Das Loten

Wenn der Wasserstand des Flusses sehr niedrig ist und das Dampfboot gerade so tief geht, ja noch ein paar Zoll mehr, als Wasser da ist, wie es damals häufig vorkam, dann muß man beim Lotsen ziemlich vorsichtig sein. Bei sehr niedrigem Stande des Flusses mußten wir fast auf jeder Reise auf einer Anzahl besonders schlimmer Stellen loten.

Das Loten geschieht in folgender Weise. Das Boot wird zunächst dicht am Ufer festgemacht, gerade oberhalb der seichten Kreuzung; dann nimmt der wachfreie Lotse seinen Lehrling oder Steuerer und eine auserlesene Schar Matrosen (manchmal auch einen Offizier) und fährt – vorausgesetzt, daß das Boot nicht jenen seltenen und kostbaren Luxusartikel, ein eigens gebautes Lotungsboot besitzt – mit der Jolle hinaus, um nach dem besten Wasser zu suchen, während der wachhabende Lotse auf dem Dampfboot inzwischen seine Bewegungen durch ein Fernglas beobachtet und dieselben zuweilen durch Signale mit der Dampfpfeife »Versuchts weiter oben« oder »Versuchts weiter unten« unterstützt; denn die Oberfläche des Wassers ist, wie ein Ölgemälde, aus einiger Entfernung betrachtet ausdrucksvoller und verständlicher, als ganz aus der Nähe gesehen. Die Pfeifensignale sind indessen nur selten notwendig – und vielleicht nur dann, wenn der Wind die bedeutungsvollen kleinen krausen Wellenbewegungen auf dem Wasser stört. Wenn die Jolle die seichte Stelle erreicht hat, wird die Fahrgeschwindigkeit vermindert, der Lotse beginnt mit einer zehn bis zwölf Fuß langen Stange die Tiefe zu messen, und der Mann an der Ruderpinne gehorcht aufs schnellste jedem Befehl des Lotsen, das Boot nach Steuerbord oder Backbord zu lenken oder den geraden Kurs zu verfolgen.

Wenn die Messungen anzeigen, daß sich das Boot dem flachsten Teil des Riffs nähert, folgt das Kommando: »Stopp Rudern!« Die Leute hören auf zu rudern und die Jolle treibt mit der Strömung. Der nächste Befehl ist: »Klar bei der Boje!« In dem Augenblick, wenn der seichteste Punkt erreicht ist, ruft der Lotse: »Los die Boje!« die dann über Bord geht. Ist der Lotse nicht ganz befriedigt, so peilt er die Stelle nochmals; und wenn er weiter nach oben oder unten mehr Wasser findet, so läßt er die Boje dorthin bringen. Ist er endlich befriedigt, so giebt er den Befehl, daß alle Leute ihre Remen in einer Linie in die Höhe halten; ein Pfiff vom Dampfboot zeigt an, daß man das Signal gesehen hat; die Leute ziehen die Remen an und legen die Jolle längsseits von der Boje. Der Dampfer kommt nunmehr langsam und behutsam herab, den Bug gerade auf die Boje gerichtet, spart seine Kraft aber auf für den bevorstehenden Kampf; im kritischen Augenblick geht er mit vollem Dampf knirschend und schwankend über Boje und Sand, um das tiefe Wasser auf der andern Seite zu gewinnen – oder auch nicht; vielleicht »stößt er auf und schwingt herum« und muß dann stunden- oder tagelang arbeiten, bis er wieder flott wird.

Zuweilen wird gar keine Boje gelegt, sondern die Jolle fährt voran, um das beste Wasser aufzusuchen, und der Dampfer folgt in ihrem Kielwasser. Oft ist das Loten sehr lustig und aufregend, besonders an schönen Sommertagen oder in stürmischen Nächten. Im Winter wird der Spaß aber durch Kälte und Gefahr größtenteils verdorben.

Eine Boje ist nichts als ein vier oder fünf Fuß langes Brett, dessen eines Ende rechtwinkelig umgebogen ist; sie ist wie eine umgekehrte Schulbank, die nur einen Fuß besitzt, während der andere abgenommen ist. Sie wird an der flachsten Stelle des Riffes mit einem Tau, an dem ein schwerer Stein hängt, verankert; ohne den Widerstand des umgebogenen Teiles des Brettes würde die Strömung die Boje unter Wasser ziehen. Des Nachts wird oben auf der Boje eine Papierlaterne mit einer Kerze darin befestigt, die als kleiner, schimmernder Fleck eine englische Meile weit und mehr in der schwarzen Wüstenei zu sehen ist.

Nichts freut einen Lotsenlehrling mehr als eine Gelegenheit zum Loten. Die Sache hat einen so abenteuerlichen Zug; oft ist Gefahr dabei; und dann ist es so lustig und kriegsschiffmäßig, hinten im Boot zu sitzen und eine schnelle Jolle zu steuern; es ist etwas Köstliches, das fröhliche Hüpfen eines Boots, wenn auserlesene alte Matrosen mit aller Macht sich in die Remen legen. Lieblich ist’s, zu sehen, wie der weiße Schaum vom Bug wegströmt; es liegt Musik im Rauschen des Wassers, und im Sommer ist es köstlich erheiternd, über die kühlen Stromflächen dahinzuschießen, wenn eine Menge kleiner Wellen in der Sonne tanzt. Und dann ist es so erhaben für den Lehrling, vielleicht die Gelegenheit zu haben, einen Befehl geben zu dürfen; denn oft sagt der Lotse einfach: »wenden!« und überläßt das andere seinem Lehrling, der mit kräftigster Kommandostimme augenblicklich ruft: »Langsam an Steuerbord! Pull Backbord! Pull weg, Steuerbord! Tüchtig, Leute!« Den angehenden Lotsen freut das Loten aus dem ferneren Grunde, weil die Blicke der Passagiere alle Bewegungen der Jolle mit gespanntestem Interesse verfolgen, – das heißt bei Tage; und wenn es Nacht ist, weiß er, daß dieselben staunenden Augen auf die Laterne des Bootes gerichtet sind, wie sie hinausgleitet in die Finsternis und in weiter Ferne allmählich verschwindet.

Auf einer Fahrt verbrachte ein hübsches Mädchen von sechzehn Jahren, welche mit Onkel und Tante reiste, seine ganze Zeit im Steuerhaus. Ich verliebte mich in sie, Tom G. – –, Herrn Thornburys Lehrling, gleichfalls. Tom und ich waren bis dahin Busenfreunde gewesen; jetzt aber begann eine gewisse Kälte zwischen uns einzutreten. Ich erzählte dem Mädchen viele meiner Abenteuer auf dem Strom und spielte mich so heldenmäßig wie möglich auf; ebenso wollte Tom sich für einen Helden ausgeben, und es gelang ihm auch bis zu einem gewissen Grade; er schmückte eben alles aus. Aber die Tugend findet ihren Lohn in sich selbst, und so war ich denn in dem Wettlauf um ihre Gunst ein wenig voraus. Um diese Zeit geschah etwas, von dem ich mir sehr viel versprach: die Lotsen beschlossen, die Wassertiefe der Kreuzung am oberer Ende von 21 zu peilen. Das würde etwa um neun oder zehn Uhr abends geschehen, – zu einer Zeit, in der die Passagiere noch wach waren. Herr Thornbury würde die Wache, mein Lehrmeister also das Loten zu besorgen haben. Wir hatten ein allerliebstes Boot zum Loten – lang, schmuck, anmutig und so schnell wie ein Windspiel; die Ruderbänke waren gepolstert; es führte zwölf Ruderer; und einer der Steuerleute wurde stets mitgeschickt, um der Rudermannschaft die Befehle zu übermitteln, da es auf unserem Dampfer unendlich stilvoll zuging.

Wir befestigten den Dampfer oberhalb 21 am Ufer und machten alles bereit. Es war eine schlimme Nacht und der Fluß so breit, daß die ungeübten Augen einer Landratte durch eine solche Finsternis das entgegengesetzte Ufer nicht unterscheiden konnten. Die Passagiere waren munter und voll Interesse; alles ging befriedigend. Als ich, malerisch in Ölzeug gehüllt, durch den Maschinenraum eilte, begegnete mir Tom, und ich konnte nicht unterlassen, ihn anzureden; ich fragte ihn:

»Bist du nicht froh, daß du nicht zum Loten hinaus mußt?«

Tom wollte vorübergehen, wandte sich aber rasch um und sagte:

»Höre, nun kannst du dir selbst die Peilstange holen. Ich war auf dem Wege darnach, möchte dich aber jetzt lieber in – Halifax sehen, als sie holen.«

»Wer verlangt, daß du sie holst? Ich nicht. Sie ist im Boot.«

»Nein, sie ist nicht dort. Sie ist frisch angestrichen worden und liegt seit zwei Tagen auf der Damenkajüte zum Trocknen.«

Ich flog zurück und gelangte gleich darauf unter die Schar beobachtender und staunender Damen – gerade früh genug, um das Kommando zu hören:

»Stoßt ab, Leute!«

Ich schaute hinüber und sah das schmucke Boot dahinfliegen, der gewissenlose Tom saß am Steuer, neben ihm mein Lehrmeister mit der Peilstange, mit der ich in den April geschickt worden war. Da sagte das junge Mädchen zu mir:

»O, wie entsetzlich, in einer solchen Nacht in dem kleinen Boot hinausfahren zu müssen! Glauben Sie, daß Gefahr dabei ist?«

Ich wünschte mir geradezu den Tod; voller Gift entfernte ich mich, um im Steuerhaus zu helfen. Bald darauf verschwand die Bootslaterne, und nach einer kurzen Zwischenzeit blitzte in der Entfernung von etwa einer Meile ein ganz schwacher Funke auf dem Wasser auf. Herr Thornbury gab zum Zeichen, daß er das Licht gesehen, ein Signal mit der Dampfpfeife, brachte den Dampfer in den Strom und steuerte auf das Licht zu. Wir flogen eine Weile dahin, verlangsamten dann die Fahrt und glitten vorsichtig auf den Lichtfunken zu. Gleich darauf rief Herr Thornbury:

»Hallo, die Bojenlaterne ist verlöscht.«

Er ließ die Maschinen stoppen; einen Augenblick später sagte er:

»Ei, da ist sie wieder!«

Wieder setzte er die Maschinen in Gang und ließ das Lot auswerfen. Nach und nach wurde das Wasser seichter, dann wurde es wieder tiefer! Herr Thornbury murmelte:

»Nun, das begreife ich nicht. Ich glaube, die Boje ist von dem Riff weggetrieben; scheint mir ein wenig zu weit links zu sein. Gleichviel, es ist jedenfalls am sichersten, drüber wegzufahren.«

So steuerten wir denn in der undurchdringlichen Finsternis langsam auf das Licht zu. Gerade als unser Bug darüber hinpflügen wollte, griff Herr Thornbury nach den Glockenzügen, schellte mit aller Macht und rief aus:

»Bei meiner Seele, es ist das Boot!«

Ein Chor von wilden Alarmrufen stieg plötzlich von unten herauf – eine Pause – und dann folgte ein knirschender, krachender Ton. Herr Thornbury schrie:

»Da! Das Schaufelrad hat das Boot zu Zündhölzchen zerschmettert! Geschwind, sieh nach wer getötet ist!«

Im Nu war ich auf dem Hauptdeck. Mein Lehrmeister, der dritte Steuermann und fast alle Ruderer waren wohlbehalten. Sie hatten die Gefahr, in der sie schwebten, erst entdeckt, als es zu spät zum Ausweichen war; im Moment, als der große Radkasten sie beschattete, waren sie bereits gefaßt und wußten, was sie zu thun hatten; auf Befehl meines Lehrmeisters sprangen sie im rechten Augenblick auf, ergriffen den Radkasten und wurden an Bord gezogen. Im nächsten Augenblick wurde die Jolle nach dem Schaufelrad geschleudert, von diesem erfaßt und zu Atomen zersplittert. Zwei der Leute und Tom fehlten – eine Thatsache, die sich wie ein Lauffeuer auf dem Dampfer verbreitete. Die Passagiere kamen in Scharen nach den vorderen Gängen, alle Damen und Herren mit besorgten Blicken, blassen Wangen, und sprachen mit gepreßter Stimme von dem schrecklichen Vorfall. Und oft und immer wieder hörte ich sie sagen: »Arme Burschen! Armer Junge, armer Junge!«

Mittlerweile war eine Jolle bemannt worden und abgefahren, um nach den Vermißten zu suchen. Jetzt ließ sich ein schwacher Ruf hören, weit entfernt nach links, während die Jolle in der entgegengesetzten Richtung verschwunden war. Die Hälfte der Leute stürzte nach der einen Seite, um den Schwimmer mit ihren Zurufen zu ermutigen; die andere Hälfte eilte nach rechts, um der Jolle zuzuschreien, daß sie umkehren solle. Dem Schall nach näherte sich der Schwimmer, aber einige sagten, das Rufen zeige ein Nachlassen der Kräfte. Die Menge drängte sich an der Reling des Kesseldecks zusammen, lehnte sich hinüber und starrte in die Finsternis hinaus, und jeder schwache und schwächere Schrei entrang ihnen Worte wie: »Ach der arme, arme Kerl! ist denn keine Möglichkeit vorhanden, ihn zu retten?«

Aber noch immer dauerten die Rufe fort und kamen näher, und endlich erschollen die Worte:

»Ich kann’s aushalten! Klar bei der Leine!«

Mit welch donnerndem Hurra sie ihn empfingen! Der erste Steuermann, mit einer langen Leine in der Hand, stellte sich in den Schein einer Fackel, und seine Leute gruppierten sich um ihn. Im nächsten Augenblick erschien das Gesicht des Schwimmers im Lichtkreise, und in einem weiteren Augenblick war der letztere ermattet und durchnäßt an Bord geholt, während zahllose Hurrarufe ihn begrüßten. Es war der verteufelte Tom.

Die Bootsmannschaft suchte überall, fand aber keine Spur von den beiden Ruderern. Es war ihnen wahrscheinlich nicht gelungen, den Radkasten zu erfassen, und sie waren zurückgefallen, vom Rade getroffen und getötet worden. Tom war überhaupt nicht nach dem Radkasten gesprungen, sondern hatte sich kopfüber in den Strom gestürzt und war unter das Rad getaucht. Es war nicht viel dabei; ich hätte es leicht nachmachen können und sagte es auch; aber trotzdem fuhr jedermann fort, soviel Aufhebens von dem Esel zu machen, als ob er Wunder was gethan hätte. Jenes Mädchen schien während der übrigen Dauer der Fahrt gar nicht genug bekommen zu können von jenem kläglichen ›Helden‹; mir war’s aber einerlei; ich verabscheute sie so oder so.

Daß wir die Laterne des Peilbootes irrtümlich für das Bojenlicht hielten, hatte folgenden Grund. Mein Lehrmeister sagte, er sei, nachdem die Boje gelegt war, weitergetrieben und habe sie beobachtet, bis sie festzuliegen schien; dann habe er etwa hundert Meter unter ihr Stellung genommen, etwas seitwärts vom Kurs des Dampfers, den Bug des Boots stromaufwärts gerichtet und gewartet. Da einige Zeit verfloß, begannen er und der Steuermann zu plaudern. Als er glaubte, daß der Dampfer ungefähr auf dem Riff sein mußte, blickte er auf und sah, daß die Boje fort war, meinte aber, der Dampfer sei bereits darüber hinweggefahren. Er plauderte daher fort und bemerkte dann, daß der Dampfer sehr dicht an ihn herankam; indessen war das ganz korrekt: er mußte dicht an ihm vorbeifahren, um die Mannschaft bequem an Bord nehmen zu können. Er erwartete bis zum letzten Augenblick, daß der Dampfer abscheren würde; da derselbe die Richtung jedoch nicht änderte, ging ihm plötzlich durch den Sinn, ob nicht der Dampfer seine Laterne für das Bojenlicht hielte und das Boot niederrennen würde. Er rief also: »Klar zum Überspringen auf den Radkasten, Leute!« und im nächsten Augenblick wurde der Sprung ausgeführt.