Kapitel 6

 

Am nächsten Tage, die Brüder waren eben von ihrem Morgenritte heimgekehrt, ließ der Herr Verwalter sich bei ihnen melden. Er berichtete, daß der Bote des Amtes Perkowitz soeben im Amte Wlastowitz einen Brief unter der freiherrlich Friedrichschen Adresse hinterlegt habe und…

»Brief« – unterbrach ihn Friedrich – »aus Perkowitz – wo? …«

Kurzmichel übergab einen nett und zierlich gefalteten Zettel und bat, diese Gelegenheit ergreifen zu dürfen, um den gestern versäumten Vortrag…

Aber der Freiherr hörte ihn nicht an. Er hatte das kleine Schreiben hastig aufgebrochen, in höchster Aufregung in allen seinen Taschen nach seinen Augengläsern gesucht – ach! seit einem Jahre konnte er, fatale Geschichte! nicht mehr ohne Augengläser lesen – und war, da er sie nicht fand, mit Riesenschritten in sein Zimmer gestürzt.

»Von wem – der Brief? …« fragte Ludwig dumpf.

»Von Ihrer Exzellenz –«

»Von Ihrer Exzellenz? – –« und Ludwig eilte seinem Bruder nach.

»Einladung!« rief ihm dieser zu. »Ihrer Nichte und uns zu Ehren veranstaltetes Gouter im Waldschlößchen Rendezvous! … Ihrer Nichte und uns… verstehst du? und uns!«

»Aha!« sagte Ludwig und nahm das Briefchen aus Friedrichs Händen Die Schlußzeilen desselben waren viel merkwürdiger als der Anfang. Friedrich hatte sie in seinem Freudentaumel nur nicht recht angesehen: »Wir haben Ihnen ein Bekenntnis abzulegen, dann trinken wir Kaffee auf fernere gute Freundschaft.«

»Wirklich? Steht das?« jubelte Friedrich und hüpfte im Zimmer herum wie ein glückliches Kind.

An diesem Tage klagten die Freiherren nicht über die rasche Flucht der Zeit. Eine Stunde lang warteten beide vor dem Schlosse auf den für drei Uhr nachmittags bestellten Wagen. Pünktlich fuhr um diese Zeit die Equipage in den Hof: ein leichter Phaeton, mit Braunen bespannt, die der Kutscher vom Rücksitze aus lenkte. Sobald Friedrich die Pferde erblickte, runzelte er die Stirn. »Die Hannaken?« fragte er, »wer hat befohlen, die Hannaken einzuspannen?«

»Ich!« antwortete Ludwig, schwang sich auf den erhöhten Kutschersitz und ergriff die Zügel. »Steig ein! Nun – so steig doch ein!«

Aber Friedrich blieb neben den Pferden stehen und musterte sie mit gehässigen Blicken. »Mit denen wirst du Parade machen«, sprach er.

Die Braunen waren seit Monaten die Veranlassung lebhafter Streitigkeiten zwischen den Freiherren. Ludwig, der, wie Friedrich sagte, von Pferden soviel verstand wie ein Faßbinder vom Spitzenklöppeln, hatte sie von einem Bauern ohne Vorwissen seines Bruders gekauft. Als er sie diesem, voll Stolz auf die getroffene Wahl, vorführen ließ, rief Friedrich schon von weitem: »Nichts dran! Gemein!«

»Was gemein? – Nichts ist gemein als der Hochmut. Sie haben Figur!« entgegnete Ludwig.

»Figur – aber kein Blut – und nicht einmal Figur – Beine wie Spinnen – abgeschlagenes Kreuz – Rehhälse – es sind Krampen!«

Ludwig hatte an die Pferde die unsäglichste Sorge und Mühe gewendet, sie in Stroh stellen lassen bis an die Bäuche, mit Hafer vollgestopft – sie longiert, dressiert, eingeführt – alles umsonst! – Sie waren und blieben schlechte Zieher; faul, wenn’s vom Stalle, hitzig, wenn’s nach Hause ging; schreckhaft, nervös, bodenscheu – nichtsnutz mit einem Worte.

Allein Ludwigs Herz hing an ihnen, ihm gefielen sie, und weil er hoffte, daß sie auch Fräulein Klara gefallen würden, hatte er sie heute einspannen lassen.

»Steig nur ein!« wiederholte er, und trotz des innigsten Widerstrebens entschloß sich Friedrich dazu. Schwer genug kam es ihn an! Bei einer Gelegenheit, in welcher man sich gern im besten Lichte zeigen möchte, bei welcher alles an und um einen den Stempel der Solidität und Gediegenheit tragen soll, mit solchem Gespann vorzufahren – dazu gehört etwas! …

Allein er tat’s; er gab nach. Der arme Mensch, der Ludwig, dem vermutlich schon in der nächsten Stunde die bitterste Enttäuschung bevorstand, flößte ihm Mitleid ein, und er ließ ihm denn seinen kindischen Willen.

Sie lenkten durch das Dorf. Trotz Friedrichs dringender Warnung verließ Ludwig am Ausgange desselben die Straße und schlug den Feldweg ein. Der war so schlecht als möglich und wurde im Walde, der den nächsten Bergrücken deckte und hier die Perkowitzer Grenze bildete, sogar gefährlich; da folgte er einem Gerinne und stieg bis zur Erreichung der Wasserscheide steil hinan, rechts vom Hochwalde begrenzt, links jäh anfallend gegen den feuchten Wiesengrund. An seiner schmalsten Stelle war freilich ein Geländer angebracht, doch bestand es nur aus halbvermorschten Birkenstämmen und bedeutete viel eher: Nehmt euch in acht! als: Verlaßt euch auf mich!

Gegen alle Erwartungen Friedrichs hielten sich die Braunen heute merkwürdig gut. Sie liefen leicht und munter in gleichmäßigem Trabe vorwärts, als wüßten sie, daß ihnen die ehrenvolle Aufgabe geworden, ihren Herrn in die Arme des Glückes zu führen. Ludwig betrachtete sie liebevoll und ließ es an schmeichelhaften Zurufen nicht fehlen. Sein Gesicht strahlte vor Freude. Jetzt begann es aufwärts zu gehen, die Last des Wagens wurde den Pferden empfindlich fühlbar: plötzlich drückten beide gegen die Stange, und eines stieß das andere mit dem Kopfe an den Hals, als ob sie sagten: Ziehe du!

Friedrich, der bisher schweigend, mit gekreuzten Armen neben seinem Bruder gesessen hatte, sprach nun, ganz ruhig zwar, aber außerordentlich wegwerfend: »Kommen nicht hinauf.«

»Kommen hinauf!« rief Ludwig.

»Im Schritte schon gar nicht.«

»Nun denn, in einem anderen Tempo!« sprach Ludwig und schnalzte mit der Peitsche. Die Pferde sprangen in Galopp ein, und glücklich gelangte man ein Stückchen weiter. Aber nur zu bald erlahmte der Eifer der Hannaken, ein paar Sätze noch, und sie blieben stehen – der Wagen rollte zurück. Friedrich zwinkerte mit den Augen und stieß ein spöttisches: »Bravo!« aus. Ludwig strich Rüchen und Flanken der Pferde mit wuchtigen Hieben, sie zitterten, schlugen aus und – rührten sich nicht vom Flecke. Der Kutscher stieg ab und schob einen Stein hinter eines der Räder; dabei glitt er aus, fiel, geriet, als er aufspringen wollte, zu nahe an den Wegrand und kugelte den Abhang hinab.

Friedrich lachte, Ludwig fluchte; er warf seinem Bruder die Zügel zu, sprang vom Wagen, schlug wie rasend auf die Braunen los und schrie vor Wut schäumend: »Bestien! … Umbringen… umbringen könnt man sie!«

Die Tiere, stöhnend unter den Schlägen, die auf sie niederhagelten, bäumten sich, ein Ruck – das gegen den Stein gestemmte Rad krachte, der Wagen stand quer über dem Wege. –

Jetzt begann Friedrich die Sache nicht mehr ganz geheuer zu finden. »Du Narr, so wart doch!« rief er und wollte sich von seinem Sitze schwingen, aber Ludwig ließ ihm dazu nicht Zeit Sinnlos vor Zorn, drang er nur wilder auf die Pferde ein. Die warfen sich zurück, prallten an das Geländer, es brach, und die ganze Equipage schlug den Weg ein, den vor ihr schon der Kutscher genommen.

»Prosit!« knirschte Ludwig – aber im selben Augenblicke blitzte das Bewußtsein dessen, was er getan, mit tödlichem Schrecken in ihm auf – und ein fürchterlicher Schrei entrang sich seinen Lippen.

Bleich wie eine Leiche, mit aufgerissenen Augen taumelte er zum Rande des Abhanges hin. Unten lagen die Pferde, in Zügel und Stränge verwickelt, lag der Wagen mit den Rädern in der Luft – von Friedrich war nichts zu sehen.

In verzweifelten Sätzen sprang Ludwig hinunter; der Kutscher kam herbeigehinkt: »Jesus, Maria! Jesus, Maria und Joseph!« winselte er und starrte schreckgelähmt seinen Herrn an, der, aussehend wie ein Toter, die Arbeit von zehn Lebendigen verrichtete.

Er durchschnitt und zerriß die Zügel; als ein Strang sich nicht gleich lösen lassen wollte, schlug er die Wage mit einem Stein in Stücke, er führte einen Faustschlag gegen den Kopf eines der Pferde, welches im Emporringen an den Wagenkasten stieß, daß es zurücktaumelte, als wäre ein Blitzstrahl vor ihm niedergefahren… Nun war der Wagen frei – man sah Friedrich unter demselben liegen, das Gesicht ins Gras gedrückt, das gerötet war von Blut. Ludwig sprang hinzu. Mit Riesenkraft stemmte er sich gegen den Wagen und hob ihn vorsichtig, langsam, half nach mit dem Kopfe, mit den Schultern und schleuderte ihn neben den Mann hin, der bis jetzt seine ganze Last getragen.

Dieser Mann aber atmete tief auf – er lebte! … Ludwig wollte sich zu ihm niederbeugen, die Arme ausstrecken – sie sanken ihm, seine Knie wankten; statt des Namens, den er auszusprechen suchte, drang nur ein gepreßtes Stöhnen aus seinem Munde… Plötzlich hob sich Friedrich auf ein Knie empor, er wischte rasch mit der Hand das Blut ab, das ihm von der Stirne über die Augen floß, sah Ludwig vor sich stehen und – »Da hast du’s! Es geschieht dir recht!« rief er mit einer Stimme, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, daß der kräftige Gemperleinsche Brustkasten dem erlittenen Schock siegreich widerstanden hatte.

Er richtete sich auf, schüttelte sich, pustete, deutete auf die jämmerlich zerschundenen, mit Blut und Schmutz bedeckten Pferde und sprach: »Die sehen schön aus!«

Ludwig blieb noch immer unbeweglich. Die Augen glühten ihm unter den geschwollenen Deckeln und waren auf seinen Bruder geheftet mit einem Ausdrucke von Wonne und von unaussprechlicher Liebe. »Ist dir nichts?« fragte er heiser und tonlos.

Jetzt sah sich Friedrich den Menschen erst recht an, ein erstauntes und mitleidiges Lächeln glitt über sein Gesicht, er zog das Taschentuch hervor, drückte es an die Stirnwunde und murmelte etwas, das man nicht deutlich verstehen konnte, doch soll das Wort »Esel« darin vorgekommen sein. Dann erfaßte er einen der Hannaken beim Zügelreste, der am Kopfgestell hängengeblieben war, und kletterte mit dem erschöpften, bei jedem Schritte stolpernden Tiere die steile Anhöhe hinauf – – etwas langsamer, als es an einem anderen Tage geschehen wäre. Der Kutscher folgte mit dem zweiten Pferde; zuletzt kam Ludwig, gesenkten Hauptes, mit einer zerbrochenen Wagenlaterne in der Hand, die er mechanisch aufgehoben hatte und festhielt.

Schweigend zog die kleine Karawane eine halbe Stunde später in Wlastowitz ein. Die Pferde wurden in den Stall geführt und dort Anstalten getroffen, den im Tobel zurückgebliebenen Wagen abzuholen.

Friedrich meinte, Ludwig solle sich nur rasch umkleiden und gleich hinüberreiten nach Rendezvous; er selbst werde in einer halben Stunde nachkommen. »Es wäre gescheiter, du gingest heim und machtest dir Eisumschläge«, sagte Ludwig.

Friedrich entgegnete sehr barsch, er sei keine Wöchnerin. Sie zankten ein weniges und gingen dann ins Schloß und jeder auf sein Zimmer.

Zehn Minuten später trabte Ludwigs Reitknecht nach Rendezvous, einen Brief seines Herrn an Fräulein Klara von Siebert in der Tasche. Ludwig blieb zu Hause. Er schritt rastlos in seinen Gemächern auf und ab, in seinem Kopfe ging es zu wie in einem Pochwerke. Jede Ader schlug fieberhaft, jeder Gedanke, den das siedende Gehirn gebar, war Wirrsal, Qual und Pein! Ein Gedanke – der schlimmste – erdrückte alle anderen: Du hast das Leben deines Bruders gefährdet! … Wieviel hat gefehlt, und du wärst jetzt sein Mörder…

Die Glocke rief zum Souper. Er ging in den Speisesaal, wo ihn Friedrich bereits erwartete. Dieser aß mit gutem Appetit; man sprach, rauchte, disputierte sogar – aber das alles ohne echte Freude… Das Herz war nicht dabei.

Viel früher als gewöhnlich stand Ludwig auf und sagte: »Gute Nacht –« Er hätte so gern hinzugefügt: Schlaf gut! oder noch einmal gefragt: Ist dir nichts? Aber Friedrich würde sich geärgert oder ihn ausgelacht haben; so ließ er’s bleiben und ging schweigend aus dem Saale.

Friedrich sah ihm lange wehmütig nach. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Armer Kerl!« murmelte er leise. Er stützte gedankenvoll den Kopf in die Hände und verharrte so eine geraume Zeit. Als er sich endlich erhob und mit entschlossenen Schritten seine Zimmer betrat, leuchtete auf seinem Antlitze der Strahl einer hoben und stolzen Freude über einen großen Sieg – einen Sieg der edelsten Selbstverleugnung und des reinsten Opfermutes. So spät es auch war, sandte Friedrich noch an diesem Abende durch einen reitenden Boten ein Schreiben an Ihre Exzellenz, Frau von Siebert, nach Perkowitz.

Indessen saß Ludwig an seinem Schreibtische und schrieb in schwungvollen Zügen, langsam und feierlich, sein Testament. Er ernannte darin seinen Bruder, den Freiherrn Friedrich von Gemperlein, zum Erben seines gesamten Hab und Gutes, falls er (Ludwig) unvermählt und kinderlos bleiben sollte, was, fügte er hinzu, vermutlich geschehen dürfte. Den Schluß des Aktenstückes bildeten die Worte: »Ich wünsche, wo immer ich sterbe, in Wlastowitz begraben zu werden.«

Nach getanem Werke fühlte Ludwig sich etwas ruhiger. Dennoch duldete es ihn nicht länger in der stillen Stube, es trieb ihn hinaus in die atmende Natur, in die freie, kalte Luft. Die Nacht war dunkel, nur einzelne Sterne glitzerten am Himmel, der Wind rauschte in den Bäumen und trieb die dürren Blätter über den weißlich schimmernden Sand der Wege und knisterte in den tiefschwarzen Massen der Gebüsche.

Ludwig ging mit festen Schritten vorwärts. Noch einmal wollte er jeden Weg im Garten betreten und jeden Lieblingsbaum gegrüßt haben, bevor er, schweren Herzens, Abschied nahm.

Dich zuerst, alte Edeltanne auf der Wiese, die letzte von zehn aus dem Walde verpflanzten Schwestern. Hattest lange gekränkelt und ragst jetzt so stolz in Fülle der Gesundheit. Dich, du edler Walnußbaum, an dem Friedrich nie vorübergeht, ohne zu sagen: »Das ist ein Baum! …« Dann die Araucaria in der Nähe des Lärchenwäldchens – Respekt vor der! Ein Nadelbaum mit Palmennatur – nordische Kraft, vereint mit südlicher Schöne – es ist ein Wunder! … Und du, Zeder vom Libanon, junges, schönstes Fräulein, hast einen grünsamtnen Reifrock an, und die neuen zarten Triebe schmücken deinen Wipfel wie Federn das anmutigste Haupt. Endlich der Zürgelbaum. Ein Nichtkenner geht wohl an ihm vorbei und meint, der gehöre zu der Gattung, die Äpfel trägt – aber der Kenner, ja, der reißt die Augen auf. Der bewundert den moosbedeckten, eisengrauen Stamm, die schlanken Zweige mit den Ästchen, so fein wie Draht, die kleinen seidenweichen Blätter. »Im botanischen Garten in Schönbrunn gibt’s schönere Zürgelbäume, sonst nirgends!« sagt Friedrich.

Hast recht! – Schöneres mag es geben draußen in der Welt, aber nichts Lieberes, als was hier gedeiht, lebt, blüht und welkt. Schade, schade, daß man es verlassen muß. Aber unter den Umständen, die jetzt – wie bald! – eintreten werden, kann Ludwig in Wlastowitz nicht mehr leben.

Er ersteigt noch die Anhöhe am Ende des Gartens, von der aus man hinüberblicken kann auf die Gruftkapelle, die sein Vater errichten ließ. Durch das Gitter des Fensters glänzt ein kleiner, feuriger Punkt, das Licht der Lampe, die über dem Sarge des Vaters brennt – des ersten, der hier ruht.

Ein trauriges Lächeln tritt auf die Lippen Ludwigs; er freut sich, daß er in seinem Testamente den Wunsch ausgesprochen hat, in Wlastowitz begraben zu werden. Friedrich wird schon verstehen, was das heißt… Ich kehre zurück, heißt es, zu dir, dem ich so oft weh getan, dessen Leben ich sogar einmal in Gefahr gebracht – den ich aber doch innigst geliebt habe.

Ganz ruhig, beinahe heiter kam Ludwig nach Hause. Die Fenster von Friedrichs Schlafzimmer waren noch erleuchtet, und an den Gardinen glitt in unregelmäßigen Zwischenräumen ein hoher dunkler Schatten vorüber. Auch du wachst – von Sorgen und bangen Zweifeln gequält. Warte! warte! – Nur noch ein paar Stunden, und du wirst glücklich sein!

Um elf Uhr morgens stieg am folgenden Tage Ludwig vor dem Tore des Schlosses Perkowitz vom Pferde. Ein Diener, der ihn erwartet zu haben schien, führte ihn sogleich durch die Salle à terrain zu der Tür des Gastzimmers, aus dem vorgestern Fräulein Klara wie eine himmlische Erscheinung getreten war. Der Diener pochte, eine teuere Stimme fragte: »Wer ist’s?« und rief, als der Name des Besuchers genannt worden: »Ist willkommen!«

Ludwig stand vor der schönen Klara so beklommen und bewegt, daß es ihm unmöglich war, ein Wort hervorzubringen. Auch sie blieb nicht unbefangen. Der muntere Ton, in dem sie Ludwig gebeten hatte Platz zu nehmen, verwandelte sich nach dem ersten Blicke in das Angesicht des Freiherrn in einen sehr gedrückten.

Sie senkte die Augen, eine leichte Blässe flog über ihre Wangen, und sie sprach stockend: »Herr Baron – es ist – ich bitte…«

Ihre Verlegenheit rührte und ergriff ihn auf das tiefste. Ach, die grausame Sitte! Daß sie unerlaubten Empfindungen verbietet sich zu äußern, das wäre schon recht; daß aber die reinsten, die ein Mensch haben kann, unausgesprochen bleiben müssen, das ist jammervoll! Hätte Ludwig in diesem Augenblicke seinem Gefühle folgen dürfen, er würde die Arme ausgebreitet und gesprochen haben: Komm an mein Herz – liebe Schwester!

Aber das schickte sich nun einmal nicht, und so reichte er ihr nur die Hand und sagte: »Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten…«

»Ja, ja«, unterbrach sie ihn hastig, »in einem Briefe, den ich eröffnete, obwohl er eigentlich nicht an mich gerichtet war.«

»Wie?«

»Ich heiße nämlich nicht Fräulein – –«

»Oh«, rief er, »es handelt sich nicht darum, wie Sie heißen. Heißen Sie, wie Sie wollen. Sie sind die Nichte unserer verehrten Freundin und das liebenswürdigste Wesen, das uns je vorgekommen ist. Sie sind gewiß auch edel und gut und werden das Vertrauen nicht mißbrauchen, das mich zu Ihnen führt und mit dem ich Ihnen sage: Sie haben auf den besten Menschen, den es gibt, einen großen Eindruck gemacht – auf meinen Bruder, Fräulein. – Ich komme hierher ohne sein Vorwissen, in der Absicht, Sie günstig für ihn zu stimmen. Ich meine es mit Ihnen nicht minder ehrlich als mit ihm und beschwöre Sie in Ihrem eigenen Interesse: Lassen Sie sich seine Werbung gefallen…«

Er sprach mit solchem Eifer, daß es ihr, wie oft sie es auch versuchte, nicht gelang, ihn zu unterbrechen. Als er nun schloß: »Versäumen Sie die Gelegenheit nicht, die glücklichste Frau der Welt zu werden!« gab ihre Ungeduld ihr den Mut, mit Entschlossenheit zu sagen: »Diese Gelegenheit ist aber schon versäumt, Herr Baron, ich bin verheiratet.«

Er fuhr von seinem Sessel auf, mit einem Entsetzen, das sich nicht schildern läßt. »Sie scherzen«, stammelte er; »das kann nicht sein – das ist ja unmöglich!«

»Warum?« fragte sie. »So gut wie Ihr Herr Bruder kann auch ein anderer mich annehmbar gefunden haben, zum Beispiele mein Vetter Karl Siebert, der mich vor etlichen Jahren heimgeführt. Warum glaubten Sie, daß ich bis jetzt sitzengeblieben sei? Denn, erlauben Sie mir, für ein Fräulein wäre ich doch etwas bejahrt.«

Ludwig blickte sie wehmütig an und sprach: »So schön, so liebenswürdig, so geistvoll und – schon verheiratet!«

»Und wenn Sie wüßten wie lange!« versetzte sie, und all ihre Munterkeit und ihr guter Humor hatten sich wieder eingefunden.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau«, sagte Ludwig, »es wäre besser gewesen, wenn Sie die Gewogenheit gehabt hätten, uns das früher mitzuteilen.«

»Haben Sie danach gefragt? Mit welchem Rechte durfte ich Sie mit meinen Familienangelegenheiten behelligen?« war ihre schlagfertige Entgegnung.

Er sagte nur noch: »O gnädige Frau!« und empfahl sich ehrerbietig; ihr aber – seltsam! –, ihr verging dabei ganz und gar die Lust, über den sonderbaren Herrn zu lachen.

Sie eilte ihm nach, erreichte ihn, als er eben die Schwelle betrat, sie sagte herzlich und warm: »Leben Sie wohl, Herr von Gemperlein!« und bot ihm zum Abschied die Hand. Ludwig wandte den Kopf und tat, als ob er es nicht sähe, er grüßte nur noch einmal tief, und die Türe schloß sich hinter ihm.

Im Vestibül kam, aus ihrem zu ebener Erde gelegenen Schreibzimmer tretend, Frau von Siebert dem Freiherrn entgegen.

»Ja, was machen denn Sie hier?« fragte die Exzellenz. »Warum kommen Sie denn selbst? Ihr Abgesandter hat schon Bescheid erhalten.«

»Wen meinen Euer Exzellenz?«

»Den Fritz mein ich. Er war da vor einer halben Stunde als Freiwerber für Sie.«

»Für mich?«

»Und was für einer! Wenn Sie einmal wieder heiraten wollen – sprechen Sie ja nicht selbst – lassen Sie den Fritz für Sie sprechen. Ich war ganz erschüttert – bedauerte nicht wenig, sagen zu müssen: Es ist zu spät!«

Ludwig faßte sich mit beiden Händen an den Kopf: »Dieser Friedrich! Das ist ein Mensch!« rief er.

Aus seiner Stimme klang eine so mächtige Rührung, daß die Exzellenz förmlich davon ergriffen wurde; sie suchte sich der ihr unangenehmen Empfindung rasch zu entziehen, trat dicht vor Ludwig hin, zupfte ihn am Ohr und sagte: »Nichts für ungut! Fast tut’s mir leid, daß wir euch den Streich gespielt. Die Klara wollte ohnehin nicht dran; aber ich habe sie gezwungen, ich mußte Rache haben für meine Geiß.«

»Euer Exzellenz!« entgegnete Ludwig, »ich kann Ihnen die Versicherung geben: es war ein Bock.«

»Mag es gewesen sein, was immer – das Jagdvergnügen an meiner Grenze will ich eurem Förster versalzen.«

Damit schieden sie. – –

Ein paar Monate nach diesem Ereignisse begannen die Brüder abermals allerlei Heiratsprojekte zu schmieden.

»Du solltest doch endlich heiraten!« sagte von Zeit zu Zeit einer zu dem anderen. Sie stellten manchmal Betrachtungen über ihr Schicksal an.

»Es ist wirklich sonderbar«, meinte Ludwig. »Als ich mit der Äpelblüh Ernst machen wollte, trat sie gerade an den Traualtar, und als wir daran dachten, jene Nichte zu unserer Hausfrau zu machen, war sie bereits seit zehn oder wieviel Jahren verheiratet, und ich müßte mich sehr irren«, fügte er geheimnisvoll hinzu, »wenn sie nicht auch schon Nachkommenschaft besaß.«

Friedrich bemerkte, daß sich im Leben, mit mehr oder weniger Unterschied, doch alles wiederhole. Sie seien einmal bestimmt, die erstaunlichsten Liebesabenteuer zu haben; unter den vielen, die ihnen noch bevorständen, werde sich schon dasjenige finden, das in den Hafen der Ehe führt.

Trotz dieser Voraussicht und trotz des guten Vorsatzes, ihren Stamm in Ehren zu erhalten, hat keiner der Brüder sich vermählt. Sie sind hinübergegangen, ohne einen Erben ihres Namens zu hinterlassen, und so ist denn, wie so vieles Schöne auf dieser Erde, auch das alte Geschlecht derer von Gemperlein – erloschen.