Kapitel 9
Kapitel 9
Die Erzählerin machte eine kleine Pause. »Vergangene Freuden, vergangene Leiden sind wie geträumte Freuden und Leiden«, sagte sie. »Vermutlich schlage ich als Siebzigjährige zu gering an, was ich als neunzehnjähriges Mädchen im stillen und ganz allein mit mir selbst durchzumachen hatte. Mag sein und hat weiter nichts zu bedeuten. Wovon aber Notiz genommen werden muß, das ist die Veränderung, die sichtlich im Benehmen des Grafen gegen mich eingetreten war. Er kam jetzt öfters am Vormittag auf unser Zimmer, wohnte einer oder der andern Unterrichtsstunde bei und verließ uns nicht, ohne seine Freude über Ankas Fortschritte ausgedrückt, ohne gesagt zu haben: ›Anka und ich können Ihnen nie genug danken.‹ Er begann mir eine Rücksicht, ja eine Ehrerbietung zu erweisen, die mich in Verlegenheit setzte, die Gräfin zum Spott reizte und das Kind entrüstete. Die Kleine wies jeden, auch den geringsten Tadel, den ich ihr erteilte, zurück, sie tat es sogar mit den Worten: ›Sie sind böse, weil ich nicht soviel Wesens mit Ihnen mache wie Papa.‹ Indes ihr Vater meinte, sie unter meiner Leitung zu einer kleinen Vollkommenheit heranwachsen zu sehen, wurde sie immer herber und eigenwilliger und ich ihr gegenüber immer machtloser. Ich hätte das eingestehen, dem Grafen die Wahrheit sagen sollen, aber er tat mir zu leid, er war ohnehin gequält genug. Die verhängnisvolle Wendung, die der Krieg genommen hatte, das peinliche Bangen vor den Entscheidungen der nächsten Zukunft, die Untätigkeit, zu der er dabei verdammt war – ich konnte es nicht über mich gewinnen, den Seelenzustand noch zu verschlimmern, in den alles das ihn versetzte. Ich wußte, was in dem Manne vorging, was er litt und schweigend leiden mußte. Ihm war nicht einmal der karge Trost vergönnt, seine Befürchtungen oder Erwartungen mit einem gleichfühlenden Wesen zu besprechen. Den Doktor hatte das neuerliche Unglück unsrer Waffen außer Rand und Band gebracht. Im Anfang tobte er, dann erklärte er sich für schwer krank, legte sich zu Bett und stand nur einmal im Tage auf, um den Arm des Grafen nachzusehen. Was die Gräfin betrifft, so entfaltete sie in ihren Bemühungen, jede ernste Erörterung zu vermeiden, eine unnachahmliche Meisterschaft. ›Ja, mein Gott, c’est la guerre!’ war ihre stehende Antwort auf jede Besorgnis, jede Klage, die in ihrer Gegenwart laut wurde. Und sogleich brachte sie eine angenehme Nichtigkeit, eine erfreuliche Lappalie aufs Tapet. Sie kam mir vor wie eine höchst alberne Fee, die, in der Absicht, alles Elend auf Erden zu verdecken, mit einem Vorrat rosenfarbiger Schleier einhergeschwebt käme. Diese Frau – ich fing an, sie zu hassen. Ihre beiden Söhne standen vor dem Feind, jeder Tag konnte ihr die Nachricht bringen: Du hast keine Kinder, uns allen aber die: Ihr habt kein Vaterland mehr! – und sie glitt dahin voll Anmut, in spiegelheller Heiterkeit und erzählte charmante Anekdoten von charmanten Dingen und charmanten Leuten.
Eine Woche ungefähr befand sie sich auf dem Schlosse, da kamen eines Abends durch die Post Nachrichten für den Grafen und für die Gräfin.
Trostlos lauteten die Mitteilungen an den Grafen.
Die Franzosen waren in Wien. – Gescheitert waren alle Hoffnungen des Erzherzogs, vor dem Feinde die Kaiserstadt zu erreichen, gescheitert alle auf ihren Entsatz gerichteten Entwürfe. Wien hatte kapituliert, die Franzosen waren in Wien!… Zum zweitenmal im Verlauf von vier Jahren schrieb Napoleon der Welt Gesetze vor aus dem Hauptquartier Schönbrunn.
Dies also das letzte Ergebnis!… Und der Preis, um den es errungen worden? Der Tod von Tausenden, von denen jeder einzelne ein Held gewesen war, Regimenter aufgerieben, Bataillone gefangen …
Knirschend warf der Graf die unheilverkündenden Blätter auf den Tisch: ›Welchen Trost wissen Sie dafür?‹ rief er seiner Schwiegermutter zu. Sie atmete etwas rascher als gewöhnlich und fuhr leicht mit den Fingern über ihre Stirn, auf der sich ein paar Fältchen gebildet hatten. ›Nur nicht verzweifeln, nur nicht den Kopf verlieren. Ich habe einen Brief, der einen weniger düstern Ton anschlägt. Höre den an, es wird dir wohltun. Lesen Sie, Liebe.‹
Das Schreiben, das mir die Gräfin mit diesen Worten reichte, war von ihrem älteren Sohne verfaßt und von dem jüngeren mitunterzeichnet. Kraus die Züge, kühne Wendungen, ein komischer Stil, im ganzen – der frischeste Soldatenbrief, den je ein wackerer Bursch in seines Herzens ungelöschtem Durst nach Siegesglück geschrieben. Oben am Rande stand: ›19. Mai, irgendwo am Ufer vom Rußbach‹, und die ersten Worte des Textes lauteten: ›Mama, es geht uns gut!‹ Graf Albert gab zu, daß es ein Elend gewesen sei bei Thann und Landshut, bei Abensberg und Regensburg und ein verfluchtes Reiten heimwärts über Böhmen, erst zu schnell und dann viel zu langsam. Indessen – das ist vorüber und wird wiedergutgemacht werden, so denkt die Armee … Wenn die Mama sich nur einen Begriff davon machen könnte, wie ihren Söhnen jetzt zumute ist! Sie brächte ebensowenig wie die beiden heute Nacht ein Auge zu. ›Morgen in aller Früh geht’s in die Lobau!‹ – der Satz löste sich förmlich aus dem Briefe wie ein Jubelschrei –, ›die Franzosen machen sich breit auf der Insel, scheinen sogar über den großen Donauarm eine Brücke zu schlagen. Man muß schauen, was sie denn wollen, und ein Teil der Avantgarde unter Klenau und ein paar von unsern Regimentern brechen morgen dahin auf. Da wollen wir uns andre Sporen verdienen als die, die wir in dem verwünschten Bayern unsern Pferden in die Flanken setzten. Hoch lebe Österreich!‹
Die Gräfin nickte beistimmend, bemühte sich zu lächeln, und ihr Gesicht erhielt etwas Verzerrtes, Maskenhaftes, ein grünlicher Schatten bildete sich um ihren Mund. Nein! Sie war nicht angetan, Schmerz und Sorge zu ertragen, und wenn sie immer und um jeden Preis nach Gelassenheit rang, so geschah’s aus Notwehr, und sie rang dabei um ihr Leben.
Sie griff nach dem Briefe in meiner Hand. ›Frau Gräfin!‹ rief ich, ›da ist noch eine Nachschrift …‹ Sie erzitterte: ›Nun – lesen Sie …‹
Ich las: ›Was sagst Du zur Rettung Stephans? Sind das brave Kerle, seine drei Husaren, die ihn zurückgetragen haben!‹
Diese gute Nachricht am Schluß, so unbestimmt sie war, verlieh der Gräfin wunderbare Erquickung. Eine gute Nachricht, ein günstiges Omen! Jetzt befand sie sich wieder in ihrem Element, und der Name Stephans, den sie, seitdem das Gerücht von seinem Tode zu uns gedrungen, nicht mehr ausgesprochen hatte, kam an dem Abend immer von neuem über ihre Lippen.
Am nächsten Tage, es war der 24. Mai, hatte Ankas Unterrichtsstunde eben begonnen, da hörten wir plötzlich Pferdegetrappel im Hofe und sahen einen Reiter hereintraben, vor dem Schlosse absteigen, die Zügel eines müdegejagten, schweißtriefenden Postgaules dem ersten Diener, der herbeilief, zuwerfen und mühsam, mit ganz steifen Beinen, ins Tor treten. Anka hatte in dem Angekommenen sogleich den Reitknecht ihres Onkels Albert erkannt. Der brachte große Neuigkeiten. Sie ließen nicht lange auf sich warten … So sag ich jetzt; damals kam es mir anders vor, und ich war in meiner Ungeduld schon im Begriff, ein Verbrechen am geheiligten Hausbrauch zu begehen und Anka mit einer Bitte um Nachricht an ihren Vater abzusenden, als die Tür aufgerissen wurde und er selbst hereinstürmte. Er selbst, der Graf, totenbleich, mit leuchtenden Augen.
›Fräulein!‹ rief er, ›teures Fräulein!…‹
Betroffen über diese vertrauliche Ansprache steh ich da – er tritt auf mich zu, ergreift meine Hand und zieht sie an seine Brust: ›Fräulein!‹ wiederholt er, ›Sie müssen es durch mich erfahren. Österreich ist gerettet, Napoleon ist geschlagen, Napoleon ist in zweitägiger Schlacht vom Erzherzog Karl geschlagen …‹
›Geschlagen?‹ fragte Anka, und jetzt erst schien er ihrer Gegenwart innezuwerden, das Blut schoß ihm ins Antlitz, er wandte sich zu ihr.
›Merke dir, Anka: Aspern und Eßlingen – den 21. und 22. Mai … da haben die Österreicher die große, unüberwindliche Armee glorreich besiegt …‹ Die Stimme versagte ihm. Ich sah ihn zum erstenmal überwältigt und nicht mehr Herr seiner selbst, ich sah die ersten Tränen in seinen Augen. ›Und ich!…‹ schrie er plötzlich auf, erhob den rechten Arm, streckte ihn gewaltsam aus und ließ ihn mit einer Gebärde der Verzweiflung niedersinken.
Ich war sprachlos und hatte nicht weniger Mühe, meine Fassung zu bewahren, als er, die seine wiederzugewinnen.
›Albert hat einen Boten geschickt, er ist bei der Gräfin – gehen Sie hinauf mit Anka, hören Sie, was er erzählt‹, sagte der Graf. ›Gehen Sie!‹ wiederholte er, als ich einen Augenblick zögerte, ›ich folge.‹
Wir trafen die Gräfin auf ihrem Kanapee ruhend, der Doktor, Francine und August, der Reitknecht, standen vor ihr. Francine triumphierend über die Niederlage des ›usurpateur‹, der Doktor, die Stirnader hochgeschwollen, die Brille verkehrt aufgesetzt, die Schleife der Krawatte am Ohr, rief die Französin zur Ordnung, sooft sie den Erzähler mit Freuden- und Beifallsäußerungen unterbrach. Der aber hielt sich so steil aufrecht, als sein runder Rücken und seine zitternden Beine es erlaubten, und berichtete von den Heldentaten seiner jungen Herren. Von dem Generalissimus, von Wimpffen und Smola, von Liechtenstein, Hohenzollern und andern Leuten zu sprechen, überließ er der Geschichte. Er sprach von Albert und Viktor, seinen Helden, war unerschöpflich in ihrem Preise, in der Beschreibung ihres Aussehens und dessen, was sie getan und gesagt hatten und wie es nach der Schlacht ihr erster Gedanke gewesen sei, Botschaft zu schicken an die erlauchte Mama. Und wie dann er, August, gemeint: ›Ich reit halt hinüber, ich kenn mich schon aus‹, und wie er Pferde requiriert hatte, wo er sie fand, und in achtundvierzig Stunden kaum aus dem Sattel gekommen war. Schreiben würden die Herren Grafen später. Jetzt sei er da und vermelde unterdessen, was er zu vermelden habe: einen Handkuß.
Damit beugte er sich, um denselben gehorsamst zu übermitteln. Sein altes, gelbes, mit Schweiß und Staub bedecktes Gesicht näherte sich der Hand der Gräfin, und fast wäre sein langer Schnurrbart, dessen Enden wie die Zweige einer Trauerweide niederhingen, mit dieser schönen, duftenden Hand in Berührung gekommen. Aber ihre Eigentümerin zog sie rasch zurück und sprach, den allzu gewissenhaften Boten fortwinkend: ›Laß Er’s gut sein!‹
Der Graf war vor einer Weile eingetreten, hatte, von niemand außer mir bemerkt, ganz still in einer Ecke Platz genommen und bis jetzt schweigend, mit gesenktem Haupte, zugehört.
›Geh, lieber Alter‹, sprach er nun, sich erhebend, ›iß, trinke, schlafe, laß dir’s wohlgeschehen.‹
Der Doktor machte sich anheischig, für August auf das beste zu sorgen, und führte ihn hinweg.
›Ein braver Mensch!‹ sagte die Gräfin, ›wirklich exzellent. Aber welche Atmosphäre! – Francine, öffnen Sie das Fenster!‹
An dem Tage war natürlich nur noch von den Nachrichten die Rede, die August gebracht hatte.
Eine Trauerbotschaft befand sich darunter.
Der älteste Bruder des Grafen Stephan war bei Aspern geblieben. Seinem unglücklichen Vater stand der Jammer bevor, die Todesnachricht des Erstgeborenen am Kranken-, vielleicht am Sterbebett des jüngsten Sohnes zu erfahren. Leider hatte der Wachtmeister, der den Grafen Stephan nach Hause geleitet, bei der Rückkehr zum Regiment nicht viel Tröstliches über den Verwundeten zu berichten gewußt. Man hoffte ihn am Leben zu erhalten, man hoffte! aber sicherlich war es noch lange hin bis zu seiner Genesung, und ob diese jemals ganz vollständig sein werde – das konnte nur Gott wissen.
So meinte August, weil er es so gehört hatte. Die Gräfin hingegen meinte, die Ärzte wüßten wohl auch, daß alles gut enden würde, gäben es nur noch nicht zu; das ist schon ihre Art, man kennt das, Klappern gehört zum Handwerk. Ein paar Kugeln in der Brust bringen einen jungen kräftigen Menschen nicht um; man nimmt sie heraus, und er ist wieder gesund.
Wunderbarerweise gewann es wirklich den Anschein, als ob die verwegenen Voraussetzungen der eingefleischten Optimistin eintreffen sollten. Die nächste Kunde von dem Grafen Stephan, die bald darauf zu uns drang, sprach von einer kleinen Besserung.
Inzwischen hatten wir erfahren, daß der Sieg bei Aspern nicht zu einem offensiven Vorgehen von seiten des Erzherzogs benutzt worden war. Die beiden Heerführer standen einander gegenüber, ohne Anstalten zu einer neuen großen Schlacht zu treffen, jeder nur auf die Verstärkung seiner Streitkräfte bedacht. Da hoffte nun der Graf, wenn die Waffenruhe ein paar Wochen dauere, wenigstens an dem Schlusse des Feldzuges teilnehmen zu können. Er werde den Arm wohl bald notdürftig gebrauchen können, gab ihm der Doktor zu und fragte: ›Sind Sie jetzt getröstet?‹ Aber der Graf antwortete: ›Ach, Doktor! Im Jahre neun ein Mann gewesen sein, ein Österreicher und ehemaliger Soldat, und von Aspern und Eßlingen nur gehört haben – darüber tröstet nichts!‹
Die Gräfin beschloß nun, in den nächsten Tagen heimzureisen; der Graf gedachte in ungefähr einer Woche zur Armee zu gehen und wollte vorher Anka bei ihrer Großmutter installieren, wo wir die Zeit seiner Abwesenheit zubringen sollten. Da geschah es, daß die Kleine, von der Gräfin kommend, zu mir sagte: ›Fräulein, die Großmama hat Sie gar nicht gern, aber gar nicht!‹ Bei Tisch fand ich den Grafen düster und unfreundlich, die Gräfin aber war äußerst angeregt, sonnig und eisig wie ein schöner Wintertag. Am Abend, gleich nachdem wir den Salon betreten, empfahl sich der Doktor; er warf mir beim Fortgehen einen mitleidigen Blick zu und sagte leise: ›Seien Sie wacker!‹ – Anka wurde früher als gewöhnlich zu Bett geschickt, sie weinte, und der Graf, dem sonst die geringfügigste Verstimmung seiner Tochter eine wahre Seelenpein verursachte, blieb diesmal gleichgültig bei den Tränen, die sie vergoß.
Sobald wir allein waren, eröffnete die Gräfin das Gespräch …«
Die Hofrätin zog die Achseln ein wenig in die Höhe, überlegte ein Weilchen und sprach: »Ich will Sie nicht auf die Folter der Neugier spannen, liebe Freundin, sondern gleich sagen: was die Gräfin mir mitzuteilen hatte, war etwas Überraschendes, etwas ganz Außerordentliches. Der Vater des Grafen Stephan ersuchte die Gräfin, meine Gesinnungen gegen seinen Sohn zu erforschen. Im Falle diese günstig seien, solle in aller Form um meine Hand geworben werden.
›Ich entledige mich meines Auftrages‹, sprach die Gräfin nachlässig, ›halte es aber für meine Pflicht, Ihnen meine Meinung von der Sache zu sagen.‹
O weh! wenn die Gräfin den Ton anschlug, da mochte man sich vorsehen! Da durfte die Eitelkeit oder das Zartgefühl oder irgend etwas leicht Verwundbares in der Seele des andern – ich hatte es schon erfahren – einer schmerzlichen Berührung gewärtig sein. Ich wollte eine solche überhaupt nicht erleiden, am wenigsten jedoch in Gegenwart des Grafen, und beeilte mich, der Gräfin ins Wort zu fallen und ihr sehr lebhaft zu erklären, daß ich keine Neigung für ihren Neffen habe und mich niemals entschließen könnte, seine Frau zu werden.
›Was sagte ich Ihnen, Mama?‹ fragte der Graf; und so leise es geschah, eine mächtige Freude klang aus diesen Worten. Der sie gesprochen, erhob sich und verließ das Zimmer.
Der Gräfin mußte ungefähr zumute sein wie jemandem, der sich zu einem Pistolenduell vorbereitet und im Augenblick, in dem er auf den Gegner anlegen will, plötzlich bemerkt, daß er keinen hat. Sie rückte sich in ihrem Sessel zurecht, betrachtete mit flüchtiger Aufmerksamkeit die Stickerei ihres Taschentuches, sagte mir einige Schmeicheleien und forderte mich auf, Vertrauen zu ihr zu haben. Sie gab mir zugleich einen Beweis des ihren, indem sie gestand, von allem unterrichtet zu sein, was zwischen dem Grafen Stephan und mir vorgegangen war. Sie wußte nicht nur, daß ihr Neffe mir den Hof gemacht, sondern auch, daß er es ohne Glück getan hatte. Sie fand das erste unrecht, aber begreiflich, das zweite anerkennenswert und gleichfalls begreiflich. Jetzt aber müsse sie über einiges staunen.
Die Gräfin räusperte sich und suchte nach Worten; zu ihrer Ehre sei es gesagt: es wurde ihr nicht leicht fortzufahren.
›Was mich in Verwunderung setzt, ist nicht der Antrag Stephans … Mein Gott, Stephan ist eben verliebt, jung und töricht. Auch das ist es nicht, daß sein Vater sich dahin bringen ließ, diesen Antrag zu billigen und zu protegieren … Mein Gott, ein Greis, der seinen Kindern gegenüber schwach geworden und es mehr ist denn je in diesem Augenblick. Wenn man soeben einen Sohn verloren hat, schlägt man dem zweiten, kaum wiedergewonnenen einen Wunsch nicht ab, an dem sein Herz hängt. Ein Stärkerer als mein armer Vetter wäre vielleicht unfähig. Wie gesagt, über die andern staune ich nicht, ich staune über Sie und über die Raschheit und Bestimmtheit, mit der Sie Stephans Bewerbung ablehnen.‹
Sie heftete die Augen auf mich, und ich fühlte mein Gesicht hoch aufflammen und dann erbleichen im Strahle dieses kalten und durchdringenden Blickes.
›Sie haben keine Neigung für Stephan‹, fuhr die Gräfin fort, ›haben Sie auch keinen Ehrgeiz?‹
Fragend und verwundert wiederholte ich dieses letzte Wort, und sie mußte sehen, daß ich seinen Sinn in Wahrheit nicht erfaßte, denn sie ließ sich zu einer Erklärung herbei.
›Ich meine, Stephan ist arm, er wird siech bleiben, heißt es. Seine Frau, wenn sie pflichttreu sein will, würde das Leben einer Krankenwärterin führen. Aber sie wäre doch seine Frau und nach seinem Tode die verwitwete Gräfin Stephan … Haben Sie keinen Ehrgeiz …‹ Ihre Stimme veränderte sich; ohne lauter zu werden, wurde sie schärfer und eindringlicher. ›Keinen Ehrgeiz oder einen viel höherfliegenden? – Sie haben keine Neigung für Stephan, für ihn nicht. Seine Liebe hat Sie nicht gerührt – hoffen Sie vielleicht, daß die Ihre rühren werde – einen Mann rühren, der Ihnen wünschenswerter erscheint?‹
Dieser furchtbare Angriff kam so unversehens, daß ich nicht einmal daran dachte, mich zu verteidigen. Halb sinnlos vor Beschämung und Schmerz empfand ich nur den brennenden Wunsch, sogleich und unwiderleglich zu beweisen, daß mir Unrecht geschah.
Die Gräfin sah den Eindruck, den sie hervorgebracht hatte. Sie lehnte sich behaglich zurück, sie war wieder lauter Freundlichkeit. Es ist ja so angenehm, aus dem Frieden der eigenen unzerstörbaren Ruhe dem Kampfe einer armen Seele zuzusehen, die bebt und flattert wie ein verwundeter Vogel und vergeblich nach Befreiung von ihren Qualen ringt.
›Nun, Liebe, was antworten Sie mir?‹ fragte die Gräfin, und ich erwiderte mit soviel Festigkeit, als ich aufzubringen vermochte – ach, sie war höchst gering! –, daß ich längst den Entschluß gefaßt, das Haus zu verlassen, und nur noch gezögert habe, ihn dem Herrn Grafen mitzuteilen. Der Herr Graf würde fragen, warum ich fort wolle, und ihm darauf der Wahrheit gemäß zu antworten sei mir schwer. Doch müsse es endlich gesagt werden. Ich gehe, weil ich die Hoffnung aufgegeben habe, irgendeinen Einfluß auf meinen Zögling zu gewinnen. Wir hätten durchaus kein Verständnis füreinander, denn ich flöße Anka ebensowenig Sympathie ein, als ich für sie empfinde.
Die Gräfin nickte mir mit etwas ironischem Beifall zu. Nicht übel, schien sie sagen zu wollen, das hast du nicht übel gemacht. Die Worte, die sie indessen aussprach, waren: ›A-h?… ja so!… das ist schlimm. Das können Sie meinem Schwiegersohn allerdings nicht sagen. Es klänge doch gar zu sonderbar in dem Munde einer Erzieherin.‹ Sie bot mir an, dem Grafen mein Gesuch um Entlassung vorzubringen, und ich hatte noch Selbstbeherrschung genug, ihre Vermittlung anzunehmen und ihr dafür zu danken.
Wie ich dann in mein Zimmer gekommen bin, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich den Doktor noch am selben Abend sprach und daß es mich befremdete, ihn von dem Schritt unterrichtet zu finden, den der Vater des Grafen Stephan bei mir unternommen hatte – ohne Vorwissen seines Sohnes, behauptete der Doktor, und ich glaubte es gern. Es war ein Opfer, das der schwache und gütige Greis der Neigung seines ihm wiedergeschenkten Kindes bringen wollte.
›Sie haben abgelehnt‹, sprach der Doktor, ›das versteht sich von selbst. Was geschieht aber jetzt?‹
Er stand vor mir mit gesenktem Kopfe; sein Gesicht drückte die tiefste Verstimmung aus, und seine dichten weißen Brauen waren finster zusammengezogen. Als ich ihm sagte, daß ich das Haus verlassen werde, erklärte er sich damit einverstanden: ›Je eher, desto besser. Am besten gleich morgen mit der Gräfin.‹
Er wurde am nächsten Tage sehr zornig, als es hieß, die Gräfin reise allein. ›Welcher Unsinn!‹ rief er. ›Weil eine Reise mit einem Kinde ihr lästig wäre, werden Sie zurückgelassen. Sie ist klug, diese Frau, sie ist klug – bis an die Grenze der Bequemlichkeit. Wo aber die Unbequemlichkeit anfängt, da hört ihre Klugheit auf … Na‹, unterbrach er sich, ›gehen Sie ihr Lebewohl sagen, sie ist mit Anka und dem Grafen im Speisezimmer.‹
Ich ging dahin, und die Gräfin empfing mich mit den Worten: ›Kommen Sie endlich, meine Schönste? Ich bin im Begriff, in den Wagen zu steigen.‹
Sie scherzte mit Anka, und der Graf trat an mich heran, auch er in vorzüglich guter Laune.
›Was höre ich?‹ fragte er, ›Sie wollen uns verlassen? Das ist ja treulos und grausam. Darauf war meine arme Anka nicht gefaßt. Indessen, wenn Sie durchaus nicht bei uns bleiben wollen … durchaus nicht‹, wiederholte er nachdrücklich und forschend, ›dürfen wir Sie nicht zurückhalten.‹
Die Gräfin klopfte mich auf die Wange: ›Wir meinen es gut mit Ihnen‹, sagte sie, ›wir werden Ihrer nicht vergessen. Adieu!‹
Sie ging, und wenige Minuten später rollte der Wagen, der sie entführte, aus dem Hofe.