Zukunftspläne.

Zweiunddreißigstes Kapitel.

Wie man sich denken kann, machte dieser Fund der beiden Knaben in dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg das ungeheuerste Aufsehen. Solch eine Riesensumme in barer Münze erschien den guten Leuten beinahe unglaublich. Man redete von nichts anderem, schielte gierig nach dem Schatze, pries die Finder glücklich, und die Vernunft manchen Bürgers drohte bei der ungesunden Erregung ins Wanken zu geraten. Jedes Haus, in dem es nur irgend spuken sollte, im Städtchen wie in der Umgegend, wurde sozusagen anatomisch zerlegt: Stein für Stein, Balken für Balken, die Grundmauern unterwühlt und nach verborgenen Schätzen durchforscht, und zwar nicht von Knaben, sondern von Männern, ernsten, verständigen, im gewöhnlichen Leben blutwenig romantisch angelegten Männern. Wo sich Tom und Huck nur blicken ließen, wurden sie gefeiert, bewundert und begafft. Die Jungen konnten sich nicht erinnern, daß ihre Worte je zuvor solches Gewicht besaßen, jetzt wurde der kleinste Ausspruch ihrerseits wie ein Ausfluß höchster Weisheit bewahrt und ehrfurchtsvoll wiederholt. Alles, was sie taten, was sie redeten, erschien bemerkens- und bewundernswert, sie hatten augenscheinlich die Fähigkeit verloren, irgend etwas Alltägliches, Unbedeutendes zu sagen oder zu tun. Außerdem wurde ihre Vergangenheit durchforscht, und man fand darin die unleugbaren Spuren hervorragendster Begabung, Die Zeitung des Städtchens brachte biographische Notizen über die beiden.

Die Witwe Douglas legte das Geld zu sechs Prozent an und der Herr Kreisrichter tat auf Tante Pollys Bitte dasselbe mit Toms Anteil. Jeder der Jungen hatte nun ein geradezu ungeheures Einkommen – einen Dollar für jeden Tag des Jahres! Das war ja gerade soviel, wie der Pastor bekam, das heißt wie er bekommen sollte, denn meistens kam nicht soviel zusammen. Ein und ein Viertel Dollar die Woche war genügend für Kost, Wohnung und Schulgeld eines Jungen in jener alten, einfachen, anspruchslosen Zeit, und man konnte ihn dafür noch kleiden und waschen obendrein.

Der Herr Kreisrichter hatte eine sehr hohe Meinung von Tom gefaßt. Er sagte, ein gewöhnlicher Junge würde nie imstande gewesen sein, seine Tochter aus der Höhle zu befreien. Als Becky ihrem Vater einmal im strengsten Vertrauen mitteilte, wie Tom ihre Prügel in der Schule damals auf sich genommen, war dieser sichtlich gerührt. Und als sie die Lüge zu entschuldigen suchte, vermittelst welcher es dem edlen Freunde gelungen war, die Züchtigung auf seine Schultern zu wälzen, meinte der Vater enthusiastisch, das sei eine edle, eine großmütige, eine hochherzige Lüge gewesen, eine Lüge, die wert sei, in der Geschichte dicht neben Washingtons vielgerühmter Wahrheitsliebe zu glänzen. Becky kam es vor, als habe sie ihren Vater noch nie so hoch aufgerichtet und so stolz gesehen, wie bei diesen Worten. Sie lies davon und berichtete Tom haarklein, was vorgefallen.

Herr Thatcher hoffte, Tom einmal als berühmten Rechtsgelehrten oder auch als großen Kriegsmann zu sehen. Er wolle Sorge tragen, sagte er, daß Tom Einlaß fände in die große Nationalmilitärakademie und danach in der besten Juristenschule des Landes ausgebildet werde, so daß er vollständig befähigt sei für die eine oder die andere Laufbahn, oder auch für beide.

Huck Finn sah sich durch seinen Reichtum und die Tatsache, daß er unter dem Schutze der hochangesehenen Witwe Douglas stand, plötzlich in die gute Gesellschaft eingeführt, nein – hineingeschleppt oder vielmehr geschleudert – seine Leiden steigerten sich dadurch fast ins Unerträgliche. Die Dienstboten der Witwe hielten ihn sauber und rein, wuschen, kämmten, bürsteten ihn alltäglich und betteten ihn allnächtlich mitleidslos zwischen reine Tücher, die nicht einen einzigen kleinen Flecken oder Makel hatten, den er hätte an sein Herz drücken und als alten, teuren Bekannten begrüßen können. Er mußte mit Messer und Gabel essen, mußte Serviette, Tasse und Teller benutzen, mußte seine Aufgabe lernen, zur Kirche gehen, dabei so gewählt und anständig reden, daß ihm die Sprache ordentlich saft- und kraftlos in seinem Munde vorkam; kurz, wohin er sich wandte, engten ihn überall die Schranken und Fesseln der Zivilisation von allen Seiten ein und banden ihm Hände und Füße.

Drei Wochen hindurch trug er sein Elend wie ein tapferer Held, dann war er plötzlich verschwunden. Achtundvierzig Stunden lang ließ die Witwe in Herzensangst überall nach ihm suchen. Jedermann nahm innigsten Anteil; man suchte hier und dort, in Höhen und Tiefen, man durchforschte den Strom nach seiner Leiche. Frühe am dritten Morgen schlich sich Tom Sawyer in aller Stille zu einem Haufen alter, leerer Fässer, die hinter dem jetzt unbenutzten, halb verfallenen Schlachthause lagen. In einem derselben entdeckte er richtig den Flüchtling, Huck hatte die Nacht dort zugebracht, hatte eben sein Frühstück, aus allerlei zusammengekripsten Kleinigkeiten bestehend, verzehrt und lag nun da und rauchte in glücklicher Behaglichkeit eine Pfeife. Er war ungewaschen, ungekämmt und in dieselben alten, malerisch an ihm hängenden Lumpen gehüllt, wie in jenen Tagen, da er noch frei und glücklich war. Sobald Tom ihn aufgestöbert hatte, warf er ihm vor, in welche Angst er alle Leute versetzt habe, und forderte ihn auf, nach Hause zurückzukommen. Hucks Antlitz verlor urplötzlich den Ausdruck wohligen Behagens und legte sich in melancholische Falten, Ängstlich bat er:

»Sprich mir davon nicht, Tom, hab’s ja probiert, aber ’s tut kein gut, Tom, ’s tut kein gut, ’s taugt nichts für mich, ich bin an so was nicht gewöhnt. Die Witwe selber ist gut und freundlich, aber dies Leben halt der Kuckuck aus. Soll ich da jeden Morgen zur selben Zeit ‚raus aus dem Nest, dann waschen und scheuern sie mich, daß die Fetzen fliegen, und kämmen mich zuschanden. Im Holzschuppen darf ich nicht schlafen, muß die verflixten Kleider tragen, in denen ich immer nach Luft schnappen muß, Tom, ’s ist, als ginge gar keine Luft durch, und dabei sind sie so verteufelt fein und vornehm, daß ich da drin nicht sitzen, nicht liegen, viel weniger mich wälzen kann. Weiß nicht, wie lang ich auf keiner Kellertür mehr hinuntergerutscht bin, aber ’s kommt mir wie viele Jahre vor. Ich muß in die Kirche gehen und dort steif und gerade sitzen, – und erst die langweiligen Predigten! Nicht einmal eine Fliege darf man drin fangen, und den ganzen Sonntag muß man die Schuhe anhaben. – Herr Gott! Wenn die Witwe ißt, dann bimmelt eine Glocke, geht sie schlafen, bimmelt’s wieder, und ebenso, wenn sie aufsteht – ’s geht alles so gräßlich nach der Schnur, das halt der Kuckuck aus!«

»Huck, so macht’s aber doch jeder anständige Mensch!«

»Ist mir ganz egal, Tom, ich bin kein anständiger Mensch und ich halt’s nicht aus. ’s ist gräßlich, wenn man so festgenagelt ist, ’s Futter wächst einem auch nur so in den Mund, – ’s macht einem gar keine Freude so. Soll fragen, wenn ich fischen gehen will, fragen, wenn ich baden möcht – hol’s der Henker, wenn man um jeden Dreck fragen soll. Und sprechen hab ich müssen wie ’n feiner Herr, bin beinah dran erstickt. Ei, wenn ich nicht jeden Tag ’nauf auf den Boden wär und hätt‘ meinem Herzen dort Luft gemacht, so wie ich’s versteh, mit ’n paar herzhaften Redensarten, nur um mal wieder den Geschmack davon in den Mund zu kriegen, ich wär gestorben, Tom, rein gestorben. Rauchen wollten sie mich auch nicht lassen, nicht mal ordentlich brüllen, nicht gähnen, nicht räkeln, nicht am Kopf kratzen, wenn jemand dabei war. Und«, – fuhr er mit einem verdoppelten Ausbruch des Widerwillens und der Gereiztheit fort – »den ganzen Tag hat sie gebetet. So ’ne Frau ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen! Ich mußt‘ mich drücken, Tom, es war nicht zum Aushalten, Dann war auch bald die Schule angegangen und ich hätte hingemußt, was mir das Leben vollends entleidet hatte. Weißt was, Tom, ’s Reichsein ist nicht halb soviel wert, als man meint. Man hat eine Plage und Schinderei davon, daß man lieber tot sein möchte. In diesen Kleidern hier und in dieser Sonne aber ist’s mir wohl und ich will mich begraben lassen, wenn ich da je wieder ‚rauskriege, Tom, ich war nie in diese unselige Lage hineingeraten, wenn das verflixte Geld nicht gewesen wär! Weißt was? Geh hin und nimm du auch meinen Teil und schenk mir hier und da mal zehn Cents, aber nicht oft, denn mir liegt blutwenig an dem Geld, so schwer es auch zu kriegen war, und dann – geh hin und bitt mich von der Witwe los, Tom, tu’s doch, hörst du?«

»O, Huck, das kann ich ja nicht, dein Geld nehmen‘ das wär gar nicht recht, und paß auf, wenn du’s erst mal länger probierst bei der Witwe, wird’s dir schon behagen.«

»Behagen? Ja, so ungefähr wie einem ein heißer Ofen behagt, wenn man drauf sitzen soll. Nee, Tom, ich will nicht reich sein und ich will nicht in den verfluchten stickigen Häusern leben. Ich brauch den Wald und den Fluß und ’n leeres Faß, und dabei will ich bleiben. Hol der Henker alles! Grad wie wir Flinten und ’ne Höhle hatten und alles schön fertig war, um Räuber zu werden, da – da muß die verflixte, dumme Schatzgeschichte kommen und alles verderben!«

Tom ersah seine Gelegenheit:

»Paß mal auf, Huck, das Reichsein hält uns noch lange nicht ab, Räuber zu werden.«

»Herrgott! Ist das wirklich dein voller Ernst, Tom?«

»So gewiß als ich hier sitze. Aber Huck, du kannst nicht in die Bande aufgenommen werden, wenn du kein anständiger Mensch bist, siehst du.«

Hucks aufwallende Freude bekam einen Dämpfer.

»Kann nicht aufgenommen werden, Tom? War ich denn nicht auch Seeräuber?«

»Ja, aber das ist ganz was anderes. Ein Räuber ist für gewöhnlich viel vornehmer als so ’n Pirat. In manchen Ländern sind sie vom höchsten Adel – Herzöge oder so.«

»Tom, du bist doch immer gut mit mir gewesen! Wirst mich doch nicht ausschließen, Tom? Wirst mir doch so was nicht antun, oder –?«

»Huck, ich tät’s ja nicht und ich tu’s auch nicht gern, aber was würden die Leute sagen? Ei, die werden die Nase rümpfen und ›Pf!‹ – würden sie sagen, – Tom Sawyers Bande! Schöne Kerle da drin! Und damit wärst du gemeint, Huck. Das war dir doch nicht recht und mir auch nicht.«

Für eine Weile war Huck still, sichtlich kämpfte er innerlich einen schweren Kampf. Schließlich sagte er:

»Na, für ’nen Monat oder so könnt ich ja am Ende zur Witwe zurückgehen und sehen, wie ich mich durchschlage und ob ich’s aushalten kann. Ja, das könnt ich, – wenn ich bei der Bande eintreten darf, Tom.«

»Gut also, Huck, das ist ’n Wort! Und nun vorwärts, alter Kerl, will mal mit der Witwe reden, daß sie dich ’n bißchen mehr in Ruhe läßt.«

»Willst du, Tom, willst du? Das ist schön von dir. Wenn die ’n bißchen weniger streng sein will, dann will ich dafür nur noch heimlich rauchen und fluchen und mich wohl oder übel durchdrücken oder platzen. Aber bis wann willst du denn die Bande auftun und Räuber werden?«

»Ei gleich! Wollen nur erst die Jungens zusammentrommeln, dann kann die Einschwörung gleich heut nacht vor sich gehen.«

»Die – was?«

»Die Einschwörung.«

»Was ist denn das?«

»Ei, da schwört man, daß man zusammenstehen und fallen wolle und niemals die Geheimnisse der Bande verraten, und sollte man auch in Stücke zerrissen werden; daß man jeden umbringen wolle samt seiner ganzen Familie, die irgendeinem von der Bande was zuleide tut.«

»Das ist lustig, Tom, arg lustig, sag ich dir.«

»Ja, das ist’s. Und der ganze Schwur muß um Mitternacht geschehen, am einsamsten, schauerlichsten Ort, den man finden kann, – in einem Haus, wo’s spukt, wär’s am besten, aber die sind jetzt alle abgebrochen.«

»Um Mitternacht ist gut, Tom, – irgendwo.«

»Ja, das ist wahr. Und man muß über einem Sarge schworen und alles mit Blut unterzeichnen.«

»Das klingt doch nach etwas! Weiß Gott, das ist millionenmal besser als Seeräuber sein. Ich will mich an die Witwe kleben, bis ich schwarz werd‘, Tom, und wenn ich mal so ’n richtiger Hauptkerl von ’nem vornehmen Räuber bin, Tom, und alle Welt von mir redet, dann wird sie wohl, denk ich, sich auch freuen und stolz sein, daß sie mich aus dem Sumpf gezogen hat!«