Mutter und Sohn saßen einander gegenüber am Tische, der als Arbeits- und Speisetisch diente und dessen eine Hälfte schon für die Abendmahlzeit gedeckt war. Eine Petroleumlampe mit grünem Schirm beleuchtete hell die Schulbücher, die der Knabe vor sich aufgeschichtet hatte und die ungemein geschont aussahen nach einer mehr als halbjährigen Benutzung. Es war Ende März, und in wenigen Monaten mußte Georg Pfanner aus der dritten Klasse, wie aus jeder früheren Vorbereitungs- und Gymnasialklasse, als Vorzugsschüler hervorgegangen sein. Mußte! Wohl und Weh des Hauses hing davon ab, der – wenigstens relative – Frieden seiner Mutter, der Schlaf ihrer Nächte… Wenn dem Vater schien, daß »sein Bub« im Fleiß nachlasse, wurde sie zur Verantwortung gezogen. Das wirkte viel stärker auf den Jungen, als die strengste Ermahnung und Strafe getan hätte. Für seine Mutter empfand er eine anbetende Liebe und war das ein und alles der freudlosen, vor der Zeit gealterten Frau. Die beiden gehörten zueinander, verstanden einander wortlos, sie hatten, ohne es sich selbst zu gestehen, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen einen Dritten geschlossen, dem sie im stillen immer unrecht gaben, auch wenn er recht hatte, weil sie sich im Grund ihrer Seele in steter Empörung gegen ihn befanden. Frau Agnes würde erstaunt und wahrscheinlich entrüstet gewesen sein, wenn man ihr gesagt hätte, daß ihre Empfindung für ihren Mann längst nichts mehr war als eine Mischung von Furcht und von Mitleid. Georg würde eher die ganze Schule zum Kampf herausgefordert als geduldet haben, daß ein unehrerbietiges Wort über seinen Vater gesprochen werde. Aber weder der Mutter noch dem Sohne wurde es wohl in seiner Nähe. Seine Anwesenheit bedrückte, löschte jede heitere Regung im ersten Aufflackern aus. Und doch war der einzige Lebenszweck dieses Mannes die Sorge um das Wohl seines Kindes in Gegenwart und Zukunft.

Frau Agnes ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken und blickte nach der Schwarzwälder Uhr, die an der Wand neben dem Kleiderschrank ihr blechernes Pendel schwang. So spät schon, und der Mann kam noch immer nicht aus dem Büro. Sie lasteten ihm dort so unbarmherzig viel Arbeit auf, und er besorgte sie widerspruchslos und nahm noch Arbeit mit nach Hause, um die Vorgesetzten nur gewiß zufriedenzustellen und beim nächsten Avancement berücksichtigt zu werden.

Ja, der Mann plagte sich, und es war sehr begreiflich, daß er übermüdet und mürrisch heimkehrte. Und der Junge, der liebe, geliebte Junge, plagte sich auch. Heute ganz besonders. Dunkelrot brannten seine Wangen, und sogar die Kopfhaut war gerötet, und die Stirn zog sich kraus. In Hemdärmeln saß er da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, preßte das Kinn auf seine geballten Hände und starrte ratlos zu seinem Hefte nieder. Dreimal schon hatte er die Rechenaufgabe gemacht und jedesmal ein anderes Resultat erhalten, und keines, das sah er wohl, konnte das richtige sein.

Die Mutter wagte nicht, ihn anzusprechen, um ihn nicht zu stören, warf nur verstohlen von Zeit zu Zeit einen bekümmerten Blick auf ihn und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit und flickte emsig am schadhaften Futter der Jacke, die er ausgezogen hatte.

Nun wurde nebenan ein Geräusch vernehmbar. Im Schloß der Küchentür drehte sich der Schlüssel.

»Der Vater kommt«, sprach Frau Agnes. »Bist fertig, Schorschi?«

»Mit der Rechnung noch lang nicht.« Sein Mund verzog sich, und unter seinen blonden Wimpern quollen plötzlich Tränen hervor.

»Um Gottes willen, Schorschi, nicht weinen, du weißt ja – der Vater…«

Da trat er ein, und sie stand auf und ging ihm entgegen, und er erwiderte ihr schüchternes Willkomm mit einem ungewohnt freundlichen: »Na, grüß euch Gott.«

Offizial Pfanner war um ein weniges kleiner als seine Frau und ungemein dürr. Die Kleider schlotterten ihm am Leibe. Seine dichten, eisengrauen Haare standen auf dem Scheitel bürstenartig in die Höhe, seine noch schwarz gebliebenen Brauen bildeten zwei breite, fast gerade Striche über den dunkeln, sehr klugen Augen. Den Mund beschattete ein mächtiger, ebenfalls noch schwarzer Schnurrbart, den Pfanner sorgfältig pflegte und der dem Beamten der k.u.k österreichischen Staatsbahn etwas Militärisches gab.

Pfanner hatte einen großen Pack Schriften mitgebracht und war doch nicht unwirsch. Er ließ sich von seiner Frau den Überrock ausziehen und sagte sanft und ruhig: »Bring das Essen und lösch die Lampe in der Küche aus. Die brennt, ich weiß nicht zu was. – Lern weiter!« befahl er dem Sohn, der sich nach ihm gewendet hatte und ihn scheu und ängstlich ansah.

»Es ist so schwer«, murmelte Georg.

Der Vater stand jetzt hinter seinem Stuhle: »Schwer, fauler Bub? Deine Faulheit überwinden, das wird dir schwer, sonst nichts. Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer. Faul bist.«

»Ich hab alles fertig«, sprach Georg mit einem trockenen Schluchzen und drängte die Tränen zurück, die ihm wieder in die Augen treten wollten, »nur die Rechnung nicht…« da kippte seine Stimme um, der Satz endete in einem schrillen Jammerton, und zugleich beugte der Kopf des Jungen sich tiefer. Seinem Bekenntnis mußte die Strafe folgen, er erwartete die unausbleibliche mit dumpfer Resignation, den wohlbekannten Schlag der kleinen harten Hand, die wie ein Hammer niederfiel und das Ohr und die Wange Georgs auf Tage hinaus grün und blau marmorierte.

Aber heute zürnte der Vater nicht. Nach einer kleinen Weile streckte sich sein Arm über die Schulter des Knaben, der Zeigefinger bezeichnete eine Stelle in der Rechnung, deren sorgfältig geschriebene Zahlen eine Seite des Heftes bedeckten.

»Da sitzt der Fehler. Siehst du?«

War’s möglich, daß Georg ihn noch immer nicht sah? Daß er sich keinen Rat wußte, auch dann nicht, als der Vater zu erklären begann? Er tat das auf eine so völlig andere Art als der Lehrer. Dem Kinde wollte und wollte das richtige Verständnis nicht aufgeben, trotz aller Anstrengung und Mühe. Dazu die Furcht: Jetzt reißt dem Vater die Geduld, jetzt kommt der Schlag. Zuletzt dachte er nur noch an den und wünschte, die Züchtigung wäre vollzogen, damit er sich nicht mehr vor ihr ängstigen brauche.

»Gib acht, du gibst nicht acht!« rief Pfanner und begab sich auf seinen Platz am oberen Ende des Tisches, wo für ihn gedeckt war. Die Mutter hatte das Abendessen aufgetragen. Kartoffeln in der Schale, ein schönes Stück Butter, ein Laib Brot, eine Schüssel mit kaltem Fleische. Die stellte sie zagend vor ihren Mann hin, und seine Mißbilligung blieb nicht aus.

»Fleisch am Abend – was heißt das? Keine neue Einführung, bitt ich mir aus.«

Sie entschuldigte sich. Sie log. Die Nachbarin hätte so schönes Fleisch vom Land bekommen und ihr dieses schon eingekaufte um ein billiges abgetreten. »Es ist auch noch für morgen da«, setzte sie hinzu, um einer wiederholten Rüge vorzubeugen, die viel schärfer ausgefallen wäre. Sie hätte aber auch die schärfste über sich ergehen lassen. Es galt einen Kampf, in dem sie, die sonst willensschwache Frau, um keinen Preis nachgehen durfte.

Das Abendessen war längst vorbei, die Mutter längst zur Ruhe gegangen, Vater und Sohn saßen noch bei ihrer Arbeit. Pfanner befaßte sich mit dem Aufstellen einer statistischen Tabelle, Georg kam mit seiner Rechnung nicht zu Ende. Die Aufmerksamkeit weder des einen noch des andern war völlig bei seiner Beschäftigung. Jeder von ihnen hatte heute ein Glück erfahren, und die Erinnerung daran stellte sich immer und immer wieder zerstreuend und ablenkend ein.

Pfanner war dem Herrn Subdirektor begegnet, und der hatte ihn angesprochen und ihn der Wohlmeinung des Herrn Direktors und seiner eigenen versichert. Der Herr Direktor warte nur auf die erste Gelegenheit, dem unermüdlichen Fleiß und Diensteifer des Offizianten die gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen.

»Für außergewöhnliche Leistungen außergewöhnliche Auszeichnungen. Verlassen Sie sich darauf.« Mit diesen Worten hatte der hohe Vorgesetzte ihn verlassen, und Pfanner war weitergewandert, von einem berauschenden Glücksgefühl ergriffen. Worauf durfte er sich Hoffnung machen? Auf Beförderung außer der Tour? Auf eine große Remuneration? Die wäre ihm vielleicht das Liebste. Georgs Sparkassenbuch würde dadurch eine unverhoffte Bereicherung erfahren. An jedem letzten Tag des Monats nahm er es aus der Lade und ließ die wenigen, mühselig vom Gehalt ersparten Gulden eintragen, um nur ja nicht unnötigerweise einen Heller Zinsen einzubüßen.

Der Sparkassenbeamte lachte schon: »Was bringen’s denn heut, Herr Offizial, einen halben Gulden, einen ganzen?«

Pfanners Hochmut litt unter diesen Spötteleien. Und jetzt stellte er sich vor, wie ihm sein würde, wenn er einen Hunderter oder gar zwei hinlegen könnte und nachlässig sagen: Bitte, tragen Sie heute das ein, ins Buch von meinem Buben.

Sein Georg an der Spitze eines, wenn auch kleinen Vermögens – er liebte ihn mehr, wenn er daran dachte.

Der zukünftige Kapitalist hielt die Feder in der Hand und sann. Nicht über seine Rechnungsaufgabe. Seine Gedanken trugen ihn weit weg aus der kahlen, dürftig eingerichteten Stube ins Freie, wo jetzt schon neues Leben sich zu regen begann und ein Frühling sich ankündigte, von dem er wieder nichts haben sollte. Dem Frühling würde der Sommer folgen, die Schule geschlossen werden, und die Kameraden würden auf Ferien gehen, einige in die Nähe von Wien, andere glückliche ganz aufs Land, auf das wirkliche Land, oder gar ins Gebirge, in die Wälder, an die schimmernden Seen und Flüsse, an brausende Wasserfälle… Nur er kam nie hinaus aus den trostlosen Straßen der Vorstadt, nie fort vom müdmachenden, langweiligen, verhaßten Straßenpflaster, auf dem man sich die Schuhe zerriß und die Füße wund ging. Dazu des Vaters ewig wiederholtes: »Lern! Hast gelernt? Kinder sind da, um zu lernen.«

In seinem Jungen aber schrie es: Nicht nur um zu lernen! Manchmal schon hatte er sich ein Herz gefaßt und gesagt: »Die andern sind jetzt auf Ferien und lernen nicht.«

Da war der Vater bös geworden. »Sind das Vorzugsschüler? Wenn ja ein paar darunter sind, dann sind sie nicht leichtsinnig und zerstreut wie du, fauler Bub. Haben vielleicht nicht einmal Talent wie du, dafür aber Fleiß, eisernen Fleiß. Ferien… was Ferien! Ein tüchtiger Mensch braucht keine, will keine. Hab ich Ferien?« Es war der Stolz Pfanners, daß er noch nie Urlaub genommen.

Indessen, trotz all der väterlichen Strenge, ein wahres Löschhorn für jede heitere, lustige Regung, hatte es einige Jahre gegeben, in denen Georg eine Frühlingsfreude genossen. Und heute war der gesegnete Tag, an dem ihm endlich ein langgehegter, heißer Wunsch erfüllt wurde. Er trug das Mittel, Frühlingsfreude wiederzuerwecken, in seiner Tasche.

 

Um ein Stockwerk tiefer als die Familie Pfanner, im dritten des gegenüberliegenden Hauses, wohnte ein Schuster, der eine Nachtigall besaß. Wenn der Frühling anbrach, hing er ihren Käfig unter den Fenstersims an die Mauer. Der Käfig war eng und schmal, hatte dicke Sprossen und bot seiner Bewohnerin wenig Raum und wenig Licht. Sie sang wundersam in ihrer traurigen Gefangenschaft. Ihre süßen Lieder klangen nicht nur klagend und sehnsuchtsvoll, auch hell und jubelnd und wie voll des seligen Entzückens über die eigene Herrlichkeit, berauscht vom Triumph über die eigene hinreißende Macht. Die Töne, die der kleinen Brust entquollen, erfüllten die Gasse mit Wohllaut.

Georg brachte jeden freien Augenblick am Fenster zu, beugte sich hinaus und sandte der Nachtigall seine Liebesgrüße. Der Schuster, das konnte man leicht bemerken, kümmerte sich nicht viel um die holde Sängerin. Wäre sie Georgs Eigentum gewesen, wie hätte er sie gehegt und gepflegt! Sie war sein Glück, seine Wohltäterin, sie zauberte ihm den Frühling in die traurige Stube und Schönheit und Poesie in sein ödes Leben. Er lauschte ihr, und märchenhaft liebliche Bilder tauchten vor ihm auf, Landschaften im purpurnen Grün des neuen jungen Lebens, blütendurchhaucht, lichtgetränkt. Alles, wovon er gelesen und gehört hatte, das zu erblicken er sich gesehnt, das für ihn das ewig Unerreichbare bleiben sollte.

Bis Johannis ging es so fort, dann hörte die Nachtigall auf zu schlagen, und der Schuster nahm das Bauer wieder ins Zimmer herein. Im letzten Frühjahr hatte Georg vergeblich auf das Erscheinen des Bauers gewartet. Der Schuster hatte die Nachtigall vielleicht verschenkt, oder vielleicht war sie gestorben, und mit ihr all die schönen Träume, die ihr Gesang geweckt, und die stille, geheimnisvolle Wonne, sich ihnen zu überlassen und ihnen nachzuhängen.

Nun aber, vor einigen Wochen, an einem grauen, frostigen Februarmorgen, tönten Georg, als er in die Nähe der Schule kam, die schmerzlich vermißten Nachtigallenklänge entgegen. Er stieß einen Freudenschrei aus, sah um sich, sah zu den Häusern empor, und da war nirgends ein Vogelbauer zu entdecken, und nirgends stand ein Fenster offen, aus dem der Gesang hätte dringen können. Die Töne schlugen einmal stärker, einmal schwächer an sein Ohr. Sie wanderten, näherten, entfernten sich, und plötzlich lachte Georg laut auf. Die Nachtigall, die so prachtvoll sang, spazierte vor ihm her, blieb stehen, schmetterte ihre Lockrufe in die Luft hinaus, ging ein Stück weiter, kehrte um und kam jetzt auf ihn zu. Sie hieß Salomon Levi, war fünfzehn Jahre alt und trug schiefgetretene Stiefel, einen schwarzen Kaftan, einen steifen, breitkrempigen Hut. Ihre eingefallenen Wangen entlang baumelten ein paar glänzende, rabenschwarze Schläfenlocken.

»Herrje Salomon!« hatte Georg ausgerufen, »was ist mit dir? Bist eine Nachtigall worden?«

Der Angeredete trug an einem fettigen Riemen ein Tabulett, noch einmal so breit als er selbst, und hinkte von früh bis abends unermüdlich auf dem Kai vor der Schulgasse auf und ab. Sein Warenlager erfreute sich unter den Studenten des Rufes großer Solidität und bestand aus Brief- und Geldtaschen, Spiegeln, Messern, Uhrketten und dergleichen. Der junge Hausierer führte auch allerlei Spielzeug, das auf Georg eine starke Anziehung übte. Er hatte nie, nicht einmal als kleines Kind, Spielzeug besessen.

»Spielereien kaufen – Geld hinauswerfen, Unsinn!« sagte Pfanner. »Ein Kind, das Phantasie hat, ein Kind wie das meine braucht keine. Ein Scheit Holz oder ein hölzernes Pferd sind dasselbe für ihn, sind ihm beide ein lebendiges Pferd. Eine Puppe in Seidenkleidern oder der in Zeitungspapier gewickelte Stiefelknecht sind ihm, eines wie das andere, ein lebendiges Kind.«

Für Georg haftete der Reiz des Versagten an jedem Gegenstand in Salomons Auslagekasten. Er kam nie ohne Herzweh an ihm vorüber und knüpfte, sooft es anging, ein Gespräch mit Levi an, um alle die Kostbarkeiten, die er ausbot, mit Muße betrachten und sogar berühren zu dürfen.

»Ach Salomon«, sagte er ihm einmal, »wie glücklich bist du! Kannst immer auf und ab gehen und mußt nicht mehr in die Schule, hast so viele schöne Sachen und kannst sie den ganzen Tag ansehen. Wie froh mußt du sein!«

Salomon sah ihn wehmütig an. In welchem Irrtum war Georg befangen! Wenn Salomon alle die »schönen Sachen« anbrächte und noch viele andere und Geld für sie bekäme und studieren könnte, dann wäre er froh.

Sie hielten nun täglich eine Unterredung, eine kurze bloß, denn Georg wußte, daß der Vater ihn daheim fast regelmäßig mit der Uhr in der Hand erwartete, und wenn er sich um ein paar Minuten verspätete, dann gab es böse Minuten für seine arme Mutter.

So flüchtig aber auch die Begegnungen der beiden Knaben waren, sie bildeten allmählich ein starkes Band. Jeder von ihnen kannte das Leiden; einer bedauerte den andern und beneidete ihn auch. Fürs Leben gern hätten sie getauscht, verhandelten oft darüber und waren schon gute Bekannte gewesen vor jenem Februarmorgen, an dem der Vorzugsschüler dem Hausierer zugerufen hatte: »Bist eine Nachtigall worden?«

Helles Entzücken durchströmte ihn, als Salomon ihm ein Instrumentchen zeigte, nicht größer wie eine Nuß, in dem alle Flötentöne der Nachtigall schliefen. Man brauchte es nur zwischen die Lippen zu nehmen und geschickt mit der Zunge zu behandeln, um den lieblichen Gesang zu wecken. Er hätte sich auf die Knie werfen und Salomon beschwören mögen: »Sei gut, sei großmütig, schenk mir die Nachtigall!« Aber das Bild seines Vaters schwebte ihm vor, er vernahm die Worte: »Du bist ein Beamtensohn, du unterstehst dich nicht, etwas anzunehmen, nicht ein Endchen Bleistift, nicht eine Feder. Von keinem Mitschüler, von keinem Menschen.«

So stotterte er denn mit fliegendem Atem: »Was kostet die Nachtigall?«

Sie kostete zwanzig Heller, und Salomon hatte heute schon ein paar Dutzend verkauft und hoffte, noch ein paar Dutzend zu verkaufen und bald auch seinen ganzen Vorrat, denn sie gingen reißend ab.

Georg überlegte: »Wirst du in fünf Tagen keine mehr haben…? Hebe mir eine auf, ich bitte dich. Wenn ich mein Jausengeld erspare, habe ich in fünf Tagen zwanzig Heller beisammen und kann dir die Nachtigall bezahlen.«

Salomon war sehr ungläubig. Mehrmals schon hatte Georg versucht, sein Jausengeld zu sparen, um bei ihm einen Einkauf machen zu können, es aber nie weitergebracht als bis zu acht, höchstens zu zehn Hellern. Dann war er plötzlich an einem Nachmittag zu hungrig geworden und hatte sein ganzes Geld auf einmal ausgegeben, für eine besonders lockende Brezel. Beim Bäcker an der Ecke bekam man so köstliche! Er hatte auch schon seinen kleinen Besitz an Kupfermünzen Ärmeren, als er selbst war, geschenkt. Salomon zweifelte mit gutem Grund an der Fähigkeit des »jungen Herrn«, etwas zurückzulegen. Dennoch erfüllte er ihm seinen Wunsch. Eine Nachtigall blieb unverkauft, die beste. Wer die zu behandeln verstand, konnte ihr ganz besonders klangreiche Töne entlocken.

Und heute hatte Georg sie erworben, war glorreich vor Salomon hingetreten, hatte ihm zehn Zweihellerstücke in die Hand gezählt und die Nachtigall in Empfang genommen.

Der Unterricht in der Gebrauchsanweisung war »dreingegangen«. Das kleine Instrument wanderte von einem Mund zum andern, und sogleich, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit, lernte Georg dem Tabulettkrämer seine Kunst ab.

»Was ein Talent zur Musik! Ich hab müssen lernen drei Tag, bis ich hab spielen gekonnt. Sie können gleich spielen, besser als ich.«

Georg erwiderte glückselig, es sei ja so leicht. Ach, wenn alles so leicht wäre, wenn es mit der Mathematik und der Geschichte und mit dem Griechischen auch so ginge!

In Salomons melancholischen Augen leuchtete es auf: »Mir möchte leicht sein das Studieren«, sprach er und sah sehr hochmütig und sehr traurig aus.

 

Jetzt war es nahe an elf Uhr. Frau Agnes hatte sich auf Befehl Pfanners zu Bette begeben, sie schlief aber nicht; sie beobachtete vom dunkeln Alkoven aus ihren Mann, der mit unvermindertem Eifer linierte, rubrizierte, und ihren Jungen, der müd und blaß sich über sein Heft beugte oder mit verträumten Augen emporblickte zu dem grauen Fleck, den der Rauch der Lampe allmählich an die Decke gemalt hatte. Er durfte noch immer auf des Vaters grimmig wiederholtes »Bist fertig?« nicht mit ja antworten; er war eben nicht bei der Sache. Er hatte eine Hand in die Tasche gesteckt und die Finger um die Nachtigall gelegt und preßte sie manchmal, als ob sie etwas Lebendiges wäre und es fühlen könnte, mit großer, sanfter Liebe.

Der Heimweg, der ihm sonst immer endlos vorkam, war ihm heute zu kurz gewesen. Fast die ganze Zeit hindurch hatte er die Nachtigall schlagen lassen, und Kinder und selbst Erwachsene waren stehengeblieben und hatten ihm zugehört und sich über die herzige Musik gefreut. Es wäre ihm ein Glück gewesen, vor der Mutter eine Probe seiner neu erlernten Kunst abzulegen. Aber das ging nicht an, die Mutter würde sogleich gesagt haben: Du mußt dem Vater das Ding zeigen, du weißt ja, er mag Spielereien nicht. Und wenn Georg auch geantwortet hätte: Es ist keine Spielerei, es ist ein Instrument, würde sie doch dabeigeblieben sein: Hinter dem Rücken des Vaters darf man nichts tun und nichts haben. So hatte sie es immer gehalten… bis heute.

Georg aber konnte nicht vergessen, daß ihm vor Jahren der jüngste Sohn der Nachbarin, Karl Walcher, seine Flöte geliehen; er hätte sie ihm auch gern geschenkt, ohne Pfanners spartanisches Verbot. Was Georg einmal hörte, von den Kinderliedern, die seine Mutter ihm vorsummte, bis zum feierlichen Kirchengesang, alles merkte er sich und brachte die Melodie ganz richtig heraus auf dem höchst primitiven Instrumentchen. Frau Walcher und ihre Söhne hatten ihn bewundert und sogar sein Vater ihm manchmal ein zustimmendes: »Nicht übel!« gespendet. Aber bald war ihm seine Freude verdorben worden.

»Laß die Dummheiten – lern!« hatte es bald geheißen. An dem geringsten Versäumnis, an jeder Zerstreutheit des Knaben hatte die Flöte Schuld getragen. Bald, schrecklich bald hatte der Vater sie ihrem Eigentümer zurückgestellt. So würde er gewiß auch die Nachtigall nicht dulden, und deshalb mußte sie vor ihm verborgen bleiben, die liebe, herrliche.

Als Georg endlich zur Ruhe gehen durfte, erhielt sie ihren Platz unter seinem Kopfkissen. Nach Mitternacht erwachte er, zog sie an seine Lippen. Um sie zu küssen, natürlich nur, sie schlagen zu lassen konnte ihm doch nicht einfallen… Zwar – die Eltern schliefen. Zwischen ihnen und ihm, am Mauervorsprung des Alkoven, tickte kräftig, jedes schwache Geräusch übertönend, der flinke Gang der Schwarzwälderin. Dennoch wäre es nicht geraten… und während er dachte: nicht geraten, berührte seine Zungenspitze schon das kühle Metallplättchen. Ohne seinen Willen, fast ohne sein Zutun begann die Nachtigall ihren Gesang zu erbeben. Sie klagte, sie lochte, sie verkündete eine unerfüllbare Sehnsucht. Ihre Töne stiegen, schwollen, brachen plötzlich ab. Herrgott im Himmel… Zu laut, zu laut! Der Vater hat einen gar leisen Schlaf… Entsetzlich erschrocken, von Schauern der Angst durchrieselt, steckte Georg seinen Kopf unter die Decke. Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte der Vater von einem merkwürdigen Traum, den er in der Nacht gehabt. Der Schuster hatte wieder eine Nachtigall angeschafft, und Pfanner war gewesen, als ob er sie so laut schlagen hörte, daß er darüber erwachte, und dann, das war das Merkwürdige, hatte er sich eingebildet, wach zu sein und sie noch zu hören. Seine Frau konnte nicht genug staunen, auch ihr hatte etwas ganz Ähnliches geträumt, und das mußte wohl etwas zu bedeuten haben.

Georg stand auf und trat ans Fenster, damit die Eltern sein Erröten nicht sähen.

 

Auch Frau Agnes hatte ihr Geheimnis, und sie mußte, um es zu bewahren, allerlei Ausflüchte gebrauchen, die gar oft weitab von der Wahrheit lagen. Seit einiger Zeit war bei allen Mahlzeiten der Tisch reichlicher besetzt, und Pfanner hatte doch nicht mehr Wirtschaftsgeld bewilligt als früher. Seine Frau konnte nicht immer bei der Wahrheit bleiben, wenn er sie darüber zur Rede stellte. Ungern genug hörte er schon und fühlte sich gedemütigt, wenn sie gestand, einige Konfektionsarbeiten gemacht und durch Vermittlung Frau Walchers unter der Hand verkauft zu haben. Nie hätte er erfahren dürfen, daß sie ein eben entbehrliches Kleidungsstück oder Hausgerät ins Versatzamt getragen, einen noch aus dem väterlichen Hause mitgebrachten kleinen Schmuckgegenstand veräußert hatte. Er hielt viel auf diese Reste einer ehemaligen Wohlhabenheit; es schmeichelte ihm, sich seine einst sehr schöne Frau – nur leider die Hellblonden verblühen sehr schnell! – aus einem guten und damals fast reichen Hause geholt zu haben. Der geringste Zufall konnte alles an den Tag bringen, und dann – Agnes schloß die Augen und erzitterte bei dem Gedanken, was dann geschehen würde. Aber gleichviel, das Kind mußte um jeden Preis besser genährt werden als bisher.

Frau Adjunkt Walcher hatte sich schon vor einem Jahre in ihrer kurzangebundenen, offenherzigen Weise darüber ausgesprochen: »Mir scheint immer, Sie halten Ihren Schorsch zu kurz in der Kost, Frau Offizial. So ein Bub will tüchtig essen. ›Das Lernen zehrt, und in einen kleinen Ofen muß man öfter nachlegen als in einen großen‹, sagt mein Mann. Er und ich sind oft hungrig schlafen gegangen – Herrgott, ein Adjunkt mit tausend Gulden Gehalt! –, unsere zwei Buben waren immer satt geworden. Sehen auch aus wie die Knöpf. Ihr Schorsch schießt in die Höh, wird ja bald den Herrn Offizial eingeholt haben, setzt aber kein Lot Fleisch an.«

»Finden Sie, daß er schlecht aussieht?« hatte Frau Agnes in Bestürzung ausgerufen.

Nun nein, das fand die Frau Adjunkt gerade nicht, aber so gewiß »kleber« und eine bessere »Farb« sollt er haben: »Die Nahrung muß ausreichend sein«, sie betonte das Wort mit Wohlgefälligkeit, es kam ihr so gebildet vor. »›Ausreichend‹, sagt mein Mann. ›Das viele Lernen schlagt sich sonst den Kindern auf die Nerven.‹«

Dies Gespräch hatte entschieden; die Liebe der Mutter hatte über den Widerwillen der ehrlichen Frau gegen Falschheit und Lüge gesiegt. Ihrem Manne Vorstellungen zu machen, einen Versuch zu machen, ihn zur geringsten Mehrausgabe zu bewegen wäre ihr so wenig eingefallen, als einem Stein zuzureden, sich in Brot zu verwandeln. Eine Erörterung zwischen ihm und ihr kam überhaupt nicht vor. Vom Anfang ihrer Ehe an hatte sein herrisches und ablehnendes Wesen jede Möglichkeit, ihm vertrauensvoll zu nahen, ausgeschlossen. Was konnte eine Frau ihm zu sagen haben? Er war er, und außer ihm war die Pflicht, und diesen beiden höchsten Mächten unterstand die Welt, die er begriff. Erst als ein Sohn ihm geboren wurde, gab es ein zweites Wesen, ihm ebenso wichtig wie er sich selbst. Eine Fortsetzung seines Ich, eine vervollkommnete Fortsetzung. Alles, was seinem Ehrgeiz versagt geblieben, was er nicht errungen, sollte sein Sohn erringen.

Er war aus Armut und Niedrigkeit hervorgegangen, hatte einen nur mangelhaften Schulunterricht genossen und niemals die Aussicht gehabt, es zu einer höheren Stellung zu bringen. Als kleiner Beamter lebte er und würde er sterben. Aber der Sohn: das Gymnasium als Primus absolvieren, den Doktorhut summa cum laude erwerben, schon in den ersten Anfängen der Laufbahn von der Glorie reichster Verheißungen umstrahlt, steigen von Erfolg zu Erfolg, von Ehren zu Ehren – das sollte der Sohn. Den nüchternen Offizial Pfanner, den unfehlbaren Rechner, den trockenen Vernunftmenschen nahm, wenn er sich diesen Vorstellungen hingab, die Phantasie auf ihre Flügel und trug ihn über alle Gipfel des Wahrscheinlichen sausend hinweg. Und wenn er dann wieder zur Erde niederstieg und seinen Georg zufällig einmal müßig einhergehen sah, wetterte er ihn an: »Lern!«

Er selbst, immer in der Zukunft lebend, die Gegenwart und was sie darbot, geringschätzend, entfremdete sich mehr und mehr seinen Standesgenossen. Er erwies sich ihnen gefällig, machte Arbeiten, die ihnen zugekommen wären, hatte aber dabei nur seinen eigenen Vorteil, die Verbesserung seiner Stellung, im Auge. Dem Verkehr mit ihnen, den Zusammenkünften im Kaffeehaus und im Stammgasthaus, ging er soviel als möglich aus dem Wege. Nur selten fand er sich mit den Kollegen zusammen. Beim »Goldenen Wiesel«, wo die Versammlungen der Herren Beamten stattfanden, an denen auch einige Vorgesetzte und Bekannte der Vorgesetzten teilnahmen, da begegnete Pfanner richtig jedesmal dem Manne, den er haßte, dem Kunstschlosser Herrn Obernberger. Vor Jahren hatte es dem als großer Vorzug gegolten, mit den Herren von der Eisenhahn im Gasthaus zusammenkommen zu dürfen. Jetzt hatte der Standpunkt sich verrückt. Seitdem die Arbeiten aus der Kunstschlosserei Obernbergers erste Preise auf den Ausstellungen erhalten hatten, seitdem er viele hundert Arbeiter in seinen Werkstätten beschäftigte, im eigenen Hause wohnte, im eigenen Wagen vorfuhr und das Band des Franz-Josefs-Ordens im Knopfloch trug, eilten die meisten der Herren ihm bis zur Tür entgegen, und bei Tische erhielt er den Platz zur Rechten des Inspektors.

Das alles hätte Pfanner hingehen lassen und sich nicht weiter darum gekümmert. Aber dieser Schlosser hatte einen Sohn, und dieser Sohn trat seinem Georg im Gymnasium auf die Fersen, konnte ihn einholen, konnte ihn überflügeln, denn der verdammte Bub hatte Talent, sein ärgster Feind mußte das zugeben. »Talent um eine Million«, wie Herr Obernberger sagte, »aber nicht um einen Heller Fleiß.«

 

Es war nach der Schule. Pepi Obernberger und Georg Pfanner gingen ein Stück des Weges miteinander. Sie waren beide aufgerufen worden vom Professor des Griechischen, und Pepi hatte besser bestanden. Georg schritt sehr kleinlaut und mit einem ganz roten Kopf neben ihm her. Der Vater versäumte nie zu fragen: »Hat der Herr Professor dich aufgerufen, und wen noch, und wie ist’s gegangen?«

»Du weißt immer«, sagte Georg zu seinem Kameraden. »Hast heute wieder sehr gut gewußt. Ich wäre froh, wenn ich immer so gut wüßte wie du.«

Pepi fing sogleich zu prahlen an: Hol’s dieser und jener! Ihm lag nichts an dem dummen Plunder. Kasusartige Endungen, Komparation der Adjektiva, dummes Zeug! Er plagte sich auch gar nicht damit. Wenn der Trottel von einem Professor eine neue Walze einlegte in seinen Werkelkasten und anfing sie herunterzuleiern, da höchstens hörte er ein bißchen zu. Zu Hause sah er kein Buch an, das war ihm viel zu fad.

»Geh, geh!« fiel Georg ungläubig ein, und er verbesserte sich: »Fast keins, auf Ehre! Daß sie mir immer so gute Zeugnisse geben, das danke den alten Perücken der Teufel. Ich gift mich drüber, weil’s meinen Alten auf die dumme Idee bringt, einen Professor aus mir zu machen. Aber nein! Lieber als so ein lächerlicher Zopf zu werden und auf alles zu verzichten, was schön ist: radfahren, reiten, jagen, tanzen, kutschieren, Billard spielen im Kaffeehaus, Gletscher besteigen – lieber erschieß ich mich!«

Georg sah ihn aufmerksam an. Er war so ganz und gar das Ebenbild seines Vaters, des braven, fröhlichen Herrn Obernberger mit dem runden Kopf und dem runden Gesicht und dem freundlich lächelnden Munde. Und der Mensch sprach von Selbstmord?

»Red nicht so!« rief Georg. »Du wirst keine Todsünde begehen; Selbstmord ist eine Todsünde und eine Feigheit.«

»Unsinn!« stieß Pepi höhnisch aus. »Wie kann man so ein Esel sein und alles nachplappern, was sie einem in der Schul sagen. Aber du hast nie einen eigenen Einfall. Hast den Kopf schon ganz ausgestopft mit Pappendeckel. Adje!« – Du Schulesel! setzte er in Gedanken hinzu und bog ab, um die nächste Tramwaystation zu erreichen.

Georg ging langsam vorwärts und sagte sich doch mit Unbehagen, daß jeder Schritt ihn dem Hause näher brachte, wo der Vater ihn gewiß schon erwartete mit der ständigen Frage, die er heute mit so großem Zagen beantworten würde.

O das traurige Haus, das kahle, große, mit den langen Gängen und den schmalen Stiegen, und das Zimmer, in dem man immer saß zu dreien und wo keines sich vor dem andern retten konnte. Dahin mußte er zurückkehren, heute und morgen und alle Tage und noch fünf Jahre lang. Wie soll man das erleben, und hat man’s erlebt, fangen neue Studien an, die schwersten. Wie ein grauer Berg, den er nie werde übersteigen können, bäumte die Zukunft sich vor ihm auf, ein ödes, trostloses, der Verzweiflung verwandtes Gefühl ergriff sein Herz und durchtränkte es mit unsagbarer Bitternis. Plötzlich kam ein nie gekannter Trotz über ihn. Obwohl die Uhr am nächsten Turme halb sieben schlug, obwohl er genau wußte, daß er werde sagen müssen: Ja, ich habe mich aufgehalten unterwegs, setzte er sich auf eine Bank im kleinen Square vor Beginn der Gasse, in der die elterliche Wohnung lag, zog die Nachtigall aus der Tasche und ließ sie schlagen. Sie tröstete, sie milderte jedes herbe Gefühl. Sie ließ ihn einen Übergang finden aus tiefer Niedergeschlagenheit zu lauterem Frohmut.

Er hatte ja nicht nur Betrübnis und Gram in seiner Seele, tief in ihrem Innersten unter lastenden Schatten lohte rot und warm die Flamme junger Lebensfreudigkeit und ein unausgesprochenes, immer zum Schweigen verdammtes Glücksgefühl wollte sich einmal hinaussingen. Es jubelte in die laue Luft, zum lichten Frühlingshimmel empor, mit der Stimme der Nachtigall.

 

Georg fand den Vater nicht daheim. Er war dagewesen, hatte sich umgekleidet und zu einer Beamtenversammlung ins Stammgasthaus begeben. Mutter und Sohn sprachen es nicht aus, welch ein Fest das Alleinbleiben für sie war. Um jede Minute, die er auf dem Heimweg vertrödelt hatte, tat es Georg jetzt leid. Die Stube kam ihm auf einmal traut und freundlich vor, die Luft reiner, und die Lampe schien heller zu leuchten als sonst. Unter ihr in einem Glase stand ein kleiner Veilchenstrauß; Frau Walcher hatte ihn gebracht.

Georg beugte sich über ihn und sog seinen zarten Duft ein: »Die gute Frau Walcher«; er lächelte seine Mutter pfiffig an. »Hat sie den auch vom Land gekriegt, wie neulich wieder das gute ›Junge‹ vom Hasen?«

Frau Agnes errötete. So war ihr der Schorschi hinter ihre Schliche gekommen? Sie wich seinem auf sie gerichteten Blick aus, sie antwortete nicht, sie sprach nur: »Der Vater hat dir sagen lassen, du sollst lernen.«

»Schon recht«, erwiderte er übermütig und warf die Schultasche in weitem Bogen auf das Sofa, daß sie dort, emporgeschnellt, einen fröhlichen Hupf machte.

»Aber Georg, du bist ja heue wie ausgewechselt.«

»Ja, ja, Mutter!« Er stürzte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

Sie wehrte: »Sei gescheit.«

»Nein, gescheit bin ich heute einmal nicht. Ich muß dich liebhaben und küssen, dein liebes Gesicht, deine lieben Hände. Jeder Finger bekommt einen Kuß.«

Nun denn! Ach, die Zärtlichkeit des Kindes tat sehr wohl. »Jetzt aber setz dich und iß, es wird ja alles kalt.«

Und sie setzten sich und aßen und ließen sich’s schmecken und plauderten und dachten nicht an morgen und waren so glücklich, wie die armen Leute sind, die ganz in der Gegenwart leben, den Augenblick genießen, den Blick von der Zukunft abgewendet, die ihnen nichts Gutes bringen kann.

Nach dem Abendbrot begab die Mutter sich an die Nähmaschine und wollte noch ein Stündchen fleißig sein. Die alte Nähmaschine, die sich die letzte Zeit hindurch nur schwer in Bewegung setzen ließ und den Dienst auch schon mehrmals versagt hatte, glitt heute dahin wie ein Schlitten auf fest gefrorener Bahn. Was war denn da geschehen? Gestern noch hatte die Mutter gedacht, die alte Getreue werde überhaupt nicht mehr brauchbar sein und nicht einmal in der Fabrik hergestellt werden können. Was geschehen war? Der Vater hatte sie auseinandergenommen und sie ausgezeichnet repariert.

»Der Vater?« das gab dem Georg zu denken. »Hat denn der Vater gelernt, Nähmaschinen reparieren?«

»Gewiß nicht. Aber weißt du, der Vater kann vieles, das er nicht gelernt hat, er hat zu allem Talent.«

Hat es nicht gelernt und kann es, weil er Talent hat. Etwas können, das man nicht gelernt hat, heißt also Talent haben. Er versank in Grübeleien.

»Aber Mutter, ich hab doch auch Talent.«

Sie mußte lachen. Es war wirklich, wie wenn ein Zweifel aus seinen Worten spräche: »Nun, ich meine, du hörst es oft genug, um es zu wissen«, und sie griff zärtlich mit der Hand in seinen zerzausten blonden Schopf.

»Wenn’s nur wahr ist, Mutter, wenn’s nur recht wahr ist«; er schluckte mühsam und benetzte die trocken gewordenen Lippen mit der Zunge. Die Traurigkeit, die ihn nach dem Gespräch mit Pepi angewandelt hatte, wollte sich wieder in ihm regen; aber die Anwesenheit der Mutter bannte sie rasch. Sein Herz ging weit auf, nicht das kleinste Geheimnis blieb darin. Von allem, was bisher stumm und schweigend in ihm gelegen, redete er, und während er es tat, wurde ihm manches klar und ausgemacht, was er sich selbst nie eingestanden hatte. Die Mühe, die das Lernen ihm verursachte, und daß es ihm so schwer wurde, sich etwas »auswendig zu merken«. Andere lernten viel leichter auswendig und merkten sich’s viel länger.

»Du hast kein sehr gutes Gedächtnis«, meinte die Mutter und dachte, das kommt oft vor bei sehr Talentvollen. Sie gab dem Sohn auch etwas Ähnliches zu verstehen; er zuckte die Achseln.

»Wer Talent hat, das findest du selbst, kann auch, was er nicht gelernt hat. Ich hab vielleicht gar kein so großes Talent zum Lernen in der Schule. Aber vielleicht zu etwas anderem… Das Singen in der Volksschule hat mich so gefreut. Da hab ich immer einen Einser gehabt… und – weißt du noch, die Flöte! Ach, wenn ich hätte lernen dürfen Flöte spielen, oder gar Violine… Jetzt hab ich halt nichts mehr als nur – soll ich’s dir sagen? Soll ich? Ja? – Bleib sitzen – ganz ruhig.«

Er stand auf und ging in den dunkelsten Winkel des Alkovens, und leise schwirrten von dort her die Töne der Nachtigall zu der Mutter herüber. Sie staunte, legte die Hände in den Schoß und hörte zu und überhörte, daß die Küchentür geöffnet wurde, und nun auch die Zimmertür.

»Halb elf«, sprach Pfanner eintretend, »und du bist noch auf, und wo ist der Bub?«

 

Er war in schlechter Laune.

In der Versammlung war ein Antrag, den Pfanner und einige ältere Beamte eingebracht hatten, abgelehnt worden. Beim gemeinsamen Abendessen hatte sich dann Obernberger eingefunden, einen Flaschenkorb in der mächtigen Rechten, und hatte Bordeaux und Champagner mit so guter, bescheidener Manier serviert, daß selbst der Herr Direktorstellvertreter sich herbeiließ, ein Gläschen anzunehmen. Nur Pfanner lehnte schroff ab. In Gift hätte sich ihm ein vom »Schlosser« kredenzter Trunk verwandelt. Bis zum Überdruß renommierte der wieder mit seinem Pepi und gab die tollen Streiche des Burschen so stolz und behaglich zum besten, daß Pfanner zuletzt nicht mehr an sich halten konnte: »Wenn’s der meine so treiben tät, der sollt mich kennenlernen.«

Da waren dann gleich Entschuldigungen Pepis nachgekommen und ein zärtliches Lob des guten Kerls, der er sei, bei all seinem Übermut, und was für ein goldenes Herz er habe und – ein Talent! Die Herren Professoren zweifelten gar nicht daran, daß er in diesem Jahre Primus werden würde.

Primus – der Sohn des Schlossers! Pfanner hatte plötzlich einen gallbittern Geschmack im Munde, und das Essen widerstand ihm. Sein Georg war nur in der ersten Klasse Primus gewesen, in der zweiten zweiter Vorzugsschüler, und nun in der dritten konnte er’s allem Anschein nach gar nur zum vierten, dem letzten Vorzugsschüler bringen. Er hatte ein ›Genügend‹ gehabt in Griechisch und ein ›Befriedigend‹ in Geometrie. Wohin kam er, wenn er es von nun an nicht zu lauter Vorzugsklassen brächte? Wohin überhaupt, wenn er in seinen Leistungen von Jahr zu Jahr zurückblieb? Pfanner sah alles schon verloren, alle Mühe umsonst angewendet, alle Opfer umsonst gebracht. Der Sohn würde am Ende auch nichts anderes werden als der Vater, ein armseliger, kleiner Beamter. Dieser Sohn, dem alle Hilfsmittel geboten waren, der nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchte. Aber es ging ihm zu gut, der Hafer stach ihn, und er überließ sich seinem Leichtsinn und seiner Faulheit. Von Erbitterung erfüllt, mit dem Vorsatz, die Zügel schärfer anzuziehen, war Pfanner nach Hause gekommen. Da fand er seine Frau müßig im Zimmer sitzend und dem Vogelsang lauschend, den sein großer Bub, im Alkoven versteckt, nachahmte.

»Schämst dich nicht?« fuhr er ihn an, als Georg auf seinen Befehl hervortrat. »Hast Ehr im Leib oder keine? Was tragst da in der Hand? Aufmachen die Hand!«

Der Knabe gehorchte. Der Gedanke, eine Entschuldigung vorzubringen, kam ihm gar nicht. Pfanner erfuhr alles, und sein Unwillen, seine Entrüstung kannten keine Grenzen. Dieser Bub! Wirklich ein ungeratener Sohn. Spielt da, der bald Vierzehnjährige, mit einer Lockpfeife, oder was das ist. Spielt bei Tag und Nacht, ja, ja – er besann sich jetzt – hat noch die Eltern zum Narren gehalten. Wenn er abends lernen soll, fallen ihm die Augen zu, spielen kann er bis in die Nacht. »Aber wart nur… Her mit dem Quark!«

Ein fruchtloser Widerstand des Schwächeren, ein rascher Sieg des Stärkeren, ein Armschwung… Das Fenster stand offen – die Nachtigall flog hinaus.

Frau Agnes zuckte zusammen. Georg stand mit weit aufgerissenen Augen: »Vater, meine einzige Freud!« schrie er auf, und galt es nun, was es mochte, die härtesten Worte, die grausamsten Schläge, er mußte weinen um seine »einzige Freud«, weinen, schluchzen, sich auf den Boden werfen und sich winden in Trostlosigkeit und Verzweiflung. Daß der Vater tobte und schrie, hörte er nicht, daß der Vater einen Knoten ins Taschentuch flocht, sah er nicht, daß Hieb auf Hieb auf ihn niedersauste, fühlte er nicht. Er wußte und fühlte nur, daß er ein armes Kind war, dem immer das weggenommen wurde, woran sein Herz ihm hing.

»Aufstehen! Still! Augenblicklich still!« wetterte Pfanner und hatte nicht das geringste Mitleid mit dem Kinde, das sich endlich vom Boden erhob und heftige Anstrengungen machte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Vielmehr forderte sein Zorn noch ein Haupt, sich darüber zu ergießen. Wer trug Schuld an dem frevelhaften Leichtsinn des Buben, wer unterstützte ihn noch darin? Die Mutter, die verbrecherisch schwache, törichte Mutter! Wenn aus dem Buben nichts wird, wenn er heranwächst zu einer Last und sogar Schande der Eltern – Müßiggang ist aller Laster Anfang –, wenn er elend untergeht, fällt die Verantwortung dafür auf ihr Gewissen, und sie wird einst zur Rechenschaft gezogen werden.

Pfanner verstand es, seine Umgebung stumm zu machen. Es kam kein Laut über die Lippen seiner Frau. Bis zu einem gewissen Grade hatte sie sich im Laufe ihrer Ehe an sein maßloses Übertreiben gewöhnt, und jetzt freute sie sich gar, daß seine Vorwürfe sie trafen. So diente sie ihrem Jungen eine Zeitlang wenigstens als Schild.

Der Mann schrie und tobte, und dabei zog er den Rock und die Weste aus und legte sie sorgfältig auf einen Sessel. Sogar in der Wut gegen seine nächsten Menschen verfuhr er schonend mit seinen Sachen. Nun entstand eine Pause, aber nur als Vorbereitung zu einem neuen Schrecknis, zu der Frage: »Sind die Aufgaben gemacht?«

»Ich werd sie morgen machen«, erwiderte Georg bang und zögernd. »Morgen ist Sonntag…«

»Ja so. Bring die Aufgaben!« Pfanner sah sie durch. »Eine Fabel aus Deutsch in Latein übersetzen. Griechische Grammatik zu lernen: Unregelmäßigkeit der Deklination. Geometrie: Drei Aufgaben. Geschichte: Wiederholung, von den Kreuzzügen bis zu Rudolf von Habsburg. Und von alledem nichts gemacht? Nichts? Das alles soll morgen bewältigt werden?« Er dekretierte: »Geschichte heute noch wiederholen, aufmerksam durchlesen. Wenn man am Abend etwas aufmerksam durchliest, weiß man es am nächsten Morgen wörtlich.«

»Es sind sechsundzwanzig Seiten«, wagte Georg einzuwenden.

»Zweiundzwanzig, vier Seiten nehmen die Illustrationen ein.« Er legte das Buch vor ihn hin: »Setz dich, lern!«

Der Knabe tat, wie ihm geheißen worden. Gut also, gut, so setzt er sich denn hin und lernt. Daß er müd und schläfrig ist, was liegt daran, ihm ist alles recht, er lernt. Wenn er sich nur zu Tod lernen könnte, das wäre ihm das allerliebste. Wenn er tot wäre, hätte er Ruhe, und seine Mutter hätte Ruhe, brauchte sich seinetwegen nicht beschimpfen lassen. So begann er denn zu lesen: »Schon in den ersten Jahrhunderten trieben Andacht und Glaubensinnigkeit die Christen zu den heiligen Stätten…«

 

An schönen Sonntagnachmittagen unternahm Pfanner regelmäßig einen Spaziergang, und Georg durfte ihn begleiten. Ein Vergnügen, auf das die Mutter längst freiwillig verzichtet hatte und von dem das Kind trauriger heimkehrte, als es ausgewandert war. Mit dem Vater spazierengehen bedeutete, an jeder Unterhaltung, jedem Genuß vorübergehen. Dort drüben, im lustigen Prater, wurde nach der Scheibe geschossen, im Luftschiff, im mechanischen Ringelspiel gefahren, da gab’s Theateraufführungen, Wachsfigurenkabinette, eine Damenkapelle, Zigeunermusik. Und ein Aquarium und ein Panorama und so vieles Schöne noch, von dem Georgs Mitschüler zu erzählen wußten. Wenn er eine Anspielung wagte, eine Frage stellte: »Warst du schon einmal im Wurstelprater? Hast du schon einmal die Zigeuner spielen gehört?« antwortete der Vater voll Verachtung: Was man im Wurstelprater zu sehen und zu hören bekäme, sei lauter elendes Zeug, an dem nur ungebildete und rohe Menschen sich zu ergötzen vermöchten. Im Bogen wich er allem aus, was seine eigene Neugier hätte reizen können oder gar ihn selbst in Versuchung bringen, sich einen guten Tag zu machen: einmal in einem Jahre, nein – einmal in vielen Jahren. Er wollte nicht! wollte nicht ein paar Gulden unnötig ausgeben, die ins Sparkassenbuch des Kindes gelegt werden könnten.

Als sie nach Hause kamen, erwartete sie ein gutes, kräftiges Abendessen.

»Weil heute Sonntag ist«, entschuldigte sich Agnes, da Pfanner ihr neuerdings Verschwendung vorwarf.

Es war ein Verdacht in ihm rege geworden, den er nicht aussprach, der ihn aber quälte und der entweder getilgt oder gerechtfertigt werden mußte. Kürzlich hatte er sich um Lebensmittelpreise erkundigt, hatte gerechnet und herausgebracht, daß die Ausgaben, die sich seine Frau fortgesetzt erlaubte, unmöglich mit dem ihr zur Verfügung gestellten Küchengelde bestritten werden konnten. Erarbeitet wollte sie den Überschuß haben? Lächerlich! Er, der Sohn einer armen Näherin, wußte, was seine Mutter verdient hatte mit täglich zwölfstündiger emsiger Arbeit. Ihm ins Gesicht sollte seine Frau, die ihren Haushalt ohne jegliche Unterstützung bestellte, nicht behaupten, daß sie imstande sei, sich eine regelmäßige Einnahme zu verschaffen. Womit also bestritt sie die Mehrauslagen? Pfanner begnügte sich nicht lange mit den ausweichenden Antworten, die sie ihm gab. Eines Tages stellte er ein scharfes Verhör an, und sie, in die Enge getrieben, angeekelt von der erniedrigenden Pein, immer neue Ausflüchte ersinnen zu sollen – gestand.

Ja denn, ja, sie verkaufte, sie versetzte, sie gab ihr Letztes her, damit das Kind, das in fortwährender geistiger Anspannung lebte, ordentlich ernährt werde in den Jahren der Entwicklung und des stärksten Wachsens.

Pfanner zürnte, höhnte: Was hatte denn er gehabt in diesen sieben Jahren? Wer hatte denn gefragt, wie er sich nährte? Georg wuchs auf wie ein Hofratssohn im Vergleich zu ihm. Er, zu vierzehn Jahren, hatte sich sein Brot selbst verdienen müssen, sein Brot im Sinne des Wortes! und nicht etwa ein frisch gebackenes. Die Entbehrungen hatten ihm sehr gut anschlagen, er war immer gesund geblieben. Warum sollte sein ab anders geartet sein als er und wie ein Weichling behandelt erden, den man aufpäppeln muß?

Agnes beharrte zum ersten Male während ihrer langen Ehe im Widerstand gegen den Mann. Der Augenblick, den sie so sehr gefürchtet hatte, war gekommen und fand sie stärker, als sie geglaubt hatte sein zu können. Ruhig ließ sie die Anklagen Pfanners über sich ergehen, und indes er ihr vorwarf, ihn hintergangen zu haben, grübelte sie nach über eine Möglichkeit, ihn noch weiter zu hintergehen. Es mußte sein, um des Kindes willen.

So widerstandsfähig, wie sein Vater gewesen, war eben der lasse, hochaufgeschossene Junge nicht, der jetzt mit einem: »Guten Abend, Vater und Mutter!« eintrat und schweratmend an der Tür stehenblieb, als ob die gewitterschwüle Atmosphäre, die im Zimmer herrschte, ihm auf die Brust gefallen wäre.

 

Einige Tage später feierte Georg seinen vierzehnten Geburtstag. Er hatte zwei Vorzugsnoten aus der Schule mitgebracht. Mit feierlichem Ernst und mit der Mahnung, das kostbare Geschenk zu schonen, übergab ihm sein Vater einen neuen Sommeranzug, eine hübsche Mütze und ein Paar solide Halbschuhe. Am Nachmittag blieb Pfanner länger als gewöhnlich am Tische sitzen und sprach, nachdem Frau Agnes das Zimmer erlassen hatte, eingehender und zutraulicher mit Georg, als sonst seine Art war.

Er wußte wohl, die Mutter nannte ihn grausam und fand, daß er zuviel verlange von seinem Sohne. Wenn es nach ihr ginge, würde der jetzt freilich gute Tage haben, die Schule Schule sein lassen und nur tun, was ihm gefiele. Aber dann? Wie würde die Zukunft aussehen nach einer vertrödelten Jugend? Und ist die Zukunft nicht die Hauptsache? Ausgerüstet mit der Macht des Wissens soll Georg der seinen entgegengehen. Ohne Mühe freilich ist Wissen nicht zu erringen. Will er der Feigling sein, der vor der Mühe flieht, oder der Held, der sie aufsucht, mit ihr ringt, sie überwindet? Es gibt keinen Sieg außer diesem ersten. Ohne ihn ist kein hohes Ziel zu erreichen.

»Das deine soll ein hohes sein!« rief Pfanner aus. »Du bist nun kein Kind mehr, und ich kann dir sagen, das Ziel, das du dir stecken sollst, ist, ein Staatsmann zu werden. Einer, der mit überlegenem Geiste und mit starker Hand die Teufel der Zwietracht, die unsere Heimat zerreißen, bezwingt, das große Wort: ›Gleiches Recht für alle‹ von den Lippen in die Herzen verpflanzt und es zur Tat und uns einig, groß und glücklich macht. Denk dir, ein Mann sein, der das vermöchte! Er würde der Retter, der Erlöser, der Abgott seines Volkes.«

Georg hörte ihm voll Bewunderung zu. Daß sein Vater mit ihm redete wie mit einem Ebenbürtigen, machte ihn unendlich stolz. Der Glaube an sich selbst, der ins Schwanken gekommen war, erwachte wieder. »Ein ordentlicher Mensch sein ist viel, und der mittelmäßig Begabte mag sich damit begnügen«, hatte der Vater unter anderem gesagt, »ein außerordentlich Begabter ist sich selbst und den andern schuldig, ein großer Mensch zu werden. Bei ihm kommt es nur auf den Willen an, auf den unerschütterlichen Entschluß…«

Er konnte nicht einschlafen an diesem Abend. Die Zukunftsbilder, die sein Vater entworfen hatte, standen zu lebhaft vor ihm. Von der Tätigkeit eines Staatsmannes machte er sich allerdings keinen rechten Begriff, sah sich vorerst auf der Rednerbühne, einer Versammlung gegenüber, die ihn mit höhnenden Zurufen empfing, Feindseligkeit blickte aus aller Augen, in jedem Gesicht stand ein: Nein! geschrieben. Und er begann zu sprechen, und allmählich verstummten die Zurufe, und von den Gesichtern verschwand der mißgünstige Ausdruck, Teilnahme und Zustimmung wurden rege und begannen sich zu äußern, vereinzelt erst, dann immer häufiger, endlich völlig einstimmig. Er hatte seine Zuhörer hingerissen durch die Gewalt seines Wortes. Und alle, vom ersten bis zum letzten, sahen den Führer in ihm und folgten ihm willig und entzückt; denn sie wußten, was er wollte, war das Gute, das Weise, und der Weg, den er sie führte, war der Weg zu ihrem Heile.

Auf seinen nächsten Gängen zur Schule blieb er nicht mehr bei Salomon stehen. Er dankte für die freundlichen Winke und Verbeugungen des Hausierers nur mit einem kurzen Grußwort. Einmal hielt er sich aber doch bei ihm auf. Salomon hatte ihn gar zu inständig flehend angesehen und fragte gar zu trübselig: »Habe ich Ihnen was getan, junger Herr, sind Sie böse auf mich?«

»Was dir einfällt«, erwiderte Georg, »was werd ich denn bös auf dich sein.«

Es kam Salomon halt so vor. Vielleicht hatte die Nachtigall sich doch nicht bewährt, hineinschauen kann man ja nicht, und vielleicht wünschte der junge Herr eine andere. Salomon war bereit, ihm eine andere zu geben, um den halben Preis.

»Eine andere um den halben Preis«, erwiderte Georg. Gewaltig trat die Versuchung ihn an, den lockenden Antrag anzunehmen. Aber er bestand, er siegte in seinem kurzen Seelenkampf.

»Nein, nein, ich brauch keine Nachtigall mehr, ich will keine!« rief er. »Ich bin jetzt vierzehn Jahre alt, und es gehört sich für mich nicht mehr zu spielen. Ich muß lernen, ich muß trachten, Vorzugsschüler zu bleiben, ich darf keinen andern Gedanken haben als lernen.«

Diesen Vorsatz führte er aus.

 

Es kamen Tage, an denen sein Fleiß an Raserei grenzte. Sie verflossen und ließen eine schauderhafte Erschöpfung zurück. Niemandem, nicht einmal seiner Mutter, vertraute er, was um diese Zeit in ihm vorging. Ich werd noch närrisch, dachte er. In meinem Kopf ist kein Blut und kein Hirn; in meinem Kopf ist es weiß und leer. Das Lernen hat alles aufgefressen und muß jetzt auch aufhören, weil es nichts mehr zu fressen findet. Das ist ganz natürlich und ganz albern und ein peinigender Zustand, aus dem sich aufzuraffen unmöglich ist…

Wie im Halbschlaf saß er bei seinen Büchern, und eben in dieser Zeit ließ Pepi sich herab, einer Anwandlung des Fleißes nachzugeben, und kam ihm nach, kam ihm vor in großen Sprüngen. Aus jedem Gegenstand, in dem er aufgerufen wurde, erhielt er eine Vorzugsklasse.

Und wieder fragte ihn Georg: »Wie machst du’s, daß du immer weißt? Sag mir’s, wie du’s machst?«

Pepi steckte die Hände in die Taschen und warf die Beine, als ob er sie von sich schleudern wollte: »Zu langweilig! … Dumme Fragerei! …« In abgebrochenen Sätzen nur geruhte er zu antworten. Sein Alter gab klein bei, weil er ihm gedroht hatte, sich zu erschießen. So tat er ihm denn auch etwas zulieb und legte seinem Genie keinen Kappzaum mehr an: »Und jetzt mach ich ihm halt die Freud und werd Primus.«

»Ja, ja, wenn’s geht!«

»Wenn’s geht?«

»Gar gewiß ist’s doch nicht. Es ist noch der Rott da und der Bingler.«

»Ich werd Primus«, wiederholte Pepi voll Aufgeblasenheit. »Alles geht und wird, wie ich’s haben will – grad so!«

»Wie du’s haben willst?«

»Grad so. Das kannst du nicht begreifen. Du freilich nicht, du armer Büffler. Weil du nur ein Büffler bist, kannst du’s nicht begreifen. Du möchtest nur; ich kann, was ich mag.«

Georg warf sich in die Brust: Und ich auch, wollte er antworten; doch brach ihm die Stimme…

Ihm war, als ob der Boden sich aufrisse und zwischen ihm und dem gottbegnadeten Kameraden ein unüberbrückbarer Abgrund gähne. Drüben, mitten in fruchtbaren Gefilden, in denen alles grünte und blühte, stand Pepi, und wohin sein Fuß trat, entsprang ein Quell, und was seine Hand berührte, wurde zur herrlichen Frucht. Und er hüben, auf kargem, steinigem Boden, der widerstrebend nur und ungern sich den schattigen Zweig, den nährenden Halm entringen ließ.

Warum die schreiende Ungerechtigkeit, warum dem andern alles und ihm so bettelhaft wenig?

Pepi beobachtete seinen stillen Kampf und verzog höhnisch den Mund. »Büffler!« sprach er. »Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder.« Da ergriff wilder Zorn den sanftmütigen Georg. Er sprang ruf Pepi zu und packte ihn an der Gurgel.

Der unerwartet Angefallene brüllte und wehrte sich mit Händen und Füßen, und bald waren die beiden umringt von einer johlenden Schar, die sich an dem Zweikampf beteiligte, fast durchweg zugunsten Georgs. Den vielbeneideten, vielgehaßten Pepi einmal gänzlich überwunden abziehen zu sehen gewährte jedem einzelnen einen köstlichen Genuß. Jämmerlich zugerichtet, in zerfetzten Kleidern verließ er den Plan. Das begab sich unweit der Schule, und an der Straßenecke war Salomon gestanden und hatte der Schlacht mit gespannter Teilnahme zugesehen. Er begleitete Georg mit Glückwünschen und Heilrufen; der aber winkte traurig ab. Er hatte etwas getan, was seinem ganzen Wesen widersprach, schämte sich seines Erfolges und betrachtete mit Entsetzen seinen neuen Rock, an dem die Spuren der Schlägerei zu sehen waren. Nun begann er zu rennen, um früher als der Vater heimzukommen. In Schweiß gebadet betrat er die Küche, legte das Ohr an das Schloß der Zimmertür und horchte. Alles still, nur die Nähmaschine schnurrte, die Mutter war allein. O Gott sei Lob und Dank! Hastig trat er ein und sprudelte die Geschichte seines jüngsten Erlebnisses heraus: »Und jetzt flick mir den Rock, Mutter, flick mir den Rock!«

 

Das Abendessen wurde schweigend eingenommen. Eine dumpfe Verstimmung herrschte im Hause. Pfanner schmollte noch immer mit seiner Frau. Er hatte die Scheine über alle von ihr versetzten Gegenstände an sich genommen, um sie nach und nach einzulösen. Gott weiß, unter welchen Bitternissen. Jeder Gulden, den er ins Versatzamt trug, war ein Raub am Sparkassenbuch seines Sohnes; an diesem künftigen Vermögen, aus dem die Kosten der Rigorosen und des Freiwilligenjahres bestritten werden sollten. Es gab Augenblicke, in denen er sie haßte, die Schuld an dem Raube trug. Ihn gutzumachen lag nicht in ihrer Macht, in der seinen aber lag, sie büßen und leiden zu machen. Tag für Tag wiederholte sich dieselbe Tortur. Tag für Tag verlangte er die Hausrechnung zu sehen, ging jeden einzelnen Posten durch, bemängelte jeden. Mit raffinierter Kunst erniedrigte er die Mutter in Gegenwart des Kindes durch sein zur Schau getragenes Mißtrauen.

»Wer einmal betrogen hat, gleichviel in welcher Absicht, betrügt wieder! Man muß sich vor ihm in acht nehmen.«

Gepeinigt sah Georg zu ihr hinüber und warf ihr hinter dem Rücken des Vaters Küsse zu. Um seinetwillen wurde sie beschämt, er war der unschuldige Urheber ihrer Qual. Und sie, alles erratend, was in ihm vorging, bezwang sich, bemühte sich, gelassen und standhaft zu bleiben bei den Kränkungen, die sie erfuhr. Der Mann hielt für Unempfindlichkeit, was höchster Heldenmut war, und verschärfte die Lauge in den Ausdrücken seiner Geringschätzung. Wie immer war es auch heute gegangen und Agnes kaum noch imstande, ihre Selbstbeherrschung zu bewahren, als ein heftiger Riß an der Glocke sie erschreckte. Sie schrie auf; auch Georg erschrak. Es war etwas völlig Ungewohntes, daß um diese Zeit jemand Einlaß bei ihnen begehrte.

»Nervös, wie die elektrisierten Frösch«, brummte Pfanner. »Habt ihr in eurem Leben noch nicht läuten gehört? Sieh nach, wer’s ist«, befahl er der Frau.

Sie zündete rasch eine Kerze an und eilte in die Küche. Schon wurde ein zweites Mal geschellt, noch ungeduldiger, noch heftiger als früher. Als Agnes öffnete, stand ein großer, breitschultriger, fein gekleideter Mann da und fragte: »Ist Herr Offizial Pfanner zu Hause?«

Wer konnte das sein? Vielleicht ein Vorgesetzter, der Herr Inspektor oder gar der Herr Oberinspektor?

»Ja, er ist zu Hause«, sagte sie, »belieben einzutreten.«

Ohne Gruß ging er an ihr vorbei; er hielt sie offenbar für die Magd, und ihr war der Irrtum recht. Sie hätte in ihrem grauen, ausgewaschenen Perkalkleide, in ihren geflickten Schuhen einem Vorgesetzten gegenüber nicht für die Frau eines k.u.k. Beamten gelten mögen. Höflich stieß sie die Zimmertür vor dem Fremden auf, trat in die Küche zurück und hörte nur noch ihren Mann in durchaus nicht respektvollem Tone sagen: »Herr Obernberger? Was verschafft mir das Vergnügen?«

Obernberger schloß die Tür hinter sich, die Magd sollte das Gespräch zwischen ihm und Pfanner nicht mit anhören.

»Vergnügen werden Sie von meinem Besuch nicht haben«, erwiderte er in erregtem Tone, »ich komme, um mich zu beklagen.«

Hoho! Das konnte unangenehm werden. Pfanner hatte ein böses Gewissen. War eine der wegwerfenden Reden, die er über Obernberger zu führen pflegte, dem »Schlosser« hinterbracht worden? Vielleicht auch einem der Vorgesetzten, bei denen der Meister in hohem Ansehen stand? Verfluchte Geschichte! Pfanner verbarg seine Bestürzung hinter einem besonders borstigen Wesen: »Nur heraus mit der Sprache, genieren Sie sich nicht. Ich kann was vertragen«, sagte er.

Georg war aufgesprungen und hatte einen Sessel herbeigeholt. Obernberger nahm Platz. Er betrachtete den Knaben, der mit gesenkten Augen und krampfhaft verschlungenen Fingern vor ihm stehenblieb, streng und prüfend.

»Herr Obernberger! Herr Obernberger!« sprach Georg leise und flehentlich.

Oh, wenn er früher an Herrn Obernberger gedacht hätte, er würde seinen Sohn nicht geprügelt haben. Herr Obernberger war immer so gütig mit ihm, wenn er ihn traf, und neulich, als er im Wagen gekommen war, den Pepi aus der Schule abzuholen, hatte er Georg eingeladen mitzufahren. Eine Seligkeit wäre es gewesen, der Einladung zu folgen, aber er wagte es nicht. Der Vater hätte gewiß gesagt: »Hast vergessen, daß du keine Gnaden annehmen sollst?«

Je länger Obernberger seine Augen auf Georg ruhen ließ, je milder wurde ihr Ausdruck, und jetzt redete er ihn an: »Wissen Sie, daß ich schon auf dem Wege zum Herrn Direktor war, um mich über Sie zu beklagen? Ich mag Ihnen aber doch Ihre gute Note in Sitten nicht verderben und will mich mit einer häuslichen Züchtigung begnügen, die Ihnen Ihr Vater sicher erteilen wird, wenn er hört, was vorgefallen ist. Herr Offizial«, wendete er sich an Pfanner, »Georg hat heute nach der Schule meinen Sohn angefallen und ihn gewürgt, und andere haben sich hineingemischt, und mein Pepi ist mir nach Hause gekommen, ganz zerrissen, und das rechte Auge so blau und geschwollen, daß er ein paar Tage hindurch weder lesen noch schreiben kann. Und das ist geschehen ohne den geringsten Grund.« »Ohne den geringsten Grund?« wiederholte Pfanner, hob sich halb von seinem Sitz, und es war, als ob er auf den Sohn losspringen wollte.

»Nicht ohne Grund«, hauchte Georg mehr, als er sprach. »Er hat mir gesagt, daß ich ein Büffler bin. Büffeln kommt von Büffel, und Büffel gehören zu der Gruppe der Rinder, hat er gesagt.«

Pfanner schwieg und saß wieder gerade auf seinem Sessel. Obernberger war betroffen.

»Ist das wahr?« fragte er, und Georg beteuerte: »Es ist wahr.«

»Hinaus!« rief Pfanner ihm plötzlich zu und wies mit ausgestrecktem Arm nach der Küchentür.

Draußen stand die Mutter neben dem Herde und zitterte an allen Gliedern und fragte sich, was für ein neues Unheil über ihren Georg hereingebrochen sein möchte. Er lief auf sie zu, war bleich wie Wachs, und grünliche Schatten zogen sich längs der Nase zu den Mundwinkeln herab: »Mutter, Mutter!« preßte er hervor, »was wird jetzt mit mir geschehen?«

 

In der Stube jedoch begab sich das Unerhörte. Pfanner entschuldigte seinen Sohn. Der Junge war schüchtern von Natur und nur zu sanft für einen Buben. Wenn er einmal losgeschlagen hatte, mußte er arg provoziert worden sein. Er sei auch absolut wahrhaft, versicherte der Vater, der ihn noch nie auf einer Lüge ertappt hatte.

»Können Sie das von Ihrem Pepi auch sagen?« fragte Pfanner und setzte die gewisse, militärische Miene auf, die er sich angeeignet hatte, als er einst, nach wenigen Monaten seiner Dienstzeit, zum Korporal befördert worden war.

Der gutmütige Obernberger stand immer noch unter dem Eindruck, den die Todesangst auf dem Gesichte Georgs auf ihn gemacht hatte. Der große, breite Mensch schmolz in der Nähe des kleinen, hitzigen Pfanner ordentlich zusammen. Ein gewaltiger Schneemann in der Nähe eines Häufleins glühender Kohlen. Er hatte keine Ursache, sich auf die Wahrheitsliebe seines Pepi zu verlassen, und weil er das nicht eingestehen wollte, schwieg er.

»Fragen Sie Ihren Pepi aufs Gewissen, ob mein Sohn ihn wirklich ohne Grund geschlagen hat«, sprach Pfanner. »Aug in Aug mit dem Buben, in unserer Gegenwart soll er es ihm wiederholen. Tut er das, dann lade ich Sie zu einer Exekution in, wie sie bei uns noch nicht stattgefunden hat, obwohl ich bei meinem Buben die Prügel nicht spare.«

Bei dieser Abmachung blieb es. Herr Obernberger, der als Richter gekommen war, verließ die Wohnung des Offizials mit dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Er achtete nicht auf die zwei, die sich tief verneigten, als er die Küche durchschritt.

Georg lief ihm voran, öffnete mit demütiger Beflissenheit die Tür und murmelte: »Verzeihen Sie mir, Herr Obernberger, verzeihen Sie mir!« so leise, mit so von Scheu und Tränen erstickter Stimme, daß der in unangenehme Gedanken versunkene Fabriksherr nichts davon hörte.

Als Agnes und Georg das Zimmer wieder betraten, hatte Pfanner einen großen, mit Zahlen bedeckten Bogen vor sich liegen, den er mit äußerster Aufmerksamkeit durchsah. Georg holte seine Hefte herbei und machte sich an seine Arbeit. Eine halbe Stunde verging, ehe der Vater seinen Sohn ansprach, und dann – o wunder! geschah es nicht einmal in unfreundlicher Weise. Er überzeugte sich, daß Georg beinahe fertig war mit seinen Aufgaben.

»Bist du aus Geschichte schon aufgerufen worden?« fragte er. »Noch nicht.«

»Merkwürdig. So spät?«

»Vielleicht morgen. Wir haben morgen Geschichte.«

»Nun, da kriegst du doch eine Vorzugsklasse?«

»Ich weiß nicht, vielleicht.«

»Du!« schrie der Vater ihn an. »Weißt du, was das heißt, wenn du keine Vorzugsklasse kriegst? Weißt du, was ein ›Genügend‹ dich kostet?«

»Ich weiß es«, erwiderte Georg tonlos.

»Den Vorzugsschüler kostet’s dich, fauler Bub!«

»Ich bin nicht faul, Vater.«

Der Vater hob namenlos erstaunt den Kopf. Sein friedfertiger Junge war heute der Held einer Prügelei gewesen, und jetzt vermaß er sich, ihm zu widersprechen. Was war vorgegangen? War in dem Jungen der Mann erwacht? Sollte er am Ende noch so schneidig werden, wie er sich ihn immer gewünscht?

Frau Agnes hatte ihre Hand auf den Arm des Sohnes gelegt, als er dem Vater widersprochen: »Um Gottes willen, Schorsch!«

»Still«, herrschte Pfanner sie an, »laß ihn reden. Ich bin nicht faul, behauptet er. Also red, ‘s ist erlaubt, ‘s ist befohlen!« drang er in ihn.

»Ich lern den ganzen Tag«, sagte Georg. »Ich kann nicht mehr lernen, als ich lern, ich weiß nicht, was ich anfangen soll, damit du zufrieden bist.« Die Tollkühnheit der Verzweiflung kam über ihn, und er wagte hinzuzusetzen: »Andere Eltern sind schon zufrieden, wenn ihre Kinder ›Genügend‹ bekommen, und ich soll lauter ›Vorzüglich‹ und ›Lobenswert‹ haben… Und ich soll mich schinden… Und ich…« Er konnte nicht weiterreden, rang die Hände, schlug mit der Stirn auf den Tisch und wand sich in einem Schmerze, über den der Vater selbst erschrak. Zum erstenmal im Leben fühlte er sich ratlos dem Kind gegenüber.

»Ich hab schon ein ›Genügend‹ in Griechisch!« schrie Georg in pfeifenden, gequetschten Tönen. »Wenn ich noch ein ›Genügend‹ bekomme, bin ich kein Vorzugsschüler mehr. Und ich bekomm gewiß noch ein ›Genügend‹…«

Das war zuviel. Die Worte machten der Langmut Pfanners ein Ende. Alles in ihm, das ein bißchen weich zu werden begonnen hatte, erstarrte wieder: Kein Vorzugsschüler mehr! Dieser Bub, der die Fähigkeit besaß, einen Platz unter den Ausgezeichneten zu behaupten, wollte durch die Schule kriechen mit dem großen Heer der Mittelmäßigen? Pfui über den Buben!

»Du bleibst Vorzugsschüler, oder ich geb dich zu einem Schuster in die Lehr.«

»Tu’s, Vater, tu’s! Aber warum grad zu einem Schuster!« erwiderte Georg außer sich. »Du kannst mich auch zu Herrn Obernberger gehen, und ich werd ein Kunstschlosser… Oder auch mit Musik kann ich mein Brot verdienen…«

»Georg, Georg, um Gottes willen!« wiederholte die Mutter. Sie sah ihren Mann fahl werden vor Wut, sah seine Fäuste sich ballen: »Musik? Gut, gut! Ich kauf dir einen Leierkasten, kannst in den Häusern orgeln und auf die Kreuzer warten, die sie dir aus den Fenstern werfen.« Georg preßte das Kinn auf die Brust und starrte zu Boden. Pfanner sprang auf und führte einen schweren Schlag auf den Nacken des Kindes: »Kein Wort mehr! Und – das merke, komm mir nicht noch einmal mit einer schlechten Note nach Hause. Untersteh dich nicht!«

»Nein, nein«, murmelte Georg. Er war jetzt ganz furchtlos. Um so besser, wenn er nicht mehr nach Hause zu kommen braucht. Der Vater wird sich nicht mehr über ihn ärgern und die Mutter nicht mehr quälen um seinetwillen. Wäre er doch nicht auf die Welt gekommen… oder wäre er schon draußen – wäre er tot!

Am nächsten Morgen war der Vater von einer furchtbar dräuenden Schweigsamkeit. Die dunkeln Ringe unter seinen geröteten Augen, bei ihm das sicherste Zeichen einer schlaflos durchwachten Nacht, gaben ihm das Aussehen eines Kranken. Er frühstückte hastig, nahm seine Schriften unter den Arm, setzte den Hut auf und verließ das Zimmer, ohne den Gruß seiner Frau und seines Sohnes zu erwidern. Man hörte ihn die Küchentür zuschlagen, daß sie dröhnte.

Georg ordnete die Hefte und Bücher in seiner Schultasche, war fertig, nahm Stück auf Stück wieder heraus, ordnete alles von neuem, langsam und bedächtig. Die Mutter mahnte zur Eile. Er ließ plötzlich alles liegen und stehen und warf sich ihr in die Arme, und sie drückte ihn an ihr Herz. Sie sprachen nicht, es kam keine Anklage über ihre Lippen, aber glühend brannte sie in ihren Herzen. Wie glücklich könnten sie sein, sie zwei, wie glückselig, wenn der Ehrgeiz des Vaters nicht wäre, der blinde, törichte, der vom Apfelbäumchen, das ihm Gott in seinen Garten gepflanzt, die Triebkraft der Eiche verlangte.

Dreimal schon hatte Georg Lebewohl gesagt und brachte sich noch immer nicht fort.

»Du kommst zu spät, Schorschi«, sagte Frau Agnes. »Lauf jetzt, lauf! Und sei nicht so traurig«, fügte sie hinzu und strich ihm über die Wangen.

»Du bist selbst traurig«, antwortete er.

»Ach – das vergeht, bei der Arbeit vergeht’s.«

»Also adieu«, sagte er und schritt resolut der Tür zu und über die Treppe hinab bis zum ersten Stockwerk. Dort blieb er stehen, besann sich, kehrte plötzlich um und stürmte in raschen Sätzen wieder zurück, und wie er oben ankam, sah er die Mutter vor der Wohnungstür stehen, auf derselben Stelle, bis zu der sie ihn begleitet hatte.

»Was gibt’s?« fragte sie, wie aus dem Schlaf auffahrend, warf den Kopf zurück und bemühte sich, eine strenge Miene anzunehmen. »Hast was vergessen?«

»Ich hab dir ja nicht ordentlich Adieu gesagt«, und er fiel ihr um den Hals und küßte sie mit stürmischer Zärtlichkeit.

 

In die Schule kam er zu spät. Der erste Vortrag hatte schon vor einer Viertelstunde begonnen, als er eintrat und sich auf seinen Platz setzte.

»Wo steckst denn?« raunte der Nachbar ihm zu. »Du bist aufgerufen worden und warst nicht da.«

»Unglück, Unglück«, murmelte Georg und gab sich alle erdenkliche Mühe, aufmerksam zuzuhören. In seinem Kopfe ging es sonderbar zu. Es summte und hämmerte darin, und der Stimme, die vom Katheder zu ihm herübertönte – sonst eine laute, kraftvolle Stimme –, fehlte der Klang. Die Worte, die sie sprach, waren nicht artikuliert, flossen ineinander wie Wellen… Noch etwas Sonderbares! Der breite Saal schien sich zu verlängern ins Unglaubliche. Es war kein Saal mehr, es war ein langer Gang, von merkwürdig kaltem, weißem Licht erfüllt, und ganz weit am Ende stand ein schwarzer Strich auf einem Piedestal. Georg mußte mit Gewalt alle seine Denkkraft zusammennehmen, um sich klarzumachen:: das ist der Herr Professor, der einen Vortrag hält.

Er schloß die Augen, lehnte sich zurück und dachte: Ich werde heute nicht lernen können. Nach einer Weile aber wurde es besser, er vermochte sich aus dem unheimlich traumhaften Zustand, in den er geraten war, herauszureißen. Der zweite Vortrag hatte begonnen. Der jetzt sprach, war ein sehr beliebter, von der ganzen Schule verehrter Lehrer, der Professor der Geschichte. Er hatte einen sonst kaum mittelmäßigen Schüler aufgerufen, und der bestand mit Ehren. Georg folgte. Ach! wenn er auch soviel Glück hätte wie sein Vorgänger. Es schien beinahe. Der Professor prüfte aus dem unlängst von Georg Wiederholten und sagte: »Gut, bis auf zwei Jahreszahlen. Sie bekommen ›Lobenswert‹. Ich möchte Ihnen aber gern ›Vorzüglich‹ geben können und stelle deshalb noch einige Fragen. Nennen Sie mir alle deutschen Kaiser bis zu Rudolf dem Ersten.«

Das war keine sehr schwere Frage. Voll Zuversicht begann er sie zu beantworten und gelangte glorreich bis zu Otto III. Da verriet ihn sein Gedächtnis – er ließ den gelehrten und frommen Kaiser ein hohes Alter erreichen und Heinrich II. den ersten Salier sein.

Der Professor zuckte bedauernd die Achseln und unterbrach ihn: »Das geht nicht gut. – Etwas anderes! Erzählen Sie mir die Geschichte von Konradin.«

Oh – die wußte er! Die hatte er seiner Mutter erzählt; so rührend, daß sie dabei weinen mußte. Konradin war ja – nun ja –, war ja König Enzio… Oder nein, richtig – Enzio war Konradin…

Ein kaum unterdrücktes boshaftes Kichern erhob sich, der Pepi lachte ihn aus. Die Augen des Professors hefteten sich fest auf ihn. Er verstand, daß diese guten, wohlwollenden Augen ganz besorgt fragten: Sind Sie bei Trost?

Er hätte schreien mögen: Nein! Ganz verwirrt und konfus bin ich!

»Sie tun mir leid«, sprach der Professor, »aber – sagen Sie selbst – welche Klasse haben Sie verdient?«

Georg flüsterte etwas völlig Unverständliches. Dem Lehrer schien, es sei ein Dank gewesen. Der Junge wußte heute nichts, erriet aber viel, erriet das innige Mitleid, das er seinem Lehrer einflößte.

Ehe der dritte Vortrag begann, verließ er die Schule und ging langsam die Straße hinab. Es war ein Frühlingstag mit sommerlichem Sonnenschein, der Himmel wolkenlos, die Luft noch frei von Staub und Dunst. Georg schritt mit weit aufgerissenen, verglasten Augen zwischen den Menschen dahin, die sich in der Hauptverkehrsstraße der Vorstadt drängten. Einem oder dem andern fiel auf, wie sonderbar »verloren« er aussah.

Keiner hatte Lust und Zeit, ihn zu fragen, was ihm sei. Ein Tischlerjunge nur, der einen Handwagen schleppte und an den er angestoßen war, rief ihm zu: »Hüo! wo hast dein Schädel? Anhaut mitsamt der Mitzen?«

Unwillkürlich griff Georg nach seinem Kopfe. Er war barhaupt, hatte seine Mütze in der Schule gelassen und auch seine Lernsachen. Daran lag aber nichts. Ihn würde niemand nach ihnen fragen. Er konnte ja nicht mehr heim. »Komm mir nicht nach Hause mit einer schlechten Note!« Diese Worte dröhnten unablässig an sein Ohr. Jetzt mußte er sie bekommen, die schlechte Note, die erste wirklich schlechte. Was würde der Vater jetzt mit ihm tun? Und wie würde die Mutter sich kränken… Nein, nein, Vater und Mutter, er wagt es nicht, er kommt nicht mehr zurück, er geht, wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Donau. Und dieser eine Gedanke, je länger er ihn vor sich sah als das Unabwendbare, einzige, je mehr befreundete er sich mit ihm. Dieser Gedanke mit dem dunklen Kerne hatte eine blendende Atmosphäre und fing an eine große Helligkeit zu verbreiten. Er gestaltete sich jetzt so: Ich muß in die Donau, ich will aber auch, und gern. Wie gut ist es, tot zu sein, nicht mehr hören müssen: Lern! Wie gut auch, wenn es keinen Zwiespalt mehr zwischen den Eltern gibt. Aber du begehst einen Selbstmord, fuhr es ihm durch den Sinn, und ein Selbstmord ist eine Todsünde. Ihn schauderte. »Lieber Gott! Allgütiger!« stöhnte er und blickte flehend zum Himmel empor. »Rechne mir meinen Tod nicht als Sünde an! Ich will keine Sünde begehen, ich will sterben für den Frieden meiner Eltern. Mein Tod ist ein Opfertod.«

Ein Opfertod!

An dieses Wort klammerte er sich; es brachte ihm Trost. Es verwandelte die Tat der Verzweiflung in eine Heldentat und schwerste Schuld in ein Märtyrertum. Es ging auf vor dem armen, irrenden, suchenden Kinde wie ein Stern in der Nacht. Keine Erwägung, keine Überlegung, kein Zweifel mehr, nicht die geringste Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen, nur die rasende, unbezwingliche Sehnsucht, Erlösung zu erfahren und Erlösung zu bringen.

 

Er war am Ende der Straße angelangt, bog in die Seitengasse ein, die auf den Kai mündete. Bleierne Müdigkeit lag ihm in den Gliedern, sein Kopf brannte und schmerzte bis zur Bewußtlosigkeit. Die Donau, die ist ein kühles, weiches Bete, da findet man Ruhe und Labung. Nur sie erreichen, nur bis zu ihr hinkommen! Eine dumpfe Angst: Sie mißgönnen mir die Erlösung, sind hinter mir, verfolgen mich, jagte ihn vorwärts. Er begann zu laufen, und dabei schien ihm, daß er immer auf demselben Fleck bliebe. Das war fürchterlich, noch einmal einen so argen Kampf mit dem Unüberwindlichen kämpfen zu müssen.

»Wohin? Was sind Sie so eilig?« sprach eine wohlbekannte Stimme ihn an. Der Hausierer stand vor ihm.

»Du?« sagte er, »du, Salomon?«

Ein wenig Zeit nahm er sich zum Abschied von dem Armen. Auch der war elend, dem es Seligkeit gewesen wäre, in der Schule zu sitzen, aus der Georg entflohen war, und der auf und ab wandeln mußte vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in Staub und Sonnenbrand, und sah so krank aus, und seine schmächtige Gestalt war schon ganz schief vom Tragen des schweren Warenkastens. Ja, ja, wem zu Schweres auferlegt wird, der verkrüppelt. Armer Salomon, den der Wachmann aufscheucht und einzuführen droht, wenn er ganz erschöpft einige Augenblicke auf einer Bank ausruhen möchte. Fort, fort auf müden Füßen in den ausgetretenen, geplatzten Stiefeln… Georgs Blick glitt über sie hinweg und plötzlich beugte er sich, zog rasch seine neuen Halbschuhe aus und legte sie auf den Warenkasten.

»Nimm sie, ich brauche sie nicht mehr«, sprach er und – lachte. Ja, wahrhaftig, Salomon schwor später drauf, daß er gelacht habe, und wie unaussprechlich schmerzvoll dieses Lachen geklungen, kam ihm erst später zum Bewußtsein, nachdem alles vorüber war. Zuerst in seiner freudigen Verblüffung hatte er nur Augen für die schönen, guten Schuhe, die ihm wie aus dem Füllhorn des Glückes zugefallen waren. Als er sich besann, daß Georg seine Schuhe gar nicht verschenken dürfe und wohl nur einen Spaß mit ihm gemacht habe und er sich umsah und rief: »Junger Herr! junger Herr!« – drang schon lautes, vielstimmiges Geschrei an sein Ohr: »Im Wasser!« – »Hineingesprungen!« – »Hilfe! Hilfe!« Von allen Seiten stürzten sie herbei, rannten, krochen die steile Böschung hinab, standen mit vorgestreckten Hälsen, Entsetzen oder stumpfsinnige oder abscheuliche Neugier in den Gesichtern, und deuteten: »Da! dort! Siehst ihn?«

Anstalten zur Rettung wurden getroffen – vergebliche. Eine Stromschnelle hatte den schwimmenden Körper erfaßt und häuptlings an einen Brückenpfeiler geschleudert.

Mit gellenden Weherufen drängte sich Salomon durch die Menge zum Ufer hin. Die Schuhe hatte er von sich geworfen, streute seine Waren im Laufe achtlos aus… Gott! Gott! Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen, der, den er bewundert hatte und beneidet und der immer so gut gegen ihn gewesen war.

 

Pfanner hatte einen schweren Entschluß gefaßt und ausgeführt. Er war zum Direktor des Gymnasiums gegangen, um Georg seiner Nachsicht zu empfehlen. Vor wenigen Tagen noch würde er einen solchen Schritt für unmöglich gehalten und geglaubt haben, sich und Georg durch ihn zu erniedrigen.

Mit soviel Wärme und Verbindlichkeit, als ihm irgend zu Gebote standen, sprach er die Bitte aus, seinen Sohn nachsichtig zu klassifizieren, wenn der Bursche auch in letzter Zeit etwas nachgelassen habe im Fleiße. Sein Vater bürgte dafür, daß es von nun an besser werden sollte.

»Nachgelassen im Fleiße?« Das war dem Direktor neu. Soviel er wußte, hatte noch keiner der Professoren sich über Georgs Mangel an Fleiß beklagt. »Ich wäre froh«, sagte er, »wenn ich allen Eltern so Gutes über ihre Söhne sagen könnte wie Ihnen über Georg. Er ist bei sämtlichen Lehrern vortrefflich angeschrieben, sehr brav und auch durchaus nicht unbegabt…«

»Oh, das glaub ich!« warf Pfanner hochfahrend ein.

»Durchaus nicht unbegabt«, wiederholte der Direktor kühl, »aber auch nicht ungewöhnlich begabt. Ich fürchte, daß Sie zuviel von ihm verlangen, ihm eine größere Leistungsfähigkeit zutrauen, als er besitzt. Wenn Sie ihn zwingen, seine Kräfte zu überspannen, ruinieren Sie ihn.«

Der Offizial kam tief niedergeschlagen ins Büro. So verlangte er also zuviel von seinem Buben, so ruinierte er ihn, so sollte Georg nur mittelmäßig begabt sein? Er glaubte es nicht. Diese Schulleute irren so oft. Wie viele, von denen ihre Lehrer nichts gehalten, sind große Männer geworden. Er ging an seine Arbeit, vergrub sich in sie, suchte Rettung in ihr vor dem schweren Drucke, der ihm auf dem Herzen lastete.

Gegen Mittag meldete ihm der Bürodiener, es sei jemand da, der ihn sprechen wolle. Auf dem Gange erwartete ihn Frau Walcher in einem Zustand furchtbarer Verstörtheit. Etwas Entsetzliches sei geschehen, stotterte sie, das Ärgste, das man sich denken könne. Er solle nur gleich mit ihr kommen.

»Was ist das Ärgste?« fuhr er sie an. »Was ist’s mit meinem Buben?«

Ihre Antwort war eine Gebärde der Verzweiflung.

 

Dem Liebling des Gymnasiums wurde ein feierliches Leichenbegängnis bereitet. Alle Professoren, alle Schulkameraden beteiligten sich daran. Meister Obernberger folgte dem Zuge, weinend wie ein Kind, und sein Pepi hatte heute allen Hochmut abgetan.

Der Vater schritt in guter Haltung hinter dem Sarge. Jedes Wort, das am Grabe zum Preise seines Sohnes gesprochen wurde, schien ihm wohlzutun, während die Mutter immer tiefer in sich zusammensank.

»Am besten für sie wär’s«, sagte schwerbekümmert Frau Walcher zu ihrem Manne, »wenn man sie gleich mitbegraben könnt.«

Die zwei Ehepaare traten die Rückfahrt im selben Wagen an. Pfanner und seine Frau wechselten nicht eine Silbe. Einer wich scheu dem Blick des andern aus. Daheim angelangt, gab Agnes den dringenden Bitten der Freundin, zuerst bei ihr einzutreten, nach.

Da hat sie doch ein paar Stunden Frieden, dachte die Getreue.

Als der Abend kam und die gewohnte Pflicht sie rief, ging Agnes mechanisch daran, das Abendbrot zu bereiten. Sie betrat das Zimmer, um die Lampe anzuzünden. Aber Pfanner hatte das schon selbst getan. Die Lampe brannte auf dem Tische, und dort lagen die Bücher und die Mütze, die der Schuldiener zurückgebracht hatte. Vor sich aufgeschlagen hatte Pfanner ein dünnes Büchlein – das Vermögen des Kindes, das guldenweise zusammengesparte. Und in der gebrochenen Gestalt, die da saß und die Gegenstände alle betrachtete, drückte eine herzzerreißende Trostlosigkeit sich aus. Was ging jetzt vor in dieser Seele!

Agnes kam leise heran.

Die Frau, die er zermalmt und zertreten und zu einer dienenden Maschine herabgewürdigt hatte, fühlte sich in diesem Augenblick als die Größere und Stärkere und, im Vergleiche zu ihm – die Glückliche. Sie durfte ihres Kindes ohne Selbstvorwurf gedenken, von ihr hatte es mit zärtlicher Liebe Abschied genommen.

»Pfanner«, sprach sie.

Er fuhr auf und starrte sie an mir Entsetzen. Wollte sie Rechenschaft von ihm fordern? Seine Lippen zuckten und zitterten, er brachte keinen Laut hervor. Etwas Greisenhaftes lag in seinen entstellten Zügen.

Da wich der Haß, da schwieg jeder Vorwurf. Sie näherte sich langsam und sagte: »Du hast ja nur sein Bestes gewollt.«

Überrascht, in demütiger Dankbarkeit nahm er ihre beiden Hände, legte sein Gesicht hinein und schluchzte.