Reue.

Neuntes Kapitel.

Die beiden Jungen flohen keuchend, sprachlos vor Entsetzen, dem Städtchen zu. Von Zeit zu Zeit warfen sie angstvolle Blicke über die Schultern zurück, als ob sie fürchteten, man könne sie verfolgen. Jeder Baumstumpf, der sich am Wege erhob, schien ein Mensch und ein Feind, dessen Anblick ihnen beinahe den Atem raubte. Als sie an einigen freigelegenen Häusern vorüberjagten, schien das Bellen der aufgestörten Hofhunde ihren Sohlen Flügel zu verleihen.

»Wenn wir nur die alte Gerberei erreichen, ehe wir zusammenbrechen,« keuchte Tom stoßweise zwischen das mühsame Atemholen hinein. »Ich kann kaum mehr länger!«

Hucks Keuchen war seine einzige Antwort; die Jungen hefteten die Augen fest auf das ersehnte Ziel ihrer Wünsche und strebten mit aller Macht es zu erreichen. Es rückte näher und näher und endlich stürzten sie, Schulter an Schulter, durch die offene Tür und fielen atemlos in die schirmenden Schatten des Raumes. Nach und nach mäßigten die jagenden Pulse ihr Tempo und Tom flüsterte:

»Huckleberry, was denkst du, das daraus werden wird?«

»Wenn der Doktor stirbt, wird einer baumeln.«

»Glaubst du?«

»Glauben? Das ist sicher!«

Tom dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Wer soll’s denn sagen? – Wir?«

»Unsinn! Wenn was dazwischen kommt und der Indianer-Joe doch nicht baumeln muß, der würd‘ uns schön an den Kragen gehen, so gewiß ich hier lieg.«

»Das hab ich eben auch gedacht, Huck.«

»Wenn’s einer sagen muß, so kann’s ja der Muff Potter tun, dumm genug ist er dazu. Beduselt ist er auch meistens.«

Tom sagte nichts, – dachte weiter. Bald darauf flüsterte er: »Huck, Muff Potter weiß ja von nichts. Wie kann der’s sagen?«

»Warum weiß er von nichts?«

»Der hatte ja gerade den Hieb abgekriegt, als der andere zustach. Glaubst du, daß der noch was gesehen haben kann, daß er noch was weiß?«

»Allerdings mein ich das, Tom!«

»Hör du, der Hieb hat ihm am End auch noch den Rest gegeben!«

»Das glaub ich nicht, Tom. Der hatt‘ Branntwein im Kopf, ich hab’s gesehen. Wenn mein Alter voll ist, dürft man ihm ohne Schaden mit ’nem Kirchturm über den Kopf hauen, er würd’s nicht spüren. Das sagt er selber. Grad so ist’s mit Muff Potter natürlich. Wenn einer nüchtern wäre, könnte er freilich am End mit so ’nem Klaps genug haben.«

Nach einer anderen gedankenvollen Pause fragte Tom:

»Huckchen, bist du sicher, daß du reinen Mund halten kannst?«

»’s bleibt uns einfach gar nichts anderes übrig, Tom. Das siehst du doch selbst. Der Teufel von Indianerbrut schmisse uns ins Wasser wie ein paar Katzen, wenn wir nur davon mucksen wollten und er nicht richtig darauf gehenkt würde. Hör mal zu, Tom, wir müssen’s uns gegenseitig zuschwören, das müssen wir tun, schwören, daß wir nichts ausplappern!«

»Ist mir recht, Huck, ’s wird wohl das beste sein. Heb die Hand auf und schwör –«

»Nee, Tom, so leicht geht das nicht! Das ist freilich gut genug für kleine, lumpige Sachen, – besonders wenn man was mit Mädchen hat, die dummen Dinger verklatschen einen doch immer, wenn sie mal in der Patsche sitzen, – bei so was Großem aber, wie das, muß was Schriftliches dabei sein – und Blut!«

Tom war mit Leib und Seele bei dieser Idee. Sie war tief, düster, unheimlich, – mit der Zeit, dem Ort, den Umständen im Einklang. Er hob eine reine Holzschindel auf, die dort im Mondlicht lag, nahm ein Endchen Rotstift aus der Tasche, setzte sich so, daß der Mond die Schindel beleuchtete und kritzelte darauf folgende Zeilen, jeden Grundstrich mit einem krampfhaften Druck der Zunge gegen die Zähne betonend, der bei den Haarstrichen mechanisch nachließ:

»Huck Finn und Tom Sawyer, die schwören, daß sie hierüber den Mund halden wollen und wollen auf der Stelle tot umfallen, wann sie’s jehmals ausblautern.«

Huckleberry war voll Staunen und Bewunderung ob Toms Gewandtheit im Schreiben und der Erhabenheit seines Stils. Flink zog er eine Stecknadel aus seinem Jackenfutter und wollte sich eben sein Fleisch ritzen, als Tom rief:

»Wart, tu’s nicht. So ’ne Nadel ist von Messing und da könnt Grünspan daran sein.«

»Grünspan? Was ist das für ’n Span?«

»Gift ist’s, – weiter nichts. Schluck’s nur mal runter, wirst schon sehen!«

Tom langte dann eine von seinen Nähnadeln vor, wickelte den Faden ab und jeder der Jungen stach sich damit in den Ballen der Hand und quetschte einen Tropfen Blut hervor.

Mit Geduld, nach oftmaligem Quetschen, brachte denn auch Tom seine Initialen zustande, wozu er die Spitze des kleinen Fingers als Feder gebrauchte. Dann zeigte er Huckleberry, wie dieser ein H und ein F zu machen habe, und der Eidschwur war gültig. Sie vergruben die Schindel dicht an der Mauer, unter Anwendung von allerlei unheimlichen Zeremonien und Zauberformeln, und die Fesseln, die ihre Zungen banden, wurden als fest geschlossen, der Schlüssel dazu als weggeworfen betrachtet.

Eine Gestalt schob sich in dem Moment verstohlen durch eine Lücke am andern Ende des verfallenen Gebäudes, die Jungen aber bemerkten sie nicht.

»Tom,« flüsterte Huckleberry, »werden wir nun niemals nichts von der Geschichte sagen können, niemals?«

»Natürlich nicht. Was auch kommen mag, wir müssen den Mund halten. Sonst fielen wir ja gleich tot um, hast du das schon vergessen?«

»Nee, – aber – ja, du hast recht.«

Eine Zeitlang flüsterten sie noch leise zusammen. Plötzlich schlug ein Hund ein langgezogenes, unheimliches Geheul an, dicht vor ihrem Schlupfwinkel, vielleicht zehn Schritte von ihnen entfernt. Die Jungen umklammerten einander in Todesangst. Ihr Aberglaube hatte wieder die Oberhand.

»Wen von uns meint er wohl?« ächzte Huckleberry.

»Weiß ich’s? – guck durch den Ritz, schnell!«

»Guck du, Tom!«

»Ich kann nicht – kann’s nicht, Huck!«

»Bitte, Tom, bitte! Da – da ist’s wieder!«

»Ach, Gottchen, wie dank ich dir,« flüsterte Tom, »Ich kenn die Stimme, ’s ist Harbisons Tyras seine.«

»Das ist ’n Glück, Tom, ich sag dir, ich war halb tot vor Schreck; dacht schon, ’s sei ein fremder Hund.«

Wieder heulte der Hund. Den Jungen sank das Herz abermals bis in die unterste Zehenspitze.

»Ach, du mein alles,« stöhnte Huck, »das ist nicht Harbisons Tyras. Guck doch mal, Tom.«

Tom gab nach, obgleich er mit den Zähnen klapperte vor Furcht, und legte sein Auge an die Ritze. Sein Flüstern war kaum verständlich, als er zurückfuhr mit einem:

»Huck, ’s ist ein fremder Hund

»Schnell, schnell, Tom, wen meint er von uns?«

»Er muß uns beide meinen, – wir stehen dicht zusammen.«

»Tom, dann sind wir hin, ich sag dir’s. Wo ich hinkommen werde, für mein Teil, weiß ich nur zu gut. Ich bin so oft gottlos gewesen.«

»Ach, Huck, das kommt davon, wenn man die Schule schwänzt und immer tut, was verboten ist. Ich hätt‘ grad so gut und brav sein können wie Sid, – aber natürlich, das paßt mir nicht. Wenn ich noch mal mit heiler Haut davonkomme, so schwör ich, daß ich mein Leben lang in die Sonntagsschule gehen will, – ich Elender!«

Und Tom begann ein wenig zu schluchzen und sich die Augen zu reiben.

» Du, schlecht?« Auch Huckleberry schluchzte nun. »Ach was, Tom Sawyer, du bist Gold, reines Gold, sag ich dir, gegen mich. Ach, Gottchen, Gottchen, Gottchen, – ja, wenn ich nur halb die Gelegenheit gehabt hätt‘, gut zu sein wie du, Tom, ich –«

Tom brach plötzlich im Schluchzen ab und flüsterte freudig:

»Sieh doch, Huck, sieh! Er kehrt uns ja den Rücken zu

Nun schielte auch Huck durch die Ritze, Wonne im Herzen.

»Weiß Gott, so ist’s! Hat er denn vorher das auch schon getan?«

»Ei, freilich; ich Esel hab aber gar nicht darauf acht gegeben. Na, das ist herrlich! Jetzt aber, wen kann er meinen?«

Das Geheul verstummte, Tom spitzte die Ohren.

»Scht, – was ist das?« flüsterte er.

»’s klingt wie – na, wie Schweinegrunzen, Doch nein, – da schnarcht einer, Tom!«

»Wahrhaftig, so ist’s! Woher kommt’s wohl, Huck?«

»Ich glaub von dort, vom anderen Ende, ’s klingt wenigstens so. Mein Alter hat dort manchmal geschlafen, aber, Herrgott, wenn der schnarcht, fallen die Mauern ein. Ich glaub auch nicht, daß der je wieder hierher kommt.«

Noch einmal regte sich der Unternehmungsgeist in der Seele der Knaben.

»Huckchen, getraust du dir mitzukommen, wenn ich vorangehe?«

»Viel Lust hab ich nicht, Tom. Wenn’s nun der Indianer-Joe wäre?«

Tom fuhr zusammen und zögerte. Bald aber erhob sich die Versuchung wieder mit aller Macht und die Jungen kamen überein, die Sache zu untersuchen, aber Fersengeld zu geben, sowie das Schnarchen aufhöre. So stahlen sie sich denn auf den Zehenspitzen, einer hinter dem anderen, dem Orte zu, von wo der Laut kam. Fünf Schritte etwa vom Schnarcher entfernt, trat Tom auf einen Stock, der mit scharfem Knack zerbrach. Der Mann stöhnte und wandte sich ein wenig, so daß sein Gesicht sich dem Mondschein zukehrte. Es war Muff Potter. Den Jungen hatte das Herz stillgestanden, als der Mann sich regte, nun aber schwand ihre Angst. Auf den Zehen schlichen sie hinaus durch die geborstene Mauer und blieben in geringer Entfernung stehen, um ein Abschiedswort zu tauschen. Wieder erhob sich jenes langgezogene, klägliche Geheul in die Nachtluft hinein. Sie wandten sich und sahen den fremden Hund, nur ein paar Schritte entfernt von dem Ort, an dem Potter lag, diesem den Kopf zuwendend, mit der Schnauze gen Himmel deuten.

»Herr Jemine, den meint er!« riefen die beiden in einem Atem.

»Sag mal, Tom, ’s hat mir einer erzählt, daß um dem Johnny Miller sein Haus ’n fremder Hund herumgeheult hätt‘ vor ’n paar Wochen, und daß ’ne Eule sich auf dem Dach gezeigt hat, und doch ist noch keiner tot dort.«

»Weiß ich. Das beweist aber gar nichts! Ist nicht am selben Sonnabend die Grace Miller auf den Herd gefallen und hat sich schrecklich verbrannt?«

»Wohl, aber tot ist sie doch nicht – im Gegenteil viel besser.«

»Na, paß du nur auf, die muß sterben, so gewiß, wie der Muff Potter dort sterben muß. So sagen die Nigger, und die wissen Bescheid in den Geschichten, Huck!«

Die Jungen trennten sich, in tiefes Nachdenken versunken.

Als Tom durch sein Schlafzimmerfenster zurückkroch, war die Nacht beinahe vorüber. Er entkleidete sich mit der äußersten Vorsicht und fiel in Schlaf, indem er sich selbst von Herzen Glück dazu wünschte, daß niemand von seinem nächtlichen Ausflug etwas gemerkt habe. Armer, blinder Tom! Er selbst hatte nichts gemerkt; er wußte nicht, daß der sanft schnarchende Sid wachte, wach gewesen war seit einer Stunde.

Als Tom am anderen Morgen die Augen aufschlug, war Sid angekleidet und fort. Das Tageslicht draußen hatte ordentlich einen späten Schein, es lag ‚was Spätes in der ganzen Atmosphäre, Tom erschrak. Warum hat man ihn nicht gerufen, – ihn nicht geplagt, wie gewöhnlich, bis er auf war?

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit schlimmen Ahnungen. Innerhalb fünf Minuten war er in den Kleidern und die Treppe hinunter, noch ganz schwindelig und müde. Ihm war nicht wohl zumute. Die Familie saß noch um den Tisch, das Frühstück aber war beendet. Keine Stimme des Vorwurfs erhob sich, aber die abgewandten Augen aller, die Stille und so eine Art Feierlichkeit, die das ganze Zimmer zu erfüllen schien, ließen des armen Sünders Herz in ahnender Sorge erbeben. Er setzte sich nieder, versuchte munter und unbefangen zu erscheinen, das aber war verlorne Liebesmüh. Kein Lächeln, keine Antwort kam; auch er verfiel in Schweigen und sein Herz sank in die tiefsten Tiefen der Verzweiflung und Bekümmernis.

Nach dem Frühstück nahm ihn die Tante beiseite und Tom lebte sichtlich auf in der Erwartung, daß nun die wohlverdiente Züchtigung vom Stapel laufen würde. Dem aber war nicht so, Tante Polly fing an zu weinen, fragte, wie er es über sich gewänne, sie so zu betrüben, ihr altes Herz beinahe zu brechen und schloß damit, daß sie ihm sagte, er möge nur hingehen, sich zugrunde richten und ihre grauen Haare mit Schande in die Grube bringen, sie könne ihn nicht mehr aufhalten, wolle es auch gar nicht mehr probieren, es sei doch alles nutzlos und vergebens. Das war schlimmer als die schlimmsten Prügel, und Toms Herz war nun noch matter und elender als sein Körper. Er weinte, bat um Verzeihung, gelobte Besserung wieder und wieder und wurde schließlich entlassen mit dem beschämenden Gefühl, doch nur halb und halb Vergebung und Vertrauen in seine Gelöbnisse gefunden zu haben.

Er schlich aus dem Zimmer, zu elend selbst, um Rachegelüste gegen Sid, den Verräter, zu spüren und so war des letzteren hastige Flucht durch die Hintertüre unnötig. Trübselig und traurig machte er sich nach der Schule auf und nahm mit Joe Harper zusammen seine Tracht Prügel für das Schulschwänzen entgegen, mit der Miene eines Menschen, dessen Seele schlimmeres Leid kennt und tot ist für die kleinen Kümmernisse dieser Welt. Dann verfügte er sich nach seinem Platz, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn auf die Hände, bohrte den Blick in die Wand und saß da, ein Bild starrer Verzweiflung, die ihre Grenzen erreicht hat und nicht weiter zu gehen vermag. Sein Ellenbogen ruhte auf irgend etwas Hartem. Nach einer geraumen Zeit änderte er langsam und traurig seine Stellung und nahm dies Etwas mit einem Seufzer zur Hand. Es war in Papier eingeschlagen. Er entfaltete es. Ein langgezogener, ungeheurer Seufzer folgte… Es war jener Messingknopf, den er Becky gestern geboten. Dieser letzte bittere Tropfen brachte den Becher seiner Trübsal zum Überfließen.