Kapitel 9

Kapitel 9

 

Die Erzählerin machte eine kleine Pause. »Vergangene Freuden, vergangene Leiden sind wie geträumte Freuden und Leiden«, sagte sie. »Vermutlich schlage ich als Siebzigjährige zu gering an, was ich als neunzehnjähriges Mädchen im stillen und ganz allein mit mir selbst durchzumachen hatte. Mag sein und hat weiter nichts zu bedeuten. Wovon aber Notiz genommen werden muß, das ist die Veränderung, die sichtlich im Benehmen des Grafen gegen mich eingetreten war. Er kam jetzt öfters am Vormittag auf unser Zimmer, wohnte einer oder der andern Unterrichtsstunde bei und verließ uns nicht, ohne seine Freude über Ankas Fortschritte ausgedrückt, ohne gesagt zu haben: ›Anka und ich können Ihnen nie genug danken.‹ Er begann mir eine Rücksicht, ja eine Ehrerbietung zu erweisen, die mich in Verlegenheit setzte, die Gräfin zum Spott reizte und das Kind entrüstete. Die Kleine wies jeden, auch den geringsten Tadel, den ich ihr erteilte, zurück, sie tat es sogar mit den Worten: ›Sie sind böse, weil ich nicht soviel Wesens mit Ihnen mache wie Papa.‹ Indes ihr Vater meinte, sie unter meiner Leitung zu einer kleinen Vollkommenheit heranwachsen zu sehen, wurde sie immer herber und eigenwilliger und ich ihr gegenüber immer machtloser. Ich hätte das eingestehen, dem Grafen die Wahrheit sagen sollen, aber er tat mir zu leid, er war ohnehin gequält genug. Die verhängnisvolle Wendung, die der Krieg genommen hatte, das peinliche Bangen vor den Entscheidungen der nächsten Zukunft, die Untätigkeit, zu der er dabei verdammt war – ich konnte es nicht über mich gewinnen, den Seelenzustand noch zu verschlimmern, in den alles das ihn versetzte. Ich wußte, was in dem Manne vorging, was er litt und schweigend leiden mußte. Ihm war nicht einmal der karge Trost vergönnt, seine Befürchtungen oder Erwartungen mit einem gleichfühlenden Wesen zu besprechen. Den Doktor hatte das neuerliche Unglück unsrer Waffen außer Rand und Band gebracht. Im Anfang tobte er, dann erklärte er sich für schwer krank, legte sich zu Bett und stand nur einmal im Tage auf, um den Arm des Grafen nachzusehen. Was die Gräfin betrifft, so entfaltete sie in ihren Bemühungen, jede ernste Erörterung zu vermeiden, eine unnachahmliche Meisterschaft. ›Ja, mein Gott, c’est la guerre!’ war ihre stehende Antwort auf jede Besorgnis, jede Klage, die in ihrer Gegenwart laut wurde. Und sogleich brachte sie eine angenehme Nichtigkeit, eine erfreuliche Lappalie aufs Tapet. Sie kam mir vor wie eine höchst alberne Fee, die, in der Absicht, alles Elend auf Erden zu verdecken, mit einem Vorrat rosenfarbiger Schleier einhergeschwebt käme. Diese Frau – ich fing an, sie zu hassen. Ihre beiden Söhne standen vor dem Feind, jeder Tag konnte ihr die Nachricht bringen: Du hast keine Kinder, uns allen aber die: Ihr habt kein Vaterland mehr! – und sie glitt dahin voll Anmut, in spiegelheller Heiterkeit und erzählte charmante Anekdoten von charmanten Dingen und charmanten Leuten.

Eine Woche ungefähr befand sie sich auf dem Schlosse, da kamen eines Abends durch die Post Nachrichten für den Grafen und für die Gräfin.

Trostlos lauteten die Mitteilungen an den Grafen.

Die Franzosen waren in Wien. – Gescheitert waren alle Hoffnungen des Erzherzogs, vor dem Feinde die Kaiserstadt zu erreichen, gescheitert alle auf ihren Entsatz gerichteten Entwürfe. Wien hatte kapituliert, die Franzosen waren in Wien!… Zum zweitenmal im Verlauf von vier Jahren schrieb Napoleon der Welt Gesetze vor aus dem Hauptquartier Schönbrunn.

Dies also das letzte Ergebnis!… Und der Preis, um den es errungen worden? Der Tod von Tausenden, von denen jeder einzelne ein Held gewesen war, Regimenter aufgerieben, Bataillone gefangen …

Knirschend warf der Graf die unheilverkündenden Blätter auf den Tisch: ›Welchen Trost wissen Sie dafür?‹ rief er seiner Schwiegermutter zu. Sie atmete etwas rascher als gewöhnlich und fuhr leicht mit den Fingern über ihre Stirn, auf der sich ein paar Fältchen gebildet hatten. ›Nur nicht verzweifeln, nur nicht den Kopf verlieren. Ich habe einen Brief, der einen weniger düstern Ton anschlägt. Höre den an, es wird dir wohltun. Lesen Sie, Liebe.‹

Das Schreiben, das mir die Gräfin mit diesen Worten reichte, war von ihrem älteren Sohne verfaßt und von dem jüngeren mitunterzeichnet. Kraus die Züge, kühne Wendungen, ein komischer Stil, im ganzen – der frischeste Soldatenbrief, den je ein wackerer Bursch in seines Herzens ungelöschtem Durst nach Siegesglück geschrieben. Oben am Rande stand: ›19. Mai, irgendwo am Ufer vom Rußbach‹, und die ersten Worte des Textes lauteten: ›Mama, es geht uns gut!‹ Graf Albert gab zu, daß es ein Elend gewesen sei bei Thann und Landshut, bei Abensberg und Regensburg und ein verfluchtes Reiten heimwärts über Böhmen, erst zu schnell und dann viel zu langsam. Indessen – das ist vorüber und wird wiedergutgemacht werden, so denkt die Armee … Wenn die Mama sich nur einen Begriff davon machen könnte, wie ihren Söhnen jetzt zumute ist! Sie brächte ebensowenig wie die beiden heute Nacht ein Auge zu. ›Morgen in aller Früh geht’s in die Lobau!‹ – der Satz löste sich förmlich aus dem Briefe wie ein Jubelschrei –, ›die Franzosen machen sich breit auf der Insel, scheinen sogar über den großen Donauarm eine Brücke zu schlagen. Man muß schauen, was sie denn wollen, und ein Teil der Avantgarde unter Klenau und ein paar von unsern Regimentern brechen morgen dahin auf. Da wollen wir uns andre Sporen verdienen als die, die wir in dem verwünschten Bayern unsern Pferden in die Flanken setzten. Hoch lebe Österreich!‹

Die Gräfin nickte beistimmend, bemühte sich zu lächeln, und ihr Gesicht erhielt etwas Verzerrtes, Maskenhaftes, ein grünlicher Schatten bildete sich um ihren Mund. Nein! Sie war nicht angetan, Schmerz und Sorge zu ertragen, und wenn sie immer und um jeden Preis nach Gelassenheit rang, so geschah’s aus Notwehr, und sie rang dabei um ihr Leben.

Sie griff nach dem Briefe in meiner Hand. ›Frau Gräfin!‹ rief ich, ›da ist noch eine Nachschrift …‹ Sie erzitterte: ›Nun – lesen Sie …‹

Ich las: ›Was sagst Du zur Rettung Stephans? Sind das brave Kerle, seine drei Husaren, die ihn zurückgetragen haben!‹

Diese gute Nachricht am Schluß, so unbestimmt sie war, verlieh der Gräfin wunderbare Erquickung. Eine gute Nachricht, ein günstiges Omen! Jetzt befand sie sich wieder in ihrem Element, und der Name Stephans, den sie, seitdem das Gerücht von seinem Tode zu uns gedrungen, nicht mehr ausgesprochen hatte, kam an dem Abend immer von neuem über ihre Lippen.

Am nächsten Tage, es war der 24. Mai, hatte Ankas Unterrichtsstunde eben begonnen, da hörten wir plötzlich Pferdegetrappel im Hofe und sahen einen Reiter hereintraben, vor dem Schlosse absteigen, die Zügel eines müdegejagten, schweißtriefenden Postgaules dem ersten Diener, der herbeilief, zuwerfen und mühsam, mit ganz steifen Beinen, ins Tor treten. Anka hatte in dem Angekommenen sogleich den Reitknecht ihres Onkels Albert erkannt. Der brachte große Neuigkeiten. Sie ließen nicht lange auf sich warten … So sag ich jetzt; damals kam es mir anders vor, und ich war in meiner Ungeduld schon im Begriff, ein Verbrechen am geheiligten Hausbrauch zu begehen und Anka mit einer Bitte um Nachricht an ihren Vater abzusenden, als die Tür aufgerissen wurde und er selbst hereinstürmte. Er selbst, der Graf, totenbleich, mit leuchtenden Augen.

›Fräulein!‹ rief er, ›teures Fräulein!…‹

Betroffen über diese vertrauliche Ansprache steh ich da – er tritt auf mich zu, ergreift meine Hand und zieht sie an seine Brust: ›Fräulein!‹ wiederholt er, ›Sie müssen es durch mich erfahren. Österreich ist gerettet, Napoleon ist geschlagen, Napoleon ist in zweitägiger Schlacht vom Erzherzog Karl geschlagen …‹

›Geschlagen?‹ fragte Anka, und jetzt erst schien er ihrer Gegenwart innezuwerden, das Blut schoß ihm ins Antlitz, er wandte sich zu ihr.

›Merke dir, Anka: Aspern und Eßlingen – den 21. und 22. Mai … da haben die Österreicher die große, unüberwindliche Armee glorreich besiegt …‹ Die Stimme versagte ihm. Ich sah ihn zum erstenmal überwältigt und nicht mehr Herr seiner selbst, ich sah die ersten Tränen in seinen Augen. ›Und ich!…‹ schrie er plötzlich auf, erhob den rechten Arm, streckte ihn gewaltsam aus und ließ ihn mit einer Gebärde der Verzweiflung niedersinken.

Ich war sprachlos und hatte nicht weniger Mühe, meine Fassung zu bewahren, als er, die seine wiederzugewinnen.

›Albert hat einen Boten geschickt, er ist bei der Gräfin – gehen Sie hinauf mit Anka, hören Sie, was er erzählt‹, sagte der Graf. ›Gehen Sie!‹ wiederholte er, als ich einen Augenblick zögerte, ›ich folge.‹

Wir trafen die Gräfin auf ihrem Kanapee ruhend, der Doktor, Francine und August, der Reitknecht, standen vor ihr. Francine triumphierend über die Niederlage des ›usurpateur‹, der Doktor, die Stirnader hochgeschwollen, die Brille verkehrt aufgesetzt, die Schleife der Krawatte am Ohr, rief die Französin zur Ordnung, sooft sie den Erzähler mit Freuden- und Beifallsäußerungen unterbrach. Der aber hielt sich so steil aufrecht, als sein runder Rücken und seine zitternden Beine es erlaubten, und berichtete von den Heldentaten seiner jungen Herren. Von dem Generalissimus, von Wimpffen und Smola, von Liechtenstein, Hohenzollern und andern Leuten zu sprechen, überließ er der Geschichte. Er sprach von Albert und Viktor, seinen Helden, war unerschöpflich in ihrem Preise, in der Beschreibung ihres Aussehens und dessen, was sie getan und gesagt hatten und wie es nach der Schlacht ihr erster Gedanke gewesen sei, Botschaft zu schicken an die erlauchte Mama. Und wie dann er, August, gemeint: ›Ich reit halt hinüber, ich kenn mich schon aus‹, und wie er Pferde requiriert hatte, wo er sie fand, und in achtundvierzig Stunden kaum aus dem Sattel gekommen war. Schreiben würden die Herren Grafen später. Jetzt sei er da und vermelde unterdessen, was er zu vermelden habe: einen Handkuß.

Damit beugte er sich, um denselben gehorsamst zu übermitteln. Sein altes, gelbes, mit Schweiß und Staub bedecktes Gesicht näherte sich der Hand der Gräfin, und fast wäre sein langer Schnurrbart, dessen Enden wie die Zweige einer Trauerweide niederhingen, mit dieser schönen, duftenden Hand in Berührung gekommen. Aber ihre Eigentümerin zog sie rasch zurück und sprach, den allzu gewissenhaften Boten fortwinkend: ›Laß Er’s gut sein!‹

Der Graf war vor einer Weile eingetreten, hatte, von niemand außer mir bemerkt, ganz still in einer Ecke Platz genommen und bis jetzt schweigend, mit gesenktem Haupte, zugehört.

›Geh, lieber Alter‹, sprach er nun, sich erhebend, ›iß, trinke, schlafe, laß dir’s wohlgeschehen.‹

Der Doktor machte sich anheischig, für August auf das beste zu sorgen, und führte ihn hinweg.

›Ein braver Mensch!‹ sagte die Gräfin, ›wirklich exzellent. Aber welche Atmosphäre! – Francine, öffnen Sie das Fenster!‹

An dem Tage war natürlich nur noch von den Nachrichten die Rede, die August gebracht hatte.

Eine Trauerbotschaft befand sich darunter.

Der älteste Bruder des Grafen Stephan war bei Aspern geblieben. Seinem unglücklichen Vater stand der Jammer bevor, die Todesnachricht des Erstgeborenen am Kranken-, vielleicht am Sterbebett des jüngsten Sohnes zu erfahren. Leider hatte der Wachtmeister, der den Grafen Stephan nach Hause geleitet, bei der Rückkehr zum Regiment nicht viel Tröstliches über den Verwundeten zu berichten gewußt. Man hoffte ihn am Leben zu erhalten, man hoffte! aber sicherlich war es noch lange hin bis zu seiner Genesung, und ob diese jemals ganz vollständig sein werde – das konnte nur Gott wissen.

So meinte August, weil er es so gehört hatte. Die Gräfin hingegen meinte, die Ärzte wüßten wohl auch, daß alles gut enden würde, gäben es nur noch nicht zu; das ist schon ihre Art, man kennt das, Klappern gehört zum Handwerk. Ein paar Kugeln in der Brust bringen einen jungen kräftigen Menschen nicht um; man nimmt sie heraus, und er ist wieder gesund.

Wunderbarerweise gewann es wirklich den Anschein, als ob die verwegenen Voraussetzungen der eingefleischten Optimistin eintreffen sollten. Die nächste Kunde von dem Grafen Stephan, die bald darauf zu uns drang, sprach von einer kleinen Besserung.

Inzwischen hatten wir erfahren, daß der Sieg bei Aspern nicht zu einem offensiven Vorgehen von seiten des Erzherzogs benutzt worden war. Die beiden Heerführer standen einander gegenüber, ohne Anstalten zu einer neuen großen Schlacht zu treffen, jeder nur auf die Verstärkung seiner Streitkräfte bedacht. Da hoffte nun der Graf, wenn die Waffenruhe ein paar Wochen dauere, wenigstens an dem Schlusse des Feldzuges teilnehmen zu können. Er werde den Arm wohl bald notdürftig gebrauchen können, gab ihm der Doktor zu und fragte: ›Sind Sie jetzt getröstet?‹ Aber der Graf antwortete: ›Ach, Doktor! Im Jahre neun ein Mann gewesen sein, ein Österreicher und ehemaliger Soldat, und von Aspern und Eßlingen nur gehört haben – darüber tröstet nichts!‹

Die Gräfin beschloß nun, in den nächsten Tagen heimzureisen; der Graf gedachte in ungefähr einer Woche zur Armee zu gehen und wollte vorher Anka bei ihrer Großmutter installieren, wo wir die Zeit seiner Abwesenheit zubringen sollten. Da geschah es, daß die Kleine, von der Gräfin kommend, zu mir sagte: ›Fräulein, die Großmama hat Sie gar nicht gern, aber gar nicht!‹ Bei Tisch fand ich den Grafen düster und unfreundlich, die Gräfin aber war äußerst angeregt, sonnig und eisig wie ein schöner Wintertag. Am Abend, gleich nachdem wir den Salon betreten, empfahl sich der Doktor; er warf mir beim Fortgehen einen mitleidigen Blick zu und sagte leise: ›Seien Sie wacker!‹ – Anka wurde früher als gewöhnlich zu Bett geschickt, sie weinte, und der Graf, dem sonst die geringfügigste Verstimmung seiner Tochter eine wahre Seelenpein verursachte, blieb diesmal gleichgültig bei den Tränen, die sie vergoß.

Sobald wir allein waren, eröffnete die Gräfin das Gespräch …«

Die Hofrätin zog die Achseln ein wenig in die Höhe, überlegte ein Weilchen und sprach: »Ich will Sie nicht auf die Folter der Neugier spannen, liebe Freundin, sondern gleich sagen: was die Gräfin mir mitzuteilen hatte, war etwas Überraschendes, etwas ganz Außerordentliches. Der Vater des Grafen Stephan ersuchte die Gräfin, meine Gesinnungen gegen seinen Sohn zu erforschen. Im Falle diese günstig seien, solle in aller Form um meine Hand geworben werden.

›Ich entledige mich meines Auftrages‹, sprach die Gräfin nachlässig, ›halte es aber für meine Pflicht, Ihnen meine Meinung von der Sache zu sagen.‹

O weh! wenn die Gräfin den Ton anschlug, da mochte man sich vorsehen! Da durfte die Eitelkeit oder das Zartgefühl oder irgend etwas leicht Verwundbares in der Seele des andern – ich hatte es schon erfahren – einer schmerzlichen Berührung gewärtig sein. Ich wollte eine solche überhaupt nicht erleiden, am wenigsten jedoch in Gegenwart des Grafen, und beeilte mich, der Gräfin ins Wort zu fallen und ihr sehr lebhaft zu erklären, daß ich keine Neigung für ihren Neffen habe und mich niemals entschließen könnte, seine Frau zu werden.

›Was sagte ich Ihnen, Mama?‹ fragte der Graf; und so leise es geschah, eine mächtige Freude klang aus diesen Worten. Der sie gesprochen, erhob sich und verließ das Zimmer.

Der Gräfin mußte ungefähr zumute sein wie jemandem, der sich zu einem Pistolenduell vorbereitet und im Augenblick, in dem er auf den Gegner anlegen will, plötzlich bemerkt, daß er keinen hat. Sie rückte sich in ihrem Sessel zurecht, betrachtete mit flüchtiger Aufmerksamkeit die Stickerei ihres Taschentuches, sagte mir einige Schmeicheleien und forderte mich auf, Vertrauen zu ihr zu haben. Sie gab mir zugleich einen Beweis des ihren, indem sie gestand, von allem unterrichtet zu sein, was zwischen dem Grafen Stephan und mir vorgegangen war. Sie wußte nicht nur, daß ihr Neffe mir den Hof gemacht, sondern auch, daß er es ohne Glück getan hatte. Sie fand das erste unrecht, aber begreiflich, das zweite anerkennenswert und gleichfalls begreiflich. Jetzt aber müsse sie über einiges staunen.

Die Gräfin räusperte sich und suchte nach Worten; zu ihrer Ehre sei es gesagt: es wurde ihr nicht leicht fortzufahren.

›Was mich in Verwunderung setzt, ist nicht der Antrag Stephans … Mein Gott, Stephan ist eben verliebt, jung und töricht. Auch das ist es nicht, daß sein Vater sich dahin bringen ließ, diesen Antrag zu billigen und zu protegieren … Mein Gott, ein Greis, der seinen Kindern gegenüber schwach geworden und es mehr ist denn je in diesem Augenblick. Wenn man soeben einen Sohn verloren hat, schlägt man dem zweiten, kaum wiedergewonnenen einen Wunsch nicht ab, an dem sein Herz hängt. Ein Stärkerer als mein armer Vetter wäre vielleicht unfähig. Wie gesagt, über die andern staune ich nicht, ich staune über Sie und über die Raschheit und Bestimmtheit, mit der Sie Stephans Bewerbung ablehnen.‹

Sie heftete die Augen auf mich, und ich fühlte mein Gesicht hoch aufflammen und dann erbleichen im Strahle dieses kalten und durchdringenden Blickes.

›Sie haben keine Neigung für Stephan‹, fuhr die Gräfin fort, ›haben Sie auch keinen Ehrgeiz?‹

Fragend und verwundert wiederholte ich dieses letzte Wort, und sie mußte sehen, daß ich seinen Sinn in Wahrheit nicht erfaßte, denn sie ließ sich zu einer Erklärung herbei.

›Ich meine, Stephan ist arm, er wird siech bleiben, heißt es. Seine Frau, wenn sie pflichttreu sein will, würde das Leben einer Krankenwärterin führen. Aber sie wäre doch seine Frau und nach seinem Tode die verwitwete Gräfin Stephan … Haben Sie keinen Ehrgeiz …‹ Ihre Stimme veränderte sich; ohne lauter zu werden, wurde sie schärfer und eindringlicher. ›Keinen Ehrgeiz oder einen viel höherfliegenden? – Sie haben keine Neigung für Stephan, für ihn nicht. Seine Liebe hat Sie nicht gerührt – hoffen Sie vielleicht, daß die Ihre rühren werde – einen Mann rühren, der Ihnen wünschenswerter erscheint?‹

Dieser furchtbare Angriff kam so unversehens, daß ich nicht einmal daran dachte, mich zu verteidigen. Halb sinnlos vor Beschämung und Schmerz empfand ich nur den brennenden Wunsch, sogleich und unwiderleglich zu beweisen, daß mir Unrecht geschah.

Die Gräfin sah den Eindruck, den sie hervorgebracht hatte. Sie lehnte sich behaglich zurück, sie war wieder lauter Freundlichkeit. Es ist ja so angenehm, aus dem Frieden der eigenen unzerstörbaren Ruhe dem Kampfe einer armen Seele zuzusehen, die bebt und flattert wie ein verwundeter Vogel und vergeblich nach Befreiung von ihren Qualen ringt.

›Nun, Liebe, was antworten Sie mir?‹ fragte die Gräfin, und ich erwiderte mit soviel Festigkeit, als ich aufzubringen vermochte – ach, sie war höchst gering! –, daß ich längst den Entschluß gefaßt, das Haus zu verlassen, und nur noch gezögert habe, ihn dem Herrn Grafen mitzuteilen. Der Herr Graf würde fragen, warum ich fort wolle, und ihm darauf der Wahrheit gemäß zu antworten sei mir schwer. Doch müsse es endlich gesagt werden. Ich gehe, weil ich die Hoffnung aufgegeben habe, irgendeinen Einfluß auf meinen Zögling zu gewinnen. Wir hätten durchaus kein Verständnis füreinander, denn ich flöße Anka ebensowenig Sympathie ein, als ich für sie empfinde.

Die Gräfin nickte mir mit etwas ironischem Beifall zu. Nicht übel, schien sie sagen zu wollen, das hast du nicht übel gemacht. Die Worte, die sie indessen aussprach, waren: ›A-h?… ja so!… das ist schlimm. Das können Sie meinem Schwiegersohn allerdings nicht sagen. Es klänge doch gar zu sonderbar in dem Munde einer Erzieherin.‹ Sie bot mir an, dem Grafen mein Gesuch um Entlassung vorzubringen, und ich hatte noch Selbstbeherrschung genug, ihre Vermittlung anzunehmen und ihr dafür zu danken.

Wie ich dann in mein Zimmer gekommen bin, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich den Doktor noch am selben Abend sprach und daß es mich befremdete, ihn von dem Schritt unterrichtet zu finden, den der Vater des Grafen Stephan bei mir unternommen hatte – ohne Vorwissen seines Sohnes, behauptete der Doktor, und ich glaubte es gern. Es war ein Opfer, das der schwache und gütige Greis der Neigung seines ihm wiedergeschenkten Kindes bringen wollte.

›Sie haben abgelehnt‹, sprach der Doktor, ›das versteht sich von selbst. Was geschieht aber jetzt?‹

Er stand vor mir mit gesenktem Kopfe; sein Gesicht drückte die tiefste Verstimmung aus, und seine dichten weißen Brauen waren finster zusammengezogen. Als ich ihm sagte, daß ich das Haus verlassen werde, erklärte er sich damit einverstanden: ›Je eher, desto besser. Am besten gleich morgen mit der Gräfin.‹

Er wurde am nächsten Tage sehr zornig, als es hieß, die Gräfin reise allein. ›Welcher Unsinn!‹ rief er. ›Weil eine Reise mit einem Kinde ihr lästig wäre, werden Sie zurückgelassen. Sie ist klug, diese Frau, sie ist klug – bis an die Grenze der Bequemlichkeit. Wo aber die Unbequemlichkeit anfängt, da hört ihre Klugheit auf … Na‹, unterbrach er sich, ›gehen Sie ihr Lebewohl sagen, sie ist mit Anka und dem Grafen im Speisezimmer.‹

Ich ging dahin, und die Gräfin empfing mich mit den Worten: ›Kommen Sie endlich, meine Schönste? Ich bin im Begriff, in den Wagen zu steigen.‹

Sie scherzte mit Anka, und der Graf trat an mich heran, auch er in vorzüglich guter Laune.

›Was höre ich?‹ fragte er, ›Sie wollen uns verlassen? Das ist ja treulos und grausam. Darauf war meine arme Anka nicht gefaßt. Indessen, wenn Sie durchaus nicht bei uns bleiben wollen … durchaus nicht‹, wiederholte er nachdrücklich und forschend, ›dürfen wir Sie nicht zurückhalten.‹

Die Gräfin klopfte mich auf die Wange: ›Wir meinen es gut mit Ihnen‹, sagte sie, ›wir werden Ihrer nicht vergessen. Adieu!‹

Sie ging, und wenige Minuten später rollte der Wagen, der sie entführte, aus dem Hofe.

Kapitel 10

Kapitel 10

 

Acht Tage noch, dann sollten auch wir das Schloß verlassen. Unser Weg war gemeinsam bis zu dem Städtchen, in dessen Posthause wir auf der Reise nach unserm früheren Wohnort Mittagsrast gehalten hatten. Dort teilte er sich. Der Graf gedachte mit Anka nach dem Gute seiner Schwiegermutter zu fahren, der Doktor mit mir nach einem kleinen Badeorte unweit von Wien, wo mein Vormund mit seiner Familie vor den Kriegsereignissen Zuflucht gesucht hatte.

Acht Tage noch! – Eine lange und – eine kurze Zeit. Lang, weil ich sie in Erwartung eines schrecklichen Augenblicks zubrachte, kurz, weil mir schien, daß es die letzte sei, die ich zu leben habe, und als könne nach ihr nur der Tod noch kommen.

Anka bemühte sich, mir den Abschied leicht zu machen. Sie verbarg ihre Freude darüber nicht, daß sie eine Zeitlang ohne Gouvernante sein sollte. Sie brauchte keine. Francine blieb vorläufig allein bei ihr, Großmama liebte die neuen Gesichter nicht.

Am Abend nach der Abreise der Gräfin, als Anka ihrem Vater gute Nacht sagte, empfahl ich mich zugleich mit ihr. ›Sie kommen doch wieder?‹ rief der Graf. Er war unzufrieden, als ich es verneinte, und erwiderte kaum meinen Gruß. Am nächsten Vormittag erschien er bei unserer Unterrichtsstunde und hörte seiner Anka, die ihm alle Reiche Deutschlands an den Fingern herzählte und auf der Karte nachwies, mit stiller Bewunderung zu. Sie nahm eine kluge Miene an und fragte ihn: ›Weißt du das auch?‹ Er behauptete, gar nichts zu wissen als das, was sie ihn soeben gelehrt hatte; da jubelte die Kleine und wiegte sich in der Wonne ihrer befriedigten Eitelkeit. Sie lachte ihn aus und war dann wieder ein wenig zärtlich mit ihm, um ihn zu trösten. Man mochte ihr gut sein oder nicht, man mochte die Veranlassung zu ihrer Freude billigen oder nicht, das stand fest: sie sprühte von Geist und Lebendigkeit, sie war herzig, sie war fast hübsch in diesen Augenblicken. Und der Graf küßte ihre mageren Händchen – und sie verstanden einander, und sie liebten einander und gehörten zusammen wie der Schatten zum Licht. Er selbstlos und sie selbstsüchtig, er die anbetende Unterwürfigkeit und sie die verkörperte Tyrannei. Wehe dem Dritten, der sich hätte eindrängen wollen in ihren festgefügten Bund. Wehe dem Billigen und Gerechten, der gesucht hätte, ihre schreienden Gegensätze auszugleichen, der dem starren Geiz zugerufen hätte: Gib auch du einmal! und dem überquellenden Reichtum: Halte Maß!

Ich saß neben ihnen und fühlte mich ihnen so fern, als schwebten sie durch den Weltraum auf einem andern Gestirn. Ich blickte in das schöne, offene Gesicht des Vaters und dachte: Nie wirst du ein Weib lieben wie dieses Kind. Ich sah das Kind an und dachte: Dir den Vater entwenden, hieße die einzige lebendige Empfindung in deiner Seele ertöten.

Die Zeit verging. Der Abend des letzten Tages kam heran. Als ich mich mit Anka entfernen wollte, ersuchte mich der Graf zu bleiben.

›Ich habe mit Ihnen zu sprechen‹, sagte er und gab dem Doktor ein verabschiedendes Zeichen, das dieser übersah. ›Allein zu sprechen!‹ fügte der Graf streng und herrisch hinzu, und dem Alten blieb nichts übrig, als sich, langsam freilich und mit offenbarem Widerstreben, zurückzuziehen.

Die Überwachung, der er sich unterworfen sah, hatte den Grafen verstimmt; wenigstens war der Ton durchaus nicht freundlich, in dem er zu mir sprach: ›Sie sind meiner Schwiegermutter zu Dank verpflichtet, Fräulein, sie bemüht sich sehr um Sie. Da hat sie Ihnen schon einen vortrefflichen Platz als Erzieherin ausfindig gemacht, im Hause der Herzogin v.P., einer Österreicherin von Geburt, aber an einen Franzosen verheiratet. Sie lebt in Paris … Reflektieren Sie auf einen solchen Platz, Fräulein? Wünschen Sie auszuwandern?‹

Ich antwortete, daß ich dazu bereit sei, und er rief ungeduldig: ›Machen Sie ein Ende. Wie lange soll denn die Komödie noch dauern?‹

›Komödie?‹ wiederholte ich, und der Graf fuhr gereizt fort: ›Jawohl, Komödie! Meine Schwiegermutter können Sie über die Gründe täuschen, die Ihnen eine Trennung von Anka wünschenswert machen, aber nicht mich. Ich kenne Sie besser, kenne Sie so gut, daß Sie wohltäten, wahr gegen mich zu sein. Ich bitte also um Aufrichtigkeit: Warum wollen Sie fort?‹

›Weil ich mir bewußt bin, meiner Aufgabe nicht gerecht werden zu können.‹

›Es ist zum Lachen!‹ rief er, erhob sich, trat an das Fenster, und nachdem er eine Weile dort gestanden und in die Nacht hinausgeblickt hatte, kam er zurück, setzte sich mir gegenüber und begann ruhig und ernst: ›Ich begreife, daß Sie sich dagegen sträuben, einige Zeit in der Nähe meiner Schwiegermutter zuzubringen. Die Gräfin ist Ihnen nicht angenehm, kann es nicht sein. Auch sind Sie der Gefahr ausgesetzt, Stephan bei ihr zu begegnen. Sie tun klug, ein Haus zu meiden, von dem man ihn nicht fernhalten kann. Ich sehe das ein, ich freue mich dessen sogar, ja – daß ich es nur gestehe! – ich hätte Sie selbst gebeten, für die Dauer meiner Abwesenheit Urlaub zu nehmen, wenn Sie mir nicht zuvorgekommen wären.‹

Ich nahm alle meine Selbstüberwindung und Kraft zusammen, um dem Grafen jetzt zu sagen, daß ich nicht um einen Urlaub, sondern um eine Entlassung ersucht habe.

›Die bekommen Sie nicht!… Ich habe eine wahre Freude gehabt, als ich erfuhr, daß Sie meine Schwiegermutter nicht begleiten wollen, aber Sie verstehen es, mir diese Freude zu vergällen. Sie sind edel und charaktervoll, ich ehre Sie, man muß jedoch nichts übertreiben, nicht einmal die Tugend. Was ist das für ein Opfermut und für eine Lust, sich selbst und andere zu quälen, wenn Sie, nur damit ich Ihren Fluchtversuch nicht vereitle, Ihren Wert in meinen Augen verringern?‹

›Das war nicht meine Absicht‹, entgegnete ich.

›Dann hatten Sie unrecht, einen Vorwand zu ersinnen, der diese Folge haben und der mich nebenbei tief verletzen mußte.‹

Ich gab keine Antwort. Ich kämpfte mit meinen Tränen, aber wacker; denn mir blieb der Sieg!

›Kein Verständnis für Anka?‹ nahm der Graf wieder das Wort. ›Keine Neigung für Anka? Sie haben soviel für das Kind getan und behaupten, daß Sie es nicht lieben?‹

›Fragen Sie doch, Herr Graf, ob das Kind mich liebt‹, sprach ich, mir mit unsagbarer Mühe soviel Atem abringend, als ich brauchte, um meine Stimme vernehmbar zu machen. Ich wählte den mildesten Ausdruck, den ich fand: ›Wir sind einander gleichgültig. Sie wollen Wahrhaftigkeit von mir – ich gebe sie …‹

›Helene!‹ rief der Graf.

Zum erstenmal nannte er mich Helene … und so genannt, mit diesem Ausdruck, mit dieser Leidenschaft, dieser Liebe – klang mein eigener Name mir fremd.

›Helene, ich bat Sie um Wahrhaftigkeit, jetzt möchte ich Sie beinah um eine barmherzige Lüge bitten. Indessen – nein! besser hoffnungslos als getäuscht. Der geirrt hat – leide!… Ich habe geirrt, als ich glaubte, in Ihnen die einzige gefunden zu haben, die meinem armen verwaisten Kinde die Mutter ersetzen könnte!‹

Damit wandte er sich und verließ nach kurzem Gruße das Zimmer.

Am frühen Morgen brachen wir auf, die beiden Herren im ersten Wagen, Francine, Anka und ich im zweiten. Anka war wieder von ihrem Reisetaumel erfaßt. Bis an ihr Ende soll ihr die Lust am Reisen geblieben sein, die so viele Menschen haben, in deren Seele nichts vorgeht. Unbewußt fühlen sie sich getrieben, den Mangel an innerer Bewegung durch äußere zu ersetzen.

Bei den Haltestationen kam der Graf zu uns, schritt auch wohl, wenn es langsam bergan ging, neben unserm Wagen, sprach mit Anka und bedauerte Francine, die an einer heftigen Migräne litt. An mich richtete er nicht ein einziges Mal das Wort.

Am letzten Tage vor einem Abschied für das Leben demütigte er mich vorsätzlich durch die Hartnäckigkeit, mit der er mich übersah.

Und Anka wurde immer toller. – ›Du bist ja sehr lustig‹, sagte er zu ihr. – ›Ja, sehr lustig und froh.‹ – ›Worüber denn?‹ Sie warf einen vielsagenden Blick auf mich, beugte sich aus dem Wagen, drückte den Mund an das Ohr ihres Vaters und flüsterte ihm etwas zu; dann warf sie sich zurück, um den Eindruck zu beobachten, den ihre Worte gemacht hatten.

Es war ein tiefer und peinlicher. Der Graf wurde feuerrot, seine Lippen zuckten. ›Anka!‹ sagte er in drohendem Tone und verließ uns.

Wir sahen ihn erst im Speisezimmer des Posthauses wieder, vor dem wir mit einbrechender Nacht anlangten. Das Abendessen erwartete uns. Francine nahm daran nicht teil; sie hatte sich, aus dem Wagen steigend, sogleich ein Zimmer anweisen lassen, nachdem sie einen raschen Abschied von mir genommen. Beim Souper wurde wenig gesprochen und noch weniger gegessen. Wäre Anka nicht gewesen, man hätte die Speisen unberührt abgetragen.

Plötzlich erhob sich der Graf: ›Geh schlafen, Anka! Fräulein, ich sage Ihnen Lebewohl. Sie reisen früher als wir, Sie haben einen weiteren Weg, ich sehe Sie morgen nicht mehr‹, sprach er rauh und bestimmt; seine Worte klangen wie eine Kriegserklärung. ›Ich danke Ihnen im Namen Ankas für die Sorgfalt, die Sie ihr angedeihen ließen. Ihr Verdienst ist um so größer, als alles, was Sie taten, für Menschen geschah, die Ihre Freundschaft nicht zu gewinnen vermochten.‹

Er verneigte sich, und ich wollte sprechen, wollte stark bleiben bis ans Ende. Aber der Abschied zerriß mir das Herz. Ich war erschöpft von den Qualen dieses Tages, ich vermochte nicht länger die Tränen zu unterdrücken, die mich erstickten …

›Sie weinen?‹ rief der Graf voll Bestürzung und gleich darauf mit seltsamer Freudigkeit: ›Nun, Gott sei Dank, daß Sie doch weinen können!‹

Der Doktor näherte sich mir und wollte meinen Arm ergreifen. ›Sie bleibt!‹ befahl der Graf. ›Führen Sie Anka indessen auf ihr Zimmer. Geht!‹

Der Alte und das Kind gehorchten nach einigem Zögern, und wir waren allein.

Finster und schweigend stand der Graf eine Weile vor mir, dann begann er mit erregter Stimme: ›Ich bitte Sie, Fräulein, zeigen Sie sich einmal, wie Sie sind! Würdigen Sie mich eines Einblicks in Ihre Seele. Seien Sie ehrlich gegen mich. Sie waren es bisher nicht. Sich schlimmer machen, als man ist, sich hart und gefühllos zeigen – gleichviel aus welchem edelmütigen Grunde –, ist das ehrlich?‹

Eine große Verwirrung und Angst erfaßte mich. Was verlangte er?…

Ehrlich sein ihm gegenüber, das hieß mein schmerzlich bewahrtes Geheimnis verraten und meinen Stolz aufgeben, der allein mir geholfen hatte, die schwerste Prüfung zu bestehen, die einem jungen Menschenherzen auferlegt werden kann: den stillen Kampf mit seiner ersten Liebe.

Er schien zu erraten, was in mir vorging; plötzlich erhellte sich sein Gesicht, er machte einen raschen Schritt auf mich zu – unwillkürlich trat ich zurück.

›Was fürchten Sie?‹ fragte er. ›Sie stehen unter meinem Schutz – vertrauen Sie mir, Helene … Wenn ich Ihnen wert bin, so fassen Sie den Mut … was sag ich – den Entschluß, es auszusprechen.‹ Er faltete die Hände. ›Lassen Sie sich bewegen, lassen Sie sich herab, es auszusprechen: Sind Sie mir gut? Wollen Sie mein Weib werden – mit einem Worte: Lieben Sie mich?‹

Bangende Hoffnung, bittende Erwartung sprachen aus seiner Stimme – und ohne mich länger zu besinnen, ohne zu denken, was ich tat, gab ich in einem Augenblick die Frucht meines langen Kampfes preis und antwortete: ›Ja!‹ Da faßte er mich in seine Arme. ›Endlich!‹ jauchzte er. ›Törin, Selbstquälerin!‹

Er legte seine Hand auf meinen Scheitel und blickte mir lange schweigend in die Augen.

›Und ich, Helene, habe für Sie die tiefste und innigste Liebe. Der Quell dieser Liebe – ich will Sie nicht täuschen – war Dankbarkeit für die Sorgfalt, mit der Sie Anka umgaben. Und Anka muß auch in Zukunft das Erste und Letzte für uns sein.‹ Er unterbrach sich, ein Schatten flog über seine Stirn. – ›Meine Liebe zu Ihnen, die – ich fühle es – wachsen wird von Tag zu Tag, darf den Rechten Ankas keinen Eintrag tun. Anka darf nicht verarmen, weil ich reicher geworden bin, reicher, als ich glaubte jemals wieder werden zu können. Ich hatte auf alles Glück verzichtet, und nun erblüht es mir von neuem. Ich blickte in die Zukunft wie in trübes, einförmiges Dunkel, und nun steht sie in lichter Schönheit vor mir.‹

Er begann diese Zukunft auszumalen. Nicht alles war sonnig darin. ›Wir werden uns vereinsamen oder kämpfen müssen um unser Glück‹, sagte er. ›Versöhnung mit unserm Bunde ist von den Meinen nicht zu hoffen – ich ertrage ihren Tadel, ich weiß, was ich gewinne und was ich verliere, ich kenne die Welt und habe ihre Freuden genossen und deren Wert gewogen. Aber du –‹

Er wollte mich nicht betrügen, er sprach offen mit mir, er schilderte mir getreulich alle Bitternisse, die mir bevorstanden. Ich gedachte der Großmutter Ankas, und wie ihr niedriger Verdacht gegen mich nun gerechtfertigt sei in ihren Augen und in denen der vielen, die durch diese Augen sahen. Sie war ja die größte Egoistin und darum die Herrin in der Familie. Frei von diesem tyrannischen Einfluß fühlte sich nicht einmal der Mann, der um mich warb, den Vorurteilen seines Standes zum Trotz.

›Ist dir bange?‹ fragte er. ›Du wirst manches erleiden, gegen das ich dich nicht zu schützen vermag; es ist ja nicht zu greifen, nicht zu erweisen, es hat keinen Namen und verwundet doch bis in die innerste Seele. Willst du es um mich erleiden?‹

Erleiden!… O Gott, alles um ihn – und mit himmlischer Wonne!«

Die Greisin erhob das Haupt, ihr Gesicht erschien mit einem Mal verjüngt und verklärt.

»Noch sehe ich das Leuchten seiner Augen, ich fühle seinen reinen glühenden Kuß noch auf meinen Lippen. Ich habe lange Jahre in einer zufriedenen Ehe gelebt, ich habe Kinder geboren und Freude an ihnen gehabt – jenen einzigen Augenblick hat nie ein andrer überboten, kein dauerndes Glück hat die Erinnerung an dieses flüchtige verlöscht …

›Und du wolltest uns verlassen? Das Kind und mich? Und mit welchem Mißklang‹, begann er plötzlich, ›mit welcher Täuschung, mit welcher Verleumdung deiner selbst!… Du konntest sagen, daß du mein Kind nicht liebst?!‹

Er hielt inne – er sah mich zagend und staunend an. Ich hatte mich erbleichen gefühlt, die Arme waren mir gesunken, und wie ein Hauch des Todes überlief es mich.

›Helene‹, fuhr er fort, ›es war eine Ausflucht, ich bin davon überzeugt, ich schwöre dir: ich zweifle nicht – aber schwör auch du, daß ich nicht zu zweifeln brauche! Es ist nur eine Laune, eine Grille – aber aus Liebe zu mir, aus Erbarmen gib ihr nach!‹

Nun – – ich konnte nicht. Ich konnte nur weinen und flehen: ›Erlaß es mir!‹

Er fuhr heftig auf: ›Die Stunde trennt uns oder vereinigt uns für immer … Die mein Kind nicht liebt, liebt mich nicht … Helene, so war es keine Lüge?… Nun, dann war alles, was mich rührte, was Ihnen meinen Dank gewann, Heuchelei! Lieblosigkeit im Gewande der Liebe, dem kalten Herzen mühsam abgerungene Pflichterfüllung?… Sagen Sie mir, wie kann man bei Ihnen unterscheiden zwischen Liebe und ihrem Gegenteil – der Pflicht?… Sie sind furchtbar … Der Mann, der am Altar Ihren Schwur empfängt, wird sich ewig fragen müssen: Folgt sie dem eigenen Herzenszug, oder hält sie nur gewissenhaft ein gegebenes Wort?‹

Was jetzt folgte, was er sprach, was ich erwiderte – nicht einmal in Gedanken vermag ich dabei zu verweilen.

Meine schwer erkämpfte Ruhe, Selbstüberwindung und Selbstverleugnung – zu meinem Unheil hatte ich sie ausgeübt. Was ich für das Beste an mir gehalten, erhob sich gegen mich und klagte mich an. Wie hätte ich mich gegen diese Zeugen verteidigen sollen?

Er sah, was ich litt, und in der letzten Sekunde noch hatte er eine Regung des Mitleids. ›Wir trennen uns, aber wir gehen nicht aus der Welt. Prüfen Sie sich … Wenn Ihre Gesinnungen sich ändern sollten, wenn Ihnen die Abneigung gegen Anka vielleicht doch in einiger Zeit nicht mehr so unbesiegbar scheinen sollte wie jetzt, wenn Sie noch einen Versuch wagen wollten – dann geben Sie mir ein Zeichen! Ich werde es begrüßen wie einen Boten des Lichts. Helene! werden Sie mir das Zeichen geben können? Glauben Sie es? Darf ich darauf hoffen?‹

Noch einmal zog er mich an seine Brust, aber ich empfand nur Qual, Beschämung und Reue. Wie ein Raub erschien mir jedes Wort der Zärtlichkeit, das er an mich verlor, und Schrecken flößte die stürmische Heftigkeit mir ein, mit der er mich plötzlich umfaßte.

Angstvoll entzog ich mich seiner Umarmung … Auf seine letzte Frage hat er keine Antwort erhalten – mein letzter Blick hat den seinen vergeblich gesucht. Stumm, unbeweglich stand er da und starrte mit düsterer Entschlossenheit vor sich nieder.

Auf halbem Wege nach meinem Zimmer kam mir der Doktor entgegen. ›Es bleibt doch dabei? Wir reisen?‹ sprach er hastig. ›Sie haben Abschied genommen für immer? Nun, Gott sei Dank! Ein Freund sagt Ihnen das, ein Vater!‹

Er geleitete mich durch sein eigenes Gemach, das von dem Anka und mir bestimmten nur durch ein leerstehendes getrennt war. Einen andern Eingang schien unsere Stube nicht zu haben. Auf der Schwelle blieb der Alte stehen, empfahl uns, sogleich zur Ruhe zu gehen, und schloß die Tür.

Anka war noch hellmunter und spielte Fangball mit ihrem Clovek. Als ich eintrat, näherte sie sich mir, betrachtete mich von unten hinauf, das Gesichtchen gesenkt, die Augen erhoben.

›Sie haben geweint, Fräulein?‹ fragte sie, und wie innerlich abgestoßen, zog sie sich vor mir zurück und begann von einer Ecke in die andre zu hüpfen. Auf einmal blieb sie in der Nähe des geöffneten Fensters stehen und rief ganz erschreckt: ›Hören Sie, Fräulein, hören Sie! – Es wohnt jemand neben uns.‹

›Was liegt daran, Anka?‹

›Ich höre jemand auf und ab gehen.‹

›So mag er doch.‹

›Wenn er aber hereinkäme?‹

›Wie denn? – Durch die Wand?‹

›Da herein! Da ist eine Tür … Sehen Sie den Schlüssel?‹

Sie hatte recht. Am Ende des Zimmers, in der dunkeln Ecke, welche die Wand gegen das Fenster bildete, befand sich eine Tapetentür. Anka glitt auf den Fußspitzen an sie heran, legte das Ohr an den Spalt und schrie laut auf: ›Es ist Papa! Der neben uns wohnt, ist Papa!‹ und bevor ich’s verhindern konnte, hatte sie die Tür geöffnet und war in das Nebenzimmer eingedrungen.

Ich hörte den Ausruf der Überraschung, mit dem der Graf sie empfing. Sie wechselten einige Reden, die Kleine erschien wieder, ich schloß hinter ihr die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch.

Anka ließ sich auskleiden. Sie half dabei, so gut sie konnte, wich meiner Berührung soviel als möglich aus, vermied, mich anzusehen, und kniete endlich unaufgefordert in ihrem Bett zum Abendgebet nieder. Dann legte sie sich hin, drückte den Kopf in das Kissen und sagte vergnügt: ›Wenn ich morgen erwache, sind Sie nicht mehr da.‹

›Wird Sie das sehr freuen, Anka?‹

Sie lachte ein wenig verlegen. ›Warum fragen Sie? – Sie wissen schon, Sie wissen recht gut.‹

Jawohl, ich wußte!… Was ich von ihr zu erwarten hatte, wußte ich.

Eine Weile verging, das Kind schlief. Ich saß an seinem Bett und sann – und sann – und in mir nagte der Schmerz!… Was ich empfand, war einzig darum nicht Verzweiflung, weil ich noch nicht wußte, wieviel man überlebt, und mich wie jedes junge Geschöpf, das unter einem schweren Schicksalsschlag zusammenbricht, tödlich getroffen wähnte.

Ich sah mich als eine Sterbende an, und als solche gab ich mir Rechenschaft von den verhülltesten Vorgängen in meiner Seele. Im Begriff zu scheiden, brauchte ich vor der vollen Erkenntnis meiner Liebe nicht mehr zu zagen, durfte sie gelten lassen in ihrer Unermeßlichkeit. Hatte sie nicht, bewußt und unbewußt, all mein Denken und Empfinden gelenkt? Nicht mit eifersüchtiger Qual jede Äußerung der Zärtlichkeit des Vaters gegen sein Kind bewacht? Hatte sie ihn nicht beherrschen wollen, wie sie mich beherrschte? Im stolzen Gefühl ihrer Echtheit und Größe sich an die Stelle von allem setzen wollen, was ihm bisher teuer gewesen?… Und war das nicht ihr heiliges Recht? War sie nicht ohne Falsch und bot ihm echte Treue und wirklichen Wert für eingebildeten? Aber sie gab nicht nur, sie forderte auch. Forderte gebieterisch, was der geliebte Mann nicht mehr geben durfte: ein ganzes Herz.

›Prüfen Sie sich!‹ hatte er zu mir gesagt. Es war geschehen und der letzte Zweifel getilgt, die letzte Hoffnung erloschen. Ich wollte nichts mehr als hingehen und sterben und ihn dem Kinde lassen – ich dachte nicht mehr: er wird enttäuscht werden. An Göttern kann man zweifeln, aber an Götzen nicht. Die schafft man und schmückt man täglich neu, die liebt man wie der Künstler sein Werk; sie bleiben gut und schön, solange das Auge offen ist, das in ihnen das Gute und Schöne sieht.

Anka bewegte sich, murmelte einige Worte; ich blickte in ihr kleines, unerbittliches Gesicht … herausfordernd schien der halbgeöffnete Mund noch im Schlafe zu sagen: Was fragen Sie? Sie wissen schon.

Eine Regung des Hasses zuckte in mir auf. Ich erhob, ich wandte mich und trat an das geöffnete Fenster.

Es war eine gewitterschwüle Julinacht. Über dem Städtchen lag Dunkel und Stille, eine bleierne Schwere in der Luft. Kein Licht schimmerte auf Erden und kein Stern am Himmel. Ich beugte mich hinaus, nach Erquickung lechzend …

Da pochte es … leise pochte es an der Tür, und eine bange, gedämpfte, sehnsüchtige Stimme flüsterte: ›Helene … Helene … Hören Sie mich!‹

Und es lag ein Ton in dieser Stimme, der an jenen mahnte, vor dem ich einmal schon zurückgebebt … Ich hielt den Atem an, umklammerte das Fensterkreuz mit aller Gewalt meiner Arme … Da stehst du und regst dich nicht! Schweige, Herz – schweig oder brich … Herrgott im Himmel, beschütze mich, beschütze mich vor mir selbst. So betete ich, und dennoch – unwillkürlich, unwiderstehlich streckte meine Hand sich aus, und ich hielt den Schlüssel in meiner Hand – eine Bewegung nur noch, und alles war vorbei, und das Flehen dessen war erhört, der immer heißer beschwor: ›Helene – öffnen Sie!‹

Nein, nein! – Um seinetwillen nicht. Was du für dich nicht könntest, tu’s für ihn, erspare ihm Zwiespalt und Reue, rief es in mir, und ich schleuderte den Versucher, den Schlüssel, hinaus in die Nacht.

Er flog, er klirrte und schlug im Auffallen einen kleinen Funken aus dem Stein. Nun war’s geschehen, und was ich nachher empfand – am besten ist es, darüber zu schweigen. Es gibt seltsame Dinge in der Menschenseele, die klarste hat ihre dunklen Stunden …

Am Bett des Kindes sank ich zusammen und vergrub mein Gesicht in die Decken und wünschte taub zu sein oder bewußtlos oder am liebsten tot! Beim ersten Morgengrauen verließ ich das Haus, begleitet von meinem alten Freunde.«

»Und der Graf machte keinen Versuch, Sie zurückzuhalten, Sie wenigstens noch einmal zu sprechen?«

»Keinen, Gott sei Dank!«

»Und Sie haben ihn nie wiedergesehen?«

»Nie wiedergesehen, aber noch oft durch die Herzogin von ihm gehört. Er hat sich nicht wieder verheiratet und seine Tochter auch dann nicht verlassen, als sie einen eigenen Hausstand gegründet hatte. Laut wurde es auf seinen Schlössern nur noch, wenn sie mit ihrem Gefolge dort verweilte. Manche haben gefunden, sie sei gegen ihn nicht rücksichtsvoll genug gewesen, indessen – die beiden gehörten wahrlich zueinander. Anka war in ihren Gemahl verliebt, hat ihn aber um viele Jahre überlebt. Ihrem Vater ist sie bald nachgestorben. Sie war erst im vierzigsten Jahre«, schloß die alte Frau und lehnte sich erschöpft zurück; ihr durchgeistigter Blick schien in weite Ferne zu schauen.

Ich war ergriffen von dem Ausdruck stiller Hoheit in ihren edlen Zügen, stand auf und nahm ihre Hand. Da fühlte ich sie leise in der meinen zittern.

Kapitel 8

Kapitel 8

 

Wir befinden uns, wie Sie sich erinnern, im Jahre neun«, hub die Hofrätin von neuem an, »es ist im Beginn des Monats Mai. Daß unsre schönen Träume von einem siegreichen Vordringen unsrer Armee unter ihrem großen Führer sich nicht erfüllten, wissen wir bereits. Etwas ganz Bestimmtes, Unwiderrufliches haben wir aber noch nicht erfahren.

Ein Mainachmittag also, ein gar lieblicher noch dazu; der Doktor, Anka und ich kehren vom Spaziergang zurück, und wie wir uns dem Tore des Hofes nähern, sehen wir es offen und vor dem Schlosse einen großen Reisewagen stehen, schwer bepackt, mit vier Schimmeln bespannt. ›Anka!‹ ruft der Doktor, ›wessen Equipage ist das? Wer ist angekommen?‹ Die Kleine schreit auf: ›Großmama! Es ist Großmama!‹ und läuft, so schnell sie kann, in den Hof. Ich ging dem Kinde nach, ohne meine Schritte zu beschleunigen, und hatte alle Zeit, die Dame zu betrachten, die unbeweglich neben dem Grafen stand und ihre Enkelin heraneilen ließ. Sie blickte über Anka hinweg und hielt mich ins Auge gefaßt, aufmerksam, neugierig, ohne Mißgunst und ohne Wohlwollen. Erst nachdem Anka bei ihr angelangt war, beugte sie sich zu dem Kinde nieder, drückte es an ihre Brust und begann mit ihm zu plaudern. Ich sah die Gräfin zum erstenmal; in der Stadt war ich ihres Anblicks nie teilhaftig geworden, und überrascht und unwillkürlich zweifelnd fragte ich: ›Die Großmutter? Ist das möglich? Die Dame eine Großmutter?‹ Der Doktor murmelte etwas von ›wunderbar erhalten‹, ›unglaublich konserviert‹, aber die Gräfin machte nicht den Eindruck einer gut konservierten, sondern wirklich den einer jungen Frau. Ihre hohe, junonische Gestalt bewegte sich mit der Leichtigkeit und Anmut jener Jahre, die für klassische Frauenschönheit die der höchsten Blüte und Entfaltung sind. Trotz des hellen Sonnenlichtes, von dem sie umwoben wurde, war nicht die Spur einer künstlichen Nachhilfe im rosigen Inkarnat ihres schönen Gesichtes zu bemerken. Ihre niedere Stirn, von glatt gescheiteltem, dunkelblondem Haar umrahmt, die klaren blauen Augen, die feine Nase, der liebliche, etwas schwellende Mund erinnerten an die verstorbene Gräfin. Dieser freilich sah man ihr Leiden schon an, als ich sie kennenlernte, während ihre Mutter sich der vollen Frische blühender Gesundheit erfreute. So heiter und sorglos sie dreinsah, so finster und verstört erschien der Graf: ›Schlechte Nachrichten!‹ rief er uns schmerzlich entgegen. ›Geschlagen! Unsere Armee auf dem Rückzug, Bonaparte auf dem Wege nach Wien!…‹

›Ich bin auf der Flucht, Herr Doktor‹, sagte die Gräfin, ›auf der Flucht vor unsern heimkehrenden Truppen. Das sind jetzt traurige und beschämte Leute. Kolowrat übernachtet heut in meinem Hause. Der Arme! Vor kurzem sprach ich ihn, da war er trunken von Siegeshoffnung. Ich konnte mich nicht entschließen, ihn jetzt wiederzusehen … Er hat so große Enttäuschungen durchgemacht, er, und alle, alle … Mademoiselle Helene, nicht wahr?‹ wandte sie sich an ihren Schwiegersohn, nachdem sie von neuem ihren glänzenden und teilnahmslosen Blick auf mir hatte ruhen lassen.

Der Graf erwiderte, sie müsse mich von Wien aus kennen. Alles in ihm kochte vor Zorn über den Gleichmut dieser Frau. Sie nahm davon keine Notiz. ›Mais pas du tout‹, sagte sie. ›Ich hatte noch nicht das Vergnügen, und es ist eines, Sie zu sehen, mein liebes Kind.‹ Nun, wenn es ihr eines war, sie gönnte sich’s. So hartnäckig, so gleichsam zergliedernd, wie die Gräfin tat, hatte mich noch niemand betrachtet, und ich fühlte es: Sie weiß dich jetzt auswendig, sie könnte dich malen, sie könnte Rechenschaft geben von jedem Faden an dir, vom Band an deinem Hut bis zu dem an deinem Schuh. Und dabei beantwortete sie die Fragen, mit denen der Doktor sie bestürmte. Ja, ja, wir hatten furchtbare Verluste erlitten; über das Schicksal ihrer Söhne jedoch konnte die Gräfin, Gott sei Dank, ruhig sein. Sie hatten sich wacker gehalten und waren in mörderischen Gefechten unversehrt geblieben. Aber der arme Stephan – ja der … ›Was ist’s mit ihm?‹ rief der Graf, der bisher geschwiegen, die Zähne zusammengebissen hatte und offenbar mit Widerstreben den Erzählungen seiner Schwiegermutter zuhörte. Er wollte wissen, was sie sagte; die Art, in der sie es sagte, war ihm ein Greuel. Er wiederholte seine Frage, und die Gräfin antwortete, indem sie bedauernd die Achseln zuckte: ›Verwundet, vielleicht schwer …‹ – ›Vielleicht tot!‹ warf der Graf heftig ein, und ich erbebte bis ins Innerste. Andächtig – dafür stehe ich Ihnen gut – habe ich an dem Abend das Vaterunser gebetet, das Graf Stephan sich ausbedungen.

Die Gräfin berichtete alles, was sie wußte. Es war nicht viel, sie hatte es durch einen ihrer Söhne erfahren, der Mittel gefunden, ihr Nachricht zukommen zu lassen. In der Nähe von Regensburg, bei dem heldenmütigen Angriff der Stipsiczhusaren auf die Kavalleriedivisionen St. Sulpice und Nansouty, hatte man den jungen Rittmeister an der Spitze seiner Schwadron, von mehreren Karabinerkugeln zugleich getroffen, vom Pferde stürzen sehen.

›Tot also oder gefangen‹, sprach der Graf und stampfte ingrimmig mit dem Fuße; ›Doktor, Doktor, wann machen Sie mich endlich gesund?!‹

Die Gräfin meinte, man würde auch ohne ihn mit den Franzosen fertigwerden, und ließ sich in das Schloß führen, um vor der Tafel ein wenig auszuruhen. Beim Diner erschien sie umgekleidet, parfümiert, in einer hellgrauen Toilette von entzückender und sehr kostbarer Einfachheit. Sobald sie am Tische Platz genommen hatte, war sie die Herrin des Hauses, der Graf schien nur noch ihr Gast zu sein; sie führte ein sehr lebhaftes Gespräch und unterhielt uns, und zugleich auch sich selbst, auf das beste. Nach dem Speisen spielte sie mit Anka Domino, ließ die Kleine gewinnen und bezahlte den Verlust der Partie mit einem blanken Dukaten, den sie durch ihren Kammerdiener herbeibringen ließ. Dann schickte sie ihr Enkelchen schlafen, erklärte zu wissen, daß die Abende bei uns mit Lesen zugebracht würden, und rief: ›Zur Lektüre denn!‹

Hocherfreut rieb der Doktor sich die Hände: ›Schön! schön! und zu welcher befehlen Eure Erlaucht?‹

Zu welcher? Ja, dafür wußte Ihre Erlaucht Rat. Sie besaß ein nicht mehr ganz neues, gewiß jedoch sehr schönes Buch und hatte es hierher mitgenommen.

›Oh, Liebe‹, wandte die Gräfin sich zu mir, ›es liegt irgendwo in meinem Zimmer … auf dem Tisch oder auf der Toilette … gehen Sie es holen, Liebe …‹

Ich war rasch aufgestanden, zugleich mit mir aber auch der Graf: ›Bleiben Sie, Fräulein!‹ befahl er, ›ich will das Buch holen …‹ – ›Oder – ich‹, fand der Doktor für gut zu sagen und machte Miene, sich zu erheben. Zu spät; der Graf hatte das Zimmer schon verlassen.

Die Gräfin stieß ein leises, langgedehntes ›Ah!‹ hervor und sah mich heiter lächelnd und diesmal nicht ohne Wohlwollen an. Doch war es ein sonderbares Wohlwollen, eines, das nichts mit Herzlichkeit zu tun hat, sondern aus übermütiger Laune, aus munterem Belustigtsein entspringt; ein Wohlwollen war’s, das nicht wohltut. Ich errötete und wußte eigentlich nicht warum.

Der Graf kam zurück. Er legte vier kleine Bände vor seine Schwiegermutter hin. ›Sind das die rechten? Ich kann es nicht glauben – französische Bücher, wir werden doch nicht französische Bücher lesen, Mama?‹

›Französische?‹ wiederholte der Doktor entrüstet, und die Gräfin lachte. ›Geniert Sie das? Haben Sie am Ende gar Ihr Französisch vergessen?‹ sprach sie, worauf der Alte mit unbeschreiblicher Geringschätzung entgegnete: ›Wär unmöglich, Erlaucht, sintemal ich nie ein Wort davon gewußt habe.‹ Er erhielt den Rat, nur recht gut zuzuhören; mit Hilfe des Lateinischen, das er als Arzt doch kennen müsse, werde er heute etwas, morgen mehr und übermorgen alles verstehen.

Da rief der Graf, der inzwischen in einem der Bücher geblättert hatte: ›Ich finde nichts als Betrachtungen und Predigten. Die Geschichte scheint mir langweilig. Erlassen Sie uns diese Prüfung, Mama.‹

Langweilig! – Das eine Wort kühlte den Leseeifer der Gräfin plötzlich ab. Sie war auf einmal zu nichts mehr so gut aufgelegt wie zu einer Partie Pikett mit ihrem Schwiegersohne. Ich aber kam bei dieser Gelegenheit zu dem ersten französischen Roman, den ich je mit Augen geschaut. Die Gräfin übergab mir ihn zur Durchsicht, und noch am selben Abend machte ich die Bekanntschaft der ›Delphine‹ von Madame de Staël.

Lesen Sie das Buch heute, und vieles darin wird Ihnen sentimental und veraltet erscheinen. Das immerwährende Niedertauchen in die eigene Seele, das Belauschen der eigenen Empfindungen, in dem besonders die Heldin sich gefällt, wird Sie ermüden, und dennoch, ich wette! aus der Hand legen Sie den Roman nicht gern. Die Menschen, mit denen er Sie vertraut macht, sind doch gar zu interessant. Diese Delphine ist gar zu herrlich in dem Glänze ihres weltumfassenden Geistes, gar zu rührend in der Naivität ihrer großartigen Wahrhaftigkeit. So wirkt das Buch heute noch; ermessen Sie, wie es auf ein neunzehnjähriges Mädchen wirken mußte, das zu einer Zeit damit bekannt wurde, in der die Sitten, die es schildert, noch nicht antiquiert waren und das Wort ›romantisch‹ bei weitem nicht für einen Tadel galt. Delphine ist die schöne junge Witwe eines Greises, der sie nur geheiratet hat, um ihr sein Vermögen hinterlassen zu können. Sie hat durch ihre Großmut die Verbindung ihrer Kusine mit einem Manne ermöglicht, den weder die ihm bestimmte Braut noch Delphine bisher gesehen haben. Die letztere hört viel von ihm, sieht sein Porträt, ihre Phantasie ist von ihm erfüllt, sein bester Freund sagt ihr: ›Sie sind für ihn geschaffen, Sie allein würden es verstehen, ihn dauernd zu beglücken …‹ Er wird infolge eines Abenteuers auf der Reise verwundet, man bringt ihn nach Paris, er ruft seine zukünftige Schwiegermutter an sein Krankenlager und hofft, seine Braut werde sie begleiten. Statt dieser, die es aus übertriebenen Schicklichkeitsrücksichten verweigert, läßt Delphine sich dazu herbei. Unterwegs bereut sie ihre Nachgiebigkeit. Sie fürchtet, Leonce – der Held – könne den Schritt, den sie tut, mißbilligen. Ein Zagen ergreift sie, als sie vor ihn treten soll, aber sobald sie ihn gesehen, weicht jede andre Empfindung der des Mitleids. Sie steht an seinem Ruhebett; er vermag kaum den Kopf zu erheben, um sie zu begrüßen, und bietet in seiner Hilflosigkeit den Anblick des edelsten und rührendsten Leidens. Eine tiefe Gemütsbewegung bemächtigt sich ihrer …

Bis dahin kam ich, nicht weiter – an diesem Tage nicht um ein Wort weiter!… Ich sah nicht mehr, was auf den Blättern stand vor meinen leiblichen Augen, ich sah ein andres Bild als das dort geschilderte, ein andres und doch so ähnliches Bild, und gewaltiger, als es mich in der Wirklichkeit ergriffen hatte, ergriff es mich in der Erinnerung. Was ich damals ahnungslos empfunden, jetzt wußte ich’s! Dieses Buch hatte es mich gelehrt!

Am nächsten Vormittag wurden Anka und ich zur Gräfin gerufen. Es roch köstlich in ihrem Zimmer, sie sah frisch aus wie eine Rose, war eben aus dem Bade gestiegen, lag auf der Chaiselongue und trank Schokolade. Jetzt wollte sie eine kleine Konversation mit uns haben. ›Unterhalte mich, Anka!‹ Sie begannen zu schwatzen, und die Großmama war die Lustigere von beiden, zog auch mich ins Gespräch, machte mir Komplimente über meine Augen, meine Zähne, meinen Teint, über was weiß ich. Die große Dame zeigt gegen unsereinen ebensowenig Stolz wie gegen ein Hündchen oder einen Kanarienvogel. Man spielt mit solchen Wesen, wenn sie niedlich sind, schmeichelt ihnen und verwöhnt sie. Der Vogel löscht seinen Durst aus dem Glase der Gebieterin, das Hündchen schläft auf ihrem Schoß, aber die Vertraulichkeit, in der man mit ihnen lebt, ändert nichts an der Rangordnung, die sie in der Stufenleiter der Geschöpfe einnehmen. So wenig Menschen- und Weltkenntnis ich damals besaß, über den Wert der Freundlichkeiten, die mir die Gräfin erwies, gab ich mich keiner Täuschung hin.

Mitten in ihrem Geplauder fiel es Anka plötzlich ein zu fragen, ob ihre Großmutter in die Gruft gehen werde, den schönen Sarkophag zu sehen, in dem Mama liege.

Da vereiste gleichsam das Gesicht der Gräfin, ein Ausdruck des Widerwillens umzuckte ihren Mund, wie zurückgestoßen drückte sie sich in die Kissen. ›Nein, nein, was denkst du?… Man darf die Ruhe der Toten nicht stören‹, sagte sie, und sogleich entließ sie uns mit dem Auftrag, ihr Francine zu schicken.

›Wissen Sie was?‹ begann Anka, nachdem sie ein Weilchen schweigend neben mir einhergegangen war, und mit der wichtigsten Miene und in belehrendem Tone fügte sie hinzu: ›Wir müssen, wenn wir uns bei Großmama langweilen, nur anfangen von der Gruft zu sprechen, da schickt sie uns gleich fort.‹

Wir sahen die Gräfin erst bei Tische wieder. Abends beteiligten wir uns alle an einem Lottospiel mit Anka. Ich saß dem Grafen gegenüber, dessen Blick mit einer Aufmerksamkeit auf mir ruhte, die abzulenken seine Schwiegermutter mehrmals umsonst versuchte. Ob mir dabei wohl oder weh zumute war, dürfen Sie mich heute nicht fragen; vielleicht habe ich es sogar damals nicht deutlich gewußt. Klar empfand ich nur eines: ein nicht ganz trostloses, sondern mit einer geheimnisvollen, schmerzlich süßen Befriedigung gemischtes Gefühl: Du mußt fort … Und immer mehr befestigte sich die Überzeugung in mir: Du mußt fort!«

Kapitel 1

Kapitel 1

Es ist schon ziemlich lange her, seit ich die Entdeckung gemacht habe, daß ich anfange ungesellig zu werden. Ein gewisser Schrecken bemächtigt sich meiner, sooft mir ein Billett ins Zimmer gebracht wird, das danach aussieht, als ob es eine Einladung oder eine Ansage enthielte. Kein Tag vergeht mir so rasch, hinterläßt mir eine so angenehme Erinnerung wie einer, an dem ich weder einen Besuch zu machen noch zu empfangen brauche. Kein Abend scheint mir besser angewendet als der, den ich in meiner Kaminecke verträume, allein mit meinen Gedanken und mit meiner Strickerei.

Indessen, es gibt eine Ausnahme. Es gibt eine Frau Hofrätin, die mich noch niemals zu sich beschieden hat, ohne daß ich ihrem Rufe mit Freude und Eilfertigkeit Folge geleistet hätte.

Die Hofrätin ist eine liebenswürdige, schöne, ja bildschöne, mehr als siebzigjährige Frau. Edlere Züge lassen sich nicht denken als die ihres zarten, blassen, mit unzähligen Fältchen bedeckten Gesichtes. Die großen hellbraunen Augen haben ihr Feuer längst verloren, aber es spiegelt sich in ihnen der Widerschein eines inneren Lichtes, einer Seele voll Güte, Geist und Adel. Die Lippen sind farblos und schmal geworden, doch umgibt sie im Schweigen wie im Sprechen ein Ausdruck, den man geradezu hold nennen muß.

Ihre Gestalt ist hager und etwas über mittelgroß. Wenn ich meiner alten Freundin auf der Straße begegne, bewundere ich jedesmal die Leichtigkeit ihres Ganges, ihre gerade Haltung, ihre eigentümliche Art, den Kopf zu tragen, so hoch und frei, so ungebeugt von des Lebens Mühen.

Ich liebe sie, das heißt, wir lieben uns, denn sie ist nachsichtig, und ich bin dankbar. Sie tadelt zwar meinen Hang zur Ein- oder höchstens Zweisiedelei, aber sie verzeiht, ja sie unterstützt ihn noch. »Ich lasse es Ihnen wieder sagen, wenn ich nicht zu Hause bin«, beschwichtigt sie regelmäßig meine Klagen über die allzu rasche Flucht eines mit ihr zugebrachten Abends.

Leider jedoch ist sie meistens zu Hause für einen großen Bekanntenkreis, der sich in zwei roten Salons auf gleißenden Atlasmöbeln und unter Kronleuchtern für je achtundvierzig Kerzen um die gastfreie Greisin versammelt. Schöne, mir aber unheimliche Ungeheuer, diese beiden Säle! Es heißt zwar, daß man sich in ihnen sehr gut unterhält, daß gefeierte Menschen darin umherwandeln, Tee trinken und sich dabei so natürlich benehmen, daß man sie von gewöhnlichen Sterblichen kaum unterscheiden kann. Trotzdem fühle ich keine Sehnsucht nach ihrem Anblick. Ein gutgearteter, alter Vogel begleitet gewiß alles, was noch fliegen kann, mit seinen innigsten Segenswünschen; wenn er aber dabei den Kopf unter dem erlahmenden Flügel versteckt, braucht ihm das niemand übelzunehmen.

Was mich betrifft, ich danke für die roten Salons und bin es zufrieden, im grauen Schlafgemach meiner Hofrätin empfangen zu werden.

Das ist mir ein liebes Zimmer! Geräumig, einfach und nett. An den vier Wänden stehen einander ehrlich und gerade gegenüber ein Pfeilerkasten und ein Etablissement, ein schmales Bett und ein breiter Schrank. In dem Pfeilerkasten residieren sicherlich Hüte und Hauben, und den mächtigen Schrank habe ich in Verdacht, trotz seiner eingelegten Flügeltüren und gewundenen Säulen doch nur ein Kleider- und Wäschebehältnis zu sein. Das Etablissement besteht aus einem Kanapee, einem Tisch, zwei Fauteuils und vier Stühlen, alles dünnbeinig, und die Sitzmöbel mit einem Wollenstoff überzogen, auf dem seit unvordenklichen Zeiten indische Schützen ihre Pfeile auf phantastische Vögel anlegen, die, inmitten zierlicher Arabesken thronend, das tödliche Geschoß getrosten Mutes erwarten. – Das Bett ist mit glattem, grünem, auf einen Rahmen gespanntem Zeuge überdeckt, und über dem Bett hängt das Porträt des Herrn Hofrates selig. Ein freundlicher alter Herr im schwarzen Frack mit hoher, weißer Krawatte, das Kommandeurkreuz des Leopold-Ordens an rotem Bande um den Hals. Er trägt einen etwas zu reichen Haarschmuck, der nicht auf seinem Kopfe gewachsen zu sein scheint. Die Augen sind klein, die Nase ist groß, gebogen und messerrückendünn, der Mund eingekniffen, das Kinn spitzig, und man kann nicht genug darüber staunen, daß so scharfe Züge soviel Milde auszudrücken vermögen. Unwillkürlich denkt man: Der hat seiner Umgebung das Leben leicht gemacht! Und diesen Gedanken äußern heißt, der Hofrätin eine Freude bereiten. Sie hat mit ihrem Mann eine sehr glückliche Ehe geführt, obwohl sie ihn dereinst lange schmachten ließ, bevor sie die Seine wurde.

Er hatte sie in Paris kennengelernt, wo sie ihre Jugend als Erzieherin der einzigen Tochter der Herzogin von P. zubrachte und er als Beamter an der österreichischen Botschaft angestellt war. Wie der Blitz schlug die Liebe in sein Herz ein. Von ihrer göttlichen Zuversicht und dem Glauben an Erwiderung erfüllt, warb er um die Hand Fräulein Helenens und erhielt ein wohlgeflochtenes Körblein. Sie sprach ihren Dank für den ehrenvollen Antrag aus und den Entschluß, ihren teuern Zögling nicht zu verlassen, bevor dessen Erziehung beendet sei.

Aus Verzweiflung über die erlittene Enttäuschung stürzte sich der abgewiesene Freier – in die Arme einer hübschen Französin, deren Neigung bis jetzt von ihm verschmäht worden war. Ein paar Jahre hindurch quälte ihn das verwöhnte und kränkliche Geschöpfchen mit eifersüchtigen und andern Launen, dann starb es und hinterließ ihm ein zartes Töchterlein, das sein Dasein erst nach Monden zählte. Bald nach dem Tode seiner Frau wurde der Beamte zu einem höheren Posten befördert und nach der Heimat zurückberufen. Dort setzte er seine Laufbahn fort und erlaubte sich, alljährlich an Fräulein Helene ein ehrfurchtsvolles, ein wenig steif gehaltenes Schreiben zu richten, in dem er nach ihrem werten Befinden fragte und kurzen Bericht über das seiner kleinen Dora erstattete. Darauf wurde ihm regelmäßig eine freundliche Antwort zuteil.

So ging es fort, bis ihm die Kunde zukam, daß die Tochter der Herzogin im Begriff stehe, sich zu verheiraten, und nun beeilte er sich, ihrer Erzieherin seinen vor Jahren gemachten Antrag zu erneuern. Er tat es in warmen Worten und nicht nur in Berücksichtigung des eigenen, sondern auch des Wohles seiner Tochter. Diese setzte zum Zeichen, daß sie den Schritt billige, ihren Namen neben den seinen unter das inhaltreiche Schriftstück. Sie tat es mit Buchstaben, die so groß waren wie Fingerhüte und eine verhängnisvolle Ähnlichkeit mit Runen hatten. Sie gaben Zeugnis von einem bedenklich niedrigen Bildungsgrade des achtjährigen Kindes. Vielleicht trug gerade dieser Umstand zu der Einwilligung bei, mit der die Erzieherin ihren standhaften Bewerber jetzt beglückte. Bald darauf verließ sie das Haus, das ihr in der Fremde ein heimisches geworden war, um daheim ein fremdes zu beziehen. Die alte Herzogin klagte, daß sie zwei Töchter zugleich verliere; man machte für die Zukunft allerlei Wiedervereinigungspläne, allein sie gingen nicht in Erfüllung. Man sah einander nie wieder, blieb aber immer in schriftlichem Verkehr.

Die Nachrichten, die Frau Helene von sich, von Mann und Kind zu geben hatte, waren durchweg gute. Später gesellten sich zu dem Stieftöchterchen eigene Kinder, die von ihrer Mutter sehr geliebt und gut erzogen wurden, nicht mehr und nicht besser jedoch als Dora, für die Helene eine wahrhaft mütterliche Empfindung hatte und bewahrte. Die kleine Familie wurde nach und nach eine große, und als der Tod des Hofrats eine schmerzliche Lücke in dieselbe riß, blieb seine Witwe der Mittelpunkt der Liebe und Verehrung ihrer Kinder und einer zahlreichen, zum Teil auch schon herangewachsenen Enkelschar. Niemals aber erstickte im Herzen dieser Frau das Interesse für ihre Angehörigen jenes für fremdes Wohl und Weh. Sie darf wohl fragen: »Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?« Sie macht das Wort lebendig: »Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid«, und jeder, dem daran gelegen ist, sich bei ihr einzuschmeicheln, der ergreift das sicherste Mittel dazu und hilft ihr – helfen.

So tue auch ich nach meinen schwachen Kräften und werde reich belohnt für die lobsüchtige Emsigkeit, die ich dabei entfalte. Vor kurzem erst bot sich eine Gelegenheit, den besonderen Dank meiner Gönnerin zu verdienen. Sie hatte allen ihren Bekannten aufgetragen, für ein junges Mädchen, das ihrem Schutze empfohlen war, eine Stelle als Erzieherin in einem achtungswerten Hause ausfindig zu machen. Nun ließ mein guter Freund, der Zufall, mich das Gesuchte an einem Tage entdecken, an dem mich die Hofrätin, ein weiblicher Gleim, »auf einen Kuß und einen Kaffee« zu sich geladen hatte.

O große Wonne! Ich brauchte nicht meine herrliche Neuigkeit durch ein völlig gleichgültiges Blatt Papier übermitteln zu lassen, ich konnte sie selbst bringen und glückliche Zeugin der Freude sein, die hervorzurufen ich nicht verfehlen konnte.

Frohlockend trat ich vor die Hofrätin, schwang triumphierend meinen bereits bis zur Hälfte gediehenen Bettlerstrumpf und sprach: »Ich hab’s! ich hab’s!… Eine Stelle, besser als gut … ein Haus, mehr als achtungswert … alle Erwartungen übertroffen!«

Die alte Frau reichte mir beide Hände: »Ah – wirklich – nein – Sie sind … Nehmen Sie Platz!«

Sie setzte sich in die Ecke ihres Kanapees, ich mich ihr gegenüber, auf einen Fauteuil, den ich immer mit Vergnügen einnehme, obwohl er Schuld an manchem blauen Fleck an meinen Ellenbogen trägt.

»Das Haus also mehr als achtungswert? Jetzt bitte ich aber, es mir zu nennen.«

Ich tat es, und sie wurde plötzlich ernst: »Da ist ja kürzlich die Frau gestorben.«

»Ganz recht. Zwei kleine Mädchen sind zurückgeblieben. Allerliebste Kinder, an denen Mutterstelle zu vertreten …«

»Niemand vermag!« fiel sie mir ins Wort. »Niemand auf Erden. Mutterstelle vertritt niemand.«

»Sie sagen das?… Sie?… Ihre Stieftochter ist andrer Meinung.«

Sie beantwortete meinen Einwand nicht. Ich war im Zweifel, ob sie ihn gehört hatte, so vertieft schien sie in ihre eigenen Gedanken. Nach einer Pause des Nachsinnens sprach sie: »Der Vater dieser Kinder ist noch jung, soviel ich weiß … Er wird sich wohl wieder verheiraten?«

»Das glaube ich nicht. Er hat seine verstorbene Frau zu sehr geliebt.«

Ich begann ihn herauszustreichen, soviel ich konnte und mit dem besten Rechte auch durfte. Ich erzählte, welch ein treuer, redlicher Mensch und zärtlicher Vater er sei.

Sie hörte mir aufmerksam zu, allein je mehr ich ihn lobte, desto enttäuschter schien sie zu werden.

»Er trauert um seine Frau, er beschäftigt sich viel mit seinen Kindern. Das ist schlimm«, sagte sie endlich. »Nein, nein – ich danke Ihnen, aber die Stelle paßt nicht für meinen Schützling.«

Ich muß gestehen, daß diese Äußerung mich verdroß und daß ich augenblicklich so unangenehm wurde, wie gutmütige Leute zu werden pflegen, wenn man ihnen eine Gelegenheit verdirbt, sich nützlich zu erweisen.

Eine lange Kontroverse begann. Ich geriet in Eifer, mir scheint sogar, daß ich Bosheiten sagte.

Die Hofrätin bemühte sich, mich zu beschwichtigen. »Ärgern Sie sich nicht«, sprach sie. »Was kommt dabei heraus? – Daß Sie jedes Ihrer Worte bereuen werden und daß ich meine Weigerung doch nicht zurücknehme. Ich habe meine Gründe dafür. Wenn Sie wüßten! – Gute Gründe, aus einer eigenen Erfahrung geschöpft.«

Ich bat sie, mir dieselben mitzuteilen, und sie wollte im Anfang nichts davon wissen. Sie hatte »von dieser Geschichte« nur einmal in ihrem Leben gesprochen, und zwar mit ihrem seligen Mann, am Tage vor der Verlobung. Sie konnte sich nur schwer entschließen, die alten, schlummernden Erinnerungen wiederzuerwecken. Endlich jedoch gab sie meinem Flehen und Drängen nach und begann:

Kapitel 2

Kapitel 2

 

»Ich muß im Gegensatz zu so vielen meiner ehemaligen Standesgenossinnen sagen, daß mir die Gouvernante an der Wiege gesungen worden ist. Von Kindheit an hörte ich: Lerne, damit du lehren kannst; gehe den rechten Weg, um ihn andern weisen zu können. Der Wohlstand, den du jetzt genießest, erlischt, sobald sich die Augen deines Vaters schließen. Dann heißt es, selbst für dein Brot sorgen. Die Erinnerung an die Ratschläge und an das Beispiel deiner Eltern ist der ganze Reichtum, den du auf deinen Lebensweg mitbekommst.

Ich war achtzehn Jahre alt, als meine Mutter starb; bald darauf folgte der Vater ihr nach, und ich stand vereinsamt in der Welt. Ich bin eine uralte Frau, mein Gedächtnis fängt an mir untreu zu werden, aber die Empfindung, mit der ich nach dem Begräbnis meines Vaters unsere verlassene Wohnung wieder betrat, gehört zu den Dingen, die ich heute noch nicht vergessen habe.«

Ich blickte zu ihr hinüber. Sie hatte nicht aufgehört zu stricken, fleißig und lautlos wie immer. Kerzengerade, die Arme fest an den Leib geschlossen, saß sie da in ihrem eng anliegenden schwarzen Kleide, mit ihrer hohen, weißen Haube und den Locken an beiden Seiten der Stirn, die sich nur durch den Silberschimmer, der auf ihnen lag, von ihrer schneeigen Umrahmung unterschieden.

»Man ließ mir keine Zeit, meinem Schmerze nachzuhängen«, fuhr sie fort. »Wenige Wochen nach dem Tode meines Vaters brachte mich der Vormund, der mir bestellt worden war, als Erzieherin in eines unserer vornehmsten Häuser. Die Stellung war in jeder Hinsicht glänzend. Nur ein Zögling, ein siebenjähriges Mädchen, unumschränkte Herrschaft in meinem Gouvernantendepartement, äußerst vorteilhafte Bedingungen in der Gegenwart und – wenn ich meine Aufgabe zu Ende geführt hätte – eine gesicherte Zukunft.

Die Eltern meiner kleinen Anka hatten auf mich, als ich ihnen vorgestellt wurde, einen ungemein günstigen Eindruck gemacht. Beide jung, schön, liebenswürdig. Beide von der gewinnenden Höflichkeit, die sich von selbst versteht, sich wenigstens damals in der feinen Welt von selbst verstand. Sie erschienen mir einfachem Bürgerkind inmitten ihres Luxus, der alles überstieg, wovon ich je gehört oder geträumt hatte, ein wenig halbgottmäßig. Ich fand es ganz natürlich, daß ein Wesen, das so völlig einem Engel glich wie meine Gräfin, nur im Fluge an uns vorüberrauschen könne, daß man einer so himmlischen Erscheinung nicht zurufen dürfe: Verweile, laß dich ansehen, recht nach Herzenslust. Es wäre mir gar nicht eingefallen, ihr zuzumuten, daß sie sich in die Kinderstube setzen möge und Puppenkleider zuschneiden, einen Kreisel peitschen oder nach der Schreiblektion ein tintig gewordenes Fingerchen abwischen. Sie schien mir zu dergleichen viel zuwenig irdisch.«

»Ich bitte Sie!« erlaubte ich mir einzuwenden, »das war jugendliche Schwärmerei. Wenn man irdisch genug ist, um ein Kind in die Welt zu setzen, ist man’s auch, um das Kind zu betreuen … Und was die Schönheit betrifft, ich wette darauf, daß Sie mindestens ebenso schön gewesen sind wie Ihre Gräfin.«

»Nein!« entgegnete die Hofrätin. »Es ist gewiß so manches minder hübsche Gesicht, als das meine damals war, bewundert worden, aber mit der Gräfin ließ sich überhaupt niemand vergleichen – Märchenprinzessinnen und Engel ausgenommen. Dennoch war etwas, das mir die Freude an ihrem Anblick trübte: eine kränkliche Blässe, ein Ausdruck von Müdigkeit, der sich täglich deutlicher in ihren Zügen aussprach. Freilich war diese Müdigkeit eine natürliche Folge des Lebens, das die Gräfin führte. Eine angespannte, aufreibende Tätigkeit, wirkliche Arbeit schwerster Art hätten die junge Frau nicht mehr in Anspruch genommen als die Vergnügungen, denen sie sich hingab. Es war das Jahr der Vermählung des Kaisers Franz mit der Erzherzogin Luise von Este. Ein Taumel der Lust hatte das leichtsinnige Wien ergriffen. Die gute Stadt entschädigte sich für die Trauer, in welche sie durch die Schicksalsschläge versetzt worden war, die kurz vorher das Reich getroffen hatten. Meine Gräfin durfte bei keinem Feste fehlen; sie war im höchsten Grade, was man zu jener Zeit in der Gesellschaft ›répandiert‹ nannte, und ich dachte oft mit stiller Erbitterung: Du wirst dich so lange ›répandieren‹, bis dein letzter Lebensatem im Dienste nichtiger Zerstreuungen verhaucht sein wird.

Niemals rollte der Wagen, der die Herrschaften nach Hause brachte, vor drei oder vier Uhr morgens in die Einfahrt. Das Rasseln der Karosse, das Getrappel der Pferde weckte jedesmal die kleine Anka aus dem Schlaf. Sie stellte sich auf in ihrem Bette und spähte in den Hof hinab, in den unsere ganze Fensterreihe sah. Bis herauf stoben die Funken, qualmte der Rauch der Fackeln, die von den Läufern an den Ecksteinen ausgeschlagen wurden. Laut und lärmend ging es dort unten zu, indessen drüben im gegenüberliegenden Trakte des Palais zwei hohe Gestalten lautlos an den breiten Bogenfenstern des Ganges vorbeiglitten, in die hellerleuchtete Halle traten und hinter den Flügeltüren verschwanden, die voraneilende Lakaien geöffnet hatten.

Regelmäßig begann Anka dann zu weinen und verlangte nach dem Vater, für den sie überhaupt mehr Zärtlichkeit äußerte als für die Mutter. ›Aber ich will ihm gute Nacht sagen! Aber ich will ihm nur einmal – aber ich will ihm nur ein bißchen gute Nacht sagen!‹ jammerte sie und war nicht zu beschwichtigen. Ich sprach ihr zu, ich bat, befahl, schalt und drohte … ja, das half! – mir zu dem Gefühl meiner Ohnmacht der Kleinen gegenüber, sonst zu nichts. Sie schwieg nicht eher, als bis ihr die Stimme ausblieb, und schlief erst vor Erschöpfung ein.

Ratlos saß ich an ihrem Bette, ich fühlte: Dir bin ich nicht gewachsen. Sie war verwöhnt, herrisch und klug, sie hätte Strenge gebraucht, zu der ich mich aus dem einfachen Grunde nicht brachte, weil ich meinen Zögling nicht liebzugewinnen vermochte. Durchaus nicht lieb, sosehr ich danach strebte. Meiner Strenge würde das Gegengewicht gefehlt haben; sie hätte leicht in Härte ausarten können. Unter allen Umständen jedoch wäre es eine schwere Aufgabe mit dieser Kleinen gewesen. Sie wurde merkwürdig gehalten. Sie durfte über einen förmlichen Hofstaat die Herrschaft führen. Ich muß vorausschicken, daß es einen unglaublichen Luxus an Dienerschaft im Hause gab. Die geringste Mühewaltung, und wenn sie auch noch so kurze Zeit in Anspruch nahm, war einer eigens dafür bestellten Persönlichkeit übertragen. Da war zum Beispiel Ankas ehemalige Bonne, die hatte in der Gotteswelt nichts zu tun, als des Abends in unserm Schlafzimmer die Nachtlampe anzuzünden. Da war die alte Wartefrau des Kindes, deren ganze Obliegenheit darin bestand, die Puppengarderobe in Ordnung zu halten. Für die Garderobe des lebendigen Püppchens sorgte wieder eine Kammerkatze, der zwei weibliche Adjutanten beigegeben waren. Wir hatten sechs Dienerinnen und einen Diener zu unserer Verfügung – für mich die bösen Sieben! Sie bildeten ein Völkchen, über das meine Anka wie eine junge Sklavenhälterin die Peitsche schwang oder mit dem sie, je nachdem ihr die Laune stand, viel zu vertraulich verkehrte. Alle Leute im Hause waren Erbdiener, Urenkel, Enkel und Kinder von Untertänigkeiten, die schon bei den Altvordern der jetzigen Gebieter die Pferde gelenkt, die Tafel gedeckt, die Perücken frisiert hatten. Sie feindeten mich an, wenn ich sie in Schutz nahm gegen die Tyrannei der ›kleinen Komteß‹. ›So ein Kind‹, sagten Wartefrau und Bonne, ›hat ja noch keinen Verstand.‹ Ja, wenn es von ihnen abgehangen hätte, wäre das Kind nie zu Verstand gekommen, indessen sein länglicher Kopf mit der großen, hohen Stirn ein so vollgerüttelt Maß davon beherbergte, daß ich oft darüber erschrak. Wir führten einen stillen Krieg, sie und ich. Eigentlich konnte sie mich nicht ausstehen, aber sie unterhielt sich mit mir besser als mit irgend jemandem. Sie lernte gern und ausgezeichnet gut, und ich war die einzige, die sie etwas lehren konnte. Sie hörte gern Geschichten erzählen, und ich wußte so schöne! Sie spielte ebenso gern, als sie lernte, und über welchen unerschöpflichen Vorrat von Hilfsmitteln dazu hatte ich zu verfügen! So warb sie denn um meine Gunst, so wenig ihr daran lag, mein Herz zu gewinnen, und so erpicht sie eigentlich darauf war, mir einen Verdruß, eine Kränkung zuzufügen, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Die Schlauheit und Tücke, die sie bei solchen Gelegenheiten entwickelte, erweckten in mir oft ein der Verzweiflung verwandtes Gefühl. Ich hätte alles darum gegeben, mich nur einmal bei ihrer Mutter Rats erholen, nur einmal mit der Gräfin über das Kind sprechen zu dürfen. Allein mein Vormund hatte mich gerade davor dringend gewarnt. ›Strafen Sie, nachdrücklich, wenn es sein muß, tätlich, wenn es nicht anders geht, tun Sie, was Sie für gut halten, nur – klagen Sie nie, das wird unverzeihlich gefunden; man will keine Klage über seine Kinder hören‹, waren die Worte gewesen, mit denen er mich verließ, nachdem er mich in mein neues Amt eingeführt hatte.

Ich befolgte seine Warnung ziemlich lange Zeit; einmal jedoch ließ ich sie außer acht, einmal, als die Gräfin unerwartet bei uns erschien, während ich Anka soeben wegen eines ihrer Streiche zur Rede stellte. Ihre Mutter hörte mir gelassen zu, blickte mich aber dabei mit so frostiger Überraschung an, daß es mir wie eine physische Empfindung von Kälte zum Herzen drang. Als ich zu Ende war, lächelte die Gräfin, nickte ein wenig mit dem Kopfe und wandte sich zu der Kleinen, um ihr zu sagen, daß sie nach Tisch in den Salon gerufen werden würde, um ihre Großmutter zu sehen, die heute da speise. Sie reichte dem Kinde die Hand zum Kuß und entschwebte.

Vernichtet blieb ich zurück.

Haben Sie nicht auch einmal in frühen Mädchenjahren einen Fanatismus der Liebe und Bewunderung für eine etwas ältere Frau in sich genährt, die Ihnen der Inbegriff aller Herrlichkeit schien? Er kommt oft vor in den Ausläufern der Backfischzeit. Einen solchen Götzendienst trieb ich im stillen mit meiner Gräfin. Ich hätte mich auf die Folter spannen lassen, um ein freundliches Wort von ihr zu verdienen, und nun wollte mein Unstern, daß ich mir ihre Ungnade zuzog; denn Ungnade, äußerste Ungnade, leuchtete mir mit grausamem Glanze aus den Augen entgegen, mit denen sie mich, während ich sprach, unverwandt ansah und zu fragen schien: Was tun Sie denn? Was fällt Ihnen ein?!…

Meine Reue und meine Bestürzung waren bitter und groß. Einen Trost hatte ich aber doch. Wenn ich in Ungnade bei der Gebieterin stand, im Lichte ihrer Gunst durfte sich niemand sonnen. Sie war gleich unnahbar für alle ihre Untergebenen. Anschwärzungen hatte man nicht zu fürchten, es wäre ihnen kein Gehör geschenkt worden.

Der Sommer nahte heran, und wir reisten aufs Land. Drei Tage und zwei Nächte waren wir unterwegs, in sechs Kaleschen, mit je vier Postpferden bespannt. Der Graf und die Gräfin voran, dann Anka und ich, in den vier folgenden Wagen ›die Kammer‹, das heißt die Leute, die einen unmittelbaren Dienst bei der Herrschaft versahen. Das Küchenpersonal fuhr voraus und besorgte die jeweiligen Mahlzeiten in den Wirtshäusern, in denen haltgemacht wurde. Wir hatten das schönste Wetter, und die Freudigkeit ist nicht zu schildern, die mich überkam, als wir so mit sechzehn Füßen in das freie, grüne Land hineinliefen. Alle Poesie der Eisenbahnen in Ehren, ich bin durchaus nicht abgeneigt, sie gelten zu lassen; aber denken Sie, ob die Eindrücke, die ich auf späteren Reisen empfing, die heitere Erinnerung an die erste verlöschen konnten. Nun freilich, daß es eben die erste war, trug nicht wenig dazu bei, sie mir besonders entzückend erscheinen zu lassen. Und dann – ich kannte nur die glatte Oberfläche des Lebens, ich hatte noch keinen Blick in die Tiefen seines Elends und seiner Schlechtigkeit getan, ich konnte mich unbefangen an dem Genuß ergötzen, der mir zufiel bei dem Zuge – er glich einem Triumphzuge – eines großen Herrn nach seinen Gütern.

Vor jedem Posthause, an dem wir anlangten, standen schon die vierundzwanzig Pferde bereit, die uns weiterbefördern sollten. Die Postillone sprangen von den Wagen, spannten ihre dampfenden, müdegejagten Gäule aus, und sie wurden durch frische, gut ausgeruhte ersetzt. Der Kurier öffnete die Geldkatze, die Silbergulden blinkten, sechs vergnügte Gesichter lachten uns an; der Postmeister trat mit der Kappe in der Hand an den Wagen des Grafen heran; unsere Diener liefen von einem Viergespann zum andern: ›Kein Koller dabei?‹ – ›War nicht übel!‹ antworteten die Postillone, und vorwärts, was die Pferde laufen konnten, und lustig dazu ins Horn geblasen, was die Brust nur hergab an Atem. Und so ging’s vorbei an Feldern und Wäldern, an blühenden Wiesen, am blinkenden Strom. Klein-Peterl, der Page auf dem Bock unseres Wagens, machte sich die Reisefreiheit zunutze und erlaubte sich unaufgefordert hie und da ein Späßchen.

Da hatte Anka Stoff zum Lachen während der ganzen Fahrt, und wenn sie lachte, war sie mir noch am liebsten; so befanden wir uns beide in bester Stimmung und freuten uns der Freude, mit der wir allenthalben empfangen wurden.

Mir fiel es nicht ein, daß der Schlüssel zu dem Glück, das wir durch unser Kommen verbreiteten, an dem Riemchen der Ledertasche hing, die unser Kurier umgeschnallt hatte.

Am dritten Tage, demjenigen, an dem wir unser Reiseziel erreichen sollten …«

»Wo lag denn dieses?« unterbrach ich die Hofrätin. »Ich fahre da mit Ihnen, Verehrteste, wie in einem Feenmärchen, ohne Ahnung, wo ich mich befinde und wohin Sie mich führen.«

»Das sollen Sie, von mir wenigstens, auch nicht erfahren«, war ihre Antwort. »Im Gegensatz zu allen guten Erzählern, die ihren Geschichten einen deutlich gezeichneten Hintergrund, eine prägnante Lokalfarbe zu geben suchen, tue ich mein möglichstes, um Sie in Ungewißheit über den Schauplatz zu erhalten, auf dem mein kleiner Roman sich abspielte. Und noch etwas ganz Ungehöriges und von allen Kunstkennern Verurteiltes will ich mir zuschulden kommen lassen, ich will von einem Fatum wie von einer ausgemachten Sache sprechen.

Über meiner Jugend waltete offenbar ein Fatum. Seinen ersten bedeutungsvollen Wink hat es mir im Angesicht eines abscheulichen, höchst prosaischen Posthauses gegeben – und unter dem Dach desselben Posthauses hat es sich erfüllt.

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Am dritten Tage also«, begann die Hofrätin von neuem, »gerieten wir, nachdem eine sternenhelle Nacht durchfahren worden, in einen heftigen Regen hinein. Er strömte mit eigensinniger Ausdauer über einen breiten Talkessel nieder, auf dessen Sohle eine freundliche kleine Stadt sich sehr planlos nach allen Richtungen der Windrose ausgebreitet hatte. Die Wagen rasselten über das holprige Steinpflaster, rumpelten, wo es ein solches nicht gab, durch hochaufspritzende Pfützen und lenkten in den Hof des Posthauses ein, in dem die letzte Mittagsstation gehalten werden sollte. Der Hof war ziemlich geräumig, es standen aber Dutzende von Vehikeln darin, und er selbst stand unter Wasser. Postchaisen und unsere Fourgons füllten den Torweg, und in die Nähe des Trottoirs vor dem Hause zu gelangen war unmöglich. Eine förmliche Wagenburg verhinderte die Zufahrt. Die Bedienten schrien, die Postillone fluchten, einige Fuhrleute machten taube Ohren, andre zeigten sich willig, ihr Gefährt aus dem Wege zu räumen. Aber die Verwirrung war zu arg; der Versuch, sie zu lösen, vergrößerte sie nur. Da wurde der Graf ungeduldig, und plötzlich sahen wir ihn, bis an die Knöchel im Schlamme watend, die Gräfin in seinen Armen ans Ufer, das heißt an die Torschwelle, tragen. Auf dieselbe Weise brachte sofort Klein-Peterl die lachende und jubelnde Anka unter Dach. Ich schickte mich an, ihr zu folgen, setzte schon den Fuß auf die letzte Stufe des Wagentrittes und senkte dabei einen Blick voll innigsten Bedauerns auf meinen Schuh und meinen Strumpf. Da rief es laut und fast wie erschreckt vom Hause her: ›Halt! Halt! Warten Sie!… Sie werden doch nicht?…‹ Und derselbe Mann, mit dem ich bisher nicht zwanzig Worte gewechselt, mein gestrenger Herr sprang herzu, erfaßte mich ohne Umstände, und als ob es gar nicht anders sein könne, trug er auch mich, wohlgeborgen unter seinem Mantel, indes auf ihn der Regen des Himmels niederflutete, bis an die Treppe, wo er mich mit einer höflichen Verbeugung wieder auf die Beine stellte.

Hören Sie, liebe Freundin, das machte mir einen Eindruck. Zum erstenmal seit meinem Eintritt in sein Haus erhielt ich ein Zeichen persönlicher Beachtung. Wie mir das wohltat, können Sie sich nicht … doch, Sie können es sich vorstellen, wenn Sie die absolute moralische Einsamkeit erwägen, in der ich mich seit dem Tode meines Vaters befunden, ich junges, liebebedürftiges und an Liebe gewöhntes Geschöpf. Von diesem ganz unerwarteten und auch wirklich unüberlegten spontanen Beweis der Fürsorge ging eine Empfindung des Beschütztseins aus, die mich mit freudigem Mute durchdrang. Und von dem Augenblick an war ich meinem Grafen anhänglich und dankbar.

Ein paar Stunden später setzten wir unsere Reise fort und langten gegen Abend bei wieder günstig gewordenem Wetter vor dem Schlosse an, einem großartigen Gebäude in italienischem Stil, das mitten im Garten lag. Da ich mich auf eine genaue Beschreibung der Örtlichkeit nicht einlasse, mögen Sie nur wissen, daß es ein Garten voll von Überraschungen war. Sie wandelten zwischen glatten, geschorenen Buchenwänden hin, Sie lenkten nach rechts, nach links in andre Gänge ein, die von den früher durchschrittenen nicht zu unterscheiden waren. Sie wurden des Spazierens zwischen grünen Paravents endlich satt, wollten gern aus dem Labyrinth wieder heraus ins Freie – es war unmöglich. Wie eine verwunschene Prinzessin irrten Sie darin umher, bevor es Ihnen gelang, den Ausweg zu finden. – Sie schritten über breite Kiespfade, an Rosenhügeln, an Bosketts vorbei und gelangten zu einem Tempel im Barockstil. Der stand offen; ein Blick ins Innere lockte Sie einzutreten. Künstliche Tropfsteine hingen von der Decke nieder, Felsenpartien, bunte Korallenriffe, kleine Berge aus Muscheln erhoben sich auf dem mit glitzernden Kieseln eingelegten Boden. Im Hintergrunde schwang ein fleischfarbiger Neptun den Dreizack mit unmotivierter Wildheit über eine Gruppe von Nereiden und Tritonen, die harmlos zu seinen Füßen lagerten. Trieb Ihr Vorwitz Sie weiter, in die Nähe dieser steinernen Gestalten, so wurden Sie plötzlich von einem Regenschauer übersprüht, den Ihnen Neptuns Dreizack, die Muschelhörner der Tritonen und die ausgestreckten Finger der Wasserweiber entgegensandten. Sie wollten entfliehen – betraten eine Steinplatte auf dem Boden vor dem Ausgang – ein Schleier aus Wasser schob sich zwischen Sie und ihn, und nun hatten Sie die Wahl: entweder Gefangenschaft oder ein unfreiwilliges Duschbad.

Am Ende des Gartens, da, wo er an die herrlichen Forste grenzte, befand sich eine Einsiedelei mit einem Glockentürmchen. Öffneten Sie die Tür, so begann die Glocke zu läuten und hörte nicht früher auf, als bis Sie den Strang aus der Hand eines hölzernen Kapuziners gelöst hatten, der ihn in Bewegung setzte. Diese Einsiedelei hatte sich Anka zum Geschenk ausgebeten; sie war feierlich zur Eigentümerin des kleinen Hauses eingesetzt worden, das zwei ganz allerliebste, mit großem Luxus und Geschmack eingerichtete Zimmer enthielt. Dort brachten wir unsere Vormittage mit Lernen, Lesen und Arbeiten zu. Um zwei Uhr servierte Peterl unser Diner in der Einsiedelei, und nachmittags öffneten wir die Pforte des Gitters, das den Garten von dem Walde trennte, und zogen zu weiten Spaziergängen aus. Erst gegen Abend kehrten wir zurück. Der Graf ließ fast regelmäßig um diese Zeit, seitdem wir auf dem Lande wohnten, die Kleine rufen und behielt sie bei sich, bis sie schlafen ging. Ich kann Ihnen versichern, daß es mir in Ankas Seele wohltat, sie nun täglich doch eine Stunde lang in Gesellschaft eines Wesens zu wissen, das von ihr geliebt wurde und sie wiederliebte. So wenig Sympathie sie mir einflößte, des Mitleids mit ihr konnte ich mich nicht erwehren. Es will etwas heißen für ein Kind, unzertrennlich von einer Person zu sein, für die es kein Herz fassen kann … Nicht kann!« rief die Hofrätin mit erhobener Stimme und wies den Einwand zurück, den ich hier machen wollte. »Ebensowenig als ich mit dem besten Willen, mit dem Bewußtsein, es wäre deine Pflicht! mir auch nur einen Funken Neigung für sie entlocken konnte.

Ein halbes Jahr war ich schon bei ihr – das zählt im Leben eines Kindes –, da gab sie mir ein Pröbchen ihrer Gesinnung für mich, das mir unvergeßlich geblieben ist.

Auf dem Heimweg von einem unsrer Waldgänge ruhten wir, beide etwas ermüdet, unter hohen Tannen aus. Anka hatte sich im Grase ausgestreckt, ich saß neben ihr, hörte ihrem Geplauder zu und wunderte mich im stillen, wie gewöhnlich, über die komischen und originellen Einfälle, die ihr zuströmten, wenn sie sich ihren Gedanken überließ.

Auf einmal schwieg sie, erhob sich und begann im Kreise um mich herumzuhüpfen. Sie hüpfte immer im Gehen und hielt sich dabei gerade wie ein Ladestock. ›Fräulein, Fräulein‹, sagte sie, und ihre hellbraunen Augen blitzten vor Schelmerei, ›Sie sitzen vor einem kleinen Hügel, legen Sie den Kopf zurück, da her, Sie werden sehen, wie angenehm das ist.‹

Der kleine Hügel, von dem sie sprach, war ein Ameisenbau, der nicht anders aussah, als ob an dieser Stelle ein Haufen Fichtennadeln zusammengeharkt worden wäre. Anka hatte ihr Taschentüchlein ausgebreitet und lud mich ein, mir’s darauf bequem zu machen.

›Ich will es tun, wenn Sie meinen, daß es angenehm sein wird‹, erwiderte ich. ›Wissen Sie was? Ich bin schläfrig, ich werde ein wenig schlafen, und Sie werden mich beschützen. Wenn ein Bär kommt, so jagen Sie ihn davon, und wenn eine Ameise mir über das Gesicht kriechen will …‹

Jetzt verriet sie sich: ›Eine Ameise kommt gewiß nicht!‹ rief sie.

,Das soll mir lieb sein«, meinte ich, und so begab ich mich denn unter ihren Schutz. Ich setzte nur noch eine Frage hinzu: Ob sie wisse, daß es schändlich sei, Vertrauen zu täuschen?

Da lachte sie, und diesmal ging mir ihr Lachen wirklich durch das Herz. Ich wollte aber doch sehen, wie weit sie es treiben würde, lehnte die Wange an das Tuch – sehr leicht, wie Sie denken können – und tat, als ob ich mich anschickte einzuschlafen. Anka blieb eine Weile regungslos, schlich dann heran, bückte sich, schob leise und vorsichtig ein dünnes Reis dicht neben dem Tuch, so tief sie konnte, in den Ameisenbau und begann es hin und her zu bewegen. In dem Augenblick sprang ich in die Höhe, sprach kein Wort, schlug sie aber tüchtig auf die Hand. Sie blieb starr; es geschah zum erstenmal, daß sich jemand an ihrem geheiligten Persönchen vergriff. Sie weinte nicht, sie war auch nicht beschämt, sie trachtete offenbar nur danach, wieder in Besitz ihrer sorglosen und herausfordernden Gleichgültigkeit zu kommen, die sich dann auch erstaunlich bald einstellte.

Beim Nachhausegehen fragte ich sie, ob es denn irgendwen gäbe – außer ihren Eltern natürlich –, von dem sie sich nicht ohne großen Schmerz trennen würde, um den es ihr leid täte, wenn er sie verlassen müßte. Sie dachte nach. Man sah diese Kleine denken. Sie blickte dabei mit halbgesenkten Wimpern nach der Seite, und ihr Gesichtchen nahm einen erstaunlich gesammelten und ernsten Ausdruck an.

›Ich will Ihnen sagen‹, antwortete sie langsam und bestimmt, ›wenn man mir den Clovek wegnehmen würde, das täte mir leid.‹

Clovek heißt auf böhmisch ›der Mensch‹; Anka hatte die häßlichste unter ihren Puppen, ein Wickelkind ohne Beine, mit großem hölzernem Kopf, so getauft. Die Nase war dahin, ein Arm verloren, denn die Gunst, in der Clovek stand, hinderte seine Herrin nicht, ihn gelegentlich an die Wand zu schleudern …

Die Antwort, die mir das Kind damals gab, hat sich mir so tief eingeprägt, weil sie prophetisch war.

Aber lassen wir das gut sein! Ich kehre zu meiner Wanderung mit Anka zurück. Um jeden Preis, sehen Sie, wollte ich an jenem Tage eine Regung der Reue in ihr erwecken. Ich legte es ihr so nahe, daß sie es greifen mußte, welches Wort ich von ihr zu hören ersehnte. Sie verstand mich völlig! Es war aus der Geschicklichkeit, mit der sie mir auswich, deutlich zu erkennen. ›Was wünschen Sie also?‹ rief ich. ›Sagen Sie mir aufrichtig, was Sie jetzt wünschen.‹

›Ich wünsche‹, entgegnete sie und blickte mit triumphierender Miene zu mir empor, ›ich wünsche so stark zu sein, daß jeder Wagen, der an mich anfährt, umwirft.‹

Das war der Erfolg, den meine Beredsamkeit schließlich erreichte.

Sehr oft dachte ich damals: Wenn dieses Kind zu erlösen ist, kann es nur durch Liebe geschehen. Ich fühlte mich von meiner Aufgabe hauptsächlich deshalb so schwer bedrückt, weil ich mich des Zweifels nicht erwehren konnte: Du bist vielleicht ungerecht, die Schuld liegt vielleicht mehr an dir als an dem Kinde.

Meine Seelenqual wurde endlich so bitter, daß ich sie einem Gönner anvertraute, den ich mir nach und nach erworben hatte, dem alten Hausarzt. Er war in dem ganzen Hofstaat der einzige unabhängige und aufrichtige Mensch. Obwohl er nicht viele Worte machte, empfand ich, daß ich Vertrauen zu ihm haben dürfe, und so hatt ich’s denn und bat ihn, dem Grafen und der Gräfin zu sagen – da mir der Mut fehlte, es selbst zu tun –, daß ich mein Amt, dem ich nicht gewachsen sei, niederlege.

Er zeigte kein Erstaunen über meinen Entschluß, aber er suchte ihn zu erschüttern. ›Das dürfen Sie nicht tun!‹ wiederholte er mehrmals. ›Es kommt keine Bessere nach … Sie müssen ja doch Rücksicht nehmen auf das arme Ding – die Anka. Bedenken Sie, was der bevorsteht … Ich bitte Sie, wie lange soll denn ihre Mutter, die Frau Gräfin, noch leben?‹

Er sagte das mit furchtbarer Bestimmtheit und – mit furchtbarer Gleichgültigkeit. Sie können den Eindruck ermessen, den diese Worte auf mich hervorbrachten. Daß sie meine eigenen Besorgnisse bestätigten, das erhöhte noch den Schrecken, den ich empfand. Ich hatte die Gräfin einige Tage vorher gesprochen, wie immer nur flüchtig und bei einer zufälligen Begegnung, und war erschrocken gewesen, nicht bloß über ihr krankhaftes Aussehn, sondern fast noch mehr über den starren, gleichsam versteinerten Ausdruck ihrer Züge.

›Aber um Gottes willen, was geschieht, um sie zu retten? Weiß der Graf, wie es mit ihr steht?‹ fragte ich und erhielt lauter trostlos klingende Antworten. Weder der Graf noch die Gräfin hielten die Ängstlichkeit des Arztes für gerechtfertigt, und namentlich die Kranke lehnte sich gegen deren Konsequenzen auf. Der Doktor meinte, ich wäre nun lange genug da, um zu wissen, ob es möglich sei, mit der Gräfin über Dinge zu sprechen, von denen sie nicht hören wolle. – Darauf mußte ich antworten: Nein! es ist nicht möglich.

Nur der, der in einem großen Hause gelebt hat, weiß, wie unüberbrückbar die Kluft ist, die seine Gebieter von ihren Untergebenen scheidet. Man lebt unter einem Dache, man sieht einander, man hat gemeinsame Interessen, und dennoch findet nicht der Schatten eines Verkehrs statt. Das Wichtigste hängt von der Beherzigung einer Warnung ab, die man pflichtgemäß ausgesprochen hat – einmal, mehrmals: sie wird nicht beachtet, und man vermag ihr keinen Nachdruck zu geben. Es scheint unglaublich, aber es ist so, und was die treueste, redlichste Absicht abhält, sich geltend zu machen, das sind Hindernisse, so durchsichtig, zart und fein, daß man sie aus einiger Entfernung nicht wahrnimmt. Erst beim Nähertreten erkennt man, daß die scheinbar ganz unbedeutenden, kaum nennenswerten unübersteiglich und unüberwindlich sind. Aus der Art, in der ich zurückgewiesen wurde, als ich die Eiswand zu durchbrechen suchte, hinter der die Gräfin sich verschanzte, konnte ich auf die Erfahrungen schließen, die der Arzt bei ähnlichen Gelegenheiten gemacht haben mochte. Sie waren gewiß schuld an der Teilnahmslosigkeit, mit der er sich jetzt über den Zustand der Kranken äußerte und die mir trotz dieses Erklärungsgrundes grausam, ja entsetzlich erschien. Er zuckte die Achseln zu der Bemerkung, die ich ihm darüber machte, und antwortete mit der erneuerten Bitte, bei Anka auszuharren. Wenn ich sie verließe, sagte er, das erst wäre ein schweres Unglück für sie. Er ließ den Einwand nicht gelten, daß ich unfähig sei, dem Kinde zu nützen, und behauptete, es habe sich unter meiner Leitung schon ein wenig zu seinem Vorteil verändert. Ich ließ mich endlich bestimmen, mein mühsames Erziehungswerk weiterzuführen. Die Versicherungen des Doktors, daß ich nicht ganz erfolglos daran arbeitete, hatten meinen Mut gehoben; ich fühlte mich beruhigt, und so gut wie seit langem kein andrer begann für mich der Tag, an dem mir ein peinvolles Erlebnis bevorstand. – Ein unbeschreiblich peinvolles Erlebnis, das mir die Augen über Dinge öffnete, die ich nie hätte erfahren mögen. Sie ahnen wohl, daß der unglückselige Graf Stephan dabei im Spiele war … Aber« – unterbrach sich die Hofrätin und ließ voll Entmutigung die Strickerei in den Schoß sinken – »was bin ich doch für eine schlechte Erzählerin! Von diesem Grafen hätte ich längst sprechen müssen … Freilich – freilich – der spielte damals schon eine Weile mit in meiner Geschichte … Verzeihen Sie – jetzt bleibt mir nichts übrig, als allerlei nachzuholen.

Kapitel 4

Kapitel 4

 

Graf Stephan führte denselben Familiennamen wie meine Gräfin, war ihr Vetter und der jüngste von acht Brüdern, die alle im kaiserlichen Heere dienten. Ihr Vater lebte noch, sie bezogen von ihm eine spärliche Apanage und waren von klein auf zum Waffenhandwerk bestimmt. Sie machten dem Beruf auch Ehre, hatten sich in den letzten Feldzügen durch ihre Tapferkeit und ihr kaltes Blut glänzend hervorgetan. Unser Graf Stephan stand seinen Brüdern nicht nach; ebenso tollkühn, aber weniger glücklich als sie war er als neunzehnjähriger Jüngling in der Schlacht von Caldiero durch einen Hieb über die Schulter verwundet worden. Eine Zeitlang blieb es zweifelhaft, ob er seine militärische Laufbahn je wieder werde aufnehmen können. Indessen kam es besser, als man anfangs gemeint hatte; er war jetzt hergestellt. Seine Verletzung hatte keine Folgen hinterlassen, eine geringe Steifheit der Finger seiner rechten Hand ausgenommen, die ihm jedoch um alle Schätze der Erde nicht feil gewesen wäre. Die Steifheit mein ich. Er paradierte damit, vergaß ihrer nie und sorgte dafür, sie den andern in Erinnerung zu bringen.

Einige Tage nach unsrer Ankunft erschien der Vetter der Gräfin auf dem Schlosse; er sollte nur eine Woche da verweilen und sich dann zu seinem Regiment begeben. Nun waren aber schon zwei Monate vergangen, und der junge Herr traf noch immer keine Anstalten zu seiner Abreise. Anka ärgerte sich darüber; sie konnte ihn nicht leiden, und wenn ich sie fragte, warum, antwortete sie; ›Ich weiß nicht – halt so – er ist so dumm.‹

Er war aber durchaus nicht dumm; er war ein liebenswürdiger, hübscher, unbedeutender Mensch, moralisch so schwach und zaghaft, wie er physisch stark und mutig war. Anka gegenüber legte er eine Geduld und Nachsicht an den Tag, die für mich etwas Rätselhaftes hatte. Er ließ sich von ihr necken, mißhandeln, verspotten, er kam immer wieder, er war von allen Gästen ihrer Eltern der einzige, der sich um sie bekümmerte. Wir trafen ihn erstaunlich oft auf unsern Spaziergängen im Walde, und immer schloß er sich uns an, beschäftigte sich aber nur mit Anka und schien sich so gut mit ihr zu unterhalten, daß es mir nicht einfiel zu denken, ein andres Interesse als das an seiner kleinen Nichte führe uns den jungen Herrn fast täglich in den Weg. Allmählich jedoch mußte ich trotz aller Unbefangenheit innewerden, daß er mit mir kokettierte, daß die gute Laune, das kindliche Wesen, deren er sich befliß, die Geschicklichkeit und Kühnheit, mit der er für die Kleine eine Blume von steiler Felswand, einen Mistelzweig aus einer Baumkrone herabholte oder zu ihrem Ergötzen einen schäumenden Waldbach übersprang – doch nur von mir bewundert werden sollten. Einen Augenblick vielleicht – ich sage vielleicht, denn ich weiß es wirklich nicht mehr gewiß – schmeichelte mir diese Entdeckung; der bleibende Eindruck jedoch, den sie auf mich hervorbrachte, war der des Widerwillens. Naive Gefallsucht ist nur albern, man kann sie entschuldigen, sogar bei einem Manne; aber bewußte, berechnete Gefallsucht, die erschien mir immer verachtenswert, und ich fand nicht nötig, das dem jungen Grafen zu verbergen. Statt darüber in Zorn zu geraten, wurde er sentimental, begann den Gekränkten zu spielen und trieb großen Aufwand mit Seufzern und verschleierten Blicken. Niemals aber tat er eine Äußerung, die er nicht auch vor hundert Zeugen hätte tun oder die ihn hätte verhindern können, mich für verrückt zu erklären, wenn ich behauptet haben würde, er mache mir den Hof. Diese Vorsicht war überflüssig. Seiner Freiheit drohte durch mich keine Gefahr, und wie wenig mir daran lag, ihn in Bande zu schlagen, das erfuhr er später.

Ich habe Ihnen gesagt, daß der Graf seine Tochter fast regelmäßig in den Abendstunden zu sich rufen ließ und daß ich die Weisung hatte, sie zur Zeit ihres Schlafengehens abzuholen. Ich erwartete sie im großen Saale, wohin der Graf sie brachte, um sie persönlich meiner Obhut zu übergeben. Dabei sagte er mir immer ein paar freundliche Worte, wenn auch nur ganz eilig und kurz, denn seine Gäste folgten ihm gewöhnlich schon auf dem Fuße, da die Gesellschaft sich vor dem Souper im Saale versammelte.

Eines Abends hatte ich mich, überpünktlich in meinem Eifer, nicht auf mich warten zu lassen, zu früh im Saale eingefunden. Er war noch unerleuchtet, und in dem mit Gobelins und dunkelm Getäfel versehenen Raum, den sogar das Tageslicht nicht völlig zu erhellen vermochte, herrschte jetzt im Zwielicht beinahe völlige Finsternis. Ich tappte mich zu meinem Platz in der Nähe der Tür, durch die der Graf einzutreten pflegte. Sie führte aus seinen Zimmern in den Saal, und ihr gegenüber lag der Eingang zu den von der Gräfin bewohnten Gemächern. Dann gab es noch zwei Türen, einander gleichfalls gegenüberliegend: die des Altans und eine, durch die man aus der Halle hereingelangte, in welche das Treppenhaus mündete. Nun denn, ich sitze eine Weile ganz ruhig und warte. Da ist mir plötzlich, als ob ich am andern Ende des Saales ein Geräusch vernähme und dort etwas sich regen sähe, das meine allmählich an die Dunkelheit gewöhnten Augen als eine hoch über das menschliche Maß hinausragende und doch menschliche Gestalt erkennen. Ich rufe sie an und schreite geradeswegs auf sie zu. Ängstlich und flüsternd antwortet sie mit einer Beschwörung, mich ruhig zu verhalten. Ich stehe jetzt dicht vor ihr, fasse sie am Kleide und überzeuge mich, daß ich es mit meiner Feindin, der Bonne, zu tun habe, die auf einen Schemel gestiegen ist, um ihr Ohr an das Schlüsselloch der hohen Flügeltür legen zu können, an der sie lauscht, die Abscheuliche!

›Herunter!‹ sage ich, ›herunter – oder ich rufe …‹ Sie mußte gehorchen, stieg von ihrem Schemel, schob ihn weg und brummte: ›Ich kann ohnehin nichts mehr hören, sie sind ins zweite Zimmer gegangen; er bekam schöne Vorwürfe – Ihretwegen!‹

›Wer?‹ fragte ich bestürzt. ›Nun – wer?… Ihr Seladon!‹ zischelt sie, und im nächsten Augenblick: ›Still, er kommt!‹ und zerrt mich in die Nähe der Wand … Die Tür, vor der wir eben gestanden hatten, öffnet sich, ein Mann durcheilt mit leisen Schritten das Gemach, die Balkontür wird vorsichtig aufgetan und wieder geschlossen … Einige Sekunden vergehen, die energische Französin hat mich in die Mitte des Zimmers geführt und tut, während eben eingetretene Diener sich damit beschäftigen, die Kerzen an den Kronleuchtern und Girandolen zu entzünden, als ob sie mit mir ein eifriges Gespräch über Anka fortsetzte. Dann geht sie mit der unschuldigsten und heitersten Miene ihrer Wege. Ich vermochte nur sie anzustarren und zu schweigen. Was bedeutete der geheimnisvolle Vorgang? Wer hatte sich soeben aus dem Zimmer der Gräfin gestohlen wie ein Dieb und stand jetzt auf dem Altan wie ein Ausgesetzter?… Er konnte nicht mehr in den Saal zurück, die Diener hatten den Eingang schon verriegelt und waren noch mit dem Herablassen der Vorhänge beschäftigt, als der Graf eintrat. Er führte Anka an der Hand und ersuchte mich, sie sogleich zu Bett bringen zu lassen, sie scheine nicht ganz wohl zu sein. Indessen war sie nur verdrießlich. Gewiß hatte Papa, ohne es zu ahnen – absichtlich tat er es ja leider nie –, ihr eine Laune durchkreuzt, und jetzt schmollte sie mit ihm. Und ihr Schmollen war etwas Widerwärtiges. Jeder Zug von Kindlichkeit verschwand dabei aus ihrem Gesicht, sie wurde ganz blaß, man konnte sie wirklich für leidend halten. – Dieser Zustand änderte sich wie auf einen Zauberschlag, sobald sie ihrem Vater aus den Augen kam, und als wir unsere Gemächer betraten, begann sie wie eine Rasende umherzutollen. Sie wollte noch spielen, wollte tanzen, wollte sich nicht auskleiden lassen, entwischte kreischend dem Stubenmädchen, das ihr nachrannte, und wurde in diesem Getreibe durch Francine unterstützt, die an der Tür stand mit ihrer Nachtlampe in der Hand und sich krümmte vor Lachen.

Ich machte zuletzt der Komödie ein Ende, indem ich meine wilde Hummel einfing und selbst ihre Toilette besorgte. Die Bonne erschwerte mir die Aufgabe und begann immer von neuem mit Anka zu scherzen. Zuletzt gelang es mir aber doch, die Kleine zu beruhigen, und als ihr Kopf auf dem Kissen lag, da schlief sie auch schon.

Klug wäre es nun gewesen, mit der Bonne, die sich noch immer in der Nähe hielt und mich zu beobachten und auf etwas zu warten schien, nicht mehr zu sprechen; doch war die Angst, von der ich gepeinigt wurde, zu unerträglich und die Art und Weise der Französin zu herausfordernd. Voll Entrüstung sagte ich, daß ihre Lustigkeit mich staunen mache. ›Warum‹, erwiderte sie, ›ich habe ja keinen Grund, mich zu kränken.‹ Ihr lederfarbenes Gesicht, das einst schön gewesen sein mochte, und ihre schwarzen Augen drückten eitel Bosheit aus, sie erging sich in Andeutungen und halben Worten, die ich nicht verstand. Plötzlich nahm sie eine freche Protektormiene an und raunte mir zu: ›Seien Sie ruhig. Ihr Vogel hat zwar keine Flügel, kann aber doch fliegen.‹

Wer denn ›mein Vogel‹ sei, fragte ich. Aber sie wollte mir nicht Rede stehen, erhob ihr widerwärtiges Gekicher und lief davon.

In dieser Nacht habe ich wenig geschlafen, das weiß Gott! Sie eröffnete den Reigen der ›weißen Nächte‹, wie die Franzosen sagen, die mir in nächster Zukunft bevorstanden. Am folgenden Morgen, als ich mit Anka auf dem Wege zur Einsiedelei an dem Balkon vorüberkam, sah ich aufmerksam zu ihm hinauf und bemerkte, daß er von einem ziemlich breiten Mauervorsprung umgeben war, auf dem es sich allenfalls wegschreiten ließ. Aber von ihm aus wohin? Sich in die Blumen fallen lassen, die in weiches Erdreich dicht um das Haus gepflanzt waren, hätte sichtbare Verheerungen angestellt. Auf den harten Kiesweg herunterspringen von der Höhe des ersten Geschosses, wäre kaum ohne Beinbruch abgegangen; und im Sprung den Weg übersetzen und den Rasen erreichen – das schien unmöglich. So dachte ich und – stand im selben Augenblick vor zwei Fußstapfen, die, wie mit dem Prägstock eingeschlagen, am äußersten Rande des Grases sichtbar waren. Unheilvoll sichtbar, denn es hatte in der Nacht geregnet, und die beiden Vertiefungen bildeten ein paar kleine Wasserreservoirs. Ich beeilte mich, diese verräterischen Zeichen mit dem Stocke meines Sonnenschirmes zu verwischen. Erst als es vollkommen gelungen war, folgte ich Anka nach, die vorausgelaufen war und mir zurief, sie zu haschen.

Als wir den Grafen Stephan das nächstemal auf unserer Waldpromenade von weitem auf uns zukommen sahen, durchschauerte es mich, als ob ich ein giftiges Gewürm erblickt hätte, und ich sagte Anka, daß wir versuchen wollten, dem Onkel auszuweichen; es sollte ihm nicht gelingen, uns zu entdecken. Das war nun etwas für die Kleine! Da glänzten ihr die Augen vor Vergnügen, und sie entfaltete an dem und an folgenden Tagen die Pfiffigkeit und den Spürsinn eines Indianers. Wir sahen den Grafen Stephan von einem Hügel aus in einer Lichtung zu unsern Füßen jeden Heger und Jäger, dem er begegnete, anhalten, offenbar, um nach uns zu fragen. Wir sahen ihn aus unserm Versteck hinter einem Felsstück oder einem Gebüsch ratlos vorübereilen, hörten ihn fluchen und rufen, rührten uns nicht, und während er tiefer in den Wald drang, schritten wir dem Hause zu. Dieses Spiel konnte nicht lange fortgesetzt werden. Es war eine zu reiche Quelle der Schadenfreude für Anka. Ich dachte schon daran, ihm durch das Aufgeben unserer Spaziergänge überhaupt ein Ende zu machen, als eben jenes Ereignis eintrat, bis zu dem ich vorhin meine Geschichte geführt habe.

An einem Vormittage war es. Wir hatten unsere Lektionen beendet. Anka machte sich in dem Puppengärtchen zu tun, das wir unter einer Ulmengruppe in der Nähe der Einsiedelei angelegt hatten; ich war mit dem Ordnen der Lehrsachen beschäftigt – da stand plötzlich Graf Stephan vor mir.

›Grausame!‹ sagte er leise im weichsten Molltone und sah mich mit dem allertraurigsten seiner Blicke an. Er hatte uns um diese Zeit und an diesem Orte noch nie aufgesucht, mein Schrecken über sein unerwartetes Erscheinen war im Anfang nicht gering, wurde aber bald durch die Empörung überwogen, die in mir aufstieg, als der junge Herr zu klagen begann, sein höchstes Glück sei ihm geraubt, er fühle sich elend, seitdem es ihm nicht mehr vergönnt sei, mich zu sehen, den Laut meiner Stimme zu hören und so weiter! Statt aller Antwort wandte ich mich und rief nach Anka. Da schrie der Graf laut auf, daß ich ihn mißhandle, daß er nicht verdiene, so gequält zu werden. – In dem Augenblick, in dem er begann die Stimme zu erheben, hörte ich die Glocke in der Einsiedelei anschlagen und dachte, Anka sei eingetreten, um, wie sie pflegte, den Turm zu ersteigen und in ungeduldiger Erwartung des Mittagessens nach Freund Peterl auszuspähen. Ich rief nochmals und nochmals – aber sie … sah mich vermutlich, sah meine Ungeduld, hatte ihre Freude daran und antwortete um keinen Preis. Mir war abscheulich zumute in meinem Ärger über diesen Kobold von einem Kind und in der Angst, die mich allmählich vor dem jungen Herrn erfaßte, der mehr und mehr den Kopf verlor und im Begriff schien, sich aus einem girrenden in einen sehr kecken Ritter zu verwandeln. Doch war ich viel zu hoffärtig, um etwas von meiner Unruhe zu verraten, und schritt ganz langsam der Tür zu, die sich auf der andern Seite des Hauses befand. Graf Stephan folgte mir Schritt für Schritt. Er sprach nur noch von Liebe und Seligkeit oder Verzweiflung und Tod.

Endlich bogen wir um die Ecke, und der Anblick der offenstehenden Tür der Einsiedelei, in der ich Anka vermutete, erfüllte mich mit all der Unverzagtheit, die ich bisher nur geheuchelt. Mein Verfolger hatte mich vergeblich um ein Wort, ein einziges Wort beschworen, jetzt sprach ich deren mehrere, und ich glaube, lieber als diese war ihm mein früheres Schweigen. Wenigstens stockte der Strom seiner Beredsamkeit plötzlich, und als ich nun wagte, ihm ins Gesicht zu sehen, erblickte ich darin den Ausdruck der peinlichsten Überraschung und Beschämung. Ich eilte vorwärts, ich war am Ziel, setzte den Fuß auf die Schwelle und – prallte erschrocken zurück … Die Gräfin trat mir entgegen …

Liebe Freundin, ich war damals neunzehn Jahre alt und heute bin ich siebzig, aber ich brauche nur zu wollen und …« die Hofrätin streckte den Arm aus und blickte mit weitgeöffneten Augen vor sich hin – »da steht sie! deutlich wie in jener Stunde. Da steht sie, schrecklich und wunderschön in ihrem weißen Sommerkleide und der griechischen Frisur, die so gut zu ihrem klassischen Profil paßt und die edle Form des kleinen Kopfes und des schlanken Nackens so herrlich zur Geltung bringt. Ja, wunderschön, aber nicht wie eine Lebendige, sondern wie eine Tote, der man vergessen hat, die Augen zu schließen. So starrt sie mit unbeweglichem und glanzlosem Blick den an, der bei ihrem unerwarteten Erscheinen in voller Fassungslosigkeit aufgeschrien hat, der sich aber jetzt mit aller Gewalt zusammennimmt und sein Entsetzen hinter erzwungenem Lachen und kläglichem Gestotter zu verbergen sucht.

Sie antwortete ihm nicht; sie fuhr fort, ihn mit diesem grauenhaften Blick anzusehen, und schritt aufrecht und stolz an mir vorüber aus der Hütte. Stephan faltete mit stummer Beschwörung die Hände gegen mich und folgte der Gräfin gesenkten Hauptes langsam nach.

Sie waren kaum fort, als ein vortrefflich nachgeahmter Wachtelschlag sich im Gebüsch hinter den Ulmen hören ließ und Anka herbeisprang. Als ihr Onkel auf mich zugekommen war, hatte sie sich versteckt, war Zeuge von allem gewesen, was hier geschah, mußte gehört haben, was gesprochen wurde, und – verlor auch nicht ein Wort darüber. Machte sie sich keine Gedanken oder mehr, als sie gestehen wollte? Ich wußte es nicht und erfuhr es damals auch nicht. So verschlossen war mir der Einblick in dieses Kindergemüt, daß ich von allem, was darin vorging, nur das kannte – und das ist ja bei einem Kinde das wenigste –, wonach sich fragen läßt. Es war so gar kein Verständnis zwischen uns, so gar keine Spur davon! Und wenn es aufs Erraten ankam, da erriet Anka viel eher mich als ich sie.

Am Abend desselben Tages war Ball im Schlosse, und Anka hatte die Erlaubnis, dem Tanze zuzusehen. Wir erhielten unsern Platz auf der Galerie des Saales; der Doktor geleitete uns hinauf und leistete uns Gesellschaft. Die Gräfin und ihr Vetter eröffneten das Fest. Ich bemerkte, wie die besorgten Blicke des Grafen seiner Frau folgten. Sie war kaum imstande, sich zu schleppen, aber sie tanzte leidenschaftlich, mit Raserei. Es war ein unbeschreiblich qualvoller Anblick, der auch das Kind mit Schrecken erfüllte. Es preßte sich an mich und flüsterte: ›Sehen Sie doch Mama … Ich werde gewiß von ihr träumen!‹

Der Graf suchte uns auf unter dem Vorwand, seiner Tochter gute Nacht zu sagen; den wahren Grund seines Kommens aber verriet bald die Bitte, die er an den Arzt stellte. ›Lieber Doktor, meine Frau scheint leidend, Sie sollten ihr heute das Tanzen verbieten.‹

›Das Tanzen ist Ihrer Erlaucht schon vor zwei Jahren, seitdem öfters und niemals nachdrücklicher als am heutigen Morgen verboten worden‹, erwiderte der Doktor in trockenem Ton, und der Graf schwieg. Er mochte wissen, wie lange, wie hartnäckig die Warnungen des Alten mißachtet und als Schwarzseherei verspottet worden waren.

Sobald der Graf uns verlassen hatte, verlangte Anka hinweg. Sie hielt meine Hand fest, während wir durch die hell erleuchteten Gänge nach unsern Zimmern zurückkehrten. ›Bleiben Sie da, bleiben Sie neben mir‹, wiederholte sie beständig, als sie schon im Bett lag. ›Sie müssen die ganze Nacht neben mir sitzenbleiben.‹ Sie zitterte, ihre Zähne schlugen aneinander, ihre Stirn und ihre Lippen glühten. Sie schien von einem plötzlichen Fieberanfall ergriffen. Mir war bang, ich läutete, ich wollte um den Arzt schicken, aber niemand kam, keiner war da von der ganzen zahlreichen Dienerschaft. Die einen hielt ihr Dienst, die andern ihre Neugier und Schaulust in der Nähe des Festes.

›Fehlt Ihnen etwas, haben Sie Schmerzen, Anka?‹ fragte ich.

Nein, ihr fehlte nichts, und es tat ihr nichts weh als nur das Gellen der Geigen, der Lärm der Musik. Nun herrschte aber tiefste Stille um uns, auch nicht ein Laut drang von dem entfernten Teile des Schlosses herüber, in dem getanzt wurde, und ich sagte zu der Kleinen, sie träume schon. Da begann sie zu klagen und zu wimmern, sie träume nicht und wolle nicht träumen, wolle lieber nie mehr schlafen. Auf jede meiner Einwendungen hatte sie ein Dutzend Antworten. Endlich wurde sie ruhiger und schloß sogar die Augen. Doch schreckte sie bei meiner geringsten Bewegung auf und rief: ›Bleiben Sie bei mir!‹

Mitternacht war längst vorüber, da traten unsre Frauen alle zugleich in das Nebenzimmer. Durch die nur angelehnte Tür drang das Geflüster ihrer Stimmen, ein hastiges, verworrenes Durcheinander, aus dem kein deutliches Wort zu entnehmen war. Anka legte den Finger an den Mund und lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit; als jedoch der Kopf Francines an der Tür erschien, stellte das Kind sich sogleich schlafend und erreichte auch seinen Zweck. Trotz meiner abwinkenden Zeichen, die sie nur der Sorge zuschrieb, Anka könne geweckt werden, raunte die Bonne mir zu: ›Der Ball ist aus. Die Gräfin stirbt.‹

Anka stieß einen fürchterlichen Schrei aus und warf sich mir um den Hals. Ihr kleiner Körper zuckte und wand sich in einem Ausbruch wahnsinniger Angst. ›Sie war schon tot, sie war schon den ganzen Abend tot und hat noch getanzt und wird jetzt gleich hereintanzen!‹ rief sie und drückte sich zitternd und bebend an mich.

Francines alberne Versuche, sie zu beruhigen, regten sie nur noch mehr auf. ›Du lügst!‹ schrie sie und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, als die Bonne nun plötzlich zu behaupten begann, Mama habe nur eine kleine Ohnmacht gehabt, eine unbedeutende kleine Ohnmacht, und werde morgen gesund sein.

Wir wachten die ganze Nacht hindurch.

Jetzt ging es wirklich sehr lärmend um uns zu. Die Wagen der abfahrenden Gäste rollten unter unsern Fenstern vorüber, auf den Treppen, den Gängen war es laut von auf und ab eilenden Schritten, im Hofe wieherten die Pferde der Estafetten und Kuriere, die nach dem nächsten Städtchen und von dort aus auf Postpferden weiterreiten sollten, um Ärzte aus der Residenz herbeizuholen.

Am Morgen kam der Doktor und brachte Nachricht von der Gräfin. Sie war auf dem Balle plötzlich umgesunken, konnte lange nicht zu sich gebracht werden. Eine Lungenentzündung stand zu befürchten. Anka hörte ihm halb ungläubig, halb befriedigt zu und wiederholte mehrmals leise, als ob sie sich selbst Trost zusprechen wollte: ›Meine Mutter ist nur krank, nur krank …‹ Dann schlief sie ein und schlief bis zum Abend. Mit der Dunkelheit kehrten all ihre Schrecken und Bangigkeiten wieder; wir durchwachten diese wie die vorige Nacht, und bei Tag wurde wieder geschlafen. So ging es fort, eine Woche lang, am Morgen des achten Tages verschied die Gräfin.

Der Graf hatte während ihrer Krankheit nicht von ihrer Seite weichen dürfen. ›Sie klammert sich an ihn wie die Reue an die Barmherzigkeit‹, sagte Francine, die sich mit ihrer zudringlichen Dienstfertigkeit den Eintritt ins Krankenzimmer erzwang. Anka zu sehen hatte die Gräfin nur einmal verlangt, und als man ihr sagte, sie schliefe, sich damit zufrieden gegeben und nicht wieder nach ihr gefragt. Graf Stephan irrte im Schlosse umher wie ein Verzweifelter. Er wußte nicht, wohin sich flüchten. Wenn er schwer gesündigt hatte, in diesen Tagen hat er schwer gebüßt. Auf Wunsch des Grafen mußte er alle Berichte über das Befinden der Kranken an die Verwandten, namentlich an die Mutter der Gräfin, schreiben. Ratlos kam er, um meinen Beistand zu erbitten. Die Feder führen war nicht seine Sache, und er gestand es ohne Beschämung ein. Es versteht sich von selbst, daß ich ihm hilfreiche Hand bot, und er war so gequält, so zerknirscht und so dankbar, daß ich beinah Mitleid mit ihm hätte haben können. Damals begegnete ihm, was ihm wohl nie vorher begegnet war, er vergaß, an sich und an den Eindruck zu denken, den er hervorbrachte, er wußte nichts, als daß er ein geschlagener Mensch war. Das Leben, das er gedankenlos und leichtfertig als Freudenjagd behandelt, hatte plötzlich mit stummer und gewaltiger Beredsamkeit zu ihm gesprochen und sein Gewissen geweckt. Er sah um zehn Jahre gealtert aus, als er am Todestage der Gräfin Anka holte, um sie zu ihrem Vater zu führen. Sie sträubte sich, man mußte ihr beteuern, um sie fortzubringen, daß sie gewiß nicht in die Nähe der Verstorbenen kommen würde. Als sie eine halbe Stunde später zurückkehrte, sprach sie nicht ein Wort von ihrem Vater; sie fing gleich an, mit ihren Puppen zu spielen, führte eine ganze Komödie auf und unterbrach sich auf einmal, um zu sagen: ›Ich habe immer gehört, daß ein Kind traurig ist, wenn seine Mutter stirbt. Warum bin denn ich nicht traurig, Fräulein?…‹ Ja, die war merkwürdig, diese Kleine! Ich kam mir bei ihren Fragen, auf die ich gar oft keine Antwort wußte, ganz kläglich vor.

Den Herrn Grafen sah ich erst am dritten Tage nach dem Tode der Gräfin bei den Trauerfeierlichkeiten wieder. Er erschien ehrfurchtgebietend in seinem großen, stolz getragenen Schmerz. Ich wagte kaum ihn anzusehen, und als er zu mir trat und sagte: ›Ich empfehle Ihnen Anka‹, hätte ich die Hand, die er mir reichte, küssen mögen.

Nach der Einsegnung, die am frühen Morgen stattgefunden hatte, wurde die Leiche der Gräfin zur Beisetzung in die Familiengruft nach dem Stammsitze des Hauses gebracht. Einige Stunden später begaben wir uns dahin. Den Grafen begleiteten Graf Stephan und die beiden Brüder der Gräfin, die sich eingefunden hatten, um ihrer Schwester die letzte Ehre zu erweisen. Anka und ich folgten. Ein Teil der Dienerschaft war vorausgeschickt worden, um alle Vorbereitungen zum Empfang der toten Herrin und ihres Geleites zu treffen.

Das war eine andere als die erste Reise!

Unser Zug richtete sich durch eine rauhe, unwirtliche Gegend nach dem Norden des Landes. Langsam, trotz der häufig gewechselten Pferde, fuhren wir über schlechte Wald- und Gebirgswege in den trüben Herbsttag hinein, im Gefolge einer Leiche.

Kapitel 5

Kapitel 5

 

Mitternacht war vorüber, als wir uns dem Ziel unsrer Wanderung näherten. Anka schlief längst, den Kopf auf meinem Schoß. Zuletzt ging es noch eine Stunde lang steil aufwärts durch den Wald unter der Eskorte einer Schar von Leuten, die man mit Windlichtern versehen und uns entgegengeschickt hatte. Wir erreichten endlich die Platte eines stumpfen Bergkegels und rollten im raschen Trabe einer dunklen Masse zu, deren Umrisse in den wallenden Nebeln verschwammen. Nur ein schlanker Turm löste sich scharf und deutlich vom Hintergrund des Horizontes ab, den der verschleierte Mond mit fahlem Schimmer erhellte. Plötzlich ging ein Riß durch die Nebel, in dem Düster vor uns flammte es auf, und wie riesige rote Feuerzungen erglänzten die Fenster der Kapelle, in der die letzte Nachtwache am Sarge der Gräfin gehalten wurde.

Nun rasselten unsre Wagen über eine hölzerne Brücke und durch eine Einfahrt, des wildesten Raubschlosses würdig: hoch, düster und ganz mittelalterlich, von Fackeln erleuchtet, die in eisernen Ringen an den schwarzen Mauern staken.

Die Herren wurden von der männlichen Dienerschaft über die Treppe geleitet, Anka und mich nahmen die Frauen in Empfang. Francine half mir, das Kind, das nicht zu erwecken war, nach den für uns vorbereiteten Zimmern tragen. Sie lagen im Hochparterre, und wir gelangten zu ihnen nach einer Wanderung durch öde Gänge, die mir endlos schienen. An der Schwelle begrüßte uns Peterl taumelnd, mit Augen, die vor Schläfrigkeit ganz schief standen, und lallte die Meldung, das Abendessen sei aufgetragen. Wir traten ein. Nicht ein paar Zimmer, eine lange Reihe von Zimmern hatte man für uns zurechtgemacht, alle geräumig, unregelmäßig und, soviel sich bei dem schwachen Scheine der Wachskerzen, die auf den Tischen flackerten, erkennen ließ, mit großem, wenn auch längst überlebtem Luxus eingerichtet. Es herrschte darin der seltsame Duft, der gutgehaltenen, aber unbewohnten Gemächern alter Schlösser eigentümlich ist, eine Mischung von Kampfer-, Moschus-und Staubgeruch – parfümierter Moder dünkt mich die beste Bezeichnung dafür. Anka wurde zu Bett gebracht, Francine und die Stubenmädchen empfahlen sich, und meine Wenigkeit stand vor dem Lager, das man ihr angewiesen hatte, und betrachtete es mit fröstelnder Scheu. Lange konnte ich mich nicht entschließen, die Stufen zu ersteigen, die, mit verschossenem rotem Sammet überzogen, zu der feierlichen Schlafstelle emporführten.

Mit ihrem reichen, zum Teil vergoldeten Schnitzwerk, ihren schweren Säulen und dem Himmel aus Damast, der all die Herrlichkeiten überwölbte, war sie ebenso prachtvoll wie unheimlich. Wenn sich von den hochaufgespeicherten Kissen die Ahnfrau des Hauses erhoben und mich mit erloschenen Augen angestarrt hätte – ich würde mich gefürchtet, aber nicht gewundert haben. Mehr als einmal wanderte ich zu Anka zurück, um mir Ermutigung zu holen aus dem Anblick ihres friedlichen Schlummers, bevor ich mich endlich entschloß, meinerseits Ruhe zu suchen. Ich fand keine, ich wagte nicht das Licht zu löschen, erwartete jeden Augenblick die Kleine aus ihren Träumen aufschrecken und nach mir rufen zu hören. Erst als die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen durch die Fenster warf, übermannte mich die Müdigkeit, und ich sank in tiefen Schlaf. Anka weckte mich mit gewohntem Ungestüm schon nach ein paar Stunden. Sie wollte sich in ihrem schwarzen Staat bewundern lassen und mir auch sagen, sie fühle schon einige Traurigkeit kommen, seitdem man ihr Trauerkleider angezogen hätte.

Am Nachmittag fand die Beerdigung der Gräfin statt. Man hatte vergeblich auf das Eintreffen ihrer Mutter gewartet, sie erschien nicht und sandte auch keine Kunde; erst am folgenden Morgen brachte ein reitender Bote, der sich unterwegs verspätet hatte, die Absage. Die Gräfin fühlte sich zu angegriffen, um die Fahrt von ihrem zwei Tagereisen entfernten Gute wagen zu dürfen. Sie hatte bis zum letzten Augenblick an den Ernst der Krankheit ihrer Tochter nicht glauben wollen, sie mußte von der Todeskunde wie von einem Blitzstrahl getroffen worden sein. Ich fand ihr Ausbleiben sehr begreiflich und tadelte Francine, die ihre Glossen darüber machte. Die Bonne hatte mehrere Jahre hindurch das, wie ich glaube, nicht besonders anstrengende Amt einer Vorleserin bei der Gräfin versehen und behauptete, sie zu kennen wie niemand. Wegen dieser Vertrautheit mit den Lebensgewohnheiten ihrer einstigen Gebieterin hatte Francine den Auftrag erhalten, die Vorbereitungen zum Empfang der alten Dame zu überwachen. Allein sie war mit gekreuzten Armen müßig dabeigestanden, immer nur wiederholend: ›Oh, Madame la Douairière kommt nicht dahin, wo man weint.‹

Als ihre Vorhersagung bestätigt wurde, triumphierte sie. Sie hatte es gewußt, sie war wie von ihrem Dasein überzeugt, die Gräfin denke vorderhand nur daran, sich zu zerstreuen. Ihre lebendige Tochter war von ihr geliebt worden, o gewiß! die tote möchte sie aus dem Gedächtnis streichen können.

Francine schwatzte so viel, daß ich mir fast abgewöhnt hatte, ihr zuzuhören. Diese Worte jedoch fielen mir unwillkürlich wieder ein, als ich die Gräfin kennenlernte … aber halt! Das kommt erst später, ich mag nicht wieder nachzuholen haben. Was jetzt kam, war eine Reihe von gleichförmig stillen und trüben Tagen. Unendlicher Regen fiel vom Himmel, wir konnten nicht ins Freie. Anka, die mit einer großen Dosis Rastlosigkeit gesegnet war, machte sich Bewegung auf den Gängen. Ihr größtes Vergnügen fand sie darin, die unbewohnten Räume des Schlosses zu durchwandern. ›Oh, Fräulein! Erlauben Sie, daß ich die antiken Zimmer aufsperren lasse, die antiken! die antiken!‹ rief sie mit ihrer dünnen Fistelstimme und stieß das ›i‹ so gellend heraus, daß es mir wie eine Nadel ins Ohr drang. Ach, was hatte ich oft zu tun, um die Ungeduld zu bemeistern, in die mich dieses Kind zu versetzen wußte!

Die Frau des Kastellans wurde geholt, erschien mit ihrer taubstummen Tochter und mit ihrem Schlüsselbunde und öffnete vor uns lange Galerien und weite Säle und kleine, winklige Stübchen, alles eingerichtet, alles angefüllt mit Möbeln, Geräten und Kunstwerken aus entschwundenen Jahrhunderten. Dieses Schloß, von außen so häßlich und kahl, ein viereckiger Kasten auf hohem Unterbau von zyklopischem Mauerwerk, mit plumpen Türmen, mit kleinen, unregelmäßigen Fenstern, barg in seinem Innern einen Reichtum an köstlichen Altertümern, der heutzutage den Stolz jedes Museums ausmachen würde. Damals legte man auf die Reliquien der Vorfahren geringen Wert; man ließ sie an ihrer Stelle stehen, weil sie seit undenklichen Zeiten dastanden und niemand genierten. Liebe für diese Sachen besaß nur die Kastellansfamilie, in der sich die mit ihnen verknüpften Traditionen von Kind auf Kindeskind vererbt hatten. Unsere Führerin offenbarte jedoch höchst widerwillig ihre Kenntnis der Geschichte des gräflichen Hauses. Jede Auskunft, nach der man verlangte, mußte ihr abgerungen werden. Es hieß, sie habe zwischen ihrem verstorbenen Mann, der ein Schwätzer gewesen, und ihrer stummen Tochter das Sprechen verlernt. Auf meine Fragen antwortete sie gewöhnlich nur mit einem Nicken, auf die Ankas mit Ja oder Nein. Und dabei neigte ihre große, schattenhafte Gestalt sich ehrfurchtsvoll und feierlich, ihre blassen Lippen zitterten leise, und sie schien in Demut zu erstreben vor ihrer jungen Gebieterin, dem Sprößling so vieler Generationen, deren tote Schätze zu hüten ihre Lebensaufgabe war. Diese Huldigungen hatten etwas Unheimliches, wie das Weib, das sie spendete, und wie die Umgebung, in der wir uns befanden; ich freute mich immer, wenn Anka sich endlich müde gegangen und geschaut hatte und wir in unsere doch auch nichts weniger als heitere Wohnung zurückkehrten. Am liebsten hätte ich aber wieder einmal frische Waldluft geatmet, und ich empfand es wie ein Gnadengeschenk des Himmels, als wir eines Morgens bei hellem Sonnenschein erwachten. Es war gerade der für die Abreise der Schloßgäste bestimmte Tag. Den jungen Herren brannte schon, wie ich durch Anka hörte, der Boden unter den Füßen. Sie wissen ja, in welcher Zeit wir damals lebten. Österreich bereitete sich zu neuem Kriege gegen Napoleon vor. Man hat ihn später den Koalitionskrieg genannt; warum weiß ich nicht, da wir ihn doch ganz allein ausfechten mußten. Eine Kampfbegeisterung ohnegleichen war im ganzen Lande entbrannt, alle Provinzen rüsteten. Was jung war oder sich so fühlte, arm und reich, niedrig- und hochgeboren lief zu den Fahnen, die jüngsten Knaben wünschten Männer zu sein, um zu den Waffen greifen zu können gegen den Zwingherrn der Welt. Am wütendsten gehaßt in unserm Hause wurde dieser von der legitimistisch gesinnten Francine. Sie blies ihre Gefühle auch der kleinen Anka ein, die nur noch von der Vernichtung des Emporkömmlings träumte, zu der ihre drei jungen Oheime das meiste beitragen sollten. Die Brüder der seligen Gräfin waren im Begriff, sich in Wien für die Dauer des Feldzugs anwerben zu lassen, Graf Stephan begab sich zu seinem Regiment.

Die Stunde der Abreise kam, die Wagen fuhren vor, und Anka wurde zum Grafen gerufen, um Abschied von ihren Verwandten zu nehmen. Sie hatte unser Zimmer kaum verlassen, als ich im Vorgemach die Stimme des Grafen Stephan hörte, der eine Frage an die Kammerfrau richtete, ohne die Antwort abzuwarten vorwärts eilte und plötzlich vor mir stand. ›Wo ist Anka? Ich möchte ihr Lebewohl sagen‹, sprach er, und als ich erwidert hatte, sie sei bei ihrem Vater, stieß er mühsam das Bekenntnis hervor, das habe er gewußt und eben deshalb sei er gekommen. Er wolle nicht mehr lügen, er sei fertig mit der Lüge für alle Zeit. Er wisse, wie schlecht meine Meinung von ihm sei, und würde sie gern verbessert haben, nicht durch Worte, sondern durch seine Lebensführung. Dazu brauche es aber Zeit, und so wolle er jetzt dennoch sprechen. ›Ich bin nicht so verworfen, wie Sie denken. Mein ganzes Unrecht war, daß ich nicht den Mut hatte, einer – glauben Sie mir! – unschuldigen Jugendschwärmerei ein Ende zu machen, zu sagen: Es ist aus!… Die Ehre eines andern habe ich nie verletzt. Glauben Sie mir!… Ich stehe vielleicht bald vor Gott. Glauben Sie mir auch, daß ich einen Ekel an meinem Treiben empfand von der Stunde an, in der ich Sie kennengelernt habe. Leben Sie wohl, Fräulein Helene. Wenn ich wiederkomme, werde ich ein Besserer geworden sein. Erlauben Sie mir, Ihnen dann in Ehrfurcht zu nahen. Wenn ich nicht wiederkomme, wenn Sie hören, daß ich tot bin, beten Sie ein Vaterunser für mich.‹ Er schwieg und bot mir die Hand. Unwillkürlich zog ich die meine zurück … Ich sah ihn erbleichen, und bevor ich mich besann, bevor ich ein Wort des Abschieds sprechen konnte, hatte er das Zimmer verlassen.«

»Das wird Ihnen doch leid gewesen sein«, fiel ich der Hofrätin ins Wort, »denn der bleibt, der arme, junge Mensch, das sieht man voraus, der bleibt bei Eckmühl oder Regensburg.«

»Leid?« wiederholte die Hofrätin und strickte emsig fort. »Ich will Ihnen aufrichtig gestehen – nein. Im ersten Augenblick empfand ich nichts als die Wohltat, von einem Menschen, dessen Nähe mich beängstigte, befreit zu sein. Es gibt nichts so Hartherziges wie ein junges Mädchen dem Manne gegenüber, den es gerichtet hat; und gerichtet hatte ich ihn. Was wußte ich damals von einem Verrat, der dem Nächsten an die Ehre geht oder nicht geht. Verrat ist’s einmal, und ich litt für den, an dem er verübt, dem das Herz seiner Frau entwendet worden war. So wenig ich diese Frau begreifen konnte, so unverzeihlich ihr Vergehen in meinen Augen war, bedauerte ich sie doch. Sie hatte gewiß viel gelitten und wenige Tage vor ihrem Ende noch die demütigende Eifersucht auf ein untergeordnetes Wesen kennenlernen müssen, vielleicht sogar geahnt, daß Stephan mit ihr nur gespielt hatte. All dies war nicht geeignet, Mitleid für den Scheidenden in mir aufkommen zu lassen, und ich befand mich, nachdem er gegangen, keineswegs in weicher Stimmung. Dennoch berührte es mich peinlich, als Anka bald darauf hereinlief und mit übermütiger Lustigkeit auf die Melodie des ›Pulverstofferl‹ die selbsterfundenen Worte sang: ›Sie fahren fort, sie fahren fort, sie fahren in den Krieg.‹«

»Was machte sie denn gar so lustig?« warf ich ein.

»Ich glaube, nur der Ernst, den sie auf allen Gesichtern sah. Ja, sie war ein merkwürdiges Kind und ist doch eine so wenig merkwürdige Frau geworden … Ich sagte Ihnen, daß die Antwort, die sie mir einst in bezug auf ihre Puppe gab, prophetisch gewesen ist. In der Tat hat meine Anka auch später nie etwas anderes geliebt als ihren Vater und einen Popanz. Der zweite freilich war lebendig, war ihr Gemahl; er wurde von ihr unter einer Schar von Bewerbern, die der Majoratskomtesse nicht fehlten, auserkoren. Ihr Vater widersetzte sich ihrer Verbindung mit dem schönen, aber ganz hohlen, fischblütigen Menschen. Anka bestand auf ihrem Willen, und er geschah. Ob sie unglücklich geworden ist, weiß ich nicht, aber daß sie unglücklich gemacht hat, davon hatte ich Gelegenheit mich zu überzeugen. Ihr Tod war eine Erlösung für ihre Kinder und ist als solche von ihnen empfunden worden, obwohl diese Kinder brave und warmherzige Menschen sind. Ja, warmherzig! die Kinder Ankas und ihres fürstlichen Clovek des Zweiten. Die Gelehrten erklären uns, wieso in gewissen Fällen Licht zu Licht gefügt Dunkelheit erzeugt; vielleicht vermögen sie auch Auskunft darüber zu geben, wieso aus der Verbindung von Kälte und Kälte – Wärme entspringen kann. Jetzt aber den Kaffee«, sagte die Hofrätin und zog den Glockenstrang: »Fortsetzung folgt.«

Kapitel 6

Kapitel 6

 

Es war später geworden, als wir beide gedacht hatten, und die Hofrätin mußte die Erfüllung ihres Versprechens auf einen andern freien Abend verschieben. Zu meiner Freude fand sich ein solcher bald.

»Nach der Abreise der jungen Herren«, fuhr sie in ihrer Erzählung fort, »kam der Graf auf unser Zimmer und teilte mir seine Absicht mit, den ganzen Winter in … – den Namen dürfen Sie nicht wissen – zuzubringen. Der Doktor sei zwar dagegen, finde den Aufenthalt zu einsam, die Entfernung von der nächsten Stadt zu groß, allein der Graf wünschte dennoch zu bleiben, vorausgesetzt, daß es seiner Umgebung, namentlich mir, nicht allzu schrecklich sei. Natürlich erwiderte ich, meine Meinung käme hier nicht in Betracht, da er sie aber zu hören verlange, könne ich nur sagen, ich sei überall gern, wohin die Pflicht mich stelle. Ja, meine liebe Freundin, wir waren damals ganz anders erzogen als die Damen, die heutzutage erziehen. So gern ich auch fort wollte aus dem alten Eulenneste und nach unserm früheren schönen Aufenthalt zurück, als mein Herr und Gebieter so gnädig war, Notiz von meinem Willen zu nehmen, da hatte ich keinen mehr. Er dankte mir mit einigen gütigen Worten, beugte sich zu Anka nieder, nahm sie in seine Arme, küßte sie zärtlich und sprach: ›Wir werden hierbleiben bei der armen Mama, wir werden sie oft besuchen in ihrer Gruft und ihr Blumen bringen.‹ Und während er das sagte, hatte sein männliches Gesicht den Ausdruck eines so tief brennenden und dabei so kraftvoll und edel getragenen Schmerzes, daß ich mich abwenden mußte, denn mir traten Tränen in die Augen.

Wir winterten uns ein auf dem Schlosse. Der Graf verließ die gegen Norden gelegenen Prunkgemächer und bezog im ersten Stock dieselben Zimmer, die wir im Erdgeschoß innehatten. Es waren die freundlichsten des ganzen Hauses. Sie empfingen die Strahlen der Morgensonne und sahen auf einen mit efeuumrankten Mauern eingefaßten Vorhof, den ein paar magere Rasenplätze und einige Gruppen Monatsrosen zierten. Durch ein steinernes Tor gelangte man ins Freie, auf den Bergrücken; ›die Glatze‹ wurde er im Volksmunde genannt. Basaltblöcke bedeckten den Boden, zwischen zerbröckeltem Gestein sproß niederes Gesträuch und eine spärliche Vegetation von würzigen Kräutern und wunderbar mannigfaltig gebildeten Moosen. Von dieser Seite glitt die Gebirgslehne in sanften Wellenlinien ins Tal herunter. Nach kurzer Wanderung gelangte man in den Wald und durch diesen auf einem gut gehaltenen Wege, am Forsthause vorbei, zu einem ansehnlichen Marktflecken.

Wir führten ein sehr einförmiges Leben. Den Vormittag verbrachten Anka und ich bei unsern Lektionen; zum Gabelfrühstück fanden sich der Graf und der Doktor ein. Der Speisesaal und der Salon, den wir benützten, lagen im Erdgeschoß, von unsern Gemächern nur durch die der Frauen getrennt. Nach dem Frühstück wurde spazieren gegangen oder gefahren, wir kehrten erst mit einbrechender Dunkelheit nach Hause zurück. ›Der Mensch ist ein Lufttier‹, sagte der Doktor und litt uns vor Sonnenuntergang, sogar bei recht schlechtem Wetter, nicht im Zimmer. Das Diner wurde erst am Abend aufgetragen. Von sieben bis acht Uhr spielte der Graf mit seiner Tochter Domino, ich mit dem Doktor eine Partie Schach, oder wir beteiligten uns alle an irgendeinem Gesellschaftsspiel. Dann ging Anka schlafen, und wenn ich meine kühle Nixe zu Bett gebracht hatte, blieben mir einige Stunden für mich. Aufrichtig gestanden, wurden sie mir manchmal lang, und die Augen fielen mir zu über einem Buche, das ich las, oder einem Brief, den ich schrieb.

Ich war jung, schlafbedürftig und dennoch des Nachts zu höchst unfreiwilligem Wachen verurteilt. Sie wissen, daß der Graf die Zimmer bezogen hatte, die über den unsern lagen; je weiter die Nacht vorschritt, desto lauter hörte ich ihn mit langsamen, dröhnenden Tritten in seinem Gemach auf und ab gehen. Mir verriet dieses rastlose Wandeln in der Nacht das Geheimnis der Sehnsucht, die ihn quälte. Ich sah ihn im Geiste vor mir, dem Schmerz ganz hingegeben, den er mit starkmütiger Selbstverleugnung vor uns verbarg; ich bildete mir ein, ihn aufschluchzen, ich meinte ihn klagen zu hören um die Frau, die er geliebt und verloren hatte. Endlich trat eine Pause ein, ich vernahm eine Zeitlang nichts mehr und gab mich der Hoffnung hin, daß er endlich Ruhe gefunden habe. Nach kurzem jedoch erschallten seine Schritte von neuem über meinem Haupte, weckten mich aus dem Schlummer, in den ich kaum gesunken war, und hielten mich wach bis zum Tagesgrauen. Am Morgen aber, sobald Anka die Augen aufgeschlagen hatte, rief sie nach mir und bat mich, die Laden zu öffnen, und wenn ich nun ans Fenster trat, sah ich schon den Grafen sich aufs Pferd schwingen, oder ich erkannte an dem erschlossenen Hoftor, daß er ausgeritten war auf einem seiner wilden Hengste, die nur er allein zu bändigen verstand. Einige Stunden später erschien er beim Frühstück so ruhig und in so gleichmäßiger Laune, als ob er sich im tiefsten Frieden mit seinem Schicksal befände. Was auch in ihm vorging, wie gequält er war, wir litten nicht unter seiner Trauer, er war gegen seine Umgebung gütig und rücksichtsvoll, wie es sogar die nur äußerst selten sind, die am meisten dazu verpflichtet wären – die Glücklichen. Es verflossen Wochen, Monate, ein neues Jahr war angebrochen, da ereignete es sich eines Tages, daß die Schloßuhr die erste Nachmittagsstunde schlug, Anka vor Hunger bereits weinte – das Kind hatte einen Appetit wie Ludwig XVI. –, vom Gabelfrühstück aber noch immer nicht die Rede war. Sie schellte, sie fragte nach der Ursache dieser Verspätung, und da hieß es, der Graf sei vom Spazierritte noch nicht heimgekehrt, der Doktor aber, der Anka sonst zürnen half, wenn die Mahlzeiten nicht pünktlich aufgetragen wurden, hatte Urlaub genommen, um Verwandte zu besuchen, die im benachbarten Städtchen lebten; wir erwarteten ihn nicht vor dem nächsten Morgen.

Der Tag war eisig kalt, der Schnee zwischen den Steinen und Blöcken zu festen Eismassen zusammengefroren. Blank wie ein Spiegel schimmerte der Teil des Waldweges, den wir vom Fenster aus überblickten. Plötzlich kam mir der Gedanke, es könne ein Unglück geschehen, der Graf mit dem Pferde auf dem Glatteis gestürzt sein, und im selben Moment rief Anka: ›Da kommt Papa zu Fuß und führt den Fuchs!‹ Der Graf näherte sich langsam dem Tore, die Zügel des Pferdes in der linken Hand, die rechte im Rock eingeknöpft und – der Atem verging mir vor Schrecken – das Gesicht von Blut überrieselt. Die Diener rannten ihm über den Hof entgegen, Anka begann zu schreien und schoß wie ein Pfeil aus dem Zimmer. Ich folgte ihr. Der Graf war schon ins Treppenhaus getreten, als wir dort anlangten. Er ging hoch aufgerichtet, wischte das Blut vom Gesicht und wehrte ungeduldig, wie ich ihn nie gesehen, die Hilfeleistungen seiner Diener ab. Als er die Stimme Ankas vernahm, wandte er sich und lachte. Sie stürzte auf ihn los und stieß, da er sich beugte, um ihr die Stirn zu küssen, an seinen im Rock eingeknöpften Arm. Der Graf zuckte zusammen, erbleichte bis an die Lippen und preßte mit zorniger Willenskraft einen Ausruf des Schmerzes zurück. Ich trat rasch vor und zog Anka an mich … ohne besondere Zärtlichkeit scheint mir, vielleicht nicht sehr sanft, jedenfalls in einer Weise, die ihrem Vater mißfiel. Er warf mir einen strafenden Blick zu und sprach in aggressivem Tone, und recht wie jemand, der die Gelegenheit, einen Tadel zu äußern, vom Zaune bricht: ›Ich hoffe, daß Anka gefrühstückt hat.‹

›Noch nicht‹, erwiderte ich und fügte hinzu, wir hätten auf ihn gewartet. Er rügte das, äußerte sehr trocken den Wunsch, ich möge in Zukunft, ohne Rücksicht auf ihn, die Tagesordnung einhalten, grüßte und stieg mühsam, von seinem alten Haushofmeister gefolgt, die Treppe empor.

Kleinlaut wandte ich mich mit Anka zur Rückkehr in unsere Gemächer. Francine, die im Gange stehengeblieben war und alles mit angesehen hatte, begleitete uns. ›Ja, so ist er … Oh, Sie kennen ihn noch nicht‹, flüsterte sie mir zu, ›er hat sich geärgert, nicht über das verspätete Frühstück, sondern über Ihre Bestürzung und über das Mitleid, mit dem Sie ihn ansahen. Das war aber auch gewaltig …‹ Sie kicherte und warf mir einen spöttischen Blick zu. Sie hatte so häßliche Augen! Tiefschwarze, kugelrunde Augen, fast ohne Lider, dafür aber mit dichten, halbkreisförmigen Brauen. ›Oh, Mitleid verträgt er nicht, der Graf, Sie sollten das wissen; bemerken Sie nicht, wieviel Mühe er sich gibt, seinen Schmerz um seine Frau zu verbergen? Wie er sich stellt, als ob er ihren Verlust mannhaft ertrüge, während er des larmes de sang um sie weint. Jetzt darf niemand wissen, wie übel er sich beim Sturz mit dem Pferde, den er ohne Zweifel getan, zugerichtet hat, damit er nur ja nicht bedauert werde. Aber, das können Sie mir glauben, sein Kopf tut ihm nicht wohl in diesem Moment, und der rechte Arm ist verrenkt oder gebrochen.‹

Instinktmäßig, ich wußte damals wirklich nicht, warum ich es tat, suchte ich ihr den Schrecken zu verbergen, in den ihre Worte mich versetzten, und fragte mit anscheinender Ruhe, ob man nicht einen Boten nach dem Doktor schicken sollte. Sie meinte nein, der Doktor komme morgen früh, müsse demnach schon unterwegs sein; es bliebe nichts übrig, als zu warten.

Warten – ja, wenn es nur mit dem Gedanken hätte geschehen können, der Kranke sei bis zum Eintreffen des Arztes leidlich versorgt. Diesem Tröste durften wir uns jedoch nicht hingeben. Der Haushofmeister, den der Graf, gelangweilt durch dessen Klagen, aus seiner Nähe gewiesen, kam am Nachmittag, Francine zu beschwören, sie möge sich der Pflege des Patienten ein wenig annehmen. Der Alte hatte an der Tür gelauscht und behauptete, der Graf sei bewußtlos, der Kammerdiener allein bei ihm, und der sitze in einem Winkel, die Hände im Schoß. Er wage nicht sich zu rühren und dem Fiebernden auch nur ein feuchtes Tuch auf die Stirn zu legen. Anka und ich stimmten in die Bitten des alten Dieners ein, aber Francine blieb unbeweglich und erklärte ein Mal ums andere, sie dränge sich nicht auf; wenn der Graf ihrer bedürfe, möge er sie rufen lassen. Und sooft wir wiederholten: er sei ja bewußtlos, er könne sie nicht rufen lassen, so oft wiederholte sie, wie eine gedankenlose Maschine, ihren albernen Satz. Endlich riß mir die Geduld. ›Bleiben Sie denn hier, ich gehe zu ihm!‹ rief ich und schritt resolut aus dem Zimmer und über die Treppe und pochte an der Tür des Grafen. Der Kammerdiener öffnete mir. Er hieß Raimund, war ein ältlicher, dicker Mensch, der immer schläfrig aussah, und obwohl anfangs erschrocken über mein kühnes Eindringen, dankte er bald dem Himmel und jedem einzelnen Heiligen darin, daß ich da war. Kein Wunder, denn ich wußte bei Kranken Bescheid. Hatte doch mein jüngerer Bruder, dessen Wartung zumeist mir obgelegen, von den dreizehn Jahren seines Lebens neun auf dem Siechbette zugebracht. Überdies, meine Teuerste, bleiben das Kinder- und das Krankenzimmer ewig die Domäne, in der der Frau recht gern die Herrschaft eingeräumt wird.

So hatte ich bald Ordnung geschafft, Verbandszeug herbeibringen und einen Kübel mit Eis vor das Bett stellen lassen, an das ich nun trat und dessen Vorhänge ich zurückschlug. Der Graf lag gerade ausgestreckt auf dem Rücken, wachsbleich und regungslos, aber nicht in Ohnmacht, sondern in jenem dumpfen, schweren Schlaf, in den kräftige Leute nach überstandenen körperlichen Schmerzen versinken. Um die Stirnwunde war das Blut geronnen; sie schien klein und tief, durch den Sturz auf einen spitzen Stein hervorgebracht. Der beschädigte Arm lag hoch angeschwollen auf der Decke, ich schnitt den Ärmel des Hemdes entzwei und begann meinen Krankenpflegerdienst. Raimund ging mir treulich an die Hand, solange er sich des Schlafes erwehren konnte. Als er aber nur noch wie ein Träumender meinen Weisungen nachkam, eine halbe Stunde brauchte, um das erlöschende Feuer im Kamin anzufachen, als er begann, die Umschläge statt auf die Stirn und den Arm des Grafen auf das Kissen und die Decke zu legen, da dankte ich ihm für seine Beihilfe und ließ ihn ungestört schlafen auf einem Bärenfell, auf das er hingesunken war wie ein Klotz.

Mein Kranker begann indes zu fiebern und zu phantasieren, sein Atem wurde kürzer; die Tücher, die ich eiskalt auf seine Stirn gelegt hatte, nahm ich wenige Minuten später dampfend vor Hitze wieder hinweg. So kam die Mitternacht heran.

Daß ich müde oder schläfrig werden könnte, fürchtete ich nicht, davor schützten mich meine Aufregung und meine Besorgnis; doch waren infolge des beständigen Hantierens mit dem Eise meine Finger ganz erstarrt, ich mußte ihnen Zeit gönnen, sich zu erwärmen, und Raimund wecken, um mich von ihm ablösen zu lassen. Im Begriff, auf ihn zuzugehen, wandte ich mich und – fühlte mich plötzlich zurückgehalten. Der Graf hatte meine Hand erfaßt. ›Sitta!‹ rief er – der Name seiner Frau – ›Sitta! Sitta!‹ und den Kopf etwas erhoben, blickte er mich mit weitgeöffneten Augen an … Augen freilich, die nur sahen, was das Fieber ihnen vorspiegelte; aber ich war doch sehr erschrocken, regte mich nicht mehr, als wenn ich von Stein gewesen wäre, und verwünschte mein albernes Herz, das zu pochen anfing – laut, bildete ich mir ein, so laut, daß man es hören konnte … Der Kranke lächelte, seine Lippen bewegten sich und flüsterten Worte der Liebe und Zärtlichkeit. Er sank auf das Kissen zurück, die Wange an meine Handfläche geschmiegt, schloß die Augen und schlief ein. Noch einige rasche Atemzüge, dann hob und senkte sich seine Brust gleichmäßig, und er lag in süßem, erquickendem Schlaf.

Ich aber stand da und hatte nicht den Mut, meine Hand zurückzuziehen. Ein Wunsch nur beseelte mich und stieg als inbrünstiges Gebet zum Himmel. Herrgott, laß ihn nicht erwachen! laß ihn jetzt nicht erwachen, barmherziger Gott, sonst muß ich sterben vor Scham … Meine Knie wankten, ich war erschöpft und mußte mich endlich, um nicht umzusinken, auf den Rand des Bettes setzen und dachte immer nur an das eine: Laß ihn nicht erwachen! Damals lernte ich eine von jenen Stunden kennen, in denen jede Sekunde zur Ewigkeit wird. Das sind die Stunden, die uns alt machen; die Leute, die solche nicht erlebt haben, bleiben jung bis zum Tode. Endlich gelang mir doch, was ich wohl hundertmal vergeblich versucht hatte: meine Hand zu befreien, ohne den Grafen zu wecken. Wie erlöst atmete ich auf, trat ans Fenster, und da fuhr auch schon der Wagen, der den Doktor brachte, in den Hof. Ich lief dem sehnlich Erwarteten entgegen, erzählte ihm in kurzen Worten, was sich ereignet hatte, und begab mich auf mein Zimmer, als ich den Arzt bei dem Kranken wußte. Die Spöttereien, mit denen Francine mich im Laufe des Tages neckte, ließen mich gleichgültig. Ich war von Natur aus gegen dergleichen kleinliches Zeug gefeit, besonders war ich es jedoch in jenen Augenblicken. Mir war ein heißes Gebet erfüllt worden, und nachmittags kam der Doktor zu uns und sagte: ›Der Arm ist eingerichtet, und Ihnen verdankt es der Graf, daß es ohne übermäßigen Schmerz geschehen konnte.‹

Kapitel 7

Kapitel 7

 

Der Graf erholte sich nicht ganz so rasch, als der Arzt erwartet hatte. Erst nach drei Wochen erschien er wieder bei Tisch, einen Verband um die Stirn, den Arm, der an zwei Stellen gebrochen war, in der Schiene. Seine Unbehilflichkeit machte ihn ärgerlich, und die Ruhe, die ihm seiner Kopfwunde wegen vorgeschrieben war, verursachte ihm Langeweile. Bis zur Speisestunde hielt er es in seinen Zimmern aus, nach dem Essen blieb er nun im Salon, auch nach beendeter Spielpartie mit Anka, und wir erlaubten uns, das Kind eine Stunde länger als sonst aufbleiben zu lassen, ohne daß dieser Frevel an der unverbrüchlichen Tagesordnung von ihm gerügt worden wäre.

›Erzähle mir etwas‹, sagte er eines Abends zu der Kleinen, und sie erwiderte, zu erzählen wisse sie nichts, aber vorlesen wolle sie ihm. Er staunte, er wollte es nicht glauben, daß sie schon lesen könne – sie ging damals ins achte Jahr –, und als sie begann, geriet er in stilles Entzücken; aus seinen tiefliegenden Augen brachen Blitze der Bewunderung, während sie auf dem klugen und kalten Gesicht des lesenden Kindes ruhten.

›Das war für den Grafen! Jetzt etwas für mich!‹ rief der Doktor, als Anka mit ihrem Märchen zu Ende gekommen. Er trug einige Bücher herbei, unter denen die Herren – ziemlich aufs Geratewohl – den ›Cid‹ von Herder wählten. Der Zögling wurde schlafen geschickt, und die Erzieherin begann vorzulesen. Ein dankbares Publikum wie früher war der Graf jetzt nicht, aber er hörte mir doch zu, und von nun an verstanden die Leseabende sich von selbst, Anka las regelmäßig eine halbe Stunde, ich regelmäßig eine ganze Stunde, und die Befriedigung hatte ich, meinen guten Grafen nach einem Weilchen mannhaft mit dem ersten Gähnen kämpfen zu sehen. Seine Züge nahmen einen friedlichen, etwas müden Ausdruck an, und wenn ich beim Glockenschlag der zehnten Stunde das Buch schloß, dankte er mir, versicherte, es sei sehr interessant gewesen, und wünschte mir gute Nacht. Und ich hatte sie, denn um mich und in mir herrschte Ruhe.

Einmal, nachdem Anka uns verlassen hatte, brach der Graf in Lobpreisungen seiner Tochter aus. Er fand, daß sie erstaunliche Fortschritte im Lernen gemacht hätte, ihr Verstand entwickle sich von Tag zu Tag mehr, das Herz sei von jeher vortrefflich gewesen. ›Sie ist ein gutes, liebevolles Kind‹, schloß er mit einer Innigkeit in seinem Tone, einer beglückenden Überzeugung, die mir weh taten. Ich schwieg, der Doktor warf mir einen vielsagenden Blick zu. Die Worte des Grafen waren Wasser auf seine Mühle, sie bestätigten eine Behauptung, die er gern wiederholte: ›Eltern haben nie ein richtiges Urteil über ihre Kinder.‹ Er hätte seinen Satz gewiß aufgestellt und dem Grafen ins Gesicht verteidigt, wenn ihm in diesem Augenblick überhaupt an etwas anderm gelegen gewesen wäre als an der Fortsetzung unsrer Lektüre. Er brannte zu heiß darauf, zu erfahren, ob der Cid, ›matt von Jahren, matt von Kriegen‹, im Kampf mit Bucar erlegen und ob das gute Pferd Babieka wirklich ohne den Helden vom Schlachtfeld zurückgekehrt war, um nicht alles zu vermeiden, was die Befriedigung seiner Neugier hätte verzögern können. So begnügte er sich damit, ausweichend zu sagen: ›Gut? gut? alle Kinder sind gut, und alle Kinder sind böse, wie man’s nimmt … Lesen Sie, Fräulein, lesen Sie, verlieren wir keine Zeit.‹

Mir gaben die Worte des Grafen viel zu denken. Für so verblendet hatte ich ihn doch nicht gehalten, daß er gerade das Gegenteil dessen, was seine Tochter war, in ihr sah: ein gutes, liebevolles Kind. Es schnürte mir das Herz zusammen, wenn ich mir vorstellte, wie herb die Enttäuschung sein werde, die er früher oder später an dem Wesen erleiden müsse, das ihm über alles in der Welt teuer war.

Du lieber Gott, was machte den ganzen Reichtum dieses Mannes aus? Was hielt ihn aufrecht und spendete ihm Trost in dem großen Unglück, das er erfahren hatte? Wahn und wieder Wahn! Der Glaube an die Liebe und Treue seines Weibes verklärte ihm seine Erinnerungen, der Glaube an die Güte seines Kindes schimmerte wie ein mildes Licht über seinem Leben.

Ein tiefes Erbarmen erfüllte mich und zugleich eine Verehrung ohne Grenzen. Dieser Mann hatte gewiß nicht viel über sich nachgedacht, die edlen Eigenschaften, die ihn erfüllten, kamen ihm nur in andern zum Bewußtsein … Oh, Freundin! die Welt verlacht die Betrogenen – ich liege vor ihnen auf den Knien … Ich konnte meinen Grafen nicht ansehen, konnte nicht an ihn denken, ohne mir zu sagen: Du braves Herz! Aus deiner Ehrlichkeit entspringt dein Glaube, aus deiner eigenen, lauteren Seele dein Vertrauen, dein günstiges Vorurteil … Du armer Mann, wie reich bist du!

Ich bedauerte und bewunderte ihn und meinte nun doch zu können, was mir bisher unmöglich geschienen hatte: sein Kind zu lieben und es lieben zu lehren. Er sollte nicht nur eingebildete Güter besitzen, das eine unter ihnen, das meiner Obhut anvertraut war, mußte durch mich ein wirklich wertvolles werden, und ich wollte mir sagen können, wenn ich es einst in seine Hand zurückgäbe: Jetzt gleicht dein Kind dem Bilde, das du dir von ihm gemacht hast.

Damals habe ich meinen ersten großen Kampf gekämpft mit einem kleinen Mädchen. Ach Gott, mir erging es schlimmer als Moses in der Wüste Zin. Zweimal pochte der an einen Felsen – wie oft ich es getan, ist nicht zu zählen, und wie vergeblich, nicht auszudrücken. Ich hatte mich dahin gebracht, Anka gegenüber eine eherne Stirn anzunehmen, und sie stellte ihre Feindseligkeiten ein, als sie zu bemerken glaubte, daß sie mir keinen Eindruck machten. Jetzt, ganz beseelt von meinen neuen Vorsätzen, begann ich freundlicher mit ihr zu werden, und augenblicklich, so rasch wie ein Messer einschnappt, der Hahn eines Gewehrs knackt, sprang sie aus ihrer Gleichgültigkeit in ein herausforderndes, verletzendes Wesen über. ›Ich weiß recht gut, Sie wollen sich bei mir einschmeicheln‹, warf sie mir einmal hin, ›aber es nützt Ihnen nichts.‹ Je nachsichtiger ich sie behandelte, desto gereizter schien sie. Ich sah wohl, daß Francine sich’s angelegen sein ließ, sie wider mich zu hetzen, konnte aber nicht erraten, durch welches Mittel. Ebenso rätselhaft war mir manches im Benehmen der Dienerschaft. Jeder einzelne zeigte sich kriechend und unterwürfig, wenn er mir allein begegnete, steif und verlegen in Gegenwart seiner Genossen. Es schien jedem um meine Gunst zu tun und jedem auch darum, es nicht einzugestehen. Nur der Doktor blieb immer derselbe. Er war weder ein Mann von vielen Worten noch von feiner Erziehung. ›Ich bitte‹ oder ›ich danke‹ hat er selten gesagt. Seine ärztlichen Ratschläge erteilte er kurz und verachtete jene, die sie nicht befolgten. Armen und Dienern gegenüber besaß er nicht die nötige Duldsamkeit, war immer gleich bereit, die Hand von ihnen abzuziehen, wenn sie sich einen Zweifel an der Wirksamkeit seiner Mittel und der Weisheit seiner Anordnungen erlaubten. Blinden Glauben und Gehorsam jedoch belohnte er durch unermüdliche, aufopfernde Fürsorge, und seine Patienten fuhren wohl dabei. Mir ist er von dem Tage, an welchem ich das Haus betrat, bis zu dem, an welchem ich es verließ, ein treuer Freund gewesen, und er zeigte sich auch damals mir gegenüber unverändert.

Wir lebten allerdings samt und sonders in schrecklicher Spannung, und nur spärlich drangen Nachrichten in unsern vergessenen Erdenwinkel. Aufs höchste verstimmt war der Graf. Er litt noch heftige Schmerzen, die zu verbeißen ihm nicht immer gelang, und grollte darüber mit sich selbst. Krank sein erschien ihm wie eine Art Schande für einen Mann. Und nun gar jetzt in diesen Tagen, in denen er sich am liebsten aufs Pferd geworfen hätte, um dem Erzherzog nachzureiten, der an der Spitze der Hauptarmee über Böhmen zog, gegen Regensburg. Wie begreiflich war diese Sehnsucht, wie gut konnte ich sie verstehen! Er hatte als Jüngling unter Erzherzog Karl gedient, den Feldzug vom Jahre neunundneunzig mitgemacht; an Stocksach, Zürich, Mannheim knüpften sich seine glorreichen Erinnerungen, er betete den Helden an, dem er sie verdankte. Wir erfuhren oder errieten vielmehr aus einzelnen seiner Äußerungen, daß es schon im Spätherbst beschlossene Sache bei ihm gewesen war, an dem neuen Feldzuge teilzunehmen, und daß er alle vorbereitenden Schritte zu seinem Wiedereintritt ins Heer durch Stephan hatte machen lassen. Nun schrieb dieser: ›Komm!‹ und gab den Ort an, nach dem die Kriegsequipage zu senden sei, und der Graf saß da in seinem einsamen Schloß, unfähig, einen Säbelgriff zu halten, ein Pferd zu besteigen, und führte statt des ersehnten Kampfes gegen tapfere Feinde einen erniedrigenden und nutzlosen Kampf mit elenden Gebresten.

Von Zeit zu Zeit fuhr der Doktor nach dem Städtchen, um dort Neuigkeiten einzusammeln. Dies war denn einmal wieder geschehen; Anka und ich befanden uns allein bei dem Grafen. Er hielt die Kleine auf seinem Schoß; sie plauderten von der schönen Sommerzeit, von dem Schlosse, das wir früher bewohnt hatten, von dem Garten und seinen Wundern. Endlich kam die Rede auf die Einsiedelei. Ach, wie gut hatte sich Anka in der Einsiedelei unterhalten … aber welchen Schrecken hatte sie einmal dort ausgestanden! Wenn der Papa das wüßte, und – ich sage Ihnen, das Blut erstarrte in meinen Adern … ›Soll ich’s erzählen, Fräulein?‹ wandte sie sich plötzlich zu mir. Der Graf sah meine Bestürzung, sie schien ihn zu ergötzen; lachend munterte der Unglückliche sein Kind zum Schwatzen auf. Anka ließ sich nicht bitten, berichtete alles genau – wie Stephan uns im Walde gesucht und wir ihm ausgewichen. ›Da kommt er in die Einsiedelei‹, sprach sie lebhaft, ›ich seh ihn von weitem und lauf davon; dann seh ich auch Mama, die im Garten spazierengeht und rufe: Komm uns zu Hilfe, Stephan ist da! – und da wird Mama ganz weiß – ich fürchte mich, verstecke mich und rühr mich nicht … Mama versteckt sich auch vor Stephan und dem Fräulein. Will sie überraschen, verstehst du? Stephan ist zornig und schreit – nun ja, es ärgert ihn, daß wir nicht mehr mit ihm sprechen wollen. Er wird immer zorniger. Da tritt Mama aus dem Hause und schaut ihn an‹ – das Kind erzitterte bei dieser Erinnerung und wiederholte flüsternd: ›Schaut ihn an – – und ich, ganz erschrocken, rühr mich wieder nicht, und dem Stephan ist himmelangst geworden! Umgedreht hat er sich, weg vom Fräulein, und ist der Mama gefolgt, wie dir die Lady folgt, wenn du sie geprügelt hast.‹ Der Graf hob die Kleine von seinem Schoß und sprang auf. Ein dumpfer Laut der Qual entstieg seiner Brust. Hatte das Kind an eine verborgene Wunde gerührt? leise glimmende Zweifel entfacht?… Ich wagte nicht, in sein Gesicht zu sehen, dachte nur: Jetzt gilt’s! und sprach so munter und so ruhig, als ich vermochte: ›Ich werde der Frau Gräfin ewig danken, daß sie mich durch ihre Dazwischenkunft aus einer peinlichen Verlegenheit gerettet hat. Graf Stephan scherzte nur, aber sehr keck. Das Erscheinen der Frau Gräfin war für mich eine wahre Wohltat …‹ Ich schwieg, ich hörte ihn tief aufatmen, und jetzt erhob ich die Augen zu ihm … Nie bin ich imstande, Ihnen den Ausdruck seines Gesichtes zu beschreiben, die Befürchtung, die Hoffnung, die Freudigkeit, den Schmerz, die sich abwechselnd in seinen Zügen aussprachen. Seine Augen hingen an meinen Lippen, als spendeten meine Worte ihm das Leben. Nachdem ich geendet hatte, gelang es ihm, mit ziemlicher Gelassenheit zu sagen: ›Stephans Scherze waren vielleicht sehr ernst gemeint. Übrigens habe ich Sie, Fräulein, stets für entschlossen gehalten und für vollkommen fähig, Zudringlichkeit ohne fremden Beistand in Schranken zu halten.‹

›Dennoch habe ich den der Frau Gräfin gesegnet …‹

Er richtete sich empor. ›Genug!‹ unterbrach er mich und setzte leise, aber mit einer Gebärde unwiderruflicher Entschlossenheit hinzu: ›Ich will es glauben.‹ Er faßte Anka in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals und schmiegte ihr Gesichtchen an seine Wange; so nahm er mit ihr seinen früheren Platz wieder ein, verweilte lange unbeweglich und stumm in Gedanken versunken und fragte endlich zerstreut: ›Was lesen wir heute?‹ Nichts mehr, meinte ich, da es sehr spät geworden sei. ›So geht denn, gute Nacht! gute Nacht!‹ und plötzlich reichte er mir die Hand, hielt die meine fest in der seinen und sprach dabei kein Wort; aber welchen innigen, warmen Dank sagte mir der Händedruck!

Anka und ich traten aus dem Salon, und in dem Augenblick, in dem ich die Tür aufstieß, huschte Francine von ihr hinweg. Sie hatte wieder gelauscht.

›Schämen Sie sich nicht?‹ fragte ich empört. Aber sie lachte: Nein, sie schämte sich nicht im geringsten. ›Wie echauffiert Sie sind!‹ sagte sie, ›und das Kind hat wohl schon geschlafen?‹

Es lag ein so frecher Verdacht in ihrem Blick, ihr Mund verzog sich so höhnisch, daß ich alle Herrschaft über mich verlor und ihr, die uns inzwischen auf unser Zimmer gefolgt war, befahl, sich augenblicklich zu entfernen.

Da warf sie sich mit einem Ausbruch leidenschaftlicher Klagen Anka zu Füßen und kroch mit zigeunerhafter Geschmeidigkeit vor ihr auf dem Boden. ›Mein Herzchen hört, wie man die arme Francine behandelt – mein Herzchen sieht es! Nun, ich gehe schon!‹ Sie drückte ihr Tuch vors Gesicht und eilte hinweg. Das Kind jedoch trat vor mich hin wie eine kleine wütende Megäre und sagte: ›Warten Sie nur, Großmama weiß alles, Francine schreibt alles der Großmama!‹

›Was wollen Sie damit sagen?‹ fragte ich, ›was bedeutet Ihre Drohung? Großmama darf alles wissen, was hier vorgeht, und Francine mag es ihr nur schreiben.‹ Die Kleine blickte betroffen zu mir empor und begann mich anzuflehen, niemand etwas von dem zu verraten, was sie mir eben gesagt, niemand – am wenigsten Francine. Ich suchte sie zu beruhigen. Sie forderte ungestüm ein förmliches Versprechen, und nachdem ich es gegeben, küßte sie mich ein paarmal, kalt, mit augenscheinlicher Selbstüberwindung, als ob sie höchst ungern eine zu hohe Rechnung bezahle. Das war ich dir schuldig, da hast du’s!… Sie gab so schwer etwas weg von ihrer Armut, diese karge Seele.

Ich aber, meine liebe Freundin, hatte nun erfahren, zu welchem Zweck mich Francine mit stündlicher Überwachung umgab, warum sie mir nachschlich auf Schritt und Tritt, unversehens neben mir auftauchte, wenn ich sie am wenigsten in der Nähe vermutete. Sie war eben nichts andres als ein elender Spion und berichtete über mich in Briefen an die Schwiegermutter des Grafen. Ich hatte sie oft schreibend gefunden, wenn ich durch ihr Zimmer kam, und gelacht über die Hast, mit welcher sie bei meinem Nahen ihr Gekritzel mit der Hand bedeckte oder in die Schublade schob. Angeekelt hat mich das alles, aber nicht besorgt gemacht. Ich war in mancher Hinsicht jünger als meine Jahre und dachte: Übles kann von mir nicht gesagt werden, wenn auch, wie Anka sich ausgedrückt hatte, ›alles‹ gesagt wurde; es fiel mir nicht ein, daß sich mehr sagen lassen könne als alles Wahre, nämlich etwas Falsches.