Ich schaffte meine jüngere Schwester (denn ich hatte noch eine) nach einem Platz, wo ihr dieser Mann nicht mehr beikommen kann; sie wenigstens wird nimmer seine Leibeigene sein. Dann folgte ich seinem Bruder hierher und kletterte gestern nacht herein wohl ein gemeiner Hund, aber mit einem Säbel in der Hand. Wo ist das Bühnenfenster? Es war hier irgendwo.

Das Gemach verdunkelte sich vor seinen Blicken: die Welt schloß sich immer enger vor ihm ab. Ich schaute umher und bemerkte, daß das Heu und Stroh in einer Weise niedergetreten war, als habe hier ein Kampf stattgefunden.

›Sie hörte mich und kam herbei. Ich sagte ihr, sie solle sich fernhalten, bis er tot sei. Er kam herein und warf mir anfangs einige Geldstücke zu; dann schlug er mich mit einer Peitsche. Aber ich, obschon ein gemeiner Hund, drang dermaßen auf ihn ein, daß er vom Leder zog. Mag er den Degen, den er mit meinem gemeinen Blut befleckte, in so viele Stücke zerbrechen, wie er will; er zog ihn, sich zu verteidigen, und brauchte alle seine Geschicklichkeit, um sein Leben zu schirmen.

(Mein Blick war einige Augenblicke vorher auf die Teile eines zerbrochenen Edelmannsdegens gefallen, die auf dem Heu lagen. An einer andern Stelle bemerkte ich einen alten Säbel, der einem Soldaten gehört haben mochte.)

›Helft mir auf, Doktor; helft mir auf. Wo ist er?‹

›Er ist nicht hier‹, sagte ich, den Knaben unterstützend, in der Meinung, daß seine Frage sich auf den Bruder beziehe.

›Ha! So stolz diese Adligen sind, fürchtet er sich doch, mich zu sehen. Wo ist der Mann, der hier war? Wendet mein Gesicht gegen ihn.

Ich tat so, indem ich den Kopf des Knaben mit meinem Knie unterstützte. Aber er fühlte für einen Augenblick eine außerordentliche Kraft und richtete sich vollständig auf, so daß auch ich mich erheben mußte, wenn ich ihn nicht ganz sich selbst überlassen wollte.

›Marquis‹, sagte der Knabe, die großen Augen auf ihn gerichtet und die Rechte erhoben, es kommt ein Tag, an dem für alle diese Dinge Rechenschaft abgelegt werden muß, und ich lade dann Euch bis auf den letzten Eures schändlichen Geschlechtes vor. Rede zu stehen für Eure Untaten. Und für die Tage, da Rechenschaft abgelegt werden muß für alle diese Dinge, lade ich Euren Bruder vor, den schlimmsten eures schlimmen Geschlechtes, daß er noch besonders sich dafür verantworte. Ich mache mit meinem Blut das Kreuz über ihn zum Zeichen, daß ich ihn vor Gottes Gericht verklagt habe.

Er langte zweimal mit der Hand in seine Brustwunde und machte mit dem Zeigefinger ein Kreuz in die Luft. So blieb er mit ausgestrecktem Finger noch einen Augenblick stehen; und als die Hand sank, brach auch er zusammen. Ich legte ihn tot auf die Streu nieder.

*

Als ich an das Lager des jungen Weibes zurückkehrte, fand ich sie ganz in ihrem alten Zustand. Ich wußte, daß dieses Rasen noch viele Stunden anhalten konnte und wahrscheinlich nur mit der Stille des Grabes endigte.

Ich gab ihr wieder Arznei und blieb bis tief in die Nacht hinein neben ihr sitzen. Das Geschrei war so durchbohrend wie immer, und auch in der Bestimmtheit und in der Ordnung der Worte trat kein Wechsel ein. Sie lauteten stetig: ›Mein Mann, mein Vater und mein Bruder! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf. Pst!

Dies währte von der Zeit meiner ersten Ankunft an sechsundzwanzig Stunden. Ich hatte mich zweimal entfernt, war wiedergekommen und saß neben ihr, als sie zu stottern begann. Ich tat das wenige, was sich tun ließ, um dieses Ermatten der Delirien zu unterstützen, und allmählich versank sie in eine Schlafsucht, in der sie wie eine Tote dalag.

Es war, als habe nach einem langen und furchtbaren Ungewitter der Sturm und der Regen endlich nachgelassen. Ich machte ihre Arme los und rief die Frau im Hause herbei, daß sie mir helfe, den Körper und die zerrissenen Kleider der Kranken in Ordnung zu bringen. Nun entdeckte ich erst, daß sich mit ihrem Zustand die Merkmale der werdenden Mutterschaft verbanden, und die kleine Hoffnung, die ich für die Kranke hegte, schwand mit dieser Wahrnehmung vollends.

›Ist sie tot?‹ fragte der Marquis, den ich noch immer als den älteren Bruder bezeichnen will, als er von einem Ausritt zurück gestiefelt in das Zimmer kam.

›Nicht tot, aber im Sterben‹, versetzte ich.

›Welche Kraft doch in diesen gemeinen Leibern liegt!‹ sagte er, wie mit Neugier auf sie niederschauend.

›Allerdings liegt eine wunderbare Kraft im Schmerz und in der Verzweiflung‹, entgegnete ich.

Anfangs lachte er über meine Worte; dann aber machte er ein finsteres Gesicht. Er rückte mit seinem Fuß einen Stuhl in die Nähe des meinigen, hieß dann die Frau fortgehen und sprach mit gedämpfter Stimme:

›Doktor, als ich fand, daß mein Bruder mit diesem Pack in Ungelegenheit gekommen war, forderte ich, daß man Euren Beistand aufbiete. Ihr habt einen Ruf und könnt es als junger Mann zu etwas bringen, wenn Ihr auf Euer Interesse Bedacht nehmt. Dinge, wie Ihr sie hier gesehen habt, sieht man, ohne davon zu sprechen.

Ich hörte auf den Atem der Patientin und umging so eine Antwort.

›Erweist Ihr mir die Ehre Eurer Aufmerksamkeit, Doktor?‹

›Monsieur‹, erwiderte ich, ›in meinem Beruf stehen die Mitteilungen von Patienten stets unter dem Siegel des Vertrauens.‹ Ich war vorsichtig in meiner Antwort; denn was ich gesehen und gehört, hatte meinen Geist tief erschüttert.

Ihr Atem ging so unmerklich, daß ich sorgfältig ihren Puls und Herzschlag untersuchte. Leben war noch da, aber kaum fühlbar. Als ich meinen Sitz wieder einnahm und mich umsah, bemerkte ich, daß die Brüder kein Auge von mir verwandten.

*

Das Schreiben wird mir schwer. Es ist so kalt, und eine Entdeckung würde mich einer unterirdischen Zelle und gänzlicher Finsternis überantworten. Ich muß daher aus Furcht vor diesem Schicksal meine Erzählung abkürzen. Mein Gedächtnis ist treu und frei von aller Verwirrung; ich kann mir jedes Wort, das zwischen mir und diesen Brüdern fiel, mit allen Einzelheiten vergegenwärtigen.

Sie trieb es noch eine Woche. Gegen das Ende konnte ich einige Silben, die sie zu mir sagte, verstehen, wenn ich mein Ohr dicht an ihre Lippen hielt. Sie fragte mich, wo sie sei – ich sagte es ihr, – wer ich wäre: auch darüber gab ich ihr Auskunft. Vergeblich erkundigte ich mich nach ihrem Familiennamen; sie schüttelte matt den Kopf auf ihrem Kissen und bewahrte ihr Geheimnis, wie es der Knabe getan hatte.

Ich fand keine Gelegenheit, ihr Fragen vorzulegen, bis ich den Brüdern sagte, daß es rasch mit ihr zu Ende gehe und sie keinen Tag mehr leben werde. Bis dahin hatte, wenn ich da war, stets einer von ihnen argwöhnisch hinter dem Vorhang zu den Häupten des Bettes gesessen, ohne sich übrigens der Kranken bemerklich zu machen, die nur von meiner und der Frau Anwesenheit Kunde hatte. Nachdem es so weit gekommen war, schien es ihnen gleichgültig zu werden, was sie mir sagen mochte, als ob sie der Gedanke ging mir durch den Sinn auch mich zu den Sterbenden zählten.

Ich bemerkte stets, wie bitter empfindlich es ihr Stolz nahm, wenn es ruchbar werden sollte, daß der jüngere Bruder, wie ich ihn nenne, seinen Degen mit einem Bauern, der noch obendrein nur ein Knabe war, gekreuzt habe. Das Lächerliche und für die Familie Herabwürdigende dieses Vorfalls schien allein für sie von Gewicht zu sein. Ich begegnete oft den Augen des jüngeren Bruders und las darin tiefen Widerwillen gegen mich, weil er wußte, was der junge Mensch in meiner Gegenwart gesprochen hatte. Dies entging mir nicht, obschon er sich glatter und höflicher gegen mich benahm als der ältere. Aber auch dieser sah in mir unverkennbar eine Last.

Meine Kranke starb zwei Stunden vor Mitternacht – meiner Uhr nach fast in derselben Minute, in der ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ich war allein bei ihr, als das unglückliche junge Wesen sanft an meiner Seite niedersank und all ihr Erdenleiden ein Ende nahm.

Die beiden Brüder warteten in einem unteren Zimmer ungeduldig, da sie fortreiten wollten. Ich hatte, während ich neben der Sterbenden saß, gehört, wie sie mit ihren Reitpeitschen an ihre Stiefel schlugen und im Zimmer auf und ab gingen.

»Ist sie endlich tot?« fragte der ältere, als ich zu ihnen kam.

»Sie ist tot«, lautete meine Antwort.

»Ich gratuliere dir, Bruder«, sagte er und wandte sich um.

Er hatte mir schon früher Geld angeboten, das ich vorläufig ablehnte. Jetzt gab er mir eine Rolle mit Gold. Ich nahm sie und legte sie auf den Tisch. Nach reiflicher Erwägung des Falles war ich mit mir eins geworden, nichts anzunehmen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte ich. »Unter solchen Umständen, nein.«

Sie sahen einander an, verbeugten sich aber gegen mich, als ich ihnen mein Kompliment machte, und wir schieden, ohne ein weiteres Wort zu wechseln.

*

Ich bin müde, müde, müde aufgerieben von meinem Elend. Ich kann nicht lesen, was ich mit dieser abgezehrten Hand geschrieben habe.

Am andern Morgen früh wurde die Goldrolle, die in ein Kistchen verpackt und an mich überschrieben war, an meiner Tür abgegeben. Ich hatte von Anfang an ängstlich bei mir erwogen, was ich in dieser Angelegenheit zu tun habe. Jetzt entschied ich mich dafür, privatim an den Minister zu schreiben, ihn über die beiden Fälle, die mir zur Kunde gekommen waren, zu unterrichten und ihm den ganzen Hergang zu melden. Wohl kannte ich den Hofeinfluß und die Vorrechte des Adels und erwartete davon nichts anderes, als daß die Sache vertuscht bleiben werde; aber ich wünschte, mein Gewissen zu erleichtern. Im übrigen bewahrte ich die Vorgänge als tiefes Geheimnis, selbst vor meiner Frau, und ich beschloß, dies in meinem Schreiben an den Minister anzuführen. Für mich selbst fürchtete ich keine wirkliche Gefahr, wohl aber für andere, wenn diese wußten, was ich wußte, und sich eine Blöße gaben.

Ich war an jenem Tag sehr beschäftigt und konnte mein Schreiben an jenem Abend nicht zu Ende bringen, weshalb ich am andern Morgen zu diesem Ende viel früher als gewöhnlich aufstand. Es war der letzte Tag des Jahres. Ich hatte eben die Feder niedergelegt, als mir angezeigt wurde, daß eine Dame warte und mich zu sprechen wünsche.

Ich werde mehr und mehr unfähig für die Aufgabe, die ich mir vorgesteckt habe. Es ist so kalt, so dunkel, die Sinne versagen mir, und ein schreckliches Düster umfängt mich.

Die Dame war jung und angenehm, aber augenscheinlich nicht für ein langes Leben bestimmt. Sie befand sich in einer großen Aufregung. Sie stellte sich mir als Gattin des Marquis St. Evrémonde vor. Ich brachte diesen Namen mit dem Titel, mit dem der Knabe den älteren Bruder angeredet, und mit dem gestickten Anfangsbuchstaben auf der Schärpe in Verbindung und zog daraus mit Leichtigkeit den Schluß, daß ich in letzter Zeit mit diesem Edelmann zu tun gehabt hatte.

Mein Gedächtnis ist noch genau, aber ich kann die Worte unseres Gesprächs nicht niederschreiben. Ich vermute, daß ich schärfer bewacht werde als früher, und bin keinen Augenblick vor einem Überfall sicher. Sie hatte die Hauptzüge der traurigen Geschichte, bei der ihr Mann beteiligt und mein Beistand aufgeboten worden war, zum Teil geargwöhnt, zum Teil entdeckt, wußte aber nicht, daß das arme Opfer tot war. Sie habe gehofft, sagte sie in großer Betrübnis, der Unglücklichen insgeheim weibliche Sympathie zuteil werden zu lassen und so den Zorn des Himmels von einem Hause abzuwenden, auf dem der Fluch so vieler Leidenden lastete.

Sie habe Grund zu glauben, daß noch eine jüngere Schwester am Leben sei, und es sei ihr sehnlichster Wunsch, ihr hilfreiche Handreichung zu tun. Ich konnte ihr keine andere Auskunft geben, als daß es mit dem Vorhandensein einer Schwester seine Richtigkeit habe; weiter wisse ich aber nichts von ihr. Die Dame war voll Vertrauen zu mir gekommen, in der Meinung, ich könne ihr den Namen und Aufenthalt der Verschwundenen angeben; aber bis auf diese Unglücksstunde habe ich weder von dem einen noch von dem andern etwas erfahren.

Es fehlen mir einige Papierstreifen. Der eine wurde mir gestern mit einer Verwarnung abgenommen. Ich muß meinen Bericht heute zu Ende bringen.

Sie war eine gute, mitleidige Frau und in ihrer Ehe nicht glücklich. Wie wäre dies möglich gewesen? Der Schwager traute ihr nicht, haßte sie und trat ihr mit seinem Einfluß überall entgegen; sie aber fürchtete ihn und ihren Mann. Als ich sie nach ihrem Wagen hinunterbegleitete, sah ich darin ein Kind, einen hübschen Knaben von zwei oder drei Jahren.

›Um seinetwillen, Doktor‹, sagte sie, mit Tränen auf den Knaben deutend, möchte ich so gern alles tun, was in meinen schwachen Kräften liegt, um für das Geschehene eine Sühne zu leisten. Sein Erbe wird ihm sonst nie Glück bringen. Ich habe eine Ahnung, daß, wenn nicht eine andere Genugtuung für diese Tat geleistet wird, er eines Tages dafür einzustehen hat. Was ich ihm einmal als mein Eigentum hinterlassen kann es ist außer einigen Juwelen von geringem Wert , soll er, ich lege es ihm als erste Lebensaufgabe ans Herz, um seiner armen Mutter willen dieser schwergekränkten Familie zuwenden, wenn sich die Schwester auffinden läßt.

Sie küßte den Knaben und sagte liebkosend zu ihm: Du tust’s auch zu deinem eigenen Besten. Nicht wahr, du willst mir Wort halten, kleiner Charles? Das Kind antwortete mit einem herzhaften Ja. Ich küßte ihr die Hand. Sie nahm den Knaben in die Arme, und während sie ihn liebkoste, fuhr der Wagen von hinnen. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Sie hatte mir den Namen ihres Gatten genannt, in der Meinung, daß ich ihn bereits kenne. Ich wollte ihn gleichwohl in meinem Schreiben nicht berühren, sondern siegelte es, wie es war, und gab es, da ich es keinen andern Händen anvertrauen mochte, im Laufe des Tages persönlich ab.

Denselben Abend (es war der letzte im Jahr) gegen neun Uhr läutete ein schwarzgekleideter Mann an meiner Tür, verlangte mich zu sprechen und folgte leise meinem Diener Ernst Defarge, einem jungen Menschen, die Treppe hinauf. Als der Diener in das Zimmer trat, in dem ich mit meiner Frau saß o, Geliebte meines Herzens, mein junges, schönes engelhaftes Weib! , sahen wir den Mann, den wir an der Haustür vermuteten, schweigend hinter ihm stehen.

Ein dringlicher Fall in der Straße St. Honoré, sagte er. Ich werde nicht lange aufgehalten werden: er habe eine Kutsche bei sich.

Sie brachte mich hierher, brachte mich zu meinem Grabe. Ich hatte kaum meine Wohnung verlassen, als man mir einen Knebel dicht über dem Mund zusammenzog und meine Arme band. Die beiden Brüder kamen aus einem dunkeln Winkel hervor über die Straße herüber und bezeichneten mich mit einer einfachen Gebärde als die rechte Person. Der Marquis nahm den von mir geschriebenen Brief aus seiner Tasche, zeigte ihn mir, verbrannte ihn an dem Licht einer Laterne, die man ihm vorhielt, und zertrat die Asche mit seinen Füßen. Kein Wort wurde gesprochen. Man brachte mich hierher und versenkte mich lebendig in mein Grab.

Hätte es Gott gefallen, im Laufe dieser schrecklichen Jahre es einem der Brüder ins Herz zu legen, daß sie mir Kunde von meinem teuren Weibe zugehen ließen oder mich nur mit einem Wort von ihrem Leben oder Tod unterrichteten, so würde ich geglaubt haben, er habe sie nicht ganz verworfen. Jetzt aber lebe ich der Überzeugung, daß das Zeichen des roten Kreuzes ihnen zum Verderben gereichte und sie keinen Anteil haben an seinem Erbarmen. Sie und ihre Abkömmlinge bis zum letzten ihres Geschlechts lade ich, der unglückliche Gefangene Alexander Manette, in meinem namenlosen Jammer am letzten Abend des Jahres 1767 vor den Richterstuhl, der solche Taten richten wird. Ich klage sie an vor dem Himmel und vor der Erde.«

Ein schreckliches Getümmel erhob sich, als die Vorlesung dieses Dokumentes zu Ende war. Ein gleichmäßiges hungriges Geschrei, in dem kein artikulierter Laut als das Wort Blut sich unterscheiden ließ. Die Erzählung hatte die rachgierigsten Leidenschaften der Zeit heraufbeschworen, und in dem ganzen Volk gab es kein Haupt, das nicht einer solchen Anklage gegenüber hätte fallen müssen.

Einem solchen Tribunal und einer solchen Zuhörerschaft gegenüber war es überflüssig, zu zeigen, daß die Defarges die Schrift nicht mit den andern in der Bastille eroberten Denkschriften, die in Prozession herumgetragen wurden, veröffentlicht, sondern für sich behalten hatten, um eine günstige Zeit abzuwarten … Und wozu ferner nachweisen, daß der Name jener verabscheuten Familie längst in St. Antoine mit Fluch beladen und in die verhängnisvollen Register eingetragen war? Es hat nie einen Menschen gegeben, der trotz aller möglichen Vorzüge und Verdienste einen Schutz gefunden hätte gegen eine solche Anklage zu solcher Zeit und an einem solchen Platze.

Und was das Schlimmste für den unglücklichen Gefangenen, der Ankläger war ein wohlbekannter Bürger, ein ihm treu anhängender Freund, der Vater seines Weibes. Zur wahnsinnigen Sucht des großen Haufens gehörte auch die affektierte Nachahmung der zweifelhaften öffentlichen Tugenden des Altertums und das Verlangen nach Opfern und Selbstaufopferungen auf dem Altar des Volkes. Als daher der Präsident sagte (er mußte es tun, wenn ihm nicht der eigene Kopf auf seinen Schultern wackeln sollte), der gute republikanische Arzt werde sich noch mehr um die Republik verdient machen durch Ausrottung einer gemeinschädlichen Aristokratenfamilie und ohne Zweifel eine heilige Wonne darin fühlen, seine Tochter zur Witwe und ihr Kind zu einer Waise zu machen, da wallte die patriotische Glut in wilder Erregung auf und erstickte jeden Hauch menschlicher Teilnahme.

»Der Doktor hat vielen Einfluß«, murmelte Madame Defarge, der Rache zulächelnd. »Rett‘ ihn jetzt, Doktor; rett‘ ihn!«

Nach jeder Abstimmung eines Geschworenen erscholl ein Gebrüll. Wieder eine, wieder eine. Gebrüll und Gebrüll.

Einstimmig verurteilt. Im Herzen und von Herkunft ein Aristokrat, ein Feind der Republik, ein berüchtigter Bedrücker des Volkes. Zurück nach der Conciergerie und Tod binnen vierundzwanzig Stunden!

  1. Freie, aber zur Fron verpflichtete Gutsinsassen.

Elftes Kapitel. Dämmerung.


Elftes Kapitel. Dämmerung.

Das unglückliche Weib des unschuldig zum Tode verurteilten Mannes brach bei diesem Urteilsspruch zusammen, als sei sie selbst vom Todesstoß betroffen. Aber sie ließ keinen Laut erschallen, und die innere Stimme, die ihr vorstellte, daß in der ganzen Welt sie allein ihn in seinem Elend aufrechterhalten müsse und es nicht noch vergrößern dürfe, sprach so laut in ihr, daß sie sich rasch auch von diesem Schlage wieder erholte.

Da die Richter an einer öffentlichen Kundgebung draußen teilzunehmen hatten, so wurde die Gerichtsverhandlung ausgesetzt. Das Getümmel und Getöse, als das Volk durch die verschiedenen Gänge aus dem Saale hinausströmte, hatte noch nicht aufgehört, als Lucie, in ihrem Antlitz keinen andern Ausdruck als den der Liebe und der Tröstung, die Arme gegen ihren Gatten ausstreckte.

»Darf ich ihn anrühren? Darf ich ihn nur ein einziges Mal umarmen? O, ihr guten Bürger, wenn ihr nur so viel Mitleid mit uns hättet!«

Es waren nur zwei von den vier Männern, die ihn am Abend vorher verhaftet hatten, ein Schließer und Barsad, zurückgeblieben. Alles Volk zog dem Spektakel auf der Straße nach. Barsad machte dem andern den Vorschlag, die Umarmung zu dulden, da sie ja nur einen Augenblick dauern werde. Die Männer gaben stumm ihre Zustimmung und halfen ihr über die Sitze in dem Saal nach einem erhöhten Platz, wo er aus seinem Verschlag sich herausbeugen und sie mit seinen Armen umschlingen konnte.

»Lebewohl, teures Kleinod meiner Seele. Nimm meine letzten Segenswünsche hin. Wir werden uns wiedersehen, wo die Müden Ruhe finden!«

Dies waren die Worte ihres Gatten, als er sie an seine Brust drückte.

»Ich kann es ertragen, teurer Charles. Ich fühle mich gestärkt von oben; laß dir daher um meinetwillen das Herz nicht schwer werden. Einen Abschiedssegen für unser Kind.«

»Ich sende ihn ihr durch dich. Ich küsse sie durch dich. Ich sage ihr Lebewohl durch dich.«

»Mein Gatte. Nein! Einen Augenblick.« Er wollte sich von ihr losreißen. »Wir werden nicht lange getrennt sein. Ich fühle, daß bald mein Herz brechen muß; aber ich will meine Pflicht erfüllen, solange ich kann, und wenn ich sie zurücklasse, wird Gott auch ihr Freunde erwecken, wie er es mir getan hat.«

Ihr Vater, der ihr gefolgt war, wollte vor ihnen auf die Knie niederfallen; aber Darnay streckte die Hand aus und hinderte ihn daran, indem er ihm zurief:

»Nein, nein! Was habt Ihr getan, daß Ihr vor uns knien solltet? Wir wissen jetzt, welche Kämpfe Ihr durchmachen mußtet wissen, was Ihr littet, als Ihr meine Herkunft vermutetet und endlich Gewißheit darüber erhieltet. Wir wissen, gegen welchen natürlichen Widerwillen Ihr ankämpfen mußtet und wie Ihr ihn überwunden habt um ihretwillen. Wir danken Euch aus tiefstem Herzen und mit dem ganzen Pflichtgefühl der Liebe. Der Himmel sei mit Euch!«

Die Antwort ihres Vaters bestand bloß darin, daß er mit den Händen in seine weißen Haare fuhr und unter schmerzlichem Stöhnen sie zerraufte.

»Es konnte nicht anders kommen«, sagte der Gefangene. »Alles hat zusammengewirkt zu einem solchen Ende. Das stets vergebliche Bemühen, dem Auftrag meiner armen Mutter gerecht zu werden, hatte mich zuerst verhängnisvoll in Eure Nähe geführt. Aus so viel Bösem konnte nie etwas Gutes kommen, und ein glücklicherer Ausgang durfte von einem so unglücklichen Anfang nicht erwartet werden. Seid getrost und vergebt mir. Der Segen des Himmels sei mit Euch.«

Als man ihn von hinnen schaffen wollte, ließ sein Weib ihn los; sie legte in betender Haltung ihre Hände zusammen und sah ihm nach mit einem strahlenden Ausdruck auf ihrem Gesicht, in den sich sogar ein tröstendes Lächeln mischte. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen, wandte sie sich um und legte ihren Kopf liebevoll an die Brust des Vaters, brach aber, als sie ihn anzureden versuchte, zu seinen Füßen zusammen.

Jetzt kam Sydney Carton aus dem dunkeln Winkel, in dem er sich nicht gerührt hatte, hervor und nahm sie auf. Nur ihr Vater und Mr. Lorry waren bei ihr. Sein Arm zitterte, als er sie aufrichtete und ihren Kopf unterstützte. Und doch lag in seiner Miene ein Zug, der nicht ganz Mitleid war, sondern auch einen Anflug von Stolz verriet.

»Soll ich sie nach einer Kutsche bringen? Ich werde ihre Last nicht fühlen.«

Er brachte sie mit Leichtigkeit hinaus und in eine Kutsche. Ihr Vater und ihr alter Freund stiegen nach, und er nahm seinen Sitz neben dem Kutscher.

Als sie an der Tür anlangten, vor der er einige Stunden früher eine Weile im Dunkeln sich aufgehalten hatte, um sich die rauhen Steine herauszusuchen, die ihr Fuß betreten, hob er sie wieder heraus und trug sie die Treppe hinauf nach ihrer Wohnung. Da legte er sie auf ein Ruhebett nieder, wo ihr Kind und Miß Proß weinend über sie hinstürzten.

»Sucht sie nicht zu wecken«, sagte er sanft zu der letzteren; »es ist besser so. Man muß sie nicht zum Bewußtsein zurückrufen, da sie nur ohnmächtig ist.«

»O, Carton, Carton, lieber Carton!« rief die kleine Lucie, indem sie aufsprang und in ihrem Schmerz leidenschaftlich die Arme um ihn schlang. »Nun Ihr da seid, werdet Ihr wohl etwas tun, um Mama zu helfen und Papa zu retten. O, seht sie an, lieber Carton! Könnt Ihr unter allen Menschen, die sie lieben, es ertragen, sie so zu sehen?« Er beugte sich zu dem Kinde nieder und drückte die blühenden Wangen an sein Gesicht; dann schob er die Kleine sanft zurück und sah ihre bewußtlose Mutter an.

»Eh‘ ich gehe«, sagte er und hielt dann eine Weile inne »darf ich sie wohl küssen?«

Man erinnerte sich später, daß er, als er sich niederbeugte und mit seinen Lippen ihr Gesicht berührte, einige Worte murmelte. Die Kleine, die ihm am nächsten stand, erzählte nachher und erzählte es namentlich, als sie schon eine hübsche alte Frau war, ihren Enkeln, sie habe ihn sagen hören: »Ein Leben, das Ihr liebt.«

Er hatte sich bereits nach dem Vorzimmer begeben, als er sich noch einmal gegen Mr. Lorry und ihren Vater, die ihm gefolgt waren, umwandte und zu diesem sagte:

»Ihr habt erst gestern noch großen Einfluß gehabt, Doktor Manette. Macht wenigstens noch einen Versuch. Jene Richter und alle, die Gewalt haben, sind Euch freundlich gesinnt und erkennen Eure geleisteten Dienste an; ist es nicht so?«

»Es ist mir nichts verhehlt worden, was Charles betraf. Man gab mir die besten Versicherungen, daß ich ihn retten werde; und es gelang mir.«

Er brachte diese Antwort nur langsam und mit großer Mühe hervor.

»Versucht es noch einmal. Wir haben zwar von jetzt an nur noch wenige kurze Stunden bis morgen nachmittag: aber versucht es.«

»Ja, ich will es versuchen. Ich will keinen Augenblick ruhen.«

»Recht so. Einem Eifer wie dem Eurigen sind sonst schon große Dinge gelungen, wenn auch nie«, fügte er mit einem Lächeln und einem gleichzeitigen Seufzer hinzu, »etwas so Großes wie dieses. Aber macht den Versuch! Wie wenig auch das Leben wert ist, wenn wir es mißbrauchen, so gewinnt es doch Bedeutung durch eine solche Anstrengung. Wenn das nicht der Fall wäre, so möchte man lieber gar nicht leben.«

»Ich will geradewegs zu dem öffentlichen Ankläger und zu dem Präsidenten gehen«, sagte Doktor Manette, »und noch zu andern, die ich lieber nicht nenne. Auch schreiben will ich aber halt! Sie führen einen Festzug aus durch die Straßen, und vor Einbruch der Dunkelheit werde ich bei niemandem vorkommen können.«

»Das ist wahr. Nun, im besten Fall sind unsere Hoffnungen nicht groß, und die Sache kann nicht viel verschlimmert werden, wenn man auch bis zur Dämmerung warten muß. Ich möchte wohl erfahren, was Ihr ausrichtet, obschon ich gestehe, daß ich nichts erwarte. Wann werdet Ihr bei jenen gefürchteten Gewalthabern vorkommen können, Doktor Manette?«

»Ich hoffe, sobald es dunkel ist. In einer oder in zwei Stunden vielleicht.«

»Es wird bald nach vier Uhr dunkel. Wollen wir diesen zwei Stunden noch etwas zugeben. Wenn ich um neun Uhr bei Mr. Lorry vorspreche, so werde ich entweder von unserem Freund oder von Euch erfahren können, was Ihr ausgerichtet habt?«

»Ja.«

»Möge es nach Wunsch ausfallen.«

Mr. Lorry begleitete Sydney nach der äußeren Tür und bewog ihn, ehe er sich entfernte, durch eine Berührung der Schulter, sich noch einmal umzuwenden.

»Ich habe keine Hoffnung«, sagte Mr. Lorry in leisem kummervollem Flüstern.

»Auch ich nicht.«

»Wenn einzelne von diesen Männern oder meinetwegen alle das ist gewiß eine starke Voraussetzung, denn was kümmern sie sich um sein oder irgendeines Menschen Leben? zur Schonung geneigt sein sollten, so zweifle ich, ob sie nach der Kundgebung in dem Gerichtshof es wagen dürften, Gnade walten zu lassen.«

»Ich bin ganz Eurer Ansicht. In jenem Getümmel hörte ich das Fallen des Beiles.«

Mr. Lorry stützte seinen Arm auf das Türschloß und senkte sein Gesicht darauf nieder.

»Ihr müßt nicht verzagen«, sagte Carton in sanftem Ton, »Euch nicht so ganz dem Schmerze hingeben. Ich habe den Doktor Manette zum Handeln ermutigt, weil ich fühlte, daß sie eines Tages einen Trost darin finden dürfte. Sie könnte sonst glauben, sein Leben sei vermessen durch Flauheit geopfert worden, und dies könnte ihr Kummer bereiten.«

»Ja, ja, ja«, entgegnete Mr. Lorry, seine Augen trocknend, »Ihr habt recht. Aber er wird gleichwohl zugrunde gehen! man darf nichts hoffen.«

»Ja, er wird zugrunde gehen; es ist nichts zu hoffen«, wiederholte Carton.

Und er ging festen Schrittes die Treppe hinunter.

Zwölftes Kapitel. Dunkelheit.


Zwölftes Kapitel. Dunkelheit.

Sydney Carton hielt in der Straße an, weil er noch nicht ganz schlüssig war, wohin er gehen sollte. »Um neun Uhr in Tellsons Bankhaus«, sagte er mit nachdenklichem Gesicht. »Wird es nicht gut sein, wenn ich mich in der Zwischenzeit sehen lasse? Ich denke so. Diese Leute müssen erfahren, daß ein Mensch wie ich hier ist; die Vorsicht gebietet es, und es kann sogar als Vorbereitungsmaßregel nötig werden. Aber behutsam, behutsam. Ich will mir’s überlegen.«

Er hatte bereits angefangen, seine Schritte irgendeinem Ziel zuzulenken, als er wieder innehielt und in der bereits dunkel werdenden Straße auf und ab ging, um sich die möglichen Folgen klarzumachen. Doch bald festigte sich in ihm der erste Eindruck. »Es ist das beste«, sagte er endlich entschlossen, »daß diese Leute Kunde erhalten von der Anwesenheit eines Menschen wie ich!« dann wandte er sich Saint Antoine zu.

Defarge hatte sich an jenem Tage selbst als Weinwirt in der Vorstadt von St. Antoine bezeichnet. Für einen Mann, der sich so gut in der Stadt auskannte wie er war es ein leichtes, das Haus ohne Nachfrage aufzufinden. Carton verließ die engeren Straßen, nahm in einer Restauration eine Erfrischung ein und stärkte sich nach dem Essen durch einigen Schlaf. Zum erstenmal seit vielen Jahren mied er starkes Getränk. Er hatte seit gestern abend nichts als ein wenig leichten Wein zu sich genommen und tags zuvor den letzten Tropfen Branntwein auf Mr. Lorrys Herd ausgegossen wie ein Mann, der damit nichts mehr zu schaffen haben will.

Es war abends sieben Uhr, als er erfrischt wieder erwachte und aufs neue in die Straßen hinausging. Auf dem Wege nach St. Antoine machte er vor einem Spiegelladen halt und ordnete seine lose Halsbinde, seinen Rockkragen und sein wirres Haar. Nachdem dies geschehen war, verfügte er sich schnurstracks zu Defarge und trat in dessen Weinstube.

Es war zufällig kein anderer Gast in dem Zimmer als Jacques Drei mit den unruhigen Fingern und der krächzenden Stimme. Dieser Mensch, in dem er sogleich einen der Geschworenen des Morgens wiedererkannte, stand bei seinem Glase an dem kleinen Schanktisch und unterhielt sich mit dem Defargeschen Ehepaar. Die Rache mischte sich gleichsam als ein regelmäßiges Mitglied des Haushaltes in das Gespräch.

Carton nahm sich einen Sitz und bestellte in schlechtem Französisch eine halbe Flasche Wein. Madame Defarge warf zuerst einen gleichgültigen, dann aber immer schärfere Blicke auf ihn und trat endlich selbst auf ihn zu, um ihn zu fragen, was ihm beliebe.

Er wiederholte die frühere Bestellung.

»Ein Engländer?« fragte Madame Defarge, forschend ihre dunkeln Augenbrauen in die Höhe ziehend.

Nachdem er sie angesehen hatte, als ob selbst der Klang eines einzigen französischen Wortes ihm nicht schnell verständlich sei, antwortete er in dem früheren ausländischen Akzent:

»Ja, Madame, ja. Ich bin ein Engländer.«

Madame Defarge kehrte nach dem Schanktische zurück, um den Wein abzumessen, während er eine Jakobinerzeitung aufnahm und sich anstellte, als suche er mit Mühe sich den Inhalt derselben verständlich zu machen. Da hörte er sie sagen:

»Bei meiner Seele, er sieht dem Evrémode ähnlich!«

Defarge brachte ihm den Wein und bot ihm einen guten Abend.

»Wie?«

»Guten Abend.«

»Oh, guten Abend, Bürger.« Er füllte sein Glas. »Ah, ein guter Wein. Ich trinke auf das Wohl der Republik.«

Defarge kehrte nach dem Schanktisch zurück und sagte:

»Allerdings einige Ähnlichkeit.«

»Ich sage dir, eine sehr große«, entgegnete Madame Defarge.

»Ihr seht überall nur ihn, Madame«, bemerkte Jacques Drei beschwichtigend.

»Ja, meiner Treu«, fügte die liebenswürdige Rache lachend bei; »und es macht dir so viel Lust, ihn morgen noch einmal zu sehen.«

Carton folgte den Worten und Linien seiner Zeitung langsam mit dem Zeigefinger und mit einer völlig in die Lektüre vertieften Miene. Sie standen ganz nahe beieinander, die Arme auf den Schanktisch gestützt, und sprachen leise. Er ließ sich nicht dadurch stören, daß sie öfters nach ihm hinsahen; endlich fuhren sie in ihrem Gespräch etwas lauter fort.

»Es ist ganz so, wie Madame sagt«, bemerkte Jacques Drei. »Warum haltmachen? Die Sache ist mächtig im Gange. Warum haltmachen?«

»Nun, einmal muß es doch geschehen«, stellte Defarge vor; »es fragt sich nur wann.«

»Erst mit der Vertilgung«, sagte Madame.

»Großartig!« krächzte Jacques Drei.

Auch die Rache zollte ihren Beifall.

»Vertilgung ist ein guter Grundsatz, Frau«, sagte Defarge etwas beunruhigt, »und ich habe im allgemeinen nichts dagegen einzuwenden. Aber dieser Doktor hat viel gelitten. Du hast ihn ja heute gesehen und sein Gesicht bemerkt, als die Schrift verlesen wurde.«

»Ich habe sein Gesicht bemerkt«, entgegnete Madame unmutig und im Ton der Verachtung. »Ja, wohl habe ich es bemerkt und auch darin gelesen, daß es nicht das Gesicht eines echten Freundes der Republik ist. Mag er sich mit seinem Gesicht in acht nehmen!«

»Und du hast auch den Schmerz seiner Tochter wahrgenommen, Frau«, fügte er fürsprechend bei; »er muß ihm schrecklich gewesen sein.«

»Auch seine Tochter sah ich«, erwiderte Madame. »Ich habe sie mehr als einmal beobachtet nicht nur heute, sondern auch zu andern Zeiten. Ich beobachtete sie in dem Gerichtssaal und in der Straße vor dem Gefängnis. Ich brauche nur meinen Finger aufzuheben !«

Sie schien ihn wirklich aufzuheben (die Augen des Zuhörers wandten sich nicht von seiner Zeitung) und mit einem Rasseln auf den Sims vor sich niederfallen zu lassen, als ob ein Beil fiele.

»Die Bürgerin ist prächtig!« krächzte der Geschworene.

»Sie ist ein Engel!« rief die Rache und umarmte sie.

»Was dich betrifft«, fuhr Madame unversöhnlich gegen ihren Mann fort, »so würdest du, wenn es von dir abhinge zum Glück ist es nicht der Fall , diesen Menschen selbst jetzt noch retten.«

»Nein«, beteuerte Defarge. »Nicht dieses Glas möchte ich aufheben um seinetwillen. Aber dabei muß es sein Verbleiben haben. Ich sage, es darf nicht so weiter gehen.«

»Da seht Ihr selbst, Jacques«, sagte Madame Defarge zornig, »und auch du siehst es, meine kleine Rache ihr beide seht es. Aber hört mich an! Ich habe wegen anderer Verbrechen als dem der Tyrannei und Bedrückung diese Familie längst auf meinem Register und ihren Untergang, ihre Verfolgung beschlossen. Fragt meinen Mann, ob es nicht so ist.«

»Es ist so«, bekräftigte Defarge, noch eh‘ er befragt wurde.

»In dem Beginne der großen Tage, als die Bastille fiel, kam er in den Besitz jener Denkschrift, brachte sie nach Hause, und wir lasen sie mitten in der Nacht, sobald die Stube leer und geschlossen war, hier auf dieser Stelle und beim Licht dieser Lampe. Fragt ihn, ob es nicht so ist.«

»Es ist so«, sagte Defarge.

»In der Nacht, in der wir die Schrift lasen, als die Lampe bereits erloschen war und schon der Tag hereinblinkte durch diese Läden und die eisernen Gitter, sagte ich zu ihm, daß ich ihm ein Geheimnis mitzuteilen habe. Fragt ihn, ob es nicht wahr ist.«

»Es ist wahr«, pflichtete Defarge bei.

»Ich teilte ihm dieses Geheimnis mit. Ich schlug mit diesen zwei Händen an diese meine Brust, wie ich es jetzt tue, und sagte zu ihm: Defarge, ich wurde unter den Fischern an der Seeküste erzogen, und jene Bauernfamilie, die von den Gebrüdern Evrémonde die schändliche Behandlung erlitt, von der die Bastilleschrift spricht, ist meine Familie. Defarge, jene Schwester des am Boden liegenden, auf den Tod verwundeten Knaben war ich, jener Mann der Mann meiner Schwester, jenes ungeborene Kind ihr Kind, jener Bruder mein Bruder, jener Vater mein Vater alle jene Toten sind meine Toten, und die Aufforderung, Rechenschaft zu verlangen für jene Taten, gilt mir! Fragt ihn, ob es so ist.«

»Ja, sie sagt die Wahrheit«, bestätigte Defarge aufs neue.

»Dann gebiete dem Wind und Feuer Halt, nicht aber mir«, erwiderte Madame.

Der tödliche Haß dieses Weibes erfüllte ihre beiden Zuhörer mit einer schrecklichen Lust, und sie belobten sie höchlich. Der Lauscher konnte fühlen, daß die Sprecherin leichenblaß war, ohne ein Auge gegen sie aufzuschlagen. Defarge, eine schwache Minorität, erinnerte mit einigen Worten an die mitleidige Gattin des Marquis, entlockte aber damit seinem Weibe nur eine Wiederholung ihrer letzten Erklärung: »Gebiet‘ dem Wind und dem Feuer Halt, nicht aber mir!«

Es kamen Gäste, und die Gruppe löste sich auf. Der englische Gast bezahlte, was er genossen hatte, verrechnete sich im Zählen des herausgegebenen Geldes und bat als Fremder um Auskunft über den Weg nach dem Nationalpalast. Madame begleitete ihn nach der Tür und streckte den Arm aus, um ihn zurechtzuweisen. Dem Fremden kam dabei der Gedanke, ob es nicht eine gute Tat wäre, diesen Arm zu fassen, in die Höhe zu reißen und unter diesem eine scharfe Waffe einzubohren.

Doch er ging seines Weges und verschwand bald im Schatten der Gefängnismauer. Zu der anberaumten Zeit fand er sich in Mr. Lorrys Zimmer ein, wo er den alten Herrn in ruheloser Angst auf und ab gehen fand. Er sagte, er sei bis jetzt bei Lucie gewesen und habe sie nur auf einige Minuten verlassen, um der Bestellung gemäß hierher zu kommen. Ihr Vater hatte sich, seit er um vier Uhr von dem Bankhaus fortging, nicht wieder blicken lassen. Sie hegte einige, wiewohl nur eine sehr schwache Hoffnung, daß es ihm gelingen dürfte, ihren Charles zu retten. Er war schon mehr als fünf Stunden fort; wo mochte er nur bleiben?

Mr. Lorry wartete bis zehn Uhr; da aber Doktor Manette nicht zurückkehrte und er Lucie nicht länger allein lassen wollte, so kamen sie überein, daß er zu ihr gehen und gegen Mitternacht wieder in das Bankhaus kommen solle. Mittlerweile gedachte Carton beim Feuer sitzenzubleiben und auf den Doktor zu warten.

Er wartete und wartete, und als es zwölf schlug, war immer noch kein Doktor Manette da. Mr. Lorry kam wieder, traf aber alles, wie er es verlassen hatte, ohne selbst eine Neuigkeit mitzubringen. Wo blieb er doch?

Sie besprachen miteinander diese Frage und bauten auf seine verzögerte Rückkehr fast ein schwaches Hoffnungsgebäude, als sie ihn endlich auf der Treppe hörten. Da er aber in das Zimmer eintrat, bewies der erste Blick, daß alles verloren sei.

Ob er wirklich bei jemandem gewesen war oder ob er den ganzen Abend die Straßen durchstreift hatte, ist niemals ermittelt worden. Während er so dastand und sie mit großen Augen anstarrte, wagten sie keine Frage an ihn zu richten; denn sein Gesicht sagte ihnen alles.

»Ich kann sie nicht finden«, sagte er, »und ich muß sie haben. Wo ist sie?«

Sein Kopf und sein Hals war bloß, und seine Worte klangen wie die eines Mannes, der am Ende seiner Weisheit angelangt ist. Er nahm seinen Rock ab und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Wo ist meine Werkbank? Ich habe mich überall nach meiner Werkbank umgesehen und kann sie nicht finden. Was hat man mit meiner Arbeit angefangen? Die Zeit drängt; ich muß die Schuhe fertigbringen.«

Sie sahen einander trostlos an.

»Oh, oh!« rief er in kläglich wimmerndem Tone. »Laßt mich an meine Arbeit gebt mir meine Arbeit!«

Da er keine Antwort erhielt, so zerraufte er sich das Haar und stampfte wie ein eigensinniges Kind mit den Füßen auf den Boden.

»Foltert nicht einen armen verlassenen Unglücklichen«, flehte er sie unter kreischendem Geschrei an, »sondern gebt mir meine Arbeit! Was soll aus mir werden, wenn ich nicht heute nacht die Schuhe fertigbringe?«

Wieder wirr, völlig wirr!

Es war augenscheinlich so hoffnungslos, ihn durch Vorstellungen wieder zur Vernunft bringen zu wollen, daß beide wie im Einverständnis je eine Hand auf seine Schultern legten und ihn baten, sich vor dem Feuer niederzulassen; sie wollen alsbald ihm sein Werkzeug herbeischaffen. Er sank in den Stuhl, stierte in die Asche hinein und vergoß Tränen. Mr. Lorry sah in ihm wieder ganz denselben Mann, wie er ihn unter Defarges Obhut im Dachstübchen getroffen hatte, und die Zeit zwischen damals und jetzt kam ihm nur wie ein Traum vor.

Wie sehr übrigens dieses Schauspiel des Verfalls beiden die Seele mit Gefühlen der Erschütterung und des Schreckens erfüllte, war doch die Zeit nicht geeignet, solchen Erregungen nachzuhängen. Seine verwaiste Tochter, die ihrer letzten Hoffnung und Stütze beraubt war, nahm ihre Teilnahme zu sehr in Anspruch. Sie sahen einander bedeutungsvoll an. Carton war der erste, der das Wort ergriff.

»Die letzte Aussicht, so klein sie auch war, ist dahin. Ja, es wird am besten sein, wenn man ihn zu ihr bringt. Aber wollt Ihr mir nicht, eh‘ Ihr geht, noch einen Augenblick ernste Aufmerksamkeit schenken? Fragt nicht, warum ich Euch gewisse Bedingungen mache und mir ihr genaues Einhalten erbitte; ich haben einen Grund einen guten Grund dazu.«

»Ich zweifle nicht daran«, entgegnete Mr. Lorry. »Sprecht.«

Die Gestalt in dem Sessel zwischen ihnen wiegte sich die ganze Zeit in eintönigem Stöhnen hin und her. Sie sprachen miteinander in einem Ton, wie man ihn nachts beim Wachen in einem Krankenzimmer gewöhnt ist.

Carton beugte sich, um den Rock aufzunehmen, in dem sich seine Füße fast verstrickt hatten. Während er dies tat, fiel ein kleines Taschenbuch, in dem der Doktor seine Tagesobliegenheiten vorzumerken pflegte, auf den Boden. Er nahm es auf; es befand sich ein zusammengelegtes Papier darin.

»Wir sollten dies ansehen«, bemerkte er.

Mr. Lorry nickte zustimmend. Carton öffnete und rief:

»Gott sei Dank!«

»Was ist es?« fragte Lorry hastig.

»Einen Augenblick. Ich werde zur gehörigen Zeit darauf zurückkommen. Zunächst«, er steckte die Hand in seinen Rock und zog ein ähnliches Papier hervor, »habe ich hier eine Beglaubigung, vermöge der ich beliebig Paris verlassen kann. Seht sie an. Ihr findet Sydney Carton, ein Engländer?«

Mr. Lorry hielt das Zeugnis in seiner Hand entfaltet und sah dem andern ernst ins Gesicht.

»Nehmt es für mich in Verwahrung bis morgen. Ich will ihn morgen besuchen, wie Ihr wißt, und da ist’s besser, wenn ich es im Gefängnis nicht bei mir habe.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht; aber es ist mir lieber, wenn Ihr es hier behaltet. Nehmt auch das Papier, das Doktor Manette bei sich gehabt hat. Es ist gleichfalls ein Paß, vermöge dessen er mit seiner Tochter und ihrem Kind jederzeit Paris und Frankreich verlassen darf. Seht Ihr?«

»Ja.«

»Vielleicht hat er sich ihn gestern noch als letzte und äußerste Vorsorge für einen schlimmen Ausgang ausstellen lassen. Von welchem Datum ist er? Doch gleichviel; halten wir uns damit nicht auf, sondern legt ihn zu dem meinigen und dem Eurigen. Gebt jetzt acht! Ich habe stets geglaubt, und erst in den letzten zwei Stunden ist es mir zweifelhaft geworden, daß er ein solches Papier habe oder haben könne. Es ist in Kraft, bis es widerrufen wird. Aber der Widerruf kann bald erfolgen, und ich habe Grund zu der Annahme, daß man damit nicht zögern wird.«

»Sie sind doch nicht in Gefahr?«

»In großer Gefahr. Es besteht zu befürchten, daß alle von Madame Defarge angezeigt werden. Ich weiß es aus ihrem eigenen Mund. Ich hörte heute abend dieses Weib Reden führen, die das Schlimmste in Aussicht stellen. Seitdem habe ich meine Zeit benutzt, den Spion aufgesucht und von ihm die Bestätigung erhalten. Er weiß, daß ein Holzspalter, der an der Gefängnismauer wohnt, ganz unter der Leitung der Defarges steht und von Madame Defarge darüber vernommen wurde, wie er Zeuge gewesen sei, daß sie« er nannte Lucies Namen nie »den Gefangenen Zeichen und Signale gegeben habe. Es ist leicht vorauszusehen, daß darauf die gewöhnliche Anklage eines Gefängniskomplotts gebaut werden wird, und dann ist nicht nur ihr Leben verwirkt, sondern auch vielleicht das ihres Kindes und ihres Vaters, die man mit ihr auf dem Platz gesehen hat. Macht keine so entsetzte Miene: Ihr werdet sie alle retten.«

»Mög‘ es der Himmel geben, Carton! Aber wie?«

»Das will ich Euch jetzt sagen. Von Euch hängt alles ab, und man hätte keinen besseren Mann dafür finden können. Diese neue Anklage wird wahrscheinlich nicht vor übermorgen stattfinden: vielleicht hat es damit zwei oder drei Tage, möglicherweise eine Woche Zeit. Ihr wißt, es ist ein todeswürdiges Verbrechen, Mitleid zu haben mit einem Opfer der Guillotine oder um dasselbe zu trauern. Sie und ihr Vater werden sich unzweifelhaft dieses Verbrechens schuldig machen, und jenes Weib, deren tiefgewurzelter Haß aller Beschreibung spottet, wartet vielleicht nur darauf, um ihre Anklage mit diesem neuen Umstand zu verstärken und so sich ihrer Beute doppelt zu versichern. Ihr merkt doch auf?«

»So achtsam und mit einem solchen Vertrauen in Eure Worte, daß ich für den Augenblick«, er berührte die Lehne an dem Stuhl des Doktors, »sogar diesen Jammer aus dem Gesicht verliere.«

»Ihr habt Geld und könnt deshalb die Reise nach der Küste in jeder tunlichen Weise beschleunigen. Zum Aufbruch nach England seid Ihr schon seit einigen Tagen gerüstet. Bestellt morgen früh Eure Pferde, so daß Ihr nachmittags um zwei Uhr aufbrechen könnt.«

»Es soll geschehen.«

Carton sprach so voll Eifer und Feuer, daß auch Mr. Lorry dabei warm wurde und die Lebendigkeit eines Jünglings an den Tag legte.

»Ihr seid ein edles Herz. Sagte ich nicht, daß die Sache keinem wackereren Manne in die Hände gegeben werden könnte? Teilt ihr heute nacht alles mit, was Ihr von der Gefahr wißt, die ihrem Kind und ihrem Vater droht. Dies müßt Ihr mit besonderem Nachdruck hervorheben; denn sie würde bereitwillig ihr schönes Haupt neben dem ihres Gatten niederlegen.« Er stotterte einen Augenblick und fuhr dann wieder wie früher fort. »Macht sie um ihres Kindes, um ihres Vaters willen auf die Notwendigkeit aufmerksam, Paris so schnell wie möglich mit Euch und ihnen zu verlassen. Sagt ihr, es sei die letzte Anordnung ihres Gatten gewesen; und bedeutet ihr noch ferner, daß mehr davon abhänge, als sie zu glauben oder zu hoffen wage. Ihr glaubt doch, daß ihr Vater ungeachtet seines traurigen Zustandes ihr gehorchen wird; was meint Ihr?«

»Ich bin davon überzeugt.«

»Das dachte ich mir. Laßt im Hofe drunten alle nötigen Vorbereitungen in der Stille treffen und steigt gleich selbst ein. Sobald ich dann komme, nehmt Ihr mich auf und fahrt von dannen.«

»Wenn ich Euch recht verstehe, so soll ich unter allen Umständen auf Euch warten?«

»Ihr wißt. Ihr habt nebst den andern Pässen auch den meinigen in Händen und werdet mir meinen Platz vorbehalten. Wartet nichts weiter ab, als daß dieser besetzt sei, und dann Richtung England!«

»Und dann«, sagte Mr. Lorry, indem er die hastige, aber dennoch feste Hand des andern ergriff, »wird nicht mehr alles von einem einzigen alten Manne abhängen, sondern ich werde in jugendlicher Tatkraft einen Beistand finden.«

»Ja, wenn es des Himmels Wille ist! Versprecht mir feierlich, daß es bei unserer gegenwärtigen Übereinkunft unverbrüchlich sein Verbleiben haben solle.«

»Ich verspreche es, Carton.«

»Erinnert Euch dieser Zusage morgen wohl. Ein Abgehen davon oder eine Zögerung aus welchem Grund auch immer könnte nicht nur kein Leben mehr retten, sondern würde unvermeidlich viele hinopfern.«

»Ich will es nicht vergessen und hoffe, meinen Anteil bei der Sache getreulich zu besorgen.«

»Und ich den meinigen. Jetzt lebt wohl!«

Obgleich er diese Worte mit einem ernsten Lächeln sprach und dabei sogar die Hand des alten Mannes an seine Lippen drückte, entfernte er sich vorderhand noch nicht. Er half ihm, die vor der ersterbenden Asche sitzende schwankende Gestalt aufrichten, setzte ihr den Hut auf, legte ihr den Mantel um und tat, als suche er die Werkbank und das Werkzeug, um die sie stets wehklagte. Dann machte er sich an ihre andere Seite und begleitete sie schützend bis in den Hof des Hauses, wo ein tiefbekümmertes Herz, das so glücklich war in der denkwürdigen Zeit, als er ihr die Trostlosigkeit des eigenen enthüllte, die schauerliche Nacht durchwachte. Nachdem Mr. Lorry und der Doktor ihn verlassen, blieb er noch eine Weile allein in dem Hofe und schaute hinauf nach dem Licht in dem Fenster ihres Zimmers. Ehe er sich entfernte, hauchte er ihr noch einen Segenswunsch und ein Lebewohl zu.

Dreizehntes Kapitel. Zweiundfünfzig.


Dreizehntes Kapitel. Zweiundfünfzig.

In dem dunkeln Gefängnis der Conciergerie erwarteten die Verurteilten des Tages ihr Schicksal. Es waren ihrer soviel wie Wochen im Jahr. Zweiundfünfzig sollten an jenem Nachmittage aus der Lebenströmung der Stadt hinausgetragen werden ins Meer der Ewigkeit. Bevor noch ihre Zellen sich geleert hatten, waren schon neue Bewohner dafür bestimmt; bevor ihr Blut mit dem gestern vergossenen zusammenfloß, hatte man schon diejenigen wieder ausgelesen, deren Blut morgen sich mit dem ihrigen mischen sollte.

Vier Dutzend und vier waren abgezählt. Von dem siebzigjährigen Generalpächter, der mit all seinen Schätzen sich nicht sein Leben erkaufen konnte, bis zu der zwanzigjährigen Näherin, die nicht einmal in ihrer Armut und niedrigen Stellung einen Schutz fand. Wie leibliche Krankheiten, die den Lastern und der Nachlässigkeit der Menschen entspringen, ihre Opfer in allen Ständen suchen, so warf auch die schreckliche moralische Krankheit, die geboren ward aus unsäglichen Leiden, unerträglicher Bedrückung und herzloser Gleichgültigkeit, alles ohne Unterschied nieder.

Darnay schmeichelte sich, seit er aus dem Gerichtssaale zurückgekehrt war, in seiner einsamen Zelle mit keinen trügerischen Hoffnungen mehr. In jeder Zeile der Erzählung, die er mit angehört, hatte er sein Todesurteil vernommen. Er sah vollkommen ein, daß kein persönlicher Einfluß ihn zu retten vermochte. Die Millionen hatten ihn verurteilt! welche Macht konnten ihnen gegenüber die Einzelnen geltend machen?

Gleichwohl wurde es ihm, das Antlitz des geliebten Weibes noch in frischer Erinnerung, nicht leicht, sich in das Unvermeidliche zu finden. Er hing noch fest an dem Leben, und es wurde ihm schwer, sehr schwer, es aufzugeben. Wenn er sich alle Mühe gab, sich da loszumachen, so klammerte er sich dort um so fester an, und gewann er es über sich, seine Kraft nicht mehr länger nutzlos erschöpfen zu wollen, so schloß sich seine Hand unmittelbar darauf in neuem Krampfe. Auch war in allen seinen Gedanken ein Jagen, in seinem Herzen ein erhitztes, stürmisches Arbeiten, das keine Ergebung aufkommen ließ. Wenn er für einen Augenblick verzichtet zu haben glaubte, so schien sein Weib und sein Kind, die ihn überleben sollten, dagegen Protest zu erheben und ihn der Selbstsucht zu zeihen.

Doch so war es nur im Anfang. Bald gewann die Erwägung die Oberhand, daß das Schicksal, das ihm bevorstand, ihm nicht zum Schimpf gereiche; denn Scharen hatten vor ihm denselben Gang als Unschuldige angetreten und fügten sich Tag für Tag standhaft in ihr Los. Ein kräftigender Gedanke, dem sich noch die weitere Betrachtung anschloß, daß viel von dem künftigen Seelenfrieden seiner Lieben von der Seelengröße abhing, mit der er aus dem Leben schied. So gewann er allmählich eine ruhigere Stimmung die ihn befähigte, seinen Gedanken einen höheren Aufschwung zu geben und daraus Trost zu holen.

Eh‘ es noch am Abend nach seiner Verurteilung völlig dunkel geworden war, hatte er bereits diesen Sieg über sich davongetragen. Da er jetzt Licht und Schreibmaterialien kaufen durfte, so setzte er sich nieder, um zu schreiben, bis die Lichter im Gefängnis gelöscht werden mußten.

Er schrieb einen langen Brief an Lucie, in dem er ihr erklärte, daß er von ihres Vaters Einkerkerung nichts gewußt habe, bis er es von ihr selbst erfuhr, und daß er noch viel weniger von der Beteiligung seines Vaters und seines Onkels an diesem Elend unterrichtet gewesen sei, ehe jene Schrift in seiner Gegenwart verlesen wurde. Er habe ihr schon früher mitgeteilt, wie ihr Vater es zur Bedingung seiner Einwilligung in ihre Vermählung gemacht, daß er auch gegen sie den aufgegebenen Namen geheimhalte; dies sei die einzige Zusage gewesen, die er ihm am Morgen der Trauung abgenommen, und er sehe jetzt den Grund davon vollkommen ein. Er bitte sie, um ihres Vaters willen sich nie zu erkundigen, ob er das Vorhandensein jener Schrift ganz vergessen oder ob er dieser für den Moment sich erinnert habe bei der Geschichte vom Tower an jenem Sonntag unter der lieben Platane im Garten. Wenn er eine unbestimmte Erinnerung daran bewahrte, so könne es keinem Zweifel unterliegen, daß er vermutet habe, jene Schrift sei mit der Bastille zugrunde gegangen, weil keiner Erwähnung davon geschehen sei unter den von den Volkshaufen dort aufgefundenen Reliquien der Gefangenen, über die ja in alle Welt hinaus geschrieben worden war. Er ersuche sie freilich brauche er ihr dies nicht erst ans Herz zu legen ihren Vater dadurch zu trösten, daß sie in der möglichst schonenden Weise ihn überzeuge, wie er nichts getan hatte, worüber er sich mit Recht einen Vorwurf machen müßte, sondern im Gegenteil um ihrer beiden willen sein eigenes Ich der Vergessenheit überantwortet habe. Er versichere sie seiner dankbaren Liebe bis ans Ende und schicke ihr seinen Segen. Dabei beschwöre er sie, so wahr sie sich im Himmel wiederfinden würden, sich ihrem Kinde zu widmen und ihrem Vater zum Trost zu leben.

Auch ihrem Vater schrieb er in demselben Sinn und fügte an ihn bei, daß er sein Weib und sein Kind ausdrücklich seiner Obhut vertraue. Dies tat er in sehr kräftigen Ausdrücken, indem er hoffte, dadurch die Verzweiflung oder gefährliche Rückblicke in die Vergangenheit abzuwehren, in die der alte Mann, wie er fürchtete, wieder versinken konnte.

Mr. Lorry empfahl er seine Angehörigen, indem er ihm zugleich Aufschlüsse über seine Vermögensangelegenheiten gab. Nachdem er noch die Versicherungen dankbarer Freundschaft und warmer Anhänglichkeit beigefügt hatte, war er mit seiner Arbeit fertig. Cartons gedachte er mit keiner Silbe. Sein Herz war so voll von den übrigen, daß sich für diesen kein Platz mehr fand.

Er war mit seinen Briefen zustande gekommen, noch ehe die Lichter gelöscht werden mußten. Als er sich auf seine Streu niederlegte, tat er es unter dem Eindruck, daß er mit dieser Welt abgeschlossen habe.

Aber sie winkte ihm in seinem Schlafe wieder zurück und zeigte sich in den verlockendsten Gestalten. Frei und glücklich, leichten Herzens und auf eine unerklärliche Weise befreit, bewohnte er wieder das alte Haus in Soho, obschon dieses ganz anders aussah als sonst; Lucie befand sich an seiner Seite und erzählte ihm, es sei alles nur ein Traum und er nie fortgewesen. Eine Pause des Vergessens, und es kam ihm vor, er sei hingerichtet worden und wieder zu ihr zurückgekommen, tot zwar und voll Frieden, aber doch immer noch der alte. Abermals eine Pause des Vergessens, und er erwachte am trüben Morgen, ohne zu wissen, ob er war und was mit ihm vorgegangen, bis es plötzlich in seinem Geiste wieder klar wurde: »Dies ist der Tag deines Todes.«

So waren ihm die Stunden entschwunden bis zu dem Tag, an dem die zweiundfünfzig Köpfe fallen sollten. Und nun er dem Ausgang mit Fassung entgegensah und er ihn mit ruhigem Heldenmut bestehen zu können hoffte, begann in seinen wachen Gedanken eine neue Tätigkeit, die sich nur schwer bewältigen ließ.

Er hatte nie das Instrument gesehen, das seinem Leben ein Ende machen sollte. Wie hoch stand es vom Boden ab – wie viele Stufen führten zu ihm wo stand es wohl wie faßte man ihn an waren die ihn berührenden Hände mit Blut befleckt wie mußte er sein Gesicht drehen wer kam zuerst, wer zuletzt an die Reihe? Diese und viele ähnliche Gedanken drängten sich ihm gegen seinen Willen wieder und wieder unzähligemal auf. Sie waren keine Folge der Furcht, da er dieses Gefühl überwunden hatte, sondern nahmen eher ihren Ursprung in einem seltsamen Drange, zu wissen, wie er sich verhalten sollte, wenn die Zeit kam allerdings ein Wunsch, der in einem riesigen Mißverhältnis stand zu den paar kurzen Augenblicken, auf die er sich bezog, und ihm eher von einem andern Geist als von seinem eigenen eingegeben zu sein schien.

Die Stunden entwichen, wahrend er auf und ab ging, und die Uhren verkündigten lauter Zahlen, die er nicht wieder hören sollte. Neun vorbei für immer, zehn vorbei für immer, elf vorbei für immer, und die letzte Zwölf stand bald bevor. Nach einem schweren Kampf mit der regellosen Gedankentätigkeit, die ihn so verwirrte, wurde er auch über sie Herr. Er ging auf und ab und sprach leise die Namen seiner Lieben vor sich hin. Das Ärgste war vorüber. Er konnte frei von den sinnberückenden Vorstellungen auf und ab wandeln und für sich und für sie beten.

Zwölf vorbei für immer.

Er hatte vernommen, daß drei die letzte Stunde sein werde, und wußte, daß man die Gefangenen etwas früher abzuholen pflegte, weil die Karren nur langsam und schwerfällig durch die Straßen holperten. Er nahm sich daher vor, sich zwei als die Zeit des Aufbruchs vorzuhalten und in der Zwischenzeit gehörige Kraft zu sammeln, um imstande zu sein, auch auf andere kräftigend einzuwirken.

Während er mit auf der Brust gekreuzten Armen regelmäßigen Schrittes und in ganz anderer Stimmung als in dem Gefängnis La Force auf und ab ging, hörte er ohne Überraschung in der Ferne eins schlagen. Die Stunde war ihm nicht kürzer vorgekommen als die meisten andern. Mit demütigem Dank für die wiedergewonnene Fassung dachte er: »Jetzt habe ich noch eine«, und fuhr in seinem Spaziergang fort.

Fußtritte auf der Steinflur draußen vor der Tür. Er blieb stehen.

Der Schlüssel wurde in das Schloß gesteckt und umgedreht. Ehe die Tür aufging, oder beim Öffnen derselben sagte ein Mann leise in englischer Sprache:

»Er hat mich nie hier gesehen; ich bin ihm stets ferngeblieben. Geht allein hinein; ich will in der Nähe warten. Verliert keine Zeit!«

Die Tür ging rasch auf und wieder zu, und nun stand Angesicht in Angesicht, ruhig, mit dem Licht eines Lächelns auf seinen Zügen Sydney Carton, der den Zeigefinger warnend auf die Lippe legte, ihm gegenüber.

Es war eine so merkwürdige Klarheit in seinem Äußeren, daß der Gefangene im ersten Augenblick ein Geschöpf seiner Einbildungskraft vor sich zu sehen glaubte. Aber er sprach, und es war seine Stimme. Er drückte dem Gefangenen die Hand, und es war ein wirklicher Druck.

»Von allen Menschen auf Erden habt Ihr wohl mich am wenigsten zu sehen erwartet?« sagte er.

»Ich konnte nicht glauben, daß Ihr es seid kann es kaum jetzt glauben. Ihr seid doch nicht« ein plötzlicher Argwohn stieg in ihm auf »ein Gefangener?«

»Nein. Ich besitze zufällig Gewalt über einen von den Schließern hier, und diesem Umstand habe ich zu danken, daß ich vor Euch stehe. Ich komme von ihr von Eurer Frau, mein lieber Darnay.«

Der Gefangene drückte ihm die Hand.

»Ich bringe Euch eine Bitte von ihr.«

»Die wäre?«

»Eine sehr ernste, dringende und flehentliche Bitte, die sie in den ergreifendsten Tönen ihrer Euch so wohlbekannten Stimme an Euch richtet.«

Der Gefangene wendete sein Angesicht halb ab.

»Ihr habt keine Zeit, mich zu fragen, warum ich der Überbringer sei und auf was sie abziele, wie denn auch mir die Zeit zum Antworten gebricht. Laßt’s Euch genügen, wenn ich Euch sage: legt diese Eure Stiefel ab und zieht die meinigen an.«

Hinter dem Gefangenen stand ein Stuhl an der Wand der Zelle. Carton hatte mit Blitzeseile ihn darauf niedergedrückt und stand im Nu barfüßig vor ihm.

»Zieht meine Stiefel an. Hand angelegt; zieht herzhaft hurtig!«

»Carton, von hier ist an ein Entrinnen nicht zu denken. Es geht nicht. Ich zöge Euch nur mit in den Untergang. Es ist Wahnsinn.«

»Es wäre allerdings Wahnsinn, wenn ich Euch zumuten wollte zu fliehen; aber tu ich dies denn? Wenn ich von Euch verlange, Ihr sollet zu jener Tür hinausgehen, dann mögt Ihr sagen, es sei Wahnsinn, und könnt dableiben. Tauscht Eure Halsbinde gegen die meinige. Euren Rock gegen den meinigen aus. Und während Ihr dies tut, will ich das Band aus Eurem Haar nehmen und Euer Haar so durcheinander werfen wie das meinige.«

Mit wunderbarer, fast übernatürlich scheinender Behendigkeit und Kraft des Willens sowohl als der Tat zwang er dem andern alle diese Veränderungen auf. Der Gefangene war in seinen Händen wie ein kleines Kind.

»Carton! Lieber Carton! Es ist Wahnsinn. Es kann nicht gelingen und ist nie gelungen; man hat es schon versucht, aber es ist immer mißglückt. Ich bitte Euch, macht mir den Tod nicht durch den Eurigen noch herber.«

»Verlang‘ ich denn von Euch, Ihr sollet zu der Tür hinausgehen, mein lieber Darnay? Wenn ich Euch dieses Ansinnen stelle, so ist es immer noch Zeit, Euch zu weigern. Ihr habt da Tinte, Feder und Papier auf Eurem Tisch. Ist Eure Hand stetig genug, um zu schreiben?«

»Sie war es, als Ihr hereinkamt.«

»So nehmt Euch wieder zusammen und schreibt, was ich Euch diktiere. Rasch, Freund, rasch!«

Die Hand an den wirren Kopf drückend, setzte sich Darnay vor dem Tisch nieder. Carton stand dicht neben ihm und hatte die rechte Hand in seiner Brust stecken.

»Schreibt genau, was ich sage.«

»An wen soll ich adressieren?«

»An niemanden.« Carton hatte noch die Hand in seiner Brust.

»Datum?«

»Kein«.«

Der Gefangene schaute bei jeder Frage auf. Carton stand mit der Hand in seiner Brust neben ihm und sah auf ihn nieder.

»Wenn Ihr Euch der Worte erinnert«, sagte Carton diktierend, »die vor langer Zeit zwischen uns fielen, so werdet Ihr diese Zeilen leicht verstehen, wenn sie Euch zu Gesicht kommen. Ich weiß, Ihr erinnert Euch ihrer. Es liegt nicht in Eurer Natur, etwas Derartiges zu vergessen.«

Er zog seine Hand aus der Brust; als der Gefangene zufällig verwundert von seinem Papier aufsah, fuhr die Hand zurück und schloß sich über etwas.

»Habt Ihr geschrieben zu vergessen?« fragte Carton.

»Ja. Was habt Ihr in der Hand? Eine Waffe?«

»Nein. Ich bin nicht bewaffnet.«

»Was habt Ihr sonst?«

»Ihr werdet’s bald erfahren. Schreibt fort. Es sind nur noch wenige Worte.« Er diktierte wieder. »Ich danke Gott, daß die Zeit gekommen ist, in der ich sie betätigen kann, und wenn ich es tue, so geschieht es ohne Leid und Bedauern.« Während er diese Worte, ohne seine Augen von dem Schreiber zu verwenden, sprach, bewegte sich seine Hand leicht und langsam gegen das Gesicht des Gefangenen hin.

Die Feder entsank Darnays Fingern, und er starrte ausdruckslos umher.

»Was ist dies für ein Geruch?« fragte er.

»Geruch?«

»Es ist mir etwas in die Nase gekommen.«

»Ich weiß von nichts. Ihr bildet Euch dies ein. Nehmt die Feder wieder auf, daß wir fertig werden. Rasch, rasch!«

Der Gefangene suchte, als sei sein Gedächtnis verwirrt oder sein Geist nicht in Ordnung, sich zu sammeln. Wahrend er mit umwölktem Blick und schwer gehendem Atem Carton ansah, schaute dieser, die Hand wieder in seiner Brust, stetig auf ihn nieder.

»Rasch, rasch!«

Der Gefangene beugte sich abermals über sein Papier.

»Wäre es nicht so«, Cartons Hand stahl sich wieder sachte und behutsam nieder, »so würde ich nicht die Gelegenheit dazu benutzt haben. Aber dann lastete wohl«, die Hand schwebte vor dem Gesicht des Gefangenen, »noch manche schwere Verantwortung auf meiner Seele. Wäre es anders gewesen «

Carton sah nach der Feder hin und bemerkte, daß sie träge nur noch unleserliche Zeichen hinkritzelte. Seine Hand bewegte sich nicht mehr nach der Brust. Der Gefangene sprang mit einem vorwurfsvollen Blick auf, aber Cartons Hand war dicht und fest an seinen Nasenlöchern, und dessen linker Arm hatte sich um seinen Leib geschlungen. Einige Augenblicke kämpfte er schwach gegen den Mann an, der gekommen war, um für ihn sein Leben zu opfern. Aber nach Ablauf einer Minute oder so lag er besinnungslos am Boden.

Hurtig und mit ebenso sicherer Hand wie mit treuem Herzen schlüpfte Carton in die Kleider, die der Gefangene abgelegt hatte, kämmte sich das Haar zurück und band es mit dem Band zusammen, das Darnay getragen hatte. Dann rief er leise: »So, jetzt herein!« und der Spion trat in die Zelle.

»Seht Ihr?« sagte Carton aufschauend, während er neben dem besinnungslosen Manne auf einem Knie lag und das Papier in dessen Brusttasche steckte: »lauft Ihr da große Gefahr?«

»Mr. Carton«, antwortete der Spion mit einem schüchternen Fingerschnippen, »bei der Menge des Geschäfts an diesem Platze liegt meine Gefahr nicht hierin, wenn Ihr nur der Übereinkunft im Ganzen treu bleibt.«

»Fürchtet nichts von mir. Ich werde treu sein bis in den Tod.«

»Dies müßt Ihr auch, Mr. Carton; denn an der Zahl Zweiundfünfzig darf nichts fehlen. Wenn Ihr in diesem Anzug auftretet, so werde ich nichts zu fürchten haben.«

»Seid unbesorgt. Ich werde bald da sein, wo ich Euch nicht mehr schaden kann, und so Gott will, sind die andern bald weit von hier. Legt Hand an und bringt mich nach der Kutsche.«

»Euch?« fragte der Spion ängstlich.

»Den, mit dem ich mich ausgewechselt habe, Mensch. Ihr geht wieder zu dem Tor hinaus, durch das Ihr mich hereingebracht habt?«

»Natürlich.«

»Ich war schwach und elend, als ich mit Euch herkam, und seitdem ist mir viel schlechter geworden. Der Abschiedsschmerz hat mich überwältigt. Solche Dinge sind hier schon oft, nur zu oft vorgekommen. Euer Leben steht in Eurer eigenen Hand. Geschwind, ruft Beistand herbei!«

»Ihr schwört, mich nicht zu verraten?« sagte der zitternde Spion, der noch im letzten Augenblick zögerte.

»Mensch, Mensch!« rief Carton mit dem Fuße stampfend, »habe ich nicht bereits das feierliche Gelübde getan, dies zu Ende zu bringen? Warum vergeudest du jetzt die kostbaren Augenblicke? Schafft ihn nach dem Hofe hinunter, setzt Euch selbst zu ihm in den Wagen, bringt ihn zu Mr. Lorry und sagt ihm, er brauche kein anderes Belebungsmittel als frische Luft; er soll meiner Worte und seiner Zusage von gestern nacht eingedenk sein und unverweilt fortfahren.«

Der Spion entfernte sich, und Carton nahm an dem Tisch Platz, die Stirne mit den Händen unterstützend. Bald darauf kehrte Barsad mit zwei Männern zurück.

»He, was ist dies?« sagte der eine, die hingestreckte Gestalt betrachtend. »So tief betrübt, daß sein Freund in der Lotterie der heiligen Guillotine einen Preis gewonnen hat?«

»Einem guten Patrioten«, bemerkte der andere, »wäre es kaum schwerer zu Herzen gegangen, wenn der Aristokrat eine Niete gezogen hätte.«

Sie hoben den Besinnungslosen auf, schoben ihn in eine Sänfte, die sie mit herausgebracht hatten, und schickten sich an, ihn fortzutragen.

»Die Zeit ist kurz, Evrémonde«, sagte der Spion mit warnender Stimme.

»Ich weiß es wohl«, antwortete Carton. »Ich bitte, nehmt meinen Freund in acht, und verlaßt mich.«

»So kommt, meine Kinder«, sagte Barsad. »Auf und fort!«

Die Tür schloß sich, und Carton war allein. Er lauschte so aufmerksam, als er konnte, ob sich nicht ein Ton vernehmen lasse, der Argwohn oder gar Entdeckung verriete. Nein. Schlüssel klirrten, Türen schlugen zu, und Fußtritte bewegten sich durch die fernen Gänge; aber aus keiner Richtung tönte ein Lärm oder Getöse, das als ungewöhnlich erscheinen konnte. Nachdem er eine Weile freier geatmet hatte, setzte er sich an den Tisch nieder und horchte aufs neue, bis die Glocke zwei schlug.

Nun begannen Töne hörbar zu werden, die er nicht fürchtete, da er ihre Bedeutung ahnte. Mehrere Türen wurden der Reihe nach geöffnet, endlich auch seine eigene. Ein Schließer mit einer Liste in der Hand sah bloß herein und sagte: »Folgt mir, Evrémonde.« Der Mann führte ihn weit weg nach einem großen dunkeln Saal. Es war ein trüber Wintertag, und bei dem Dunkel von innen und dem Dunkel von außen konnte er die andern, die man hergebracht hatte, um ihnen die Hände zu binden, nur undeutlich unterscheiden. Einige standen, andere saßen. Etliche, aber nur wenige, gingen unstet und jammernd hin und her. Die meisten verhielten sich still und hatten die Blicke auf den Boden geheftet.

Er stand in einem dunkeln Winkel an die Wand gelehnt, als nach ihm noch mehr von den zweiundfünfzig hereingebracht wurden. Ein Mann machte im Vorübergehen halt, um ihn als einen Bekannten zu umarmen. Furcht vor Entdeckung durchschauerte ihn. Aber der Mann ging weiter. Einige Augenblicke später erhob sich eine weibliche Gestalt mit mädchenhaften Zügen, ein liebliches, schmächtiges, leichenblasses Gesicht mit großen, weit offenen, geduldigen Augen von dem Sitze, wo er sie beobachtet hatte, und kam auf ihn zu, um ihn anzureden.

»Bürger Evrémonde«, sagte sie, ihn mit kalter Hand berührend, »ich bin die arme Näherin, die mit Euch in der Force saß.«

Er murmelte als Antwort:

»Richtig. Ich vergaß, wessen Ihr angeklagt seid.«

»Des Komplotts, obschon der gerechte Himmel weiß, daß ich so unschuldig bin wie nur irgendein Mensch. Wie wäre es auch möglich? Wer dächte ans Verschwören mit einem so armen, schwachen Geschöpf, wie ich bin?«

Das schmerzliche Lächeln, mit dem sie dies sprach, bewegte ihn so, daß ihm Tränen in die Augen traten.

»Ich fürchte mich nicht zu sterben, Bürger Evrémonde; aber ich habe nichts verbrochen. Ich sterbe gern, wenn die Republik, die den Armen so viel Gutes bringen soll, von meinem Tod einen Vorteil hat. Nur sehe ich nicht ein, wie dies möglich ist, Bürger Evrémonde. So ein armes, schwaches, kleines Geschöpf!«

Eine letzte Erdenregung – sein Herz schlug wärmer und voll Mitleid für das bejammernswürdige junge Wesen.

»Ich hörte, Ihr seid in Freiheit gesetzt, Bürger Evrémonde, und hoffte, es möchte wahr sein.«

»Es war so. Aber ich wurde wieder festgenommen und verurteilt.«

»Wenn ich auf Euren Wagen komme, Bürger Evrémonde, so erlaubt Ihr mir wohl, mich an Eurer Hand zu halten? Ich fürchte mich nicht; aber ich bin klein und schwach, und es würde mich ermutigen.«

Als sie ihre geduldigen Augen zu seinem Gesicht erhob, las er darin einen plötzlichen Zweifel und dann den Ausdruck des Erstaunens. Er drückte ihre magern, vom Hunger abgezehrten Finger und fühlte sie an seine Lippen.

»Ihr wollt für ihn sterben?« flüsterte sie.

»Und für sein Weib und sein Kind. Pst! Ja.«

»Und Ihr wollt mir erlauben, daß ich mich an Eurer Hand halte, edler Fremdling?«

»Pst! Ja, meine arme Schwester: bis ans Ende.« Dieselben Schatten, die auf das Gefängnis niederfallen, lagern um dieselbe frühe Stunde des Nachmittags auf dem Gewühl, das draußen die Barriere umgibt. Eine Kutsche, die Paris verlassen will, kommt angefahren und wird visitiert.

»Wer kommt da? Wer ist drinnen? Papiere?«

Die Papiere wurden hinausgereicht und untersucht.

»Alexander Manette. Arzt. Franzose. Welcher ist es?«

Dieser hier, der hilflose, unverständlich vor sich hinmurmelnde, geistesschwache alte Mann.

»Es scheint, der Bürger Doktor ist nicht recht bei Sinnen. Das Revolutionsfieber wird ihm wohl zu stark gewesen sein.«

Jawohl; viel zu stark.

»Ha, es geht vielen so. Lucie. Seine Tochter. Französin. Welche ist’s?«

Diese hier.

»Ja, die ist’s augenscheinlich. Lucie, das Weib Evrémondes, nicht wahr?«

Ja.

»Ha, Evrémonde hat seinen Paß anderswohin visiert erhalten. Lucie, ihr Kind. Geborne Engländerin. Ist’s diese?«

Sie und keine andere.

»Gib mir einen Kuß, Kind des Evrémonde. Na, du hast einen guten Republikaner geküßt, und das ist etwas Neues in deiner Familie. Vergiß es nicht. Sydney Carton. Rechtsanwalt. Engländer. Welcher ist’s?«

Er liegt hier in der Wagenecke. Auch er wird besichtigt.

»Es scheint, der englische Advokat ist ohnmächtig?«

Man hofft, er werde sich erholen, wenn er in die frische Luft kommt. Er ist von schwächlicher Gesundheit und wurde von einem Freund getrennt, der sich das Mißfallen der Republik zugezogen hat.

»Sonst nichts? Das will nicht viel heißen. Viele ziehen sich das Mißfallen der Republik zu und müssen durch das kleine Fenster schauen. Jarvis Lorry. Bankier. Engländer. Welcher ist’s?«

»Ich bin’s natürlich; es ist sonst niemand mehr da.«

Jarvis Lorry ist’s, der alle die früheren Fragen beantwortet hat. Er ist ausgestiegen und steht da, die Hand auf dem Kutschenschlag, um den Barrierewächtern Auskunft zu geben. Sie umwandeln gemächlich den Wagen und besteigen das Fußbrett, um das wenige Gepäck auf dem Dache zu untersuchen. Die Landleute lungern umher, drängen sich rechts und links an den Kutschenschlag und glotzen hinein. Ein Kind, das die Mutter auf den Armen trägt, streckt den kleinen Arm aus, um das Weib eines Aristokraten anzurühren, der zur Guillotine gegangen ist.

»Da habt Ihr Eure unterzeichneten Papiere, Jarvis Lorry.«

»Kann man abfahren, Bürger?«

»Man kann abfahren. Vorwärts, Postillione. Glückliche Reise!«

»Gott befohlen, Bürger. Die erste Gefahr vorüber!«

Letztere Worte spricht Jarvis später, während er mit einem Blick nach oben die Hände faltet. Im Wagen herrscht Angst und Weinen, und der besinnungslose Reisende atmet schwer.

»Geht es nicht zu langsam? Kann man die Postknechte nicht bewegen, schneller zu fahren?« fragt Lucie, sich an den alten Mann anschmiegend.

»Es würde einer Flucht gleichsehen, meine Liebe. Wir dürfen sie nicht zu sehr drängen, um nicht Verdacht zu wecken.«

»Schaut zurück, schaut zurück, und seht, ob wir nicht verfolgt werden.«

»Der Weg ist frei, mein Kind. Bis jetzt kann ich noch nichts von einer Verfolgung wahrnehmen.«

Häuser zu zwei und drei ziehn an uns vorüber. Einzeln stehende Meiereien, verfallenere Gebäude, Gerbereien und dergleichen, offenes Land, Alleen mit laublosen Bäumen. Unter uns hartes unebenes Pflaster, zu beiden Seiten tiefer weicher Schmutz. Bisweilen geraten wir, wenn wir den rüttelnden Steinen ausweichen wollen, in spritzenden Schlamm, und bisweilen bleiben wir in den Pfützen und Geleisen stecken. Die Qual unserer Ungeduld wird dann so überwältigend, daß wir in wildem Schrecken aussteigen, davonrennen, uns irgendwo verstecken, kurz, alles tun wollen, nur nicht halten.

Aus dem freien Feld wieder zu verfallenen Gebäuden, einsamen Meierhöfen, Gerbereien und dergleichen, Häusern zu zwei oder drei und laublosen Alleen. Haben diese Männer uns getäuscht und bringen sie uns auf einem andern Weg wieder zurück? Sind wir nicht schon einmal hier gewesen? Gott sei Dank, nein. Ein Dorf. Schaut zurück, und seht, ob wir nicht verfolgt werden. Pst! das Posthaus.

Unsere vier Pferde werden gemächlich ausgespannt; die Kutsche bleibt träg und ohne Pferde in der engen Straße stehen, als wolle sie nie wieder fort. Langsam treten die neuen Rosse, eines um das andere, in ein sichtbares Dasein; in aller Muße kommen die neuen Postknechte nach und saugen und flechten an den Schmicken ihrer Peitschen. Gemächlich zählen die alten Postillione ihr Geld, verrechnen sich und kommen zu unbefriedigenden Resultaten. Und die ganze Zeit über klopfen unsere gepreßten Herzen mit einer Geschwindigkeit, als wollten sie den schnellsten Galopp der schnellsten Pferde, die je ihre Muskelkraft versuchten, überbieten.

Endlich sitzen die neuen Postknechte in ihren Sätteln, und die alten bleiben zurück. Wir haben das Dorf im Rücken. Es geht bergauf, wieder bergab und weiter in dem nassen Tiefland. Plötzlich geraten die Postillione in einen von lebhaften Gebärden begleiteten Wortwechsel; sie halten die Rosse an, daß sie sich bäumen. Wir werben verfolgt!

»Ho, ihr da drinnen im Wagen hört ihr?«

»Was soll’s?« fragt Mr. Lorry zum Fenster hinaussehend.

»Wie viele haben sie gesagt?«

»Ich verstehe Euch nicht.«

»Die andern Postknechte. Wie viele heut unter die Guillotine?«

»Zweiundfünfzig.«

»Ich sagt‘ es ja; eine hübsche Zahl. Mein Mitbürger da behauptet, sie hätten von zweiundvierzig gesprochen. Zehn Köpfe mehr sind schon der Mühe wert. Die Guillotine arbeitet wacker; sie gefällt mir. Hi, vorwärts!«

Die Nacht bricht herein mit ihrer Dunkelheit. Er bewegt sich stärker, beginnt wieder aufzuleben und unverständliche Worte zu stammeln. Er meint, sie seien noch immer beisammen, nennt ihn bei Namen und fragt ihn, was er in der Hand habe, O gütiger Himmel, erbarme dich unser und steh‘ uns bei! Schaut hinaus, und seht, ob wir nicht verfolgt werden!

Der Wind jagt uns nach, die Wolken fliegen uns nach, der Mond segelt hinter uns her, und die ganze wilde Nacht ist hinter uns her: aber bis jetzt werden wir von nichts anderm verfolgt.

Zweites Kapitel. Der Schleifstein.


Zweites Kapitel. Der Schleifstein.

Tellsons Bank befand sich in dem Saint-Germain-Viertel von Paris und hatte den einen Flügel eines großen Hauses inne, das vermittelst eines Hofes zugängig und gegen die Straße durch eine hohe Mauer und ein starkes Tor abgesperrt war. Das Haus gehörte einem vornehmen Adligen, der es bewohnt hatte, bis er sich in der Kleidung seines Koches den Unruhen entzog und über die Grenze ging. Jetzt ein gehetztes Wild, das vor den Jägern floh, war er doch trotz seiner Umwandlung kein anderer als derselbe Monseigneur, der für Mundgerechtmachung seiner Schokolade drei starke Männer brauchte, den Koch nicht mitgerechnet.

Monseigneur war fort, und die drei starken Männer taten für die Sünde, ihm einen hohen Lohn abgenommen zu haben, dadurch Buße, daß sie sich mehr als bereit und willig erwiesen, ihm am Altar der aufdämmernden einen und unteilbaren Republik mit dem Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod den Hals abzuschneiden. Monseigneurs Haus war anfangs mit Sequester belegt und dann vom Fiskus eingezogen worden. Es ging mit allen Dingen so schnell, und Dekret folgte auf Dekret mit so wilder Hast, daß jetzt in der dritten Nacht des herbstlichen Monats September patriotische Regierungskommissare im Besitz von Monseigneurs Haus waren, es mit der Trikolore bezeichnet hatten und in den Prunkzimmern Branntwein tranken.

Ein Geschäftsplatz in London, wie Tellsons Geschäftsplatz in Paris war, würde das Haus bald aus dem Häuschen und in die Zeitung gebracht haben. Denn was hätte wohl die gesetzte britische Achtbarkeit und Zahlungsfähigkeit zu den Kübeln mit Orangenbäumen in einem Bankhof, oder gar zu einem Liebesgott über dem Zahltisch gesagt? Doch so war es nun einmal. Tellsons hatten zwar den Kupido übertüncht; aber man konnte ihn noch immer in seiner leichten Leinwandbekleidung an der Decke sehen, wie er seinem nicht seltenen Brauche gemäß vom Morgen bis in die Nacht nach dem Geld zielte. In der Londoner Lombardstraße wäre durch den blinden Heiden 2, durch den mit einem Vorhang versehenen Alkoven hinter dem unsterblichen Knaben, durch den in die Wand eingelassenen Spiegel und durch die jungen Kontoristen, die bei jeder Gelegenheit an öffentlichen Tanzbelustigungen teilnahmen, unvermeidlich der Bankerott herbeigeführt worden. In Frankreich aber konnten Tellsons mit solchen Dingen recht gut fortfahren, ohne daß, solang die Zeit nicht aus ihrem Geleise kam, irgend jemand sich darüber entsetzte und sein Geld zurücknahm.

Welches Geld fortan gezogen wurde auf Tellsons und wieviel dort liegenblieb, verloren oder vergessen, welche Vorräte von Silbergeschirr und Geschmeide in Tellsons Verstecken lagen, während deren Inhaber in Gefängnissen moderten oder im Lause der Zelt einen gewaltsamen Tod fanden: wie viele Abrechnungen mit Tellsons in dieser Welt nimmer zum Abschluß kommen sollten, sondern in die andere hinübergeschleppt werden mußten niemand hätte in seiner Nacht mehr Auskunft darüber geben können als Mr. Jarvis Lorrn, obschon ihm diese Fragen schwer zu schaffen machten. Er saß bei einem frisch angezündeten Holzfeuer (das schlimme und unfruchtbare Jahr war frühzeitig kalt geworden), und auf seinem ehrlichen, mutigen Gesichte lag ein tieferer Schatten, als ihn die Hängelampe werfen oder irgendein Gegenstand im Zimmer verzerrt wiedergeben konnte ein Schatten des Entsetzens.

Er hatte die Räumlichkeiten der Bank bezogen, voll Treue gegen das Haus, von dem er ein Teil geworden wie der tiefwurzelnde Efeu. Sie erfreuten sich zufällig einer gewissen Sicherheit infolge der patriotischen Bestimmung des Hauptgebäudes. Aber das treue Herz des alten Ehrenmannes nahm dies nicht in Anschlag. Seiner Pflichterfüllung gegenüber waren ihm solche Nebenumstände gleichgültig. Auf der anderen Seite des Hofes, unter einer Kolonnade, befand sich ein ausgedehnter Kutschenraum, in dem noch immer Monseigneurs Kutschen standen. An zweien der Säulen waren zwei große flackernde Pechpfannen befestigt, und vor ihnen, im Freien, sah man einen mächtigen Schleifstein, eine rohe Maschine, die man augenscheinlich in der Eile aus einer benachbarten Schmiede oder sonstigen Werkstätte herbeigeschafft hatte. Mr. Lorry schauderte, wenn er beim Aufstehen durch das Fenster dieser harmlosen Gegenstände ansichtig wurde, und kehrte dann wieder zu seinem Sitz am Feuer zurück. Er hatte nicht nur das Glasfenster, sondern auch die Blenden davor geöffnet und mit zitternden Händen beide wieder geschlossen.

Von der Straße hinter der hohen Mauer und dem starken Tor her vernahm man das gewöhnliche Gesumm einer großen Stadt und daraus bisweilen unbeschreibliches Klingen, gespenstisch und unirdisch, als ob ungewohnte Töne von schrecklicher Beschaffenheit zum Himmel aufstiegen.

»Gott sei Dank«, sagte Mr. Lorry, die Hände zusammenschlagend, »daß niemand, der mir nah und teuer ist, sich heute nacht in dieser schrecklichen Stadt befindet. Möge Er Erbarmen haben mit allen, die in Gefahr sind!«

Bald nachher ertönte die Glocke an dem großen Tor. »Sie sind zurückgekommen«, dachte er und blieb lauschend sitzen. Aber es brach nicht geräuschvoll in den Hof herein, wie er erwartet hatte. Er hörte, wie das Tor wieder zuschlug: dann war alles still.

Die Bangigkeit, die seine Brust beengte, flößte ihm in bezug auf die Bank jene unbestimmte Unruhe ein, deren man sich unter solchen Umständen nicht erwehren kann, wenn man sich einer schweren Verantwortlichkeit bewußt ist. Wohl war alles gut gehütet, und er wollte eben bei den treuen Wächtern einen Umgang halten, als seine Tür plötzlich aufging und zwei Gestalten hereinstürzten, bei deren Anblick er erstaunt zurückfuhr.

Lucie und ihr Vater! Lucie, die ihre Arme ihm entgegenbreitete, mit jenem alten Nick, so voll des konzentriertesten und angespanntesten Ernstes, daß es den Anschein gewann, er sei ausdrücklich auf ihr Gesicht gestempelt, um ihm Kraft und Nachdruck zu verleihen in diesem einen Abschnitt ihres Leben«.

»Was soll dies?« rief Mr. Lorry in atemloser Verwirrung. »Was gibt es? Lucie! Manette! Was ist vorgefallen? Was führt euch hierher? Was ist los?«

Blaß und außer sich, mit flehentlicher Miene stürzte sie in seine Arme und rief:

»O mein teurer Freund mein Gatte!«

»Euer Gatte, Lucie?«

»Charles.«

»Was ist mit Charles?«

»Er ist hier.«

»Hier in Paris?«

»Ja, schon seit einigen Tagen seit drei oder vier ich weiß nicht, wie vielen; denn ich kann meine Gedanken nicht zusammenbringen. Eine edelmütige Absicht führte ihn ohne unser Vorwissen hierher: er wurde an der Barriere angehalten und ins Gefängnis geschickt.«

Der alte Mann stieß einen ununterdrückbaren Schrei aus. Jetzt im nämlichen Augenblick läutete die Glocke an dem großen Tore wieder, und tumultuarische Fußtritte und Stimmen drangen in den Hof.

»Was ist dies für ein Lärm?« fragte der Doktor, am das Fenster tretend.

»Seht nicht hinaus«, rief Mr. Lorry. »Seht ja nicht hinaus, Manette! So lieb Euch Euer Leben ist, rührt die Blende nicht an.«

Der Doktor wandte sich um, ohne die Hand von dem Fensterriegel zu entfernen, und sagte mit einem ruhigen, kühnen Lächeln:

»Mein teurer Freund, ich habe in dieser Stadt ein gefeites Leben: denn bin ich nicht ein Bastillegefangener gewesen? Es gibt keinen Patrioten in Paris in Paris? nein in ganz Frankreich, der, wenn er weiß, daß ich in der Bastille lag mich anders antasten würde, als um mich mit Umarmungen zu überhäufen und im Triumph umherzutragen. Mein altes Unglück hat mir eine Gewalt verliehen, die uns durch die Barriere half, uns dort Kunde von Charles verschaffte und uns hierher brachte. Ich wußte, daß dies der Fall sein würde wußte, daß es mir gelingen müsse, Charles von aller Gefahr zu befreien, und habe es Lucie zum voraus gesagt. Was ist doch dies für ein Getöse?«

Seine Hand machte sich aufs neue mit dem Fenster zu schaffen.

»Schaut nicht hinaus!« rief Mr. Lorry in heller Verzweiflung. »Nein, Lucie, meine Liebe, auch Ihr nicht!« Er umschlang sie mit den Armen und hielt sie zurück. »Erschreckt nicht so, meine Liebe: ich schwöre Euch feierlich, daß mir nichts von einem Unglück bekannt ist, das Charles betroffen haben könnte. Ja, ich hatte nicht einmal eine Ahnung, daß er in dieser unseligen Stadt sich befindet. In welchem Gefängnis ist er?«

»In der Force!«

»In der Force! Lucie, mein Kind, wenn Ihr je in Eurem Leben wacker und zu etwas brauchbar gewesen seid und Ihr wäret das ja immer so nehmt Euch jetzt zusammen und tut genau, was ich Euch heiße: denn es hängt mehr davon ab, als Ihr denkt oder ich Euch sagen kann. Heute abend kann ich Euch unmöglich aus dem Hause lassen, da alles, was Ihr auch jetzt tun möchtet, zu nichts führen würde. Ich muß Euch dies um Charles willen befehlen, obschon ich weiß, daß es das Schwerste ist, was man von Euch verlangen kann. Aber vorderhand müßt Ihr gehorsam, still und ruhig sein und mir erlauben, daß ich Euch in einem der hinteren Zimmer verberge. Ich wünsche, ein paar Minuten mit Eurem Vater allein zu sein, und da sich’s dabei um Leben und Tod handeln kann, so muß dies sogleich geschehen.«

»Ich will gern alles tun, was Ihr verlangt. Ich sehe in Eurem Gesicht, daß Ihr wohl wißt, wie ich nicht anders kann, da ich ja Euer treues Herz kenne.«

Der alte Mann küßte sie, schob sie in sein Zimmer und drehte den Schlüssel um; dann kam er hastig zurück, öffnete das Fenster und teilweise die Blende, legte die Hand auf den Arm des Doktors und sah mit ihm in den Hof hinunter.

Da war ein Gedränge von Männern und Weibern, nicht sehr zahlreich, aber doch nahezu genug, um den Hof zu füllen; es mochten im ganzen vierzig oder fünfzig Köpfe sein. Die Leute, die im Besitz des Hauses waren, hatten sie zum Tore hereingelassen, und sie eilten zur Arbeit an den Schleifstein, der wahrscheinlich da aufgestellt worden war, weil man den Platz für bequem und abgeschieden gehalten.

Aber welche schrecklichen Arbeiter – welche schreckliche Arbeit!

Der Schleifstein hatte eine doppelte Handhabe, an der sich wie toll ein paar Männer abmühten, deren Gesichter, wenn beim jeweiligen Auftauchen derselben das lange Haar zurückschlug, schrecklicher und grausamer sich ausnahmen als die Gesichter der wildesten Wilden in ihrem barbarischsten Kriegesschmuck. Falsche Augenbrauen und falsche Schnurrbärte klebten daran. Die gräßlichen Fratzen troffen von Blut und Schweiß, waren verzerrt vom Heulen und strotzten und glotzten von bestialischer Aufregung und Mangel an Schlaf. Während die Wüteriche drehten und drehten, fielen die verfilzten Haare bald über die Augen nieder, bald nach dem Nacken zurück. Weiber standen daneben und hielten ihnen zum Trinken Wein an den Mund: und unter dem niederträufelnden Blut, dem niederträufelnden Wein und den Funken, die dem Stein entsprühten, schien die ganze entsetzliche Atmosphäre nur aus Blut und Feuer zu bestehen. In der ganzen Gruppe konnte das Auge kein Gesicht entdecken, das nicht dieselbe gräßliche Bemalung gezeigt hätte. Bis zum Gürtel nackte Männer, die sich wechselseitig gegen den Schleifstein hindrängten, trugen die Blutmale über den ganzen Leib und die Glieder hin; andere zeigten in den elenden Lumpen ihrer Bekleidung überall Blut und Blut, und wieder andere hatten sich teuflisch mit geraubten Weiberkleidern, Spitzen und Bändern herausgeputzt, die durch und durch von Blut starrten. Auch die Äxte, die Messer, die Bajonette, die Säbel, die man zum Schärfen herbeibrachte, waren davon gerötet. Einige der zerhackten Säbel steckten an der Seite ihrer Eigentümer in Gurten von Stricken, Leinwandbinden oder abgerissenen Kleiderstreifen Bandeliere der verschiedensten Art, aber alle in demselben Bade gefärbt. Und während die Träger dieser Waffen sie zurückrissen aus dem Funkenstrome und hinausstürzten in die Straßen, glühte es von demselben Rot in ihren wahnsinnigen Augen Augen, die mit einem gezielten Schuß zu versteinern jeder nicht zum Vieh gewordene Zuschauer zwanzig Jahre seines Lebens gegeben haben würde.

Alles dies wurde geschaut in einem Augenblick, wie etwa der Gesichtskreis eines Ertrinkenden oder irgendeines anderen menschlichen Wesens bei einem ähnlich bedrohlichen Lebensabschnitt eine Welt umfassen würde, wenn sie da wäre. Sie zogen sich vom Fenster zurück, und der Doktor blickte fragend seinem Freund in das aschfahle Gesicht.

»Sie ermorden die Gefangenen«, flüsterte Mr. Lorry, sich furchtsam in dem Zimmer umsehend. »Wenn Ihr wirklich von dem überzeugt seid, was Ihr sagt wenn Ihr die Macht habt, die Ihr zu besitzen meint und ich glaube, daß es so ist , so gebt Euch diesen Teufeln zu erkennen und laßt Euch von ihnen nach La Force mitnehmen. Vielleicht ist es schon zu spät was weiß ich? aber zögert keine Minute länger.«

Doktor Manette drückte ihm die Hand, eilte ohne Kopfbedeckung aus dem Zimmer und befand sich schon im Hof, als Mr. Lorry die Blende wieder zurückschob.

Sein wallendes weißes Haar, sein merkwürdiges Gesicht und die ungestüme Zuversichtlichkeit seines Benehmens, als er die Waffen wie Wasser zurückdrängte, führte im Nu ihn bis in die Mitte des um den Stein versammelten Haufens. Für einige Augenblicke trat eine Pause ein. Lorry vernahm ein Gewühl, ein Gemurmel und den undeutlichen Ton seiner Stimme: dann sah er, wie alle ihn umringten und wie er in der Mitte einer zwanzig Mann langen Reihe unter dem Rufe hinausgedrängt wurde: »Es lebe der Bastillegefangene! Hilfe der Verwandtschaft des Bastillegefangenen in der Force! Platz da vorn für den Bastillegefangenen! Rettet den gefangenen Evrémonde in der Force!« Und tausend Stimmen antworteten auf das Geschrei.

Mit klopfendem Herzen schloß Mr. Lorry die Blende und das Fenster wieder und schob den Vorhang vor. Dann eilte er zu Lucie und teilte ihr mit, daß ihr Vater unter dem Beistand des Volkes hingegangen sei, um ihren Gatten aufzusuchen. Sie hatte ihr Kind und Miß Proß bei sich, aber es fiel ihm nicht ein, sich über diese ihre Gesellschaft zu wundern, und er erstaunte erst lange nachher darüber, als ihm die Nacht so viel Ruhe gestattete, den anderen Anwesenden seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Lucie war, seine Hand umfassend, in einem Zustand von Betäubung zu Boden gesunken. Miß Proß hatte das Kind auf sein Bett niedergelegt, und ihr Haupt ruhte erschöpft neben dem teuren Pflegling auf dem Kissen. Oh, die lange, lange Nacht mit dem Stöhnen des armen Weibes! Und oh, die lange, lange Nacht, ohne daß ihr Vater oder Kunde von ihm zurückkam!

Noch zweimal ertönte in der Dunkelheit die Glocke des großen Tores; die Unterbrechung der Stille wiederholte sich, und aufs neue ging und sprühte der Schleifstein.

»Was ist dies?« rief Lucie erschreckt.

»Pst! Die Soldaten schärfen dort ihre Säbel«, antwortete Mr. Lorry. »Das Haue ist jetzt Nationaleigentum und dient als eine Art Rüstplatz, meine Liebe.«

Noch zweimal im ganzen; aber das letztemal ging die Arbeit nur matt und krampfhaft von statten. Bald nachher begann der Tag aufzudämmern. Mr. Lorry machte sich sanft von der ihn umklammernden Hand los und schaute vorsichtig wieder hinunter. Ein Mann, der derart mit Blut überzogen war, daß er einen schwerverwundeten, auf dem Schlachtfeld wieder zum Bewußtsein gekommenen Soldaten hätte vorstellen können, richtete sich neben dem Schleifstein von dem Pflaster auf und schaute unstet um sich her. Der erschöpfte Mörder bemerkte in dem unvollkommenen Licht einen von den Wagen Monseigneurs, taumelte auf die prächtige Karosse zu, kletterte hinein und schloß den Schlag, um sich auf den üppigen Polstern auszuruhen.

Der große Schleifstein Erde drehte sich, als Mr. Lorry wieder hinaussah, und die Sonne schien rot in den Hof. Aber der kleine Schleifstein stand einsam da in der ruhigen Morgenluft, und das Rot auf ihm rührte nicht von der Sonne her, die es auch nimmer zu bleichen vermochte.

  1. Amor als Liebesgott wird oft blind dargestellt; daher »der blinde Heide«.

Der Schatten


Der Schatten

Eine der ersten Rücksichten, die bei dem Beginn der Geschäftsstunden in Mr. Lorrys Geschäftshirn auftauchten, galt dem Umstand, daß er nicht befugt sei, Tellsons zu gefährden, indem er der Frau eines gefangenen Emigranten unter dem Dach der Bank einen Zufluchtsort gestattete. Sein Privateigentum, seine Sicherheit, ja, sein Leben würde er bereitwillig und ohne Zögern für Lucie und ihr Kind aufs Spiel gesetzt haben; aber das in ihn gesetzte Vertrauen legte ihm auch eine schwere Verantwortung auf, der gegenüber er der strenge Geschäftsmann war.

Er dachte zunächst an Defarge, dessen Weinhaus er wieder aufsuchen wollte, um sich mit ihm über die sicherste Wohnstätte, die sich in der wildbewegten Stadt finden ließ, zu beraten. Nach einigem Erwägen aber besann er sich eines anderen. Defarge wohnte in dem gewalttätigsten Stadtteil und besaß in demselben ohne Zweifel großen Einfluß, ja, war wohl gar an dem wilden Treiben der Bewohner tief beteiligt.

Der Mittag kam, ohne daß der Doktor zurückkehrte. Da jede Minute Tellsons mehr bloßstellte, so ging Mr. Lorry mit Lucie zu Rate. Sie sagte, ihr Vater habe davon gesprochen, für kurze Zeit in der Nähe des Bankhauses eine Wohnung zu mieten. Da sich hiergegen nichts einwenden ließ und der wackere Alte voraussah, daß Charles, wenn alles gut mit ihm ging und er in Freiheit gelangte, doch nicht hoffen durfte, aus der Stadt fortzukommen, so machte er sich auf den Weg, um ein geeignetes Quartier zu suchen, das er dann auch richtig hoch oben in einer abgelegenen Nebenstraße fand, wo die geschlossenen Jalousien eines melancholischen Gebäude-Vierecks lauter verlassene Wohnungen anzeigten.

Dahin schaffte er nun ohne Säumen Lucie mit ihrem Kind und Miß Proß, indem er ihnen mehr Trost mit auf den Weg gab, als er selbst empfand. Er ließ Jerry bei ihnen, der, wenn er sich unter die Tür stellte, schon einen Stoß aushalten konnte, und kehrte an seine Arbeit zurück. Freilich brachte er eine verstörte, traurige Stimmung mit, und es wollte mit der Arbeit gar nicht recht vorwärtsgehen.

So lag es denn schwer und drückend auf seiner Seele, bis er endlich die Bank schließen konnte. Er war wieder wie am Abend zuvor allein in seinem Zimmer und machte sich eben Gedanken, was er jetzt anfangen sollte, als er auf der Treppe Tritte vernahm. Einige Augenblicke später stand ein Mann vor ihm, der ihn scharf ins Auge faßte und bei seinem Namen anredete.

»Euer Diener«, versetzte Mr. Lorry. »Kennt Ihr mich?«

Es war ein kräftig gebauter Mensch mit dunklem krausem Haar, der seine fünfundvierzig bis fünfzig zählen mochte. Statt aller Antwort wiederholte er nur ohne einen Wechsel in der Betonung die Worte:

»Kennt Ihr mich?«

»Ich muß Euch schon irgendwo gesehen haben.«

»Vielleicht in meinem Weinhaus?«

Mr. Lorry entgegnete mit großer Aufregung und Teilnahme:

»Ihr kommt von Doktor Manette?«

»Ja. Ich komme von Doktor Manette.«

»Und was sagt er? Was läßt er mich durch Euch wissen?«

Defarge legte in seine zitternde Hand einen offenen Papierstreifen, auf dem in des Doktors Handschrift die Worte zu lesen waren:

»Charles ist wohlbehalten, obwohl es im gegenwärtigen Augenblick für mich nicht geraten ist, diesen Ort zu verlassen. Ich habe die Gunst ausgewirkt, daß der Überbringer dieses auch ein paar Zeilen von Charles an seine Frau besorgen darf. Laßt ihn zu ihr.«

Das Billett war der Bezeichnung nach eine Stunde vorher in der Force geschrieben worden.

»Wollt Ihr mich in die Wohnung seiner Frau begleiten?« sagte Mr. Lorry mit froher Erleichterung, nachdem er die Zuschrift laut gelesen hatte.

»Ja«, antwortete Defarge.

Mr. Lorry hatte die seltsam zurückhaltende und mechanische Art, in der Defarge sprach, bis jetzt kaum beachtet. Er setzte seinen Hut auf, und sie gingen miteinander in den Hof hinunter. Dort fanden sie zwei Frauen, von denen die eine strickte.

»Wahrhaftig, Madame Defarge!« sagte Mr. Lorry, der sie vor siebenzehn Jahren genau in derselben Haltung zum letztenmal gesehen hatte.

»Sie ist es«, bemerkte ihr Gatte.

»Geht Madame mit uns?« fragte Mr. Lorry, als er sah, daß sie mit ihnen gleichen Schritt hielt.

»Ja. Sie muß imstande sein, Personen und Gesichter zu erkennen. Es geschieht um ihrer Sicherheit willen.«

Nachgerade begann das Benehmen Defarges Mr. Lorry aufzufallen: er sah ihn zweifelhaft an und ging weiter. Die beiden Frauen folgten; die zweite war die Rache.

Sie gingen mit möglichster Geschwindigkeit durch die dazwischenliegenden Straßen, stiegen die Treppe der neuen Wohnung hinan und wurden von Jerry eingelassen. Lucie war allein und weinte. Man denke sich ihr Entzücken, als Mr. Lorry ihr Nachricht von ihrem Mann brachte. Sie drückte krampfhaft die Hand, die ihr sein Billett überlieferte, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was dieselbe Hand während der letzten Nacht in seiner Nähe getan hatte und, ohne einen Zufall, wohl an ihm selbst verübt haben würde.

»Meine Teure fasse Mut. Ich bin wohl, und Dein Vater besitzt Einfluß auf meine Umgebung. Du kannst mir nicht antworten auf diese Zeilen. Küsse unser Kind in meinem Namen.«

Dies war die ganze Mitteilung. Der Empfängerin aber erschien sie von so hohem Wert, daß sie sich von Defarge an dessen Weib wandte und eine der strickenden Hände küßte. Es war eine leidenschaftliche, liebevolle, dankbare weibliche Handlung; aber die Hand hatte keine Erwiderung dafür sie sank kalt und schwer nieder und nahm ihr Stricken wieder auf.

In der Berührung lag etwas, was Lucie erschreckte. Wie sie eben das Blatt in ihrem Busen verbergen wollte, hielt sie, die Hände bereits an ihrem Hals, plötzlich inne und schaute angstvoll auf Madame Defarge. Diese setzte der gefurchten Stirn einen kalten, teilnahmlosen Starrblick entgegen.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Lorry, zur Erklärung das Wort nehmend, »es gibt häufig Aufstände in den Straßen, und obgleich es nicht wahrscheinlich ist, daß Ihr dadurch beunruhigt werden könntet, so wünscht doch Madame Defarge diejenigen zu sehen, die sie in solchen Zeiten zu beschützen die Macht hat, damit sie dieselben kenne und ihre Identität zu beweisen imstande sei. Ich glaube«, sagte Mr. Lorry, in seinen beruhigenden Worten innehaltend, da ihm das eisige Benehmen der drei mehr und mehr auffiel, »daß dies der Zweck des Besuche« ist, Bürger Defarge?«

Defarge warf einen düsteren Blick auf sein Weib und antwortete nur mit einem dumpfen Ton, den man für eine Bejahung nehmen konnte.

»Es wird gut sein, Lucie«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er in Ton und Benehmen alles aufbot, um die Szene traulicher zu machen, »wenn Ihr das liebe Kind und die gute Proß herkommen laßt. Unsere gute Proß ist eine Engländerin, Defarge, und versteht nicht französisch.«

Die fragliche Dame, die der festen Überzeugung lebte, daß sie es mit jeder Ausländerin aufnehmen könne, ließ sich weder durch Bedrängnis noch durch Gefahr einschüchtern: sie trat mit verschlungenen Armen ein und bemerkte gegen die Rache, die ihren Blicken zuerst begegnete, in englischer Sprache:

»Schockschwerenot, Madame Ohnesorge, ich hoffe. Ihr befindet Euch ordentlich.«

Dann beehrte sie Madame Defarge mit einem britischen Hüsteln: aber keine von den beiden Weibern schenkten ihr eine sonderliche Beachtung.

»Ist dies das Kind?« sagte Madame Defarge, zum erstenmal in ihrer Arbeit innehaltend und mit der Stricknadel, als sei diese der Finger des Schicksals, auf die kleine Lucie deutend.

»Ja, Madame«, antwortete Mr. Lorry. »Dies ist das Töchterlein und das einzige Kind des armen Gefangenen.«

Der Schatten, der auf Madame Defarge und ihrer Begleitung ruhte, schien so finster und drohend auf das kleine Wesen niederzufallen, daß die Mutter instinktartig neben demselben auf den Boden niederkniete und es an ihre Brust drückte, Und der Schatten von Madame Defarge und den beiden andern traf nun drohend und finster Mutter und Kind zugleich.

»Es ist genug. Mann«, sagte Madame Defarge. »Ich habe sie gesehen. Wir brauchen nicht länger zu verweilen.«

Aber das abgemessene Wesen hatte genug Drohendes in sich – nicht deutlich ausgesprochen, wohl aber unbestimmt und verhalten –, so daß die Unruhe Lucie, die ihre Hand flehend auf das Kleid der Madame Defarge legte, die Worte eingab:

»Ihr werdet gütig sein gegen meinen armen Gatten. Ihr werdet ihm nichts zuleide tun. Wollt Ihr mir, wenn Ihr könnt, behilflich sein, ihn zu sehen?«

»Ich habe hier nichts mit Eurem Gatten zu schaffen«, entgegnete Madame Defarge, mit vollkommener Fassung auf sie niederschauend. »Die Tochter Eures Vaters ist’s, die mich hergeführt hat.«

»So seid um meinetwillen barmherzig gegen meinen Mann um meines Kindes willen! Sie soll ihre Händchen zusammenlegen und Euch um Erbarmen bitten. Wir fürchten uns mehr vor Euch als vor diesen anderen.«

Madame Defarge nahm dies als ein Kompliment auf und sah ihren Mann an. Defarge, der inzwischen unruhig an seinem Daumennagel gebissen hatte, erwiderte ihren Blick und suchte seinem Gesicht einen strengeren Ausdruck zu geben.

»Was schreibt Euch Euer Mann in seinem Billett?« fragte Madame Defarge mit einem lauernden Lächeln. »Einfluß sagt er etwas von Einfluß?«

»Ja, daß mein Vater Einfluß besitze auf seine Umgebung«, versetzte Lucie, die hastig den Papierstreifen hervorzog, aber den geängstigten Blick nicht auf die Zeilen warf, sondern ihn unverwandt auf der Fragerin haften ließ.

»So wird er ihm zuverlässig loshelfen«, sagte Madame Defarge. »Ich wünsche Glück.«

»Als Gattin und Mutter flehe ich zu Euch«, rief Lucie aus tiefster Seele, »habt Erbarmen mit mir und gebraucht die Gewalt, die Ihr besitzt, nicht gegen, sondern für meinen unschuldigen Mann. Ihr seid auch ein Weib erbarmt Euch der Gattin und der Mutter!«

Madame Defarge schaute kalt wie immer auf die Flehende nieder und sagte, indem sie sich an ihre Freundin, die Rache, wandte:

»Die Weiber und Mütter, die wir seit der Zeit gesehen haben, als wir noch so klein wie dieses Kind oder noch kleiner waren, sind gemeiniglich nicht sehr berücksichtigt worden. Haben wir nicht oft genug gesehen, wie man ihre Gatten und Väter ins Gefängnis warf und von ihnen getrennt hielt? Sind wir nicht unser Leben lang Zeugen gewesen, daß man Weiber und Kinder der Armut, der Not, dem Hunger, dem Durst, der Krankheit und dem Elend, kurz Bedrückungen und Vernachlässigungen aller Art preisgab?«

»Wir haben nichts anderes gesehen«, versetzte die Rache.

»Wir haben dies lange Zeit getragen«, fuhr Madame Defarge fort, indem sie den Blick wieder zu Lucie senkte. »Urteilt selbst, ob die Not eines Weibes und einer Mutter uns jetzt sonderlich anfechten kann.«

Sie nahm ihre Strickerei wieder auf und entfernte sich. Die Rache folgte. Defarge war der letzte und machte die Tür hinter sich zu.

»Mut, meine teure Lucie«, sagte Mr. Lorry, indem er sie aufrichtete. »Mut, Mut! Bis jetzt ist alles gut gegangen viel, viel besser, als es in den letzten Tagen so vielen armen Seelen erging. Verzaget nicht, sondern danket vielmehr dem Himmel.«

»Ich hoffe, daß ich nicht undankbar bin: aber dieses schreckliche Weib scheint einen Schatten auf mich und alle meine Hoffnungen zu werfen.«

»Pst! pst!« sagte Mr. Lorry. »Wozu dieser Kleinmut in Eurem wackeren Herzen? Ein Schatten ja: aber auch nur ein wesenloser Schatten, Lucie.«

Aber der Schatten in dem Benehmen dieser Defarge lagerte trotzdem auch auf ihm schwarz genug, und seine Seele fühlte sich tief bekümmert.

Viertes Kapitel. Windstille im Gewitter.


Viertes Kapitel. Windstille im Gewitter.

Doktor Manette kehrte erst am Morgen des vierten Tages seiner Abwesenheit wieder zurück. Was sich von den Vorfällen jener schrecklichen Zeit vor Lucie geheimhalten ließ, blieb ihr sorgfältig verborgen, und sie wußte noch lange hernach, nachdem sie sich für immer von Frankreich getrennt hatte, nicht, daß elftausend wehrlose Gefangene jeden Geschlechts und Alters vom Pöbel ermordet worden waren, daß dieses entsetzliche Schlachten vier Tage und vier Nächte gewährt hatte, und daß die Luft um sie her den greulichen Duft eines Leichenfeldes in sich barg. Was sie wußte, beschränkte sich darauf, daß ein Angriff auf die Gefängnisse gemacht worden sei, der alle politischen Gefangenen in Gefahr brachte, und daß das Volk einige herausgerissen und ermordet habe.

Dem Mr. Lorry teilte der Doktor unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß die Mörderbande ihn durch eine Szene des Gemetzels nach dem Gefängnis La Force gebracht habe. Dort sei von einem Gerichtshofe, dessen Mitglieder sich selbst ernannt hatten, Sitzung gehalten worden. Man habe die Gefangenen einzeln vorgeführt und in Bausch und Bogen erkannt, ob sie sofort abgetan, in Freiheit gesetzt oder, wie bei einigen wenigen geschah, wieder in ihre Zellen zurückgebracht werden sollten. Durch seine Führer dem Tribunal vorgestellt, habe er seinen Namen und Beruf genannt und sich als einen Bastillegefangenen zu erkennen gegeben, den man ohne Urteil und Recht achtzehn Jahre eingekerkert. Von den Richtern sei sodann einer aufgestanden und habe seine Identität bezeugt, nämlich Defarge.

Nachdem er aus den auf dem Tische liegenden Registern die Überzeugung gewonnen, daß sein Schwiegersohn noch unter den lebenden Gefangenen sei, habe er für dessen Leben und Freiheit eine bewegliche Bitte an das Tribunal gerichtet, dessen Mitglieder zum Teil schliefen, zum Teil wachten, zum Teil blutig vom Mord, zum Teil rein, zum Teil nüchtern, zum Teil betrunken waren. Bei den ersten wilden Begrüßungen, mit denen man ein so denkwürdiges Opfer des gestürzten Systems überschüttete, sei ihm zugestanden worden, daß Charles Darnay vor den ungesetzlichen Gerichtshof gebracht und verhört werde. Auch habe dem Anschein nach wenig zu seiner alsbaldigen Befreiung gefehlt; aber dann sei ein Hindernis (welcher Art dieses gewesen, hatte der Doktor nicht aufklären können) dazwischengetreten, das eine kurze geheime Besprechung zur Folge hatte. Der Präsident des Tribunals habe sodann Doktor Manette erklärt, der Gefangene müsse in Haft bleiben, solle aber um seinetwillen in einen sicheren, unverletzlichen Gewahrsam kommen. Der Gefangene sei auf ein Zeichen sogleich wieder in das Innere des Gefängnisses zurückgeführt worden. Er aber, der Doktor, habe dann dringlich um die Erlaubnis gebeten, bei seinem Schwiegersohn bleiben und sich persönlich davon überzeugen zu dürfen, daß derselbe weder aus Haß noch aus Zufall in die Hände der Banden gerate, deren mordgieriges Gezeter vor dem Tor draußen die Verhandlungen so oft unterbrach. Nachdem ihm hierin willfahrt worden, sei er in der Mordhalle geblieben, bis die Gefahr vorüber gewesen.

Die Auftritte, die er dort erlebte und die nur kurze Ruhepunkte für ein dürftiges Mahl oder den Schlaf gestatteten, sollen unerzählt bleiben. Die wahnsinnige Freude der Gefangenen, die gerettet worden waren, hatte ihn kaum weniger betäubt als die tolle Wildheit, mit der man die anderen in Stücke hieb. Ein Gefangener sei dort gewesen, sagte er, den man entlassen habe, gegen den aber irrtümlich einer von den Mördern beim Hinausgehen einen Pikenstoß führte. Der Doktor war ersucht worden, zu ihm zu gehen und seine Wunde zu verbinden; als er aber zu demselben Tor hinauskam, fand er ihn in den Armen einer Gesellschaft von Samaritern, die auf den Leichen ihrer Opfer saßen. Mit einer Inkonsequenz, die so ungeheuerlich war als irgend etwas in diesem schrecklichen nächtlichen Traume, hatten sie dem Arzte willige Handreichung getan, den Verwundeten mit der größten Sorgfalt gepflegt, eine Tragbahre für ihn gemacht und ihn mit aller Behutsamkeit fortgeschafft, dann aber wieder ihre Waffen aufgegriffen und aufs neue so blutdürstig dreingeschlagen, daß der Doktor die Augen mit den Händen bedeckte und diesen Greueln gegenüber ohnmächtig wurde.

Während Mr. Lorry diese vertrauliche Mitteilung anhörte, beobachtete er sorgsam das Gesicht seines jetzt zweiundsechzigjährigen Freundes, und in seinem Innern regte sich die Furcht, solche schrecklichen Erfahrungen könnten das alte Übel wieder aufwühlen: aber er hatte Mr. Manette nie so gesehen wie jetzt, nie denselben in seinem gegenwärtigen Charakter gekannt. Jetzt zum erstenmal fühlte der Doktor, daß sein früheres Leiden ihm Kraft und Macht verlieh; zum erstenmal fühlte er, daß er in jenem scharfen Feuer langsam das Eisen geschmiedet, mit dem er die Tür zu dem Gefängnis des Gatten seiner Tochter erbrechen und ihn in Freiheit setzen konnte. »Alles hat sich zum besten gefügt, mein Freund, und nichts ist umsonst und verloren gewesen. Wie mein geliebtes Kind dazu behilflich war, mich mir selbst zurückzugeben, so will ich mich jetzt bemühen, ihr den teuersten Teil ihres Ichs wiederzuverschaffen, und unter Gottes Beistand wird es mir gelingen!« So Doktor Manette. Und Jarvis Lorry mußte ihm wohl glauben, wenn er die leuchtenden Augen, das entschlossene Gesicht, den ruhigen Blick und die kräftige Haltung des Mannes betrachtete, dessen Leben ihm stets in dem Licht eines Uhrwerkes vorgekommen war, das man für eine lange Reihe von Jahren abgestellt hatte, und das, nun es wieder im Gang war, durch verstärkte Energie für den langen Schlummer seiner Kräfte Ersatz leistete.

Selbst größere Kämpfe, als der Doktor damals zu bestehen hatte, würden sich an der Festigkeit seines Willens gebrochen haben. Von seiner Stellung als Arzt Gebrauch machend, dem seine Pflicht auferlegte, mit Menschen aller Art, Gefangenen und Freien, Reichen und Armen, Guten und Bösen zu verkehren, wußte er seinen persönlichen Einfluß so weise zu benutzen, daß er bald zum Inspektionsarzt von drei Gefängnissen, darunter der Force, ernannt wurde. Er konnte nun Lucie die Versicherung geben, daß ihr Gatte sich nicht mehr in Einzelhaft, sondern unter den übrigen Gefangenen befand; er sah Charles alle Wochen und konnte ihr Liebesbotschaften von seinen eigenen Lippen bringen; bisweilen wußte Charles sogar ihr ein Briefchen zuzustellen, obschon nie durch des Doktors Hand: aber sie durfte ihm nicht darauf antworten, denn der unsinnige Wahnglaube an Gefängniskomplotte zielte besonders auf jene Emigranten ab, von denen man wußte, daß sie im Ausland Freunde gewonnen oder dauernde Verbindungen eingegangen hatten.

Das neue Leben des Doktors war ohne Zweifel ein sorgenvolles, aber der schlaue Mr. Lorry bemerkte bald, daß ihm dabei ein gewisser Stolz zur Stütze diente. Es war ein natürlicher, ein ehrenwerter Stolz, frei von allem Ungehörigen; aber doch kam er ihm als eine Merkwürdigkeit vor. Der Doktor wußte, daß die Tochter und der Freund mit seiner Gefangenschaft bisher stets das Bild seiner geistigen Verwirrung, seiner Entbehrungen und seiner Schwäche in Verbindung gebracht hatten. Nun dies anders war und er sich um seiner alten Prüfungen willen mit Kräften versehen sah, von denen sich beide die endliche Bergung und Befreiung Darnays versprachen, fühlte er sich durch den Wechsel so gehoben, daß er die Leitung von allem übernahm und von ihnen, den Schwachen, verlangen konnte, ihm, dem Starken, zu vertrauen. Das Verhältnis zwischen ihm und Lucie hatte sich umgekehrt, jedoch nur, wie dies unbeschadet der innigsten Dankbarkeit geschehen konnte; denn sein höchstes Glück bestand darin, ihr, die ihm so viel geopfert hatte, einige Dienste zu leisten. »Ganz merkwürdig anzusehen«, dachte Mr. Lorry in seiner gemütlich schlauen Weise, »aber ganz natürlich und in der Ordnung. So nimm nur das Steuer, mein lieber Freund, und halt es fest; es könnte in keinen besseren Händen sein.«

Aber obgleich sich der Doktor unablässig alle Mühe gab, die Befreiung von Charles Darnay durchzusetzen oder es wenigstens dahin zu bringen, daß er vor Gericht gestellt wurde, war doch die Flut der Zeit zu schnell und zu mächtig für ihn. Die neue Ära begann. Der König wurde gerichtet, verurteilt und enthauptet, die Republik mit dem Wahlspruch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod erklärte sich für einen Kampf auf Leben und Tod gegen die Waffen einer ganzen Welt; das schwarze Banner flatterte Tag und Nacht über den hohen Türmen von Notre-Dame; dreimalhunderttausend Mann, die gegen die Tyrannen der Erde aufgeboten waren, erhoben sich aus den verschiedenen Teilen Frankreichs, als seien überall mit breiten Würfen die Drachenzähne gesät worden und gleich gut gediehen auf dem Berge und in der Ebene, im Felsgestein und im Alluvialschlamm, unter dem klaren Himmel des Südens wie unter den Wolken des Nordens, in Feld und Wald, in Weinbergen und Ölgärten, unter dem gemähten Gras und den Stoppeln des Ackers, die fruchtbaren Ufer der breiten Flüsse entlang und im Sande der Meeresküste. Welche Einzelsorge konnte etwas ausrichten gegen die Überschwemmung des Jahres Eins der Freiheit gegen eine Überschwemmung, die aus den Tiefen emporstieg, nicht von oben her kam und sich nicht wieder zerteilte, als sich die Fenster des Himmels schlössen.

Da war kein Halten, kein Erbarmen, kein Friede, kein Zwischenraum der Ruhe, kein Zeitmaß. Obgleich Tag und Nacht so regelmäßig einander folgten, wie in der Jugend der Zeit, als es Abend und Morgen ward, der erste Tag, gab es doch kein anderes Zählen. Der Anhaltspunkt war in dem tobenden Fieber einer Nation verlorengegangen wie in dem Fieber eines Kranken. Jetzt zeigte, die unnatürliche Stille einer ganzen Stadt unterbrechend, der Henker dem Volke den Kopf eines Königs und jetzt (es schien fast in demselben Atem zu geschehen) das Haupt seiner schönen Witwe, das in acht langen Monaten der Gefangenschaft und des Elends Zeit gehabt hatte, grau zu werden.

Und doch – wie seltsam macht sich das Gesetz des Widerspruchs in allen solchen Fällen geltend war es eine lange Zeit, die so schnell dahinflammte. Ein revolutionäres Tribunal in der Hauptstadt und vierzig- oder fünfzigtausend revolutionäre Komitees über das ganze Land; ein Gesetz gegen die Verdächtigen, das mit einem Federzug alle Sicherheit für Freiheit oder Leben austilgte und die Guten und Unschuldigen den Schlechten und Schuldigen überantwortete; Gefängnisse gepfropft voll mit Leuten, die kein Verbrechen begangen hatten und doch kein Gehör finden konnten dies waren lauter Dinge, die zur Tagesordnung und schon nach einigen Wochen zu selbstverständlichen Bräuchen wurden, als stammten sie aus unvordenklichen Zeiten her. Vor allem aber gewöhnte man sich schnell an eine gräßliche Gestalt so gut, als sei sie schon mit dir Schöpfung der Welt ins Dasein getreten an die Gestalt des scharfen Frauenzimmers, Guillotine genannt.

Sie war das populäre Thema für Scherze. Man nannte sie das beste Mittel gegen Kopfweh, ein untrügliches Präservativ gegen das Grauwerden der Haare. Sie verlieh dem Teint eine eigentümliche Zartheit und war das Nationalrasiermesser, das am schärfsten rasierte. Wer die Guillotine küßte, guckte durch das kleine Fenster und nieste in den Sack. Sie war das Zeichen für die Wiedergeburt des Menschengeschlechts und hatte das Kreuz ersetzt. Medaillen mit ihrem Bilde wurden auf der Brust getragen, von der das Kreuz entfernt worden; man beugte sich vor ihr und glaubte an sie, während man von dem Kreuze nichts mehr wissen wollte.

Sie schor so viele Köpfe ab, daß sie und der Boden, den sie am meisten befleckten, von moderndem Kot starrte. Man zerlegte sie in Stücke wie ein Spielzeug für einen jungen Teufel und setzte sie wieder zusammen, wenn sich Gelegenheit zu ihrem Gebrauch ergab. Sie brachte den Beredten zum Schweigen, schlug den Mächtigen nieder und vernichtete die Schönheit und die Tugend. Zweiundzwanzig Freunden von hoher öffentlicher Stellung, einundzwanzig lebenden und einem toten, hatte sie an einem Morgen in ebenso vielen Minuten die Köpfe abgehauen. Der Name des starken Mannes im Alten Testament war auf den Hauptwürdenträger übergegangen, der sie spielen ließ; und mit dieser Waffe war er stärker als sein Namensvetter und blinder; denn er riß jeden Tag die Tore von Gottes eigenem Tempel weg.

Unter diesen Schrecken und der zu ihnen gehörigen Brut ging der Doktor sicheren Hauptes umher; denn er vertraute seiner Macht, verfolgte behutsam seinen Zweck und zweifelte keinen Augenblick daran, daß es ihm endlich gelingen werde, Lucies Gatten zu retten. Aber der Strom der Zeit wühlte so schnell und tief und riß die Zeit so ungestüm mit sich fort, daß Charles schon ein Jahr und drei Monate im Gefängnis geschmachtet hatte, ohne daß der Doktor sich in seinem zuversichtlichen Vertrauen beirren ließ. In jenem Dezembermonat war die Revolution um so viel schändlicher und unsinniger geworden, daß die Flüsse des Südens anschwollen von den Leichen der gewaltsam Ertränkten und die Gefangenen in Reihen und Vierecken niedergeschossen wurden unter der südlichen Wintersonne. Gleichwohl ging der Doktor sicheren Hauptes unter den Schrecken umher. Niemand war zu jener Zeit besser in Paris bekannt als er; und niemand befand sich in einer befremdlicheren Lage. Still, menschenfreundlich, unentbehrlich im Spital und im Gefängnis, und seine Kunst mit gleichem Eifer übend an dem Meuchelmörder und dem Opfer, nahm er eine Ausnahmestellung ein. Wo es die Anwendung seiner Geschicklichkeit galt, schied ihn das Aussehen und die Geschichte des Bastillegefangenen von allen anderen Menschen aus. Er wurde ebensowenig beargwöhnt oder bezweifelt, als sei er in der Tat vor achtzehn Jahren wirklich vom Tode erweckt worden oder al« wandle er als ein Geist unter den Sterblichen.

Fünftes Kapitel. Der Holzspalter.


Fünftes Kapitel. Der Holzspalter.

Ein Jahr und drei Monate. Während dieser ganzen Zeit war Lucie keinen Augenblick sicher, ob nicht am anderen Tage die Guillotine ihrem Gatten den Kopf abschlage. Jeden Tag holperten schwerfällig die mit Verurteilten gefüllten Karren durch die gepflasterten Straßen. Liebliche Mädchen; glänzende Frauen, braunhaarig, schwarzhaarig und grau; Jünglinge, Männer und Greise; Hochgeborene und Geringe alles roter Wein für La Guillotine, alles täglich ans Licht gefördert aus den dunklen Kellern der eklen Gefängnisse und durch die Straßen geführt, um ihren brennenden Durst zu stillen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod der letzte ist am leichtesten zu erringen, o Guillotine!

Wenn die Plötzlichkeit des Unglücks und die wirbelnden Räder der Zeit die eines Resultats harrende Tochter zu dumpfer Verzweiflung getrieben hätten, so wäre es ihr ergangen wie so vielen; aber von der Stunde an, als sie in dem Dachstübchen von Saint Antoine das weiße Haupt an ihre frische junge Brust gedrückt, hatte sie unwandelbar den übernommenen Pflichten nachgelebt und blieb ihnen namentlich treu in der Zeit der Heimsuchung, wie es stets bei treuen und guten stillen Seelen der Fall ist.

Sobald die neue Wohnung eingerichtet war und ihr Vater sich in seinen Beruf wieder hineingefunden hatte, ordnete sie ihren kleinen Haushalt geradeso, als ob ihr Mann anwesend sei. Alles hatte seinen bestimmten Platz und seine bestimmte Zeit. Die kleine Lucie unterrichtete sie so regelmäßig, als wären sie noch in ihrer englischen Heimat beisammen. Die kleinen Kunstgriffe, mit denen sie sich in den Wahn hineintäuschte, daß sie bald wieder vereinigt sein würden, die leichten Vorbereitungen für seine baldige Zurückkehr, das Herrichten seines Stuhls und seiner Bücher dies und das feierliche Nachtgebet namentlich für einen lieben Gefangenen unter den vielen unglücklichen Seelen, die im Gefängnis und unter dem Schatten des Todes lebten, waren fast die einzigen ausgesprochenen Tröstungsmittel ihres schweren Herzens.

In ihrem Äußeren zeigte sie keine besondere Veränderung. Die einfachen, schwarzen, an Trauer mahnenden Kleider, die sie und ihr Kind trugen, waren so sauber und geordnet, wie in glücklicheren Tagen ihr hellerer Anzug. Sie sah bleich aus, und der alte ernste Zug in ihrem Gesicht kam nicht mehr bloß gelegentlich, sondern war bleibend geworden; in jeder andern Beziehung aber konnte man sie noch immer sehr hübsch und anmutig nennen. Bisweilen ließ sie abends, wenn sie ihren Vater küßte, ihren den ganzen Tag über unterdrückten Schmerz zum Ausbruch kommen, wobei sie ihm versicherte, daß er ihre einzige Stütze und Zuversicht sei unter der Sonne, und dann pflegte er mit Entschiedenheit darauf zu antworten: »Nichts kann ihm zustoßen ohne mein Vorwissen, und ich weiß, daß ich ihn zu retten vermag, Lucie.«

Sie hatten in dieser veränderten Lebensweise noch nicht viele Wochen verbracht, als ihr Vater eines Abends beim Nachhausekommen zu ihr sagte:

»Meine Liebe, in dem Gefängnis ist ein oberes Zimmer, zu dem Charles bisweilen um drei Uhr nachmittags Zutritt hat. Kann er hinkommen dies hängt freilich von manchen Ungewißheiten und Zufälligkeiten ab , so meint er, dich in der Straße sehen zu können, wenn du dich an einem gewissen Platz aufstellst, den ich dir zeigen will. Du wirst ihn freilich nicht sehen, mein armes Kind, und selbst wenn es der Fall wäre, würde es nicht rätlich sein, ein Zeichen des Erkennens zu geben.«

»Oh, zeigt mir den Platz, Vater, und ich will jeden Tag hingehen.«

Von dieser Zeit an wartete sie dort bei jedem Wetter täglich zwei Stunden. Sobald die Glocke zwei schlug, war sie an der Stelle, und um vier Uhr entfernte sie sich wieder voll Ergebung. Wenn es für ihr Kind nicht zu naß oder zu kalt war, so gingen sie miteinander; zu andern Zeiten tat sie es allein; unter allen Umständen aber ließ sie es keinen Tag fehlen.

Es war die dunkle schmutzige Ecke einer krummen Straße. Die Hütte eines Holzspalters stellte an diesem Ende die einzige wohnliche Stätte dar; alles übrige war Mauer. Am dritten Tage fiel dem Manne ihre Anwesenheit auf.

»Guten Tag, Bürgerin.«

»Guten Tag, Bürger.«

Diese Art der Anrede war jetzt durch ein Dekret vorgeschrieben. Die Ausbundpatrioten hatten sich ihrer schon einige Zeit vorher bedient, aber jetzt war sie Gesetz für jedermann.

»Wieder hierher einen Spaziergang gemacht, Bürgerin?«

»Wie Ihr seht, Bürger.«

Der Holzspalter, ein kleiner Mann mit einem schwunghaften Gebärdenspiel (er war früher Straßenarbeiter gewesen), warf einen Blick nach dem Gefängnis, deutete danach hin, hielt seine zehn Finger gegittert vor das Gesicht und schaute spaßhaft durch.

»Aber geht mich nichts an«, sagte er und ging seinem Gewerbe nach.

Am andern Tage sah er sich wieder nach ihr um und redete sie an, sobald sie erschien.

»Wie, schon wieder einen Spaziergang, Bürgerin?«

»Ja, Bürger.«

»Ah, und ein Kind dazu! Dies ist wohl deine Mutter, meine kleine Bürgerin?«

»Soll ich ja sagen, Mama?« flüsterte die kleine Lucie, sich dicht an sie anschmiegend.

»Ja, mein Kind.«

»Ja, Bürger.«

»Ah! Aber geht mich nichts an. Ich kümmere mich nur um meine Arbeit. Seht meine Säge da ich nenne sie meine kleine Guillotine. Ratsch, ratsch, ratsch; ratsch, ratsch, ratsch! Und herunter ist sein Kopf!«

Während er so sprach, fiel das Scheit, und er warf es in einen Korb.

»Ich nenne mich den Samson der Brennholz-Guillotine. Schaut wieder her. Ritsch, ritsch, ritsch; ritsch, ritsch, ritsch! Und ihr Kopf ist gefallen! Jetzt ein Kind. Retsche, retsche; retsche, retsche! Da kommt sein Kopf. Die ganze Familie!«

Lucie schauderte, als er zwei weitere Scheiter in seinen Korb warf; aber wenn der Holzspalter dort arbeitete, mußte sie notwendig von ihm gesehen werden. Sie redete ihn daher, um sich seine Geneigtheit zu sichern, immer zuerst an und gab ihm auch öfters ein Trinkgeld, das er sich recht gern gefallen ließ.

Er war ein neugieriger Bursche, und wenn sie bisweilen im Aufschauen nach dem Dach und den Gittern des Gefängnisses, in der Erhebung ihres Herzens zu dem Gatten seiner ganz vergessen hatte, konnte sie auf einmal bemerken, daß er, das Knie auf seine Bank gestützt und die Säge mitten in der Arbeit ruhen lassend, ihr zusah. »Aber geht mich nichts an«, pflegte er bei solchen Gelegenheiten zu sagen und ließ dann wieder hurtig seine Säge gehen.

Bei jedem Wetter, im Schnee und Winterfrost, in den schneidenden Frühjahrswinden, im heißen Sommersonnenschein, im Herbstregen und wieder im Schnee und Winterfrost verbrachte Lucie jeden Tag zwei Stunden an diesem Platz, und jeden Tag küßte sie, eh‘ sie sich entfernte, die Gefängnismauer. Ihr Gatte sah sie, wie sie von ihrem Vater erfuhr, einmal unter fünf oder sechs Malen, vielleicht auch zwei- oder dreimal hintereinander, dann aber wieder eine Woche oder zwei gar nicht. Es war genug, daß er sie sehen konnte, wenn er Gelegenheit dazu fand, und ergab sich diese auch nur einmal in der Woche, so machte sie um der Möglichkeit willen doch gern jeden Tag diesen Gang.

So verging der Monat Dezember, und ihr Vater wandelte noch immer sicheren Hauptes unter den Schrecken umher. Eines Nachmittags, als eben ein leichter Schnee fiel, war sie wieder an der gewöhnlichen Ecke angelangt. Es war ein Tag wilder Freude irgendein Fest. Sie hatte auf dem Herwege die Häuser mit kleinen Spießen, auf denen kleine rote Mützen ragten, auch mit dreifarbigen Bändern und meist in den beliebten dreifarbigen Buchstaben mit der unvermeidlichen Inschrift geziert gesehen: Eine und unteilbare Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod!

Die erbärmliche Hütte des Holzspalters war so klein, daß ihre ganze Oberfläche nur einen sehr unbedeutenden Raum bot für diese Inschrift. Gleichwohl hatte er jemanden aufgetrieben, der sie für ihn hinschmierte, obschon das Wort Tod kaum mehr einen Platz finden konnte. Über dem Giebel seines Hauses sah man den Spieß und die Mütze, an der es kein guter Bürger fehlen lassen durfte, und in einem Fenster hatte er seine Säge ausgestellt mit der Bezeichnung: »Kleine heilige Guillotine«; denn das große scharfe Frauenzimmer war inzwischen vom Volk heilig gesprochen worden. Sein Sägeschopf war geschlossen und er nicht zu Hause. Diese Einsamkeit gereichte Lucie zu großem Trost.

Aber er war nicht weit weg. Sie hörte bald das Gestampf von Füßen und näher kommendes Geschrei, das sie mit Furcht erfüllte Einen Augenblick später wogte ein Volkshaufe um die Ecke ter Gefängnismauer, und in der Mitte desselben befand sich der Holzspalter Hand in Hand mit der Rache. Es konnten nicht weniger als fünfhundert Menschen sein, und sie tanzten einher wie fünftausend böse Geister. Die Musik bildete ihr eigener Gesang. Sie tanzten zu dem beliebten Revolutionslied und hatten dazu einen wilden Takt, der wie ein gemeinsames Zähneknirschen klang. Männer tanzten mit Weibern, Weiber mit Weibern und Männer mit Männern, wie sie eben der Zufall zusammenführte. Anfangs nahmen sie sich nur wie ein Strom von groben roten Mützen und grobwollenen Lumpen aus. Aber als sie den Platz füllten und um Lucie her haltmachten, begann auf einmal eine gräßliche Tanzfigur in wildem Toben. Sie bewegten sich vorwärts und rückwärts, schlugen sich nach den Händen, packten sich bei den Köpfen, wirbelten allein umher, faßten sich dann und drehten sich paarweise, bis viele davon niedersanken. Während nun diese am Boden lagen, gaben die anderen sich die Hände und führten um sie her einen Reigen auf. Dann riß der Ring, und die einzelnen Partner bildeten wieder Ringe aus zwei und vier, die sich drehten und drehten, bis alle auf einmal haltmachten; dann fingen sie wieder von vorne an, klopften und packten sich, zerrten einander und kreisten dann in einer verkehrten Richtung. Plötzlich machten sie wieder halt, schlugen aufs neue ihren Takt an, bildeten Reihen von der Breite der Straße und fegten mit tiefgesenkten Häuptern und hocherhobenen Händen davon. Kein Ringkampf hätte nur halb so schrecklich aussehen können als dieser Tanz. Er war so ausdrücklich eine herabgekommene Belustigung ein Etwas, das, aus einem unschuldigen Ursprung herstammend, in wahre Teufelei ausgeartet war eine gesunde Ergötzlichkeit, umgewandelt in ein Mittel, das Blut aufzuregen, die Sinne außer sich zu bringen und das Herz zu stählen. Die Anmut, die sich darin noch sichtbar machte, ließ den Tanz nur um so häßlicher erscheinen, indem sie zeigte, wie verkehrt und verworfen alles von Natur aus Gute geworden war. Der jungfräuliche Busen so bloß, der hübsche, fast kindliche Kopf so verdreht, die feinen Füße, grob sich bewegend in dieser Pfütze von Kot und Blut, waren lauter Typen einer aus den Fugen gegangenen Zeit.

Dies war die Carmagnole. Während sie vorüberrauschte und Lucie entsetzt und verwirrt auf der Schwelle zu der Hütte des Holzspalters zurückblieb, fiel der flockige Schnee so ruhig und blieb so weiß und so weich liegen, als sei der Boden nie der Schauplatz einer solchen Szene gewesen.

»O mein Vater!« denn er stand vor ihr, als sie die Augen wieder aufschlug, die sie eine Weile mit der Hand verhüllt hatte »welch ein häßlicher, entsetzlicher Anblick!«

»Ich weiß es, meine Liebe, ich weiß es habe ihn schon oft mit angesehen. Doch fürchte dich nicht. Niemand von ihnen wird dir etwas zuleide tun.«

»Ich fürchte nichts für mich selbst, Vater. Aber wenn ich an meinen Gatten denke und an das Erbarmen dieses Volkes«

»Wir wollen ihn bald aus dem Bereiche seines Erbarmens geschafft haben. Ich verließ ihn, wie er zu dem Fenster hinankletterte, und komme her, es dir zu sagen. Es ist niemand hier, der dich sehen kann. Wirf ihm einen Kuß zu nach dem höchsten Dachsims hinauf.«

»Ich tue es, Vater, und meine Seele eilt mit hin.«

»Du kannst ihn nicht sehen, meine arme Tochter?«

»Nein, Vater«, versetzte Lucie mit sehnsüchtigen Tränen im Auge, während sie eine Kußhand nach dem Gefängnis hin sandte, »nein.«

Ein Fußtritt im Schnee. Madame Defarge.

»Ich grüße Euch, Bürgerin«, sagte der Doktor.

»Ich grüße Euch, Bürger.«

Dies im Vorübergehen. Weiter nicht. Madame Defarge war fort, hingeglitten wie ein Schatten über den weißen Weg.

»Gib mir deinen Arm, meine Liebe. Du kannst seinetwegen mit heiterem, mutigem Geist nach Hause gehen. Es war gut so«, bemerkte er, als sie den Platz verlassen hatten; »es wird nicht umsonst sein. Charles ist auf morgen vorgeladen.«

»Auf morgen?«

»Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich bin gut vorbereitet; aber es müssen Vorkehrungen getroffen werden, die sich nicht besorgen ließen, ehe er vor das Tribunal geladen war. Bis jetzt hat er noch keine Mitteilung erhalten; ich weiß jedoch, daß er auf morgen vorbeschieden ist und nach der Conciergerie gebracht werden soll. Ich bin in guter Zeit unterrichtet worden. Du hast doch keine Angst?«

Sie vermochte kaum hervorzubringen:

»Ich verlasse mich auf Euch.«

»Dies kannst du unbedingt. Die Ungewißheit wird bald zu Ende sein, mein Herz. In wenigen Stunden ist er dir zurück gegeben. Ich habe ihm jeden erdenklichen Schutz gesichert. Jetzt muß ich Lorry aufsuchen.«

Er hielt inne. Man hörte ein schwerfälliges Gerassel von Rädern. Beide wußten nur zu gut, was es zu bedeuten hatte. Eins. Zwei. Drei. Drei Karren fuhren mit ihrer unglücklichen Ladung über den tondämpfenden Schnee.

»Ich muß Lorry sprechen«, wiederholte der Doktor, indem er sie in eine andere Richtung führte.

Der standhafte alte Ehrenmann hielt noch immer aus auf seinem Posten. Er und seine Bücher wurden häufig in Anspruch genommen, wenn es sich um beschlagnahmtes und der Nation zugefallenes Eigentum handelte. Was er für die Eigentümer retten konnte, das rettete er. In der ganzen Welt hätte sich kein besserer Mann finden lassen, um in aller Stille und Verschwiegenheit festzuhalten, was Tellsons zur Verwahrung übergeben war.

Ein trüber rotgelber Himmel und der von der Seine aufsteigende Nebel verkündeten den Einbruch der Dunkelheit. Es war schon finster, als sie die Bank erreichten. Der stattliche Palast von Monseigneur war verheert und verlassen. Über einem Haufen von Staub und Asche im Hofe las man die Inschrift: Nationaleigentum. Eine und unteilbare Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod.

Wer mochte dies wohl sein bei Mr. Lorry, der Eigentümer des Reitkleids auf dem Sessel, der nicht gesehen werden wollte? Von welchem neuen Ankömmling kam der Doktor voll Aufregung und Überraschung heraus, um seinen Liebling zu umarmen? Wem wiederholte er augenscheinlich ihre stotternden Worte, als er mit lauter Stimme und das Gesicht der Tür zugewendet, aus der er gekommen, sagte: »Nach der Conciergerie gebracht und auf morgen vorgeladen«?

Sechstes Kapitel. Triumph.


Sechstes Kapitel. Triumph.

Das gefürchtete Tribunal von fünf Richtern, der öffentliche Ankläger und ein entschiedenes Schwurgericht hielten jeden Tag Sitzung. Ihre Listen wurden jeden Abend ausgegeben und von den Kerkermeistern der verschiedenen Gefängnisse ihren Gefangenen vorgelesen. Der ständige Schließerwitz lautete: »Kommt heraus und hört die Abendzeitung, ihr da drinnen.«

»Charles Evrémonde, genannt Darnay!«

So begann endlich die Abendzeitung in der Force.

Wenn ein Namen verlesen war, trat der Bezeichnete beiseite auf einen Platz, der jenen vorbehalten blieb, die auf der verhängnisvollen Liste standen. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kannte diesen Brauch aus langer Erfahrung; er hatte Hunderte so weggehen sehen.

Der gedunsene Kerkermeister, der zum Lesen eine Brille brauchte, schaute über die Gläser weg, um sich zu überzeugen, daß er seinen Platz eingenommen hatte, und fuhr dann in der Liste fort, indem er nach jedem Namen dieselbe Pause machte. Es waren ihrer dreiundzwanzig; aber nur zwanzig hatten geantwortet; denn einer von den so aufgebotenen Gefangenen war im Gefängnis gestorben und vergessen worden, die beiden andern hatte man bereits guillotiniert und gleichfalls vergessen. Die Liste kam zum Verlesen in der gewölbten Halle, wo Darnay am Abend seiner Ankunft der Gesellschaft der Gefangenen begegnete. Von jenen waren alle samt und sonders bei dem Gemetzel gefallen. Jedes Menschenwesen, an dem er seitdem Anteil genommen und das den Platz wieder verlassen, hatte den Tod auf dem Schafott gefunden.

Man tauschte hastig ein freundliches Lebewohl aus; aber das Abschiednehmen war bald vorüber. Es gehörte ja zu den alltäglichen Ereignissen, und die Gesellschaft in der Force hatte mit Vorbereitungen zu einem Pfänderspiel und einem kleinen Konzert für den Abend zu schaffen. Sie drängten sich wohl an die Gitter und vergossen da einige Tränen; aber bei der in Aussicht genommenen Unterhaltung gab es zwanzig Plätze auszufüllen, und die Zeit war so kurz bis zu der Stunde des Verschlusses, nach der die gemeinsamen Räume und Gänge den großen Hunden überantwortet wurden, die hier während der Nacht Wache hielten. Die Gefangenen waren gewiß nicht unempfindlich oder gefühllos; aber sie wollten die ihnen so kurz zugemessene Zeit ausnützen. In ähnlicher Art, obschon mit einem feinen Unterschied, ließen sich bekanntlich, ohne Zweifel in einer Art Fieber oder Trunkenheit, manche hinreißen, der Guillotine, die sie verschlang, unnötig zu trotzen, sicherlich nicht aus bloßer Prahlerei, sondern angesteckt von der wilden Zerrüttung, die allgemein die Gemüter befallen hatte. In Pestzeiten haben manche Leute eine besondere Empfänglichkeit für die Krankheit, eine schrecklich anziehende Neigung, an ihr zu sterben. Und in jeder Brust liegen ähnliche Wunden verborgen; es bedarf nur der Umstände, sie ins Leben zu rufen.

Der Korridor zu der Conciergerie war kurz und dunkel, die Nacht in ihren von Ungeziefer wimmelnden Zellen lang und kalt. Am andern Tage hatten fünfzehn Gefangene vor Gericht zu erscheinen, ehe Charles Darnays Name an die Reihe kam. Alle die fünfzehn wurden zum Tode verurteilt, und die Verhandlungen währten im ganzen anderthalb Stunden.

Charles Evrémonde, genannt Darnay, wurde endlich vorgeladen.

Die Richter auf der Bank hatten Federhüte auf; sonst herrschte die grobe rote Mütze und die dreifarbige Kokarde als Kopfbedeckung vor. Wenn man die Schwurrichter und das lärmende Publikum betrachtete, konnte man zu dem Glauben kommen, man lebe in der verkehrten Welt und die Verbrecher säßen zu Gericht über die ehrlichen Leute. Der gemeinste, schlechteste und blutdürstigste Pöbel einer Stadt, dem es gewiß nie an gemeinen und schlechten Bluthunden fehlte, hatte die Oberhand und machte lärmend seine Bemerkungen; er durfte Beifall klatschen, sein Mißfallen kundgeben, dem Urteile vorgreifen und das Resultat beschleunigen, ohne daß man ihm Einhalt tat. Die Männer waren großenteils in verschiedener Weise bewaffnet; von den Weibern trugen einige Messer, die andern Dolche, die einen aßen und tranken während des Zusehens, andere strickten. Unter den letzteren befand sich eine, die bei ihrer Arbeit noch ein lediges Strickzeug unter dem Arme hatte. Sie saß in einer vorderen Reihe an der Seite eines Mannes, den Darnay seit seiner Ankunft an der Barriere nicht mehr gesehen hatte und in dem er sogleich Defarge wiedererkannte. Er bemerkte, daß sie ihm ein- oder zweimal ins Ohr flüsterte und daß sie allem Anscheine nach sein Weib war; am meisten fiel ihm aber an den beiden auf, daß sie, obschon sie sich möglichst in seine Nähe gemacht hatten, doch nie nach ihm hinsahen. Sie schienen mit trotziger Entschlossenheit auf etwas zu warten und für nichts als für die Geschworenen ein Auge zu haben. Unter dem Präsidenten saß Doktor Manette in seinem gewöhnlichen ehrbaren Anzuge. Soviel der Gefangene wahrnehmen konnte, waren er und Mr. Lorry die einzigen nicht zum Gerichtspersonal gehörigen Männer, die ihre gewöhnlichen Kleider trugen und nicht das grobe Gewand der Carmagnole zur Schau stellten.

Charles Evrémonde, genannt Darnay, wurde von dem öffentlichen Ankläger als ein Emigrant bezeichnet, dessen Leben an die Republik verwirkt sei kraft des Dekrets, das alle zurückkehrenden Emigranten zum Tode verurteilte. Es wurde als belanglos angesehen, daß das Dekret erst in die Zeit nach seiner Rückkehr fiel. Er war da, das Gesetz war da, man hatte ihn in Frankreich aufgegriffen, und sein Leben wurde gefordert.

»Zur Guillotine mit ihm!« rief das Publikum. »Ein Feind der Republik!«

Der Präsident klingelte, um die Lärmenden zum Schweigen zu bringen, und fragte den Gefangenen, ob es wahr sei, daß er viele Jahre in England gelebt habe.

Es wurde nicht geleugnet.

Und dennoch wolle er kein Emigrant sein? Als was er sich denn bezeichne?

Hoffentlich nicht als einen Emigranten im Sinn und Geist des Gesetzes.

Warum nicht? wünschte der Präsident zu wissen.

Weil er freiwillig eine Stellung und einen Titel aufgegeben habe, der ihm verhaßt geworden. Er habe sein Vaterland verlassen, eh‘ das Wort Emigrant in dem Sinne, wie man es jetzt nehme, vor Gericht üblich war, weil er lieber von seinem eigenen Fleiße in England als von dem des mit Lasten überhäuften Volkes in Frankreich seinen Unterhalt ziehen wollte.

Welche Beweise konnte er dafür beibringen?

Er übergebe die Namen von zwei Zeugen: Theophil Gabelle und Alexander Manette.

Aber er habe in England geheiratet, erinnerte ihn der Präsident.

Ja, aber keine Engländerin.

Eine Bürgerin von Frankreich?

Ja. Von Geburt.

Ihr Name und ihre Familie?

»Lucie Manette, einzige Tochter des Doktor Manette, des wackeren Arztes, der hier sitzt.«

Diese Antwort machte einen günstigen Eindruck auf die Zuhörerschaft. Ein jubelndes Geschrei zu Ehren des wohlbekannten wackeren Doktors erfüllte die Halle. So sehr ließ sich das Volk von einer augenblicklichen Stimmung hinreißen, daß man Tränen sah auf mehreren wilden Gesichtern, die einen Augenblick vorher den Gefangenen noch angestiert hatten, als juckten ihnen die Fäuste, ihn auf die Straßen hinauszuzerren und totzuschlagen.

Diese paar Schritte auf seinem gefährlichen Wege hatte Charles Darnan ganz nach Doktor Manettes wiederholter Weisung getan. Derselbe vorsichtige Rat diente ihm auch weiter zur Richtschnur und hatte ihm jeden Zoll seines Weges vorbereitet.

Der Präsident fragte ihn, warum er eben zu einer solchen Zeit und nicht früher zurückgekehrt sei.

Er sei fortgeblieben, lautete die einfache Antwort, weil er in Frankreich keine anderen Mittel für seinen Unterhalt hatte als diejenigen, auf die er verzichtet habe, während er sich in England durch Unterricht in der französischen Sprache und Literatur fortbringen konnte. Seine Rückkehr sei auf die dringliche schriftliche Bitte eines französischen Bürgers erfolgt, der ihm vorstellte, daß durch seine Abwesenheit dessen Leben bedroht werde. Er sei gekommen, um das Leben eines Bürgers zu retten und, was auch daraus für ihn folgen mochte, der Wahrheit Zeugnis zu geben. Ob dies die Republik für ein Verbrechen ansehe?

Der Pöbel rief begeistert »Nein!«, und der Präsident rührte die Klingel, um Ruhe herzustellen. Vergeblich. Das Geschrei »Nein, nein!« machte fort, bis die Rufer genug hatten und von selbst nachließen.

Der Präsident fragte nach dem Namen dieses Bürgers. Der Angeklagte antwortete darauf, daß der Bürger sein erster Zeuge sei. Er bezog sich auch mit Zuversicht auf das Schreiben dieses Zeugen, das man ihm an der Barriere abgenommen und das sich ohne Zweifel unter den auf dem Gerichtstische liegenden Akten vorfinden werde.

Der Doktor hatte dafür Sorge getragen, daß es nicht fehlte, und sich persönlich davon überzeugt. Es wurde jetzt hervorgeholt und verlesen. An den Bürger Gabelle erging die Aufforderung, sich darüber zu äußern, und er beglaubigte seinen Brief. Er deutete ferner mit ungemeiner Zartheit und Höflichkeit an, daß er im Drange der Geschäfte, die den Gerichten durch die Menge der Feinde der Republik bereitet wurden, in seinem Abteigefängnis übersehen oder vielleicht in patriotischem Eifer vergessen worden sei bis vor ungefähr drei Tagen; man habe ihn dann vorgefordert und auf die Erklärung der Geschworenen hin, daß die Anklage gegen ihn, soweit sie ihn selbst betreffe, durch die Gestellung des Bürgers Evrémonde, genannt Darnay, erledigt sei, in Freiheit gesetzt.

Dann wurde Doktor Manette ins Verhör genommen. Seine große Beliebtheit bei dem Volke und die Klarheit seiner Antworten machten einen tiefen Eindruck. Als er aber im Verlaufe zeigte, wie der Angeklagte nach seiner Befreiung aus langer Kerkerhaft sein erster Freund gewesen, wie derselbe während seines Aufenthaltes in England sich immer treu und aufopferungsvoll gegen ihn und seine Tochter in ihrer Verbannung benommen, wie er, weit entfernt, bei der dortigen aristokratischen Regierung in Gunst zu stehen, von derselben sogar als ein Feind Englands und ein Freund der Vereinigten Staaten auf Leib und Leben verklagt worden als er alle diese Umstände mit großer Umsicht und mit der vollen Gewalt der Wahrheit und des Ernstes ins Licht stellte, wurden Geschworene und Pöbel eines Sinnes. Und als er sich endlich noch auf Monsieur Lorry, einen anwesenden englischen Gentleman, berief, der wie er selbst Zeuge jenes englischen Kriminalprozesses gewesen und seine Aussagen darüber bestätigen könne, erklärten die Geschworenen, daß sie genug gehört hätten und über ihre Abstimmung schon im reinen seien, wofern der Präsident sie anhören wolle.

Bei jeder abgegebenen Stimme (die Geschworenen verrichteten ihren Dienst laut und einzeln) brach der Pöbel in einen Beifallsjubel aus. Sämtliche Voten lauteten zugunsten des Gefangenen, und der Präsident erklärte ihn für frei.

Dann begann eine von jenen außerordentlichen Szenen, durch die bisweilen der große Haufe seinen Wankelmut kundtat, seine Empfänglichkeit für Gefühle der Großmut und des Erbarmens an den Tag legte, oder eine kleine Abschlagszahlung machen wollte an der hochangeschwollenen Schuld seiner grausamen Wut. Niemand vermag jetzt mehr zu entscheiden, aus welchem Beweggrunde solche merkwürdigen Auftritte sich erklären ließen, obschon wahrscheinlich alle drei Momente zusammenwirkten und das zweite darin die Oberhand behauptete. Kaum war die Freilassung ausgesprochen, als Tränen so reichlich flossen, wie zu andern Zeiten Blut, und der Gefangene von den Männern und Weibern, die an ihn gelangen konnten, mit so vielen brüderlichen Umarmungen beehrt wurde, daß er nach seiner langen und ungesunden Haft in Gefahr stand, von Erschöpfung ohnmächtig zu werden, um so mehr, da er recht wohl wußte, wie bereit und eifrig bei einer andern Wendung dasselbe Volk sich gezeigt haben würde, ihn in Stücke zu reißen und seine Gliedmaßen durch die Straßen zu streuen.

Er mußte jetzt andern Angeklagten Platz machen, die gerichtet werden sollten, und sein Abtreten bewahrte ihn für den Augenblick vor der Fortsetzung dieser Liebkosungen. Es kamen fünf zu gleicher Zeit an die Reihe, die als Feinde der Republik verurteilt wurden, weil sie ihr nicht durch Wort oder Tat Beistand geleistet hatten. Das Tribunal beeilte sich so sehr, sich und die Nation für die entgangene Augenweide zu entschädigen, daß diese fünf, die bestimmt waren, binnen vierundzwanzig Stunden hingerichtet zu werden, herunterkamen, ehe noch Darnay den Platz verlassen hatte. Der erste von ihnen teilte ihm sein Schicksal mit dem unter den Gefangenen üblichen Zeichen, einem aufgehobenen Finger, der »Tod« bedeutete, mit, während alle zusammen in den Ruf ausbrachen: »Lang lebe die Republik!«

Die fünf hatten allerdings kein Publikum gehabt, durch das die Verhandlungen über sie verlängert worden wären; denn als Charles mit dem Doktor durch das Tor herauskam, traf er davor ein großes Gedränge, in dem sich alle Gesichter, die er im Gerichtshof bemerkt hatte, zu befinden schienen, zwei ausgenommen, nach denen er sich vergeblich umsah.

Bei seinem Heraustreten machte sich der Volkshaufen wieder an ihn, weinte, umarmte ihn, jubelte und tat alles dies abwechselnd und durcheinander, bis sogar der Fluß, an dessen Ufer die tolle Szene spielte, toll zu werden schien wie die Menschen auf dem Lande.

Sie setzten ihn auf einen großen Sessel, den sie entweder aus dem Gerichtssaale selbst oder aus einem andern Gelasse des Gebäudes mitgenommen hatten, ließen darüber eine rote Fahne flattern und schmückten die Lehne mit einem Spieß und der roten Mütze darauf. Vergeblich wehrte der Doktor bittend ab. Die Männer nahmen ihn samt diesem Triumphwagen auf die Schulter und trugen ihn nach Hause. Um ihn her wogte ein wildes Meer von roten Mützen und warf aus seiner stürmischen Tiefe solche Wracks von Gesichtern in die Höhe, daß er mehr als einmal zweifelte, ob er auch wirklich bei Sinnen sei und ob er nicht auf dem Guillotinekarren dem Tode entgegenholpere.

In wilder traumartiger Prozession trugen sie ihn dahin, umarmten jedermann, dem sie begegneten, und zeigten aller Welt den Helden des Tages. Sie röteten durch den Tritt ihrer Füße die beschneiten Straßen mit der vorherrschenden republikanischen Farbe, wie sie den Boden unter dem Schnee mit einem noch tieferen Rot gefärbt hatten, und brachten ihn nach dem Hofe des Gebäudes, wo seine Gattin wohnte. Ihr Vater war vorausgegangen, um sie vorzubereiten, und wie Charles wieder auf eigene Füße zu stehen kam, sank sie ihm bewußtlos in die Arme.

Während er sie an seine Brust gedrückt hielt und ihr schönes Antlitz das seine vor der Menge verbarg, so daß seine Tränen und ihre Lippen sich ungesehen begegnen konnten, fingen einige aus dem Haufen zu tanzen an. Im Nu hatte dieselbe Manie auch alle andern ergriffen, und der Hofraum war überflutet von der Carmagnole. Sie setzten dann auf den freigewordenen Sessel ein junges Frauenzimmer aus ihrer Mitte, um sie als Göttin der Freiheit umherzutragen. Und nun strömte und flutete es in die benachbarten Straßen hinaus, das Flußufer entlang und über die Brücke. Wer des Weges kam, wurde von der Carmagnole aufgenommen und mit fortgerissen.

Charles drückte dem Doktor, der stolz und siegesbewußt vor ihm stand, und Mr. Lorry, der atemlos sich der Wasserhose der Carmagnole entrungen hatte, die Hand, küßte die kleine Lucie, die man zu ihm emporgehoben, damit sie mit ihren Ärmchen seinen Hals umschlingen konnte, drückte die immer eifrige und treue Miß Proß, die ihm das Kind dargeboten, an sich und nahm seine Gattin in die Arme, um sie nach ihrer Wohnung hinaufzutragen.

»Lucie! Mein Leben! Ich bin gerettet!«

»Oh, mein teurer Charles, laß mich Gott auf den Knien dafür danken, wie ich zu ihm gebetet habe.«

Alle beugten ehrfurchtsvoll die Häupter und die Herzen. Als er sie wieder in seinen Armen hatte, sagte er zu ihr:

»Und nun danke deinem Vater, meine Liebe. Kein anderer Mann in ganz Frankreich hätte für mich tun können, was er tat.«

Sie legte das Haupt an ihres Vaters Brust, wie er vor langer, langer Zeit seinen armen Kopf an die ihrige gelegt hatte. Er war glücklich, daß er ihr vergelten konnte, fühlte sich belohnt für seine Leiden und war stolz auf seine Stärke.

»Du mußt nicht schwach sein, mein Herz«, sagte er verweisend, »mußt nicht so zittern. Ich habe ihn gerettet.«

Siebentes Kapitel. Ein Klopfen an die Tür.


Siebentes Kapitel. Ein Klopfen an die Tür.

»Ich habe ihn gerettet.« Es war nicht einer von den Träumen, in die er so oft zurückverfallen war. Nein, er war wirklich da. Und doch zitterte sein Weib, und eine unbestimmte Angst lastete schwer auf ihr.

Die ganze Luft umher war so dick und düster, die Leute zeigten ein so fieberisches, leidenschaftlich rachsüchtiges Wesen, die Unschuldigen wurden so beharrlich auf einen hohlen Verdacht oder auf platte Anzeigen der Bosheit hin zum Tod geschleppt, und es war so rein unmöglich, zu vergessen, wie viele nicht minder makellose Personen als ihr Gatte, die von andern ebenso geliebt wurden, wie sie ihn liebte, jeden Tag das Schicksal erleiden mußten, dem er mit knapper Not entgangen war, daß ihr Herz sich nicht so frei und leicht fühlen konnte, wie es die Umstände gestatteten. Der Winterabend war im Begriff, in die Schatten der Nacht zu versinken, und noch immer rollten die schrecklichen Karren durch die Straßen. Ihr Geist folgte ihnen und schien ihn unter den Verurteilten zu suchen; dann schmiegte sie sich inniger an den Gegenwärtigen an und zitterte noch mehr.

Ihr Vater, der ihr ermunternd zusprach, trug dieser weiblichen Schwäche gegenüber, ob der er sich nicht genug wundern konnte, eine mitleidige Überlegenheit zur Schau. Kein Dachstübchen mehr, kein Schuhmachen, kein Hundertfünf, Nordturm! Er hatte die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, vollbracht, sein Versprechen gelöst und Charles gerettet. Alle konnten sich jetzt an ihn anlehnen.

In ihrer Haushaltung ging es sehr ärmlich her nicht nur, weil man dadurch am wenigsten beim Volke Anstoß erregte, sondern auch, weil sie nicht reich waren und Charles während seiner Gefangenschaft bedeutende Zahlungen hatte leisten müssen, für die eigene schlechte Kost und Bewachung sowohl wie für die der ärmeren Gefangenen. Zum Teil aus diesem Grund, zum Teil, um keinen Spion im Hause zu haben, hielten sie keine Magd. Der Bürger und die Bürgerin, die am Hoftor als Pförtner funktionierten, leisteten ihnen gelegentlich Dienste, und Jerry, der von Mr. Lorry fast ganz an sie abgetreten worden, spielte den Diener und schlief bei Nacht im Hause.

Auf Befehl der einen und unteilbaren Republik mit dem Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder Tod mußte an der Tür oder dem Türpfosten eines jeden Hauses der Name der Bewohner mit leicht leserlicher Schrift von gewisser Größe in einer gewissen bequemen Höhe vom Boden angebracht sein. Mr. Jerry Crunchers Name schmückte daher gebührend den Türpfosten zu unterst, und bei einbrechender Nacht kam der Inhaber des Namens selbst von der Beaufsichtigung eines Flachmalers zurück, den Doktor Manette angewiesen hatte, der Liste den Namen Charles Evrémonde, genannt Darnay, beizufügen.

Bei der allgemeinen Furcht und dem Mißtrauen, in dem man zu jener Zeit lebte, war auch eine Änderung in die gewöhnlichen harmlosen Haushaltungsbräuche gekommen. In der kleinen Wirtschaft des Doktors wurden, wie in so vielen andern, die Gegenstände des täglichen Verbrauchs jeden Abend in geringen Mengen aus verschiedenen kleinen Läden zusammengetragen; denn jedermann wollte Aufsehen vermeiden und so wenig wie möglich Anlaß zu Neid und Nachrede geben.

Schon seit einigen Monaten hatten Miß Proß und Mr. Cruncher das Geschäft des Einkaufes besorgt, wobei erstere den Beutel führte und letzterer den Korb trug. Sie traten jeden Abend, sobald man die Straßenlaternen anzündete, diesen Dienst an, kauften das Nötige ein und brachten es nach Hause. Durch ihren langen Umgang mit einer französischen Familie wäre Miß Proß wohl in der Lage gewesen, das Französische so gut zu lernen, wie sie ihr Englisch kannte, wenn sie Lust dazu gehabt hätte. Aber eben an der Lust fehlte es ihr ganz und gar, und so verstand sie von »diesem Unsinn«, wie sie es zu nennen beliebte, nicht mehr als Mr. Cruncher. Die Art ihres Marktens bestand darin, daß sie dem Krämer ohne näheres Eingehen auf die Beschaffenheit des gewünschten Artikels irgendein Nennwort an den Kopf warf und, wenn es zufällig nicht das rechte war, sich im Laden nach der Ware umschaute, sie zu Händen nahm und nicht wieder losließ, bis der Handel geschlossen war. Ohne ein Handeln ging es dabei nicht ab, und bei der Würdigung des Preises hielt sie stets einen Finger weniger in die Höhe als der Verkäufer, wie viele dieser ihr auch vorzeigen mochte.

»Nun, Mr. Cruncher«, sagte Miß Proß, deren Augen ganz rot von Glück waren, »wenn Ihr bereit seid, so bin ich’s auch.«

Jerry versicherte heiser, daß er Miß Proß zu Diensten stehe. Sein Rost hatte sich längst abgetragen; aber nichts vermochte die Spieße seines Haares niederzufeilen.

»Wir brauchen alle möglichen Dinge und werden nicht so bald damit fertig werden«, sagte Miß Proß. »Unter anderm Wein. Diese Rotköpfe werden saubere Trinksprüche ausbringen, wo wir ihn auch kaufen mögen.«

»Soviel Ihr davon versteht, Miß«, entgegnete Mr. Jerry, »wird es so ziemlich aufs gleiche hinauslaufen, ob sie Eure Gesundheit trinken oder die des Meisters Urian.«

»Wer ist das?« fragte Miß Proß.

Mr. Cruncher erklärte ihr mit einiger Zaghaftigkeit die Bedeutung des Ausdrucks.

»Ha!« sagte Miß Proß, »es ist kein Dolmetscher nötig, um zu erraten, was diese Unholde sagen wollen. Sie haben nur einen Gedanken im Kopfe, und der ist Unfug und nächtliches Morden.«

»Pst, meine Liebe! Bitte, bitte, seid vorsichtig«, rief Lucie.

»Ja, ja, ja, ich will vorsichtig sein«, entgegnete Miß Proß; »aber unter uns darf ich wohl sagen, ich hoffe, daß wir auf der Straße keinem zwiebeligen oder tabakigen Ersticktwerden in der Form von Umarmungen in der Runde begegnen. Geht mir nur nicht von diesem Feuer weg, mein Vögelchen, bis ich wieder zurück bin. Nehmt den lieben Mann in acht, der Euch aufs neue geschenkt worden ist, und laßt Euer hübsches Köpfchen auf seiner Schulter ruhen, wie Ihr’s jetzt tut, bis ich Euch wiedersehe. Darf ich eine Frage an Euch stellen, Doktor Manette, eh‘ ich ausgehe?«

»Ich denke wohl, daß man Euch diese Freiheit gestatten kann«, antwortete der Doktor lächelnd.

»Um Gottes willen, sprecht mir nicht von Freiheit; wir haben von dieser Geschichte vollkommen genug gehabt«, sagte Miß Proß.

»Still, meine Liebe! Schon wieder?« bemerkte Lucie verweisend.

»Na, mein Herzchen«, sagte Miß Proß mit einem nachdrücklichen Kopfnicken, »das Lange und das Breite davon ist, daß ich eine Untertanin Seiner Allergnädigsten Majestät Georgs des Dritten bin«, Miß Proß knixte bei dem Namen, »und als solche halte ich mich an den Grundsatz: Zum Geier mit ihrer Politik! In die Hölle mit ihren Spitzbubentücken! Auf ihn setzen wir unsere Hoffnung! Gott erhalte den König!«

Mr. Cruncher sprach in einer Anwandlung von Loyalität Miß Proß mit knurrender Stimme die Worte nach, als respondiere er in einer Kirche.

»Es freut mich, daß Ihr so viel englisches Blut im Leibe habt, obschon ich wünschte. Eure Stimme hätte weniger von Erkältung gelitten«, sagte Miß Proß beifällig. »Aber um auf die Frage zu kommen, Doktor Manette. Wir haben« es lag in der Art der guten Person, über jeden Gegenstand, der ihnen allen besondere Sorge machte, eine gewisse Gleichgültigkeit zur Schau zu stellen und ihn gleichsam nur gelegentlich zu berühren, »wir haben jetzt doch gute Aussicht, von diesem Ort fortzukommen?«

»Ich fürchte, noch nicht. Es wäre jetzt noch gefährlich für Charles.«

»Heididum!« rief Miß Proß, unterdrückte aber gutmütig einen Seufzer, als sie nach dem im Widerschein des Feuers glänzenden Goldhaar ihres Lieblings hinblickte »nun, dann hilft nichts, als Geduld haben und warten. Wir müssen den Kopf oben behalten und Hände und Füße brauchen, wie mein Bruder Salomon zu sagen pflegte. Jetzt, Mr. Cruncher! Rührt Euch nicht von der Stelle, meine Vögelchen!«

Sie entfernten sich, und Lucie, ihr Gatte, ihr Vater und das Kind blieben bei dem hellen Feuer zurück. Mr. Lorry wurde mit jedem Augenblick von dem Bankhaus her erwartet. Miß Proß hatte die angezündete Kerze in eine Ecke beiseite gestellt, damit sie sich ungestört des behaglichen Feuerlichtes erfreuen konnten. Die kleine Lucie saß neben ihrem Großvater und hatte die Händchen um seinen Arm geschlungen, während er ihr in einem Ton, der kaum viel mehr als ein Flüstern genannt werden konnte, ein Märchen von einer großen mächtigen Fee zu erzählen begann, die eine Gefängnismauer sich auftun ließ und einen Gefangenen befreite, der ihr einmal einen Dienst geleistet hatte. Der Geist der Ruhe herrschte in dem Gemach und schien auch allmählich Eingang in dem Herzen Lucies zu finden.

»Was ist das?« rief sie plötzlich.

»Meine Liebe, nimm dich zusammen«, sagte ihr Vater, indem er seine Erzählung unterbrach und seine Hand auf die ihrige legte. »Du befindest dich in einem ganz verstörten Zustande. Du erschrickst vor jeder Kleinigkeit vor einem Nichts. Du, deines Vaters Tochter?«

»Ich meinte, Vater«, sagte Lucie sich entschuldigend, mit bleichem Gesicht und stotternder Stimme, »ich habe einen fremden Tritt auf der Treppe gehört.«

»Kind, auf der Treppe herrscht eine Totenstille.«

Er hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als ein Schlag gegen die Tür geführt wurde.

»O Vater, Vater, was kann dies sein? Versteckt Charles rettet ihn!«

»Mein Kind«, sagte der Doktor, indem er aufstand und seine Hand auf ihre Schulter legte, »ich habe ihn ja schon gerettet. Welche Schwäche, meine Liebe. Ich will nach der Tür gehen.«

Er nahm das Licht auf, ging durch die beiden Vorderzimmer und öffnete. Es folgte darauf ein Füßegetrampel, und vier rauhe Männer in roten Mützen, die mit Säbeln und Pistolen bewaffnet waren, traten in das Gemach.

»Der Bürger Evrémonde, genannt Darnay«, sagte der erste.

»Wer sucht ihn?« versetzte Darnay.

»Ich suche ihn. Wir suchen ihn. Ich kenne Euch, Evrémonde; ich sah Euch heute vor dem Tribunal. Ihr seid wieder der Gefangene der Republik.«

Die vier umgaben die Stelle, wo er mit seinem Weib und seinem Kinde stand, die sich an ihn anklammerten.

»Sagt mir, wie das kommt. Warum bin ich wieder ein Gefangener?«

»Ihr habt einfach in die Conciergerie zurückzukehren und werdet es morgen erfahren. Ihr seid auf morgen vorgeladen.«

Auf Doktor Manette hatte dieser Besuch so versteinernd gewirkt, daß er mit dem Lichte in der Hand wie eine ausdrücklich zum Leuchten bestimmte Statue dastand. Nachdem diese Worte gesprochen waren, stellte er das Licht nieder, trat dem Manne gegenüber, nahm ihn nicht unsanft bei dem Bruststreif seines rotwollenen Hemdes und sprach:

»Ihr kennt ihn, habt Ihr gesagt. Kennt Ihr auch mich?«

»Jawohl, Bürger Doktor.«

»Wir alle kennen Euch, Bürger Doktor«, sagten die andern drei.

Er sah verwirrt bald den einen, bald den andern an und fuhr nach einer Pause mit gedämpfter Stimme fort:

»Wollt Ihr dann mir auf seine Frage antworten? Wie kommt das?«

»Bürger Doktor«, versetzte der erste mit Widerstreben, »er ist bei der Sektion von Saint Antoine angezeigt worden. Dieser Bürger«, er deutete auf den zweiten der Eingetretenen, »ist von Saint Antoine.«

Der bezeichnete Bürger nickte mit dem Kopfe und fügte bei:

»Er ist in Saint Antoine angeklagt.«

»Weshalb?« fragte der Doktor.

»Bürger Doktor«, entgegnete der erste mit dem früheren Widerstreben, »fragt nicht weiter. Wenn die Republik Opfer von Euch fordert, so werdet Ihr ohne Zweifel als ein guter Patriot Euch glücklich schätzen, sie zu bringen. Die Republik geht über alles. Das Volk ist das Höchste. Evrémonde, wir können nicht warten.«

Wieder verhaftet

»Noch ein einziges Wort«, bat der Doktor. »Wollt Ihr mir sagen, wer ihn angezeigt hat?«

»Es ist gegen die Regel«, antwortete der erste, »aber Ihr könnt den von Saint Antoine da fragen.«

Der Doktor richtete den Blick auf den Mann. Dieser scharrte unruhig mit den Füßen, rieb sich den Bart ein wenig und sagte endlich:

»Na, es ist freilich gegen die Regel; aber die Anklage und zwar eine schwere geht von dem Bürger und der Bürgerin Defarge und noch von einem Dritten aus.«

»Wer ist dieser Dritte?«

»Das fragt Ihr, Bürger Doktor?«

»Ja.«

»Dann«, versetzte der von Saint Antoine mit einem eigentümlichen Blicke, »werdet Ihr morgen die Antwort hören für jetzt bin ich stumm.«