Erstes Kapitel. Fünf Jahre später.


Erstes Kapitel. Fünf Jahre später.

 

Tellsons Bank bei Temple Bar war schon im Jahr eintausendsiebenhundertachtzig ein altmodischer Platz, sehr klein, sehr dunkel, sehr häßlich und sehr unbequem. Man konnte sie aber auch einen altmodischen Platz mit Beziehung auf die moralische Eigentümlichkeit nennen, daß jeder der Geschäftsteilhaber stolz war auf das kleine Gebäude, stolz auf seine Dunkelheit, stolz auf sein garstiges Aussehen und stolz auf seine Unbequemlichkeit. Diese Eigenschaften schienen ihnen sogar hohe Vorzüge zu sein, denn sie lebten der zuversichtlichen Überzeugung, daß die Bank, wenn man weniger an ihr zu tadeln wüßte, auch weniger achtbar wäre. Dies war aber nicht bloß ein passiver Glaube, sondern eine aktive Waffe, die sie gern auf bequemer eingerichtete Geschäftshäuser schleuderten. Tellsons (sagten sie) brauchen keinen überflüssigen Raum, kein Licht, keine Verschönerung. Noakes & Komp. oder Gebrüder Snooks werden es nötig haben: aber Tellsons? Dem Himmel sei Dank, nein!

Jeder von den Geschäftsteilhabern würde seinen Sohn enterbt haben, wenn dieser an einen Umbau von Tellsons gedacht hätte. In der Beziehung erging es dem Hause gerade wie England, das sehr oft seine Söhne enterbte, weil sie Verbesserungen in Gesetzen und Bräuchen beantragten, die nichts weniger als löblich, aber ebendeshalb nur um so achtbarer waren.

So war es denn dahin gekommen, daß Tellsons die triumphierende Vervollkommnung der Unbequemlichkeit war. Nachdem man eine blödsinnig hartnäckige Tür knarrend gesprengt hatte, fiel man bei Tellsons ein paar Stufen hinab und kam in einem erbärmlichen Lädchen mit zwei kleinen Zahltischen wieder zur Besinnung, wo in den Händen der ältesten Männer der Wechsel eines Kunden wie im Wind zitterte, solange sie die Unterschrift an den schmutzigsten von allen Fenstern prüften, die von der Fleetstraße aus unter dem Einfluß eines stetigen Schlammregenbades standen und vor den eigenen eisernen Gittern und in dem tiefen Schatten von Temple Bar sich nur um so schmutziger ausnahmen. War jemand genötigt, geschäftehalber mit dem »Haus« zu verkehren, so wurde er an der Hinterseite in eine Art Verbrecherzelle gesteckt, wo er über ein übel zugebrachtes Leben nachdenken konnte, bis das Haus, die Hände in den Taschen, erschien, in dem unheimlichen Zwielicht aber sich kaum erkennen ließ. Die Geldbehälter, die der Ein- oder Auszahlung dienten, bestanden aus alten hölzernen Schubladen, aus denen beim Herausziehen oder Zurückschieben das Wurmmehl einem in Nase und Kehle flog. Die Banknoten hatten einen modrigen Geruch, als seien sie im Begriff, rasch sich wieder in Lumpen zu zersetzen. Das anvertraute Silbergerät wurde unter die übrigen Schutzsafes gestellt und hatte da so eine ungeschliffene Kameradschaft, so daß es schon in einem oder zwei Tagen seine feine Politur verlor. Die Urkunden fanden ein Unterkommen in aus Küchen und Spülplätzen entstandenen Verließen, und ihre Pergamente verloren in der Bankhausluft vor Ärger all ihr Fett. Leichtere Faszikel mit Familienpapieren gingen die Treppe hinauf nach einem Barmakidenzimmer, in dem stets ein großer Speisetisch stand, aber nie etwas zum Speisen gereicht wurde; und es war in dem Jahr eintausendsiebenhundertachtzig noch nicht lange her, daß man die Familienbriefe, die der Engländer statt dem Notar dem Bankier zu übergeben pflegt, von dem Schrecken befreit hatte, durch die Fenster jenes Zimmers von den Köpfen angestarrt zu werden, die man mit der eines Abessiniers oder Aschanti 1 würdigen unsinnigen Roheit auf Temple Bar auszustellen gewohnt war.

Doch damals war das Zu-Tode-Bringen ein bei allen Geschäftszweigen und Berufsarten sehr beliebter Prozeß und also auch bei Tellsons. Der Tod ist das Heilmittel gegen alles; warum sollte ihn nicht die Gesetzgebung in dem gleichen Lichte betrachten? Demgemäß traf den Fälscher Todesstrafe, den unrechtmäßigen Eröffner von Briefen Todesstrafe, den armen Schelmen, der vierzig Schillinge und sechs Pence stahl, Todesstrafe, den Burschen, der an Tellsons Tür ein Pferd hielt und sich damit davonmachte, Todesstrafe, den Münzer eines falschen Schillings Todesstrafe; kurz auf drei Vierteln der Noten in der Tonleiter des Verbrechens stand der Tod. Nicht daß dadurch auch nur im mindesten vorbeugend gewirkt worden wäre – man könnte fast eher das Gegenteil behaupten; sondern das summarische Verfahren räumte für diese Welt mit den Angelegenheiten jedes einzelnen Falles auf; und es wurde später nicht nötig, sich weiter damit zu befassen. So waren auch in ihrer Zeit Tellsons gleich andern größeren Geschäftshäusern jener Periode schuld an so vielen Todesurteilen, daß das bißchen Licht des Erdgeschosses wahrscheinlich in einer ziemlich bedeutsamen Weise beeinträchtigt worden wäre, wenn man statt der Einzelabfertigung die um ihretwillen gefallenen Köpfe insgesamt über Temple Bar aufgepflanzt hätte.

In alle Arten von dunklen Kästen und Verschlägen eingeengt, führten bei Tellsons die ältesten Männer gravitätisch das Geschäft. Nahmen sie je einmal einen jungen Menschen in Tellsons Londoner Haus auf, so versteckten sie ihn irgendwo, bis er alt war. Sie verwahrten ihn, gleich dem Käse, an einem dunkeln Platz, bis er den vollkommenen Geschmack und Charakter von Tellsons angenommen hatte. Dann erst wurde es ihm gestattet, öffentlich in den Hosen und Gamaschen des Etablissements, über großen Büchern brütend, sich sehen zu lassen.

Außen vor Tellsons – aber ja nie innen ohne eine besondere Berufung – sah man regelmäßig einen Aushelfer, bald Pförtner, bald Bote, der als lebendiges Hausschild diente. Er fehlte nie während der Bürostunden, wenn er nicht etwa einen Auftrag zu besorgen hatte, und in diesem Falle wurde er durch seinen Sohn, einen abscheulichen Knirps von zwölf Jahren, der sein getreues Ebenbild war, vertreten. Die Leute waren der Meinung, Tellsons duldeten dieses Anhängsel um der Ehre des Hauses willen, weil man immer eine Person in dieser Eigenschaft geduldet hatte und im Laufe der Zeit die gegenwärtige auf den Posten geschwemmt worden war. Sie hieß Cruncher mit dem Geschlechtsnamen und hatte bei einem jugendlichen Anlaß, als sie durch einen Bevollmächtigten den Werken der Finsternis entsagte, in der östlichen Pfarrkirche von Houndsditch die weitere Benennung Jerry erhalten.

Der Schauplatz war Mr. Crunchers Privatwohnung in Hangingsword-Alley, Whitefriars. Die Zeit war halb acht Uhr an einem windigen Märzmorgen Anno Domini Siebzehnhundertachtzig (Mr. Cruncher selbst nannte das Jahr unseres Herrn Anna Domino, augenscheinlich unter dem Eindruck, daß die christliche Zeitrechnung sich von der Erfindung eines beliebten Volksspiels durch eine Dame herschreibe, die diesem ihren Namen beigelegt habe).

Mr. Crunchers Wohngelasse lagen in keiner durch gesunde Luft sich empfehlenden Gegend und waren nur zwei an der Zahl, selbst wenn man den mit einer einzigen Glasscheibe versehenen Alkoven mitrechnete. Doch sah es darin sehr anständig aus; denn trotz des windigen frühen Märzmorgens war die Stube, in der er noch zu Bette lag, bereits sauber gefegt, und über den wackligen Tannentisch, auf dem die Frühstückstassen standen, lag ein reinliches Tischtuch gebreitet.

Mr. Cruncher ruhte unter einer aus verschiedenfarbigen Fleckchen zusammengesetzten Decke wie ein Harlekin in seinem Heimwesen. Anfangs schlief er tief; aber allmählich begann er im Bett hin und her zu wogen, bis er mit seinem Spießhaar, das die Überzüge in Fetzen zu zerreißen drohte, über die Oberfläche auftauchte. Nachdem er soweit gekommen war, rief er in einem Tone, der grimmige Gereiztheit verriet:

»Alle Hagel, ist sie schon wieder dran!«

Eine Frauensperson von ordentlichem und emsigem Aussehen erhob sich in einer Ecke von ihren Knien, und zwar mit einer Hast und Ängstlichkeit, die andeutete, daß sie die gemeinte Person sei.

»Wie!« rief Mr. Cruncher, aus dem Bett heraus sich nach seinen Stiefeln umsehend, »bist du schon wieder dran, he?«

Nachdem er den Morgen mit diesem zweiten Gruß bewillkommt hatte, warf er als dritten der Frau einen Stiefel nach. Es war ein sehr schmutziger Stiefel, und wir können hier eine sonderbare Eigentümlichkeit aus Mr. Crunchers häuslicher Ordnung berühren, daß er nämlich, während er oft nach den Bürostunden mit sauberen Stiefeln nach Hause kam, nicht selten beim Aufstehen dieselben Stiefel beschmutzt fand.

»Nun«, rief Mr. Cruncher, nachdem er sein Ziel verfehlt hatte, mit einer Variation in seiner Apostrophe, »was tust du jetzt, du Ekel?«

»Ich habe nur mein Gebet gesprochen.«

»Gebet gesprochen – du bist mir ein sauberes Weibsstück! Was soll das heißen, daß du hinsackst und Rache gegen mich erbetest?«

»Ich habe nicht gegen dich Rache erbetet, sondern für dich gebetet!«

»Ist nicht wahr. Und wenn’s auch wäre, so braucht man sich mit mir keine solche Freiheit zu nehmen. Hörst du, junger Jerry, deine Mutter ist eine feine Person und geht hin, um gegen deines Vaters Wohlfahrt zu beten. Ja, mein Sohn, du hast eine pflichtgetreue Mutter, du hast eine fromme Mutter, Junge – sie geht hin, sackt auf den Boden hin und betet, daß ihrem einzigen Kinde das Butterbrot aus dem Munde genommen werden möge!«

Der junge Herr Cruncher, der im Hemde dastand, nahm dies sehr übel und verbat sich, gegen seine Mutter gewandt, alles auf seine persönliche Verköstigung sich beziehende Gebet.

»Und was meinst du, du eingebildetes Weib«, fuhr Mr. Cruncher in nicht geahnter Inkonsequenz fort, »was wohl dein Gebet wert sein mag? Sag‘, wie hoch schlägst du dein Gebet an?«

»Es kommt nur aus dem Herzen, Jerry, und ist nicht mehr wert als dieses.«

»Nicht mehr wert als dieses?« wiederholte Mr. Cruncher. »Dann ist’s mit seinem Wert nicht weit her. Wie dem übrigens sei, ich erkläre dir, daß nicht gegen mich gebetet werden soll. Ich kann das nicht brauchen für meine Haushaltung und will mich nicht durch deine Schleicherei unglücklich machen lassen. Wenn du einmal hinsacken willst, so tu es für deinen Mann und dein Kind und nicht gegen sie. Hätte ich nicht ein so unnatürliches Weib und dieser arme Knabe eine unnatürliche Mutter, so wär‘ mir sicherlich in der letzten Woche einiges Geld zugeflossen; statt dessen aber muß ich gegen mich beten, mich unterminieren und auf die schlimmste religiöse Weise zu Grunde richten lassen. Hol‘ mich der Henker!« sagte Mr. Cruncher, der diese ganze Zeit über mit Anlegen seiner Kleider beschäftigt gewesen war, »wenn ich nicht durch die Frömmigkeit und dies und jenes letzte Woche in so schlimmes Malheur hineingejagt worden bin, wie es nur je einem armen Teufel von einem ehrlichen Geschäftsmann zugestoßen ist! Junger Jerry, zieh dich an, Bursche, und hab‘ von Zeit zu Zeit, während ich meine Stiefel putze, ein wachsames Auge auf deine Mutter. Merkst du, daß sie wieder niedersacken will, so ruf mir; denn ich sage dir« – dies galt seinem Weibe – »ich leid’s nicht, daß man mir immer so kommt. Ich werde so wacklig wie eine Mietkutsche, so schläfrig wie ein Murmeltier, und meine Glieder müssen dran, daß ich, wenn sie mir nicht so weh täten, nicht wüßte, ob sie mir oder jemandem anders gehören; und doch fährt bei alledem mein Portemonnaie nicht besser. Darum glaube ich, du hast von Morgen bis in die Nacht meinen Verdienst gehindert, so daß ich nicht vorwärtskommen kann. Nun, was sagst du jetzt, du Widerspruchsgeist?«

Unter weiter dazugefügten knurrenden Phrasen, als da waren: »Ah, ja. Du bist fromm. Du willst nicht gegen die Interessen deines Mannes und Kindes handeln – du natürlich nicht« und unterschiedlichen weiteren Geistesblitzen von dem schnurrenden Schleifstein seiner Entrüstung machte er sich ans Stiefelputzen und an die allgemeinen Vorbereitungen für sein Geschäft. Mittlerweile besorgte sein Sohn, dessen Kopf mit etwas feineren Spießen versehen war, und dessen junge Augen so nahe beieinander standen wie die seines Vaters, die ihm aufgetragene Wache über seine Mutter. Er ängstigte das arme Weib damit, daß er von Zeit zu Zeit aus dem Alkoven, wo er seine Toilette machte, mit dem Ruf herausfuhr: »Wollt Ihr wieder hinsacken, Mutter? – He, Vater!« und dann nach Erregung dieses falschen Lärms mit einem sehr unkindlichen Grinsen wieder hineinstürzte.

Mr. Cruncher war nicht in der besten Stimmung, als er sich endlich zum Frühstück niedersetzte. Das Gebet, das Mrs. Cruncher leise vor sich hin sprach, erregte bei ihm besonderen Anstoß.

»Nun, Ekel, was tust du? Schon wieder dabei?«

Sein Weib entgegnete, daß sie nur einen Segen gesprochen habe.

»Das läßt du mir bleiben!« rief Mr. Cruncher, indem er umherschaute, als erwarte er, daß unter der Wirksamkeit von seines Weibes Gebet der Laib vom Tische verschwinden werde. »Ich will nicht von Haus und Herd weggesegnet werden. Das segnet mir am Ende alle meine Lebensmittel vom Tisch. Ruhig also.«

Grämlich und mit ungemein roten Augen, als sei er die ganze Nacht auf und in einer Gesellschaft gewesen, in der es nichts weniger als gesellschaftlich zuging, würgte Jerry Cruncher sein Frühstück hinunter und brummte dazu wie nur irgendein vierfüßiger Menagerie-Insasse. Gegen neun Uhr glättete sich sein rauhborstiges Wesen. Er übertünchte sein natürliches Ich, so gut er konnte, mit einem Anstrich von Achtbarkeit und Geschäftseifer und trat seinen Tagesberuf an.

Man konnte diesen kaum ein Gewerbe nennen, obschon Mr. Cruncher es liebte, sich selbst als »ehrlichen Geschäftsmann« zu bezeichnen. Sein Geschäftsinventar bestand bloß in einem Schemel, gefertigt aus einem Stuhl, dessen zerbrochene Lehne abgesägt worden, und diesen hatte der junge Jerry jeden Morgen unter das zunächst an Temple Bar grenzende Bankhausfenster zu tragen, wo der Aushelfer mit ein paar Strohwischen als Zugabe, die er einem vorüberfahrenden Fuhrwerk ausraufte und mit denen er die Füße gegen Nässe und Kälte schützte, sein Standquartier aufschlug. Auf diesem seinem Posten war Mr. Cruncher der Fleetstraße und dem Temple so bekannt wie die Bar selbst und sah fast ebenso übel aus.

Um drei Viertel auf neun, also noch in guter Zeit, um vor den uralten Männern, wenn sie bei Tellsons eingingen, an den dreieckigen Hut zu greifen, bezog Jerry an jenem windigen Märzmorgen seinen Posten, und der junge Jerry nahm an seiner Seite seinen Stand, wenn er nicht gerade Streifzüge durch das Bar machte, um körperliche und geistige Verletzungen der wehtuendsten Art an vorübergehenden Knaben zu üben, die für seinen liebenswürdigen Zweck klein genug waren. Während Vater und Sohn, mit ihren Köpfen so nahe beieinander, wie bei jedem die Augen standen, schweigend dem Morgentreiben in der Fleetstraße zusahen, nahmen sie sich bei ihrer großen Ähnlichkeit auf und nieder wie ein paar Affen aus. Auch geschah dem Vergleich kein Abtrag durch den Umstand, daß der reife Jerry stets Stroh zerbiß und ausspie, während die zwinkernden Augen des jugendlichen Jerry aufmerksam auf ihm hafteten wie auf irgend etwas in der Fleetstraße.

Der Kopf eines regelmäßigen Hausdienstboten von Tellfons Etablissement tauchte durch die Tür auf und entsandte das Schlagwort:

»Portier, herein!«

»Heda, Vater! Schon ein frühes Geschäft zum Anfang!«

Nachdem der junge Jerry seinen Vater auf diese Weise ermutigt hatte, nahm er Platz auf dem Schemel, der in dem von seinem Vater gekauten Stroh ihm anwartschaftliches Interesse bot, und machte sich Gedanken.

»Immer rostig! Seine Finger sind immer rostig!« murmelte der junge Jerry. »Wo bringt nur mein Vater all den Eisenrost her? Es gibt doch hier keinen!«

  1. Afrikanische Volksstämme

Zweites Kapitel. Ein Spektakel.


Zweites Kapitel. Ein Spektakel.

»Ihr seid ohne Zweifel gut in Old Bailey bekannt?« sagte einer der Ältesten im Bankbureau zu Jerry, dem Aushelfer.

»Ja, Sir«, entgegnete Jerry brummig, »ich kenne mich aus in der Bailey.«

»Recht so. Und Ihr kennt auch Mr. Lorry?«

»Den Mr. Lorry, Sir, kenne ich viel besser als die Bailley. Viel besser«, fuhr Jerry in der Art eines unfreiwilligen Zeugen fort, der in der fraglichen Anstalt vernommen wird, »als ich, der ich ein ehrlicher Geschäftsmann bin, mit der Bailey bekannt zu werden wünsche.«

»Schön. Sucht die Tür auf, durch die man die Zeugen einläßt, und gebt dem Pförtner dieses Billett an Mr. Lorry. Man wird dann auch Euch einlassen.«

»In den Gerichtssaal, Sir?«

»In den Gerichtssaal.«

Mr. Crunchers Augen schienen noch enger zusammenzurücken und aneinander die Frage zu richten: »Was hältst du davon?«

»Muß ich im Gerichtssaal warten, Sir?« Diese Frage schien das Ergebnis der eben genannten Konferenz zu sein.

»Das sollt Ihr sogleich erfahren. Der Pförtner wird das Billett Mr. Lorry zufertigen, und Ihr macht Euch Mr. Lorry durch eine Gebärde bemerkbar, damit er weiß, wo Ihr steht. Dann habt Ihr weiter nichts zu tun, als dort zu warten, bis er Euch braucht.«

»Sonst nichts, Sir?« Mr. Cruncher sah schweigend zu, wie der alte Kontorist bedächtig daß Billett faltete und es überschrieb. Erst als endlich das Löschpapier zur Verwendung kam, erlaubte er sich die Bemerkung:

»Ich denke, man verhandelt diesen Morgen Fälschungen?«

»Hochverrat.«

»Darauf steht Vierteilen«, sagte Jerry. »Barbarisch!«

»So lautet das Gesetz«, entgegnete der alte Kontorist, erstaunt seine Brillengläser auf ihn richtend – »das Gesetz.«

»Es ist hart von dem Gesetz, einen Menschen so zuzurichten, denk ich. Es ist schon hart, einem das Leben zu nehmen, aber sehr hart, einen zu zerstückeln, Sir.«

»Durchaus nicht«, erwiderte der alte Kontorist. »Sprecht nicht uneben von dem Gesetz. Sorgt für Eure Brust und Eure Stimme, mein guter Freund, und laßt das Gesetz für sich selbst sorgen. Ich rate Euch dies wohlmeinend.«

»Es ist die Feuchtigkeit, die meiner Brust und meiner Stimme zusetzt«, sagte Jerry. »Ihr mögt selbst beurteilen, durch was für eine feuchte Hantierung ich meinen Unterhalt erwerben muß.«

»Na, schon gut, jeder muß sich auf seine eigene Art durch die Welt bringen. Bei dem einen ist der Weg feucht, beim andern trocken. Hier ist das Schreiben. Macht, daß Ihr weiter kommt.«

Jerry nahm das Billett und sagte mit weit weniger innerlicher Unterwürfigkeit, als er nach außen zur Schau stellte, zu sich selbst: »Jawohl, alter Knasterbart.« Dann machte er seinen Bückling, unterrichtete im Vorbeigehen seinen Sohn von dem ihm erteilten Auftrag und ging seines Weges.

Man hängte in jenen Tagen die Verbrecher zu Tyburn; die Straße von Newgate hatte also damals noch nicht die traurige Berühmtheit erlangt, die sie jetzt besitzt. Immerhin aber war das Gefängnis ein abscheulicher Platz, an dem Ausschweifungen und Schurkereien fast aller Art geübt und wo schlimme Krankheiten ausgebrütet wurden, die mit den Gefangenen in den Gerichtssaal kamen und bisweilen von dem Verbrecherverschlag aus geradewegs sogar auf den Lord Oberrichter zustürzten und ihn von der Bank herunterrissen. Mehr als einmal war es vorgekommen, daß der Richter in dem schwarzen Käppchen mit dem Urteilspruch über den Gefangenen selbst den Tod in sich aufnahm und sogar noch vor dem letzteren starb. Im übrigen stand die alte Bailey weit und breit im Rufe als eine Art Totenwirtshaus, von dessen Hof her man unaufhörlich bleiche Reisende auf Karren die Fahrt in die andere Welt antreten sah. Sie war ferner berühmt wegen des Prangers, einer weisen Einrichtung, die eine Strafe auferlegte, deren Ausdehnung niemand voraussehen konnte– wegen des Stäupepfahls, einer andern alten, lieben Einrichtung, deren Wirksamkeit einen recht humanisierenden, beruhigenden Eindruck übte –, und endlich wegen ausgedehnter Verhandlungen in Blutgeld, eines weiteren Bruchstücks von der Weisheit unserer Vorfahren, das systematisch Anlaß zu den schrecklichsten wohlfeilen Verbrechen gab, die unter der Sonne begangen wurden. Mit einem Wort, das Old Bailey jener Zelt war eine bündige Veranschaulichung des Grundsatzes, daß, was immer ist, auch recht ist – eine faule Lehre, die freilich schnell mit allem fertig wird, leider aber auch die unbequeme Konsequenz in sich faßt, daß von allem je Gewesenen nichts unrecht gewesen sei.

Der Bote bahnte sich einen Weg durch die unsaubere Menge, die sich in Gruppen um diesen unheimlichen Platz gesammelt hatte, mit dem Geschick eines Mannes, der sicher zu gehen gewohnt ist, fand bald die Tür, die er suchte, auf und bot sein Billett durch eine Falle hinein. Denn damals mußten die Leute ebensogut zahlen, wenn sie das Spiel in Old Bailey, wie wenn sie das in Bedlam sehen wollten, nur mit dem Unterschied, daß das erstere viel höher zu stehen kam. Deshalb waren auch alle Türen von Old Bailey wohl gehütet, natürlich die menschenfreundlichen Türen ausgenommen, durch die die Verbrecher hineinkamen, und die immer weit offen standen.

Nach einigem Verzug knarrte die Tür ärgerlich in ihren Angeln, ging aber nur so weit auf, daß sich Mr. Jerry Cruncher mit knapper Not in den Gerichtssaal hineinzwängen konnte.

»Was geht vor?« fragte er flüsternd seinen Nachbar.

»Noch nichts.«

»Was kommt?«

»Der Hochverratsfall.«

»Bei dem sich’s ums Vierteilen handelt, he?«

»Ja«, entgegnete der Nachbar im Vorgenuß der Szene; »er wird auf einer Schleife hinausgeführt und halb gehenkt; dann nimmt man ihn wieder herunter, läßt ihn zusehen, wie man ihm den Bauch aufschlitzt, seine Eingeweide herausnimmt und sie verbrennt, schlägt ihm dann den Kopf ab und zerhackt seinen Leib in vier Stücke. So lautet das Urteil.«

»Wenn er schuldig erfunden wird, wollt Ihr sagen«, bemerkte Jerry verklausulierend.

»Oh, sie sprechen ihn schon schuldig«, versetzte der Nachbar. »Dies darf Euch keine Sorge machen!«

Mr. Crunchers Aufmerksamkeit wurde jetzt durch den Portier in Anspruch genommen, den er mit dem Billett in der Hand auf Mr. Lorry zugehen sah. Letzterer saß an einem Tisch unter Herren in Perücken, nicht weit von einem beperückten Gentleman, dem Anwalt des Gefangenen, der einen großen Aktenstoß vor sich hatte, und fast unmittelbar einem anderen beperückten Herrn gegenüber, dessen ganze Geistestätigkeit, Mr. Cruncher mochte ihn ansehen, sooft er wollte, von der Decke des Gerichtssaales in Anspruch genommen zu werden schien. Es gelang Jerry, durch einige rauhe Hustenstöße, durch das Reiben seines Kinns und durch Winke mit der Hand die Aufmerksamkeit Mr. Lorrys auf sich zu ziehen, der aufgestanden war, um sich nach ihm umzusehen, seine Zeichen kopfnickend erwiderte und dann wieder Platz nahm.

»Was hat denn der mit dem Fall zu schaffen?« fragte der Mann, mit dem er früher gesprochen hatte.

»Will des Henkers sein, wenn ich’s weiß.«

Das Eintreten des Richters und das darauf folgende Geräusch, bis das Gerichtspersonal wieder Platz genommen, unterbrach dieses Zwiegespräch. Fortan wurde der Gefangenenverschlag der Hauptanziehungspunkt. Zwei Gefängniswärter, die dort gestanden hatten, gingen hinaus, führten den Angeklagten herein und stellten ihn vor die Gerichtsschranke.

Alle Anwesenden, mit Ausnahme des beperückten Herrn, der die Saaldecke betrachtete, starrten ihn mit großen Augen an. Jeder menschliche Atem in dem Raume wogte ihm wie ein Meer, ein Wind oder ein Feuer zu. Begierige Gesichter drängten sich um Säulen und Ecken, um seiner ansichtig zu werden; Zuschauer in den hinteren Reihen standen auf, um ja kein Haar von ihm zu verlieren. Leute in dem Parterre des Saals legten ihre Hände auf die Schultern ihrer Vordermänner, um sich auf irgend jemandes Kosten zu dem Anblick zu verhelfen; man stand auf den Zehen, suchte die Unterstützung von Leisten und stemmte sich sogar in die Höhe, um jeden Zoll von ihm zu sehen. Unter den letzteren stand Jerry wie ein lebendiges Stückchen von der mit Spitzeisen bewaffneten Newgate-Mauer und strömte in die Richtung des Gefangenen (er hatte nämlich im Herweg seinen Schnabel angefeuchtet) seinen Bieratem aus, auf daß er Bekanntschaft mache mit den wogenden Dünsten anderen Biers, Branntweins, Tees, Kaffees und so weiter, die dem Gegenstand des gemeinsamen Interesses zufluteten und an den großen Fenstern hinter ihm sich in der Form eines unreinen Nebels und Regens brachen.

Der Zielpunkt alles dieses Gaffens und Starrens war ein wohlgewachsener, gutaussehender junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit sonnverbrannten Wangen und dunklen Augen, der den besseren Ständen angehörte. Er war einfach in Schwarz oder Dunkelgrau gekleidet, und sein dunkles Haar wurde mehr um der Bequemlichkeit als um der Zierde willen an der Hinterseite seines Kopfes durch ein Band zusammengehalten. Wie eine Erregung des Geistes sich durch jede Hülle des Körpers bemerklich macht, so erkannte man die Blässe, die seiner Lage natürlich war, durch das Braun der Wange, zum Beweis, daß die Seele kräftiger ist als die Sonne. Im übrigen zeigte er eine vollkommene Fassung: er verbeugte sich gegen den Richter und blieb ruhig stehen.

Das Interesse, mit dem dieser junge Mann angegafft und angeatmet wurde, gereichte der Menschheit nicht eben zur Ehre. Wäre er nicht von einem so schrecklichen Urteil bedroht worden und wäre die Aussicht vorhanden gewesen, daß er mit einem oder dem andern Teil des grausamen Verfahrens verschont bleiben könnte, so hätte seine Persönlichkeit bedeutend an Reiz verloren. Die Gestalt, die so schändlich zerstückt werden sollte, war eine Augenweide, das unsterbliche Geschöpf, dem eine so entsetzliche Schlachtbank bevorstand, ein Kitzel für die Empfindung. Welchen Anstrich auch die verschiedenen Zuschauer nach Maßgabe der Kraft und Kunst ihrer Selbsttäuschung ihrem Interesse an dem Schauspiel beilegen mochten, seiner Grundwesenheit nach war es blutdürstig.

Stille im Gerichtssaal! Charles Darnay hatte sich für »Nicht schuldig« gegen eine Anklage erklärt, die ihm unter endlosem Geklingel und Geklapper zur Last legte, er sei ein falscher Verräter gegen unseren durchlauchtigsten, hochmächtigsten, erhabenen und so fort Fürsten, unsern Herrn, den König, weil er bei verschiedenen Gelegenheiten und auf unterschiedliche Weise dem französischen König Ludwig Beistand geleistet habe in seinen Kriegen und so fort; und zwar durch Ab- und Zugehen zwischen den Domänen unseres besagten, hochmächtigsten, erhabenen und so fort und denen des besagten französischen Ludwig in der boshaften, falschen, verräterischen und anderweitig hochverdächtigen Absicht, dem besagten französischen Ludwig zu enthüllen, welche Streitkräfte unser besagter, durchlauchtigster, hochmächtigster, erhabener und so fort nach Kanada und Nordamerika zu senden sich anschicke. So viel wenigstens fand Jerry, dessen Kopf unter den juridischen Ausdrücken immer spießiger wurde, mit großer Selbstbefriedigung heraus, wie er denn auch auf Umwegen zu dem Verständnis kam, daß der vorbesagte und aber- und abermal vorbesagte Charles Darnay hier vor Gericht stand, daß die Jury beeidigt wurde und daß der Herr Staatsanwalt sich anschickte, seinen Vortrag zu halten.

Der Angeschuldigte wußte recht wohl, daß er von jedem der Anwesenden im Geiste bereits als gehangen, enthauptet und gevierteilt betrachtet wurde. Trotzdem zagte er nicht vor seiner Lage und nahm ebensowenig ein theatralisches Wesen an. Er verhielt sich ruhig und aufmerksam, folgte dem Gang der Verhandlungen mit ernster Teilnahme und stand, die Hände auf den Sims seines Verschlags gestützt, so gefaßt da, daß auch nicht ein Blättchen von den darauf liegenden Kräutern verrückt wurde. Durch den ganzen Gerichtssaal waren dergleichen medizinische Pflanzen, die man noch obendrein mit Essig besprengt hatte, als Vorbeugungsmittel gegen Gefängnisluft und Nervenfieber ausgestreut.

Zu den Häupten des Gefangenen befand sich ein Spiegel, der das Licht auf ihn niederwarf. Scharen von Unglücklichen und Verworfenen haben sich schon darin bespiegelt und sind ebenso von seiner Fläche weg wie überhaupt von der Erde verschwunden. Das Dock müßte zum entsetzlichsten Spukplatz werden, wenn jener Spiegel je die in ihm reflektierten Gestalten nach Art des Meeres, das eines Tages seine Toten wieder ausfolgen wird, wieder zurückgeben könnte. Ein flüchtiger Gedanke an die Schmach und Entehrung, die durch die künstliche Bestrahlung beabsichtigt wurde, schien dem Angeklagten durch den Sinn zu gehen; denn als er bei einer zufälligen Veränderung seiner Stellung den Lichtschein über sich bemerkte, überflog beim Aufschauen sein Antlitz ein tiefes Rot, und seine Rechte schob die Kräuter beiseite.

Bei dieser Bewegung drehte sich sein Gesicht zufällig nach links. Ungefähr in gleicher Höhe mit seinen Augen saßen in dem Winkel der Gerichtsbank zwei Personen, auf denen sein Auge alsbald haften blieb. Dies geschah so plötzlich und mit einer so merklichen Veränderung in seinem Wesen, daß alle bisher ihm zugewandten Blicke ihm jetzt in dieser Richtung folgten.

Die Zuschauer entdeckten in den beiden Personen ein junges Frauenzimmer von wenig mehr als zwanzig und einen Herrn, der unverkennbar ihr Vater war. Dieser fiel namentlich auf durch das schneeige Weiß seiner Haare und durch einen gewissen unbeschreiblichen Ausdruck von Spannung in seinem Gesicht, der weniger einem tatkräftigen Affekt, als einem in sich gekehrten Brüten zu entstammen schien. Wenn dieser Ausdruck auf ihm lagerte, so sah er sehr alt aus; wich er aber für einige Augenblicke, wie dies zum Beispiel eben jetzt geschah, als er mit seiner Tochter sprach, so zeigte er sich als einen schönen, noch in der Vollkraft des Lebens stehenden Mann.

Die neben ihm sitzende Tochter hatte ihre eine Hand in seinen gebogenen Arm und die andere auf die Rückenfläche dieses Armes gelegt, auch aus Furcht vor dem bevorstehenden Auftritt und in ihrem Mitleid für den Gefangenen sich dicht an ihn angeschmiegt. Auf ihrer Stirn sprach sich ein unnennbarer Schmerz und eine Teilnahme aus, die für nichts weiter einen Sinn hatte als für die Gefahr des Gefangenen. Diese Züge taten sich so mächtig und naturgetreu kund, daß die Gaffer, die kein Mitleid für den Angeklagten hatten, doch für sie einiges empfanden, und das Geflüster ging im Kreise herum: »Wer sind sie?«

Jerry, der Aushelfer, der sich nach seiner Art seine Gedanken gemacht und dabei eifrig den Rost von seinen Fingern gesaugt hatte, streckte seinen Hals aus, um zu hören, wer sie wären. Das Gedränge um ihn her hatte durch Weitergeben die Frage allmählich bis zu dem nächsten Gerichtsdiener gebracht, und in derselben Wellenbewegung war die Antwort langsam zurückgekommen, bis sie endlich auch an Jerry gelangte:

»Zeugen.«

»Für welche Partei?«

»Gegen.«

»Gegen wen?«

»Gegen den Gefangenen.«

Der Richter hatte seine Blicke die allgemeine Richtung einschlagen lassen, jetzt aber wieder zurückgerufen; er machte sich breit in seinem Sitz und sah ständig auf den Mann hin, dessen Leben in seiner Hand lag, während der Staatsanwalt sich erhob, um den Strick zu drehen, das Beil zu schleifen und die Nägel in das Schafott zu hämmern.

Drittes Kapitel. Eine getäuschte Erwartung.


Drittes Kapitel. Eine getäuschte Erwartung.

Der Staatsanwalt hatte den Geschworenen mitzuteilen, daß der Gefangene vor ihnen, obschon noch jung an Jahren, alt sei in den hochverräterischen Praktiken, durch die er sein Leben verwirkt habe. Seine Korrespondenz mit dem Feind des Landes stamme nicht bloß von heute oder gestern, ja, nicht bloß aus dem abgelaufenen oder dem vorletzten Jahre. Es sei gewiß, daß der Gefangene schon viel länger zwischen Frankreich und England Hin- und Herreisen gemacht habe in geheimen Angelegenheiten, über die er keine befriedigende Auskunft geben könne. Wenn es in der Natur verräterischer Schleichwege läge, zu einem Erfolg zu führen, was zum Glück nie der Fall sei, so wäre vielleicht die Schändlichkeit und Schuld seines Treibens unentdeckt geblieben. Die Vorsehung aber habe es einer Person, die erhaben sei über üblen Leumund und Menschenfurcht, ins Herz gegeben, den schlimmen Entwürfen des Gefangenen nachzuspüren und dieselben voll Entsetzen Seiner Majestät erstem Staatssekretär und einem höchstpreislichen geheimen Rat zu enthüllen. Dieser Vaterlandsfreund werde ihnen vorgestellt werden. Seine Stellung und sein Verhalten trage im ganzen den Charakter der Erhabenheit. Er sei des Gefangenen Freund gewesen; als er aber einmal in einer günstigen üblen Stunde dessen Ehrlosigkeit entdeckte, habe er beschlossen, den Verräter, dessen Freundschaft er nicht länger in seinem Busen tragen konnte, auf dem heiligen Altar des Vaterlandes zu opfern. Wenn in Britannien, wie es in dem alten Rom und Griechenland üblich gewesen, den Wohltätern des Landes Ehrensäulen errichtet würden, so hätte dieser treffliche Bürger zuverlässig den ersten Anspruch auf eine solche Auszeichnung. Da dies aber in England nicht Sitte sei, so werde er sie wahrscheinlich auch nicht erhalten.

Es sei von den Dichtern an verschiedenen Stellen, die, wie er wisse, die Geschworenen auswendig kennen (freilich war auf den Gesichtern der Geschworenen das Schuldbewußtsein ihres gründlichen Nichtwissens zu lesen), ausgesprochen worden, daß die Tugend in gewisser Art eine ansteckende Kraft besitze, besonders aber die leuchtende Tugend, die man Patriotismus oder Liebe zum Vaterland nenne. Das erhabene Beispiel dieses reinen und unanfechtbaren Zeugen für die Krone habe auch günstig auf den Diener des Gefangenen gewirkt und in ihm den ehrenvollen Entschluß geweckt, die Schubladen und Taschen seines Herrn zu untersuchen und seine Papiere zu unterschlagen. Er (der Staatsanwalt) sei zwar darauf gefaßt, daß man versuchen werde, diesen bewunderungswürdigen Diener etwas herabzuwürdigen. Ihm für seine Person aber sei im ganzen dieser Ehrenmann eine teurere Person als seine (des Staatsanwalts) Brüder und Schwestern, und er schätze ihn höher als seinen eigenen Vater und seine Mutter. Er könne daher mit Zuversicht die Geschworenen auffordern, das gleiche zu tun. Die Angaben dieser beiden Zeugen in Verbindung mit den von ihnen beigebrachten Dokumenten würden den Nachweis liefern, daß der Gefangene sich Listen über Seiner Majestät Streitkräfte und deren Verwendung zu Land und zur See verschafft habe, und es über allen Zweifel erheben, daß von ihm dauernd solche Mitteilungen an den Feind gemacht, worden seien. Zwar lasse sich in den besagten Listen nicht die Handschrift des Gefangenen erweisen: dies komme jedoch nicht in Betracht und spreche eher für die Anklage, sofern sich daraus nur die Schlauheit und Vorsicht des Verbrechers ergebe. Die Beweisführung werde bis auf fünf Jahre zurückgreifen und zeigen, daß der Gefangene sein verräterisches Treiben schon damals, einige Wochen vor der ersten Schlacht zwischen den britischen Truppen und den Amerikanern, geübt habe. Die Jury sei, wie er wisse, eine loyale und habe, wie ihr selbst bekannt sei, Pflichten der Verantwortlichkeit. Sie müsse also aus den angeführten Gründen den Gefangenen schuldig sprechen und, möge sie es gern tun oder nicht, mit ihm ein Ende machen. Die Geschworenen können nie wieder ihre Häupter auf ihre Kissen niederlegen, ja dürfen nicht einmal den Gedanken aufkommen lassen, zu dulden, daß ihre Weiber, ihre Kinder oder ihre ganze Verwandtschaft ihre Häupter auf Kissen niederlegen, bis der Kopf des Gefangenen gefallen sei. Er verlange diesen Kopf von ihnen, schloß der Staatsanwalt, im Namen alles nur Erdenklichen und kraft seiner feierlichen Versicherung, daß er den Angeklagten bereits für einen toten Mann ansehe.

Nachdem der Staatsanwalt seinen Vortrag geschlossen hatte, erhob sich in dem Gerichtssaal ein Summen, als umschwärme eine Wolke großer Schmeißfliegen den Gefangenen im Vorgefühl dessen, was er bald sein werde. Es legte sich wieder, und nun erschien der unanfechtbare, Zeuge in der Zeugenloge.

Der Herr General-Prokurator nahm sofort, an dem Faden seines Vorgängers weiter spinnend, den Patrioten, John Barsad, Gentleman, mit Namen, ins Verhör. Die Geschichte seiner reinen Seele war ganz so, wie sie der Herr Staatsanwalt, wenn sie je einen Fehler hatte, nur zu genau vorgetragen. Nachdem er sein edles Herz erleichtert, wollte er sich bescheiden wieder zurückziehen. Aber der beperückte Gentleman mit dem Aktenstoß vor sich, der in Mr. Lorrys Nähe saß, bat um die Erlaubnis, ein paar Fragen an ihn richten zu dürfen. Der Gentleman in der Perücke, Mr. Lorry gegenüber, machte noch immer seine Studien an der Saaldecke.

War er nicht selbst schon ein Spion gewesen? Nein, er wies eine so schnöde Verleumdung mit Verachtung zurück. Von was lebte er? Von seinem Vermögen. Wo hatte er dieses Vermögen? Er konnte sich dessen nicht genau erinnern. In was bestand es? Ging niemanden etwas an. Hatte er geerbt? Ja. Von wem? Von einem entfernten Verwandten. Sehr entfernt? Ziemlich. Noch nie im Gefängnis gewesen? Gewiß nicht. Auch nicht in Schuldenhaft? Sah nicht ein, wie dies hergehörte. Nie in Schuldenhaft? Schon wieder diese Frage. Nie? Ja. Wie oft? Zwei- oder dreimal. Nicht fünf- oder sechsmal? Vielleicht. Von welchem Beruf? Gentleman. Nie Fußtritte gekriegt? Kann sein. Oft? Nein. Nie, die Treppe hinuntergeworfen worden? Gewiß nicht: nur einmal am Anfang einer Treppe einen Stoß erhalten und dann von freien Stücken hinuntergefallen. Bei jener Gelegenheit einen Fußstoß erhalten wegen Betrugs beim Würfelspielen? Etwas Derartiges wurde durch den betrunkenen Lügner ausgesprengt, der ihn angegriffen, war aber nicht wahr. Konnte dies beschworen werden? Zuverlässig. Nie von Betrug im Spiel gelebt? Nie. Nicht vom Spiel gelebt? Nicht mehr als andere Gentlemen auch. Nie von dem Gefangenen Geld geborgt? Ja. Ihn immer wieder bezahlt? Nein. War nicht die vertraute Beziehung zu dem Gefangenen nur eine sehr entfernte und dem Gefangenen in Postkutschen, Gasthäusern und Paketschiffen aufgedrungen? Nein. Wahrscheinlich sah er die Listen bei dem Gefangenen? Gewiß. Wußte er nichts Weiteres von den Listen? Nein. Hatte er nicht etwa selbst sie ihm geliefert? Nein. Hoffte er durch sein Zeugnis etwas zu gewinnen? Nein. Nicht in regelmäßigem Sold und Dienst der Regierung, um Fallen zu legen? O Himmel, nein. Oder sonst etwas zu tun? O Himmel, nein. Konnte dies beschworen werden? Zehn- für einmal. Keine andern Beweggründe als Patriotismus? Durchaus keine.

Der tugendhafte Diener schwur sich mit großer Geschwindigkeit durch die ganze Verhandlung. Er war voll guten einfältigen Glaubens vor vier Jahren bei dem Gefangenen in Dienst getreten. Er hatte denselben an Bord des Calais-Paketschiffes gefragt, ob er nicht einen geschickten Burschen brauche, und der Gefangene ihn angenommen. Von einer Bitte an den Gefangenen, er möchte an dem geschickten Burschen ein Werk der Barmherzigkeit üben, war keine Rede gewesen; an etwas der Art hatte er nie gedacht. Er begann bald nachher Argwohn zu schöpfen gegen den Gefangenen und hatte ein wachsames Auge auf ihn. Wenn er auf Reisen die Kleider des Gefangenen besorgte, gab sich ihm oft und oft Gelegenheit, in dessen Taschen ähnliche Listen zu sehen. Die vorliegenden hatte er einer Schublade in dem Pult des Gefangenen entnommen. Sie waren nicht zuerst von ihm hineingelegt worden. Er konnte als Augenzeuge bekräftigen, daß der Gefangene gerade diese Listen französischen Herren in Calais und ähnliche Listen französischen Herren zu Calais und Boulogne gezeigt hatte. Er liebte sein Land, konnte dies nicht ertragen und machte Anzeige. Er hatte nie im Verdacht gestanden, eine silberne Teekanne gestohlen zu haben; er war wohl boshafterweise wegen eines silbernen Senftopfes verleumdet worden, aber es hatte sich herausgestellt, daß es nur ein plattierter gewesen. Den letzten Zeugen kannte er seit sieben oder acht Jahren, aber dies war nur ein Zusammentreffen. Er nannte es nicht ein merkwürdiges Zusammentreffen; denn beim Zusammentreffen findet meist diese Eigenschaft statt. Auch erschien es ihm nicht als ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß bei ihm gleichfalls wahrer Patriotismus der einzige Beweggrund sein sollte. Er war ein echter Brite und hoffte, daß es noch viele geben werde wie er.

Die Schmeißfliegen summten wieder, und der Herr Staatsanwalt rief Mr. Jarvis Lorry auf.

»Mr. Jarvis Lorry, seid Ihr Bureaubeamter in Tellsons Bank?«

»Habt Ihr nicht an einem gewissen Freitag im November des Jahres eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig nachts den Postwagen zu einer Geschäftsreise von London nach Dover benutzt?«

»Ja.«

»Reisten noch andere Passagiere mit?«

»Zwei.«

»Sind sie nicht im Laufe der Nacht unterwegs ausgestiegen?«

»Ja.«

»Mr. Lorry, seht den Gefangenen an. War er einer von den beiden Passagieren?«

»Ich kann dies nicht behaupten.«

»Hat er Ähnlichkeit mit einem von jenen zwei Passagieren?«

»Beide waren so eingehüllt, die Nacht so dunkel und wir alle so zurückhaltend, daß ich auf die Frage keine Antwort zu geben weiß.«

»Mr. Lorry, betrachtet Euch den Gefangenen noch einmal. Denkt Euch ihn so eingehüllt, wie jene beiden Reisenden waren – liegt in seinem Körperbau und in seiner Haltung etwas, was es unwahrscheinlich macht, daß er einer davon gewesen sein könnte?«

»Nein.«

»Wollt Ihr darauf schwören, daß er keiner von ihnen gewesen?«

»Nein.«

»Aber Ihr könnt wenigstens sagen, es sei möglich, daß er einer davon war?«

»Ja, mit Ausnahme des mir noch erinnerlichen Umstandes, daß jene Männer sich gleich mir sehr vor Straßenräubern fürchteten; der Gefangene sieht nicht furchtsam aus.«

»Habt Ihr schon ein Bild der Furchtsamkeit gesehen, Mr, Lorry?«

»Jawohl.«

»Mr. Lorry, betrachtet Euch noch einmal den Gefangenen. Könnt Ihr Euch nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben?«

»O ja.«

»Wann?«

»Ich kehrte einige Tage später von Frankreich zurück. Der Gefangene kam zu Calais an Bord des Paketschiffes, das mich mit heimnahm, und machte mit mir die Reise.«

»Um welche Zeit kam er an Bord?«

»Ein wenig nach Mitternacht.«

»Bei totenstiller Nacht also. War er der einzige Passagier, der zu dieser ungewöhnlichen Stunde an Bord kam?«

»Er war zufällig der einzige.«

»Kümmert Euch nicht darum, ob es Zufall war oder nicht, Mr. Lorry. Er war also der einzige Passagier, der mitten in der Nacht an Bord kam?«

»Reistet Ihr allein, Mr. Lorry, oder wäret Ihr in Gesellschaft?«

»Ich hatte zwei Reisebegleiter, eine Dame und einen Herrn. Sie sind hier.«

»Sie sind hier. Habt Ihr mit dem Gefangenen Unterhaltung gepflogen?«

»Kaum. Wir hatten stürmisches Wetter, und während der langen Dauer der rauhen Überfahrt lag ich fast unausgesetzt auf dem Sofa.«

»Miß Manette!«

Die junge Dame, der sich jetzt wie früher alle Augen zuwendeten, stand von ihrem Sitze auf; ihr Vater, der ihre Hand mit seinem Arme unterstützt hielt, tat das gleiche.

»Miß Manette, betrachtet den Gefangenen.«

Die Konfrontation mit der ernsten, schönen, von Mitleid ergriffenen Jungfrau wirkte auf den Angeschuldigten weit erschütternder als das Begafftwerden durch die Menge. Er stand gewissermaßen beiseite mit ihr am Rande seines Grabes, und all die Neugier der maulaufsperrenden Zuschauer vermochte ihn nicht so weit zu kräftigen, daß er auch in jenem Augenblick ganz ruhig blieb. Seine Rechte teilte hastig die Kräuter vor ihm ab in eingebildete Gartenblumenbeete, und die Anstrengung, die es ihn kostete, seinen Atem gleichmäßig zu erhalten, machte seine Lippen beben, aus denen mit dem nach dem Herzen jagenden Blutstrom alle Farbe entwichen war. Die Schmeißfliegen summten wieder laut.

»Miß Manette, habt Ihr den Gefangenen früher gesehen?«

»Ja, Sir.«

»Wo?«

»An Bord des eben besprochenen Paketschiffes, Sir, und bei demselben Anlaß.«

»Ihr seid die junge Dame, von der die Rede war?«

»Leider ja.«

Der klagende Ton des Mitleids erstarb unter der weniger musikalischen Stimme des Richters, der etwas rauh entgegnete:

»Antwortet einfach auf die Fragen, die man an Euch stellt, und macht keine Bemerkungen dazu.«

»Miß Manette, habt Ihr Euch während jener Fahrt über den Kanal mit dem Gefangenen unterhalten?«

»Ja, Sir.«

»Vergegenwärtigt Euch dies wieder.«

Inmitten der tiefen Stille begann sie, mit tonloser Stimme:

»Als der Gentleman an Bord kam –«

»Meint Ihr damit den Gefangenen?« fragte der Richter, die Stirn runzelnd.

»Ja, gnädiger Herr.«

»Dann nennt ihn auch so.«

»Als der Gefangene an Bord kam, bemerkte er, daß mein Vater« – sie richtete ihre Blicke liebevoll auf den an ihrer Seite Stehenden – »sehr erschöpft und leidend war. Sein Gesundheitszustand flößte mir so viel Besorgnis ein, daß ich es nicht wagte, ihn aus der freien Luft fortzunehmen, sondern auf dem Deck neben der Kajütentreppe für ihn ein Bett herrichtete, an dessen Seite ich Platz nahm, um ihm Handreichungen leisten zu können. In jener Nacht waren keine anderen Passagiere an Bord als wir vier. Der Gefangene war so freundlich, um die Erlaubnis zu bitten, mir raten zu dürfen, wie ich meinen Vater besser gegen Wind und Wetter schützen könne, als ich getan habe; denn ich hatte mich nicht darauf verstanden, wie der Wind nach unserer Ausfahrt aus dem Hafen wehen würde, und er beriet mich jetzt. Er äußerte große Teilnahme für den Zustand meines Vaters, und ich bin überzeugt, daß er sie auch fühlte. So begann unsere Unterhaltung.«

»Laßt mich Euch für einen Augenblick unterbrechen. Kam er allein an Bord?«

»Nein.«

»Wer war bei ihm?«

»Zwei französische Herren.«

»Haben sie miteinander gesprochen?«

»Sie sprachen miteinander bis zu dem Augenblick, als die französischen Herren wieder in ihr Boot steigen mußten.«

»Habt Ihr in ihren Händen keine Papiere bemerkt, die Ähnlichkeit hatten mit diesen Listen?«

»Von Papieren habe ich wohl etwas gesehen, kann aber nicht sagen, welcher Art Papiere es waren.«

»An Form und Umfang etwa wie diese?«

»Möglich, aber ich weiß es in der Tat nicht, obschon sie in meiner unmittelbaren Nähe miteinander flüsterten; denn sie standen auf dem Absatz der Kajütentreppe, um das Licht der dort hängenden Laterne benutzen zu können. Das Licht brannte trüb, und sie sprachen sehr leise, so daß ich nicht verstand, was sie sagten. Ich sah nur, daß sie sich mit den Papieren befaßten.«

»Nun Eure Unterhaltung mit dem Gefangenen, Miß Manette.«

»Der Gefangene war sehr offen und zutraulich gegen mich; ich schreibe dieses meiner hilflosen Lage zu; denn er benahm sich sehr teilnehmend und suchte meinem Vater nützlich zu werden. Ich hoffe«, fügte sie bei, indem sie in Tränen ausbrach, »ich lohne es ihm nicht damit, daß ich ihm heute zum Schaden rede.«

Gesumm von seiten der Schmeißfliegen.

»Miß Manette, wenn der Gefangene nicht recht gut einsieht, daß Ihr das Zeugnis, das Ihr abzugeben verpflichtet seid, geben müßt und unter keinen Umständen umgehen könnet, nur mit Widerwillen ablegt, so steht er in diesem Saale mit seiner Anschauungsweise vollkommen vereinzelt. Ich bitte, fahrt fort.«

»Er sagte mir, seine Reise betreffe eine sehr zarte und verfängliche Sache, die leicht Leute in Angelegenheiten bringen könnte; er reise deshalb unter einem angenommenen Namen. Dann teilte er mir weiter mit, sein Geschäft habe ihn für einige Tage nach Frankreich geführt und werde ihm für die nächste Zeit ein öfteres Hin- und Herreisen zwischen Frankreich und England auferlegen.«

»Hat er nichts von Amerika gesprochen, Miß Manette? Ihr müßt auf Einzelheiten eingehen.«

»Er versuchte mir verständlich zu machen, wie der Streit entstanden war, und sagte, soweit er die Sache beurteilen könne, habe England dabei unrecht und töricht gehandelt. Auch fügte er scherzend bei, daß vielleicht Georg Washington in der Geschichte einen fast ebenso großen Namen erringen werde wie Georg der Dritte. In dieser Äußerung lag jedoch nichts Verfängliches; er hatte sie lachend getan, und man sprach eben, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Jeder starkmarkierte Gesichtsausdruck einer Hauptperson in einer hochinteressanten Szene, auf der viele Augen haften, wird unbewußt von den Zuschauern nachgeahmt. Als sie dieses Zeugnis ablegte, zeigte sich ein Zug schmerzlicher Angst und Spannung auf ihrer Stirn, und während der Pausen, die durch das Aufzeichnen ihrer Angaben durch den Richter veranlaßt wurden, suchte sie die Wirkung derselben in den Gesichtern der Advokaten für und wider den Angeklagten zu lesen. Wo man nun in dem Gerichtssaal hinsehen mochte, begegnete man bei den Zuschauern demselben Ausdruck, und zwar in einem so hohen Grade, daß die große Mehrheit der Stirnen nur Spiegel der Stirn der Zeugin zu sein schienen, als der Richter von seinem Notizblatte aufschaute, um bei der schrecklichen Ketzerei über Georg Washington grimmig umherzublicken.

Der Herr Staatsanwalt bedeutete jetzt dem Lord Oberrichter, daß es aus formellen Rücksichten und vorsichtshalber notwendig sein dürfte, auch den Vater der jungen Dame, den Doktor Manette, zu vernehmen. Er wurde aufgerufen.

»Doktor Manette, betrachtet den Gefangenen. Habt Ihr ihn schon einmal gesehen?«

»Ja, einmal. Er besuchte mich in London. Dies mag vor drei oder vierthalb Jahren geschehen sein.«

»Erkennt Ihr in ihm einen Mitreisenden an Bord des Paketschiffes, oder wißt Ihr etwas von seiner Unterhaltung mit Eurer Tochter?

»Weder das eine noch das andere, Sir.«

»Warum dies? War vielleicht ein besonderer Grund dafür vorhanden?«

»Ja«, lautete die leise Antwort.

»Ihr habt in Eurem Vaterland das Unglück gehabt, ohne Urteilspruch, ja, sogar ohne Anklage eine lange Gefangenschaft durchmachen zu müssen, Doktor Manette?«

Er entgegnete in einem Ton, der jedem zu Herzen ging:

»Eine lange Gefangenschaft.«

»Ihr waret nur kurz vor dem fraglichen Anlaß in Freiheit gesetzt worden?«

»So sagt man mir.«

»Ihr erinnert Euch dessen nicht selbst?«

»Nein. In meinem Geist ist eine Lücke – ich weiß nicht, von welcher Dauer – von der Zeit an, als ich in meiner Gefangenschaft mich mit Schuhmachen beschäftigte, bis zu dem Augenblick, in dem ich mich hier zu London unter der pflegenden Hand meiner Tochter wiederfand. Ich hatte mich bereits an sie gewöhnt, als es dem Allbarmherzigen gefiel, mir mein geistiges Vermögen zurückzugeben, obschon ich nicht sagen kann, wie dies zugegangen war. Der ganze Vorgang meines früheren Verkehrs mit ihr ist in Nacht gehüllt.«

Der Herr Staatsanwalt setzte sich nieder, und der Vater und die Tochter folgten seinem Beispiele.

Nun ergab sich in der Verhandlung ein eigentümlicher Umstand. Das Beweisobjekt war, darzutun, daß der Gefangene mit einem noch nicht ermittelten Genossen vor fünf Jahren in jener Novembernacht den Postwagen benutzt habe und unterwegs zum Schein an einem Orte ausgestiegen sei, an dem er nicht blieb, sondern von wo aus er um fünf oder sechs Wegstunden nach einem Garnison- und Werftenplatze zurückreiste, um daselbst sich auf Spionage zu legen. Ein Zeuge wurde vernommen, der in ihm die Person erkennen wollte, die er genau um jene Zeit in dem Kaffeezimmer eines Gasthauses jener Garnison- und Werftenstadt in Erwartung eines anderen gesehen hatte. Der Verteidiger nahm diesen Zeugen scharf ins Verhör, konnte aber nichts weiter aus ihm herausbringen, als daß der Gefangene ihm von keiner andern Gelegenheit her bekannt sei. Jetzt beschrieb der beperückte Gentleman, der der Saaldecke ein so großes Interesse abgewann, einige Worte auf ein Stückchen Papier, rollte es zusammen und warf es dem Anwalt des Gefangenen zu. Dieser benutzte die nächste Pause, um das Röllchen zu öffnen und betrachtete darauf den Angeklagten mit großer Aufmerksamkeit.

»Ihr behauptet also wiederholt, Ihr wisset gewiß, daß es der Gefangene gewesen sei?«

Der Zeuge wußte es gewiß.

»Habt Ihr nie jemand gesehen, der Ähnlichkeit mit dem Gefangenen hatte?«

Wenigstens keine so große Ähnlichkeit, daß sie ihn hätte tauschen können, meinte der Zeuge.

»So betrachtet Euch einmal diesen Gentleman, meinen gelehrten Freund«, er deutete auf den Herrn, der ihm das Papier« zugeworfen hatte – »und dann den Gefangenen. Was sagt Ihr jetzt? Sind sie einander nicht sehr ähnlich?«

Abgesehen von dem Umstand, daß der gelehrte Freund eine ziemlich vernachlässigte, wo nicht liederliche Außenseite hatte, fand zuverlässig eine so große Ähnlichkeit statt, daß sie nicht nur den Zeugen stutzig, machte, sondern auch allen Anwesenden auffiel. An den Lord Oberrichter erging nun das Ersuchen, er möchte dem gelehrten Freund befehlen, seine Perücke abzunehmen, was dann auch von seiten Seiner Gnaden, obschon in sehr ungnädiger Weise, geschah, und die Ähnlichkeit trat jetzt um so schlagender hervor. Der Lord Oberrichter fragte Mr. Stryver, den Verteidiger, ob sie etwa zunächst dem Mr. Carton (Name des gelehrten Freundes) wegen Hochverrats den Prozeß machen sollten; doch Mr. Stryver antwortete darauf dem gnädigen Herrn mit Nein: er beabsichtige bloß, den Zeugen zu fragen, ob ihm, was ihm einmal zugestoßen, nicht auch zum zweiten Male habe begegnen können – ob er so zuversichtlich aufgetreten wäre, wenn man diesen Beweis von Übereilung ihm früher vor Augen gestellt hätte, und so weiter. Die Folge davon war, daß diese Zeugenaussage wie ein irdener Topf zerschmettert und der Zeuge selbst, sofern er zu dem Prozeß in Beziehung kam, zu dem nutzlosen Gerümpel gestellt wurde.

Mr. Cruncher hatte in seiner Aufmerksamkeit für die Verhandlung ein ganzes Frühstück Rost aus seinen Fingern gesogen. Er verwandte kein Auge von Mr. Stryver, während dieser den Sachverhalt im Interesse des Gefangenen vor den Geschworenen wie einen vollständigen Anzug zurechtlegte. Er zeigte ihnen, daß der Patriot Barsad ein gedungener Spion und Verräter, ein keckstirniger Verkäufer von Blut und einer der größten Schurken sei, die je auf Erden umhergewandelt seien seit dem fluchwürdigen Judas, dem er sicherlich auch gleichsehe. Der tugendhafte Diener Cly sei sein Freund und ein seiner würdiger Gehilfe: diese beiden Fälscher, und meineidigen Wichte hätten sich den Gefangenen als ihr Opfer ausersehen, weil dieser, ein Mann von französischer Abkunft, in Familienangelegenheiten, die seine Anwesenheit jenseits des Kanals nötig machten, öfters Frankreich besuchte. Von diesen Angelegenheiten könne aus Rücksicht für andere, die ihm nahe und teuer seien, und wenn das Leben des Gefangenen davon abhänge, kein öffentlicher Gebrauch gemacht werden. Das Zeugnis, das man der jungen Dame abgerungen, von deren Kummer über diesen Zwang man sich habe überzeugen können, enthalte nichts als unschuldige Galanterien und Höflichkeitsbezeigungen, wie sie zwischen jungen Personen verschiedenen Geschlechts bei zufälliger Begegnung häufig vorkämen: nur die Hinweisung auf Georg Washington mache davon eine Ausnahme, aber der Inhalt jener Rede sei zu überspannt und unmöglich, als daß sie in einem andern Licht denn in dem eines ungereimten Scherzes aufgefaßt werden könne. Es wäre ein Makel für die Regierung, wenn sie in diesem Versuch, durch eine Einwirkung auf die niedrigsten nationalen Gehässigkeiten und Besorgnisse sich populär zu machen, unterläge, und deshalb habe der Herr Staatsanwalt den Fall möglichst schreiend darzustellen gesucht: gleichwohl liege gar nichts vor als die Aussagen feiler, ehrloser Zeugen, wie man sie in Prozessen ähnlicher Art zur Schande des Landes nur zu oft finde. Doch jetzt legte sich der gnädige Herr Oberrichter mit einer so gravitätischen Miene, als habe der Verteidiger mit der Hinweisung auf die englischen Staatsprozesse eine Unwahrheit gesprochen, ins Mittel und erklärte, er könne, solange er auf der Gerichtsbank sitze, solche Anspielungen nicht dulden.

Mr. Stryver rief nun seine wenigen Zeugen auf, und dann hatte Mr. Crunchers Aufmerksamkeit dem Herrn Staatsanwalt zu folgen, wie dieser an dem Anzug, den Mr. Stryver für die Geschworenen zurechtgelegt hatte, das Innere nach außen kehrte und dabei zeigte, daß Barsad und Cly hundertmal besser seien, als sie seiner Meinung nach gewesen, der Gefangene aber hundertmal schlechter. Zum Schlusse kam der gnädige Herr Oberrichter selbst, wendete den Anzug noch einmal und kehrte die Außenseite wieder nach innen, im ganzen aber entschieden mit einer Zustutzung, daß er zu einem Leichengewand für den Gefangenen paßte.

Und nun traten die Geschworenen zur Erwägung zusammen, und die großen Fliegen schwärmten wieder.

Mr. Carton, der so lange in Bewunderung der Saaldecke dagesessen hatte, änderte selbst bei der jetzigen Aufregung weder seinen Platz noch seine Haltung. Während sein gelehrter Freund Mr. Stryver die Akten vor sich wieder übereinanderlegte, mit den ihm zunächst Stehenden flüsterte oder von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick nach den Geschworenen hingleiten ließ – während die Zuschauer mehr oder weniger durcheinanderwogten und immer neue Gruppen bildeten – während selbst der Lord Oberrichter sich von seinem Sitz erhob und langsam unter dem Verdacht des Publikums, daß er sich in einem fieberischen Zustand befinde, auf der Plattform hin und her schritt – saß dieser einzige Mensch abgewandt da, den zerschlissenen Mantel nur halb an sich tragend, die zerknüllte Perücke in einer Weise auf dem Kopf, als sei sie nach dem Abnehmen ihm gefällig wieder hinaufgeflogen, die Hände in den Rocktaschen und die Augen wie im Laufe des ganzen Tages gegen die Decke gerichtet. Etwas besonders Unbekümmertes in seinem Wesen verlieh ihm nicht nur ein ziemlich unachtbares Äußeres, sondern beeinträchtigte auch die große Ähnlichkeit, die er ohne Frage mit dem Gefangenen hatte und die durch seinen augenblicklichen Ernst in dem Moment der Vergleichung sehr erhöht worden war, dermaßen, daß von den Zuschauern, die jetzt Notiz von ihm nahmen, viele unter sich bemerkten, sie hätten kaum geglaubt, daß sie einander glichen. Namentlich machte Mr. Cruncher diese Bemerkung gegen seinen nächsten Nachbar und fügte hinzu: »Ich wette eine halbe Guinee, daß man dem nie einen Prozeß anvertraut. Oder meint Ihr, er sehe danach aus, daß er Advokatenarbeit kriegen kann?«

Gleichwohl interessierte sich dieser Mr. Carton mehr für die Einzelheiten der Szene, als es den Anschein hatte; denn Miß Manette ließ jetzt ihr Haupt auf die Brust ihres Vaters sinken, und da er es zuerst bemerkte, so sagte er vernehmlich:

»Gerichtsdiener, seht nach der jungen Dame, und helft dem Gentleman, sie hinausbringen. Bemerkt Ihr nicht, daß sie umsinken will?«

Sobald sie entfernt war, gab sich viel Mitleid mit ihr und Teilnahme für ihren Vater kund. Die Erinnerung an die Tage seiner Gefangenschaft hatten augenscheinlich einen sehr schmerzlichen Eindruck auf ihn gemacht. Als ihrer Erwähnung geschah, war seine Aufregung so augenfällig geworden und der düster brütende Ausdruck, der ihn so alt erscheinen ließ, einer schweren Wolke gleich, nicht mehr von seiner Stirn gewichen. Nach seinem Abgehen gaben die Geschworenen, die für eine kurze Weile zurückgetreten waren, durch den Obmann ihre Erklärung ab.

Sie waren nicht einig und wünschten, sich zurückzuziehen. Der Herr Oberrichter, den vielleicht noch der Georg Washington wurmte, zeigte einige Überraschung über ihre Unschlüssigkeit, genehmigte aber ihre Beratung hinter Wache und Riegel in Gnaden und zog sich selbst auch zurück. Die Verhandlung hatte den ganzen Tag gedauert, und im Saal wurden jetzt Lampen angezündet. Es verbreitete sich das Gerücht, daß die Geschworenen lange zu ihrer Beratung brauchen würden, weshalb die Zuschauer sich entfernten, um Erfrischungen einzunehmen. Der Gefangene ging nach dem, Hintergrund seines Verschlags und setzte sich nieder.

Mr. Lorry hatte die junge Dame und ihren Vater hinausbegleitet und kehrte jetzt wieder zurück. Er winkte Jerry, der bei dem geminderten Interesse der Szene leicht zu ihm gelangen konnte.

»Jerry, wenn Ihr essen wollt, so könnt Ihr es tun: aber bleibt in der Nähe. Ihr werdet schon hören, wenn die Geschworenen wieder eintreten. Findet Euch dann eiligst ein, denn ich wünsche, daß der Wahrspruch unverweilt an die Bank gelange. Ihr seid der flinkste Bote, den ich kenne, und werdet lange vor mir Temple Bar erreichen.«

Jerry hatte gerade genug Stirne, um sich daran klopfen zu können: er stieg also in Anerkennung des Auftrages und des ihn begleitenden Shillings hinauf. In demselben Augenblick kam Mr. Carton heran und berührte Mr. Lorry am Arme.

»Was macht die junge Dame?«

»Sie ist sehr erschüttert: ihr Vater aber tröstet sie, und außerhalb des Gerichtssaales fühlt sie sich besser.«

»Ich will dies dem Gefangenen sagen. Ihr wißt, für einen achtbaren Bankherrn, wie Ihr seid, würde es sich nicht schicken, wenn man Euch öffentlich mit ihm reden sähe.«

Nr. Lorry errötete, als fühle er sich schuldig, gerade selbst diesen Gedanken gehabt zu haben, und Mr. Carton ging nach der andern Seite der Schranke hinüber. Der Hauptausgang des Saales lag in derselben Richtung, und Jerry folgte ihm, ganz Auge und Ohr.

»Mr. Darnay.«

Der Gefangene kam sogleich in den Vordergrund.

»Ihr seid natürlich begierig, etwas von der Zeugin Miß Manette zu hören. Es wird mit ihr schon wieder recht werden. Ihr habt das Schlimmste von der Aufregung gesehen.«

»Es tut mir sehr leid, die Ursache gewesen zu sein. Könntet Ihr wohl in meinem Namen ihr dies sagen und ihr zugleich meinen wärmsten Dank ausdrücken?«

»Ja, das kann ich wohl und will es auch tun, wenn Ihr es verlangt.«

Mr. Cartons Wesen war so unbekümmert, daß es fast an Unverschämtheit grenzte. Er stand halb von dem Gefangenen abgewendet da und hatte seinen Ellenbogen auf die Schranke gestützt.

»Ich bitte Euch darum. Nehmt meinen herzlichen Dank dafür.«

»Welche Hoffnung habt Ihr, Mr. Darnay?« fragte Mr. Carton, noch immer halb abgewandt.

»Eine schlechte.«

»Das ist klug von Euch, denn der schlimme Ausgang hat eine große Wahrscheinlichkeit für sich. Doch meine ich, das Abtreten der Geschworenen sei ein günstiges Zeichen.«

Da ein Stehenbleiben in den Gängen des Saals nicht gestattet war, so hörte Jerry nichts weiter; er verließ sie, wie sie nebeneinander standen und von dem Spiegel oben zurückgestrahlt wurden, beide sich so ähnlich an Gestalt und so unähnlich im Wesen.

Anderthalb Stunden entschwanden schleppend in den von Dieben und Spitzbuben wimmelnden Gängen unten, obschon Hammelpastetchen und Ale mithalfen. Der heisere Bote hatte, nachdem er die ebengenannte Stärkung eingenommen, auf einer unbequemen Bank Platz gefunden und war eingeduselt, als auf einmal ein Lärm ihn wieder weckte und ein Menschenstrom, der die zum Gerichtssaale führenden Treppen hinanwogte, ihn mit sich fortriß.

»Jerry! Jerry!«

Mit diesem Rufe empfing ihn Mr. Lorry schon an der Tür.

»Hier, Sir. Das hat Gewalt gebraucht, um wieder hereinzukommen. Hier bin ich, Sir!«

Mr. Lorry händigte ihm durch das Gedränge ein Blatt Papier ein.

»Hurtig! Habt Ihr’s?«

»Ja, Sir.«

Auf das Blatt war in Eile das Wort geschrieben: »Freigesprochen.«

»Wenn er mich heute wieder hätte ausrichten heißen: ›Ins Leben zurückgerufen‹«, murmelte Jerry, indem er sich umwandte, »so würde ich verstanden haben, was er diesmal damit sagen will.«

Er hatte keine Gelegenheit, noch etwas Weiteres zu sagen oder auch nur zu denken, bis er die alte Bailey hinter sich hatte; denn die Menge strömte mit solcher Gewalt nach, daß sie ihn fast vom Boden aufhob. Das laute Summen fegte in die Straße hinaus, als ob die in ihrer Erwartung getäuschten Schmeißfliegen sich nach allen Richtungen zerstreuten, um ein anderes Aas zu suchen.

Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.


Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.

Um dieselbe Zeit, als die zweiundfünfzig ihr Schicksal erwarteten, hielt Madame Defarge eine unheildrohende Beratung mit der Rache und Jacques drei von dem revolutionären Schwurgericht. Der Platz, wo Madame Defarge sich mit diesen ihren Ministern ins Einvernehmen setzte, war nicht die Weinstube, sondern der Schuppen des Holzspalters, weiland Wegknechts. Der letztere nahm keinen Teil an der Konferenz, harrte aber in einiger Entfernung als eine viel niedriger stehende Person, die nicht unaufgefordert sprechen und nur eine Ansicht kundgeben durfte, wenn sie darum befragt wurde.

»Aber unser Defarge ist doch unbezweifelt ein guter Republikaner, he?« fragte Jacques Drei.

»Es gibt keinen besseren in ganz Frankreich«, versicherte die zungenfertige Rache in schrillen Lauten.

»Still, meine kleine Rache«, sagte Madame Defarge, mit einem leichten Schmunzeln, die Hand auf die Lippen ihres Leutnants legend, »laß mich reden. Mein Mann, Mitbürger, ist ein guter Republikaner und ein kühner Mann; er hat sich wohl um die Republik verdient gemacht und besitzt ihr Vertrauen. Aber er hat auch seine Schwächen, und zu diesen gehört seine Anhänglichkeit an den Doktor.«

»Das ist recht schade«, krächzte Jacques Drei mit einem zweifelhaften Kopfschütteln, während seine grausamen Finger sich an seinem hungrigen Munde abarbeiteten; »es ziemt einem guten Bürger nicht und ist sehr zu bedauern.« »Ihr seht, ich für meine Person kümmere mich nichts um diesen Doktor«, sagte Madame. »Was liegt mir daran, ob er seinen Kopf behält oder verliert? Mir ist es gleichgültig. Aber die Evrésmondes sollen vertilgt werden, und das Weib mit ihrem Kinde muß dem Manne und Vater folgen.«

»Sie hat einen schönen Kopf dafür«, krächzte Jacques Drei. »Ich habe dort schon blaue Augen und goldiges Haar gesehen; sie nahmen sich prächtig aus, als Samson sie in die Höhe hielt.« Bei seiner Wolfsnatur sprach er wie ein Epikuräer.

Madame Defarge schlug ihre Augen nieder und sann eine Weile nach.

»Auch das Kind«, bemerkte Jacques Drei mit beschaulicher Lust, »hat goldiges Haar und blaue Augen, und wir sehen selten ein Kind dort. Es gibt einen allerliebsten Anblick.«

»Mit einem Wort«, sagte Madame Defarge, sich aus ihrem Nachsinnen aufraffend, »ich kann in dieser Sache meinem Manne nicht trauen. Seit gestern abend fühle ich, daß ich ihn nicht nur in die Einzelheiten meiner Pläne nicht einweihen darf, sondern auch, daß jede Zögerung die Gefahr der Warnung für sie in sich schließt und ihr Entkommen begünstigt.«

»Das darf nicht geschehen«, krächzte Jacques Drei. »Niemand darf entkommen. Wir haben noch nicht halb genug. Es müssen zehn Dutzend pro Tag werden.«

»Mit einem Wort«, sprach Madame Defarge weiter, »mein Mann hat nicht meine Gründe, diese Familie bis zur Vernichtung zu verfolgen, und seine Empfindsamkeit gegen diesen Doktor berührt mich nicht. Ich muß daher für mich handeln. Kommt her, kleiner Bürger.«

Der Holzspalter, der sie hoch in Ehren und aus heller Furcht sich selbst in tiefster Unterwürfigkeit hielt, trat mit seiner roten Mütze in der Hand heran.

»Wir sprechen von den Zeichen, die sie den Gefangenen gemacht hat, kleiner Bürger«, sagte Madame Defarge streng. »Ihr seid bereit, noch heute Zeugnis gegen sie abzulegen?«

»Ei ja, warum nicht?« versetzte der Holzspalter. »Jeden Tag, bei jedem Wetter von zwei bis vier Uhr; und stets Zeichen machend; bisweilen mit der Kleinen, bisweilen ohne sie. Ich weiß, was ich weiß, und hab‘ es mit eigenen Augen gesehen.«

Während seiner Rede machte er Gebärden aller Art, gleichsam in zufälliger Nachahmung einiger von den vielen und verschiedenen Signalen, die freilich nur in seinem Hirn spukten.

»Das ist sonnenklar eine Verschwörung«, sagte Jacques Drei. »Nicht anders möglich.«

»Das Schwurgericht wird doch darüber keinen Zweifel hegen?« fragte Madame Defarge, mit einem unheimlichen Lächeln ihre Augen auf ihn heftend.

»Verlaßt Euch auf die patriotischen Geschworenen, meine liebe Bürgerin. Ich stehe für meine Kollegen in der Jury.«

»Nun, laß mich sehen«, sagte Madame Defarge, abermals nachdenkend. »Um noch einmal auf diesen Doktor zu kommen kann ich ihn um meines Mannes willen schonen? Ich habe nichts für und nichts gegen ihn. Kann ich ihn schonen?«

»Er würde doch als ein Kopf zählen«, bemerkte Jacques Drei mit gedämpfter Stimme. »Wir haben wahrhaftig nicht Köpfe genug. Es wäre schade, mein‘ ich.«

»Er machte mit ihr Signale, als ich sie sah«, fuhr Madame Defarge fort, »und ich kann nicht von ihr sprechen, ohne auch ihn zu erwähnen. Schweigen darf ich nicht und will daher die ganze Sache diesem kleinen Bürger hier überlassen; denn ich bin kein schlechter Zeuge.«

Die Rache und Jacques Drei wetteiferten miteinander in warmen Versicherungen, daß sie der trefflichste, der bewundernswürdigste Zeuge sei, und der kleine Bürger, der sich von ihnen nicht überbieten lassen wollte, erklärte sie geradezu für einen himmlischen Zeugen.

»Wir müssen ihn für sich selbst sorgen lassen«, sagte Madame Defarge. »Nein, ich kann ihn nicht schonen. Ihr seid um drei Uhr in Anspruch genommen; Ihr geht doch hin, um heute den Hinrichtungen beizuwohnen Ihr?«

Diese Frage galt dem kleinen Holzspalter, der hastig mit Ja antwortete und die Gelegenheit benutzte, um hinzuzufügen, daß er der eifrigste Republikaner sei und sich wirklich als den unglücklichsten Republikaner fühlen würde, wenn ihn irgend etwas des Vergnügens beraubte, im Anblick des possierlichen Nationalbarbiers seine Nachmittagspfeife zu rauchen. Er benahm sich derart übertrieben, daß man ihn hätte beargwöhnen können (vielleicht lag auch dieser Sinn in dem Blick der Verachtung, den ihm die dunkeln Augen in Madame Defarges Kopf zuwarfen), er sei jede Stunde des Tages ein bißchen um seine, persönliche Sicherheit in Angst.

»Ich werde auch an dem gleichen Platz zu tun haben«, sagte Madame, »Wenn es vorüber ist ich will sagen, um acht Uhr heute abend , kommt Ihr zu mir nach Saint Antoine; wir wollen dann unsere Klage gegen diese Leute bei meiner Sektion vorbringen.«

Der Holzspalter versicherte, er werde stolz darauf sein und sich geschmeichelt fühlen, der Bürgerin zu dienen. Als die Bürgerin ihn ansah, wurde er verlegen; er wich ihrem Blick aus wie ein kleiner Hund, zog sich hinter sein Holz zurück und verbarg seine Verwirrung hinter dem Griff seiner Säge.

Madame Defarge winkte die Geschworenen und die Rache etwas näher an die Tür und erklärte ihnen ihre weiteren Absichten:

»Sie wird jetzt zu Hause sein und dort den Augenblick seines Todes erwarten. Natürlich trauert sie und grämt sich um ihn. Ich werde sie in einer Stimmung finden, in der sie die Republik der Ungerechtigkeit zeiht und mit den Feinden derselben sympathisiert. Ich will zu ihr gehen.«

»Welche wunderbare Frau welche anbetungswürdige Frau!« beteuerte Jacques Drei entzückt.

»Oh, meine Teuerste!« rief die Rache mit einer Umarmung.

»Nimm mein Strickzeug mit«, sagte Madame Defarge, indem sie den Knäuel ihrem Leutnant übergab, »und halt es mir auf meinem gewöhnlichen Sitz bereit. Hüte mir meinen Stuhl. Geh unverweilt hin; denn wahrscheinlich wird es heute einen größeren Zusammenlauf geben als sonst.«

»Ich gehorche bereitwillig den Befehlen meines Chefs«, erwiderte die Rache, indem sie Madame auf die Wange küßte. »Du wirst dich doch nicht verspäten?«

»Ich werde dort sein, noch ehe es anfängt.«

»Und bevor die Karren anlangen. Sieh zu, meine Seele«, rief ihr die Rache nach, denn sie war bereits auf der Straße draußen, »daß du noch vor dem Eintreffen der Karren dort bist.«

Madame Defarge winkte leicht mit der Hand, um ihr damit anzudeuten, sie möge sich darauf verlassen, daß sie in guter Zeit kommen werde, trabte durch den Staub und verschwand an der Ecke der Gefängnismauer. Die Rache und der Geschworene sahen ihr nach und belobten höchlich ihre schöne Figur und ihren hohen Sinn.

Es gab in jener Zeit viele Weiber, die die Hand eben dieser Zeit furchtbar verzerrt hatte, aber keine darunter, die schrecklicher gewesen wäre als das erbarmenlose Wesen, das gerade jetzt durch die Straßen schritt. Mit einem festen und furchtlosen Charakter, einer schnell sich zurechtfindenden Schlauheit, einem sehr entschiedenen Geist und jener Art von Schönheit begabt, die sich nicht nur mit Festigkeit und Leidenschaftlichkeit recht gut verträgt, sondern auch bei andern eine Anerkennung solcher Eigenschaften erzwingt, mußte sie unter allen Umständen in einer Periode wilder Erregung eine Rolle spielen. Da sie aber von Kindheit auf aus dem Gefühle erlittenen tiefen Unrechts den bittersten Haß gegen eine gewisse Klasse gesogen, so hatte die Gelegenheit sie zu einer Tigerin umgewandelt. Das Mitleid war ihr ein durchaus fremdes Gefühl, und wenn sie je einer solchen Regung zugänglich gewesen, so war diese doch längst in ihrer Seele erstorben.

Es machte ihr nichts aus, wenn ein Unschuldiger für die Verbrechen seiner Vorfahren starb; sie sah nicht ihn, sondern sie. Sie kehrte sich nicht daran, daß sein Weib zur Witwe, sein Kind zur Waise wurde. Ja, die Strafe genügte ihr nicht einmal, denn auch sie zählte sie zu ihren Feinden, die sie opfern wollte und die in ihrem Auge kein Recht zu leben hatten. Eine Berufung an ihr Herz wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, denn sie war sogar grausam gegen sich selbst. Hätte sie in einem der vielen Straßengefechte, in denen sie mitkämpfte, eine Todeswunde niedergestreckt, so hätte sie sich nicht bemitleidet, und wäre sie morgen zur Guillotine geführt worden, so würde sie auf dem Gange dahin keinem sanfteren Gefühle als dem wilden Wunsche Raum gegeben haben, ihren Platz mit dem Menschen zu wechseln, der sie hierher geliefert.

Solch ein Herz trug Madame Defarge unter ihrem rauhen Gewand, das trotz seiner Abnützung in einer gewissen unheimlichen Weise sich anständig genug ausnahm. Unter ihrer groben roten Mütze quoll reich das dunkle Haar hervor. In ihrem Busen hatte sie eine geladene Pistole und in den Schößen ihres Kleides einen scharfen Dolch verborgen. So ausgerüstet ging Madame Defarge mit dem zuversichtlichen Tritt eines solchen Charakters und mit der behenden Ungezwungenheit eines Weibes, das in seiner Kindheit barfuß den Seesand zu treten gewohnt war, die Straßen entlang.

Als am Abend vorher die Vorbereitungen zu der Reise erwogen wurden, für deren Antritt man jetzt nur noch das Eintreffen der letzten Person erwartete, hatte die Schwierigkeit, Miß Proß sogleich mitzunehmen, Mr. Lorrys Geist angelegentlich beschäftigt. Es war nicht bloß wünschenswert, ein Überladen der Kutsche zu vermeiden, sondern auch von höchster Wichtigkeit, daß die Personenkontrolle an der Barriere auf das geringste Zeitmaß beschränkt wurde, sofern der Erfolg ihrer Flucht vielleicht nur von dem Gewinn einiger Sekunden da oder dort abhing. Nach vielem ängstlichen Besinnen entschied er sich endlich dafür, daß Miß Proß und Jerry, die die Stadt beliebig verlassen konnten, um drei Uhr in dem leichtesten Gefährt jener Periode ihnen nachkommen sollten. Da sie nicht mit Gepäck belastet waren, so konnten sie die Kutsche bald einholen und ihr sogar vorausfahren. Dies setzte das Dienstpersonal in die Lage, für die Flüchtlinge im voraus Pferde zu bestellen und die Fahrt während der kostbaren Stunden der Nacht, in der Zögerung am meisten zu befürchten stand, zu beschleunigen.

Miß Proß willigte mit Freuden in diese Anordnung, die es ihr möglich zu machen schien, in dem obwaltenden dringlichen Falle wirklich nützlich zu werden. Sie und Jerry hatten die Kutsche abfahren sehen und, da sie den Mann, den Salomon brachte, recht gut kannten, zehn Minuten in der äußersten Spannung verlebt. Sie besprachen eben, wie sie es einrichten wollten, um der Kutsche zu folgen, als Madame Defarge auf ihrem Gang durch die Straßen der jetzt verlassenen Wohnung, in der sie ihre Beratung hielten, immer näher kam.

»Was meint Ihr, Mr. Cruncher«, sagte Miß Proß, die vor Aufregung nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, »was meint Ihr, wenn wir unsere Reise nicht von diesem Hofe aus antreten? Da heut schon ein Wagen von hier abgegangen ist, so könnte es Argwohn erregen.«

»Ich bin der Ansicht, Miß«, versetzte Mr. Cruncher, »daß Ihr recht habt. Indes halt‘ ich’s unter allen Umständen mit Euch, auf Recht oder Unrecht.«

»Ich bin vor Furcht und Hoffnung wegen unserer kostbaren Herrschaft so von Sinnen«, sagte Miß Proß, in ein krampfhaftes Weinen ausbrechend, »daß ich außerstande bin, mir einen Plan zu bilden. Ihr könnt dies wohl eher, mein lieber guter Mr. Cruncher?«

»Was meinen künftigen Lebenspfad betrifft. Miß«, entgegnete Mr. Cruncher, »so hoffe ich, ja. Aber ich glaube nicht, daß für unsere gegenwärtige Lage mein alter Kopf etwas auszudenken imstande ist. Wollt Ihr mir den Gefallen erweisen. Miß, mich seinerzeit an zwei Versprechen oder Gelübde zu erinnern, die ich in unserer kritischen Lage hier abzulegen gedenke?« »Oh, um des Himmels willen!« erwiderte Miß Proß, noch immer in ihrem Weinen, »so legt sie ab und erleichtert Euer Herz wie ein ordentlicher Mann.«

»Zuerst«, sagte Mr. Cruncher mit aschfahlem feierlichem Gesicht, während er am ganzen Leibe zitterte, »daß ich jenen armen Dingern, die mit dem Zeitlichen fertig sind, nie mehr etwas tun will gewiß nie mehr.«

»Ich bin überzeugt, Mr. Cruncher«, erwiderte Miß Proß »daß Ihr’s nie wieder tun werdet, was es auch sein mag, und ich bitt‘ Euch, seht es für unnötig an, mir noch Weiteres auseinanderzusetzen, was es auch sei.«

»Nein, Miß, es soll nicht gegen Euch genannt werden«, versetzte Jerry. »Zweitens, abgesehen von jenen armen Dingern will ich nie mehr etwas aussetzen gegen Mrs. Crunchers Hinsacken nie mehr.«

»Was dies auch für eine Haushaltungseinrichtung sein mag«, sagte Miß Proß, die ihre Augen zu trocknen und ruhiger zu werden versuchte, »so zweifle ich nicht, daß man am besten tut, wenn man Mrs. Cruncher ganz ihren freien Willen läßt. O, meine Lieblinge!«

»Ich geh‘ noch obendrein so weit, um zu sagen«, fuhr Mr. Cruncher in seiner höchst beunruhigenden Manie, eine Art Kanzelvortrag zu halten, fort »und bitte Euch, meiner Worte zu gedenken und sie selbst Mrs. Cruncher zu hinterbringen , daß meine Ansichten vom Hinsacken ganz andere geworden sind und daß ich aus dem Grunde meiner Seele hoffe, Mrs. Cruncher möge eben jetzt hingesackt sein.«

»Recht, recht, recht so! Ich hoffe es auch, mein guter Mann«, rief Miß Proß außer sich, »und so Gott will, findet sie Erhörung ihrer Wünsche.«

»Gott verhüte«, sagte Mr. Cruncher mit besonderer Feierlichkeit, Langsamkeit und predigtartiger Salbung, »daß irgend etwas, was ich je gesagt oder getan habe, jetzt an meinen ernsten Wünschen für jene armen Geschöpfe heimgesucht werde. Verhüte Gott, daß wir nicht alle gerne hinsacken sollten (wenn es irgend anginge), um aus den schrecklichen Gefahren hier herauszukommen. Gott verhüt‘ es und noch einmal, Gott verhüt‘ es!«

So lautete Mr. Crunchers Schlußsatz, nachdem er lange vergeblich sich besonnen, um einen besseren zu finden.

Und immer näher und näher kam die die Straßen durchwandelnde Madame Defarge.

»Wenn wir je wieder in die Heimat zurückkommen«, sagte Miß Proß, »so dürft Ihr Euch darauf verlassen, daß ich Mrs. Cruncher von dem, was Ihr mir so ausdrücklich gesagt habt, so viel mitteilen will, wie ich behalten kann oder zu verstehen vermochte. Und jedenfalls dürft Ihr darauf bauen, daß ich Euch bezeugen werde, wie gründlich ernst es Euch gewesen sei in dieser schrecklichen Zeit. Aber jetzt müssen wir uns besinnen. Mein geschätzter Mr. Cruncher, laßt uns nachdenken.« Noch immer wandelte Madame Defarge durch die Straßen und kam näher und näher.

»Meint Ihr nicht«, sagte Miß Proß, »es war‘ am besten, wenn Ihr vorausginget und das Gefährt nicht hierherkommen, sondern irgendwo auf mich warten ließet?«

Mr. Cruncher hielt es für das beste.

»Wo könntet Ihr auf mich warten?« fragte Miß Proß.

Mr. Cruncher war so außer sich, daß er sich auf keine andere Örtlichkeit als auf Temple Bar besinnen konnte. Aber leider lag Temple Bar Hunderte von Meilen entfernt, und Madame Defarge war in der Tat schon sehr nahe.

»An der Domkirchentür«, sagte Miß Proß. »Wär‘ es sehr abseitig, wenn Ihr mich an der Tür, die sich zwischen den zwei Türmen befindet, aufnehmen müßtet?«

»Nein, Miß«, antwortete Mr. Cruncher.

»Dann seid ein guter Mann«, sagte Miß Proß, »und geht unverweilt nach dem Posthause, um diese Abänderung zu bestellen.«

»Ich bin zweifelhaft, seht Ihr«, entgegnete Mr. Cruncher zögernd und den Kopf schüttelnd, »ob ich Euch verlassen darf. Wir wissen nicht, was vorfallen kann.«

»Du mein Himmel, wir wissen das freilich nicht«, erwiderte Miß Proß; »aber habt keine Sorge um mich. Nehmt mich um drei Uhr oder ungefähr um diese Zeit bei dem Dom auf, und ich bin überzeugt, es ist besser, als wenn wir von hier aus abfahren. Ja, ich weiß es gewiß. So; jetzt behüt‘ Euch Gott, Mr. Cruncher! Denkt nicht an mich, sondern an die Leben, die vielleicht von uns beiden abhängen.«

Diese Einleitung und die beiden Hände, mit welchen Miß Proß in ihrer Herzensangst flehentlich die seinigen umfaßte, wirkten bestimmend auf Mr. Cruncher, der sofort mit einem ermutigenden Kopfnicken sich auf den Weg machte, um die beschlossene Abänderung anzuzeigen, und es ihr überließ, ihrem eigenen Vorschlag gemäß nachzukommen.

Es gereichte Miß Proß zu großer Erleichterung, Anlaß zu einer Vorsichtsmaßregel gegeben zu haben, deren Ausführung eben im Gange war. Die Notwendigkeit, ihr Äußeres so zu ordnen, daß sie in den Straßen keine besondere Aufmerksamkeit erregte, gab weiteren Anlaß zur Zerstreuung. Sie sah auf ihre Uhr und fand zwanzig Minuten über zwei. Da war keine Zeit mehr zu verlieren; sie mußte sich beeilen.

Während sie in ihrer äußersten Verstörung sich vor der Einsamkeit der verlassenen Zimmer fürchtete und durch jede offene Tür eingebildete Gesichter hereinschauen sah, holte sie ein Becken mit kaltem Wasser und begann sich ihre geschwollenen roten Augen zu waschen. Aber in ihrer fieberhaften Angst konnte sie es nicht ertragen, ihren Gesichtssinn für eine Minute über einmal durch das triefende Wasser verdunkelt zu sehen: sie hielt daher alle Augenblicke inne und schaute zurück, um sich zu überzeugen, ob sie nicht beobachtet werde. In einer von diesen Pausen fuhr sie zusammen und schrie laut auf; denn sie sah eine Gestalt in dem Zimmer stehen.

Da« Becken fiel zerbrochen zu Boden, und das Wasser strömte zu Madame Defarges Füßen hin, als fühle es, daß es hier gelte, viele Blutflecken abzuwaschen.

Madame Defarge sah kalt nach ihr hin und fragte:

»Wo ist Evrémondes Weib?«

Miß Proß schoß plötzlich der Gedanke durch das Gehirn, daß sämtliche Türen offen standen und sogleich auf eine Flucht schließen ließen; sie ging daher alsbald ans Werk, diese zuzumachen. Dann stellte sie sich vor die Tür des Gemaches, das Lucie bewohnt hatte.

Madame Defarges dunkle Augen folgten ihr bei allen diesen hastigen Bewegungen und blieben auf ihr haften, als sie fertig war. Miß Proß hatte nichts Schönes an sich. Das Wilde und Abenteuerliche ihres Aussehens war durch die Jahre nicht gezähmt oder gemildert worden. Aber auch sie konnte in ihrer Art als ein entschlossenes Frauenzimmer angesehen werden und maß die andere Zoll für Zoll mit ihren Augen.

»Du magst deinem Aussehen nach Madame Luzifer selber sein«, sagte Miß Proß für sich: »aber gleichwohl sollst du mir nichts anhaben können. Ich bin eine Engländerin.«

Madame Defarge betrachtete sie verächtlich, aber doch mit einer gewissen Ahnung, daß sie in Miß Proß eine Widersacherin habe. Sie sah dieselbe kräftige, eiserne Person vor sich wie Mr. Lorry, als er vor Jahren ihre starke Hand zu fühlen bekam, und wußte recht wohl, daß Miß Proß eine aufopferungsfähige Freundin der Familie war, während Miß Proß ihrerseits in dieser Madame Defarge den bösen Engel der Familie erkannte.

»Auf meinem Wege nach dem Orte«, sagte Madame Defarge mit einer leichten Bewegung der Hand nach der Richtstätte hin, »wo man mir meinen Stuhl und mein Strickzeug aufbewahrt, bin ich heraufgekommen, um ihr mein Kompliment zu machen. Ich wünsche sie zu sprechen.«

»Ich weiß, daß Ihr schlimme Absichten habt«, sagte Miß Proß, »und Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß ich ihnen entgegenarbeiten werde.«

Jede bediente sich ihrer eigenen Sprache, so daß keine die Worte der andern verstand; aber beide suchten wechselseitig aus Miene und Gebärden sich deutlich zu machen, was die andere sagen wollte.

»Es wird ihr nicht zu Frommen dienen, wenn sie sich in diesem Augenblick vor mir verbirgt«, fuhr Madame Defarge fort. »Gute Patrioten werden wissen, was dies heißen soll. Laßt mich zu ihr. Geht und bedeutet ihr, daß ich sie zu sprechen wünsche. Hört Ihr?«

»Wenn diese deine Augen Bohrer wären«, erwiderte Miß Proß, »und ich ein englischer Bettpfosten, so sollen sie doch keinen Splitter aus mir herauskriegen. Nein, du boshaftes Weibsbild; dir bin ich schon gewachsen.«

Madame Defarge war nicht in der Lage, diesen in der Heimatsprache gemachten Bemerkungen ins einzelne zu folgen, entnahm aber doch so viel daraus, daß ihr Wille keine Beachtung fand.

»Blödsinniges Schwein!« rief Madame Defarge zürnend: »ich verlange keine Gegenrede von dir, sondern will sie sehen. Entweder sag‘ ihr dies oder tritt von dieser Tür weg und mir aus dem Wege, damit ich zu ihr kann.«

Sie begleitete diese zornige Anrede mit einem Winken ihres rechten Armes.

»Ich habe nie daran gedacht«, sagte Miß Proß, »daß ich je nötig haben könnte, deine unsinnige Sprache zu verstehen; aber ich gäbe gerne alles, was ich habe, die Kleider auf meinem Leibe ausgenommen, darum, wenn ich wüßte, ob du eine Ahnung hast von der Wahrheit oder von einem Teil derselben.«

Sie verwandten nicht einen Moment die Augen voneinander. Madame Defarge war bisher auf derselben Stelle stehengeblieben, auf der Miß Proß sie zuerst erblickt hatte; jetzt aber kam sie um einen Schritt näher.

»Ich bin eine Britin«, sagte Miß Proß, »und in der Verzweiflung zu allem fähig. Ich kümmere mich kein englisches Zweipencestück um mich selbst; und je länger ich dich hier festhalte, desto größere Hoffnung ist für mein Vögelchen vorhanden. Du sollst mir keine Handvoll von deinem schwarzen Haar davontragen, wenn du mich nur mit einem Finger anrührst.«

So Miß Proß, die zwischen jedem Satz ihren Kopf schüttelte und ihre Augen blitzen ließ, während ihre Atemzüge hastig gingen dieselbe Miß Proß, die in ihrem ganzen Leben nie einen Schlag ausgeteilt hatte.

Aber ihr Mut war von jener erregbaren Beschaffenheit, der so gern seinen Besitzer in eine Tränenexaltation versetzt. Einen solchen Mut begriff Madame Defarge so wenig, daß sie ihn irrtümlich für Schwäche nahm. »Ha, ha!« lachte sie, »du erbärmliches Geschöpf, was soll ich mich mit dir einlassen? Ich will mich selbst an diesen Doktor wenden.« Dann erhob sie ihre Stimme und rief: »Bürger Doktor! Weib von Evrémonde! Wer da mich hört, außer dieser ärmlichen Törin, antworte der Bürgerin Defarge!«

Das nun folgende Schweigen, vielleicht auch ein geheimer Zug in dem Ausdruck von Miß Proß‘ Gesicht, vielleicht auch eine plötzliche, nicht von den Umständen an die Hand gegebene Ahnung mochte Madame Defarge auf den Gedanken bringen, daß sie fort seien. Sie öffnete hastig drei von den Türen und sah hinein.

»Diese Zimmer sind in Unordnung; man hat hier hastig gepackt, und es liegt allerlei durcheinander auf dem Boden. In dem Zimmer hinter Euch ist niemand. Laßt mich sehen!«

»Nein!« rief Miß Proß, die diese Aufforderung so gut verstand wie Madame Defarge ihre Antwort.

»Wenn sie sich nicht in diesem Zimmer befinden, sind sie fort und können verfolgt und zurückgebracht werden«, sagte Madame Defarge zu sich selbst.

»Solange du nicht weißt, ob sie in diesem Zimmer sind oder nicht, kannst du nicht handeln«, lautete das Selbstgespräch der Miß Proß: »und du sollst mir’s nicht erfahren, wenn ich’s hindern kann. Aber magst du’s nun wissen oder nicht, du kommst mir nicht von der Stelle, solange ich dich zu halten imstande bin.«

»Ich bin vom Anfang an bei den Straßenkämpfen gewesen: nichts hat mich zu hindern vermocht, und ich reiße dich in Stücke, wenn du nicht von dieser Tür weggehst«, sagte Madame Defarge.

»Wir sind allein in dem Giebelstock eines hohen, in einem einsamen Hofe stehenden Hauses, und man wird uns wahrscheinlich nicht hören. O Himmel, gib mir Kraft, sie hier aufzuhalten, denn jede Minute, die ich sie hier habe, ist für meinen Liebling hunderttausend Guineen wert«, sagte Miß Proß.

Madame Defarge wollte auf die Tür zu. Miß Proß, die sich instinktartig diese Bewegung deutete, faßte sie plötzlich mit beiden Armen um den Leib und hielt sie fest. Vergeblich kämpfte sich Madame Defarge ab und schlug um sich: Miß Proß umschlang sie mit der zähen Kraft der Liebe, die immer viel stärker ist als die des Hasses, noch fester und hob sie bei dem Ringen vom Boden auf. Madame Defarge zerarbeitete ihr mit ihren Fäusten das Gesicht; aber Miß Proß, die ihren Kopf senkte, hielt fortwährend ihren Leib mit der Gewalt eines Ertrinkenden umfaßt.

Bald hörte übrigens Madame Defarge auf, um sich zu schlagen, und tastete nach ihrem Gürtel.

»Er ist unter meinem Arme«, sagte Miß Proß mit erstickter Stimme, »und du sollst mir ihn nicht herausbringen. Ich bin stärker als du, Gott sei Dank, und ich will dich festhalten, bis eine von uns die Besinnung verliert oder tot ist.«

Madame Defarge fuhr mit der Hand nach ihrem Busen. Miß Proß schaute auf, sah, was es war, und schlug danach. Sie schlug einen Blitz, ein Krachen heraus und stand allein, von Rauch geblendet.

All dieses war das Werk einer Sekunde. Wie der Rauch sich verzog, herrschte eine schauerliche Stille; er schwebte in die Luft hinaus, als sei er die Seele des wütenden Weibes, deren Körper leblos am Boden lag.

In dem ersten Schrecken ihrer Lage eilte Miß Proß so fern als möglich an der Leiche vorbei und die Treppe hinunter, in ein vergebliches Hllfegeschrei ausbrechend. Zum Glück besann sie sich bald auf die Folgen ihres Tuns: sie hielt an und kehrte zurück. Es war freilich etwas Schreckliches, wieder zu dieser Tür hineinzugehen; aber sie tat es dennoch und machte sich ganz in ihre Nähe, um ihren Hut und andere Dinge, die sie brauchte, zu holen. Sie vollendete auf der Flur draußen ihren Anzug, schloß die Tür ab und zog den Schlüssel heraus. Eine kurze Weile setzte sie sich auf der Treppe nieder, um zu Atem zu kommen und ein Stückchen zu weinen; dann stand sie wieder auf und eilte von hinnen.

Zu gutem Glück hatte sie einen Schleier auf ihrem Hut, da sie sonst nicht durch die Straßen gekommen wäre, ohne angehalten zu werden. Ein weiteres Glück war, daß bei ihrem besonderen Äußeren die Unordnung nicht so auffiel wie an anderen Frauenspersonen. Sie bedurfte dieser Vorteile recht wohl, denn sie hatte in ihrem Gesicht tiefe Nägelrisse; ihr Haar war zerrauft und ihr Anzug, den sie nur hastig und mit unsteter Hand hatte ordnen können, zerrissen und kläglich zerknüllt.

Als sie über die Brücke kam, ließ sie den Schlüssel zu der Tür in den Fluß fallen. Sie mußte vor dem Dom einige Minuten auf ihr Geleite warten und quälte sich in der Zwischenzeit mit Vorstellungen ab, der Schlüssel könne bereits durch ein Netz aufgefischt und als der rechte erkannt worden sein. Ihre geängstigte Phantasie malte ihr bereits die geöffnete Tür, die Entdeckung der Leiche, ihre Verhaftung am Tor, Gefängnis und die Anklage auf Mord vor. Während noch solche Gedanken ihrem Gehirn zu schaffen machten, erschien das Gefährt, nahm sie, auf und fuhr weiter.

»Ist ein Lärm in den Straßen?« fragte sie ihren Begleiter.

»Nicht mehr als gewöhnlich«, versetzte Mr. Cruncher und sah sie erstaunt ob dieser Frage und ihrem Äußeren an.

»Ich höre Euch nicht«, fuhr Miß Proß fort. »Was habt Ihr gesagt?«

Vergeblich wiederholte Mr. Cruncher, was er gesagt hatte. Miß Proß konnte ihn nicht hören. »So will ich mit dem Kopfe nicken«, dachte Mr. Cruncher bestürzt; »jedenfalls wird sie dies sehen.« Er hatte damit nicht unrecht.

»Ist jetzt Lärmen in den Straßen?« fragte Miß Proß wieder.

Und Mr. Cruncher nickte wieder mit dem Kopfe.

»Ich höre ihn nicht.«

»Taub geworden in einer Stunde?« sagte Mr. Cruncher verstört vor sich hin. »Was mag an sie gekommen sein?«

»Ich meine, einen Blitz gesehen und ein Krachen gehört zu haben«, sagte Miß Proß, »und es ist mir, als sei dieses Krachen das letzte gewesen, was ich je in meinem Leben hören soll.«

»Ich will des Henkers sein, wenn dies nicht ein kurioser Zustand ist«, sagte Mr. Cruncher, in dessen Gehirn es immer unklarer wurde. »Hat sie vielleicht etwas zu sich genommen, um sich den Mut aufrechtzuerhalten? Horch! Da kommen die schrecklichen Karren einhergerollt! Die könnt Ihr doch hören. Miß?«

»Ich höre gar nichts«, versetzte Miß Proß, die es seinem Munde absah, daß er sprach. »O, mein guter Mann, zuerst kam ein schreckliches Krachen, und darauf folgte eine tiefe Stille; und diese Stille scheint so fest und wandellos zu sein, als solle sie nie mehr unterbrochen werden, solange ich lebe.«

»Wenn sie das Gerassel dieses schrecklichen Karren, die jetzt dem Ende ihrer Fahrt so nahe sind nicht hört«, sagte Mr. Cruncher über seine Schulter zurücksehend, »so ist wahrhaftig meine Meinung, daß sie in dieser Welt nichts anderes mehr hören wird.«

Und so war es auch.

Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.


Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.

Durch die Straßen von Paris rasseln die Karren des Todes hohl und rauh. Ihrer sechs führen den Wein des Tages nach der Guillotine. Alle die menschenfresserischen und unersättlichen Ungeheuer, die je der Phantasie entsprangen, sind verschmolzen in der einen Wesenheit Guillotine. Und doch konnte selbst in Frankreichs abwechslungsreichem Boden und Klima kein Grashalm, kein Blatt, keine Wurzel, kein Zweig, kein Pfefferkorn sicherer seine Reise finden als die Saat, die diese Schrecken veranlaßt hat. Ist die Menschheit einmal mit solchen Hämmern formlos geschlagen, so wird sie stets dieselben verzerrten Gestalten wieder annehmen. Streu‘ aufs neue den Samen ungezügelter Habsucht und Bedrückung aus, und er wird zuverlässig in seiner Art die nämlichen Früchte bringen.

Sechs Karren rollen durch die Straßen. Wandle sie, o mächtige Zauberin Zeit, wieder um in das, was sie waren, und sie stellen sich vielleicht dar als die Prachtwagen absoluter Monarchen, die Karossen großer Herren, die Putztische flunkernder Mätressen, die Kirchen, die nicht meines Vaters Haus sind, sondern Räuberhöhlen, die Hütten von Millionen hungernder Bauern! Nein; der große Magier, der majestätisch die von dem Schöpfer gesetzte Ordnung ausführt, ist nicht rückhaltig mit seinen Wandlungen. »Bist du durch den Willen Gottes in diese Gestalt versetzt«, sagen die Seher in Tausendundeiner Nacht zu dem Verzauberten, »so bleibe darin; trägst du sie aber nur als Folge einer Beschwörung, so nimm dein früheres Aussehen wieder an!« Unwandelbar und hoffnungslos rollen die Karren dahin.

Während die unheimlichen Näher der sechs Todesfuhren sich drehen, scheinen sie eine lange krumme Furche durch die Volksmassen in den Straßen zu pflügen. Rechts und links werden Gesichterreihen aufgewühlt, und die Pflüge gehen stetig fort. Die regelmäßigen Bewohner der Häuser sind an das Schauspiel so gewöhnt, daß viele Fenster leer stehen oder die dahinter Sitzenden ihre Handarbeit nicht unterbrechen, während ihre Augen die Gesichter auf den Karren mustern. Hier und da hat ein Hausbesitzer Gäste, die das Spektakel mit ansehen wollen; er deutet mit der Selbstgefälligkeit eines legitimierten Raritätenvorzeigers bald auf diesen, bald auf jenen Karren und scheint ihnen zu erzählen, wer gestern und wer vorgestern dagesessen hat.

Von den Fahrenden blicken einige auf diese Dinge und auf alles, was um sie vorgeht, mit einem teilnahmlosen Starren, während andere noch einiges Interesse für das Leben und Treiben der Menschen verraten. Einige, die mit gesenkten Häuptern dasitzen, brüten in stummer Verzweiflung vor sich hin, andere sind auf ihre äußere Erscheinung so sorgfältig bedacht, daß sie der Menge Blicke zuwerfen, wie sie solche auf Bildern und in Theatern gesehen haben. Mehrere schließen die Augen und suchen ihre irren Gedanken zusammenzuhalten. Nur einer, ein kläglich aussehendes Geschöpf, ist so verstört und trunken von Entsetzen, daß er singt und zu tanzen versucht. Aber niemand von der ganzen Schar läßt durch einen Blick oder eine Gebärde einen Appell an das Mitleid des Volkes ergehen.

Eine Wache von Berittenen zieht den Karren voraus, und oft erheben sich Gesichter zu ihnen und stellen Fragen an sie. Die Fragen scheinen immer die gleichen zu sein; denn stets erfolgt darauf ein Drängen des Pöbels nach dem dritten Karren hin. Die Reiter vor dem Karren deuten häufig mit ihren Säbeln nach einem Mann auf demselben. Jedermann will wissen, welcher es ist: er steht hinten in dem Karren, hat den Kopf gesenkt und unterhält sich mit einem einfachen Mädchen, das seitwärts sitzt und seine Hand festhält. Die Szene um ihn her ist ihm gleichgültig; er spricht ohne Unterlaß mit dem Mädchen. Da und dort erhebt sich in der langen Straße von St. Honoré ein Geschrei gegen ihn: wenn es anders einen Eindruck auf ihn macht, so entlockt es ihm bloß ein ruhiges Lächeln und ein Schütteln des Kopfes, das ihm das lose Haar tiefer ins Gesicht wirft. Er kann seinem Gesicht nicht leicht beikommen, da seine Arme gebunden sind. Auf den Stufen einer Kirche steht das Gefängnisschaf und erwartet die Karren. Er sieht in den ersten hinein nicht da; in den zweiten nicht da. Schon fragt er sich selbst: »Hat er mich geopfert?« Aber wie er den dritten erblickt, klärt sich sein Gesicht auf.

»Welches ist Evrémonde?«! fragt ein Mann hinter ihm.

»Der dort hinten.«

»Dessen Hand das Mädchen hält?«

Der Mann ruft: »Nieder mit Evrémonde. Zur Guillotine mit allen Aristokraten! Nieder mit Evrémonde!«

»Pst! Pst!« flüstert ihm der Spion schüchtern zu.

»Warum, Bürger?«

»Er geht hin, um seine Vergehen mit seinem Leben zu sühnen. In fünf Minuten hat er gebüßt. Laß ihn im Frieden.«

Da der Mann zu schreien fortfährt: »Nieder mit Evrémonde!«, so wendet ihm für einen Augenblick Evrémonde das Gesicht zu. Er sieht den Spion, betrachtet ihn aufmerksam und fährt weiter.

Die Uhren schlagen drei; die in dem Volkshaufen gepflügte Furche wendet um, und die aufwärts gerichteten Gesichter ziehen den letzten Karren nach, der Guillotine zu. Um das Gerüst her sitzt wie in einem öffentlichen Belustigungsgarten auf Stühlen eine Anzahl emsig strickender Weiber. Auf einem der vordersten Stühle steht die Rache und sieht sich nach ihrer Freundin um.

»Therese!« ruft sie mit ihrer schrillen Stimme. »Wer hat sie gesehen? Therese Defarge!«

»Sie hat sonst nie gefehlt« sagte eine von den Strickerinnen.

»Nein, und wird auch heute nicht fehlen«, versetzt die Rache ärgerlich. »Therese!«

Auf dem Weg zur Guillotine.

»Lauter!« bemerkt das Weib.

Ja! Lauter, Rache, viel lauter; und doch wird sie dich kaum hören. Noch lauter, Rache, und einen kleinen Fluch oder so etwas dazu; es wird sie kaum herbringen. Schick‘ die Weiber aus, um die Zögernde auf und ab zu suchen; die Sendlinge sind zwar vor dem Schrecklichsten nicht zurückgescheut, werden aber kaum aus freien Stücken dahin gehen wollen, wo sie sie finden können!

»Wie fatal!« ruft die Rache, auf dem Stuhl mit dem Fuße stampfend, »und die Karren sind schon alle da! Evrémonde wird abgefertigt sein im nächsten Augenblick, und sie fehlt. Seht da ihr Strickzeug in meiner Hand und ihren Stuhl, den ich ihr reserviert habe. Ich möchte weinen vor Verdruß und Ärger.«

Während die Rache von ihrem erhöhten Standpunkt herabsteigt, um ihren Unmut in der gedachten Weise austoben zu lassen, beginnen die Karren ihre Ladungen abzusetzen. Die Priester der Guillotine sind in ihrem Ornat und bereit. Ritsch! Ein Kopf wird in die Höhe gehalten, und die Strickerinnen, die kaum die Augen erhoben und nach ihm hingeschaut hatten, als er noch denken und sprechen konnte, zählen Eins.

Der zweite Karren entleert sich und fährt weiter. Der dritte kommt heran. Ritsch! Und die Strickerinnen, die sich keinen Moment in ihrer Arbeit stören lassen, zählen Zwei.

Der vermeintliche Evrémonde steigt ab, und nach ihm wird die Näherin heruntergehoben. Er hat beim Aussteigen ihre ungeduldige Hand nicht losgelassen und hält sie noch immer, wie er ihr versprochen. Er gibt ihr eine Stellung, daß sie der unheimlichen Maschine, die stets auf- und niedergeht, den Rücken zuwende; sie sieht zu ihm auf und dankt ihm.

»Ohne Euch, mein teurer Fremder, wäre ich nicht so gefaßt, denn ich bin von Natur ein furchtsames armes Geschöpf. Ich hatte nicht vermocht, meine Gedanken Dem zuzuwenden, der in den Tod gegangen ist, damit wir heute in ihm Trost und Hoffnung finden. Wahrhaftig, Euch hat der Himmel mir zugesendet.«

»Oder Euch mir«, sagt Sydney Carton. »Haltet Eure Augen auf mich gerichtet, mein liebes Kind, und achtet nicht auf die andern Dinge.«

»Ich habe keinen Sinn für sie, solange ich Eure Hand festhalte; und lass‘ ich sie los, so werden sie wohl rasch machen.«

»Sie machen rasch; seid unbesorgt.«

Die beiden stehen in dem schnell sich lichtenden Gedränge der Opfer, sprechen aber miteinander, als ob sie allein seien. Auge in Auge, Stimme gegen Stimme, Hand in Hand und Herz gegen Herz; die beiden Kinder der gemeinsamen Mutter, sonst so weit voneinander getrennt, haben sich zusammengefunden auf der dunkeln Heerstraße, um miteinander einzugehen in die Heimat und in ihrem Schoße auszuruhen.

»Wackerer, edler Freund, wollt Ihr mir noch eine letzte Frage erlauben? Ich bin so gar unwissend, und ein Umstand beunruhigt mich noch ein wenig.«

»Sprecht.«

»Ich habe ein Bäschen, eine einzige Verwandte, eine Waise wie ich, und ich liebe sie zärtlich. Sie ist fünf Jahre jünger als ich und lebt auf einem Bauernhofe im Süden. Die Armut hat uns getrennt, und sie weiß nichts von meinem Schicksale denn ich kann nicht schreiben , und wenn ich’s auch könnte, wie sollte ich’s ihr beibringen? Es ist besser so, wie es ist.«

»Ja, ja, es ist besser so.«

»Ich habe mir im Herfahren Gedanken gemacht, und ich beschäftige mich noch damit, während ich Kraft hole aus der Seelenstärke, die aus Eurem wohlwollenden Antlitze spricht ob sie wohl noch lange leben und vielleicht alt werden wird, wenn die Republik wirklich den Armen zugut kommt und dafür sorgt, daß sie weniger hungern und überhaupt weniger leiden müssen?«

»Wie kommt Ihr auf dies, meine sanfte Schwester?«

»Glaubt Ihr« die nicht klagenden Augen, die so viel Standhaftigkeit ausdrücken, füllen sich mit Tränen, und die Lippen öffnen sich bebend etwas weiter , »die Zeit werde mir dann lang vorkommen, wenn ich auf sie warte in dem besseren Land, wo wir beide, wie wir hoffen, einen barmherzigen Schutz gefunden haben werden?

»Unmöglich, mein Kind; dort gibt es keine Zeit und keine Sorge mehr.«

»Ihr werdet mir zum großen Troste. Ich bin so unwissend. Darf ich Euch jetzt küssen? Ist der Augenblick gekommen?«

»Ja.«

Sie küßt seine Lippen und er die ihrigen. Sie segnen einander feierlich. Die freie Hand zittert nicht, nachdem er sie losgelassen hat, und in den holden, strahlenden Mut des geduldigen Gesichts mischt sich kein unedler Zug. Sie geht unmittelbar vor ihm hin es ist vorbei. Die strickenden Weiber zählen Zweiundzwanzig.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.«

Gemurmel vieler Stimmen. Viele Köpfe richten sich mehr in die Höhe; von dem äußeren Rande der Volksmasse drängen Fußtritte näher heran, so daß es massenhaft sich vorwärts arbeitet wie eine ungeheure, alles mit sich fortreißende Woge. Dreiundzwanzig.

Man sagte an jenem Abend in der Stadt von ihm, nie habe man dort ein friedvolleres Menschenantlitz gesehen. Ja, viele wollten sogar eine prophetische Erhabenheit darin erkannt haben.

Eines der denkwürdigsten Schlachtopfer der Revolution eine Frau hatte nicht lange vorher am Fuße des Schafotts um die Erlaubnis gebeten, die Gedanken niederzuschreiben, die sie erfüllten. Hätte er den seinigen sie waren prophetisch Ausdruck leihen wollen, so würden sie folgendermaßen gelautet haben.

»Ich sehe Barsad und Cly, Defarge, die Rache, den Geschworenen, den Richter und lange Reihen von neuen Unterdrückern, die aus dem Untergang der alten hervorsprossen, unter diesem vergeltenden Instrument fallen, ehe es seinem gegenwärtigen Gebrauch entzogen wird. Ich sehe eine schöne Stadt und ein prächtiges Volk aus diesem Abgrunde sich erheben; und in seinen Kämpfen um wahre Freiheit, in seinen Triumphen und Niederlagen durch eine lange Reihe von Jahren hindurch sehe ich das Böse dieser Zeit und der vergangenen, aus der es naturgemäß hervorwuchs, allmählich sich sühnen und untergehen.

Ich sehe die Leben, für die ich das meinige opferte, im Frieden und Wohlstand, nützlich und glücklich verrinnen in jenem England, das mein Auge nicht mehr schauen wird. Ich sehe sie mit einem Kind auf ihrem Schoße, das meinen Namen trägt. Ich sehe ihren Vater, alt und gebeugt, aber sonst vollkommen genesen, wie er prunklos und getreu die Pflichten seines Berufes gegen jedermann übt. Ich sehe, wie zehn Jahre später der wohlwollende alte Mann, der so lange ihr Freund war, ruhig in die Ewigkeit eingeht zu seinem Lohn, nachdem er sie mit seinem ganzen Besitztum bereichert hat.

Ich sehe, daß ich mir ein Heiligtum erbaut habe in ihren Herzen und in den Herzen ihrer Nachkommen auf Generationen hinein. Ich sehe sie, wie sie als eine alte Frau bei jeder Wiederkehr dieses Tages mir eine Träne weiht. Ich sehe, wie sie nach vollbrachtem Laufe an der Seite ihres Gatten in ihrem letzten Erdenbette ruht, und weiß, daß keines das andere in seinem Herzen mehr ehrte und heiliger hielt, als beide mich ehrten und heilig hielten.

Ich sehe das Kind, das auf ihrem Schoß ruhte und meinen Namen trägt, zum Manne gereift, wie er sich aufwärts schwingt auf dem Pfad, der vordem der meinige war. Ich sehe ihn meinen Namen herrlich machen durch das Licht des seinigen und sehe, wie die Flecken, die ich ihm anheftete, verblichen sind. Ich sehe ihn zuvörderst unter gerechten Richtern und geehrten Männern sehe, wie er einen Knaben meines Namens mit dem goldigen Haar und der Stirn, die ich kenne, zu diesem Platz bringt er ist jetzt schön anzusehen und zeigt keine Spur mehr von der Entstellung der Vergangenheit , und höre, wie er mit weicher, bebender Stimme dem Kleinen meine Geschichte erzählt.

Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe; und die Ruhe, in die ich eingehe, ist eine weit, weit bessere, als mir je zuteil wurde.«

Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.


Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.

Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten. Durch die Gewalt des Anpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar vor der Kellertüre wie eine Nußschale zerschellt auf den Steinen.

Wer in der Nähe war, gab seine Arbeit oder seinen Müßiggang auf und eilte nach der Stelle, um von dem Wein etwas abzufangen. Die rauhen, unregelmäßigen Pflastersteine, mit denen die Straße überall belegt war und die ausdrücklich dazu bestimmt zu sein schienen, die Annäherung aller lebenden Wesen zu lähmen, hatten die kostbare Flüssigkeit in kleine Lachen abgedämmt, die nach dem Maßstab ihrer Größe von lärmenden Banden umlagert wurden. Dort knieten einige Männer nieder, machten aus den aneinandergefügten beiden Händen Löffel und schlürften daraus, oder versuchten den Weibern, die sich über ihre Schultern niederbeugten, zu etwas zu verhelfen, ehe der Wein zwischen ihren Fingern durchgelaufen war. Hier brauchten Männer und Weiber alte Topfscherben als Trinknäpfe oder tauchten die Kopftücher der Frauen ein, um sie in den Mund der Kinder auszuwringen. Die einen bauten kleine Schlammdämme, um den entströmenden Wein aufzuhalten, andere stürzten nach der Weisung von Leuten, die von den Fenstern aus zusahen, da und dorthin, um die Bächlein abzuschneiden, die eine neue Richtung einschlagen wollten, und wieder andere hielten sich an die mit Hefe gefärbten Faßdauben, deren vom Wein getränkte Teile sie mit besonderem Hochgenuß beleckten und sogar benagten. Man bedurfte keiner Rinnen, um den Wein abzulassen; aber gleichwohl verschwand er und mit ihm so viel Staub, daß kein Gassenkehrer sauberer hätte fegen können.

Während der Dauer dieses Weinspiels tönte helles Gelächter und der Schall fröhlicher Stimmen aus dem Mund von Männern, Weibern und Kindern durch die Straße. Es ging zwar ziemlich roh, aber auch spaßhaft genug her; denn rasch hatte sich geselliges Wesen und die augenfällige Neigung eines jeden, sich dem andern anzuschließen, entwickelt, so daß es namentlich unter den Glücklicheren oder Leichtherzigeren bald zu fröhlichen Umarmungen, wechselseitigen Toasten, Händedrücken und selbst zu lustigen Tänzen kam, zu denen man sich zu Dutzenden vereinigte. Die Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein ausgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzspalter setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung. Die Frau kehrte nach ihrem auf der Türschwelle abgesetzten Aschentopf zurück, mit dem sie an sich selbst oder an ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellergeschossen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher stand als der Sonnenschein.

Es war ein Rotwein gewesen und die Stelle, wo er ausgeflossen war, eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Diejenigen, die sich an den Faßdauben erlabt hatten, zeigten ein getigertes Untergesicht, und ein auf diese Weise beschmierter, langer Spaßmacher, an dessen Kopfseite eine schmutzige, lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort Blut an eine Wand.

Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.

Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Kammerherrn des Heiligen – lauter mächtige Edle, namentlich der letztere. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen fröstelnd an den Ecken, gingen in den Häusern aus und ein, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Winde flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet hatten, hatte nichts gemein mit jener fabelhaften Mühle, die alte Leute jung machte, sondern übte gerade die entgegengesetzte Wirkung aus. Die Kinder hatten alte Gesichter und tiefe Stimmen, und auf jedem derselben war mit stets erneuten, tiefen Furchen das Zeichen des Hungers eingegraben. Dies erschien als der vorherrschende Zug. Der Hunger sprach aus den hohen Häusern heraus in den armseligen Linnen, die an den ausgespannten Seilen hingen, und wurde mit Stroh und Lumpen, Holz und Papier in sie hineingeflickt. Hunger bedeutete jeder der kleinen Holzabschnitte, die unter der Säge des Holzhacker fielen. Hunger glotzte aus den rauchlosen Schornsteinen in die Tiefe und schoß aus der schmutzigen Straße auf, in deren Kehricht sich kein Abfall vom Essen befand. Hunger war die Inschrift der Bäckersimse, deutlich ausgedrückt in den kleinen Laiben und dem spärlichen Brotvorrat – die der Wurstläden, lesbar in den Präparaten aus krepierten Hunden, die zum Verkauf ausgeboten wurden. Der Hunger ließ seine dürren Knochen rasseln unter den in der gedrehten Walze röstenden Kastanien und zeigte sein Skelett auf jedem Teller mit schlechten, in einigen Tropfen widerstrebenden Öls gebratenen Kartoffeln.

Der Tummelplatz war in jeder Beziehung für ihn passend. Eine enge, krumme Straße voll Unflat und Gestank, die in die andern engen, krummen Straßen einmündete, alle bevölkert von Lumpen und Nachtmützen, alle riechend nach Lumpen und Nachtmützen, und in allen sichtbaren Dingen ein düsteres, brütendes Aussehen zeigend. In den abgezehrten Mienen der Menschen war da und dort noch so eine Art Raubtiergedanke von der Möglichkeit eines Widerstandes zu lesen. Wie gedrückt sie auch dahinschlichen, fehlte es ihnen doch nicht an Augen voll Feuer, an zusammengepreßten Lippen, blaß von dem, was sie unterdrückten, und an Stirnen, gefurcht nach Art des Stricks, den zu erdulden oder zu handhaben ihnen beschieden war. Die Geschäftschilde, deren es fast so viele gab wie Läden, zeigten lauter grauenhafte Schilderungen des Mangels. Der Rindvieh- und der Schweinemetzger hatten nur die magersten Fleischstücke, die Bäcker die kleinsten Laibe rauhen Brotes abbilden lassen. Die abgemalten Gäste in dem Schilde der Weinbuden krächzten in hohläugiger Vertraulichkeit über dem spärlich zugemessenen dünnen Wein oder Bier. Nichts war in einem ordentlichen Zustand dargestellt als das Arbeitsgerät und die Waffen; allerdings, die Messer und Äxte waren scharf, die Schmiedehämmer schwer und die Vorräte des Büchsenmachers mörderisch. Das lahmmachende Pflaster mit seinen vielen kleinen Schlamm- und Wasserpfützen hatte keine Trottoirs, sondern begann unmittelbar vor der Tür. Zur Schadloshaltung lief die Gosse durch die Mitte der Straße – das heißt, wenn sie überhaupt lief, und das geschah nur nach schweren Regengüssen, die dann auch gelegentlich durch ihre exzentrischen Kundgebungen die Häuser füllten. In weiten Zwischenräumen sah man quer über die Straßen je eine einzige schwerfällige Laterne an einem Seil und einem Klobenpfahl aufgehangen, und wenn sie dann nachts von dem Lampenwärter niedergelassen, angezündet und wieder aufgezogen wurde, pendelte über den Köpfen eine weit auseinandergezerrte Reihe von düster brennenden Dochten so krankhaft, als wären sie auf dem Meer. Und so konnte man es auch nennen; sie zitterten auf einem Meer, und Schiff und Mannschaft stand in Sturmesgefahr.

Denn es sollte eine Zeit eintreten, in der die hagern Vogelscheuchen jenes Stadtteils in ihrem Müßiggang und Hunger dem Lampenwärter so lang zugesehen hatten, daß ihnen der Gedanke kam, seine Methode zu verbessern und an jenen Seilen und Klobenpfählen Menschen in die Höhe zu ziehen, damit sie grell hineinleuchten möchten in die Nacht ihrer Lage. Aber die Stunde war noch nicht gekommen, und jeder Wind, der über Frankreich hinblies, schüttelte vergeblich die Lumpen der Vogelscheuchen; die Vögel mit ihrem schönen Gesang und Gefieder ließen sich nicht warnen.

Der Weinschank war ein Eckhaus von besserem Aussehen als die meisten anderen, und der Besitzer desselben stand in gelber Weste und grünen Beinkleidern vor der Tür und sah dem Kampf um den ausgelaufenen Wein zu. »Geht mich nichts an«, sagte er mit einem schließlichen Achselzucken. »Die Lieferung geschah auf Gefahr des Verkäufers; er mag für eine andere sorgen.«

Seine Augen fielen zufällig auf den langen Spaßmacher, als er mit seinem Witz die Wand bekleckste, und er rief ihm über die Straße hinüber zu:

»He, Gaspard, was macht Ihr da?«

Der Kerl schien in seinem Spaß, wie es bei Leuten seines Schlages gern der Fall ist, große Bedeutung zu sehen, verfehlte aber doch, wie es bei Leuten dieser Gattung gleichfalls oft zutrifft, vollständig seinen Zweck.

»Was soll das? Seid Ihr denn fürs Tollhaus reif?« sagte der Weinwirt, über die Straße hinübergehend und den Spaß mit einer Handvoll Gassenkot austilgend, den er aufnahm und darüber hinschmierte. »Warum schreibt Ihr das in offener Straße? Gibt es denn – hört Ihr – gibt es denn keinen andern Platz, um solche Worte hinzuschreiben?«

Während dieser Vorstellung ließ er, vielleicht zufällig, vielleicht auch nicht, seine reinlichere Hand in die Richtung von des Spaßmachers Herzen sinken. Dieser klopfte mit seiner eigenen darauf, tat einen hurtigen Sprung in die Höhe und nahm dann die Haltung eines phantastischen Tänzers an, schuppte sich seinen beschmutzten Schuh vom Fuß in die Hand, und streckte ihn aus … Unter diesen Umständen erschien der Spaßmacher in einer außerordentlich, um nicht zu sagen wolfartig praktischen Rolle.

»Zieht ihn nur wieder an, zieht ihn an«, sagte der andere. »Bestellt Wein, Wein, und laßt’s dabei bewenden.«

Nach diesem Rat wischte er sich ganz bedächtig seine beschmutzte Hand an dem Kleid des Spaßmachers ab, als sei dieser schuld gewesen an der Verunreinigung, kehrte nach seinem Haus zurück und trat in seine Weinstube.

Der Wirt war ein stiernackig, martialisch aussehender Mann von dreißig und mußte wohl von sehr hitziger Körperbeschaffenheit sein, da er trotz des bitter kalten Tages seinen Rock nicht auf dem Leib, sondern über die Schultern geschlenkert trug. Seine Hemdärmel waren aufgerollt und seine braunen Arme bis zum Ellbogen nackt. Auch hatte er keine andere Kopfbedeckung als sein kurzgeschnittenes, krauses, schwarzes Haar. Er selbst war ein dunkelfarbiger Mann mit grauen Augen und einer breiten, kühnen Nasenbrücke dazwischen. Im ganzen sah er gutlaunig, dabei aber auch unversöhnlich aus, und Entschiedenheit des Willens und des Entschlusses waren ihm auf die Stirne gezeichnet, Juan mußte sich wohl vorsehen, ihm entgegenzutreten, wenn er eine enge Steige mit einem Abgrund auf jeder Seite hinabstürmte, da diesen Mann nichts zum Ausweichen gebracht haben würde.

Als er hereinkam, saß seine Frau, Madame Defarge, hinter dem Zahltisch der Gaststube. Sie war eine stämmige Frau von dem Alter ihres Gatten und hatte ein wachsames Augenpaar, das selten auf etwas hinzuschauen schien. Ihre große Hand war mit schweren Ringen geschmückt, und ihr gesetztes, derbzügiges Gesicht verriet große Selbstbeherrschung. Überhaupt zeigte Madame Defarge etwas so Charakteristisches, daß man von ihr zum voraus sagen konnte, sie mache in den Rechnungen, denen sie vorstand, nicht leicht einen Verstoß zu ihrem Nachteil. Da sie sehr empfindlich gegen Kälte war, hatte sie sich in einen Pelz gehüllt und außerdem ein mächtiges, hellfarbiges Tuch um den Kopf gebunden, das jedoch nicht bis zu den großen Ohrenringen niederreichte. Ihr Strickzeug lag müßig vor ihr, da sie eben mit dem Ausstochern ihrer Zähne beschäftigt war, und in dieser Arbeit mußte ihre linke Hand den rechten Ellenbogen unterstützen. Als ihr Eheherr eintrat, sagte sie nichts, sondern hustete nur ganz leichthin. Dies mit dem Erheben ihrer dunkel gezeichneten Augenbrauen um die Breite einer Linie über ihren Zahnstocher deutete dem Gatten an, daß er gut tun werde, sich im Zimmer nach den Gästen umzusehen, da während seiner kurzen Abwesenheit neue Kundschaft eingetreten sei.

Der Weinwirt ließ seine Augen umherschweifen, bis sie auf einem ältlichen Herrn und einem jungen Frauenzimmer, die in einer Ecke saßen, haften blieben. Es war auch andere Gesellschaft da; ein Paar spielte Karten, ein anderes machte eine Dominopartie, und drei standen neben dem Schenktisch und schlürften sparsam den kleinen Rest ihres Weines. Als der Wirt hinter den Tisch trat, fiel ihm auf, daß der ältliche Herr mit einem Blick auf die junge Dame die Worte fallen ließ:

»Dies ist unser Mann.«

»Was Teufels wollt ihr in dieser Galeere da?« sagte Monsieur Defarge zu sich selbst; »ich kenne euch nicht.«

Er stellte sich an, als nehme er keine Notiz von den beiden Fremden, sondern ließ sich mit dem Kundentriumvirat, das neben dem Schenktisch trank, in ein Gespräch ein.

»Wie geht es, Jacques?« sagte einer von den dreien zu Monsieur Defarge. »Ist aller ausgeflossener Wein schon versorgt?«

»Bis auf den letzten Tropfen, Jacques«, antwortete Monsieur Defarge.

Nach diesem Austausch von Taufnamen hustete Madame Defarge, die noch immer ihre Zähne mit dem Stocher bearbeitete, wieder ein klein wenig und zog die Brauen um eine Linie höher.

»Es kommt nicht oft vor«, bemerkte der zweite von den dreien gegen Monsieur Defarge, »daß dieser Haufe unglücklichen Viehs Wein oder überhaupt etwas anderes zu kosten kriegt als Schwarzbrot und Tod. Ist es nicht so, Jacques?«

»Jawohl, Jacques«, entgegnete Monsieur Defarge.

Nach diesem abermaligen Taufnamenaustausch hustete Madame Defarge, die in gründlicher Fassung noch immer ihren Zahnstocher handhabte, abermals ein wenig und erhob die Brauen um die Breite einer weitern Linie.

Nun brachte der Letzte von den dreien sein Sprüchlein an, nachdem er zuvor sein leeres Trinkglas schmatzend auf den Tisch niedergesetzt hatte.

»Ah, um so schlimmer. Dieses arme Gesindel hat immer einen bitteren Mund und ein saures Leben, Jacques. Hab‘ ich nicht recht, Jacques?«

»Sicherlich, Jacques«, lautete Monsieur Defarges Erwiderung. Dieser dritte Taufnamenaustausch war kaum beendigt, als Madame Defarge ihren Zahnstocher beiseite steckte, die Augenbrauen scharf in die Höhe zog und leicht in ihrem Sitze raschelte.

»Halt, da; richtig«, murmelte der Ehemann. »Messieurs, meine Frau.«

Die drei Gäste nahmen vor Madame Defarge die Hüte ab und schwenkten sie achtungsvoll. Sie dankte für diese Huldigung durch eine Verbeugung des Kopfes und durch einen raschen Blick, den sie über das Kleeblatt hingleiten ließ. Dann schaute sie sich rasch, als geschehe es nur zufällig, in der Zechstube um und nahm endlich mit dem Anschein großer Ruhe und geistiger Fassung ihr Strickzeug auf, in das sie sich alsbald völlig vertieft hatte.

»Meine Herren«, sagte ihr Gatte, der sein helles Auge nicht von ihr verwandte, »guten Tag. Das Zimmer für einen ledigen Herrn, das ihr zu sehen wünschtet und nach dem ihr mich fragtet, eh‘ ich hinausging, ist im fünften Stock. Die Treppe dazu findet ihr dort links in dem kleinen Hof (er deutete die Richtung mit der Hand an) neben dem Fenster meiner Wirtschaft. Doch ich erinnere mich – einer von euch ist ja schon dagewesen und kann den Weg zeigen. Adieu, meine Herren.«

Sie zahlten ihren Wein und entfernten sich. Monsieur Defarges Augen hafteten noch immer auf der strickenden Frau, als der ältliche Herr aus seiner Ecke hervortrat und um geneigtes Gehör bat.

»Recht gern, Herr«, versetzte Monsieur Defarge und trat ruhig mit ihm unter die Tür.

Ihr Gespräch war sehr kurz, aber auch sehr entschieden. Schon bei den ersten Worten fuhr Monsieur Defarge zusammen und wurde sehr aufmerksam. Er hatte keine Minute zugehört, als er nickte und hinausging. Der Herr winkte dann dem jungen Frauenzimmer und verließ mit ihr gleichfalls das Zimmer. Madame Defarge strickte mit hurtigen Fingern und ruhigen Augenbrauen und sah nichts.

Mr. Jarvis Lorry und Miß Manette trafen, sobald sie die Tür der Weinstube hinter sich geschlossen, in der Flur, nach der eben zuvor das Kleeblatt gewiesen worden war, wieder mit Monsieur Defarge zusammen. Die Flur führte zu einem stinkenden, kleinen Hinterhof und war der allgemeine Zugang zu einer ansehnlichen Häusergruppe, die von einer großen Menschenmenge bewohnt wurde. In dem dunkeln, mit Backsteinen gepflasterten Vorplatz zu der finsteren Backsteintreppe ließ sich Monsieur Defarge vor dem Kind seines alten Herrn auf ein Knie nieder und führte ihre Hand an seine Lippen. Die Handlung war zart, wurde aber nichts weniger als zart ausgeführt, und unmittelbar darauf kam eine merkwürdige Veränderung über den Mann. Sein Gesicht zeigte keinen Frohsinn, keine Offenheit mehr und verriet jetzt einen heimlichen, finsteren, gefährlichen Mann.

»Es ist sehr hoch und der Zugang etwas beschwerlich. Besser, wir fangen langsam an.« So sprach Monsieur Defarge mit rauher Stimme zu Mr. Lorry, als sie die Treppe hinanzusteigen begannen.

»Ist er allein?« flüsterte dieser.

»Allein! Gott behüte, wer sollte bei ihm sein?« antwortete der andere ebenso leise.

»Er ist also immer einsam?«

»Ja.«

»Auf sein Verlangen?«

»Aus Notwendigkeit. Wie er war, als ich ihn sah, nachdem man mich aufgefunden und befragt hatte, ob ich ihn aufnehmen und auf meine Gefahr hin verschwiegen sein wolle, – wie er damals war, so ist er auch jetzt.«

»Wohl sehr verändert?«

»Verändert!«

Der Wirt hielt an, um mit seiner Hand gegen die Mauer zu schlagen und einen schweren Fluch vor sich hinzumurmeln. Keine unmittelbare Antwort hätte nur halb so nachdrücklich sein können. Mr. Lorry fühlte sich bedrückter und bedrückter, je höher er mit seinen beiden Begleitern hinaufkam.

Eine solche Treppe mit ihren Zugaben in den älteren, übervölkerten Stadtteilen von Paris würde schon heutzutage schlimm genug sein, war aber damals für nicht daran gewöhnte und nicht abgehärtete Sinne etwas Abscheuliches. Jede kleine Wohnung innerhalb der großen Kloake eines einzigen hohen Hauses, das heißt jede Stube, jede Räumlichkeit hinter der nach der gemeinsamen Treppe hinausführenden Tür setzte ihren Haufen Unrat, den Rest von dem, was nicht zu den Fenstern hinausgeworfen wurde, auf ihrem Vorplatz ab. Die nicht zu bewältigende, hoffnungslose Masse von Fäulnis, zu der in solcher Weise die Bedingungen gegeben waren, würde die Luft verpestet haben auch ohne die nicht greifbaren Verunreinigungen, die im Gefolge von Armut und Elend auftreten. Beide zusammen aber bildeten ein fast unerträgliches Gemenge. Durch eine solche Atmosphäre und über Haufen giftigen Abfalls führte der Weg. Die Unruhe des eigenen Geistes und die Aufregung des Mädchens, die sich mit jedem Augenblick steigerte, bewogen Mr. Jarvis Lorry zweimal, haltzumachen und auszuruhen. Dies geschah jedesmal vor einem kläglichen Fenstergitter, durch das jedes noch gesund gebliebene Lüftchen zu entweichen und alle verderbten, eklen Dünste einzudringen schienen. Durch die rostigen Eisenstäbe gewahrte man eher durch das Geruch- als durch das Gesichtsorgan die aufeinander hockenden Nachbarhäuser, unter denen, soweit man sehen konnte, nichts auf gesundes Leben und Streben deutete als die beiden hohen Türme der Kirche von Notre-Dame.

Endlich war die Höhe der Treppe erreicht, und sie machten zum drittenmal halt. Aber es führte eine steilere und engere Obertreppe noch weiter hinauf, bis man in das Dachgeschoß gelangte. Der Wirt, der immer vorausging und sich auf der Seite hielt, auf der sich Mr. Lorry befand, weil er vielleicht von der jungen Dame befragt zu werden fürchtete, wandte sich hier um, betastete sorgfältig die Taschen des über seinen Rücken hängenden Rockes und nahm einen Schlüssel heraus.

»Ist denn die Tür verschlossen, mein Freund?« fragte Mr. Lorry erstaunt.

»Ja«, lautete Monsieur Defarges grämliche Antwort.

»Ihr haltet es also für nötig, daß der unglückliche Mann so zurückgezogen lebe?«

»Ich halte es für nötig, den Schlüssel umzudrehen«, flüsterte ihm Monsieur Defarge mit gerunzelter Stirn ins Ohr.

»Warum?«

»Warum? Weil er so lang eingesperrt gelebt hat, daß er sich fürchten, rasend werden, sich selbst in Stücke reißen, sterben oder weiß Gott welchen Schaden nehmen würde, wenn ich seine Tür offen ließe.«

»Ist es möglich!« rief Mr. Lorry.

»Ob es möglich ist?« entgegnete Defarge mit Bitterkeit. »Jawohl. Wir leben in einer sauberen Welt, wo so etwas möglich ist und wo so viele andere Dinge möglich und nicht nur möglich sind, sondern wirklich geschehen – ja, seht Ihr, unter diesem Himmel, jeden Tag wirklich geschehen. Es lebe der Teufel! Laßt uns weitergehen.«

Dieses Zwiegespräch war in einem so leisen Geflüster abgehalten worden, daß keine Silbe davon das Ohr der jungen Dame erreichte. Jetzt aber zitterte sie unter einer so gewaltigen Aufregung, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von so tiefer Angst, vor allem aber von Furcht und Schrecken, daß Mr. Lorry sich für verpflichtet hielt, ein paar Worte der Ermutigung an sie zu richten.

»Mut, meine teure Miß! Mut! Geschäft! Das Schlimmste wird in einem Augenblick vorüber sein; es ist herum, sobald man die Schwelle überschritten hat. Dann beginnt all das Gute, das Ihr ihm bringt, aller Trost und alles Glück, das Ihr ihm schaffen könnt. Erlaubt unserem guten Freund hier, Euch auf der andern Seite zu unterstützen. Recht so, Freund Defarge. Kommt jetzt. Geschäft, Geschäft!«

Sie stiegen langsam und leise vollends hinan. Die Treppe war kurz und das Ende bald erreicht. Da sie jedoch auf dem halben Wege einen Winkel machte, wurden sie plötzlich drei Männer gewahr, die neben der Tür die Köpfe zusammengesteckt hielten und augenscheinlich durch einige Risse oder Löcher der Mauer in das dahinter befindliche Gemach hineinsahen. Die nahen Fußtritte bewogen die drei sich aufzurichten und umzuwenden; es waren die Männer mit dem gleichen Vornamen, die unten Wein getrunken hatten.

»In der Überraschung Eures Besuches habe ich sie vergessen«, bemerkte Monsieur Defarge erklärend. »Geht jetzt, meine guten Kinder; wir haben ein Geschäft da.«

Die drei glitten vorüber und leise die Treppe hinab.

Da sich auf diesem Boden augenscheinlich keine andere Tür befand und der Wirt, sobald sie allein waren, geradewegs auf diese einzige zuging, so fragte ihn Mr. Lorry flüsternd, aber mit einigem Unwillen:

»Stellt Ihr denn Monsieur Manette zur Schau aus?«

»Ich zeige ihn auf diese Weise, wie Ihr’s gesehen habt, einigen wenigen Auserwählten.«

»Ist dies recht?«

»Ich denke wohl.«

»Wer sind die wenigen? Wie wählt Ihr sie?«

»Ich sehe dabei auf reelle Männer meines Namens – Jacques ist mein Name –, von denen ich glaube, daß ihnen der Anblick gut tun werde. Genug – Ihr seid ein Engländer; das ist etwas anderes. Habt die Güte, einen Augenblick hier stehenzubleiben.«

Mit einer abwehrenden Gebärde beugte er sich nieder und schaute durch den Spalt in der Mauer, erhob den Kopf aber bald wieder und schlug zwei- oder dreimal gegen die Tür, augenscheinlich in keiner andern Absicht, als um Lärm zu machen. Ebenso rasselte er etlichemal mit dem Schlüssel über die Tür hin, ehe er diesen derb in das Schloß stieß und so geräuschvoll wie nur möglich darin umdrehte.

Die Tür ging unter seiner Hand langsam nach innen auf. Er sah hinein und sagte etwas. Eine schwache Stimme antwortete darauf. Es konnte beiderseits wenig mehr als eine Silbe gesprochen worden sein.

Monsieur Defarge schaute über die Schulter zurück und winkte seinen Begleitern, einzutreten. Mr. Lorry schlang seinen Arm um den Leib seiner Begleiterin und hielt sie fest; denn er fühlte, daß sie ohnmächtig werden wollte.

»Ein – ein – ein Geschäft, Geschäft!« drängte er, und auf seiner Wange zeigte sich ein Naß, das jedenfalls dort kein Geschäft hatte. »Kommt mit – kommt!«

»Ich fürchte mich«, entgegnete das Mädchen schaudernd.

»Vor was?«

»Vor ihm – vor meinem Vater.«

Durch Miß Manettes Zustand und das Winken des Führers in Verzweiflung gebracht, schlang er den Arm, der auf seiner Schulter zitterte, um seinen Hals, hob sie ein wenig empor und eilte mit ihr in das Gemach; dann setzte er sie unmittelbar hinter der Schwelle wieder ab, ohne die sich an ihn Anklammernde loszulassen.

Defarge nahm den Schlüssel wieder heraus, machte die Tür zu und schloß sie von innen ab, dann zog er den Schlüssel ab und behielt ihn in der Hand. Alles dies tat er methodisch und so geräuschvoll wie nur möglich. Endlich ging er gemessenen Schritts durch die Kammer nach dem Fenster hin, wo er haltmachte und sich umwandte.

Die Dachkammer hatte ursprünglich die Bestimmung, zur Aufbewahrung von Brennholz und dergleichen zu dienen, und bestand in einem düstern, dunklen Gelaß. Das Fenster im Dach war eigentlich eine Tür mit einem kleinen Kran darüber, um von der Straße aus Vorräte in die Höhe ziehen zu können, hatte keine Scheiben und bestand wie jede andere Tür von französischer Konstruktion aus zwei Flügeln. Um die Kälte abzuwehren, war der eine Flügel fest geschlossen und der andere nur ein wenig geöffnet; durch den schmalen Spalt aber drang das Licht nur so spärlich ein, daß man unmittelbar nach dem Eintreten nichts sehen konnte, und nur lange Gewohnheit vermochte irgend jemand in die Lage zu bringen, bei solcher Beleuchtung eine Arbeit vorzunehmen. Und doch wurde in diesem Dachraume gearbeitet. Den Rücken der Tür und das Gesicht dem Fenster zugewandt, vor dem der Wirt zusehend stand, saß ein weißhaariger Mann auf einer niedrigen Bank. Er hatte den Körper vorwärts gebeugt und machte eifrig Schuhe.

Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.


Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.

»Guten Tag!« sagte Monsieur Defarge, auf den über einen Schuh hingebeugten weißen Kopf niederblickend.

Der Kopf richtete sich für einen Augenblick auf, und eine sehr schwache Stimme, als komme sie aus weiter Ferne, antwortete auf den Gruß:

»Guten Tag!«

»Ich sehe, Ihr seid eifrig beim Geschäft?«

Nach einer langen Pause erhob sich der weiße Kopf abermals, und die Stimme versetzte:

»Ja – ich arbeite.«

Diesmal hatten auch ein Paar hohle Augen den Frager angeblickt, ehe sich das Gesicht wieder senkte.

Die Schwäche der Stimme war erschütternd mitleiderregend. Man konnte sie keine körperliche Schwäche nennen, obschon langer Kerker und schlechte Kost ohne Zweifel mit zu den Ursachen gehörten. Ihre bejammernswürdige Eigentümlichkeit bestand in dem Umstand, daß sie eine Frucht der Einsamkeit und des völligen Mangels an Übung war. Die Stimme klang wie das letzte matte Echo eines lange zuvor ins Weite gerufenen Tons und hatte das Leben, den Klang der menschlichen Stimme so ganz und gar verloren, daß sie auf die Sinne den Eindruck einer Farbe machte, die einmal schön war, jetzt aber zu einem matten Fleck verblichen ist. Sie klang so gedämpft und verfallen, daß sie unter dem Boden hervorzukommen schien, und deutete so ausdrucksvoll auf ein hoffnungsloses, verlorenes Wesens, daß der Ton den Hörenden unwillkürlich an einen in der Wüste verirrten, verhungernden Reisenden erinnerte, der der Heimat und seinen Freunden noch ein Lebewohl zuruft, ehe er sich hinlegt, um zu sterben.

Einige Minuten stummer Arbeit waren vergangen, und die hohlen Augen hatten wieder aufgeblickt – nicht etwa aus Interesse oder Neugier, sondern vorläufig nur unter dem mechanischen Eindruck, daß die Stelle, wo der einzige zu ihrer Wahrnehmung gekommene Besuch stand, noch nicht leer sei.

»Ich möchte etwas mehr Licht einlassen«, sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schuhmacher verwandt hatte. »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helle vertragen?«

Der Schuhmacher hielt in seiner Arbeit inne, schaute mit einer ausdruckslosen Miene des Horchen« bald rechts, bald links von sich auf den Boden und sah endlich zu dem Sprecher auf.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Ob Ihr mehr Helle vertragen könnet?«

»Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«

Er legte einen blassen Schatten von Nachdruck auf das zweite Wort.

Die angelehnte Halbtür wurde ein wenig weiter geöffnet und vorderhand unter diesem Winkel befestigt. Ein breiter Lichtstreifen fiel in die Kammer und beleuchtete den ruhenden Arbeiter mit einem unvollendeten Schuh auf seinem Schoß. Sein Werkzeug und einige Stücke Leder lagen zu seinen Füßen und auf der Bank. Er hatte einen weißen, struppigen, aber nicht sehr langen Bart, ein hageres Gesicht und ungemein helle Augen. Letztere hätten in den tiefen Höhlen, dem welken Zug unter den noch immer dunkeln Augenbrauen und unter dem weißen Haar groß erscheinen müssen, wenn sie auch das Gegenteil gewesen wären. Bei ihrer natürlichen Größe aber hatten sie ein wahrhaft unheimliches Aussehen gewonnen. Das zerfetzte gelbe Hemd ließ die Brust offen und zeigte einen völlig maroden Körper. Er, sein altes Kanevaswams, seine losen Strümpfe und die übrigen Kleiderlumpen waren in der langen Abgeschiedenheit von Licht und Luft zu einem so gleichförmigen Pergamentgelb verblichen, daß man kaum einen Unterschied mehr entdecken konnte.

Er hatte seine Hand zwischen seine Augen und das Licht gebracht, und sogar die Knochen schienen durchsichtig zu sein. So saß er mit leerem Blicke da und ließ seine Arbeit ruhen. Er schaute nie auf die Gestalt vor ihm, ohne vorher rechts und links an sich niederzusehen, als habe er die Gewohnheit verlernt, den Ton mit einem Ort in Verbindung zu bringen: auch sprach er nie, ohne sich zuvor in dieser unsteten Weise zu ergehen, die ihn gelegentlich auch das Reden ganz und gar vergessen ließ.

»Werdet Ihr wohl heute noch dieses Paar Schuhe fertigbringen?« fragte Defarge, indem er Mr. Lorry winkte, näher zu treten.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Ob Ihr Eure Schuhe heute noch fertigzubringen gedenkt.«

»Ich kann nicht sagen, ob ich’s imstande bin. Vermutlich. Ich weiß es nicht.«

Die Frage erinnerte ihn jedoch an seine Arbeit, und er beugte sich wieder darüber hin.

Mr. Lorry trat schweigend vor und ließ die Tochter an der Tür zurück. Er mochte ein paar Minuten neben Defarge gestanden haben, als der Schuhmacher wieder aufschaute. Dieser zeigte kein Erstaunen über das Vorhandensein einer weiteren Person; aber die unsteten Finger seiner einen Hand verirrten sich, während er so aufblickte, zu seinen Lippen, die mit den Nägeln die blasse Bleifarbe teilten. Dann ließ er die Hand wieder auf seine Arbeit sinken und beugte sich abermals über den Schuh. Das Aufsehen und die Gebärde hatte nur einen Augenblick gedauert.

»Ihr seht. Ihr habt einen Besuch«, sagte Monsieur Defarge.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Hier ist ein Besuch.«

Der Schuhmacher schaute wieder wie zuvor auf, ohne jedoch die Hand von seiner Arbeit zu entfernen.

»Gebt her«, sagte Defarge, »Hier ist ein Herr, ein Kenner von guten Schuhen, wenn er welche sieht. Zeigt ihm die Arbeit, die Ihr vor Euch habt. Nehmt, Monsieur.«

Mr. Lorry nahm den Schuh in seine Hand.

»Sagt dem Herrn, was für ein Schuh dies ist und wer ihn gemacht hat.«

Es trat eine mehr als gewöhnlich lange Pause ein, bis der Schuhmacher endlich erwiderte:

»Ich vergaß, was Ihr mich fragtet. Was habt Ihr gesagt?«

»Ich sagte, ob Ihr nicht Monsieur darüber belehren wollet, was für ein Schuh dies sei.«

»Es ist ein Frauenzimmerschuh – ein Schuh zum Ausgehen für eine junge Dame. Ganz nach der gegenwärtigen Mode. Ich kenne zwar die Mode nicht aus eigener Anschauung, habe aber ein Muster in der Hand gehabt.«

Er blickte mit einem kleinen Anflug von Stolz auf seinen Schuh.

»Und wie heißt der Verfertiger?« fragte Defarge.

Da der alte Mann jetzt keine Arbeit zu halten hatte, so legte er zuerst die Knöchel seiner rechten Hand in die hohle Fläche der linken und dann die Knöchel der linken in die Fläche der rechten. Darauf fuhr er mit einer Hand über das bärtige Kinn. Dies trieb er eine Weile in regelmäßiger Abwechslung, ohne auch nur einen Augenblick auszusetzen. Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit, in die er nach jeder seiner Reden versank, zu wecken, ließ sich mit den Belebungsversuchen an einem Ohnmächtigen oder mit der Bemühung vergleichen, den Geist eines rasch dahinsterbenden Menschen, von dem man noch eine Enthüllung wünscht, zurückzuhalten.

»Habt Ihr mich nach meinem Namen gefragt?«

»Jawohl.«

»Hundertundfünf, Nordturm.«

»Ist dies alles?«

»Hundertundfünf, Nordturm.«

Mit einem müden Ton, der weder ein Seufzen noch ein Stöhnen war, beugte er sich wieder vor, bis die Stille aufs neue unterbrochen wurde.

»Ihr seid kein Schuhmacher von Gewerbe?« sagte Mr. Lorry, ihn fest ansehend.

Die hohlen Augen richteten sich auf Defarge, als erwarteten sie von ihm die Beantwortung der Frage; da aber von dieser Seite her keine Hilfe kam, so suchten sie eine Weile den Boden und blieben endlich auf dem Frager haften.

»Ob ich ein Schuhmacher von Gewerbe sei? Nein, ich bin es nicht. Ich – ich habe es hier gelernt – aus mir selbst – ohne Lehrmeister. Ich bat um die Erlaubnis, mich –«

Er war aufs neue für einige Minuten weg und wiederholte während dieser Zeit die vorhin beschriebenen Gesten. Endlich kehrten seine Augen langsam zu dem Gesicht zurück, von dem sie abgeschweift waren, und ruhten darauf eine Weile, bis er zusammenfuhr und in der Art eines Schlafenden in dem Moment des Erwachens den unterbrochenen Gegenstand wiederaufnahm.

»Ich bat um die Erlaubnis, mich unterrichten zu dürfen, und erhielt sie auch lange Zeit nachher mit vieler Mühe. Seitdem habe ich immer Schuhe gemacht.«

Als er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, der ihm abgenommen worden war, sagte Mr. Lorry, sein Gesicht unverwandt betrachtend:

»Monsieur Manette, erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr?«

Der Schuh sank zu Boden, und der alte Mann starrte den Frager an.

»Monsieur Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er seine Hand auf Desarges Arm legte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr dieses Mannes? Seht ihn an. Seht mich an. Entsinnt Ihr Euch nicht eines alten Bankiers, eines alten Geschäfts, eines alten Dieners und einer früheren Zeit, Monsieur Manette?«

Wahrend der vieljährige Gefangene dasaß und mit seinem starren Blicke bald Mr. Lorry, bald Defarge ansah, drängten sich allmählich in der Mitte der Stirne einige längst verwischte Spuren tätigen Verstandes durch die dichte Nebelhülle. Aber sie traten schnell wieder in den Schatten zurück, wurden schwächer und waren entschwunden. Jedoch sie waren wenigstens dagewesen. Und so genau wiederholte sich der Ausdruck auf dem Antlitz des schönen jungen Wesens, das an der Wand hin nach einer Stelle geschlichen war, von der aus es ihn sehen konnte, und wo es jetzt stand, die Hände anfangs nur in angstvoller Teilnahme, vielleicht wohl gar in der Absicht erhebend, ihn zurückzuhalten oder seinen Anblick auszuschließen, jetzt aber sie gegen ihn ausstreckend, zitternd vor Begier, das gespenstische Gesicht an die warme jungfräuliche Brust zu drücken und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung zurückzugeben – ich sage, der Ausdruck wiederholte sich, obschon in kräftigeren Zügen, so genau auf dem schönen jugendlichen Antlitz, daß es den Anschein gewann, als sei es wie ein bewegliches Licht von ihm auf sie übergegangen.

Bei ihm war es wieder dunkel geworden. Er betrachtete die beiden weniger und weniger achtsam. Seine Augen suchten in düsterer Zerstreutheit abermals den Boden und schauten aufs neue in der alten Weise umher. Endlich nahm er mit einem tiefen Seufzer den Schuh auf und arbeitete weiter.

»Habt Ihr ihn erkannt, Monsieur?« fragte Defarge flüsternd.

»Ja, für einen Augenblick. Anfangs hatte ich keine Hoffnung, aber ein einziger Augenblick zeigte mir unzweifelhaft das Gesicht, das mir früher gut bekannt war. Pst! Wir wollen uns ein wenig zurückziehen. Pst!«

Sie war von der Wand der Kammer weg- und der Bank nahegetreten, auf der er saß. Es lag etwas Unheimliches in dem Umstand, daß er, während er mit seiner Arbeit beschäftigt war, so gar keine Ahnung hatte von der Gestalt, die, wenn sie ihre Hand ausstreckte, ihn berühren konnte.

Kein Wort wurde gesprochen, kein Laut fiel; sie stand wie ein Gespenst an seiner Seite, und er arbeitete fort.

Endlich fügte sich’s, daß er das Werkzeug in der Hand weglegen und die Zange nehmen mußte. Sie lag auf der andern Seite, nicht auf der, wo das Mädchen stand. Er hatte sie ergriffen und beugte sich wieder über seine Arbeit hin, als seine Augen den Schoß ihres Kleides bemerkten. Er richtete sich auf und sah ihr Gesicht. Die beiden Zuschauer wollten vorwärts eilen, aber sie winkte ihnen zurück. Sie fürchtete nicht, daß er sie mit der Zange beschädigen könnte; nur ihnen war nicht wohl zumute bei der Sache.

Er starrte sie mit einem besorgniserregenden Blick an, und nach einer Weile begannen seine Lippen einige Worte zu bilden, ohne jedoch Laute hervorzubringen. Endlich hörte man ihn während einer der Pausen zwischen seinen raschen und schweren Atemzügen sagen:

»Was ist das?«

Tränen entströmten ihren Augen, während sie ihre beiden Hände an die Lippen führte und ihm einen Kuß zuwarf. Dann drückte sie die Hände an die Brust, als wolle sie das welke Haupt hier zur Ruhe bringen.

»Ihr seid doch nicht des Schließers Tochter?«

»Nein«, seufzte das Mädchen.

»Wer seid Ihr?«

Der Kraft ihrer Stimme noch nicht trauend, setzte sie sich auf der Bank an seine Seite. Er wich zurück, aber sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Ein seltsames Gefühl durchschauerte dabei seinen ganzen Körper; er legte sachte das Messer nieder und starrte sie an.

Sie hatte ihr goldiges Haar, das sie in langen Locken trug, rasch zurückgestrichen, so daß es über ihren Nacken niederfiel. Er brachte seine Hand allmählich näher und näher, faßte es an und betrachtete es. Dann aber wurde sein Geist plötzlich wieder irre, und er nahm mit einem abermaligen Seufzer aufs neue seine Arbeit auf.

Aber nicht für lange. Sie hatte seinen Arm losgelassen und die Hand auf seine Schulter gelegt. Nachdem er zweifelnd zwei- oder dreimal danach hingesehen, als wolle er sich überzeugen, daß sie wirklich daliege, schob er die Arbeit beiseite, griff nach seinem Hals und nahm von demselben eine geschwärzte Schnur, an der ein zusammengelegter Lappen befestigt war. Diesen breitete er sorgfältig auf seinem Knie auseinander und brachte ein kleines Löckchen hervor; es waren nur einige lange, goldige Haare, die er in irgendeiner alten Zeit wohl oft um seinen Finger gewunden hatte.

Er nahm ihr Haar wieder in seine Hand und betrachtete es aufmerksam.

»Es ist dasselbe. Wie kann dies sein? Wann war es? Wie war es?«

Die Furche auf seiner Stirn kehrte zurück, und er schien eines ähnlichen Ausdrucks auf der ihrigen sich bewußt zu werden. Er drehte sich voll gegen das Licht und sah sie an.

»Sie hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt an jenem Abend, als ich hinausgerufen wurde – sie fürchtete sich, als ich ging, obschon ich unbesorgt war –, und als man mich nach dem Nordturm brachte, fand man dies auf meinem Ärmel. ›Ihr laßt sie mir doch? Sie können nichts dazu beitragen, daß ich mich körperlich den Kerkermauern entwinde, obschon sie mich ihnen vielleicht geistig entziehen.‹ Dies waren die Worte, die ich sagte. Ich erinnere mich ihrer recht wohl.«

Seine Lippen mußten oftmal ansetzen, bis sie diese Rede hervorbrachten. Nachdem er aber einmal die Worte gefunden hatte, kamen sie zwar langsam, aber doch zusammenhängend zur Äußerung.

»Wie war dies? – Bist du’s gewesen

Abermals wollten die zwei Zuschauer sich ins Mittel legen, da er mit einer beängstigenden Hast sich zu ihr wandte. Sie aber rührte sich nicht unter seiner Hand, sondern sagte nur mit leiser Stimme:

»Ich bitte euch, meine guten Herrn, bleibt zurück – sprecht nicht, rührt euch nicht.«

»Horch!« rief er. »Wessen Stimme war dies?«

Bei diesem Ausruf ließen seine Hände sie los und fuhren nach dem weißen Haar, das sie wahnsinnig zerrauften. Doch auch diese Aufregung erstarb, wie alles in ihm erstorben war, sein Schuhmachen ausgenommen. Er faltete sein Päckchen wieder zusammen und versuchte, es in seiner Brust zu verbergen. Dabei sah er sie fortwährend an und schüttelte düster den Kopf.

»Nein, nein, nein: Ihr seid zu jung, zu blühend. Es kann nicht sein. Seht, was aus dem Gefangenen geworden ist. Dies sind nicht die Hände, die sie kannte. Dies Gesicht ist ihr fremd, und eine solche Stimme hat sie nie gehört. Nein, nein. Es sind Menschenalter, seit sie warseit er war – vor den langsamen Jahren des Nordturms. Wie heißt Ihr, mein zarter Engel?«

Den sanfteren Ton, das mildere Wesen mit Freude begrüßend, fiel die Tochter vor ihm auf die Knie nieder und legte bittend ihre Hände auf seine Brust.

»Oh, Herr, zu einer andern Zeit sollt Ihr erfahren, wie ich heiße, wer meine Mutter, wer mein Vater war, und wie ich nie etwas von ihrer schmerzlichen Geschichte erfahren habe. Jetzt aber, und hier, kann ich Euch dies nicht sagen. Nur eines jetzt und hier – ich bitte, rührt mich an und segnet mich. Küßt mich, küßt mich! O Himmel! o Himmel!«

Sein kalter weißer Kopf kam in Berührung mit ihrem wallenden Haar, das ihn wärmte, als sei es das Licht der Freiheit, das auf ihn niederschien.

»Wenn Ihr in meiner Stimme – ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich hoffe es – wenn Ihr in meiner Stimme eine Ähnlichkeit mit einer andern erkennt, die früher wie süße Musik in Eurem Ohre klang, so weinet, weinet um sie! Wenn Ihr durch die Berührung meiner Haare an ein geliebtes Haupt erinnert werdet, das an Eurer Brust lag, als Ihr noch jung und frei waret, so weinet, weinet darum. Wenn Euch der Hinweis auf eine Heimat, in der Euch meine treuen Dienste zuteil werden sollen, eine andere ins Gedächtnis ruft, die längst verödet ist, während Euer armes Herz verschmachtete, so weint, weint um sie!«

Sie hielt seinen Hals inniger umschlungen und wiegte ihn an ihrer Brust wie ein Kind.

»O mein Lieber, Guter, wenn meine Versicherung, daß Euer Jammer vorüber ist und daß ich hierher gekommen bin, um Euch fort, hinüber nach England zu nehmen, wo Ihr Frieden und Ruhe finden werdet – wenn diese Versicherung den Gedanken an Euer zugrunde gerichtetes nützliches Leben und an unser heimatliches Frankreich, das so schändlich an Euch gehandelt hat, in Euch wachruft, so weinet. Und wenn Ihr aus der Nennung meines Namens, aus dem Namen meines noch lebenden Vaters und dem meiner heimgegangenen Mutter erkennt, ich habe kniefällig einen verehrten Vater um Verzeihung zu bitten, weil ich mich nicht für ihn tagtäglich abmühte und um seinetwillen nachts die bittersten Tränen vergoß, weil die Liebe meiner armen Mutter mir seinen schrecklichen Zustand verborgen hatte, so weinet, weinet darüber. Ja, weint um sie – und um mich! Meine guten Herren, Gott sei Dank! Ich fühle diese heiligen Tränen auf meinem Antlitz, und sein Schluchzen schlägt gegen mein Herz. Oh, seht – danket, danket Gott statt unserer.«

Wiederfinden von Vater und Tochter.

Er war in ihre Arme und sein Haupt an ihre Brust gesunken – ein Anblick, so rührend und doch so schrecklich in dem Gedanken an die vorausgegangenen erschütternden Leiden, daß die beiden Zuschauer das Gesicht verhüllten.

Die Stille der Dachkammer erlitt keine Störung, und seine wogende Brust, sein erschütterter Körper hatte längst die Ruhe gefunden, die, ein Sinnbild des Menschenlebens, jedem Sturm folgt. Endlich kamen sie heran, um Vater und Tochter von dem Boden aufzuheben. Er war allmählich hingesunken und lag in der Ohnmacht der Erschöpfung da; sie hatte sich zu ihm niedergeworfen, damit ihr Arm ihm zum Kissen, ihr wallendes Haar zum Schirm gegen das Licht dienen möge.

»Man sollte ihn nicht weiter stören«, sagte sie, ihre Hand gegen Mr. Lorry erhebend, als sich dieser nach unterschiedlichen Schneuzversuchen zu ihnen niederbeugte, »sondern alles zur Abreise von Paris in einer Weise vorbereiten, daß man ihn von dieser Tür aus fortnehmen kann.«

»Aber bedenkt doch. Wird er eine solche Reise machen können?« fragte Mr. Lorry.

»Viel besser, denke ich, als wenn er länger in dieser für ihn so schrecklichen Stadt bleiben müßte.«

»Es ist wahr«, sagte Defarge, der neben dem Ohnmächtigen niedergekniet war. »Auch sprechen außerdem alle Gründe dafür, Monsieur Manette aus Frankreich fortzuschaffen. Soll ich einen Wagen und Postpferde bestellen?«

»Das ist ein Geschäft«, versetzte Mr. Lorry, der nicht lange brauchte, um sich wieder in sein methodisches Wesen zu finden, »und wo sich’s um Geschäfte handelt, bin ich der Mann auf dem Platz.«

»Dann seid so gut, uns jetzt allein zu lassen«, drängte Miß Manette. »Ihr seht, wie ruhig er geworden ist, und habt wohl nichts mehr zu fürchten, wenn ich bei ihm bleibe. Warum auch? Wenn ihr die Tür abschließen wollt, um uns vor Störung zu bewahren, so zweifle ich nicht, daß ihr bei eurer Rückkehr ihn ebenso finden werdet, wie ihr ihn verlaßt. Jedenfalls will ich für ihn Sorge tragen, bis ihr wiederkommt, und dann werden wir ihn fortnehmen können.«

Sowohl Mr. Lorry als Defarge erhoben Einwände gegen diesen Vorschlag und wollten, daß wenigstens einer von ihnen bei ihr bleiben solle. Aber man hatte nicht nur einen Wagen und Pferde, sondern auch Reisepapiere zu besorgen. Die Zeit drängte, der Tag neigte sich zu Ende, und so kamen sie rasch zu der Übereinkunft, daß sie sich in die nötigen Geschäfte teilen und sich unverweilt an ihre Ausführung machen wollten.

Als nun die Dunkelheit einbrach, legte die Tochter an der Seite ihres Vaters das Haupt auf den harten Boden und wachte bei ihm. Es wurde immer dunkler, und sie beide lagen ruhig da, bis ein Lichtstrahl durch die Wundrisse blinkte.

Mr. Lorry und Monsieur Defarge hatten alles für die Reise vorbereitet und brachten außer einem Mantel und Schaltüchern auch Brot, Fleisch, Wein und heißen Kaffee mit. Monsieur Defarge stellte den Korb und die Laterne, die er bei sich hatte, auf die Schuhmacherbank – es war sonst außer dem Pritschenbett kein anderes Möbel mehr in der Kammer –, weckte den Gefangenen und half ihm unter Mr. Lorrys Beihilfe auf die Beine.

Kein menschlicher Verstand vermochte in der scheuen, leeren Verwunderung des Gesichtes die Geheimnisse seines Geistes zu lesen. Wußte er wohl, was vorgegangen? Erinnerte er sich dessen, was gesprochen worden? Hatte er eine Vorstellung davon, daß er frei war? Diese Fragen war kein Scharfsinn zu lösen imstande. Sie versuchten, mit ihm zu reden. Aber er war so verwirrt und konnte sich so wenig ins Antworten hineinfinden, daß sein Geisteszustand sie erschreckte und sie miteinander übereinkamen, ihn vorläufig nicht weiter zu behelligen. Er fuhr gelegentlich in einer eigentümlich wirren Weise, die man nie zuvor an ihm wahrgenommen, mit den Händen gegen den rasch vorgeschobenen Kopf, schien aber doch schon den bloßen Ton von seiner Tochter Stimme gern zu hören; denn er wandte sich demselben zu, sooft sie sprach.

In der unterwürfigen Weise eines Menschen, der durch langen Zwang zu gehorchen gewöhnt ist, aß und trank er, was man ihm vorsetzte, und legte den Mantel und die Schals um, die man ihm gab. Auch ließ er sichs gerne gefallen, daß seine Tochter ihren Arm in den seinigen legte. Er faßte dann ihre Hand mit den seinigen und hielt sie fest.

Sie begannen hinabzusteigen. Monsieur Defarge ging mit der Laterne voran, und Mr. Lorry bildete die Nachhut. Sie hatten auf der langen Haupttreppe noch nicht viele Stufen zurückgelegt, als er haltmachte und das Dach und die Wände anstarrte.

»Entsinnt Ihr Euch dieses Platzes, Vater? Ihr werdet Euch erinnern, daß Ihr hier heraufgekommen seid.«

»Was habt Ihr gesagt?«

Aber ehe sie ihre Frage wiederholen konnte, murmelte er eine Antwort, als ob es schon geschehen sei.

»Erinnern? Nein, ich erinnere mich nicht. Es ist schon gar so lange her.«

Es war klar, daß er nicht wußte, wie er aus seinem Gefängnis in dieses Haus gekommen war. Sie hörten ihn murmeln: »Hundertundfünf, Nordturm«, und wenn er umherschaute, sah er sich augenscheinlich nach den starken Festungsmauern um, die ihn so lange umschlossen hatten. Wie sie im Hof unten anlangten, änderte er instinktartig seinen Tritt in der Erwartung einer Zugbrücke, und als diese nicht kam und er dafür in der Straße draußen den harrenden Wagen sah, ließ er die Hand seiner Tochter fallen und fuhr wieder nach seinem Kopf.

Es war kein Gedränge um die Tür. An keinem der vielen Fenster ließ sich ein Menschengesicht blicken, und nicht einmal zufällig kam jemand durch die Straße. Es herrschte eine unnatürliche Stille und Verödung. Nur eine Person war um den Weg – Madame Defarge, die strickend an dem Türpfosten lehnte und nichts sah.

Der Gefangene war eingestiegen und seine Tochter ihm gefolgt. Als aber Mr. Lorry nachfolgen wollte, wurde er auf dem Tritt durch eine in kläglichem Ton vorgebrachte Frage angehalten, wo das Schuhmacherwerkzeug und die halbfertigen Schuhe seien, Madame Defarge rief ihrem Gatten zu, daß sie das Vermißte holen wolle, und hatte sich fortstrickend rasch im Dunkel des Hofes verloren, kam aber bald wieder zurück und langte Schuhe und Werkzeug in den Wagen hinein. Dann nahm sie ihren Posten wieder an der Tür, strickte und sah nichts.

Defarge lud den Koffer auf und gab das Zeichen: »Nach der Barriere!« Der Postillion knallte mit der Peitsche, und sie rasselten unter den mattblinkenden Straßenlaternen dahin.

Unter den Laternen hin – die in den besseren Straßen immer heller und in den schlechteren immer trüber brannten –, an den beleuchteten Läden, fröhlichen Menschenhaufen, lichtstrahlenden Kaffeehäusern und Theatertüren vorbei nach einem der Stadttore. Hier Soldaten mit Laternen vor dem Wachhause. »Eure Papiere, Reisende!« – »Bitte, Herr Offizier«, sagte Defarge, indem er ausstieg und den Mann ernst beiseite nahm, »dies sind die Papiere des weißhaarigen Herrn im Wagen. Man übergab sie mir mit ihm auf dem –«

Er dämpfte seine Stimme. Es fand nun ein hastiges Durcheinander unter den militärischen Laternen statt, und eine derselben drang an einem uniformierten Arm in den Wagen, um in dem weißhaarigen Herrn einen Anblick zu enthüllen, dem man nicht jeden Tag oder jede Nacht begegnete.

»Es ist gut. Vorwärts!« rief die Uniform.

»Adieu! Defarge.«

Und so ging es aus dem spärlicher und spärlicher werdenden Geflimmer der Laternen hinaus unter die Unzahl flimmernder Sterne.

Unter diesem Gewölbe mit seinen unbeweglichen ewigen Lichtern, von denen manche unserer kleinen Erde so fern sind, daß die Gelehrten uns versichern, es sei zweifelhaft, ob ihre Strahlen überhaupt schon als ein Punkt in dem Raum, in dem so viel Ringen und Leiden stattfindet, entdeckt seien – breiteten sich die Schatten der Nacht weit und dunkel hin. Während der ganzen kalten, ruhelosen Nachtfahrt bis zum dämmernden Morgen trieben sie wieder ihr Spiel mit Mr. Jarvis Lorry, der dem begraben gewesenen und nun ausgegrabenen Manne gegenübersaß, und flüsterten ihm, während er sich Gedanken über die vielleicht auf immer verlorenen und die vielleicht noch zu rettenden Geistesvermögen des Gefangenen machte, die alte Frage zu:

»Ich hoffe, es ist Euch lieb, wieder ins Leben zurückgerufen zu sein.«

Und die alte Antwort war: »Ich kann es nicht sagen.« Eine Geschichte von zwei Städten.

Viertes Kapitel. Die Vorbereitung.


Viertes Kapitel. Die Vorbereitung.

Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Royal-George-Hotel den Kutschenschlag. Er tat dies mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel; denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.

Diesmal galt der Glückwunsch nur einem einzigen Passagier; denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, in den dichten, zottigen Umhüllungen, den niederhängenden Hutkrempen und den schmutzbespritzten Beinen den dazu gehörigen Hund vorstellen konnte.

»Geht morgen ein Paketschiff nach Calais, Kellner?«

»Ja, Sir, wenn das Wetter hält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Ein Bett, Sir?«

»Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Doch wünsche ich ein Schlafzimmer zu haben. Schickt mir einen Barbier.«

»Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn’s beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentleman und heiß Wasser auf Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel ab! Ihr werdet ein schönes Seekohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier auf Concord! Hurtig da, auf Concord.«

Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen und ließ in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, die interessante Beobachtung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder herauskamen. Als daher zufällig ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin an unterschiedlichen Punkten des Weges zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer einherschlenderten, sahen sie einen Gentleman von etwa sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen, braunen Anzug mit breiten Ärmelaufschlägen und großen Taschen auftauchen, um unten sein Frühstück einzunehmen.

Selbigen Vormittag barg das Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war vor den Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen.

Die Hände auf die Knie gelegt, sah er sehr regelmäßig und exakt aus, und eine laute Uhr tickte in seiner Westentasche eine helltönende Predigt, als wolle sie ihre Würde und ihr hohes Alter zu dem Leichtsinn und der raschen Vergänglichkeit der lodernden Flamme in einen Gegensatz bringen. Er hatte einen hübschen Fuß und war ein bißchen eitel darauf, denn die braunen Strümpfe vom feinsten Gewebe lagen glatt und knapp an, und auch seine Schnallenschuhe nahmen sich trotz ihrer Einfachheit recht sauber aus. Eine flachsfarbige Stutzperücke mit kurzem krausem Haar, das jedoch eher aus Seiden- oder Glasfädchen als aus natürlichen Haaren zu bestehen schien, bedeckte seinen Kopf. Die Leinwand entsprach in Feinheit allerdings nicht den Strümpfen, war aber so weiß wie der Schaum der Wellen, die sich am nahen Ufer brachen, oder wie die von der Sonne beleuchteten Reusenpunkte weit draußen in der See. Ein an Ruhe gewöhntes Gesicht wurde unter der wunderlichen Perücke durch ein Paar feuchte klare Augen erhellt, mit denen ihr Eigentümer wohl manche Not gehabt haben mochte, bis sie im Lauf der Jahre an den zurückhaltenden und abgemessenen Ausdruck von Tellsons Bank gewöhnt waren. Auf seinen Wangen lag ein frisches Rot, und sein furchiges Antlitz trug nur wenige Spuren der Sorge. Nun, vielleicht hatten die unverheirateten Kontoristen in Tellsons Bank hauptsächlich mit den Sorgen anderer Leute, mit Sorgen zweiter Hand zu tun, die wahrscheinlich wie die Kleider aus zweiter Hand schneller ein Ende nehmen.

Um das Bild des Mannes, der einem Porträtmaler sitzt, vollständig zu machen, schlummerte Mr. Lorry endlich ein. Die Ankunft des Frühstücks weckte ihn wieder. Als er seinen Stuhl an den Tisch rückte, sagte er zu dem Kellner:

»Ich wünsche, daß Ihr Vorbereitungen trefft für die Aufnahme eines jungen Frauenzimmers, das heute noch hier anlangen wird. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry, vielleicht auch einfach nach einem Herrn von Tellsons Bank. Habt die Güte, mich von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen.«

»Ja, Sir. Tellsons Bank in London, Sir?«

»Ja.«

»Ja, Sir. Die Herren Reisenden dieses Hauses beehren uns auf dem Hin- und Herweg von London nach Paris oft mit ihrem Besuch, Sir. Tellson und Kompanie lassen außerordentlich viel reisen, Sir.«

»Ja. Wir sind ebensogut ein französisches wie ein englisches Geschäftshaus.«

»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Reisen nicht sehr gewöhnt, Sir?«

»In letzter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünfzehn Jahre her, seit wir – seit ich – meine letzte Reise nach Frankreich machte.«

»Wirklich, Sir? Nun, damals war ich noch nicht im Hause; auch mein Chef noch nicht, Sir. Der George befand sich zu jener Zeit in andern Händen, Sir.«

»Ich glaube das gern.«

»Aber ich wollte eine schöne Wette darauf eingehen, Sir, daß ein Haus wie das von Tellson und Kompanie, ich will nicht sagen vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren florierte.«

»Ihr könnt die Zahl dreifach nehmen und hundertfünfzig sagen, ohne weit gegen die Wahrheit zu verstoßen.«

»Wirklich, Sir?«

Und Augen und Mund weit aufsperrend, trat der Kellner von dem Tisch zurück, warf seine Serviette vom rechten unter den linken Arm, nahm eine imposante Haltung an und betrachtete den Gast, während dieser aß und trank, wie von einem Wachturm oder einer Sternwarte aus, nach dem stereotypen Brauch der Kellner in allen Jahrhunderten.

Nach Beendigung des Frühstücks erhob sich Mr. Lorry, um einen Spaziergang am Ufer zu machen. Die kleine, schmale, winkelige Stadt Dover lag kaum beachtenswert an der Küste hin und verbarg wie eine Art Meeresanemone ihren Kopf in den Kalksteinklippen. Das Gestade war eine Wüste, in der Wasser und Steine sich untereinander tummelten; die See tat, was sie vermochte; und ihr Lieblingsgeschäft war Zerstören. Sie donnerte gegen die Stadt, donnerte gegen die Klippen und hauste wie toll an der Küste. Die Luft um die Häuser her hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte meinen sollen, kranke Fische brauchten darin eine Luftkur, wie die kranken Menschen im Wasser drunten einer Seekur obzuliegen pflegten. In dem Hafen wurde etwas Fischerei betrieben; doch diente er noch weit mehr müßigen Spaziergängern zum Tummelplatz, die abends, namentlich um die Zeit der Fluthöhe, sich am Anblick des Meeres vergnügen wollten. Kleine Gewerbsleute ohne Geschäft kamen oft auf eine unerklärliche Weise zu großem Vermögen, und es war merkwürdig, daß in der ganzen Nachbarschaft niemand den Lampenanzünder ausstehen konnte.

Es wurde Nachmittag, und die Luft, die mitunter so klar gewesen, daß man die französische Küste sehen konnte, füllte sich aufs neue mit Dunst und Nebel. Auch Mr. Lorrys Gedanken schienen sich zu umwölken. Als er nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Feuer des Kaffeezimmers saß, und wie am Morgen auf das Frühstück, so jetzt auf das Diner wartete, beschäftigte sich sein Geist emsig mit Graben, Graben und Graben in den glühroten Kohlen.

Eine Flasche guten Bordeaux‘ nach dem Essen konnte einem Kohlengräber bei so heißer Arbeit nicht schaden, indem sie höchstens dazu diente, ihm das Geschäft ein wenig zu verleiden. Mr. Lorry war schon geraume Zeit müßig gewesen und hatte eben mit einer so vollkommen befriedigten Miene, wie man sie nur bei einem ältlichen Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe am Schluß einer Flasche finden kann, das letzte Glas voll eingeschenkt, als sich von der engen Straße her das Gerassel eines Wagens vernehmen ließ, der bald darauf in dem Wirtshaushof haltmachte.

Er stellte das Glas ungekostet wieder auf den Tisch und sagte zu sich selber:

»Dies ist die Mamsell.«

Einige Minuten später trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angelangt sei und sich darauf freue, den Gentleman von Tellson zu empfangen.«

»So bald?«

Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen und brauchte für den Augenblick nichts, brannte aber vor Begier, den Gentleman von Tellson sogleich bei sich zu sehen, wofern es ihm gelegen und nicht unangenehm sei.

So blieb dem Gentleman von Tellson keine andere Wahl, als mit einer Miene stummer Verzweiflung sein Glas zu leeren, sein wunderliches Flachsperücklein zurechtzurücken und dem Kellner in Miß Manettes Zimmer zu folgen. Es war ein großes dunkles Gemach mit schwarzen Roßhaarmöbeln und schweren dunkelfarbigen Tischen, so, daß man an eine Trauerparade gemahnt wurde. Man hatte diesen Hausrat so lange geölt und geölt, bis die zwei hohen Lichter der mittleren Tafel auf jedem Tischblatt düster widerstrahlten, als seien sie tief in das schwarze Mahagoniholz eingesenkt und könne kein der Rede wertes Licht von ihnen erlangt werden, bevor sie ausgegraben wären.

Es war so dunkel, daß Mr. Lorry, der sich durch den abgenutzten türkischen Bodenteppich leiten ließ, schon glaubte, Miß Jeanette sei für einen Augenblick in das anstoßende Zimmer getreten. Als er aber die zwei hohen Kerzen hinter sich hatte, bemerkte er neben dem Tische zwischen diesem und dem Kamin, zu seinem Empfang bereit, eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn in einem Reitkleid, die den Strohreisehut am Bande in der Hand hielt. Seine Augen ruhten auf einer kleinen, schmächtigen, hübschen Figur, einer Fülle goldenen Haars, einem Augenpaar, das dem seinigen mit fragenden Blicken begegnete, und einer Stirn, die die bei solcher Jugend und Glätte befremdliche Eigenschaft besaß, durch Heben und Zusammenziehen der Brauen eine Miene anzunehmen, die nicht gerade ein Ausdruck von Verwirrung, von Staunen, von Unruhe oder auch nur von gespannter Aufmerksamkeit genannt werden konnte, wohl aber etwas von allen diesen vier Eigenarten in sich faßte. Während nun seine Blicke auf diesem Bilde hafteten, fiel ihm plötzlich die lebhafte Ähnlichkeit mit einem Kinde auf, das er bei seiner Fahrt über eben diesen Dover-Kanal bei kaltem Hagelwetter und hochgehender See in den Armen gehabt hatte. Die Erinnerung war jedoch nur flüchtig und einem Hauch auf der Oberfläche des einzigen Pfeilerspiegels ähnlich, auf dessen Rahmen eine Spitalprozession von verkrüppelten und kopflosen schwarzen Genien einer Versammlung von schwarzen weiblichen Gottheiten in schwarzen Körben Früchte vom toten Meer darbrachten. Er machte Miß Manette eine förmliche Verbeugung.

»Ich bitte, nehmt Platz, Sir«, begann eine sehr helle und angenehme junge Stimme mit einem ganz leichten Anflug von ausländischem Akzent.

»Ich küß‘ Euch die Hand, Miß«, sagte Mr. Lorry mit den Manieren eines früheren Datums, während er nach einer abermaligen förmlichen Verbeugung seinen Sitz einnahm.

»Ich habe gestern von der Bank einen Brief erhalten, der von einer Neuigkeit oder einer Entdeckung spricht –«

»Das Wort ist nicht wesentlich. Miß; Ihr könnt es so oder so nennen.«

»Das kleine Eigentum meines Vaters betreffend, den ich nie sah und der schon lange tot ist.«

Mr. Lorry rückte auf seinem Stuhl und warf einen ängstlichen Blick auf die Spitalprozession der schwarzen Genien. Als ob sie für irgend jemand Hilfe bringen konnten in ihren abgeschmackten Körben!

»Es soll dadurch notwendig werden, daß ich nach Paris reise und daselbst gemeinschaftlich handle mit einem Herrn, der ausdrücklich wegen dieser Angelegenheit auch nach Paris geschickt worden sei.«

»Der bin ich.«

»Das habe ich erwartet, Sir.«

Sie machte einen Knix gegen ihn (damals knixten die jungen Frauenzimmer noch), um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie fühle, um wieviel älter und weiser er sei. Und er verbeugte sich abermals.

»Ich habe darauf der Bank geantwortet, Sir, wenn meinen sachverständigen freundlichen Beratern meine Reise nach Paris nötig erscheine, so werde ich als eine Waise, die keinen Verwandten hat, der sie begleiten kann, mich glücklich schätzen, diesem Auftrag unter dem Schutz des würdigen Herrn nachzukommen. Der Gentleman hatte zwar London schon verlassen; aber ich glaube, es ist ihm ein Bote nachgeschickt worden mit der Bitte, er möchte die Güte haben, mich hier zu erwarten.«

»Ich bin so glücklich gewesen, mit diesem Dienst betraut zu werden«, erwiderte Mr. Lorry. »Und noch glücklicher wird mich seine Ausführung machen.«

»Ich danke Euch, danke Euch von ganzem Herzen, Sir. Man hat mir in der Bank gesagt, der Herr werde mir die ganze Angelegenheit auseinandersetzen, und ich müsse mich darauf gefaßt machen, überraschende Dinge zu hören. Ich habe mein Bestes getan, um mich darauf vorzubereiten, und bin natürlich in hohem Grade auf Eure Mitteilungen gespannt.«

»Natürlich«, versetzte Mr. Lorry. »Ja – ich –«

Nach einer Pause fügte er, die Perücke gegen das Ohr rückend, bei:

»Es ist sehr schwer, den Anfang zu finden.«

Und so fing er lieber nicht an, begegnete aber in seiner Unschlüssigkeit ihrem Blicke. Die junge Stirn furchte sich zu jenem eigentümlichen Ausdruck, der zwar auffallend, aber doch hübsch und charakteristisch war; dabei erhob sie ihre Hand, als greife sie mit dieser unwillkürlichen Bewegung nach einem flüchtigen Schatten oder wolle ihn festhalten.

»Seid Ihr mir ganz fremd, Sir?«

»Bin ich’s nicht?«

Mr. Lorry öffnete seine Hände und streckte sie mit einem beweisführenden Lächeln aus.

Die Linie zwischen den Brauen und unmittelbar über dem Mädchennäschen, die so zart und fein wie nur immer möglich war, wurde ausdrucksvoller, als sie nachdenkend sich auf den Stuhl niederließ, neben dem sie bisher gestanden hatte. Er verwandte keinen Blick von dem gedankenvollen Wesen, und sobald sie ihre Augen wieder erhob, fuhr er fort:

»Ich vermute, daß ich in Eurem Adoptivvaterland nichts Besseres tun kann, als wenn ich mich gegen Euch wie gegen eine junge englische Lady benehme, Miß Manette?«

»Wenn es Euch so beliebt, Sir.«

»Miß Manette, ich bin ein Geschäftsmann und als ein solcher beauftragt, ein Geschäft auszurichten. Diesem meinem Auftrag gegenüber braucht Ihr mich nicht anders zu betrachten, als ob ich eine sprechende Maschine sei – in der Tat, ich bin auch kaum etwas anderes. Mit Eurer Erlaubnis, Miß, will ich Euch die Geschichte eines unserer Kunden erzählen.«

»Geschichte?«

Er schien absichtlich das Wort, das sie wiederholt hatte, mißzuverstehen, indem er hastig fortfuhr:

»Ja, eines Kunden. Im Bankgeschäft nennen wir gewöhnlich diejenigen, die mit uns in Geldbeziehungen treten, unsere Kunden. Er war ein Herr aus Frankreich, ein Gelehrter, ein Mann von ausgedehnten Kenntnissen, ein Doktor.«

»Nicht aus Beauvais?«

»Nun ja, von Beauvais. Gleich Eurem Vater, dem Monsieur Manette, war der Herr aus Beauvais und wie Euer Vater auch in Paris sehr angesehen. Ich hatte die Ehre, ihn dort kennenzulernen. Unsere Beziehungen waren geschäftlicher, aber doch vertraulicher Art. Ich arbeitete damals in unserem französischen Haus und wäre nicht – oh! zwanzig Jahre.«

»Damals, Sir – darf ich fragen, was Ihr mit diesem damals meint?«

»Ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren, Miß. Er heiratete – eine englische Dame –, und ich war einer der Administratoren. Seine Angelegenheiten befanden sich wie die vieler französischer Herren und Familien ganz in Tellsons Händen. So bin ich denn oder war ich in der einen oder anderen Weise Güterpfleger für viele unserer Kunden. Dies sind bloß geschäftliche Beziehungen, die mit besonderem Interesse, Gefühl und Freundschaft nichts zu schaffen haben. Ich übernahm im Laufe meines Geschäftslebens bald diesen bald jenen Dienst, geradeso wie ich im Laufe des Geschäftstages von einem unserer Kunden zum anderen übergehe. Kurz, ich habe keine Gefühle – bin eine bloße Maschine. Um fortzufahren –«

»Aber Eure Geschichte betrifft wohl meinen Vater, Sir, und ich fange an zu glauben« – die seltsam gefurchte Stirn war ihm mit großer Angelegentlichkeit zugewendet –, »daß Ihr es wart, der mich nach England brachte, als ich nach dem Tod meiner Mutter, die meinen Vater nur um zwei Jahre überlebte, verwaist in der Welt stand. Ja, ich bin fest überzeugt davon.«

Mr. Lorry ergriff die zögernde kleine Hand, die sich ihm vertrauensvoll genähert hatte, um die seinige zu ergreifen, und brachte sie mit einiger Förmlichkeit an seine Lippen. Dann führte er die junge Dame wieder nach ihrem Stuhl, stützte seine Linke auf die Lehne und benutzte seine Rechte abwechselnd, um sich das Kinn zu reiben, die Stutzperücke gegen das Ohr zu ziehen oder seinen Worten Nachdruck zu geben, während er auf das achtsam zu ihm aufschauende Gesichtchen niederblickte.

»Ja, ich war es, Miß Manette. Und Ihr werdet sehen, wie wahr ich eben von mir selbst gesprochen, als ich sagte, daß ich keine Gefühle habe und meine Beziehungen zu meinen Nebenmenschen bloß geschäftlicher Natur seien, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, daß ich Euch seitdem nie wieder gesehen habe. Nein, Ihr wart von jener Zeit an Tellsons Mündel, und ich hatte in anderen Geschäften des Hauses Tellson zu tun. Gefühle? Dafür finde ich weder Zeit noch Gelegenheit. Ich verbringe mein Leben damit, Miß, daß ich stets eine ungeheure finanzielle Waschanstalt im Gang halte.«

Nach dieser eigentümlichen Schilderung seines täglichen Geschäftslebens strich Mr. Lorry mit beiden Händen die flachsfarbige Perücke auf seinem Kopfe glatt (wohl ein unnötiges Bemühen, da ihre glänzende Oberfläche vorher schon nicht glatter hätte sein können) und nahm seine frühere Haltung wieder an.

»Wie Ihr bemerkt habt, Miß, paßt die seitherige Geschichte auf Euren bedauerten Vater; jetzt aber kommt der Unterschied. Wenn Euer Vater nicht gestorben wäre, als er – Ihr müßt nicht erschrecken. Warum fahrt Ihr so zusammen?«

Sie war wirklich zusammengefahren und faßte jetzt seinen Arm mit ihren beiden Händen.

»Ich bitte«, fuhr Mr. Lorry in beschwichtigendem Ton fort, indem er seine Linke von der Stuhllehne entfernte, um sie auf die flehenden Finger zu legen, die mit so heftigem Zittern seinen Arm umfaßt hielten – »ich bitte, bekämpft Eure Aufregung – eine Geschäftssache. Ich wollte sagen –«

Ihr Blick brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er innehielt, eine Abschweifung versuchte und dann von neuem anhub.

»Ich wollte sagen – wenn Monsieur Manette nicht gestorben, sondern nur plötzlich in aller Stille verschwunden und nach irgendeinem schrecklichen Platze entrückt worden wäre, den man wohl erraten, aber nicht ermitteln konnte; wenn er einen Feind gehabt hätte in einem Landsmann, dem ein Vorrecht zu Gebot stand, von dem zu meiner Zeit auch die kecksten Männer dort über dem Wasser drüben nur mit Flüstern sprachen – die Befugnis zum Beispiel, Förmlichkeiten auszufüllen, die irgend jemand für beliebige Zeit dem Vergessenwerden in einem Gefängnis überantworteten: wenn seine Gattin um Kunde von ihm sich vor König und Königin, Hof und Geistlichkeit in den Staub geworfen hätte, aber alles vergeblich – dann wäre die Geschichte Eures Vaters auch die jenes unglücklichen Mannes, des Doktor von Beauvais gewesen.«

»Ich bitte Euch flehentlich, mir alles zu sagen, Sir.«

»Es soll geschehen. Ich bin im Begriff. Könnt Ihr es ertragen?«

»Ich kann alles ertragen, nur nicht die Ungewißheit, in der Ihr mich schweben laßt.«

»Ihr sprecht gefaßt, und Ihr seid es wohl auch. Recht so.« Freilich schien er innerlich weniger befriedigt zu sein, als seine Worte ausdrückten. »Eine Geschäftssache. Betrachtet es als ein Geschäft, das abgetan werden muß. Wohlan, wenn die Frau dieses Doktors trotz ihres hohen Geistes und Mutes um dieses Umstandes willen so sehr gelitten hätte, daß sie noch vor der Geburt ihres Kindes« –

»Dieses Kind war eine Tochter, Sir.«

»Eine Tochter. Eine – eine – Geschäftsache – laßt Euch nicht beunruhigen, Miß. Wenn die arme Dame so furchtbar gelitten hätte, daß sie vor der Geburt ihres Kindes den Entschluß faßte, dem armen Wesen die Teilnahme an ihren eigenen Qualen zu ersparen, indem sie es in dem Glauben erzog, daß sein Vater tot sei – – Nein, kniet nicht nieder. Um Himmels willen, warum kniet Ihr denn vor mir?«

»Die Wahrheit. O mein lieber, guter, mitleidiger Herr, die Wahrheit!«

»Eine – eine Geschäftsache. Ihr bringt mich in Verwirrung, und wie kann ich ein Geschäft bereinigen, wenn mein Kopf nicht klar ist? Wir müssen uns zusammennehmen. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, mir zum Beispiel zu sagen, was neunmal neun Pence ausmacht, oder wie viele Schillinge man zu zwanzig Guineen braucht. Das wäre schon ermutigender und würde mich über den Zustand Eures Geistes beruhigen.«

Er führte sie sanft nach ihrem Stuhl; hier blieb sie, ohne auf seine Berufung unmittelbar zu antworten, so ruhig sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, zeigten gegen früher eine so augenfällig erhöhte Stetigkeit, daß er wieder ein Herz faßte.

»Recht so, recht so. Nur Mut. Geschäft – es handelt sich um ein Geschäft, um ein belangreiches Geschäft. Miß Manette, Eure Mutter hat es in der angeregten Weise mit Euch gehalten. Und als sie starb – ich glaube an gebrochenem Herzen, weil sie nie in dem fruchtlosen Forschen nach Eurem Vater innehielt –, konnte die von ihr zurückgelassene Waise zu einem blühend schönen, glücklichen Wesen heranwachsen, ohne daß die schwere Wolke der Ungewißheit, ob sich die Kräfte Eures Vaters im Kerker früh verzehrten oder eine Reihe von Jahren hinsiechten, Euer Dasein trübte.«

Während er diese Worte sprach, blickte er mit mitleidsvoller Bewunderung auf das wallende Goldhaar nieder, als komme es ihm vor, daß es sich bereits mit Grau zu mengen beginne.

»Ihr wißt, daß Eure Eltern kein großes Vermögen besaßen, und daß es Eurer Mutter und Euch gesichert worden ist. Etwas Neues, Gold oder sonstiges Eigentum betreffend, kann ich Euch also nicht mitteilen, wohl aber die Kunde –«

Er fühlte einen festeren Druck an seinem Handgelenk und hielt darum inne. Der Zug auf ihrer Stirn, der ihm schon so sehr aufgefallen war, hatte den Ausdruck des Schmerzes und Schreckens angenommen.

»Daß er – daß er aufgefunden worden ist. Er lebt. Daß er sich sehr verändert hat, ist freilich nur allzu wahrscheinlich; möglich, daß wir nur noch eine Ruine in ihm finden: doch wollen wir das Beste hoffen. Er lebt noch. Man hat Euren Vater nach dem Haus eines alten Dieners in Paris gebracht, und wir sind auf dem Wege zu ihm – ich, um seine Identität zu bestätigen, wenn ich kann. Ihr, um ihm durch Liebe und Kindesdienst das Leben ruhig und behaglich zu machen.«

Ein Schauder überströmte ihren Körper und ging von ihr aus auf ihn über. Vernehmlich zwar, aber mit leiser und angstvoller Stimme, als rede sie im Traum, sprach sie:

»Ich gehe hin, um seinen Geist zu sehen! Es wird sein Geist sein, nicht er.«

Mr. Lorry rieb ruhig die Hände, die seinen Arm festhielten.

»So, so. Jetzt wär‘ es heraus. Von dem Besten und dem Schlimmsten seid Ihr nunmehr unterrichtet. Ihr befindet Euch auf dem Weg zu dem armen, schwer mißhandelten Herrn; noch eine schöne Seereise und eine schöne Landreise, und Ihr werdet an seiner Seite sein.«

In demselben Ton, aber noch gedämpfter, fuhr sie fort:

»Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen; und doch ist mir sein Geist nie nahe gekommen.«

»Noch eines«, sagte Mr. Lorry mit Nachdruck, als sehe er darin das beste Mittel, Aufmerksamkeit zu erzwingen; »er ist unter einem andern Namen aufgefunden worden. Sein eigener wurde entweder seitdem stets verheimlicht oder vergessen. Es wäre schlimmer als nutzlos, darüber Nachforschungen anzustellen – schlimmer als nutzlos, ausfindig machen zu wollen, ob er diese lange Reihe von Jahren übersehen oder absichtlich gefangen gehalten wurde. Solche Nachforschungen würden jetzt zu nichts Gutem führen, sondern im Gegenteil gefährlich werden. Besser, man schweigt ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mich meine Nationalität sicherstellt, und Tellsons nehmen sich in acht, trotz ihrer Bedeutung für den französischen Kredit. Ich trage keinen Fetzen Papier bei mir, der eine offene Beziehung darauf hätte. Es handelt sich ganz und gar um ein Dienstgeheimnis. Meine Beglaubigungs-, Einführungs- und Empfehlungsbriefe beschränken sich auf die paar Worte: ›Ins Leben zurückgerufen‹, und man kann unter ihnen alles verstehen. Doch was ist das? Sie hört mich nicht! Miß Manette!«

Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz des Zustandes von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet: auch schien der vorerwähnte Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.

Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie selbst bis auf die Haare ganz rot aussah, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage seines Gebanntseins an die arme junge Dame damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, demzufolge er gegen die nächste Wand flog.

»Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein«, dachte der atemlose Mr. Lorry in seinem Innern, als er den Widerstand der Mauer fühlte.

»Was soll eure Gafferei da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht her, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Gebt acht, ich mach‘ euch Beine, wenn nicht rasch Riechsalz, kalt Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird’s bald?«

Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, nur die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr »Schätzchen«, ihr »Vögelchen« und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldne Haar aus dem Antlitz der Patientin gegen die Schultern zurück.

»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen, blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben es alle Bankiers so?«

Mr. Lorry war von dieser schwer zu beantwortenden Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit viel schwächerer Sympathie und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes wissen zu lassen, wenn sie gaffend stehenbleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.

»Ich hoffe, es macht sich jetzt bei ihr«, sagte Mr. Lorry.

»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. Mein Herzkäferchen.«

»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause schwacher Sympathie und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet?«

»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die entschiedene Frau. »Wenn es mir je beschieden gewesen wäre, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung hätte mir dann meine Bestimmung auf meiner Insel angewiesen?«

Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, weshalb Mr. Jarvis Lorry sich zurückzog, um darüber nachzudenken.

Achtes Kapitel. Eine Handvoll Karten.


Achtes Kapitel. Eine Handvoll Karten.

Ohne eine Ahnung von dem neuen Unglück zu haben, verfolgte Miß Proß ihren Weg durch die engen Gassen, ging auf dem Pont neuf über den Fluß und berechnete im Geiste, welche Einkäufe sie notwendig zu machen habe. Mr. Cruncher ging mit dem Korbe neben ihr her. Beide schauten rechts und links in die meisten Läden hinein, an denen sie vorbeikamen, hatten ein wachsames Auge auf alle Volkszusammenläufe und machten sich seitab, sooft sie eine aufgeregte Gruppe von Sprechenden bemerkten. Es war ein rauher Abend, und der nebelige Fluß zeigte durch die flackernden Lichter und sein unheimliches Getöse an, wo die Barken lagen, in denen die Schmiede Waffen anfertigten für die Armee der Republik. Wehe dem Mann, der dieser Armee einen Possen spielte oder unverdient in ihr befördert wurde! Besser für ihn, sein Bart wäre nie gewachsen, denn das Nationalrasiermesser schor gar scharf.

Nachdem Miß Proß einige Toiletteartikel und ein Kännchen Öl für die Lampe eingekauft hatte, dachte sie an den Wein, den man nötig hatte. Sie sah durch die Scheiben mehrerer Weinstuben hinein und machte endlich bei dem Zeichen des wackeren republikanischen Brutus des Altertums nicht weit von dem Nationalpalast, vormals den Tuilerien, halt, weil hier das Aussehen der Dinge ihrem Geschmack besser zusagte. Das Haus nahm sich ruhiger aus als die andern, an denen sie vorbeigekommen war. Es gab darin wohl auch rote Mützen, aber doch nicht so gar viele. Nachdem sie Mr. Cruncher um seine Meinung ausgeholt hatte, trat sie, von ihrem Knappen begleitet, bei dem wackeren republikanischen Brutus des Altertums ein.

Die beiden ausländischen Kunden achteten wenig auf die qualmenden Lichter, auf die Leute, die rauchend mit zerknitterten Karten und gelben Dominosteinen spielten, auf den nacktarmigen rußigen Arbeiter mit der offenen Brust, der den andern eine Zeitung vorlas, auf die Waffen, die die Männer bei sich führten oder zu rascher Wiederaufnahme beiseite gestellt hatten, auf die zwei oder drei Kunden, die, den Kopf auf die Arme gelegt, schliefen und in den beliebten hochschulterigen zottigen schwarzen Spenzern sich wie schlummernde Bären oder Hunde ausnahmen wie gesagt, sie achteten wenig auf die Anwesenden, sondern näherten sich einfach dem Schenktische und deuteten durch Zeichen an, was sie wünschten.

Während man ihnen den Wein zumaß, verabschiedete sich ein Mann von einem anderen in der Ecke und stand auf, um fortzugehen. Er kam dabei an Miß Proß vorbei. Als diese seiner ansichtig wurde, stieß sie einen Schrei aus und schlug die Hände zusammen.

Im Nu war die ganze Gesellschaft auf den Beinen. Es gehörte zu den alltäglichen Vorkommnissen, daß jemand in Verteidigung einer Meinung von einem andern niedergestochen wurde, und so wollte jeder sehen, ob nicht eben einer gefallen sei; aber die Neugierigen bemerkten nichts als einen Mann und eine Weibsperson, die einander mit großen Augen ansahen, der erstere dem Äußeren nach ein Franzose und eingefleischter Republikaner, die letztere augenscheinlich eine Engländerin.

Was die Jünger des wackeren republikanischen Brutus bei einer so bitter getäuschten Erwartung sprachen, war wohl recht zungenfertig und laut, hätte aber für Miß Proß und ihren Beschützer, und wenn sie ganz Ohr gewesen wären, ebensogut hebräisch oder chaldäisch sein können. In ihrer Überraschung hörten sie jedoch nichts; denn wir müssen bemerken, daß nicht nur Miß Proß in einen Zustand großer Aufregung und Verwunderung geraten war, sondern auch Mr. Cruncher für eigene Rechnung vor Staunen sich kaum zu fassen wußte.

»Was gibt’s denn?« fragte der Mann, der Miß Proß zu ihrem Aufschrei Anlaß gegeben hatte, halblaut in ärgerlichem Ton, aber auf englisch.

»Oh, Salomon, lieber Salomon!« rief Miß Proß, ihre Hände wieder zusammenschlagend. »Nachdem ich dich so lange mit keinem Auge mehr gesehen und kein Sterbenswörtchen von dir gehört habe, muß ich dich hier wiederfinden!«

»Nenne mich nicht Salomon. Willst du mich ans Messer liefern?« entgegnete der Mann in furchtsamer, verstohlener Weise.

»Bruder! Bruder!« rief Miß Proß in Tränen ausbrechend, »bin ich je hart gegen dich gewesen, daß du eine so grausame Frage an mich stellen kannst?«

»Dann halt dein vorlautes Maul«, sagte Salomon, »und komm mit hinaus, wenn du mit mir sprechen willst. Zahle deinen Wein und komm. Wer ist dieser Mann?«

Die liebevolle Miß Proß schüttelte bekümmert den Kopf gegen ihren keineswegs zärtlichen Bruder und antwortete, während ihr Tränen im Auge standen:

»Mr. Cruncher.«

»Er soll auch mitkommen«, sagte Salomon. »Sieht er mich für einen Geist an?«

Mr. Cruncher hatte in der Tat ganz das Aussehen eines von einem Gespenst verschüchterten Mannes. Er sprach jedoch kein Wort, und Miß Proß, die durch ihre Tränen nur mit Mühe den Inhalt ihrer Tasche unterschied, zahlte den Wein. Während dies geschah, wandte sich Salomon zu den Verehrern des wackern republikanischen Brutus des Altertums und richtete in französischer Sprache einige Worte der Erklärung an sie, worauf sie an ihre Plätze und zu ihrem früheren Treiben wieder zurückkehrten.

»Nun«, sagte Salomon, an der dunkeln Straßenecke haltmachend, »was willst du?«

»Wie schrecklich herzlos von einem Bruder, an dem ich immer mit so viel Liebe gehangen habe«, rief Miß Proß, »daß er mich so begrüßt und mir auch keine Spur von Anhänglichkeit zeigt.«

»Da! Zum Henker auch! Da!« sagte Salomon, mit seinen Lippen gegen die seiner Schwester hinfahrend. »Bist du jetzt zufrieden?«

Miß Proß schüttelte nun den Kopf und weinte still fort.

»Wenn du erwartest, daß ich überrascht sein soll«, fügte ihr Bruder bei, »so bist du im Irrtum. Deine Anwesenheit war mir nicht unbekannt; ich kenne die meisten Leute, die hier sind. Wenn du wirklich nicht die Absicht hast, mein Leben in Gefahr zu bringen und ich traue dir nur halb , so geh‘ so bald wie möglich deiner Wege und laß mich die meinigen gehen. Ich habe zu tun. Ich stehe in öffentlichem Dienst.«

»Ach, mein Bruder Salomon«, rief Miß Proß in kläglichem Ton, indem sie die tränenfeuchten Augen zu ihm aufschlug, »ein Engländer, der das Zeug in sich hatte, einer der besten und größten Männer seines Vaterlandes zu werden, im Dienst der Ausländer und solcher Ausländer. Ich wollte fast lieber, ich hätte ihn als unschuldigen Knaben m seinem «

»Es ist so, wie ich sagte«, unterbrach sie ihr Bruder. »Ich wußte es wohl; sie will mich im Grabe haben. Meine eigene Schwester wird mich unter die Verdächtigen bringen, während ich eben im Begriff bin, vorwärtszukommen.«

»Das wolle der gnädige und barmherzige Himmel verhüten!« rief Miß Proß. »Weit lieber will ich dich in meinem ganzen Leben nicht wiedersehen, mein teurer Salomon, obgleich ich stets mit ganzer Seele an dir gehangen habe. Sage mir nur ein einziges liebevolles Wort; sage mir, daß du mir nicht zürnst, mir nicht fremd sein wolltest, und ich werde dich nicht länger aufhalten.«

Die gute Miß Proß! Als ob die Schuld der Entfremdung ihr zur Last gefallen wäre! Hatte doch Mr. Lorry schon vor Jahren in der stillen Ecke von Soho gewußt, daß dieser feine Herr Bruder ihr Geld durchgebracht und sie verlassen hatte.

Er war aber im Begriff, das ersehnte liebevolle Wort mit weit mehr brummender Herablassung und Gönnerschaft auszusprechen, als er hätte an den Tag legen können, wenn ihre wechselseitigen Verhältnisse die umgekehrten gewesen wären es pflegt ja gemeiniglich durch die ganze Welt so zu ergehen; da berührte ihn Mr. Cruncher an der Schulter und störte ihn unerwartet in seiner heiseren Stimme mit der auffallenden Anrede:

»Darf ich so frei sein, mir eine Frage zu erlauben? Heißt Ihr John Salomon oder Salomon John?«

Der öffentliche Diener wandte sich mit plötzlichem Mißtrauen gegen ihn. Jerry hatte bisher kein Wort verlauten lassen.

»Na, nur heraus mit der Farbe«, fuhr Mr. Cruncher fort. »John Salomon oder Salomon John? Sie hat Euch Salomon genannt, und da sie Eure Schwester ist, muß sie wohl wissen, wie Ihr heißt. Und ich kenne Euch als John. Welches ist der Vorname? Und wie steht’s mit dem Namen Proß? Über dem Wasser drüben war dies nicht der Eurige.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Hm, das weiß ich selbst nicht, denn ich kann mich nicht mehr erinnern, wie Ihr über dem Wasser drüben geheißen habt.«

»Nicht?«

»Nein. Aber ich wollte drauf schwören, es war ein zweisilbiger Name.«

»Was Ihr nicht alles wißt!«

»Ja. Der andere hatte einen einsilbigen. Ich kenn‘ Euch wohl. Ihr wart ein Spionenzeuge in der Bailey. Im Namen des Vaters der Lügen und des Eurigen zugleich, wie habt Ihr Euch doch damals genannt?«

»Barsad«, fiel plötzlich eine andere Stimme ein.

»Donnerwetter noch einmal, ja, der ist’s!« rief Jerry.

Der Sprecher, der sich so unverhofft in die Unterhaltung mischte, war Sydney Carton. Er hatte die Hände unter den Schößen seines Reitkleids und stand so nachlässig an Mr. Crunchers Seite, als befände er sich wieder in Old Bailey.

»Erschreckt nicht, meine liebe Miß Proß. Ich bin gestern abend bei Mr. Lorry zu dessen großem Erstaunen angekommen, und wir haben uns dahin verständigt, daß ich mich nirgends zeigen solle, bis alles in Ordnung sei oder ich mich irgendwie nützlich machen könne. Nun bin ich aber ausgegangen, um mir eine kleine Rücksprache mit Eurem Bruder zu erbitten. Ich wollte, Euer Bruder hätte einen besseren Dienst als dieser Mr. Barsad, der zu den Gefängnisschafen gehört.«

Mit diesem Kunstausdrucke pflegte man damals die Spione unter den Gefangenwärtern zu bezeichnen. Barsad wurde blaß und immer blässer und fragte ihn, »wie er sich unterstehen könne«

»Das will ich Euch sagen«, versetzte Sydney. »Ich sah Euch etwa vor einer Stunde aus dem Conciergeriegefängnis herauskommen, wie ich eben die Mauern dieses Baues betrachtete. Ihr besitzt ein Gesicht, Mr. Barsad, das man nicht so leicht vergißt, und ich habe ein gutes Gedächtnis für Physiognomien. Eure Anwesenheit an einem solchen Platz erregte meine Neugierde, und ich folgte Euch, weil ich Euch aus einem Euch wohlbekannten Grunde mit der traurigen Lage eines Freundes in Verbindung brachte, der jetzt sehr unglücklich ist. Ich bin Euch in das Weinhaus nachgegangen und saß in Eurer Nähe. Aus Eurem rückhaltlosen Gespräch und aus dem Geruch, in dem Ihr bei Euren Bewunderern steht, konnte ich mir leicht die Art Eures Berufes klarmachen. Und so bildete sich, was ich aufs Geratewohl begann, allmählich zu einem Plan aus, Mr. Barsad.«

»Zu was für einem Plane?« fragte der Spion.

»Es wäre beschwerlich und wohl auch gefährlich, ihn auf der Straße auseinanderzusetzen. Wolltet Ihr mir wohl den Gefallen erweisen, mir im Vertrauen auf einige Minuten Eure Gesellschaft zu widmen in dem Bureau von Tellsons Bank zum Beispiel?«

»Unter Bedrohung?«

»Oh, ich habe etwas der Art gesagt?«

»Wenn nicht, warum sollte ich Euch dahin folgen?«

»In der Tat, Mr. Barsad, wenn Ihr’s nicht selbst wißt, so kann ich’s Euch nicht sagen.«

»Soll dies soviel heißen, als Ihr wollt es nicht sagen?« fragte der Spion unschlüssig.

»Ihr habt mich vollkommen verstanden, Mr. Barsad. Ja.«

Cartons gleichgültiges nachlässiges Wesen kam seinem Scharfsinn und seiner Geschicklichkeit in Behandlung des Anliegens, auf das er es heimlich abgehoben hatte, einem solchen Mann gegenüber ungemein zustatten. Sein geübtes Auge erkannte dies, und er machte die Wahrnehmung sich bestens zunutze.

»Hab‘ ich’s nicht gesagt?« bemerkte der Spion mit einem vorwurfsvollen Blick auf seine Schwester. »Wenn ein Unglück dabei herauskommt, so bist du daran schuld.«

»Ei, Ihr müßt nicht undankbar sein, Mr. Barsad«, sagte Sydney. »Hätte ich nicht so große Achtung vor Eurer Schwester, so wär’s vielleicht nicht auf so gütlichem Wege zu dem kleinen Vorschlag gekommen, den ich Euch zu unserer beiderseitigen Befriedigung zu machen gedenke. Wollt Ihr mit mir nach der Bank kommen?«

»Ich will hören, was Ihr mir zu sagen habt. Ja; ich gehe mit Euch.«

»Zuerst können wir Eurer Schwester ein sicheres Geleit bis an die Ecke ihrer Straße geben. Reicht mir Euren Arm, Miß Proß. Dies ist keine Stadt, in der man zu solcher Zeit Damen ohne Schutz durch die Straßen gehen lassen kann, und da Euer Begleiter Mr. Barsad kennt, so will ich ihn einladen, mit uns zu Mr. Lorry zu kommen. Sind wir fertig? Gut; so wollen wir aufbrechen.«

Miß Proß fühlte bald nachher und erinnerte sich dessen bis an ihr Lebensende, wie in dem Arm, auf den sie sich stützte, eine eherne Festigkeit, und in den Augen, an die sie in stummem Aufschauen die Bitte richtete, daß ja ihrem Salomon nichts Leides geschehen möge, eine Begeisterung lag, die nicht nur im Widerspruch standen mit Cartons anscheinend gleichgültigem Wesen, sondern den ganzen Mann verwandelten und erhoben. Freilich war sie damals viel zu sehr von der Angst um ihren Bruder, der ihre Liebe so wenig verdiente, und von Sydneys freundlichen Versicherungen in Anspruch genommen, als daß sie diese Wahrnehmung in jenem Augenblick gehörig hätte würdigen können.

Sie wurde an der Straßenecke allein gelassen, und Carton ging voran nach Mr. Lorrys Wohnung, die sie nach wenigen Minuten erreichten. John Barsad oder Salomon Proß gingen ihm zur Seite.

Nr. Lorry hatte eben sein Mittagessen beendigt und saß vor einem behaglichen Holzfeuerchen; vielleicht spähte er in der Glut nach jenem jüngeren ältlichen Gentleman von Tellsons, der vor vielen Jahren im Royal George zu Dover gleichfalls in die Kohlen geschaut hatte. Bei ihrem Eintritt drehte er den Kopf gegen sie und war nicht wenig erstaunt, als er eines Fremden ansichtig wurde.

»Der Bruder der Miß Proß, Sir«, sagte Sydney. »Mr. Barsad.«

»Barsad?« wiederholte der alte Herr. »Barsad? Der Name kommt mir bekannt vor und auch das Gesicht.«

»Ich sagte Euch ja. Ihr habt ein auffallendes Gesicht, Mr. Barsad«, bemerkte Carton kalt. »Bitte, nehmt Platz.«

Während er für sich selbst einen Stuhl herbeirückte, versah er Lorry mit dem ihm fehlenden Anknüpfungsglied, indem er mit finsterer Miene sagte:

»Zeuge bei jener Gerichtsverhandlung.«

Mr. Lorry erinnerte sich sogleich und betrachtete den neuen Gast mit der Miene unverhüllten Abscheus.

»Mr. Barsad ist von Miß Proß als der liebevolle Bruder erkannt worden, von dem Ihr schon gehört habt«, sagte Sydney, »und er erhebt keine Einwendung gegen die Verwandtschaft. Um auf eine schlimmere Neuigkeit überzugehen: Darnay ist wieder verhaftet worden.«

»Was Ihr da sagt!« rief der alte Herr in äußerster Bestürzung. »Ich habe ihn doch erst vor zwei Stunden frei und in Sicherheit verlassen und bin eben im Begriff, wieder zu ihm zurückzukehren.«

»Gleichwohl verhaftet. Wann geschah es, Mr. Barsad?«

»Wenn überhaupt, so muß es eben erst geschehen sein.«

»Mr. Barsad kann die allerbeste Auskunft geben, Sir«, sagte Sydney, »und ich erfuhr aus einer Mitteilung, die er vertraulich einem Freunde und Kollegen bei der Flasche machte, daß die Verhaftung stattgefunden hat. Er verließ die Sendlinge am Tor, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie von dem Pförtner eingelassen worden waren. Es kann keinem Erdenzweifel unterliegen, daß er wieder festgenommen worden ist.«

Mr. Lorrys Geschäftsauge las in dem Gesicht des Sprechers, daß es verlorene Zeit wäre, bei diesem Punkt zu verbleiben. Verwirrt, aber doch in dem Bewußtsein, daß vielleicht seine Geistesgegenwart in Anspruch genommen werden dürfte, suchte er sich zu fassen und hörte in stummer Aufmerksamkeit zu.

»Ich will zwar hoffen«, fuhr Sydney fort, »daß ihm der Name und der Einfluß des Doktor Manette morgen ebensogut zustatten kommen wird – Ihr sagtet, er werde morgen wieder vor Gericht gestellt werden, Mr. Barsad?«

»Ja, ich glaube so.« »Daß er ihm morgen ebensogut zustatten kommen wird wie heute. Aber vielleicht ist es auch nicht der Fall. Ich gestehe, Mr. Lorry, daß mein Glaube schwach ist, sofern es nicht in Doktor Manettes Gewalt gelegen hat, diese Verhaftung zu verhindern.«

»Er hat vielleicht nicht gewußt, was im Werk war«, sagte Mr. Lorry.

»Schon dies ist ein sehr beunruhigender Umstand, wenn man bedenkt, wie er nur für seinen Schwiegersohn lebt und webt.«

»Das ist wahr«, räumte Nr. Lorry ein, die zitternde Hand nach dem Kinn führend, während er einen angstvollen Blick auf Carton heftete.

»Kurz«, sagte Sydney, »wir leben in einer verzweifelten Zeit, in der man um verzweifelte Einsätze ein verzweifeltes Spiel spielt. Mag der Doktor seine Rechnung aufs Gewinnen machen; ich will aufs Verspielen halten. Ein Menschenleben ist hier nichts wert. Man kann heute vom Volke im Triumph heimgetragen und morgen zum Tode verurteilt werden. Wohlan, der Einsatz, um den ich im schlimmsten Falle zu spielen im Sinn habe, ist ein Freund in der Conciergerie. Den will ich gewinnen, und der Freund ist Mr. Barsad.«

»Dann müßt Ihr gute Karten haben, Sir«, sagte der Spion.

»Ich will mir sie betrachten will sehen, was ich in der Hand habe. Mr. Lorry, Ihr wißt, was ich für ein ordinärer Kerl bin; wenn Ihr mir nur ein bißchen Branntwein geben wolltet.«

Das Gewünschte wurde ihm vorgesetzt, und er trank ein Glas voll trank ein zweites und schob die Flasche gedankenvoll zurück.

»Mr. Barsad«, fuhr er in dem Tone eines Menschen fort, der wirklich eine Hand voll Karten überschaut, »Gefängnisschaf, Emissär der republikanischen Komitees, bald Gefängniswärter, bald Gefangener, stets aber Spion und geheimer Angeber, hier um so wertvoller, weil er als Engländer bei seinen Eigenschaften weniger dem Verdacht gedungener Zwischenträgerei ausgesetzt ist, stellt sich seinen Auftraggebern unter einem fremden Namen vor. Dies ist eine sehr gute Karte. Mr. Barsad, jetzt im Solde der republikanischen französischen Regierung, diente früher der aristokratischen englischen Negierung, den Feinden Frankreichs und der Freiheit. Dies ist eine vortreffliche Karte. Es folgt daraus in diesem Lande des Argwohns so klar wie der Tag, Mr. Barsad stehe noch immer im Sold der englischen Regierung; er sei ein Spion Pitts, ein verräterischer Feind, den die Republik an ihrem Busen nährt, der englische Verräter und der Vollbringer all jenes Unheils, von dem man so viel spricht und so wenig zu sehen bekommt. Dies ist eine Karte, die sich nicht stechen lassen wird. Seid Ihr mir gefolgt, Mr. Barsad?«

»Nicht so, um Euer Spiel zu verstehen«, versetzte der Spion etwas unruhig.

»Ich spiele mein As Denunziation des Mr. Barsad an das nächste Sektionskomitee. Betrachtet Euer Spiel, Mr. Barsad, und seht, was Ihr in der Hand habt. Laßt Euch Zeit dazu.«

Er zog die Flasche wieder heran, füllte sich abermals ein Glas und trank es au«. Der Spion sah angstvoll zu, weil er fürchtete, Mr. Carton könnte sich in einen Zustand hineintrinken, der ihn mit seiner Drohung plötzlich Ernst machen ließe. Der andere merkte dies, schenkte sich wieder ein und trank nochmal ein Glas.

»Betrachtet Euch bedächtig Eure Karten, Mr. Barsad. Ihr braucht Euch nicht zu übereilen.«

Barsads Spiel stand schlechter, als sich vermuten ließ. Er hatte Verlierkarten in der Hand, von denen Sydney Carton nichts ahnte. Nachdem er in England, nicht weil er entbehrlich geworden war (denn das englische Großtun mit Erhabensein über Spionage und Heimlichkeit ist von sehr neuem Datum), sondern wegen zu vieler erfolgloser Meineide seinen ehrenhaften Posten verloren hatte, war er über den Kanal gegangen und hatte in Frankreich Dienste genommen, anfangs als Aufhetzer und Lauscher unter seinen Landsleuten, mit der Zeit aber auch als Anstifter und Spion unter den Franzosen. Er wußte, daß er unter der gestürzten Regierung in Saint Antoine und Defarges Weinhaus sich als geheimer Agent umhergetrieben hatte, daß er von der wachsamen Polizei über alle Hauptpunkte von Doktor Manettes Verhaftung, Befreiung und Geschichte unterrichtet worden, um sich familiär bei den Defarges einführen zu können, daß er bei Madame Defarge damit anzukommen versucht und daß er bei dieser Gelegenheit einen bedeutenden Durchfall erlitten hatte. Auch erinnerte er sich stets mit Furcht und Zittern, daß jenes schreckliche Weib strickte, als er mit ihr sprach, und daß sie, während ihre Finger eifrig fortfuhren, unheimliche Blicke nach ihm hinschiessen ließ. Er hatte sie seitdem oft und vielmal gesehen, wie sie in der Sektion von Saint Antoine ihre gestrickten Register hervorzog und Leute anzeigte, deren Leben dann sicher der Guillotine verfallen war. Wie jeder in Diensten nach Art der seinigen konnte er sich keinen Augenblick sicher fühlen; er wußte, daß er an eine Flucht nicht denken durfte, daß er unter dem Schatten des Fallbeils festgebunden war und daß trotz des schnöden Eifers, mit dem er die Herrschaft des Schreckens zu fördern sich mühte, ein Wort ihn niederwerfen konnte. Einmal angeklagt, und zwar auf so ernste Punkte hin, wie sie ihm eben vorgehalten worden waren, sah er voraus, daß jenes schreckliche Weib, von deren unversöhnlichem Charakter er so viele Proben hatte, das verhängnisvolle Register gegen ihn hervorziehen und damit seine letzte Aussicht vernichten werde. Abgesehen davon, daß Spione stets in Angst leben, waren hier in der Tat genug Fehlkarten, um ihrem Inhaber bei ihrer Musterung das Gesicht leichenfahl zu färben.

»Eure Karten scheinen Euch nicht recht zu gefallen«, sagte Sydney mit der größten Fassung. »Spielt Ihr?«

»Ich denke, Sir«, versetzte der Spion, mit kecker Gemeinheit sich an Mr. Lorry wendend, »ich darf wohl an einen Gentleman von Euren Jahren und Eurem wohlwollenden Charakter die Bitte richten, daß Ihr diesem andern Gentleman, der um so viel jünger ist, vorstellen mögt, wie wenig es sich jedenfalls mit seiner Ehre verträgt, das besprochene As auszuspielen. Ich gebe zu, daß ich ein Spion bin und daß diese Stellung als eine verächtliche angesehen wird; aber man braucht Leute, die sich dazu hergeben. Dieser Gentleman dagegen ist kein Spion. Warum will er sich also so sehr wegwerfen, um den Dienst eines solchen zu verrichten?«

»Ich spiele ohne Bedenken mein As aus, Mr. Barsad«, ergriff Carton das Wort, indem er auf seine Uhr sah, »und zwar schon nach einigen Minuten.«

»Ich hätte gehofft, meine Herren«, sagte der Spion, der stetig bemüht war, Mr. Lorry in das Gespräch zu ziehen, »daß eure Achtung gegen meine Schwester «

»Meine Achtung gegen Eure Schwester kann ich am besten damit betätigen, daß ich sie für alle Zeiten von ihrem Bruder befreie«, sagte Sydney Carton.

»Das ist Euch doch nicht Ernst, Sir?«

»Ich bin fest entschlossen.«

Das geschmeidige Wesen des Spions, das in so merkwürdigem Widerspruch zu dem zur Schau gestellten groben Anzug und wahrscheinlich auch zu seinem gewöhnlichen Benehmen stand, erlitt durch die Unergründlichkeit Cartons, die wohl auch weiseren und ehrlicheren Leuten, als er war, geheimnisvoll imponieren konnte, einen solchen Stoß, daß es ihn nachgerade im Stiche ließ. Während er verlegen dastand, nahm Carton in dem alten Ton des Kartenbetrachtens die Rede wieder auf:

»Und in der Tat, wenn ich’s recht überlege, so kommt es mir vor, als habe ich da eine weitere Karte, die noch nicht aufgezählt ist. Jener Freund, jenes Gefängnisschaf, das sich damit brüstete, daß er in den Kerkern des Landes seine Weide finde wer war das?«

»Ein Franzose. Ihr kennt ihn nicht«, versetzte der Spion hastig.

»Was, ein Franzose?« entgegnete Carton nachdenklich und dem Anscheine nach kaum auf den Sprecher achtend, obschon er dessen Wort wiederholt hatte. »Na, mag sein.«

»Ich versichere Euch, es ist so«, bekräftigte der Spion, »obschon die Sache von keinem Belang ist.«

»Obschon sie von keinem Belang ist«, sagte Carton in derselben mechanischen Weise »obschon sie von keinem Belang ist. Nein; es liegt nichts daran. Nein. Und doch ist mir das Gesicht bekannt.«

»Ich glaube kaum. Gewiß, Ihr irrt; es kann nicht sein«, versetzte der Spion.

»Es kann nicht sein«, murmelte Sydney Carton, indem er seinem Gedächtnis durch ein frisches Glas, das zum Glück nicht groß war, nachzuhelfen suchte. »Kann nicht sein. Sprach gut französisch. Aber wie ein Ausländer, meinte ich?«

»Aus der Provinz«, sagte der Spion.

»Nein. Ausländer!« rief Carton, mit der offenen Hand auf den Tisch schlagend, denn es war ihm ein Licht aufgegangen. »Cly! Verkleidet zwar, aber kein anderer Mensch. Wir hatten ihn auch in Old Bailey vor uns.«

»Ihr seid zu vorschnell, Sir«, sagte Barsad mit einem Lächeln, das seiner Adlernase eine Extraneigung nach der Seite hin verlieh. »Ihr gebt mir hier in der Tat einen Vorteil über Euch. Ich will gern zugeben, daß vor langer Zeit Cly mit mir arbeitete; aber er ist schon seit mehreren Jahren tot. Ich pflegte ihn während seiner letzten Krankheit, und er wurde in London auf dem Sankt Pancrazekirchhof begraben. Er war damals bei dem schurkischen Pöbel sehr unbeliebt, und dies hinderte mich, seiner Beisetzung anzuwohnen; aber ich habe seine irdischen Überreste in den Sarg legen helfen.«

Mr. Lorry bemerkte jetzt von der Stelle aus, wo er saß, einen höchst merkwürdigen koboldartigen Schatten an der Wand; er verfolgte diesen nach seinem Ursprung und entdeckte, daß er von einem plötzlichen außerordentlichen Sträuben und Sichborsten all des struppigen und steifen Haares auf Mr. Crunchers Kopf herrührte.

»Laßt uns vernünftig sein und ein ehrliches Spiel spielen«, sagte der Spion, »Um Euch zu zeigen, wie sehr Ihr Euch täuscht und wie ungegründet Eure Vermutung ist, sollt Ihr von einer Urkunde über Clys Begräbnis, die ich zufällig seitdem in meinem Taschenbuch bei mir führe, Augenschein nehmen.« Er langte es hastig heraus und öffnete es: »Hier ist sie. Da, überzeugt Euch. Ihr könnt sie in die Hand nehmen; es ist kein gefälschtes Papier.«

Mr. Lorry sah jetzt, wie der Schatten an der Wand sich verlängerte und Mr. Cruncher, der sich erhoben hatte, vorwärts trat. Sein Haar hätte nicht borstiger aussehen können, wenn er von dem Dorfochsen selbst frisiert worden wäre.

Ohne von dem Spion bemerkt zu werden, trat Mr. Cruncher an seine Seite und faßte ihn an der Schulter wie ein gespenstischer Polizeidiener.

»Das war also der Roger Cly, Meister«, sagte Mr. Cruncher mit einer finsteren Miene, »und Ihr selbst habt ihm in den Sarg geholfen?«

»Ja.«

»Und wer nahm ihn wieder heraus?«

Barsad lehnte sich in seinem Stuhle zurück und stotterte:

»Was meint Ihr damit?«

»Ich meine, daß er nie drin war«, sagte Mr. Cruncher. »Nein, gewiß nicht. Ich lasse mir den Kopf abhauen, wenn damals der Cly begraben wurde.«

Der Spion sah sich nach den beiden Gentlemen um, die ihrerseits mit unaussprechlichem Staunen nach Jerry hinblickten.

»Ich will Euch sagen«, fuhr Jerry fort, »daß sich in jenem Sarge nur Erde und Pflastersteine befanden. Und Ihr geht her und wollt mir weismachen. Ihr habt den Cly begraben. Der helle Betrug. Ich und noch zwei wissen dies wohl.«

»Wie könnt Ihr dies wissen?«

»Was geht’s Euch an? Zum Donnerwetter«, brummte Mr. Cruncher, »Ihr habt noch etwas gut von mir für Eure schamlose Prellerei an ehrlichen Gewerbsleuten. Soll ich ihn am Kragen packen und tüchtig durchschütteln?«

Sydney, den wie auch Mr. Lorry der Gang der Dinge in großes Staunen versetzte, forderte jetzt Mr. Cruncher auf, sich zu mäßigen und eine Erklärung zu geben.

»Ein andermal, Sir«, versetzte Jerry ausweichend; »die gegenwärtige Zeit ist nicht passend zu Erklärungen. Aber dabei bleib‘ ich, daß er recht gut weiß, es sei nie ein Cly in jenem Sarg gewesen. Wenn er es nur mit einem Wort, mit einer Silbe leugnet, so pack‘ ich ihn am Halse und würg‘ ihn, daß er es gern besser hätte.«

»Hm, so viel ist mir jetzt klar, daß ich noch eine Karte habe, Mr. Barsad«, sagte Carton. »Hier in dem tobenden Strudel von Paris, wo die ganze Luft von Argwohn erfüllt ist, bricht es Euch unfehlbar den Hals, wenn man zur Anzeige bringt, daß Ihr Verkehr unterhaltet mit einem andern aristokratischen Spion und alten Kameraden, an dem noch das Geheimnis haftet, daß er sich begraben ließ und wieder lebendig wurde. Ein Komplott in den Gefängnissen gegen die Republik, von den Ausländern angezettelt. Eine starke Karte eine sichere Guillotinekarte. Spielt Ihr?«

»Nein«, entgegnete der Spion: »ich lege ab. Ich gestehe, wir waren bei dem wütenden Pöbel so verhaßt, daß ich aus England nur fortkam unter Gefahr, zu Tode getaucht zu werden, und daß man Cly in einer Weise auf den Leib rückte, die ihm jedes Entkommen unmöglich machte, wenn er nicht zu dieser Täuschung seine Zuflucht genommen hätte. Wie aber dieser Mensch hinter den Trug kommen konnte, das ist mir rein unbegreiflich.«

»Macht Euch keine Sorge um diesen Menschen«, entgegnete der streitsüchtige Mr. Cruncher; »Ihr werdet genug zu tun haben, wenn Ihr diesem Gentleman Eure Aufmerksamkeit widmet. Und wenn anders das nicht ausreicht, so könnt Ihr immer noch meine Faust zu kosten kriegen.« Mr. Cruncher ließ es sich nicht nehmen, die Freigebigkeit, mit der er den andern zu bedenken Lust hatte, recht prunkhaft zur Schau zu stellen.

Das Gefängnisschaf wandte sich von ihm ab und an Sydney Carton, gegen den er mit mehr Entschiedenheit bemerkte:

»Nachdem wir so weit sind, muß ich Euch erklären, daß ich mit nächstem meinen Dienst anzutreten habe und nicht mehr lange ausbleiben darf. Ihr habt von einem Vorschlag gesprochen; worin besteht er? Es ist nutzlos, zu viel von mir zu verlangen. Wenn Ihr mir zumutet, in meiner dienstlichen Eigenschaft meinen Kopf unter das Beil zu legen, so lass‘ ich’s lieber auf die Folgen einer Weigerung als einer Einwilligung ankommen. Kurz, ich will eine Wahl haben. Ihr sprecht von Verzweiflung. Wir sind hier lauter Verzweifelte. Vergeßt nicht, daß auch ich Euch denunzieren kann, wenn ich es für passend halte; und dann gelingt’s mir vielleicht so gut wie irgendeinem, mir einen Weg durch steinerne Mauern zu schwören. Sprecht, was wollt Ihr von mir?«

»Nicht sehr viel. Ihr seid ein Gefangenenwärter in der Conciergerie?«

»Ich sage Euch ein für allemal, daß eine Flucht nicht in den Bereich des Möglichen gehört«, sagte der Spion mit Festigkeit.

»Wozu braucht Ihr mir etwas zu sagen, wonach ich nicht gefragt habe? Ihr seid ein Schließer in der Conciergerie?«

»Bisweilen.«

»Aber Ihr könnt es sein, wenn Ihr wollt?«

»Ich kann ein- und ausgehen, wie es mir gutdünkt.«

Sydney füllte das Glas wieder mit Branntwein, goß es langsam auf den Herd aus und sah dem Niederträufeln der Flüssigkeit zu. Die Flasche war jetzt leer, und er sagte beim Aufstehen:

»So weit haben wir vor diesen beiden verhandelt, denn ich hielt es für passend, daß nicht bloß wir zwei von der Stärke unserer Karten uns überzeugen möchten. Kommt mit in das dunkle Stübchen hier; wir können da allein das letzte Wort miteinander sprechen.«

Neuntes Kapitel. Das Spiel geordnet.


Neuntes Kapitel. Das Spiel geordnet.

Während Sydney Carton und das Gefängnisschaf im anstoßenden Stübchen sich so leise miteinander besprachen, daß keine Silbe von ihnen gehört wurde, betrachtete Mr. Lorry seinen dienstbaren Landsmann mit der Miene großen Zweifels und Mißtrauens. Die Art, wie der ehrliche Geschäftsgehilfe die Musterung seines Dienstherrn aufnahm, flößte kein Vertrauen ein; er wechselte das Bein, auf dem er stand, so oft, als hätte er fünfzig solche Glieder und wolle alle der Reihe nach probieren; dann betrachtete er mit einer sehr verdächtigen Aufmerksamkeit seine Fingernägel, und sooft sein Blick dem des Mr. Lorry begegnete, wurde er von jenem eigentümlichen kurzen Husten befallen, der des Vorhaltens einer hohlen Hand bedarf und selten oder nie als das Gebreste eines vollkommen offenen Charakters gefunden wird.

»Jerry«, sagte Mr. Lorry. »Kommt einmal her.«

Mr. Cruncher entsprach der Aufforderung seitlings, die eine Schulter voran.

»Was habt Ihr außer dem Ausläuferdienst sonst noch getrieben?«

Nach einigem Besinnen, wobei Mr. Cruncher seinen Schutzherrn bedenklich ansah, kam ihm der lichtvolle Gedanke, zu antworten:

»Ackerbau.«

»Ich fürchte, ich fürchte«, sagte Lorry, streng den Zeigefinger gegen ihn schüttelnd, »daß Ihr das achtbare und große Hau Tellsons nur als Aushängeschild gebraucht und nebenher ein unerlaubtes, schimpfliches Gewerbe betrieben habt. Ist dies der Fall, so wartet nicht, daß wir gute Freunde bleiben, wenn wir nach England zurückkommen. Auch dürft Ihr nicht hoffen, daß ich Euer Geheimnis bewahre. Tellsons dürfen nicht hintergangen werden.«

»Ich hoffe«, bat der beschämte Mr. Cruncher, »daß ein Gentleman wie Ihr, dem ich so allerlei zu besorgen die Ehre hatte, bis ich grau geworden bin, sich zweimal besinnen wird, etwas zu meinem Schaden zu tun, selbst wenn es so wäre ich sage nicht, daß es so ist, sondern nur, wenn es so wäre. Man müßte wohl ins Auge fassen, daß jede Sache ihre zwei Seiten hat. Es gibt vielleicht zur Stunde noch Medizindoktoren, die Guineen einnehmen, wo ein ehrlicher Gewerbsmann sich um Farthinge abmühen muß um Farthinge? nein, es langt noch zu keinen halben, noch zu keinen Viertelfarthingen. Die fegen vorbei wie Rauch bei Tellsons, blinzeln dem Gewerbsmanne mit ihren medizinischen Augen zu und steigen in ihren Equipagen ein und aus ah, wieder wie Rauch. So etwas macht dann sogar bei Tellsons Eindruck. Aber will man die Gans, so muß man auch den Gänserich haben. Und da ist denn Mrs. Cruncher, oder war’s wenigstens in England drüben und wird’s morgen wieder sein, wenn sich Gelegenheit dazu gibt die plumpst hin gegen das Geschäft, daß es ruiniert ist, rein ruiniert. Die Weiber der Medizindokters aber tun das nicht fällt ihnen nicht ein, oder wenn sie’s tun, so plumpsen sie hin um Patienten, und wie kann man das eine haben ohne das andere? Dann sind wieder die Leichenbestatter, die Kirchspielküster, die Privatwächter, lauter habsüchtiges Volk, die sich auch damit zu schaffen machen; was kann ein armer Schelm dabei gewinnen, wenn’s auch so wäre? Was ein geringer Mann da erwirbt, reicht doch nicht weit bei ihm, Mr. Lorry; es tut nicht gut bei ihm, und er möcht‘ wohl wieder aus der Geschichte heraus sein, wenn er nur, einmal drin, einen Ausweg sehen könnte ich meine natürlich, wenn’s so wäre.«

»Pfui!« rief Mr. Lorry, aber gleichwohl in etwas milderer Stimmung, »Euer Anblick ist mir ein Greuel.«

»Na, ich möcht‘ Euch wohl ein bescheidenes Angebot machen, Sir«, fuhr Mr. Cruncher fort, »für den Fall, daß es so wäre, obschon ich’s nicht zugestehe .«

»Keine Verdrehung«, sagte Mr. Lorry.

»Nein, gewiß nicht«, entgegnete Mr. Cruncher, als sei ihm nie etwas Derartiges zu Sinn gekommen »obschon ich’s nicht zugestehe, so möcht‘ ich an Euch ein demütiges Ersuchen stellen. Auf jenem Stuhl dort vor dem Bankhause sitzt mein Junge, dazu erzogen, ein Mann zu werden, der Euch Botengänge tut und Aufträge besorgt, bis er, wenn Ihr’s befehlt, sich die Füße abgelaufen hat. Wenn es so wäre, obschon ich nicht sage, daß es so ist, denn ich will vor Euch nichts verdrehen, Sir so laßt dem Jungen seines Vaters Platz, daß er für seine Mutter sorgen kann. Straft nicht im Sohne den Vater tut dies nicht sondern erlaubt, daß der Vater sich dem Geschäft der regelmäßigen Totengräberei widme und das Ausgraben – von Toten, wenn ers getan hat – wieder gutmache durch freiwilliges Eingraben mit der guten Meinung, sie künftig in Sicherheit zu erhalten. Das ist’s, Mr. Lorry«, sagte Mr. Cruncher, indem er sich die Stirne mit dem Ärmel abwischte zum Zeichen, daß er bei dem Schluß seiner Rede angelangt war, »worum ich Euch achtungsvoll gebeten haben möchte. Du mein Himmel, wenn man sieht, wie schrecklich es hier zugeht und wie das Köpfen kein Ende nimmt, so daß das Geschäft nicht einmal den Trägerlohn einbringt, so kommen einem wohl ernste Gedanken über die Sache. Und so möcht‘ ich, wenn es so wäre. Euch bitten, dessen eingedenk zu sein, was ich eben gesagt habe, und auch nicht zu vergessen, daß ich mit meinem Sprechen einer guten Sache diente, während ich recht wohl hätte schweigen können.«

»In dieser Beziehung wenigstens habt Ihr recht«, sagte Mr. Lorry. »Darum nichts mehr davon. Möglich, daß ich doch Euer guter Freund bleibe, vorausgesetzt, daß Ihr durch die Tat, nicht bloß in Worten Eure Reue an den Tag legt. Des Geschwätzes ist jetzt genug.«

Mr. Cruncher rieb sich eben mit den Knöcheln die Stirne, als Sydney Carton mit dem Spion aus der Nebenstube wieder zurückkam.

»Adieu, Mr. Barsad«, sagte der erstere. »Wenn Ihr es so einrichtet, habt Ihr von mir nichts zu fürchten.«

Er nahm dann, Mr. Lorry gegenüber, seinen Sitz am Herd ein. Sobald sie allein waren, fragte ihn Mr. Lorry, was er ausgerichtet habe.

»Nicht viel«, versetzte Carton. »Doch habe ich mir für den Fall, daß es schlimm gehen sollte, zu dem Gefangenen den Zutritt gesichert.«

Mr. Lorry machte ein langes Gesicht.

»Es ist alles, was ich auswirken konnte«, fuhr Carton fort. »Eine zu große Zumutung würde den Kopf des Mannes unters Beil bringen, und er hat recht, wenn er sagt, daß er bei einer Denunziation nichts Schlimmeres zu erfahren hätte. Seine Lage ist augenscheinlich nur schwach. Da läßt sich nicht helfen.«

»Aber wenn es vor dem Tribunal schlimm ausfällt, so wird ihn dieser Zutritt nicht retten«, sagte Mr. Lorry.

»Ich habe dies auch nicht behauptet.«

Mr. Lorrys Augen senkten sich gegen das Feuer; die Teilnahme für seinen Liebling und der schwere Schlag dieser zweiten Verhaftung hatten sie allmählich geschwächt. Er war jetzt ein alter Mann, erschöpft von den Ängsten der letzten Zeit, und seine Tränen wollten sich nicht mehr zurückhalten lassen.

»Ihr seid ein wackerer Mann und ein treuer Freund«, sagte Carton in verändertem Ton. »Entschuldigt, daß ich von Eurer Bewegung Notiz nehme. Ich könnte nicht gleichgültig dasitzen, wenn ich meinen Vater weinen sähe, und vermöchte Euer Leid nicht mehr zu achten, selbst wenn Ihr mein Vater wäret. Nun, dieses Unglück wenigstens lastet nicht auf Euch.«

Obgleich er die letzteren Worte mit einem Anflug von seinem gewöhnlichen Wesen sprach, so lag doch in seiner ganzen Rede so viel echtes Gefühl und eine solche Ehrerbietung, daß Nr. Lorry, der ihn nie von seiner besseren Seite gekannt hatte, davon betroffen wurde. Er gab ihm die Hand, und Carton drückte sie sanft.

»Um auf den armen Darnay zurückzukommen«, sagte Carton. »Ihr müßt gegen sie nichts von dieser Begegnung und unserer Übereinkunft verlauten lassen, weil sie dann vielleicht nicht imstande wäre, ihn zu besuchen. Sie könnte glauben, es handle sich im schlimmen Fall darum, ihm die Mittel zu liefern, dem Urteilspruch zuvorzukommen.«

Lorry hatte daran nicht gedacht und blickte rasch auf Carton, um zu sehen, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Carton erwiderte den Blick, den er zu verstehen schien.

»Sie könnte auf tausenderlei Gedanken kommen«, fuhr Carton fort, »und damit nur ihren Jammer vergrößern. Sagt ihr daher nichts von mir. Wie ich schon bei meiner Ankunft bemerkte: es ist besser, wenn ich ihr nicht begegne, denn ich kann auch ohnedem ihr die kleine Hilfe leisten, die in meinen Kräften steht. Ihr geht hoffentlich zu ihr? Sie muß heute abend ganz trostlos sein.«

»Ja; ich bin eben im Begriff.«

»Das freut mich. Sie hat eine so große Anhänglichkeit an Euch und erkennt in Euch eine Stütze. Wie sieht sie aus?«

»Bekümmert und unglücklich, aber sehr schön.«

»Ah!«

Es war ein langer schmerzlicher Ton wie ein Seufzer – fast wie ein Schluchzen. Lorry blickte wieder auf Carton, dessen Gesicht dem Feuer zugekehrt war. Ein Licht oder ein Schatten (der alte Gentleman vermochte dies nicht zu unterscheiden) flog so rasch darüber hin, wie an einem wildschönen Tag ein zwischen Wolken hervorbrechender Strahl die Bergwand streift, und er lüpfte den Fuß, um eines der flammenden Scheitchen zurückzuschieben, das niederfallen wollte. Er trug den damals modernen weißen Reitrock und Stulpenstiefel, und der Widerschein des Feuers ließ sein Antlitz unter dem langen, wild niederhängenden braunen Haar ungemein blaß aussehen. Dabei benahm er sich so gleichgültig gegen das Feuer, daß Mr. Lorry es ihm verwies; denn sein Stiefel ruhte noch auf der Glut des brennenden Scheites, nachdem dieses unter dem Gewicht seines Fußes schon zusammengebrochen war.

»Ich vergaß es«, sagte er.

Mr. Lorry blickte wieder in sein Gesicht. Das verstörte Wesen, das die von Natur schönen Züge umwölkte, erinnerte ihn aufs lebhafteste an den Gefangenen, mit dem sein Gast wieder eine merkwürdige Ähnlichkeit hatte.

»Ihr seid jetzt mit Euren Geschäften hier zu Ende?« fragte Carton.

»Ja. Wie ich Euch gestern abend sagte, als Lucie so unverhofft hierherkam, ist endlich alles geschehen, was sich hier tun ließ. Ich hoffte, sie in Sicherheit zurücklassen zu können, wenn ich nach London heimkehre. Mein Paß ist bereits im Hause, und ich war zum Aufbruch vorbereitet.«

Beide schwiegen eine Weile.

»Ihr könnt auf eine schöne Reihe von Jahren zurückschauen?« sagte Carton gedankenvoll.

»Ich stehe im achtundsiebenzigsten.«

»Und seid Euer ganzes Leben über nützlich gewesen, stets beschäftigt, geachtet, ein Mann des Vertrauens?«

»Ich war Geschäftsmann von der Zeit an, daß ich mich als Mann weiß ja, ich könnte fast sagen, von meinen Knabenjahren an.«

»Seht, welch einen Platz Ihr einnehmt im achtundsiebenzigsten. Wie viele Leute werden Euch vermissen, wenn Ihr ihn räumt!«

»Ein unverheirateter alter Mann«, entgegnete Mr. Lorry, den Kopf schüttelnd. »Mir weint niemand nach.«

»Wie mögt Ihr so reden? Wird nicht sie um Euch weinen? Wird es nicht ihr Kind tun?«

»Ja, ja, Gott sei Dank! Ich habe es nicht gerade so gemeint, wie ich es sagte.«

»Das ist wohl eine Sache, für die man Gott dankbar sein darf: meint Ihr nicht?«

»Gewiß, gewiß.«

»Wenn Ihr diesen Abend mit Wahrheit zu Eurem einsamen Herzen sagen müßtet: `Ich habe mir von keinem menschlichen Wesen Liebe und Anhänglichkeit, Dank oder Achtung erworben; ich habe in keinem Herzen Eingang gewonnen und nie etwas Gutes oder Nützliches getan, um dessentwillen man meiner gedenken möchte, meint Ihr nicht, daß Euch dann Eure achtundsiebenzig Jahre achtundsiebenzig schwere Flüche wären?«

»Ihr habt recht, Mr. Carton; ich glaube, sie wären es mir.«

Sydney wandte seine Blicke wieder dem Feuer zu und fuhr nach einer Pause fort:

»Ich möchte Euch noch fragen, ob Euch Eure Kindheit fernab zu liegen scheint. Kommt Euch die Zeit sehr lange vor zwischen heute und jener, als Ihr Euch noch an den Schoß der Mutter anschmiegtet?«

Dieser weicheren Stimmung entsprechend, antwortete Mr. Lorry:

»Vor zwanzig Jahren, ja; aber jetzt nicht mehr. Denn man wandert in einem Kreise, und je näher und näher es dem Ende geht, desto näher und näher rückt man wieder dem Anfang zu. Auf solche Weise wird uns der Weg sanft und eben gemacht. Mein Herz fühlt sich oft bewegt bei Erinnerungen, die lange geschlafen haben; wenn ich zum Beispiel, der ich so alt bin, meiner hübschen jungen Mutter gedenke und mir die Tage vergegenwärtige, in denen das, was wir Welt nennen, nicht so sehr in mir zur Wirklichkeit geworden und meine Fehler nicht so starr mit mir verwachsen waren.«

»Ich verstehe dies Gefühl!« rief Carton, und eine lebhafte Glut überflog sein Antlitz. »Und Ihr empfindet dabei eine sittliche Erhebung?«

»Ich hoffe es.«

Carton brach das Gespräch jetzt ab und stand auf, um dem alten Mann in seinen Mantel zu helfen.

»Aber Ihr«, sagte Mr. Lorry, auf den Gegenstand zurückkommend, »Ihr seid jung.«

»Ja«, versetzte Carton. »Ich bin nicht alt; aber der Weg meiner Jugend war nicht der Weg zum Alter. Genug von mir.«

»Und natürlich von mir auch«, sagte Mr. Lorry. »Wollt Ihr ausgehen?«

»Ich werde Euch bis an ihr Tor begleiten. Ihr kennt meine unstete, unruhige Lebensweise. Laßt es Euch nicht anfechten, wenn ich lange in den Straßen herumstreiche. Ich werde morgen schon wieder zum Vorschein kommen. Geht Ihr morgen in die Gerichtshalle?«

»Ja, leider.«

»Ich werde auch dort sein, aber nur im Gedränge der Zuschauer. Mein Spion wird schon einen Platz für mich auftreiben. Nehmt meinen Arm, Sir.«

Mr. Lorry entsprach der Einladung, und sie gingen miteinander die Treppen hinunter und auf die Straße hinaus. Nach einigen Minuten hatten sie Lorrys Bestimmungsort erreicht. Carton verließ jetzt seinen Begleiter, zögerte aber in einiger Entfernung, kehrte nach dem Torschluß wieder zurück und berührte den Griff.

»Hier ist sie herausgekommen«, sagte er umherschauend, »und diesen Weg hat sie eingeschlagen. Sie muß diese Steine oft betreten haben; ich will ihren Fußstapfen folgen.«

Es war nachts zehn Uhr, als er vor dem Gefängnis La Force an der Stelle stand, wo sie hundertmal gestanden hatte. Ein kleiner Holzspalter, der seinen Schuppen geschlossen hatte, stand rauchend vor seiner Haustür.

»Gute Nacht, Bürger«, sagte Sydney Carton; denn der Mann betrachtete ihn neugierig.

»Gute Nacht, Bürger.«

»Was macht die Republik?«

»Ihr meint die Guillotine? Nie macht’s nicht übel. Dreiundsechzig heute. Wir werden bald zum Hundert aufsteigen. Samson und seine Leute beklagen sich bisweilen über zu viel Arbeit. Ha, ha, ha! Er ist so possierlich, dieser Samson. Welch ein Barbier!«

»Seht Ihr ihn oft «

»Rasieren? Immer. Jeden Tag. Der kann’s. Habt Ihr ihn noch nicht arbeiten sehen?«

»Nein.«

»So geht hin und seht zu, wenn er einen ordentlichen Haufen zu bedienen hat. Macht Euch eine Vorstellung davon, Bürger: er rasierte heute die dreiundsechzig in weniger als zwei Pfeifen. In weniger als zwei Pfeifen auf Ehre.«

Als das grinsende Männlein die Pfeife, die er eben rauchte, ausstreckte, um zu erklären, wie er die Zeit der Hinrichtungen maß, hätte ihn Carton in seiner Entrüstung gerne tot niedergestreckt. Er wandte ihm den Rücken zu.

»Aber Ihr seid kein Engländer, obschon Ihr einen englischen Anzug tragt?« sagte der Holzspalter.

»Doch«, antwortete Carton über seine Schulter zurück.

»Ihr sprecht wie ein Franzose.«

»Ich habe hier studiert.«

»Aha! Ein vollkommener Franzose. Gute Nacht, Engländer.«

»Gute Nacht, Bürger.«

»Aber vergeßt nicht, hinzugehen und den possierlichen Kerl anzusehen«, rief ihm der kleine Mann nach. »Nehmt auch eine Pfeife mit.«

Sobald Sydney ihn aus dem Gesicht verloren hatte, machte er in der Mitte der Straße unter einer flimmernden Laterne halt und schrieb mit dem Bleistift etwas auf einen Papierstreifen. Dann ging er mit dem sicheren Schritte eines Menschen, der seinen Weg gut kennt, durch verschiedene dunkle und schmutzige Gassen sie waren schmutziger als früher, denn selbst die Hauptstraßen blieben in jenen Schreckenstagen ungereinigt und machte vor einem Apothekerladen halt, den der Inhaber eben eigenhändig schließen wollte. Es war ein kleiner, finsterer, winkliger Laden, der in einem krumm und aufwärts verlaufenden Bogengange lag, und die Gestalt des Apothekers stand ganz im Einklang mit seinem Geschäftslokale.

Carton wünschte auch diesem Bürger gute Zeit und legte seinen Papierstreifen auf den Ladentisch.

»Hei!« pfiff der Apotheker leise vor sich hin, als er das Blättchen las. »Hi, hi, hi!«

Sydney Carton achtete nicht darauf. Der Apotheker fragte:

»Für Euch, Bürger?«

»Ja.«

»Ihr werdet aber die Ingredienzien sorgfältig geschieden halten, Bürger? Ihr kennt die Folgen, wenn man sie untereinander bringt?«

»Vollkommen.«

Es wurden einige kleine Pakete gemacht und ihm übergeben. Er steckte eines nach dem andern in die Brusttasche seines inneren Rocks, berichtigte die Forderung des Chemikers und verließ bedächtig den Laden.

»Vor morgen gibt es nichts mehr zu tun«, sagte er, zu dem Mond aufblickend. »Aber ich kann nicht schlafen.«

Diese Worte, die er unter den schnellsegelnden Wolken laut vor sich hin sprach, trugen nicht den Ausdruck eines unbekümmerten oder verdrossenen Wesens, sondern klangen so entschieden, als kämen sie aus dem Munde eines Mannes, der lange irregegangen ist, endlich aber seinen Weg wiedergefunden hat und dessen Ende absieht.

Vor langer Zeit – er zeichnete sich damals noch als hoffnungsvoller Jüngling unter seinen Altersgenossen aus war er seinem Vater zu Grabe gefolgt. Seine Mutter hatte schon einige Jahre früher das Zeitliche gesegnet. Die feierlichen Worte, die bei der Bestattung seines Vaters verlesen wurden, tauchten in seinem Geiste wieder auf, während er, den Mond und die segelnden Wolken hoch über sich, im nächtlichen Schatten die dunkeln Straßen entlang ging. »Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebet und an mich glaubt, wird nimmermehr sterben.«

In einer von dem Beil beherrschten Stadt, in der Einsamkeit der Nacht, bei dem natürlichen Schmerz um die im Laufe des Tages geopferten Leben und bei dem Hinblick auf die in den Gefängnissen schmachtenden Opfer, die morgen, übermorgen und so fort ihr Urteil erwarteten, war die Anknüpfungskette, die jene Worte wie einen rostigen alten Schiffsanker aus der Tiefe herausholte, leicht gefunden. Er hatte sie nicht gesucht, sprach sie aber vor sich hin, als er seiner Wege ging.

Mit einer ernsten Teilnahme für die beleuchteten Fenster, hinter denen Menschen sich zur Ruhe niederlegten, um auf einige Stunden die Schrecken ihrer Umgebung zu vergessen für die Türme der Kirchen, in denen keine Gebete mehr gen Himmel stiegen; denn das Volk war nach dem langen Druck und Trug auch für das Heilige erstorben für die fernen Begräbnisplätze, die, wie die Aufschriften ihrer Tore sagten, nur noch dem ewigen Schlafe dienen sollten für die überfüllten Gefängnisse und für die Straßen, durch die die sechzig einem Tode entgegenfuhren, der so gemein und materiell geworden war, daß aus all dem Arbeiten der Guillotine nicht einmal ein Schauergeschichtchen von einem spukenden Geiste mehr auftauchen mochte kurz, mit einer ernsten, feierlichen Teilnahme für das ganze Leben und Sterben in der Stadt, in deren Wut die Nacht eine kurze Pause machte, ging Sydney Carton wieder über die Seine den helleren Straßen zu.

Es ließen sich nur wenige Kutschen blicken; denn die Benutzung von Kutschen machte verdächtig, und die Vornehmen zogen rote Mützen über ihre Ohren und trabten in groben Schuhen zu Fuß ihrer Wege. Aber die Theater waren gefüllt, und wie er vorbeiging, strömte das Volk lustig heraus und begab sich unter Plaudern nach Haus. An einer der Theatertüren stand ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter und sah sich nach einer leidlichen Übergangsstelle in der schmutzigen Straße um. Er trug das Kind hinüber und ließ sich von ihm, ehe der schüchterne Arm sich von seinem Nacken losmachte, einen Kuß geben.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.«

Die Straßen waren jetzt still, die Nacht rückte vor, und er vernahm die Worte in der Luft, in dem Widerhall seiner Füße. Vollkommen fest und ruhig lieh er ihnen bisweilen selbst einen Laut, indem er sie beim Gehen vor sich hin sprach: aber in seinen Ohren klangen sie stetig.

Auch die Nacht nahm ein Ende, und wie er auf der Brücke stand und auf das Plätschern des Wassers horchte, das die Ufermauern der Insel Paris mit ihrem hell im Mondschein daliegenden malerischen Gewirr von Häusern und Kirchen bespülte, kam der Tag kalt wie das Gesicht einer Leiche am Himmel herauf. Bleich wandte sich die Nacht mit Mond und Sternen ab und verschied; es hatte für eine Weile den Anschein, als sei die Schöpfung der Herrschaft des Todes überliefert.

Aber als die herrliche Sonne aufging, schien sie mit ihren langen, glänzenden Strahlen jene Worte, den Refrain der Nacht, gerade und warm in sein Herz zu bringen. Und mit ehrfurchtsvoll beschatteten Augen ihnen folgend, glaubte er zwischen sich und der Sonne eine Lichtbrücke ausgespannt zu sehen, unter der funkelnd der Fluß dahinströmte.

Der mächtige Strom, so geschwind, so tief, so sicher, nahm sich in der Morgenstille wie ein gleichgestimmter Freund aus. Er ging den Fluß entlang weit über die Häuser hinaus und ließ sich endlich am Ufer von der hellen warmen Sonne in Schlaf lullen. Als er erwachte und wieder aufstand, zögerte er noch eine Weile und sah einem zwecklos sich drehenden Wirbel zu, bis die Strömung ihn mit fortriß und dem Meer« zuführte. »Wie mich!«

Ein Frachtboot mit einem Segel von der gedämpften Farbe des welken Laubes tauchte auf, kam an ihm vorbei und verschwand wieder. Nachdem die Kielspur sich auf dem Wasser verwischt hatte, schloß er das Gebet, das aus den Tiefen seiner Seele um barmherzige Nachsicht mit seiner Blindheit und seinen Verirrungen flehte, mit den Worten: »Ich bin die Auferstehung und das Leben.«

Mr. Lorry war bereits ausgegangen, als er in dessen Wohnung anlangte, und es ließ sich leicht denken, welchen Weg der gute alte Mann eingeschlagen hatte. Sydney Carton genoß nur ein wenig Kaffee und etwas Brot, wusch sich dann, um sich zu erfrischen, und begab sich nach der Gerichtstätte.

Dort war alles schon voll Regsamkeit und Gesumm. Das schwarze Schaf, vor dem viele furchtsam zurückwichen, verhalf ihm in dem Gedränge zu einer dunkeln Ecke. Mr. Lorry war da und Doktor Manette; auch sie war zugegen und saß an der Seite ihres Vaters.

Als ihr Gatte hereingebracht wurde, warf sie ihm einen Blick zu, einen Blick, so kräftigend, so ermunternd, so voll inniger Liebe und zärtlicher Teilnahme, dabei selbst so mutig um seinetwillen, daß er ihm das gesunde Blut ins Gesicht trieb, seine Miene aufhellte und sein Herz neu belebte. Hätte jemand auf den Einfluß geachtet, den jener Blick auf Sydney Carton übte, so würde er an diesem eine gleiche Wirkung wahrgenommen haben.

Jenes ungerechte Tribunal wußte nur wenig oder nichts von Ordnung in seinem Verfahren und war nicht in der Lage zu bewirken, daß ein Angeklagter nur vernünftig angehört wurde. Zu einer solchen Revolution hätte es nie kommen können, wenn nicht alle Gesetze, Formen und Zeremonien früher so kläglich mißbraucht worden wären, daß die selbstmörderische Rache des Umsturzes alles miteinander in die Winde streuen zu dürfen meinte.

Jedes Auge war den Geschworenen zugewendet. Dieselben entschiedenen Patrioten und guten Republikaner wie gestern und vorgestern, wie morgen und übermorgen. Unter ihnen ragte ein Mann hervor mit einem hungrigen Gesicht und einem stetigen Fingerspiel vor seinen Lippen; sein Anblick bereitete den Zuschauern große Befriedigung. Ein nach Leben lechzender, kannibalisch aussehender, blutdürstiger Geschworner, der Jacques Drei von Saint Antoine. Das ganze Schwurgericht glich einer Jury von Hunden, zusammengebracht, um das Reh zu richten.

Jedes Auge suchte nun die fünf Richter und den öffentlichen Ankläger auf. Von dieser Seite her war heute nichts Gutes zu hoffen; die Sache schien schon zum voraus schnöde, unerbittlich und mörderisch abgetan zu sein. Dann wandten sich diese Augen anderen im Gedränge zu und funkelten beifällig danach hin; und Köpfe winkten einander nickend, ehe sie in die Haltung gespannter Aufmerksamkeit übergingen.

Charles Evrémonde, genannt Darnay. Gestern in Freiheit gesetzt; gestern wieder angeklagt und aufs neue verhaftet. Anklageakte ihm gestern abend zugefertigt. Verdächtig und angeklagt als Feind der Republik, Aristokrat, Angehöriger einer Familie von Tyrannen, einer geächteten Rasse, die ihre jetzt abgeschafften Vorrechte zur schändlichen Bedrückung des Volkes mißbraucht hatte. Charles Evrémonde, genannt Darnay, kraft jener Ächtung absolut tot vor dem Gesetz.

Dies, oder vielleicht in noch kürzerer Fassung, der Vortrag des öffentlichen Anklägers.

Der Präsident fragte, ob der Angeschuldigte öffentlich oder im geheim angezeigt worden sei.

»Öffentlich, Präsident.«

»Von wem?«

»Von drei Personen. Ernst Defarge, Weinschenk in Saint Antoine.«

»Gut.«

»Therese Defarge, sein Weib.«

»Gut.«

»Alexander Manette, Arzt.«

Ein großes Getümmel brach jetzt in dem Gerichtshofe los, und mitten in demselben sah man Doktor Manette blaß und zitternd von seinem Sitze sich erheben.

»Präsident, ich erkläre Euch voll Entrüstung, daß dies Betrug und Fälschung ist. Ihr wißt, der Angeklagte ist der Gatte meiner Tochter. Meine Tochter und diejenigen, die ihr teuer sind, achte ich höher als mein Leben. Wo und wer ist der falsche Verschwörer, der sagt, ich klage den Gatten meines Kindes an?«

»Bürger Manette, seid ruhig. Wenn Ihr es an Unterwürfigkeit gegen das Gericht fehlen ließet, würdet Ihr selbst dem Gesetze verfallen. Und wenn Ihr etwas höher achtet als Euer Leben, so kann einem guten Bürger nichts so teuer sein wie die Republik.«

Lauter Zuruf zollte diesem Verweis Beifall. Der Präsident rührte die Klingel und fuhr mit Wärme fort:

»Wenn die Republik von Euch Euer Kind selbst verlangen sollte, so wäre es Eure heiligste Pflicht, es zum Opfer zu bringen. Hört, was kommen wird, und verhaltet Euch inzwischen still.«

Abermals tobender Beifallsruf. Doktor Manette setzte sich: seine Lippen bebten, und seine Augen schauten umher, während er seine Tochter inniger an sich zog. Der hungrige Mann unter den Geschworenen rieb sich die Hände und fuhr mit den Fingern wieder nach seinem Munde.

Sobald es im Gerichtssaale ruhig genug geworden war, um jemanden verhören zu können, wurde Defarge vorgeladen. Er erzählte in Kürze die Geschichte der Gefangennehmung des Doktors, bei dem er als bloßer Knabe in Dienst gestanden, wie derselbe endlich befreit und in welchem Zustande er ihm überliefert worden. Darauf folgte ein kurzes Verhör, denn der Gerichtshof machte rasche Arbeit.

»Ihr habt bei der Erstürmung der Bastille gute Dienste geleistet, Bürger?«

»Ich glaube es.«

Aus dem Gedränge ließ sich jetzt ein aufgeregtes Weib mit kreischender Stimme vernehmen:

»Ihr seid an jenem Tage einer der besten Patrioten gewesen. Warum sagt Ihr dies nicht? Ihr seid an der Kanone gestanden und waret unter den ersten Stürmenden, als die fluchwürdige Veste fiel. Patrioten, ich spreche die Wahrheit!«

Es war die Rache, die unter warmen Lobeserhebungen der Zuhörer in solcher Weise die Verhandlung zu fördern suchte. Der Präsident rührte die Klingel; aber die Rache war durch den gespendeten Beifall warm geworden und rief aufs neue: »Ich frage nichts nach Eurer Klingel!« eine Erklärung, die ihr einen neuen Beifallssturm eintrug.

»Erzählt dem Gerichtshof, was Ihr an jenem Tage in der Bastille getan habt, Bürger.«

»Ich wußte«, sagte Defarge, auf sein Weib nieder schauend, das am Fuße des Gerüstes stand, auf dem er seine Angaben machte, und kein Auge von ihm verwandte, »ich wußte, daß der Gefangene, von dem ich spreche, in der Zelle Hundertundfünf, Nordturm, eingesperrt gewesen war. Ich hatte dies aus seinem eigenen Munde. Ja, er kannte sich nur unter dem Namen Hundertundfünf, Nordturm, als er unter meiner Obhut Schuhe machte. Während ich an jenem Tage mein Geschütz bediente, faßte ich den Entschluß, wenn die Veste fiele, jene Zelle zu untersuchen. Sie wurde erstürmt. Ich steige, von einem Gefängniswärter geführt, mit einem Mitbürger, der dort unter den Geschworenen sitzt, nach der Zelle hinauf und stelle sorgfältige Nachforschungen an. In einem Kaminloch, in das ein ausgebrochener Stein wieder eingesetzt ist, finde ich ein beschriebenes Papier. Hier ist es. Ich habe mir’s angelegen sein lassen, mir einige Proben von Doktor Manettes Handschrift zu verschaffen. Dies ist von Doktor Manette geschrieben. Ich übergebe hiermit die eigenhändige Schrift des Doktor Manette dem Präsidenten.«

»Man lese sie vor.«

Es trat eine Totenstille ein. Der Angeklagte warf einen liebevollen Blick auf Lucie, die den ihrigen nur von ihm abwandte, um ängstlich auf ihren Vater zu schauen. Der Doktor verwandte kein Auge von dem Vorleser; Madame Defarge hielt ihren Blick auf den Gefangenen geheftet, und Defarges Auge haftete wie festgebannt auf seinem sich an dem Schauspiel weidenden Weibe. Die Blicke aller andern waren dem Doktor zugekehrt, der aber keinen Sinn für seine übrige Umgebung hatte. Die Schrift lautete, wie folgt.