Kapitel XI


Judäa und die Juden

Kapitel XI

Die Geschichte des jüdischen Landes ist so wenig die Geschichte des jüdischen Volkes wie die Geschichte des Kirchenstaates die der Katholiken; es ist ebenso erforderlich, beides zu sondern wie beides zusammen zu erwägen.

Die Juden im Jordanland, mit welchen die Römer zu schaffen hatten, waren nicht dasjenige Volk, das unter seinen Richtern und Königen mit Moab und Edom schlug und den Reden des Amos und Hosea lauschte. Die durch die Fremdherrschaft ausgetriebene und durch den Wechsel der Fremdherrschaft wieder zurückgeführte kleine Gemeinde frommer Exulanten, welche ihre neue Einrichtung damit begann, die Rede der in den alten Sitzen zurückgebliebenen Stammgenossen schroff zurückzuweisen und zu der unversöhnlichen Fehde zwischen Juden und Samaritern den Grund zu legen, das Ideal nationaler Exklusivität und priesterlicher Geistesfesselung, hatte lange vor der römischen Zeit unter dem Regiment der Seleukiden die sogenannte mosaische Theokratie entwickelt, ein geistliches Kollegium mit dem Erzpriester an der Spitze, welches bei der Fremdherrschaft sich beruhigend und auf staatliche Gestaltung verzichtend die Besonderheit der Seinigen wahrte und unter der Ägide der Schutzmacht dieselben beherrschte. Dies den Staat ignorierende Festhalten der nationalen Eigenart in religiösen Formen ist die Signatur des späteren Judentums. Wohl ist jeder Gottesbegriff in seiner Bildung volkstümlich; aber kein anderer Gott ist so von Haus aus der Gott nur der Seinen gewesen wie Jahve, und keiner es so ohne Unterschied von Zeit und Ort geblieben. Jene in das heilige Land Zurückwandernden, welche nach den Satzungen Mosis zu leben meinten und in der Tat lebten nach den Satzungen Ezras und Nehemias, waren von den Großkönigen des Orients und später von den Seleukiden gerade ebenso abhängig geblieben, wie sie es an den Wassern Babylons gewesen waren. Ein politisches Element haftet dieser Organisation nicht mehr an als der armenischen oder der griechischen Kirche unter ihren Patriarchen im türkischen Reich; kein freier Luftzug staatlicher Entwicklung geht durch diese klerikale Restauration; keine der schweren und ernsten Verpflichtungen des auf sich selbst gestellten Gemeinwesens behinderte die Priester des Tempels von Jerusalem in der Herstellung des Reiches Jahves auf Erden.

Der Gegenschlag blieb nicht aus. Jener Kirchenunstaat konnte nur dauern, solange eine weltliche Großmacht ihm als Schirmherr oder auch als Büttel diente. Als das Reich der Seleukiden verfiel, ward durch die Auflehnung gegen die Fremdherrschaft, die eben aus dem begeisterten Volksglauben ihre besten Kräfte zog, wieder ein jüdisches Gemeinwesen geschaffen. Der Erzprister von Salem wurde vom Tempel auf das Schlachtfeld gerufen. Das Geschlecht der Hasmonäer stellte nicht bloß das Reich Sauls und Davids ungefähr in seinen alten Grenzen wieder her, sondern diese kriegerischen Hohenpriester erneuerten auch einigermaßen das ehemalige wahrhaft staatliche, den Priestern gebietende Königtum. Aber dasselbe, von jener Priesterherrschaft zugleich das Erzeugnis und der Gegensatz, war nicht nach dem Herzen der Frommen. Die Pharisäer und die Sadduzäer schieden sich und begannen sich zu befehden. Weniger Glaubenssätze und rituelle Differenzen standen hier sich einander entgegen als einerseits das Verharren bei einem lediglich die religiösen Ordnungen und Interessen festhaltenden, im übrigen für die Unabhängigkeit und die Selbstbestimmung der Gemeinde gleichgültigen Priesterregiment, andererseits das Königtum, hinstrebend zu staatlicher Entwicklung und bemüht, in dem politischen Ringen, dessen Schauplatz damals das syrische Reich war, dem jüdischen Volke durch Schlagen und Vertragen wieder seinen Platz zu verschaffen. Jene Richtung beherrschte die Menge, diese überwog in der Intelligenz und in den vornehmen Klassen; ihr bedeutendster Vertreter ist König Iannäos Alexandros, der während seiner ganzen Regierung nicht minder mit den syrischen Herrschern in Fehde lag wie mit seinen Pharisäern. Obwohl sie eigentlich nur der andere und in der Tat der natürlichere und mächtigere Ausdruck des nationalen Aufschwungs ist, berührte sie sich doch in ihrem freieren Denken und Handeln mit dem hellenischen Wesen und galt insbesondere den frommen Gegnern als fremdländisch und ungläubig.

Aber die Bewohner Palästinas waren nur ein Teil und nicht der bedeutendste Teil der Juden; die babylonischen, syrischen, kleinasiatischen, ägyptischen Judengemeinden waren den palästinensischen auch nach der Regeneration durch die Makkabäer weit überlegen. Mehr als die letztere hat die jüdische Diaspora in der Kaiserzeit zu bedeuten gehabt; und sie ist eine durchaus eigenartige Erscheinung.

Die Judenansiedlungen außerhalb Palästina sind nur in untergeordnetem Grade aus demselben Triebe entwickelt wie die der Phöniker und der Hellenen. Von Haus aus ein ackerbauendes und fern von der Küste wohnendes Volk sind ihre Ansiedlungen im Ausland eine unfreie und verhältnismäßig späte Bildung, eine Schöpfung Alexanders oder seiner Marschälle. An jenen immensen durch Generationen fortgesetzten griechischen Städtegründungen, wie sie in gleichem Umfang nie vorher und nie nachher vorgekommen sind, haben die Juden einen hervorragenden Anteil gehabt, so seltsam es auch war, eben sie bei der Hellenisierung des Orients zur Beihilfe zu berufen. Vor allem gilt dies von Ägypten. Die bedeutendste unter allen von Alexander geschaffenen Städten, Alexandreia am Nil, ist seit den Zeiten des ersten Ptolemäers, der nach der Einnahme Palästinas eine Masse seiner Bewohner dorthin übersiedelte, fast ebensosehr eine Stadt der Juden wie der Griechen, die dortige Judenschaft an Zahl, Reichtum, Intelligenz, Organisation der jerusalemitischen mindestens gleich zu achten. In der ersten Kaiserzeit rechnete man auf 8 Millionen Ägypter 1 Million Juden, und ihr Einfluß reichte vermutlich über dieses Zahlenverhältnis hinaus. Daß wetteifernd damit in der syrischen Reichshauptstadt die Judenschaft in ähnlicher Weise organisiert und entwickelt worden war, wurde schon bemerkt. Von der Ausdehnung und der Bedeutung der Juden Kleinasiens zeugt unter anderem der Versuch, den unter Augustus die ionischen Griechenstädte, es scheint nach gemeinschaftlicher Verabredung, machten, ihre jüdischen Gemeindegenossen entweder zum Rücktritt von ihrem Glauben oder zur vollen Übernahme der bürgerlichen Lasten zu nötigen. Ohne Zweifel gab es selbständig organisierte Judenschaften in sämtlichen neuhellenischen Gründungen und daneben in zahlreichen althellenischen Städten, selbst im eigentlichen Hellas, zum Beispiel in Korinth. Die Organisierung vollzog sich durchaus in der Weise, daß den Juden ihre Nationalität mit den von ihnen selbst daraus gezogenen weitreichenden Konsequenzen gewahrt, nur der Gebrauch der griechischen Sprache von ihnen gefordert ward. So wurden bei dieser damals von oben herab dem Orient aufgeschmeichelten oder aufgezwungenen Gräzisierung die Juden der Griechenstädte griechisch redende Orientalen.

Daß bei den Judengemeinden der makedonischen Städte die griechische Sprache nicht bloß im natürlichen Wege des Verkehrs zur Herrschaft gelangt, sondern eine ihnen auferlegte Zwangsbestimmung ist, scheint aus der Sachlage sich mit Notwendigkeit zu ergeben. In ähnlicher Weise hat späterhin Traian mit kleinasiatischen Kolonisten Dazien romanisiert. Ohne diesen Zwang hätte die äußerliche Gleichförmigkeit der Städtegründung nicht durchgeführt, dies Material für die Hellenisierung überhaupt nicht verwendet werden können. Daß die heiligen Schriften der Juden schon unter den ersten Ptolemäern in das Griechische übertragen wurden, mag wohl so wenig Veranstaltung der Regierung gewesen sein wie die Bibelübersetzung Luthers; aber im Sinne derselben lag allerdings die sprachliche Hellenisierung der ägyptischen Juden, und sie vollzog sich merkwürdig rasch. Wenigstens im Anfang der Kaiserzeit, wahrscheinlich lange vorher, war die Kenntnis des Hebräischen unter den alexandrinischen Juden ziemlich so selten wie heutzutage in der christlichen Welt die der Ursprachen der heiligen Originale; es wurde mit den Übersetzungsfehlern der sogenannten siebzig Alexandriner ungefähr ebenso argumentiert wie von unseren Frommen mit den Übersetzungsfehlern Luthers. Die nationale Sprache der Juden war in dieser Epoche überall aus dem lebendigen Verkehr verschwunden und behauptete sich nur, etwa wie im katholischen Religionsgebiet die lateinische, im kirchlichen Gebrauch. In Judäa selbst war sie ersetzt worden durch die der hebräischen freilich verwandte aramäische Volkssprache Syriens; die Judenschaften außerhalb Judäas, mit denen wir uns beschäftigen, hatten das semitische Idiom vollständig abgelegt, und erst lange nach dieser Epoche ist jene Reaktion eingetreten, welche schulmäßig die Kenntnis und den Gebrauch derselben allgemeiner bei den Juden zurückgeführt hat. Die literarischen Arbeiten, die sie während dieser Epoche in großer Zahl geliefert haben, sind in der besseren Kaiserzeit alle griechisch. Wenn die Sprache allein die Nationalität bedingte, so wäre für diese Zeit von den Juden wenig zu berichten.

Aber mit diesem anfänglich vielleicht schwer empfundenen Sprachzwang verbindet sich die Anerkennung der besonderen Nationalität mit allen ihren Konsequenzen. Überall in den Städten der Alexandermonarchie bildet sich die Stadtbewohnerschaft aus den Makedoniern, das heißt den wirklich makedonischen oder den ihnen gleichgeachteten Hellenen. Neben diesen stehen, außer den Fremden, die Eingeborenen, in Alexandreia die Ägypter, in Kyrene die Libyer und überhaupt die Ansiedler aus dem Orient, welche zwar auch keine andere Heimat haben als die neue Stadt, aber nicht als Hellenen anerkannt werden. Zu dieser zweiten Kategorie gehören die Juden; aber ihnen, und nur ihnen, wird es gestattet sozusagen eine Gemeinde in der Gemeinde zu bilden und, während die übrigen Nichtbürger von den Behörden der Bürgerschaft regiert werden, bis zu einem gewissen Grad sich selbst zu regieren. »Die Juden«, sagt Strabon, »haben in Alexandreia ein eigenes Volkshaupt (εθναρχησ), welches dem Volke (εθνοσ) vorsteht und die Prozesse entscheidet und über Verträge und Ordnungen verfügt, als beherrsche es eine selbständige Gemeinde.« Es geschah dies, weil die Juden eine derartige spezifische Jurisdiktion als durch ihre Nationalität oder, was auf dasselbe hinauskommt, ihre Religion gefordert bezeichneten. Weiter nahmen die allgemeinen staatlichen Ordnungen auf die national-religiösen Bedenken der Juden in ausgedehntem Umfang Rücksicht und halfen nach Möglichkeit durch Exemptionen aus. Das Zusammenwohnen trat wenigstens häufig hinzu; in Alexandreia zum Beispiel waren von den fünf Stadtquartieren zwei vorwiegend von Juden bewohnt. Es scheint dies nicht das Ghettosystem gewesen zu sein, sondern eher ein durch die anfängliche Ansiedlung begründetes und dann von beiden Seiten festgehaltenes Herkommen, wodurch nachbarlichen Konflikten einigermaßen vorgebeugt ward.

So kamen die Juden dazu, bei der makedonischen Hellenisierung des Orients eine hervorragende Rolle zu spielen; ihre Gefügigkeit und Brauchbarkeit einerseits, ihre unnachgiebige Zähigkeit andererseits müssen die sehr realistischen Staatsmänner, die diese Wege wiesen, bestimmt haben, sich zu solchen Einrichtungen zu entschließen. Nichtsdestoweniger bleibt die außerordentliche Ausdehnung und Bedeutung der jüdischen Diaspora gegenüber der engen und geringen Heimat wie einerseits eine Tatsache, so andererseits ein Problem. Man wird dabei nicht übersehen dürfen, daß die palästinensischen Juden für die des Auslandes nicht mehr als den Kern geliefert haben. Das Judentum der älteren Zeit ist nichts weniger als exklusiv, vielmehr von missionarem Eifer nicht minder durchdrungen wie späterhin das Christentum und der Islam. Das Evangelium weiß von den Rabbis, welche Meer und Land durchziehen, um einen Proselyten zu machen; die Zulassung der halben Proselyten, denen die Beschneidung nicht zugemutet, aber dennoch eine religiöse Gemeinschaft gewährt wird, ist ein Zeugnis dieses Bekehrungseifers wie zu gleicher Zeit eines seiner wirksamsten Mittel. Motive sehr verschiedener Art kamen dieser Propaganda zustatten. Die bürgerlichen Privilegien, welche die Lagiden und die Seleukiden den Juden erteilten, müssen eine große Zahl nichtjüdischer Orientalen und Halbhellenen veranlaßt haben, sich in den Neustädten der privilegierten Kategorie der Nichtbürger anzuschließen. In späterer Zeit kam der Verfall des traditionellen Landesglaubens der jüdischen Propaganda entgegen. Zahlreiche Personen besonders der gebildeten Stände, deren gläubige und sittliche Empfindung von dem, was die Griechen und noch mehr von dem, was die Ägypter Religion nannten, sich schaudernd oder spottend abwandte, suchten Zuflucht in der einfacheren und reineren, der Vielgötterei und dem Bilderdienst absagenden jüdischen Lehre, welche den aus dem Niederschlag der philosophischen Entwicklung den gebildeten und halbgebildeten Kreisen zugeführten religiösen Anschauungen weit entgegenkam. Es gibt ein merkwürdiges griechisches Moralgedicht, wahrscheinlich aus der späteren Epoche der römischen Republik, welches aus den mosaischen Büchern in der Weise geschöpft ist, daß es die monotheistische Lehre und das allgemeine Sittengesetz aufnimmt, aber alles dem Nichtjuden Anstößige und alle unmittelbare Opposition gegen die herrschende Religion vermeidet, offenbar bestimmt für dies denationalisierte Judentum weitere Kreise zu gewinnen. Insbesondere die Frauen wandten sich mit Vorliebe dem jüdischen Glauben zu. Als die Behörden von Damaskos im J. 66 die gefangenen Juden umzubringen beschlossen, wurde verabredet, diesen Beschluß geheimzuhalten, damit die den Juden ergebene weibliche Bevölkerung nicht die Ausführung verhindere. Sogar im Okzident, wo die gebildeten Kreise sonst dem jüdischen Wesen abgeneigt waren, machten vornehme Damen schon früh eine Ausnahme; die aus edlem Geschlecht entsprossene Gemahlin Neros Poppäa Sabina war, wie durch andere minder ehrbare Dinge, so auch stadtkundig durch ihren frommen Judenglauben und ihr eifriges Judenprotektorat. Förmliche Übertritte zum Judentum kamen nicht selten vor; das Königshaus von Adiabene zum Beispiel, König Izates und seine Mutter Helena sowie sein Bruder und Nachfolger wurden in der Zeit des Tiberius und des Claudius in aller Form Juden. Sicher gilt von allen jenen Judenschaften, was von der antiochenischen ausdrücklich bemerkt wird, daß sie zum großen Teil aus Übergetretenen bestanden.

Diese Verpflanzung des Judentums auf den hellenischen Boden, unter Aneignung einer fremden Sprache, vollzog sich, wie sehr sie auch unter Festhaltung der nationalen Individualität stattfand, nicht ohne in dem Judentum selbst eine seinem Wesen zuwiderlaufende Tendenz zu entwickeln und bis zu einem gewissen Grad dasselbe zu denationalisieren. Wie mächtig die inmitten der Griechen lebenden Judenschaften von den Wellen des griechischen Geisteslebens erfaßt wurden, davon trägt die Literatur des letzten Jahrhunderts vor und des ersten nach Christi Geburt die Spuren. Sie ist getränkt von jüdischen Elementen, und es sind mit die hellsten Köpfe und die geistreichsten Denker, welche entweder als Hellenen in das jüdische oder als Juden in das hellenische Wesen den Eingang suchen. Nikolaos von Damaskos, selber ein Heide und ein namhafter Vertreter der aristotelischen Philosophie, führte nicht bloß als Literat und Diplomat des Königs Herodes bei Agrippa wie bei Augustus die Sache seines jüdischen Patrons und der Juden, sondern es zeigt auch seine historische Schriftstellerei einen sehr ernstlichen und für jene Epoche bedeutenden Versuch, den Orient in den Kreis der okzidentalischen Forschung hineinzuziehen, während die noch erhaltene Schilderung der Jugendjahre des ihm auch persönlich nahe getretenen Kaisers Augustus ein denkwürdiges Zeugnis der Liebe und der Verehrung ist, welche der römische Herrscher in der griechischen Welt fand. Die Abhandlung vom Erhabenen, geschrieben in der ersten Kaiserzeit von einem unbekannten Verfasser, eine der feinsten uns aus dem Altertum erhaltenen ästhetischen Arbeiten, rührt sicher, wenn nicht von einem Juden, so doch von einem Manne her, der Homeros und Moses gleichmäßig verehrte. Eine andere ebenfalls anonyme Schrift über das Weltganze, gleichfalls ein in seiner Art achtbarer Versuch die Lehre des Aristoteles mit der der Stoa zu verschmelzen, ist vielleicht auch von einem Juden geschrieben, sicher dem angesehensten und höchstgestellten Juden der neronischen Zeit, dem Generalstabschef des Corbulo und des Titus, Tiberius Alexandros gewidmet. Am deutlichsten tritt uns die Vermählung der beiden Geisteswelten entgegen in der jüdisch-alexandrinischen Philosophie, dem schärfsten und greifbarsten Ausdruck einer das Wesen des Judentums nicht bloß ergreifenden, sondern angreifenden religiösen Bewegung. Die hellenische Geistesentwicklung lag im Kampf mit den nationalen Religionen aller Art, indem sie deren Anschauungen entweder negierte oder auch mit anderem Inhalt erfüllte, die bisherigen Götter aus den Gemütern der Menschen austrieb und auf die leeren Plätze entweder nichts setzte oder die Gestirne und abstrakte Begriffe. Diese Angriffe trafen auch die Religion der Juden. Es bildete sich ein Neujudentum hellenischer Bildung, das mit Jehovah nicht ganz so arg, aber doch nicht viel anders verfuhr als die gebildeten Griechen und Römer mit Zeus und Jupiter. Das Universalmittel der sogenannten allegorischen Deutung, wodurch insbesondere die Philosophen der Stoa die heidnischen Landesreligionen überall in höflicher Weise vor die Türe gesetzt hatten, paßte für die Genesis ebensogut und ebenso schlecht wie für die Götter der Ilias; wenn Moses mit Abraham eigentlich den Verstand, mit Sarah die Tugend, mit Noah die Gerechtigkeit gemeint hatte, wenn die vier Ströme des Paradieses die vier Kardinaltugenden waren, so konnte der aufgeklärteste Hellene an die Thora glauben. Aber eine Macht war dies Pseudojudentum auch, und der geistige Primat der Judenschaft Ägyptens tritt vor allem darin hervor, daß diese Richtung vorzugsweise ihre Vertreter in Alexandreia gefunden hat.

Trotz der innerlichen Scheidung, welche bei den palästinensischen Juden sich vollzogen und nur zu oft geradezu zum Bürgerkrieg gesteigert hatte, trotz der Versprengung eines großen Teils der Judenschaft in das Ausland, trotz des Eindringens fremder Massen in dieselbe und sogar des destruktiven hellenistischen Elements in ihren innersten Kern blieb die Gesamtheit der Juden in einer Weise vereinigt, für welche in der Gegenwart nur etwa der Vatikan und die Kaaba eine gewisse Analogie bieten. Das heilige Salem blieb die Fahne, Zions Tempel das Palladium der gesamten Judenschaft, mochten sie den Römern oder den Parthern gehorchen, aramäisch oder griechisch reden, ja an den alten Jahve glauben oder an den neuen, der keiner war. Daß der Schirmherr dem geistlichen Oberhaupt der Juden eine gewisse weltliche Macht zugestanden hatte, bedeutete für die Judenschaft ebensoviel, der geringe Umfang dieser Macht ebensowenig wie seinerzeit für die Katholiken der sogenannte Kirchenstaat. Jedes Mitglied einer jüdischen Gemeinde hatte jährlich nach Jerusalem ein Didrachmon als Tempelschoß zu entrichten, welcher regelmäßiger einging als die Staatssteuern; jedes war verpflichtet, wenigstens einmal in seinem Leben dem Jehovah persönlich an dem Orte zu opfern, der ihm allein in der Welt wohlgefällig war. Die theologische Wissenschaft blieb gemeinschaftlich; die babylonischen und die alexandrinischen Rabbiner haben daran sich nicht minder beteiligt wie die von Jerusalem. Das unvergleichlich zähe Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit, wie es in der rückkehrenden Exulantengemeinde sich festgesetzt und dann jene Sonderstellung der Juden in der Griechenwelt mit durchgesetzt hatte, behauptete sich trotz Zerstreuung und Spaltung. Am bemerkenswertesten ist das Fortleben des Judentums selbst in den davon in der inneren Religion losgelösten Kreisen. Der namhafteste, für uns der einzige deutlich greifbare Vertreter dieser Richtung in der Literatur, Philon, einer der vornehmsten und reichsten Juden aus der Zeit des Tiberius, steht in der Tat zu seiner Landesreligion nicht viel anders als Cicero zu der römischen; aber er selbst glaubte nicht sie aufzulösen, sondern sie zu erfüllen. Auch ihm ist wie jedem anderen Juden Moses die Quelle aller Wahrheit, seine geschriebene Weisung bindendes Gesetz, seine Empfindung Ehrfurcht und Gläubigkeit. Es ist dies sublimierte Judentum dem sogenannten Götterglauben der Stoa doch nicht völlig identisch. Die Körperlichkeit des Gottes verschwindet für Philon, aber die Persönlichkeit nicht, und es mißlingt ihm vollständig, was das Wesen der hellenischen Philosophie ist, die Göttlichkeit in die Menschenbrust zu verlegen; es bleibt die Anschauung, daß der sündhafte Mensch abhänge von einem vollkommenen außer und über ihm stehenden Wesen. Ebenso fügt das neue Judentum sich dem nationalen Ritualgesetz weit unbedingter als das neue Heidentum. Der Kampf des alten und des neuen Glaubens ist in dem jüdischen Kreise deswegen von anderer Art als in dem heidnischen, weil der Einsatz ein größerer war; das reformierte Heidentum streitet nur gegen den alten Glauben, das reformierte Judentum würde in seiner letzten Konsequenz das Volkstum aufheben, welches in dem Überfluten des Hellenismus mit der Verflüchtigung des Landesglaubens notwendig verschwand, und scheut deshalb davor zurück, diese Konsequenz zu ziehen. Daher ist auf griechischem Boden und in griechischer Sprache, wenn nicht das Wesen, doch die Form des alten Glaubens mit beispielloser Hartnäckigkeit festgehalten und verteidigt worden, verteidigt auch von denen, die im Wesen vor dem Hellenismus kapitulieren. Philon selbst hat, wie weiterhin erzählt werden soll, für die Sache der Juden gestritten und gelitten. Darum hat aber auch die hellenistische Richtung im Judentum auf dieses selbst nie übermächtig eingewirkt, niemals vermocht dem nationalen Judentum entgegenzutreten, kaum dessen Fanatismus zu mildern und die Verkehrtheiten und Frevel desselben zu hemmen. In allen wesentlichen Dingen, insbesondere dem Druck und der Verfolgung gegenüber verschwinden die Differenzen des Judentums, und wie unbedeutend der Rabbinerstaat war, die religiöse Gemeinschaft, der er vorstand, war eine ansehnliche, unter Umständen eine furchtbare Macht.

Diesen Verhältnissen fanden die Römer sich gegenüber, als sie im Orient die Herrschaft antraten. Die Eroberung zwingt dem Eroberer nicht minder die Hand als dem Eroberten. Das Werk der Jahrhunderte, die makedonischen Stadteinrichtungen, konnten weder die Arsakiden noch die Cäsaren ungeschehen machen; weder Seleukeia am Euphrat noch Antiocheia und Alexandreia konnten von den nachfolgenden Regierungen angetreten werden unter der Wohltat des Inventars. Wahrscheinlich hat der dortigen jüdischen Diaspora gegenüber der Begründer des Kaiserregiments sich, wie in so vielen anderen Dingen, die Politik der ersten Lagiden zur Richtschnur genommen und das Judentum des Orients in seiner Sonderstellung eher gefördert als gehindert; und dies Verfahren ist dann für seine Nachfolger durchgängig maßgebend gewesen. Es ist schon erzählt worden, daß die vorderasiatischen Gemeinden unter Augustus den Versuch machten, ihre jüdischen Mitbürger bei der Aushebung gleichmäßig heranzuziehen und ihnen die Einhaltung des Sabbats nicht ferner zu gestatten; Agrippa aber entschied gegen sie und hielt den Status quo zugunsten der Juden aufrecht oder stellte vielmehr die bisher wohl nur von einzelnen Statthaltern oder Gemeinden der griechischen Provinzen nach Umständen zugelassene Befreiung der Juden vom Kriegsdienst und das Sabbatprivilegium vielleicht jetzt erst rechtlich fest. Augustus wies ferner die Statthalter von Asia an, die strengen Reichsgesetze über Vereine und Versammlungen gegen die Juden nicht zur Anwendung zu bringen. Aber die römische Regierung hat es nicht verkannt, daß die den Juden im Orient eingeräumte exempte Stellung mit der unbedingten Verpflichtung der Reichsangehörigen zur Erfüllung der vom Staat geforderten Leistungen sich nicht vereinigen ließ, daß die garantierte Sonderstellung der Judenschaft den Rassenhaß und unter Umständen den Bürgerkrieg in die einzelnen Städte trug, daß das fromme Regiment der Behörden von Jerusalem über alle Juden des Reiches eine bedenkliche Tragweite hatte, und daß in allem diesen für den Staat eine praktische Schädigung und eine prinzipielle Gefahr lag. Der innerliche Dualismus des Reiches drückt in nichts sich schärfer aus als in der verschiedenen Behandlung der Juden in dem lateinischen und dem griechischen Sprachgebiet. Im Okzident sind die autonomen Judenschaften niemals zugelassen worden. Man tolerierte wohl daselbst die jüdischen Religionsgebräuche wie die syrischen und die ägyptischen oder vielmehr etwas weniger als diese; der Judenkolonie in der Vorstadt Roms jenseits der Tiber zeigte Augustus sich günstig und ließ bei seinen Spenden den, der des Sabbats wegen sich versäumt hatte, nachträglich zu. Aber er persönlich vermied jede Berührung wie mit dem ägyptischen so auch mit dem jüdischen Kultus, und wie er selbst in Ägypten dem heiligen Ochsen aus dem Wege gegangen war, so billigte er es durchaus, daß sein Sohn Gaius, als er nach dem Orient ging, bei Jerusalem vorbeiging. Unter Tiberius wurde sogar im J. 19 in Rom und ganz Italien der jüdische Kultus zugleich mit dem ägyptischen untersagt und diejenigen, die sich nicht dazu verstanden ihn öffentlich zu verleugnen und die heiligen Geräte ins Feuer zu werfen, aus Italien ausgewiesen, soweit sie nicht als tauglich für den Kriegsdienst in Strafkompanien verwendet werden konnten, wo dann nicht wenige ihrer religiösen Skrupel wegen dem Kriegsgericht verfielen. Wenn, wie wir nachher sehen werden, eben dieser Kaiser im Orient jedem Konflikt mit dem Rabbi fast ängstlich aus dem Wege ging, so zeigt sich hier deutlich, daß er, der tüchtigste Herrscher, den das Reich gehabt hat, die Gefahren der jüdischen Immigration ebenso deutlich erkannte wie die Unbilligkeit und die Unmöglichkeit da, wo das Judentum bestand, es zu beseitigen. Unter den späteren Regenten ändert, wie wir im weiteren Verlauf finden werden, in der Hauptsache die ablehnende Haltung gegen die Juden des Okzidents sich nicht, obwohl sie im übrigen mehr dem Beispiel des Augustus folgen als dem des Tiberius. Man hinderte die Juden nicht, die Tempelsteuer in der Form freiwilliger Beiträge einzuziehen und nach Jerusalem zu senden. Es wurde ihnen nicht gewehrt, wenn sie einen Rechtshandel lieber vor einen jüdischen Schiedsrichter brachten als vor ein römisches Gericht. Von zwangsweiser Aushebung zum Dienst, wie Tiberius sie anordnete, ist auch im Okzident späterhin nicht weiter die Rede. Aber eine öffentlich anerkannte Sonderstellung und öffentlich anerkannte Sondergerichte haben die Juden im heidnischen Rom und überhaupt im lateinischen Westen niemals erhalten. Vor allem aber haben im Okzident, abgesehen von der Hauptstadt, die der Natur der Sache nach auch den Orient mit repräsentierte und schon in der ciceronischen Zeit eine zahlreiche Judenschaft in sich schloß, die Judengemeinden in der früheren Kaiserzeit nirgends besondere Ausdehnung oder Bedeutung gehabt. Nur im Orient gab die Regierung von vornherein nach oder vielmehr sie versuchte nicht die bestehenden Verhältnisse zu ändern und den daraus resultierenden Gefahren vorzubeugen; und so haben denn auch, wie die heiligen Bücher der Juden der lateinischen Welt erst in lateinischer Sprache durch die Christen bekannt geworden sind, die großen Judenbewegungen der Kaiserzeit sich durchaus auf den griechischen Osten beschränkt. Hier wurde kein Versuch gemacht mit der rechtlichen Sonderstellung des Juden die Quelle des Judenhasses allmählich zu verstopfen, aber ebensowenig, von Laune und Verkehrtheiten einzelner Regenten abgesehen, dem Judenhaß und den Judenhetzen von seiten der Regierung Vorschub getan. In der Tat ist die Katastrophe des Judentums nicht aus der Behandlung der jüdischen Diaspora im Orient hervorgegangen. Lediglich die in verhängnisvoller Weise sich entwickelnden Beziehungen des Reichsregiments zu dem jüdischen Rabbistaat haben nicht bloß die Zerstörung des Gemeinwesens von Jerusalem herbeigeführt, sondern weiter die Stellung der Juden im Reiche überhaupt erschüttert und verschoben. Wir wenden uns dazu, die Vorgänge in Palästina unter der römischen Herrschaft zu schildern.

Die Zustände im südlichen Syrien waren von den Feldherrn der Republik, Pompeius und seinen nächsten Nachfolgern, in der Weise geordnet worden, daß die größeren Gewalten, die dort anfingen, sich zu bilden, wieder herabgedrückt und das ganze Land in einzelne Stadtgebiete und Kleinherrschaften aufgelöst wurde. Am schwersten waren davon die Juden betroffen worden; nicht bloß hatten sie allen hinzugewonnenen Besitz, namentlich die ganze Küste herausgeben müssen, sondern Gabinius hatte sogar den alten Bestand des Reiches in fünf selbständig sich verwaltende Kreise aufgelöst und dem Hohenpriester Hyrkanos seine weltlichen Befugnisse entzogen. Damit war also wie einerseits die Schutzmacht, so andererseits die reine Theokratie wieder hergestellt. Indes änderte dies sich bald. Hyrkanos oder vielmehr der für ihn regierende Minister, der Idumäer Antipatros, gelangte wohl schon durch Gabinius selbst, dem er bei seinen parthischen und ägyptischen Unternehmungen sich unentbehrlich zu machen verstand, wiederum zu der führenden Stellung im südlichen Syrien. Nach der Plünderung des Tempels von Jerusalem durch Crassus ward der dadurch veranlaßte Aufstand der Juden hauptsächlich durch ihn gedämpft. Es war für ihn eine günstige Fügung, daß die jüdische Regierung nicht genötigt ward in die Krisis zwischen Cäsar und Pompeius, für welchen sie wie der ganze Osten sich erklärt hatte, handelnd einzugreifen. Dennoch wäre wohl, nachdem der Bruder und Rivale des Hyrkanos Aristobulos sowie dessen Sohn Alexander, wegen ihres Eintretens für Cäsar, durch die Pompeianer ihr Leben verloren hatten, nach Cäsars Sieg der zweite Sohn Antigonos von diesem in Judäa als Herrscher eingesetzt worden. Aber als Cäsar, nach dem entscheidenden Sieg nach Ägypten gekommen, sich in Alexandreia in einer gefährlichen Lage befand, war es vornehmlich Antipatros, der ihn aus dieser befreite, und dies schlug durch; Antigonos mußte zurückstehen hinter der neueren, aber wirksameren Treue. Nicht am wenigsten hat Cäsars persönliche Dankbarkeit die förmliche Restauration des Judenstaates gefördert. Das jüdische Reich erhielt die beste Stellung, die dem Klientelstaat gewährt werden konnte, völlige Freiheit von Abgaben an die Römer und von militärischer Besatzung und Aushebung, wogegen allerdings auch die Pflichten und die Kosten der Grenzverteidigung von der einheimischen Regierung zu übernehmen waren. Die Stadt Ioppe und damit die Verbindung mit dem Meer wurde zurückgegeben, die Unabhängigkeit der inneren Verwaltung sowie die freie Religionsübung garantiert, die bisher verweigerte Wiederherstellung der von Pompejus geschleiften Festungswerke Jerusalems gestattet (707 [47 v. Chr.]). Also regierte unter dem Namen des Hasmonäerfürsten ein Halbfremder – denn die Idumäer standen zu den eigentlichen von Babylon zurückgewanderten Juden ungefähr wie die Samariter – den Judenstaat unter dem Schutz und nach dem Willen Roms. Die nationalgesinnten Juden waren dem neuen Regiment nichts weniger als geneigt. Die alten Geschlechter, die im Rat von Jerusalem führten, hielten im Herzen zu Aristobulos und nach dessen Tode zu seinem Sohn Antigonos. In den Bergen Galiläas fochten die Fanatiker ebenso gegen die Römer wie gegen die eigene Regierung; als Antipatros Sohn Herodes den Führer dieser wilden Schar Ezekias gefangengenommen und hatte hinrichten lassen, zwang der Priesterrat von Jerusalem unter dem Vorwand verletzter Religionsvorschriften den schwachen Hyrkanos den Herodes zu verbannen. Dieser trat darauf in das römische Heer ein und leistete dem cäsarischen Statthalter von Syrien gegen die Insurrektion der letzten Pompeianer gute Dienste. Aber als nach der Ermordung Cäsars die Republikaner im Osten die Oberhand gewannen, war Antipatros wieder der erste, der dem Stärkeren nicht bloß sich fügte, sondern sich die neuen Machthaber verpflichtete durch rasche Beitreibung der von ihnen auferlegten Kontribution. So kam es, daß der Führer der Republikaner, als er aus Syrien abzog, den Antipatros in seiner Stellung beließ und dem Sohne desselben, Herodes, sogar ein Kommando in Syrien anvertraute. Als dann Antipatros starb, wie man sagt, von einem seiner Offiziere vergiftet, glaubte Antigonos, der bei seinem Schwager, dem Fürsten Ptolemäos von Chalkis, Aufnahme gefunden hatte, den Augenblick gekommen, um den schwachen Oheim zu beseitigen. Aber die Söhne des Antipatros Phasael und Herodes schlugen seine Schar aufs Haupt, und Hyrkanos verstand sich dazu, ihnen die Stellung des Vaters zu gewähren, ja sogar den Herodes, indem er ihm seine Enkelin Mariamme verlobte, gewissermaßen in das regierende Haus aufzunehmen. Inzwischen unterlagen die Führer der republikanischen Partei bei Philippi. Die Opposition in Jerusalem hoffte nun den Sturz der verhaßten Antipatriden bei den Siegern zu erwirken; aber Antonius, dem das Schiedsgericht zufiel, wies deren Deputationen erst in Ephesos, dann in Antiocheia, zuletzt in Tyros entschieden ab, ja ließ die letzten Gesandten hinrichten, und bestätigte Phasael und Herodes förmlich als »Vierfürsten« der Juden (713 [41 v. Chr.]).

Bald rissen die Wendungen der großen Politik den jüdischen Staat noch einmal in ihre Wogen. Der Herrschaft der Antipatriden machte im folgenden Jahre (714 [40 v. Chr.]) die Invasion der Parther zunächst ein Ende. Der Prätendent Antigonos schlug sich zu ihnen und bemächtigte sich Jerusalems und fast des ganzen Gebietes. Hyrkanos ging als Gefangener zu den Parthern, Phasael, Antipatros ältester Sohn, gleichfalls gefangen, gab sich im Kerker den Tod. Mit genauer Not barg Herodes die Seinigen in einem Felsenschloß am Saume Judäas und ging selbst flüchtig und Hilfe bittend zuerst nach Ägypten und, da er hier Antonius nicht mehr fand, zu den beiden eben damals in neuer Eintracht schaltenden Machthabern (714 [40 v. Chr.]) nach Rom. Bereitwillig gestattete man ihm, was ja nur im römischen Interesse lag, das jüdische Reich für sich zurückzugewinnen; er kam nach Syrien zurück, soweit es auf die Römer ankam, als anerkannter Herrscher und sogar ausgestattet mit dem königlichen Titel. Aber gleich wie ein Prätendent hatte er das Land nicht so sehr den Parthern als den Patrioten zu entreißen. Vorzugsweise mit Samaritern und Idumäern und gedungenen Soldaten schlug er seine Schlachten und gelangte endlich durch die Unterstützung der römischen Legionen auch in den Besitz der lange verteidigten Hauptstadt. Die römischen Henker befreiten ihn gleichfalls von seinem langjährigen Nebenbuhler Antigonos, seine eigenen räumten auf unter den vornehmen Geschlechtern des Rates von Jerusalem.

Aber die Tage der Bedrängnis waren mit seiner Installation noch keineswegs vorüber. Antonius‘ unglückliche Expedition gegen die Parther blieb für Herodes ohne Folgen, da die Sieger es nicht wagten, in Syrien einzurücken; aber schwer litt er unter den immer sich steigernden Ansprüchen der ägyptischen Königin, die damals mehr als Antonius den Osten beherrschte; ihre frauenhafte Politik, zunächst gerichtet auf die Erweiterung ihrer Hausmacht und vor allem ihrer Einkünfte, erreichte zwar bei Antonius bei weitem nicht alles, was sie begehrte, aber sie entriß dem König der Juden doch einen Teil seiner wertvollsten Besitzungen an der syrischen Küste und in dem ägyptisch-syrischen Zwischengebiet, ja selbst die reichen Balsampflanzungen und Palmenhaine von Jericho und legte ihm schwere finanzielle Lasten auf. Um den Rest seiner Herrschaft zu behaupten, mußte er die neuen syrischen Besitzungen der Königin entweder selber abpachten oder für andere minder zahlungsfähige Pächter garantieren. Nach all diesen Bedrängnissen und in Erwartung noch ärgerer und ebensowenig abweisbarer Anforderungen war der Ausbruch des Krieges zwischen Antonius und Cäsar für ihn eine Hoffnung, und daß Kleopatra in ihrer egoistischen Verkehrtheit ihm die tätige Teilnahme an dem Kriege erließ, weil er seine Truppen brauche, um ihre syrischen Einkünfte beizutreiben, ein weiterer Glücksfall, da dies ihm die Unterwerfung unter den Sieger erleichterte. Das Glück kam ihm noch weiter bei dem Parteiwechsel entgegen: er konnte eine Schar getreuer Gladiatoren des Antonius abfangen, die aus Kleinasien durch Syrien nach Ägypten marschierten, um ihrem Herrn Beistand zu leisten. Indem er, bevor er sich zu Cäsar nach Rhodos begab, um seine Begnadigung zu erwirken, den letzten männlichen Sproß des Makkabäerhauses, den achtzigjährigen Hyrkanos, dem das Haus des Antipatros seine Stellung verdankte, für alle Fälle hinrichten ließ, übertrieb er in der Tat die notwendige Vorsicht. Cäsar tat, was die Politik ihn tun hieß, zumal da für die beabsichtigte ägyptische Expedition die Unterstützung des Herodes von Wichtigkeit war; er bestätigte den gern Besiegten in seiner Herrschaft und erweiterte sie teils durch die Rückgabe der von Kleopatra ihm entrissenen Besitzungen, teils durch weitere Gaben: die ganze Küste von Gaza bis zum Stratonsturm, dem späteren Cäsarea, die zwischen Judäa und Galiläa sich einschiebende samaritanische Landschaft und eine Anzahl von Städten östlich vom Jordan gehorchten seitdem dem Herodes. Mit der Konsolidierung der römischen Monarchie war auch das jüdische Fürstentum weiteren äußeren Krisen entzogen.

Vom römischen Standpunkt aus erscheint das Verhalten der neuen Dynastie in einer Weise korrekt, daß dem Betrachtenden dabei die Augen übergehen. Sie tritt ein zuerst für Pompeius, dann für Cäsar den Vater, dann für Cassius und Brutus, dann für die Triumvirn, dann für Antonius, endlich für Cäsar den Sohn; die Treue wechselt wie die Parole. Dennoch ist diesem Verhalten die Folgerichtigkeit und Festigkeit nicht abzusprechen. Die Parteiungen, die die herrschende Bürgerschaft zerrissen, ob Republik oder Monarchie, ob Cäsar oder Antonius, gingen die abhängigen Landschaften, vor allem die des griechischen Ostens, in der Tat nichts an. Die Entsittlichung, die mit allem revolutionären Regimentswechsel verbunden ist, die entweihende Vermengung der inneren Treue und des äußeren Gehorsams, kam in diesem Fall in grellster Weise zum Vorschein; aber der Pflichterfüllung, wie sie das römische Gemeinwesen von seinen Untertanen beanspruchte, hatte König Herodes in einer Ausdehnung genügt, welcher edlere und großartigere Naturen allerdings nicht fähig gewesen sein würden. Den Parthern gegenüber hat er stets, auch in bedenklichen Lagen fest zu den einmal erkorenen Schutzherren gehalten. – Vom Standpunkt der inneren jüdischen Politik aus ist das Regiment des Herodes die Beseitigung der Theokratie und insofern eine Fortsetzung, ja eine Steigerung des Regiments der Makkabäer, als die Trennung des staatlichen und des Kirchenregiments in schneidendster Schärfe durchgeführt wird in dem Gegensatz zwischen dem allmächtigen, aber fremdgeborenen König und dem machtlosen oft und willkürlich gewechselten Erzpriester. Freilich wurde dem jüdischen Hochpriester die königliche Stellung eher verziehen als dem fremden und priesterlicher Weihe unfähigen Mann; und wenn die Hasmonäer die Unabhängigkeit des Judentums nach außen hin vertraten, trug der Idumäer seine königliche Macht über die Juden von dem Schirmherrn zu Lehen. Die Rückwirkung dieses unlösbaren Konflikts auf eine tief leidenschaftliche Natur tritt in dem ganzen Lebenslauf des Mannes uns entgegen, der viel Leid bereitet, aber vielleicht nicht weniger empfunden hat. Immer sichern die Energie, die Stetigkeit, die Fügsamkeit in das Unvermeidliche, die militärische und politische Geschicklichkeit, wo dafür Raum war, dem Judenkönig einen gewissen Platz in dem Gesamtbild einer merkwürdigen Epoche.

Das fast vierzigjährige Regiment des Herodes – er starb im J. 750 (4 v. Chr.) – im einzelnen zu schildern, wie es die dafür in großer Ausführlichkeit erhaltenen Berichte gestatten, ist nicht die Aufgabe des Geschichtschreibers von Rom. Es gibt wohl kein Königshaus irgendeiner Zeit, in welchem die Blutfehde zwischen Eltern und Kindern, zwischen Gatten und Geschwistern in gleicher Weise gewütet hat; Kaiser Augustus und seine Statthalter in Syrien wandten schaudernd sich ab von dem Anteil an dem Mordwerk, der ihnen angesonnen ward; nicht der mindest entsetzliche Zug in diesem Greuelbild ist die völlige Zwecklosigkeit der meisten in der Regel auf grundlosen Verdacht verfügten Exekutionen und die stetig nachfolgende verzweifelnde Reue des Urhebers. Wie kräftig und verständig der König das Interesse seines Landes, soweit er konnte und durfte, wahrnahm, wie energisch er nicht bloß in Palästina, sondern im ganzen Reich mit seinen Schätzen und mit seinem nicht geringen Einfluß für die Juden eintrat – die den Juden günstige Entscheidung Agrippas in dem großen kleinasiatischen Reichshandel hatten sie wesentlich ihm zu verdanken –, Liebe und Treue fand er wohl in Idumäa und Samaria, aber nicht bei dem Volke Israel; hier war und blieb er nicht so sehr der mit vielfacher Blutschuld beladene, als vor allem der fremde Mann. Wie es eine der Haupttriebfedern jenes Hauskrieges ist, daß er in seiner Gattin aus hasmonäischem Geschlecht, der schönen Mariamme, und in deren Kindern mehr die Juden als die Seinen sah und fürchtete, so hat er es selbst ausgesprochen, daß er sich zu den Griechen ebenso hingezogen fühle wie von den Juden abgestoßen. Es ist bezeichnend, daß er die Söhne, denen er zunächst die Nachfolge zudachte, in Rom erziehen ließ. Während er aus seinen unerschöpflichen Reichtümern die Griechenstädte des Auslandes mit Gaben überhäufte und mit Tempeln schmückte, baute er für die Juden wohl auch, aber nicht im jüdischen Sinne. Die Zirkus- und Theaterbauten in Jerusalem selbst wie die Tempel für den Kaiserkultus in den jüdischen Städten galten dem frommen Israeliten als Aufforderung zur Gotteslästerung. Daß er den Tempel in Jerusalem in einen Prachtbau verwandelte, geschah halb gegen den Willen der Frommen; wie sehr sie den Bau bewunderten, daß er an demselben einen goldenen Adler anbrachte, wurde ihm mehr verübelt als alle von ihm verfügten Todesurteile und führte zu einem Volksaufstand, dem der Adler zum Opfer fiel und dann freilich auch die Frommen, die ihn abrissen. Herodes kannte das Land genug, um es nicht auf das äußerste kommen zu lassen; wenn es möglich gewesen wäre dasselbe zu hellenisieren, der Wille dazu hätte ihm nicht gefehlt. An Tatkraft stand der Idumäer hinter den besten Hasmonäern nicht zurück. Der große Hafenbau bei Stratonsturm oder, wie die von Herodes völlig umgebaute Stadt seitdem heißt, bei Cäsarea gab der hafenarmen Küste zuerst das, was sie brauchte, und die ganze Kaiserzeit hindurch ist die Stadt ein Hauptemporium des südlichen Syriens geblieben. Was sonst die Regierung zu leisten vermag, Entwicklung der natürlichen Hilfsquellen, Eintreten bei Hungersnot und anderen Kalamitäten, vor allen Dingen Sicherheit des Landes nach innen und außen, das hat Herodes geleistet. Der Räuberunfug wurde abgestellt und die in diesen Gegenden so ungemein schwierige Verteidigung der Grenze gegen die streifenden Stämme der Wüste mit Strenge und Folgerichtigkeit durchgeführt. Dadurch wurde die römische Regierung bewogen, ihm noch weitere Gebiete zu unterstellen, Ituräa, Trachonitis, Auranitis, Batanäa. Seitdem erstreckte sich seine Herrschaft, wie dies schon erwähnt ward, geschlossen über das transjordanische Land bis gegen Damaskos und zum Hermongebirge; soviel wir erkennen können, hat es nach jenen weiteren Zuweisungen in dem ganzen bezeichneten Gebiet keine Freistadt und keine von Herodes unabhängige Herrschaft mehr gegeben. Die Grenzverteidigung selbst traf mehr den arabischen König als den der Juden; aber soweit sie ihm oblag, bewirkte die Reihe wohl versehener Grenzkastelle auch hier einen Landfrieden, wie man ihn bisher in diesen Gegenden nicht gekannt hatte. Man begreift es, daß Agrippa, nachdem er die Hafen- und die Kriegsbauten des Herodes besichtigt hatte, in ihm einen gleichstrebenden Gehilfen bei dem großen Organisationswerk des Reiches erkannte und ihn in diesem Sinne behandelte.

Dauernden Bestand hatte sein Reich nicht. Herodes selbst teilte es in seinem Testament unter drei seiner Söhne und Augustus bestätigte die Verfügung im wesentlichen, indem er nur den wichtigen Hafen Gaza und die transjordanischen Griechenstädte unmittelbar unter den syrischen Statthalter stellte. Die nördlichen Reichsteile wurden von dem Hauptland abgetrennt; das zuletzt von Herodes erworbene Gebiet südlich von Damaskos, die Batanäa mit den dazugehörigen Distrikten erhielt Philippos, Galiläa und die Peräa, das heißt das transjordanische Gebiet, soweit es nicht griechisch war, Herodes Antipas, beide als Tetrarchen; diese beiden Kleinfürstentümer haben anfangs getrennt, dann unter Herodes »des Großen« Urenkel Agrippa II. vereinigt, mit geringen Unterbrechungen bis unter Traianus fortbestanden. Wir haben ihres Regiments bei der Schilderung des östlichen Syriens und Arabiens bereits gedacht. Hier mag nur hinzugefügt werden, daß diese Herodeer, wenn nicht mit der Energie, doch im Sinn und Geist des Stifters der Dynastie weiter regierten. Die von ihnen eingerichteten Städte Cäsarea, das alte Paneas, im nördlichen Gebiet und Tiberias in Galiläa sind ganz in der Art des Herodes hellenisch geordnet; charakteristisch ist die Ächtung, welche die jüdischen Rabbis wegen eines bei der Anlage von Tiberias gefundenen Grabes über die unreine Stadt verhängten.

Das Hauptland, Judäa nebst Samaria nördlich und Idumäa südlich, bekam nach dem Willen des Vaters Archelaos. Aber den Wünschen der Nation entsprach diese Erbfolge nicht. Die Orthodoxen, das heißt die Pharisäer, beherrschten so gut wie ausschließlich die Masse, und wenn bisher die Furcht des Herrn einigermaßen niedergehalten war durch die Furcht vor dem rücksichtslos energischen König, so stand doch der Sinn der großen Majorität der Juden darauf, unter der Schirmherrschaft Roms das reine gottselige Priesterregiment wieder herzustellen, wie es einst die persischen Beamten eingerichtet hatten. Unmittelbar nach dem Tode des alten Königs hatten die Massen in Jerusalem sich zusammengerottet, um die Beseitigung des von Herodes ernannten Hohenpriesters und die Ausweisung der Ungläubigen aus der heiligen Stadt zu verlangen, wo eben das Passah gefeiert werden sollte; Archelaos hatte sein Regiment damit beginnen müssen auf diese Massen einhauen zu lassen; man zählte eine Menge Tote, und die Festfeier unterblieb. Der römische Statthalter von Syrien – derselbe Varus, dessen Unverstand bald darauf den Römern Germanien kostete –, dem es zunächst oblag, während des Interregnums die Ordnung im Lande aufrecht zu halten, hatte diesen in Jerusalem meuternden Haufen gestattet nach Rom, wo eben über die Besetzung des jüdischen Thrones verhandelt ward, eine Deputation von fünfzig Personen zu entsenden, um die Abschaffung des Königtums zu erbitten, und als Augustus diese vorließ, gaben achttausend hauptstädtische Juden ihr das Geleit zum Tempel des Apollo. Die fanatisierten Juden daheim fuhren inzwischen fort, sich selber zu helfen; die römische Besatzung, die in den Tempel gelegt war, wurde mit stürmender Hand angegriffen, und fromme Räuberscharen erfüllten das Land; Varus mußte die Legionen ausrücken lassen und mit dem Schwert die Ruhe wieder herstellen. Es war eine Warnung für den Oberherrn, eine nachträgliche Rechtfertigung für König Herodes gewalttätiges, aber wirksames Regiment. Aber mit der ganzen Schwächlichkeit, welche er namentlich in späteren Jahren sooft bewies, wies Augustus allerdings die Vertreter jener fanatischen Massen mit ihrem Begehren ab, übergab aber, im wesentlichen das Testament des Herodes ausführend, die Herrschaft in Jerusalem dem Archelaos, gemindert um den königlichen Titel, den Augustus dem unerprobten jungen Mann zur Zeit nicht zugestehen mochte, ferner gemindert um die nördlichen Gebiete und mit der Abnahme der Grenzverteidigung auch in der militärischen Stellung herabgedrückt. Daß auf Augustus Veranlassung die unter Herodes hochgespannten Steuern herabgesetzt wurden, konnte die Stellung des Vierfürsten wenig bessern. Archelaos persönliche Unfähigkeit und Unwürdigkeit brauchten kaum noch hinzuzutreten, um ihn unmöglich zu machen; wenige Jahre darauf (6 n. Chr.) sah Augustus selbst sich genötigt, ihn abzusetzen. Nun tat er nachträglich jenen Meuterern ihren Willen: das Königtum wurde abgeschafft und das Land einerseits in unmittelbare römische Verwaltung genommen, andererseits, soweit neben dieser ein inneres Regiment zugelassen ward, dasselbe dem Senat von Jerusalem übergeben. Bei diesem Verfahren mögen allerdings teils früher in betreff der Erbfolge von Augustus dem Herodes gegebene Zusicherungen mitbestimmend gewesen sein, teils die mehr und mehr hervortretende und im allgemeinen wohl gerechtfertigte Abneigung der Reichsregierung gegen größere einigermaßen selbständig sich bewegende Klientelstaaten. Was in Galatien, in Kappadokien, in Mauretanien kurz vorher oder bald nachher geschah, erklärt, warum auch in Palästina das Reich des Herodes ihn selbst kaum überdauerte. Aber wie in Palästina das unmittelbare Regiment geordnet ward, war es auch administrativ ein arger Rückschritt gegen das herodische; vor allem aber lagen hier die Verhältnisse so eigenartig und so schwierig, daß die allerdings von der Priesterpartei selbst hartnäckig erstrebte und schließlich erlangte unmittelbare Berührung der regierenden Römer und der regierten Juden weder diesen noch jenen zum Segen gereichte. Judäa wurde somit im J. 6 n. Chr. eine römische Provinz zweiten Ranges und ist, abgesehen von der ephemeren Restauration des jerusalemischen Königreichs unter Claudius in den J. 41 bis 44, seitdem römische Provinz geblieben. An die Stelle des bisherigen lebenslänglichen und, unter Vorbehalt der Bestätigung durch die römische Regierung, erblichen Landesfürsten trat ein vom Kaiser auf Widerruf ernannter Beamter aus dem Ritterstand. Der Sitz der römischen Verwaltung wurde, wahrscheinlich sofort, die von Herodes nach hellenischem Muster umgebaute Hafenstadt Cäsarea. Die Befreiung des Landes von römischer Besatzung fiel selbstverständlich weg, aber, wie durchgängig in den Provinzen zweiten Ranges, bestand die römische Truppenmacht nur aus einer mäßigen Zahl von Reiter- und Fußabteilungen der geringeren Kategorie; späterhin lagen dort eine Ala und fünf Kohorten, etwa 3000 Mann. Diese Truppen wurden vielleicht von dem früheren Regiment übernommen, wenigstens zum großen Teil im Lande selbst, jedoch meist aus Samaritanern und syrischen Griechen gebildet. Legionarbesatzung erhielt die Provinz nicht, und auch in den Judäa benachbarten Gebieten stand höchstens eine von den vier syrischen Legionen. Nach Jerusalem kam ein ständiger römischer Kommandant, der in der Königsburg seinen Sitz nahm, mit einer schwachen ständigen Besatzung; nur während der Passahzeit, wo das ganze Land und unzählige Fremde nach dem Tempel strömten, lag eine stärkere Abteilung römischer Soldaten in einer zum Tempel gehörigen Halle. Daß mit der Einrichtung der Provinz die Steuerpflichtigkeit Rom gegenüber eintrat, folgt schon daraus, daß die Kosten der Landesverteidigung damit auf die Reichsregierung übergingen. Nachdem diese bei der Einsetzung des Archelaos eine Herabsetzung der Abgaben veranlaßt hatte, ist es wenig wahrscheinlich, daß sie bei der Einziehung des Landes eine sofortige Erhöhung derselben in Aussicht nahm; wohl aber wurde, wie in jedem neu erworbenen Gebiet, zu einer Revision der bisherigen Katastrierung geschritten.

Für die einheimischen Behörden wurden in Judäa, wie überall, soweit möglich, die Stadtgemeinden zum Fundament genommen. Samaria oder, wie die Stadt jetzt heißt, Sebaste, das neu angelegte Cäsarea und die sonstigen in dem ehemaligen Reich des Archelaos enthaltenen städtischen Gemeinden verwalteten unter Aufsicht der römischen Behörde sich selbst. Auch das Regiment der Hauptstadt mit dem großen dazugehörigen Gebiet wurde in ähnlicher Weise geordnet. Schon in vorrömischer Zeit unter den Seleukiden hatte sich, wie wir sahen, in Jerusalem ein Rat der Ältesten gebildet, das Synhedrion oder judaisiert der Sanhedrin. Den Vorsitz darin führte der Hochpriester, welchen der jedesmalige Herr des Landes, wenn er nicht etwa selber Hochpriester war, auf Zeit bestellte. Dem Kollegium gehörten die gewesenen Hochpriester und angesehene Gesetzkundige an. Diese Versammlung, in der das aristokratische Element überwog, funktionierte als höchste geistliche Vertretung der gesamten Judenschaft und, soweit diese davon nicht zu trennen war, auch als die weltliche Vertretung insbesondere der Gemeinde von Jerusalem. Zu einer geistlichen Institution mosaischer Satzung hat das Synhedrion von Jerusalem erst der spätere Rabbinismus durch fromme Fiktion umgestempelt. Er entsprach wesentlich dem Rat der griechischen Stadtverfassung, trug aber allerdings seiner Zusammensetzung wie seinem Wirkungskreise nach einen mehr geistlichen Charakter, als er den griechischen Gemeindevertretungen zukommt. Diesem Synhedrion und seinem Hochpriester, den jetzt als Vertreter des kaiserlichen Landesherrn der Prokurator ernannte, ließ oder übertrug die römische Regierung diejenige Kompetenz, welche in den hellenischen Untertanengemeinden den städtischen Behörden und den Gemeinderäten zukam. Sie ließ mit gleichgültiger Kurzsichtigkeit dem transzendentalen Messianismus der Pharisäer freien Lauf und dem bis zum Eintreffen des Messias fungirenden keineswegs transzendentalen Landeskonsistorium ziemlich freies Schalten in Angelegenheiten des Glaubens, der Sitte und des Rechts, wo die römischen Interessen dadurch nicht geradezu berührt wurden. Insbesondere betraf dies die Rechtspflege. Zwar soweit es sich dabei um römische Bürger handelte, wird die Justiz in Zivil- wie in Kriminalsachen den römischen Gerichten sogar schon vor der Einziehung des Landes vorbehalten gewesen sein. Aber die Ziviljustiz über die Juden blieb auch nach derselben hauptsächlich der örtlichen Behörde. Die Kriminaljustiz über dieselben übte diese wahrscheinlich im allgemeinen konkurrierend mit dem römischen Prokurator; nur Todesurteile konnte sie nicht anders vollstrecken lassen als nach Bestätigung durch den kaiserlichen Beamten.

Im wesentlichen waren diese Anordnungen die unabweisbaren Konsequenzen der Abschaffung des Fürstentums, und indem die Juden diese erbaten, erbaten sie in der Tat jene mit. Gewiß war es auch die Absicht der Regierung Härte und Schroffheit bei der Durchführung soweit möglich zu vermeiden. Publius Sulpicius Quirinius, dem als Statthalter von Syrien die Einrichtung der neuen Provinz übertragen ward, war ein angesehener und mit den Verhältnissen des Orients genau vertrauter Beamter, und alle Einzelberichte bestätigen redend oder schweigend, daß man die Schwierigkeiten der Verhältnisse kannte und darauf Rücksicht nahm. Die örtliche Prägung der Kleinmünze, wie sie früher die Könige geübt hatten, ging jetzt auf den Namen des römischen Herrschers; aber der jüdischen Bilderscheu wegen wurde nicht einmal der Kopf des Kaisers auf die Münzen gesetzt. Das Betreten des inneren Tempelraumes blieb jedem Nichtjuden untersagt bei Todesstrafe. Wie ablehnend Augustus sich persönlich gegen die orientalischen Kulte verhielt, er verschmähte es hier so wenig wie in Ägypten sie in ihrer Heimat mit dem Kaiserregiment zu verknüpfen; prachtvolle Geschenke des Augustus, der Livia und anderer Glieder des kaiserlichen Hauses schmückten das Heiligtum der Juden, und nach kaiserlicher Stiftung rauchte täglich dort dem »höchsten Gott« das Opfer eines Stiers und zweier Lämmer. Die römischen Soldaten wurden angewiesen, wenn sie in Jerusalem Dienst hatten, die Feldzeichen mit den Kaiserbildern in Cäsarea zu lassen, und als ein Statthalter unter Tiberius davon abging, entsprach die Regierung schließlich den flehenden Bitten der Frommen und ließ es bei dem Alten. Ja als auf einer Expedition gegen die Araber die römischen Truppen durch Jerusalem marschieren sollten, erhielten sie infolge der Bedenken der Priester gegen die Bilder an den Feldzeichen eine andere Marschroute. Als eben jener Statthalter dem Kaiser an der Königsburg in Jerusalem Schilde ohne Bildwerke weihte und die Frommen auch daran Ärgernis nahmen, befahl Tiberius dieselben abzunehmen und an dem Augustustempel in Cäsarea aufzuhängen. Das Festgewand des Hohenpriesters, das sich auf der Burg in römischem Gewahrsam befand und daher vor der Anlegung erst sieben Tage lang von solcher Entweihung gereinigt werden mußte, wurde den Gläubigen auf ihre Beschwerde ausgeliefert und der Kommandant der Burg angewiesen, sich nicht weiter um dasselbe zu bekümmern. Allerdings konnte von der Menge nicht verlangt werden, daß sie darum die Folgen der Einverleibung weniger schwer empfand, weil sie selbst dieselbe herbeigeführt hatte. Auch soll nicht behauptet werden, daß die Einziehung des Landes für die Bewohner ohne Bedrückung abging und daß sie keinen Grund hatten, sich zu beschweren; diese Einrichtungen sind nirgends ohne Schwierigkeiten und Ruhestörungen durchgeführt worden. Ebenso wird die Anzahl der Unrechtfertigkeiten und Gewalttätigkeiten, welche einzelne Statthalter begingen, in Judäa nicht geringer gewesen sein als anderswo. Schon im Anfang der Regierung des Tiberius klagten die Juden wie die Syrer über Steuerdruck; insbesondere der langjährigen Verwaltung des Pontius Pilatus werden von einem nicht unbilligen Beurteiler alle üblichen Beamtenfrevel zur Last gelegt. Aber Tiberius hat, wie derselbe Jude sagt, in den dreiundzwanzig Jahren seiner Regierung die althergebrachten heiligen Gebräuche aufrecht gehalten und in keinem Teile sie beseitigt oder verletzt. Es ist dies um so mehr anzuerkennen, als derselbe Kaiser im Okzident so nachdrücklich wie kein anderer gegen die Juden einschritt und also die in Judäa von ihm bewiesene Langmut und Zurückhaltung nicht auf persönliche Begünstigung des Judentums zurückgeführt werden kann.

Trotz alledem entwickelten sich gegen die römische Regierung die prinzipielle Opposition wie die gewaltsame Selbsthilfe der Gläubigen, beide schon in dieser Zeit des Friedens. Die Steuerzahlung ward nicht etwa bloß, weil sie drückte, sondern als gottlos angefochten. »Ist es erlaubt«, fragt der Rabbi im Evangelium, »dem Cäsar den Zensus zu zahlen?« Die ironische Antwort, die er empfing, genügte doch nicht allen; es gab Heilige, wenn auch wohl nicht in großer Zahl, welche sich verunreinigt meinten, wenn sie eine Münze mit dem Kaiserbild anrührten. Dies war etwas Neues, ein Fortschritt der Oppositionstheologie; die Könige Seleukos und Antiochos waren doch auch nicht beschnitten gewesen und hatten ebenfalls Tribut empfangen in Silberstücken ihres Bildnisses. Also war die Theorie; die praktische Anwendung davon machte allerdings nicht der hohe Rat von Jerusalem, in welchem unter dem Einfluß der Reichsregierung die gefügigeren Vornehmen des Landes stimmführend waren, aber Judas der Galiläer aus Gamala am See von Genezareth, welcher, wie Gamaliel diesem hohen Rat später in Erinnerung brachte, »in den Tagen der Schätzung aufstand, und hinter ihm erhob sich das Volk zum Abfall«. Er sprach es aus, was alle dachten, daß die sogenannte Schätzung die Knechtschaft und es eine Schande sei für den Juden, einen anderen Herrn über sich zu erkennen als den Herrn Zebaoth; dieser aber helfe nur denen, die sich selber hülfen. Wenn nicht viele seinem Ruf zu den Waffen folgten und er nach wenigen Monaten auf dem Blutgerüst endigte, so war der heilige Tote den unheiligen Siegern gefährlicher als der Lebende. Er und die Seinigen gelten den späteren Juden neben den Sadduzäern, Pharisäern und Essäern als die vierte »Schule«; damals hießen sie die Eiferer, später nennen sie sich die Sikarier, die Messermänner. Ihre Lehre ist einfach: Gott allein ist Herr, der Tod gleichgültig, die Freiheit eines und alles. Diese Lehre blieb, und des Judas Kinder und Enkel wurden die Führer der späteren Insurrektionen.

Wenn die römische Regierung der Aufgabe, diese explosiven Elemente nach Möglichkeit niederzuhalten, unter den ersten beiden Regenten im ganzen genommen geschickt und geduldig genügt hatte, so führte der zweite Thronwechsel hart an die Katastrophe. Derselbe ward wie im ganzen Reich, so auch von den Juden in Jerusalem wie in Alexandreia mit Jubel begrüßt und nach dem menschenscheuen und unbeliebten Greise der neue jugendliche Herrscher Gaius dort wie hier in überschwänglicher Weise gefeiert. Aber rasch entwickelte sich aus nichtswürdigen Anlässen ein furchtbares Zerwürfnis. Ein Enkel des ersten Herodes und der schönen Mariamme, nach dem Beschützer und Freunde seines Großvaters Herodes Agrippa genannt, unter den zahlreichen in Rom lebenden orientalischen Fürstensöhnen ungefähr der geringfügigste und heruntergekommenste, aber dennoch oder eben darum der Günstling und der Jugendfreund des neuen Kaisers, bis dahin lediglich bekannt durch seine Liederlichkeit und seine Schulden, hatte von seinem Beschützer, dem er zuerst die Nachricht von dem Tode des Tiberius hatte überbringen können, eines der vakanten jüdischen Kleinfürstentümer zum Geschenk und dazu den Königstitel erhalten. Dieser kam im J. 38 auf der Reise in sein neues Reich nach der Stadt Alexandreia, wo er wenige Monate vorher als ausgerissener Wechselschuldner versucht hatte, bei den jüdischen Bankiers zu borgen. Als er im Königsgewand mit seinen prächtig staffierten Trabanten sich dort öffentlich zeigte, regte dies begreiflicherweise die nichtjüdische und den Juden nichts weniger als wohlwollende Bewohnerschaft der großen spott- und skandallustigen Stadt zu einer entsprechenden Parodie an, und bei dieser blieb es nicht. Es kam zu einer grimmigen Judenhetze. Die zerstreut liegenden Judenhäuser wurden ausgeraubt und verbrannt, die im Hafen liegenden jüdischen Schiffe geplündert, die in den nicht jüdischen Quartieren betroffenen Juden mißhandelt und erschlagen. Aber gegen die rein jüdischen Quartiere vermochte man mit Gewalt nichts auszurichten. Da gerieten die Führer auf den Einfall, die Synagogen, auf die es vor allem abgesehen war, soweit sie noch standen, sämtlich zu Tempeln des neuen Herrschers zu weihen und Bildsäulen desselben in allen, in der Hauptsynagoge eine solche auf einem Viergespann, aufzustellen. Daß Kaiser Gaius so ernsthaft, wie sein verwirrter Geist es vermochte, sich für einen wirklichen und leibhaften Gott hielt, wußte alle Welt und die Juden und der Statthalter auch. Dieser, Avillius Flaccus, ein tüchtiger Mann und unter Tiberius ein vortrefflicher Verwalter, aber jetzt gelähmt durch die Ungnade, in welcher er bei dem neuen Kaiser stand und jeden Augenblick der Abberufung und der Anklage gewärtig, verschmähte es nicht, die Gelegenheit zu seiner Rehabilitierung zu benutzen. Er befahl nicht bloß durch Edikt der Aufstellung der Statuen in den Synagogen kein Hindernis in den Weg zu legen, sondern er ging geradezu auf die Judenhetze ein. Er verordnete die Abschaffung des Sabbats. Er erklärte weiter in seinen Erlassen, daß diese geduldeten Fremden sich unerlaubterweise des besten Teils der Stadt bemächtigt hätten; sie wurden auf ein einziges der fünf Quartiere beschränkt und alle übrigen Judenhäuser dem Pöbel preisgegeben, während die ausgetriebenen Bewohner massenweise obdachlos am Strande lagen. Kein Widerspruch wurde auch nur angehört; achtunddreißig Mitglieder des Rats der Ältesten, welcher damals anstatt des Ethnarchen der Judenschaft vorstand, wurden im offenen Zirkus vor allem Volke gestäupt. Vierhundert Häuser lagen in Trümmern; Handel und Wandel stockte; die Fabriken standen still. Es blieb keine Hilfe als bei dem Kaiser. Vor ihm erschienen die beiden alexandrinischen Deputationen, die der Juden geführt von dem früher erwähnten Philon, einem Gelehrten der neujüdischen Richtung und mehr sanftmütigen als tapferen Herzens, der aber doch für die Seinen in dieser Bedrängnis getreulich eintrat; die der Judenfeinde geführt von Apion, auch einem alexandrinischen Gelehrten und Schriftsteller, der »Weltschelle«, wie Kaiser Tiberius ihn nannte, voll großer Worte und noch größerer Lügen, von dreistester Allwissenheit und unbedingtem Glauben an sich selbst, wenn nicht der Menschen, doch ihrer Nichtswürdigkeit kundig, ein gefeierter Meister der Rede wie der Volksverführung, schlagfertig, witzig, unverschämt und unbedingt loyal. Das Ergebnis der Verhandlung stand von vornherein fest; der Kaiser ließ die Parteien vor, während er die Anlagen in seinen Gärten besichtigte, aber statt den Flehenden Gehör zu geben, legte er ihnen spöttische Fragen vor, die die Judenfeinde, aller Etikette zum Trotz, mit lautem Gelächter begleiteten, und da er bei guter Laune war, beschränkte er sich darauf, sein Bedauern auszusprechen, daß diese im übrigen guten Leute so unglücklich organisiert seien, seine angeborene Gottesnatur nicht begreifen zu können, womit es ihm ohne Zweifel ernst war. Apion also bekam Recht, und überall, wo es den Judenfeinden beliebte, wandelten die Synagogen sich um in Tempel des Gaius.

Aber es blieb nicht bei diesen durch die alexandrinische Straßen-Jugend eingeleiteten Dedikationen. Im J. 39 bekam der Statthalter von Syrien Publius Petronius vom Kaiser den Befehl, mit seinen Legionen in Jerusalem einzurücken und in dem Tempel die Bildsäule des Kaisers aufzurichten. Der Statthalter, ein ehrbarer Beamter aus der Schule des Tiberius, erschrak; die Juden aus dem ganzen Lande, Männer und Frauen, Greise und Kinder, strömten zu ihm, erst nach Ptolemais in Syrien, dann nach Tiberias in Galiläa, ihn um seine Vermittlung anzuflehen, daß das Entsetzliche unterbleiben möge; die Äcker im ganzen Lande wurden nicht bestellt, und die verzweifelten Massen erklärten, lieber den Tod durch das Schwert oder den Hunger dulden als diesen Greuel mit Augen sehen zu wollen. In der Tat wagte der Statthalter die Ausführung zu verzögern und Gegenvorstellungen zu machen, obwohl er wußte, daß es dabei um seinen Kopf ging. Zugleich ging jener König Agrippa persönlich nach Rom, um von seinem Freunde die Rücknahme des Befehls zu erwirken. In der Tat stand der Kaiser von seinem Begehren ab, man sagt infolge einer von dem jüdischen Fürsten geschickt benutzten Weinlaune. Aber er beschränkte zugleich die Konzession auf den einzigen Tempel von Jerusalem und sandte nichtsdestoweniger dem Statthalter wegen seines Ungehorsams das Todesurteil zu, das allerdings zufällig verspätet nicht mehr zur Ausführung kam. Gaius war entschlossen, die Renitenz der Juden zu brechen; das angeordnete Einrücken der Legionen zeigt, daß er diesmal die Folgen seines Befehls im voraus erwogen hatte. Seit jenen Vorgängen hatten die bereitwillig gottgläubigen Ägypter seine volle Liebe sowie die störrigen und einfältigen Juden den entsprechenden Haß; hinterhältig wie er war und gewohnt zu begnadigen, um später zu widerrufen, mußte das Ärgste nur verschoben erscheinen. Er war im Begriff nach Alexandreia abzugehen, um dort persönlich den Weihrauch seiner Altäre entgegenzunehmen und an der Statue, die er in Jerusalem sich aufzustellen gedachte, wurde, so sagt man, in aller Stille gearbeitet, als im Januar 41 der Dolch des Chärea unter anderem auch den Tempel des Jehova von dem Unhold befreite.

Äußere Folgen hinterließ die kurze Leidenszeit nicht; mit dem Gott sanken seine Altäre. Aber dennoch sind die Spuren davon nach beiden Seiten hin geblieben. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die des steigenden Hasses zwischen Juden und Nichtjuden, und darin bezeichnet die dreijährige Judenverfolgung unter Gaius einen Abschnitt und einen Fortschritt. Der Judenhaß und die Judenhetzen sind so alt wie die Diaspora selbst; diese privilegierten und autonomen orientalischen Gemeinden innerhalb der hellenischen mußten sie so notwendig entwickeln wie der Sumpf die böse Luft. Aber eine Judenhetze wie die alexandrinische des Jahres 38, motiviert durch das mangelhafte Hellenentum und dirigiert zugleich von der höchsten Behörde und dem niedrigen Pöbel, hat die ältere griechische wie römische Geschichte nicht aufzuweisen. Der weite Weg vom bösen Wollen des einzelnen zur bösen Tat der Gesamtheit war hiermit durchschritten, und es war gezeigt, was die also Gesinnten zu wollen und zu tun hatten und unter Umständen auch zu tun vermochten. Daß diese Offenbarung auch auf jüdischer Seite empfunden ward, ist nicht zu bezweifeln, obwohl wir dies mit Dokumenten nicht zu belegen vermögen. Aber weit tiefer als die alexandrinische Judenhetze haftete in den Gemütern der Juden die Bildsäule des Gottes Gaius im Allerheiligsten. Es war das schon einmal dagewesen: auf das gleiche Unterfangen des Königs von Syrien Antiochos Epiphanes war die Makkabäererhebung gefolgt und die siegreiche Wiederherstellung des freien nationalen Staates. Jener Epiphanes, der Antimessias, welcher den Messias herbeiführt, wie der Prophet Daniel ihn, allerdings nachträglich, gezeichnet hatte, war seitdem jedem Juden das Urbild der Greuel; es war nicht gleichgültig, daß die gleiche Vorstellung mit gleichem Recht sich an einen römischen Kaiser knüpfte oder vielmehr an das Bild des römischen Herrschers überhaupt. Seit jenem verhängnisvollen Erlaß kam die Sorge nicht zur Ruhe, daß ein anderer Kaiser das gleiche befehlen könne, und insofern allerdings mit Recht, als nach der Ordnung des römischen Staatswesens diese Verfügung lediglich von dem augenblicklichen Gutfinden des augenblicklich Regierenden abhing. Mit glühenden Farben zeichnet sich dieser jüdische Haß des Kaiserkultus und des Kaisertums selbst in der Apokalypse Johannis, für die hauptsächlich deswegen Rom das feile Weib von Babylon und der gemeine Feind der Menschheit ist. Noch minder gleichgültig war die naheliegende Parallele der Konsequenzen. Mattathias von Modein war auch nicht mehr gewesen als Judas der Galiläer, die Erhebung der Patrioten gegen den Syrerkönig ungefähr ebenso hoffnungslos wie die Insurrektion gegen das Untier jenseit des Meeres. Historische Parallelen in praktischer Anwendung sind gefährliche Elemente der Opposition; nur zu rasch geriet der Bau langjähriger Regierungsweisheit ins Schwanken.

Die Regierung des Claudius lenkte nach beiden Seiten hin in die Bahnen des Tiberius ein. In Italien wiederholte sich zwar nicht gerade die Ausweisung der Juden, da man von der Undurchführbarkeit dieser Maßregel sich überzeugen mußte, aber doch das Verbot der gemeinschaftlichen Ausübung ihres Kultus, was freilich ungefähr auf dasselbe hinaus und wohl ebensowenig zur Durchführung kam. Neben diesem Intoleranzedikt wurden im entgegengesetzten Sinn durch eine das ganze Reich umfassende Verfügung die Juden von denjenigen öffentlichen Verpflichtungen befreit, welche mit ihren religiösen Überzeugungen sich nicht vertrugen, womit namentlich hinsichtlich des Kriegsdienstes wohl nur nachgegeben ward, was auch bisher schon nicht hatte erzwungen werden können. Die in diesen Erlaß am Schluß ausgesprochene Mahnung an die Juden nun auch ihrerseits größere Mäßigung zu beobachten und sich der Beschimpfung Andersgläubiger zu enthalten zeigt, daß es auch von jüdischer Seite an Ausschreitungen nicht gefehlt hatte. In Ägypten wie in Palästina wurden die religiösen Ordnungen wenigstens im ganzen so, wie sie vor Gaius bestanden hatten, wiederum hergestellt, wenn auch in Alexandreia die Juden schwerlich alles, was sie besessen hatten, zurückerhielten; die aufständischen Bewegungen, die dort wie hier ausgebrochen oder doch im Ausbrechen waren, verschwanden damit von selbst. In Palästina ging Claudius sogar über das System des Tiberius hinaus und überwies wieder das ganze ehemalige Gebiet des Herodes einem einheimischen Fürsten, eben jenem Agrippa, der zufällig auch mit Claudius befreundet und bei den Krisen seines Antritts ihm nützlich geworden war. Es war sicher Claudius Absicht das zur Zeit des Herodes befolgte System wieder aufzunehmen und die Gefahren der unmittelbaren Berührung zwischen Römern und Juden zu beseitigen. Aber Agrippa, leichtlebig und auch als Fürst in steter Finanzbedrängnis, übrigens gutmütig und mehr darauf bedacht es seinen Untertanen als dem fernen Schutzherrn recht zu machen, gab mehrfach bei der Regierung Anstoß, zum Beispiel durch die Verstärkung der Mauern von Jerusalem, deren Weiterführung ihm untersagt ward; und die mit den Römern haltenden Städte Cäsarea und Sebaste sowie die römisch organisierten Truppen waren ihm abgeneigt. Als er früh und plötzlich im J. 44 starb, erschien es bedenklich, die politisch wie militärisch wichtige Stellung seinem einzigen siebzehnjährigen Sohn zu übertragen und die einträglichen Prokurationen aus der Hand zu geben entschlossen die Mächtigen des Kabinetts sich auch nicht gern. Die claudische Regierung hatte hier, wie anderswo, das Richtige gefunden, aber nicht die Energie, dasselbe von Nebenrücksichten absehend durchzuführen. Ein jüdischer Fürst mit jüdischen Soldaten konnte das Regiment in Judäa für die Römer handhaben; der römische Beamte und die römischen Soldaten verletzten wahrscheinlich noch öfter durch Unkunde der jüdischen Anschauungen als durch absichtliches Zuwiderhandeln, und was sie immer beginnen mochten, von ihnen war es den Gläubigen ein Ärgernis und der gleichgültigste Vorgang ein Religionsfrevel. Die Forderung, sich gegenseitig zu verstehen und zu vertragen, war nach beiden Seiten hin ebenso gerechtfertigt an sich wie die Ausführung unmöglich. Vor allen Dingen aber war ein Konflikt zwischen dem jüdischen Landesherrn und seinen Untertanen für das Reich ziemlich indifferent; jeder Konflikt zwischen den Römern und den Juden in Jerusalem erweiterte den Abgrund, der sich zwischen den Völkern des Okzidents und den mit ihnen zusammen lebenden Hebräern auftat; und nicht in den Händeln Palästinas, sondern in der Unverträglichkeit der vom Schicksal! nun doch einmal zusammengekoppelten Reichsgenossen verschiedener Nationalität lag die Gefahr.

So trieb das Schiff unaufhaltsam in den Strudel hinein. Bei dieser unseligen Fahrt halfen alle Beteiligten, die römische Regierung und ihre Verwalter, die jüdischen Behörden und das jüdische Volk. Die erstere bewies freilich fortwährend den Willen allen billigen und unbilligen Ansprüchen der Juden soweit wie möglich entgegenzukommen. Als im J. 44 der Prokurator wieder in Jerusalem eintrat, wurde die Ernennung des Hohenpriesters und die Verwaltung des Tempelschatzes, die mit dem Königtum und insofern auch mit der Prokuratur verbunden waren, ihm abgenommen und einem Bruder des verstorbenen Königs Agrippa, dem König Herodes von Chalkis sowie nach dessen Tode im J. 48 seinem Nachfolger, dem schon genannten jüngeren Agrippa, übertragen. Einen römischen Soldaten, der bei der befohlenen Plünderung eines jüdischen Dorfes eine Thorarolle zerrissen hatte, ließ der römische Oberbeamte auf die Klage der Juden hin hinrichten. Selbst die höheren Beamten traf nach Umständen die ganze Schwere der römischen Kaiserjustiz; als zwei nebeneinander fungierende Prokuratoren bei dem Hader der Samariter und der Galiläer sich für und wider beteiligt und ihre Soldaten gegeneinander gefochten hatten, wurde der kaiserliche Statthalter von Syrien Ummidius Quadratus mit außerordentlicher Vollmacht nach Palästina geschickt, um zu strafen und zu richten und in der Tat der eine der Schuldigen in die Verbannung gesandt, ein römischer Kriegstribun namens Celer in Jerusalem selbst öffentlich enthauptet. Aber neben diesen Exempeln der Strenge stehen andere der mitschuldigen Schwäche; in eben diesem Prozeß entging der zweite mindestens ebenso schuldige Prokurator Autonius Felix der Bestrafung, weil er der Bruder des mächtigen Bedienten Pallas war und der Gemahl der Schwester des Königs Agrippa. Mehr noch als die Amtsmißbräuche einzelner Verwalter muß es der Regierung zur Last gelegt werden, daß sie die Beamtenmacht und die Truppenzahl in einer so beschaffenen Provinz nicht verstärkte und fortfuhr, die Besatzung fast ausschließlich aus der Provinz zu rekrutieren. Unbedeutend wie die Provinz war, war es eine arge Kopflosigkeit und eine übel angebrachte Sparsamkeit sie nach der hergebrachten Schablone zu behandeln; rechtzeitige Entfaltung einer erdrückenden Übermacht und unnachsichtliche Strenge, ein Statthalter höheren Ranges und ein Legionslager hätten der Provinz wie dem Reiche große Opfer an Geld und Blut und Ehre erspart.

Aber mindestens nicht geringer ist die Schuld der Juden. Das Hohenpriesterregiment, soweit es reichte – und die Regierung war nur zu geneigt in allen inneren Angelegenheiten ihm freie Hand zu lassen – ist, auch nach den jüdischen Berichten, zu keiner Zeit so gewalttätig und nichtswürdig geführt worden wie in der von Agrippas Tod bis zum Ausbruch des Krieges. Der bekannteste und einflußreichste dieser Priesterherrscher ist Ananias des Nebedäus Sohn, die »übertünchte Wand«, wie Paulus ihn nannte, als dieser geistliche Richter seine Schergen ihn auf den Mund schlagen hieß, weil er sich vor dem Gericht zu verteidigen wagte. Es wird ihm zur Last gelegt, daß er den Statthalter bestach und daß er durch entsprechende Interpretation der Schrift den niedrigen Geistlichen die Zehntgarben entfremdete. Als einer der Hauptanstifter des Krieges zwischen den Samaritern und den Galiläern hat er vor dem römischen Richter gestanden. Nicht weil die rücksichtslosen Fanatiker in den herrschenden Kreisen überwogen, sondern weil diesen Anzettlern der Volksaufläufe und Anordnern der Ketzergerichte die moralische und religiöse Autorität abging, wodurch die Gemäßigten in besseren Zeiten die Menge gelenkt hatten, und weil sie die Nachgiebigkeit der römischen Behörden in den inneren Angelegenheiten mißverstanden und mißbrauchten, vermochten sie es nicht zwischen der Fremdherrschaft und der Nation in friedlichem Sinn zu vermitteln. Eben unter ihrem Schalten wurden die römischen Behörden mit den wildesten und unvernünftigsten Forderungen bestürmt und kam es zu Volksbewegungen von grausiger Lächerlichkeit. Der Art ist jene Sturmpetition, welche das Blut eines römischen Soldaten wegen einer zerrissenen Gesetzrolle verlangte und erhielt. Ein anderes Mal entstand ein Volksauflauf, der vielen Menschen das Leben kostete, weil ein römischer Soldat dem Tempel einen Körperteil in unschicklicher Entblößung gezeigt hatte. Auch der beste der Könige hätte dergleichen Wahnwitz nicht unbedingt abwenden können; aber selbst der geringste Fürst würde der fanatischen Menge nicht so völlig steuerlos gegenübergestanden haben wie diese Priester. – Das eigentliche Ergebnis war das stetige Anschwellen der neuen Makkabäer. Man hat sich gewöhnt, den Ausbruch des Krieges in das Jahr 66 zu setzen; mit gleichem und vielleicht besserem Recht könnte man dafür das Jahr 44 nennen. Seit dem Tode Agrippas haben die Waffen in Judäa nicht geruht, und neben den örtlichen Fehden, die Juden und Juden miteinander ausfechten, geht beständig der Krieg her der römischen Truppen gegen die ausgetretenen Leute in den Gebirgen, die Eifrigen, wie die Juden sie nannten, nach römischer Bezeichnung die Räuber. Die Benennungen trafen beide zu; auch hier spielten neben den Fanatikern die verkommenen oder verkommenden Elemente der Gesellschaft ihre Rolle – war es doch nach dem Sieg einer der ersten Schritte der Zeloten die im Tempel bewahrten Schuldbriefe zu verbrennen. Jeder der tüchtigeren Prokuratoren, von dem ersten Cuspius Fadus an, säubert von ihnen das Land, und immer ist die Hydra gewaltiger wieder da. Fadus‘ Nachfolger, Tiberius Julius Alexander, selbst einer jüdischen Familie entsprossen, ein Neffe des obengenannten alexandrinischen Gelehrten Philon, ließ zwei Söhne Judas des Galiläers Jakob und Simon an das Kreuz schlagen; das war der Same des neuen Mattathias. Auf den Gassen der Städte predigten die Patrioten laut den Krieg, und nicht wenige folgten in die Wüste; den Friedfertigen aber und Verständigen, die sich weigerten mitzutun, zündeten diese Banden die Häuser an. Griffen die Soldaten dergleichen Banditen auf, so führten sie wieder angesehene Leute als Geißeln in die Berge; und sehr oft verstand die Behörde sich dazu, jene zu entlassen, um diese zu befreien. Gleichzeitig begannen in der Hauptstadt die »Messermänner« ihr unheimliches Handwerk; sie mordeten wohl auch um Geld – als ihr erstes Opfer wird der Priester Jonathan genannt, als ihr Auftraggeber dabei der römische Prokurator Felix –, aber womöglich zugleich als Patrioten römische Soldaten oder römisch gesinnte Landsleute. Wie hätten bei diesen Stimmungen die Wunder und Zeichen ausbleiben sollen und diejenigen, die betrogen oder betrügend die Massen damit fanatisierten? Unter Cuspius Fadus führte der Wundermann Theudas seine Getreuen dem Jordan zu, versichernd, daß die Wasser vor ihnen sich spalten würden und die nachsetzenden römischen Reiter verschlingen, wie zu den Zeiten des Königs Pharao. Unter Felix verhieß ein anderer Wundertäter, nach seiner Heimat der Ägypter genannt, daß die Mauern Jerusalems einstürzen würden, wie auf Josuas Posaunenstoß die von Jericho; und daraufhin folgten ihm 4000 Messermänner bis auf den Ölberg. Eben in der Unvernunft lag die Gefahr. Die große Masse der jüdischen Bevölkerung waren kleine Bauern, die im Schweiße ihres Angesichts ihre Felder pflügten und ihr Öl preßten, mehr Dorfleute als Städter, von geringer Bildung und gewaltigem Glauben, eng verwachsen mit den Freischaren in den Gebirgen und voll Ehrfurcht vor Jehova und seinen Priestern in Jerusalem wie voll Abscheu gegen die unreinen Fremden. Der Krieg war da, nicht ein Krieg zwischen Macht und Macht um die Übergewalt, nicht einmal eigentlich ein Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker um Wiedergewinnung der Freiheit; nicht verwegene Staatsmänner, fanatische Bauern haben ihn begonnen und geführt und mit ihrem Blute bezahlt. Es ist eine weitere Etappe in der Geschichte des nationalen Hasses; auf beiden Seiten schien das fernere Zusammenleben unmöglich und begegnete man sich in dem Gedanken der gegenseitigen Ausrottung.

Die Bewegung, durch welche die Aufläufe zum Krieg wurden, ging von Cäsarea aus. In dieser ursprünglich griechischen, dann von Herodes nach dem Muster der Alexanderkolonien umgeschaffenen und zur ersten Hafenstadt Palästinas entwickelten Stadtgemeinde wohnten Griechen und Juden, ohne Unterschied der Nation und der Konfession bürgerlich gleichberechtigt, die letzteren an Zahl und Besitz überlegen. Aber die Hellenen daselbst, nach dem Muster der Alexandriner und ohne Zweifel unter dem unmittelbaren Eindruck der Vorgänge des J. 38, bestritten im Wege der Beschwerde bei der obersten Stelle den jüdischen Gemeindegenossen das Bürgerrecht. Der Minister Neros, Burrus († 62 n. Chr.), gab ihnen Recht. Es war arg in einer auf jüdischem Boden und von einer jüdischen Regierung geschaffenen Stadt das Bürgerrecht zum Privilegium der Hellenen zu machen; aber es darf nicht vergessen werden, wie sich die Juden gegen die Römer eben damals verhielten, und wie nahe sie es den Römern legten, die römische Hauptstadt und das römische Hauptquartier der Provinz in eine rein hellenische Stadtgemeinde umzuwandeln. Die Entscheidung führte, wie begreiflich, zu heftigen Straßentumulten, wobei hellenischer Hohn und jüdischer Übermut namentlich in dem Kampf um den Zugang zur Synagoge sich ungefähr die Waage gehalten zu haben scheinen; die römischen Behörden griffen ein, selbstverständlich zu Ungunsten der Juden. Diese verließen die Stadt, wurden aber von dem Statthalter genötigt zurückzukehren und dann in einem Straßenauflauf sämtlich erschlagen (6. August 66). Dies hatte die Regierung allerdings nicht befohlen und sicher auch nicht gewollt; es waren Mächte entfesselt, denen sie selbst nicht mehr zu gebieten vermochte.

Wenn hier die Judenfeinde die Angreifenden waren, so waren dies in Jerusalem die Juden. Allerdings versichern deren Vertreter in der Erzählung dieser Vorgänge, daß der derzeitige Prokurator von Palästina, Gessius Florus, um der Anklage wegen seiner Mißverwaltung zu entgehen, durch das Übermaß der Peinigung eine Insurrektion habe hervorrufen wollen; und es ist kein Zweifel, daß die damaligen Statthalter in Nichtswürdigkeit und Bedrückung das übliche Maß beträchtlich überschritten. Aber wenn Florus einen solchen Plan in der Tat verfolgt hat, so mißlang er. Denn nach eben diesen Berichten beschwichtigten die Besonnenen und Besitzenden unter den Juden und mit ihnen der mit dem Tempelregiment betraute und eben damals in Jerusalem anwesende König Agrippa II. – er hatte inzwischen die Herrschaft von Chalkis mit derjenigen von Batanäa vertauscht – die Massen insoweit, daß die Zusammenrottungen und das Einschreiten dagegen sich innerhalb des seit Jahren landesüblichen Maßes hielten. Aber gefährlicher als der Straßenunfug und die Räuberpatrioten der Gebirge waren die Fortschritte der jüdischen Theologie. Das frühere Judentum hatte in liberaler Weise den Fremden die Pforten seines Glaubens geöffnet; es wurden zwar in den inneren Tempel nur die eigentlichen Religionsgenossen, aber als Proselyten des Tores in die äußeren Hallen jeder ohne weiteres zugelassen und auch dem Nichtjuden gestattet, hier zum Herrn Jehova seinerseits zu beten und Opfer darzubringen. So wurde, wie schon erwähnt ward, auf Grund einer Stiftung des Augustus täglich daselbst für den römischen Kaiser geopfert. Diese Opfer von Nichtjuden untersagte der derzeitige Tempelmeister, des obengenannten Erzpriesters Ananias Sohn Eleazar, ein junger vornehmer leidenschaftlicher Mann, persönlich unbescholten und brav und insofern der volle Gegensatz seines Vaters, aber durch seine Tugenden gefährlicher als dieser durch seine Laster. Vergeblich wies man ihm nach, daß dies ebenso beleidigend für die Römer wie gefährlich für das Land und dem Herkommen schlechterdings zuwider sei; es blieb bei der verbesserten Frömmigkeit und der Ausschließung des Landesherrn vom Gottesdienst. Seit langem hatte das gläubige Judentum sich gespalten in diejenigen, die ihr Vertrauen auf den Herrn Zebaoth allein setzten und die Römerherrschaft ertrugen, bis es ihm gefallen werde, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, und in die praktischeren Männer, welche dieses Himmelreich mit eigener Hand zu begründen entschlossen waren und des Beistandes des Herrn der Heerscharen bei dem frommen Werke sich versichert hielten, oder mit den Schlagwörtern in die Pharisäer und die Zeloten. Die Zahl und das Ansehen der letzteren war in beständigem Steigen. Es wurde ein alter Spruch entdeckt, daß um diese Zeit ein Mann von Judäa ausgehen werde und die Weltherrschaft gewinnen; man glaubte das um so eher, weil es so sehr absurd war, und das Orakel trug nicht wenig dazu bei, die Massen weiter zu fanatisieren.

Die gemäßigte Partei erkannte die Gefahr und entschloß sich, die Fanatiker mit Gewalt niederzuschlagen; sie bat um Truppen bei den Römern in Cäsarea und bei König Agrippa. Von dort kam keine Unterstützung; Agrippa sandte eine Anzahl Reiter. Dagegen strömten die Patrioten und die Messermänner in die Stadt, unter ihnen der wildeste Manahem, auch einer der Söhne des oft genannten Judas von Galiläa. Sie waren die Stärkeren und bald Herren in der ganzen Stadt. Auch die Handvoll römischer Soldaten, welche die an den Tempel anstoßende Burg besetzt hielten, wurde rasch überwältigt und niedergemacht. Der benachbarte Königspalast, mit den dazugehörigen gewaltigen Türmen, wo der Anhang der Gemäßigten, eine Anzahl Römer unter dem Tribunen Metilius und die Soldaten des Agrippa lagen, hielt ebensowenig Stand. Den letzteren wurde auf ihr Verlangen zu kapitulieren der freie Abzug bewilligt, den Römern aber verweigert; als sie sich endlich gegen Zusicherung des Lebens ergaben, wurden sie erst entwaffnet und dann niedergemacht mit einziger Ausnahme des Offiziers, der sich beschneiden zu lassen versprach und so als Jude begnadigt ward. Auch die Führer der Gemäßigten, unter ihnen der Vater und der Bruder Eleazars, wurden die Opfer der Volkswut, die den Römergenossen noch grimmiger grollte als den Römern. Eleazar selbst erschrak vor seinem Siege; zwischen den beiden Führern der Fanatiker, ihm und Manahem kam es nach dem Sieg, vielleicht wegen der gebrochenen Kapitulation, zum blutigen Handgemenge; Manahem wurde gefangen und hingerichtet. Aber die heilige Stadt war frei und das in Jerusalem lagernde römische Detachement vernichtet; die neuen Makkabäer hatten gesiegt wie die alten.

So hatten, angeblich am selben Tag, dem 6. August 66, die Nichtjuden in Cäsarea die Juden, die Juden in Jerusalem die Nichtjuden niedergemetzelt; und damit war nach beiden Seiten hin das Signal gegeben, in diesem patriotischen und gottgefälligen Werke fortzufahren. In den benachbarten griechischen Städten entledigten sich die Hellenen der Judenschaften nach dem Muster von Cäsarea. Beispielsweise wurden in Damaskos sämtliche Juden zunächst ins Gymnasium gesperrt und auf die Kunde von einem Mißerfolg der römischen Waffen vorsichtigerweise sämtlich umgebracht. Gleiches oder Ähnliches geschah in Askalon, in Skytopolis, Hippos, Gadara, überall wo die Hellenen die Stärkeren waren. In dem überwiegend von Syrern bewohnten Gebiet des Königs Agrippa rettete dessen energisches Dazwischentreten den Juden von Cäsarea Paneas und sonst das Leben. In Syrien folgten Ptolemais, Tyros und mehr oder minder die übrigen griechischen Gemeinden; nur die beiden größten und zivilisiertesten Städte Antiocheia und Apameia sowie Sidon schlossen sich aus. Dem ist es wohl zu verdanken, daß diese Bewegung sich nicht nach Vorderasien fortpflanzte. In Ägypten kam es nicht bloß zu einem Volksauflauf, der zahlreiche Opfer forderte, sondern die alexandrinischen Legionen selbst mußten auf die Juden einhauen. – Im notwendigen Rückschlag dieser Judenvesper ergriff die in Jerusalem siegreiche Insurrektion sofort ganz Judäa und organisierte sich überall unter ähnlicher Mißhandlung der Minoritäten, übrigens aber mit Raschheit und Energie.

Es war notwendig schleunigst einzuschreiten und die weitere Ausbreitung des Brandes zu verhindern; auf die erste Kunde marschierte der römische Statthalter von Syrien Gaius Cestius Gallus mit seinen Truppen gegen die Insurgenten. Er führte etwa 20 000 Mann römischer Soldaten und 13 000 der Klientelstaaten heran, ungerechnet die zahlreichen syrischen Milizen, nahm Ioppe ein, dessen ganze Bürgerschaft niedergemacht ward, und stand schon im September vor, ja in Jerusalem selbst. Aber die gewaltigen Mauern des Königspalastes und des Tempels vermochte er nicht zu brechen und nutzte ebensowenig die mehrfach gebotene Gelegenheit, durch die gemäßigte Partei in den Besitz der Stadt zu gelangen. Ob nun die Aufgabe unlösbar oder er ihr nicht gewachsen war, er gab bald die Belagerung auf und erkaufte sogar den beschleunigten Rückzug mit der Aufopferung seines Gepäcks und seiner Nachhut. Zunächst blieb also oder kam Judäa mit Einschluß von Idumäa und Galiläa in die Hand der erbitterten Juden; auch die samaritanische Landschaft ward zum Anschluß genötigt. Die überwiegend hellenischen Küstenstädte Anthedon und Gaza wurden zerstört, Cäsarea und die anderen Griechenstädte mit Mühe behauptet. Wenn der Aufstand nicht über die Grenzen Palästinas hinausging, so war daran nicht die Regierung Schuld, sondern die nationale Abneigung der Syrohellenen gegen die Juden.

Die Regierung in Rom nahm die Dinge ernst, wie sie es waren. Anstatt des Prokurators wurde ein kaiserlicher Legat nach Palästina gesandt, Titus Flavius Vespasianus, ein besonnener Mann und ein erprobter Soldat. Er erhielt für die Kriegführung zwei Legionen des Westens, welche infolge des parthischen Krieges sich zufällig noch in Asien befanden, und diejenige syrische, die bei der unglücklichen Expedition des Cestius am wenigsten gelitten hatte, während die syrische Armee unter dem neuen Statthalter Gaius Licinius Mucianus – Gallus war rechtzeitig gestorben – durch Zuteilung einer anderen Legion auf dem Stande blieb, den sie vorher hatte. Zu diesen Bürgertruppen und deren Auxilien kam die bisherige Besatzung von Palästina, endlich die Mannschaften der vier Klientelkönige der Kommagener, der Hemesener, der Juden und der Nabatäer, zusammen etwa 50 000 Mann, darunter 15 000 Königssoldaten. Im Frühling des J. 67 wurde dieses Heer bei Ptolemais zusammengezogen und rückte in Palästina ein. Nachdem die Insurgenten von der schwachen römischen Besatzung der Stadt Askalon nachdrücklich abgewiesen waren, hatten sie nicht weiter die Städte angegriffen, die es mit den Römern hielten; die Hoffnungslosigkeit, welche die ganze Bewegung durchdringt, drückt sich aus in dem sofortigen Verzicht auf jede Offensive. Als dann die Römer zum Angriff übergingen, traten sie ihnen gleichfalls nirgends im offenen Felde entgegen, ja sie machten nicht einmal Versuche den einzelnen angegriffenen Plätzen Entsatz zu bringen. Allerdings teilte auch der vorsichtige Feldherr der Römer seine Truppen nicht, sondern hielt wenigstens die drei Legionen durchaus zusammen. Dennoch war, da in den meisten einzelnen Ortschaften die oft wohl nur kleine Zahl der Fanatiker die Bürgerschaften terrorisierte, der Widerstand hartnäckig und die römische Kriegführung weder glänzend noch rasch. Vespasian verwendete den ganzen ersten Feldzug (67) darauf, die Festungen der kleinen Landschaft Galiläa und die Küste bis nach Askalon in seine Gewalt zu bringen; allein vor dem Städtchen Jotapata lagerten die drei Legionen fünfundvierzig Tage. Den Winter 67/68 lag eine Legion in Skytopolis an der Südgrenze von Galiläa, die beiden anderen in Cäsarea. Inzwischen waren in Jerusalem die verschiedenen Faktionen aneinandergeraten und lagen im heftigsten Kampf; die guten Patrioten, die zugleich für bürgerliche Ordnung waren, und die noch besseren, welche das Schreckensregiment teils in fanatischer Spannung, teils in Gesindellust herbeiführen und ausnutzen wollten, schlugen sich in den Gassen der Stadt und waren nur darin einig, daß jeder Versuch der Versöhnung mit den Römern ein todeswürdiges Verbrechen sei. Der römische Feldherr, vielfach aufgefordert, diese Zerrüttung zu benutzen, blieb dabei, nur schrittweise vorzugehen. Im zweiten Kriegsjahr ließ er zunächst das transjordanische Gebiet, namentlich die wichtigen Städte Gadara und Gerasa besetzen und setzte sich dann bei Emmaus und Jericho, von wo aus er im Süden Idumäa, im Norden Samaria okkupieren ließ, so daß Jerusalem im Sommer des Jahres 68 von allen Seiten umstellt war. Die Belagerung sollte eben beginnen, als die Nachricht von dem Tode Neros eintraf. Damit war von Rechts wegen das dem Legaten erteilte Mandat erloschen, und Vespasian stellte in der Tat, politisch nicht minder vorsichtig wie militärisch, bis auf neue Verhaltungsbefehle die Operationen ein. Bevor diese von Galba eintrafen, war die gute Jahreszeit zu Ende. Als das Frühjahr 69 herankam, war Galba gestürzt und schwebte die Entscheidung zwischen dem Kaiser der römischen Leibgarde und dem der Rheinarmee. Erst nach Vitellius Sieg, im Juni 69, nahm Vespasian die Operationen wieder auf und besetzte Hebron; aber sehr bald kündigten die sämtlichen Heere des Ostens jenem die Treue auf und riefen den bisherigen Legaten von Judäa zum Kaiser aus. Den Juden gegenüber wurden zwar die Stellungen bei Emmaus und Jericho behauptet, allein wie die germanischen Legionen den Rhein entblößt hatten, um ihren Feldherrn zum Kaiser zu machen, so ging auch der Kern der Armee von Palästina teils mit dem Legaten von Syrien Mucianus nach Italien ab, teils mit dem neuen Kaiser und dessen Sohn Titus nach Syrien und weiter nach Ägypten, und erst nachdem Ende 69 der Sukzessionskrieg beendigt und Vespasians Herrschaft im ganzen Reiche anerkannt war, beauftragte dieser seinen Sohn mit der Beendigung des jüdischen Krieges.

So hatten die Insurgenten in Jerusalem vom Sommer 66 bis zum Frühling 70 völlig freies Schalten. Was die Vereinigung von religiösem und nationalem Fanatismus, das edle Verlangen, den Sturz des Vaterlandes nicht zu überleben und das Bewußtsein begangener Verbrechen und unausbleiblicher Strafe, das wilde Durcheinanderwogen aller edelsten und aller gemeinsten Leidenschaften in diesen vier Jahren des Schreckens über die Nation gebracht hat, wird dadurch vor allem entsetzlich, daß die Fremden dabei nur die Zuschauer gewesen sind, unmittelbar alles Unheil durch Juden über Juden gekommen ist. Die gemäßigten Patrioten wurden von den Eiferern mit Hilfe des Aufgebotes der rohen und fanatischen Bewohner der idumäischen Dörfer bald (Ende 68) überwältigt und ihre Führer erschlagen. Die Eiferer herrschten seitdem, und es lösten sich alle Bande bürgerlicher, religiöser und sittlicher Ordnung. Den Sklaven wurde die Freiheit gewährt, die Hohenpriester durch das Los bestellt, die Ritualgesetze eben von diesen Fanatikern, deren Kastell der Tempel war, mit Füßen getreten und verhöhnt, die Gefangenen in den Kerkern niedergemacht und bei Todesstrafe untersagt, die Umgebrachten zu bestatten. Die verschiedenen Führer fochten mit ihren Sonderhaufen gegeneinander: Johannes von Giskala mit seiner aus Galiläa herangeführten Schar; Simon des Gioras Sohn aus Gerasa, der Führer einer in dem Süden gebildeten Patriotenschar und zugleich der gegen Johannes sich auflehnenden Idumäer; Eleazar Simons Sohn, einer der Vorkämpfer gegen Cestius Gallus. Der erste behauptete sich in der Tempelhalle, der zweite in der Stadt, der dritte im Allerheiligsten des Tempels, und täglich ward in den Straßen der Stadt zwischen Juden und Juden gefochten. Die Eintracht kam einzig durch den gemeinsamen Feind; als der Angriff begann, stellte sich Eleazars kleine Schar unter die Befehle des Johannes, und obwohl Johannes im Tempel, Simon in der Stadt fortfuhren, die Herren zu spielen, stritten sie, unter sich hadernd, Schulter an Schulter gegen die Römer. Die Aufgabe auch für die Angreifer war nicht leicht. Zwar genügte das Heer, das anstatt der nach Italien entsendeten Detachements bedeutenden Zuzug aus den ägyptischen und den syrischen Truppen erhalten hatte, für die Einschließung vollauf; und trotz der langen Frist, welche den Juden gewährt worden war, um sich auf die Belagerung vorzubereiten, waren die Vorräte unzureichend, um so mehr als ein Teil derselben in den Straßenkämpfen zugrunde gegangen war und, da die Belagerung um das Passahfest begann, zahlreiche deswegen nach Jerusalem gekommene Auswärtige mit eingeschlossen waren. Indes wenn auch die Masse der Bevölkerung bald Not litt, was die Wehrmannschaften brauchten, nahmen sie, wo sie es fanden, und wohl versehen wie sie waren, führten sie den Kampf ohne Rücksicht auf die hungernden und bald verhungernden Massen. Zu bloßer Blockade konnte der junge Feldherr sich nicht entschließen; eine mit vier Legionen in dieser Weise zu Ende geführte Belagerung brachte ihm persönlich keinen Ruhm, und auch das neue Regiment brauchte eine glänzende Waffentat. Die Stadt, sonst überall durch unzugängliche Felsenhänge verteidigt, war allein an der Nordseite angreifbar; auch hier war es keine leichte Arbeit, die dreifache aus den reichen Tempelschätzen ohne Rücksicht auf die Kosten hergestellte Wallmauer zu bezwingen und weiter innerhalb der Stadt die Burg, den Tempel und die gewaltigen drei Herodestürme einer starken, fanatisierten und verzweifelten Besatzung abzuringen. Johannes und Simon schlugen nicht bloß die Stürme entschlossen ab, sondern griffen oft die schanzenden Mannschaften mit gutem Erfolg an und zerstörten oder verbrannten die Belagerungsmaschinen. Aber die Überzahl und die Kriegskunst entschieden für die Römer. Die Mauern wurden erstürmt, darauf die Burg Antonia; sodann gingen nach langem Widerstand erst die Tempelhallen in Flammen auf und weiter am 10. Ab (August) der Tempel selbst mit allen darin seit sechs Jahrhunderten aufgehäuften Schätzen. Endlich wurde nach monatelangem Straßenkampf am 8. Elul (September) auch in der Stadt der letzte Widerstand gebrochen und das heilige Salem geschleift. Fünf Monate hatte die Blutarbeit gewährt. Das Schwert und der Pfeil und mehr noch der Hunger hatten zahllose Opfer gefordert; die Juden erschlugen jeden des Überlaufens auch nur Verdächtigen und zwangen Weiber und Kinder in der Stadt zu verhungern; ebenso erbarmungslos ließen auch die Römer die Gefangenen über die Klinge springen oder kreuzigten sie. Die übriggebliebenen Kämpfer und namentlich die beiden Führer wurden einzeln aus den Kloaken, in die sie sich gerettet hatten, hervorgezogen. Am Toten Meer, eben da wo einstmals König David und die Makkabäer in höchster Bedrängnis eine Zuflucht gefunden hatten, hielten sich die Reste der Insurgenten noch auf Jahre hinaus in den Felsenschlössern Machärus und Massada, bis endlich als die letzten der freien Juden Judas des Galiläers Enkel Eleazar und die Seinigen erst ihren Frauen und Kindern und dann sich selbst den Tod gaben. Das Werk war getan. Daß Kaiser Vespasianus, ein tüchtiger Soldat, es nicht verschmäht hat wegen eines solchen unvermeidlichen Erfolges über ein kleines längst untertäniges Volk als Sieger auf das Kapitol zu ziehen und daß der aus dem Allerheiligsten des Tempels heimgebrachte siebenarmige Kandelaber auf dem Ehrenbogen, den der Reichssenat dem Titus auf dem Markte der Kampfstadt errichtete, noch heute zu schauen ist, gibt keine hohe Vorstellung von dem kriegerischen Sinn dieser Zeit. Freilich ersetzte der tiefe Widerwille, den die Okzidentalen gegen das Judenvolk hegten, einigermaßen was der kriegerischen Glorie mangelte, und wenn den Kaisern der Judenname zu schlecht war, um ihn so sich beizulegen wie die der Germanen und der Partner, so hielten sie es nicht unter ihrer Würde, dem Pöbel der Hauptstadt die Siegesschadenfreude dieses Triumphes zu bereiten.

Dem Werk des Schwertes folgte die politische Wendung. Die von den früheren hellenistischen Staaten eingehaltene und von den Römern übernommene, in der Tat über die bloße Toleranz gegen fremde Art und fremden Glauben weit hinausgehende Politik, die Judenschaft insgemein als nationale und religiöse Samtgemeinschaft anzuerkennen, war unmöglich geworden. Zu deutlich waren in der jüdischen Insurrektion die Gefahren zutage getreten, welche diese national-religiöse, einerseits streng konzentrierte, andererseits über den ganzen Osten sich verbreitende und selbst in den Westen verzweigte Vergesellschaftung in sich trug. Der zentrale Kultus wurde demzufolge ein für allemal beseitigt. Dieser Entschluß der Regierung steht zweifellos fest und hat nichts gemein mit der nicht mit Sicherheit zu beantwortenden Frage, ob die Zerstörung des Tempels absichtlich oder zufällig erfolgt ist; wenn auf der einen Seite die Unterdrückung des Kultus nur die Schließung des Tempels erforderte und das prächtige Bauwerk verschont werden konnte, so hätte andererseits, wäre der Tempel zufällig zugrunde gegangen, der Kultus auch in einem wieder erbauten fortgeführt werden können. Freilich wird es immer wahrscheinlich bleiben, daß hier nicht der Zufall des Krieges gewaltet hat, sondern für die veränderte Politik der römischen Regierung gegenüber dem Judentum die Flammen des Tempels das Programm waren. Deutlicher noch als in den Vorgängen in Jerusalem zeichnet sich dieselbe in der gleichzeitig auf Anordnung Vespasians erfolgten Schließung des Zentralheiligtums der ägyptischen Judenschaft, des Oniastempels unweit Memphis im heliupolitanischen Distrikt, welcher seit Jahrhunderten neben dem von Jerusalem stand etwa wie neben dem Alten Testament die Übersetzung durch die alexandrinischen Siebzig; auch er wurde seiner Weihgeschenke entkleidet und die Gottesverehrung in demselben untersagt.

In weiterer Ausführung der neuen Ordnung der Dinge verschwanden das Hohepriestertum und das Synhedrion von Jerusalem und verlor damit die Judenschaft des Reiches ihr äußerliches Oberhaupt und ihre bis dahin in religiösen Fragen allgemein kompetente Oberbehörde. Die bisher wenigstens tolerierte Jahressteuer eines jeden Juden ohne Unterschied des Wohnortes an den Tempel fiel allerdings nicht weg, wurde aber mit bitterer Parodie auf den kapitolinischen Jupiter und dessen Vertreter auf Erden, den römischen Kaiser, übertragen. Bei der Beschaffenheit der jüdischen Einrichtungen schloß die Unterdrückung des zentralen Kultus die Auflösung der Gemeinde Jerusalem in sich. Die Stadt ward nicht bloß zerstört und niedergebrannt, sondern blieb auch in Trümmern liegen, wie einst Karthago und Korinth; ihre Feldmark, Gemeinde- wie Privatland, wurde kaiserliche Domäne. Was von der Bürgerschaft der volkreichen Stadt dem Hunger oder dem Schwert entgangen war, kam unter den Hammer des Sklavenmarktes. In den Trümmern der zerstörten Stadt schlug die Legion ihr Lager auf, welche mit ihren spanischen und thrakischen Auxilien fortan im jüdischen Lande garnisonieren sollte. Die bisherigen in Palästina selbst rekrutierten Provinzialtruppen wurden anderswohin verlegt. In Emmaus, in der nächsten Nähe von Jerusalem, wurde eine Anzahl römischer Veteranen angesiedelt, Stadtrecht aber auch dieser Ortschaft nicht verliehen. Dagegen wurde das alte Sichem, der religiöse Mittelpunkt der samaritanischen Gemeinde, vielleicht schon seit Alexander dem Großen eine griechische Stadt, jetzt in den Formen der hellenischen Politie unter dem Namen Flavia Neapolis reorganisiert. Die Landeshauptstadt Cäsarea, bis dahin griechische Stadtgemeinde, erhielt als »erste flavische Kolonie« römische Ordnung und lateinische Geschäftssprache. Es waren dies Ansätze zur okzidentalischen Munizipalisierung des jüdischen Landes. Nichtsdestoweniger blieb das eigentliche Judäa, wenn auch entvölkert und verarmt, nach wie vor jüdisch; wessen die Regierung sich zu dem Lande versah, zeigt schon die durchaus anormale dauernde militärische Belegung, die, da Judäa nicht an der Reichsgrenze lag, nur zur Niederhaltung der Einwohner bestimmt gewesen sein kann.

Auch die Herodeer überdauerten nicht lange den Untergang Jerusalems. König Agrippa II., der Herr von Cäsarea Paneas und von Tiberias, hatte den Römern in dem Krieg gegen seine Landsleute getreue Heerfolge geleistet und selbst aus demselben wenigstens militärisch ehrenvolle Narben aufzuweisen; überdies hielt seine Schwester Berenike, eine Kleopatra im kleinen, mit dem Rest ihrer viel in Anspruch genommenen Reize das Herz des Bezwingers von Jerusalem gefangen. So blieb er persönlich im Besitz der Herrschaft; aber nach seinem Tode, etwa dreißig Jahre später, ging auch diese letzte Erinnerung an den jüdischen Staat in die römische Provinz Syrien auf.

In der Ausübung ihrer Religionsgebräuche wurden den Juden weder in Palästina noch anderswo Hindernisse in den Weg gelegt. Selbst ihren religiösen Unterricht und die daran sich anknüpfenden Versammlungen ihrer Gesetzlehrer und Gesetzkundigen ließ man in Palästina wenigstens gewähren und hinderte nicht, daß diese Rabbinervereinigungen versuchten, sich einigermaßen an die Stelle des ehemaligen Synhedrion von Jerusalem zu setzen und in den Anfängen des Talmud ihre Lehre und ihre Gesetze zu fixieren. Obwohl einzelne nach Ägypten und Kyrene geflüchtete Teilnehmer an dem jüdischen Aufstand dort Unruhen hervorriefen, wurden die Judenschaften außerhalb Palästina, so viel wir sehen, in ihrer bisherigen Stellung belassen. Gegen die Judenhetze, welche eben um die Zeit der Zerstörung Jerusalems in Antiocheia dadurch hervorgerufen ward, daß die dortigen Juden von einem ihrer abgefallenen Glaubensgenossen öffentlich der Absicht geziehen worden waren, die Stadt anzuzünden, schritt der Vertreter des Statthalters von Syrien energisch ein und gestattete nicht, wie es im Werke war, daß man die Juden nötigte, den Landesgöttern zu opfern und den Sabbat nicht zu halten. Titus selbst, als er nach Antiocheia kam, wies die dortigen Führer der Bewegung mit ihrer Bitte die Juden auszuweisen oder mindestens ihre Privilegien zu kassieren, auf das bestimmteste ab. Man scheute davor zurück, dem jüdischen Glauben als solchem den Krieg zu erklären und die weitverzweigte Diaspora auf das äußerste zu treiben; es war genug, daß das Judentum in seiner politischen Repräsentation aus dem Staatswesen getilgt war.

Die Wendung in der seit Alexander gegen das Judentum eingehaltenen Politik lief im wesentlichen darauf hinaus, dieser religiösen Gemeinschaft die einheitliche Leitung und die äußerliche Geschlossenheit zu entziehen und ihren Leitern eine Macht aus der Hand zu winden, welche sich nicht bloß über das Heimatland der Juden, sondern über die Judenschaften insgemein innerhalb und außerhalb des römischen Reiches erstreckte und allerdings im Orient dem einheitlichen Reichsregiment Eintrag tat. Die Lagiden wie die Seleukiden und nicht minder die römischen Kaiser der julisch-claudischen Dynastie hatten sich dies gefallen lassen; aber die unmittelbare Herrschaft der Okzidentalen über Judäa hatte den Gegensatz der Reichs- und dieser Priestergewalt in dem Grade verschärft, daß die Katastrophe mit unausbleiblicher Notwendigkeit eintrat und ihre Konsequenzen zog. Vom politischen Standpunkt aus kann wohl die Schonungslosigkeit der Kriegführung getadelt werden, welche übrigens diesem Krieg ziemlich mit allen ähnlichen der römischen Geschichte gemein ist, aber schwerlich die infolge desselben verfügte religiös-politische Auflösung der Nation. Wenn den Institutionen, welche zur Bildung einer Partei, wie die der Zeloten war, geführt hatten und mit einer gewissen Notwendigkeit führen mußten, die Axt an die Wurzel gelegt ward, so geschah nur was richtig und notwendig war, wie schwer und individuell ungerecht auch der einzelne davon getroffen werden mochte. Vespasianus, der die Entscheidung gab, war ein verständiger und maßhaltender Regent. Es handelte sich nicht um eine Glaubens-, sondern um eine Machtfrage; der jüdische Kirchenstaat als Haupt der Diaspora vertrug sich nicht mit der Unbedingtheit des weltlichen Großstaates. Von der allgemeinen Norm der Toleranz hat die Regierung sich auch in diesem Fall nicht entfernt, nicht gegen das Judentum, sondern gegen den Hohenpriester und das Synhedrion den Krieg geführt.

Ganz hat auch die Tempelzerstörung diesen ihren Zweck nicht verfehlt. Es gab nicht wenige Juden und noch mehr Judengenossen, namentlich in der Diaspora, welche mehr an dem jüdischen Sittengesetz und an dem jüdischen Monotheismus hielten als an der streng nationalen Glaubensform; die ganze ansehnliche Sekte der Christen hatte sich innerlich vom Judentum gelöst und stand zum Teil in offener Opposition zu dem jüdischen Ritus. Für diese war der Fall Jerusalems keineswegs das Ende der Dinge, und innerhalb dieser ausgedehnten und einflußreichen Kreise erreichte die Regierung einigermaßen, was sie mit der Auflösung der Zentralstelle der jüdischen Gottesverehrung beabsichtigte. Die Scheidung des den Nationen gemeinen Christenglaubens von dem national-jüdischen, der Sieg der Anhänger des Paulus über diejenigen des Petrus wurde durch den Wegfall des jüdischen Zentralkults wesentlich gefördert.

Aber bei den Juden von Palästina, da, wo man zwar nicht hebräisch, aber doch aramäisch sprach, und bei dem Teil der Diaspora, der fest an Jerusalem hing, wurde durch die Zerstörung des Tempels der Riß zwischen dem Judentum und der übrigen Welt vertieft. Die national-religiöse Geschlossenheit, die die Regierung beseitigen wollte, wurde in diesem verengten Kreis durch den gewaltsamen Versuch sie zu zerschlagen vielmehr neu gefestigt und zunächst zu weiteren verzweifelten Kämpfen getrieben.

Nicht volle fünfzig Jahre nach der Zerstörung Jerusalems, im J. 116, erhob sich die Judenschaft am östlichen Mittelmeer gegen die Reichsregierung. Der Aufstand, obwohl von der Diaspora unternommen, war rein nationaler Art, in seinen Hauptsitzen Kyrene, Kypros, Ägypten, gerichtet auf die Austreibung der Römer wie der Hellenen und, wie es scheint, die Begründung eines jüdischen Sonderstaates. Er verzweigte sich bis in das asiatische Gebiet und ergriff Mesopotamien und Palästina selbst. Wo die Aufständischen siegreich waren, führten sie den Krieg mit derselben Erbitterung wie die Sicarier in Jerusalem; sie erschlugen, wen sie ergriffen – der Geschichtsschreiber Appian, ein geborener Alexandriner, erzählt, wie er vor ihnen um sein Leben laufend mit genauer Not nach Pelusion entkam – und oftmals töteten sie die Gefangenen unter qualvollen Martern oder zwangen sie, gleich wie einst Titus die in Jerusalem gefangenen Juden, als Fechter im Kampfspiel zur Augenweide der Sieger zu fallen. In Kyrene sollen also 220 000, auf Kypros gar 240 000 Menschen von ihnen umgebracht worden sein. Andererseits erschlugen in Alexandreia, das selbst nicht in die Hände der Juden gefallen zu sein scheint, die belagerten Hellenen was von Juden damals in der Stadt war. Die nächste Ursache der Erhebung ist nicht klar. Das Blut der Zeloten, die nach Alexandreia und Kyrene sich geflüchtet und dort ihre Glaubenstreue mit dem Tode unter dem römischen Henkerbeil besiegelt hatten, mag nicht umsonst geflossen sein; der parthische Krieg, währenddessen der Aufstand begann, hat ihn insofern gefördert, als die in Ägypten stehenden Truppen wahrscheinlich auf den Kriegsschauplatz berufen wurden. Allem Anschein nach war es ein Ausbruch der seit der Tempelzerstörung gleich dem Vulkan im Verborgenen glühenden und in unberechenbarer Weise in Flammen aufschlagenden religiösen Erbitterung der Judenschaft, von der Art, wie der Orient sie zu allen Zeiten erzeugt hat und erzeugt; wenn wirklich die Insurgenten einen Juden zum König ausriefen, so hat diese Erhebung sicher, wie die in der Heimat, in der großen Masse der geringen Leute ihren Herd gehabt. Daß diese Judenerhebung zum Teil zusammenfiel mit dem früher erzählten Befreiungsversuch der kurz vorher von Kaiser Traianus unterworfenen Völkerschaften, während dieser im fernen Osten an der Euphratmündung stand, gab ihr sogar eine politische Bedeutung; wenn die Erfolge dieses Herrschers ihm am Schluß seiner Laufbahn unter den Händen zerrannen, so hat die jüdische Insurrektion namentlich in Palästina und Mesopotamien dazu das ihrige beigetragen. Um den Aufstand niederzuschlagen, mußten überall die Truppen marschieren; gegen den »König« der kyrenäischen Juden Andreas oder Lukuas und die Insurgenten in Ägypten sandte Traianus den Quintus Marcius Turbo mit Heer und Flotte, gegen die Aufständischen in Mesopotamien, wie schon gesagt ward, den Lusius Quietus, zwei seiner erprobtesten Feldherren. Den geschlossenen Truppen Widerstand zu leisten, vermochten die Aufständischen nirgends, wenngleich der Kampf in Afrika wie in Palästina sich bis in die erste Zeit Hadrians fortspann, und es ergingen über diese Diaspora ähnliche Strafgerichte wie früher über die Juden Palästinas. Daß Traianus die Juden in Alexandreia vernichtet hat, wie Appian sagt, ist schwerlich ein unrichtiger, wenn auch vielleicht ein allzu schroffer Ausdruck dessen, was dort geschah; für Kypros ist es bezeugt, daß seitdem kein Jude die Insel auch nur betreten durfte und selbst den schiffbrüchigen Israeliten dort der Tod erwartete. Wäre über diese Katastrophe unsere Überlieferung so ausgiebig wie über die jerusalemische, so würde sie wohl als deren Fortsetzung und Vollendung erscheinen, und gewissermaßen auch als ihre Erklärung; dieser Aufstand zeigt das Verhältnis der Diaspora zu dem Heimatland und den Staat im Staate, zu dem das Judentum sich entwickelt hatte.

Zu Ende war auch mit dieser zweiten Niederwerfung die Auflehnung des Judentums gegen die Reichsgewalt nicht. Man kann nicht sagen, daß diese dasselbe weiter provoziert hat; gewöhnliche Verwaltungsakte, wie sie im ganzen Reiche unweigerlich hingenommen wurden, trafen die Hebräer da, wo die volle Widerstandskraft des nationalen Glaubens ihren Sitz hatte, und riefen dadurch, wahrscheinlich zur Überraschung der Regierenden selbst, eine Insurrektion hervor, die in der Tat ein Krieg war. Wenn Kaiser Hadrianus, als seine Rundreise durch das Reich ihn auch nach Palästina führte, im J. 130 die zerstörte heilige Stadt der Juden als römische Kolonie wieder aufzurichten beschloß, tat er sicher diesen nicht die Ehre an, sie zu fürchten, und dachte nicht an religiös-politische Propaganda, sondern er verfügte für dies Legionslager, was kurz vorher oder bald nachher auch am Rhein, an der Donau, in Afrika geschah, die Verknüpfung desselben mit einer zunächst aus den Veteranen sich rekrutierenden Stadtgemeinde, welche ihren Namen Aelia Capitolina teils von ihrem Stifter, teils von dem Gott empfing, welchem damals statt des Jehova die Juden zinsten. Ähnlich verhält es sich mit dem Verbot der Beschneidung: es erging, wie später bemerkt werden wird, wahrscheinlich gar nicht in der Absicht, damit dem Judentum als solchem den Krieg zu machen. Begreiflicherweise fragten die Juden nicht nach den Motiven jener Stadtgründung und dieses Verbots, sondern empfanden beides als einen Angriff auf ihren Glauben und ihr Volkstum und antworteten darauf mit einem Aufstand, der, anfangs von den Römern vernachlässigt, dann durch Intensität und Dauer in der Geschichte der römischen Kaiserzeit seinesgleichen nicht hat. Die gesamte Judenschaft des In- und des Auslandes geriet in Bewegung und unterstützte mehr oder minder offen die Insurgenten am Jordan; sogar Jerusalem fiel ihnen in die Hände, und der Statthalter Syriens, ja Kaiser Hadrianus selbst erschienen auf dem Kampfplatz. Den Krieg leiteten, bezeichnend genug, der Priester Eleazar und der Räuberhauptmann Simon, zugenannt Bar-Kokheba, das ist der Sternensohn, als der Bringer himmlischer Hilfe, vielleicht als Messias. Von der finanziellen Macht und der Organisation der Insurgenten zeugen die durch mehrere Jahre auf den Namen dieser beiden geschlagenen Silber- und Kupfermünzen. Nachdem eine genügende Truppenzahl zusammengezogen war, gewann der erprobte Feldherr Sextus Julius Severus die Oberhand, aber nur in allmählichem und langsamem Vorschreiten; ganz wie in dem vespasianischen Krieg kam es zu keiner Feldschlacht, aber ein Platz nach dem andern kostete Zeit und Blut, bis endlich nach dreijähriger Kriegführung die letzte Burg der Insurgenten, das feste Bether unweit Jerusalem, von den Römern erstürmt ward. Die in guten Berichten überlieferten Zahlen von 50 genommenen Festungen, 985 besetzten Dörfern, 580 000 Gefallenen sind nicht unglaublich, da der Krieg mit unerbittlicher Grausamkeit geführt und die männliche Bevölkerung wohl überall niedergemacht ward.

Infolge dieses Aufstandes ward selbst der Name des besiegten Volkes beseitigt: die Provinz hieß fortan nicht mehr, wie früher, Judäa, sondern mit dem alten herodotischen Namen das Syrien der Philistäer oder Syria Palästina. Das Land blieb verödet; die neue Hadriansstadt bestand, aber gedieh nicht. Den Juden wurde bei Todesstrafe untersagt, Jerusalem auch nur zu betreten, die Besatzung verdoppelt; das beschränkte Gebiet zwischen Ägypten und Syrien, zu dem von dem transjordanischen nur ein kleiner Streifen am Toten Meer gehörte und das nirgends die Reichsgrenze berührte, war seitdem mit zwei Legionen belegt. Trotz aller dieser Gewaltmaßregeln blieb die Landschaft unruhig, zunächst wohl infolge des mit der Nationalsache längst verflochtenen Räuberwesens; Pius ließ gegen die Juden marschieren und auch unter Severus ist die Rede von einem Krieg gegen Juden und Samariter. Aber zu größeren Bewegungen unter den Juden ist es nach dem hadrianischen Krieg nicht wieder gekommen.

Es muß anerkannt werden, daß diese wiederholten Ausbrüche des in den Gemütern der Juden gärenden Grolles gegen die gesamte nichtjüdische Mitbürgerschaft die allgemeine Politik der Regierung nicht änderten. Wie Vespasian so hielten auch die folgenden Kaiser den Juden gegenüber nicht bloß im wesentlichen den allgemeinen Standpunkt der politischen und religiösen Toleranz fest, sondern die für die Juden erlassenen Ausnahmegesetze waren und blieben hauptsächlich darauf gerichtet, sie von denjenigen allgemeinen Bürgerpflichten, welche mit ihrer Sitte und ihrem Glauben sich nicht vertrugen, zu entbinden und werden darum auch geradezu als Privilegien bezeichnet.

Rechtlich scheint seit Claudius Zeit, dessen Unterdrückung des jüdischen Kultus in Italien wenigstens die letzte derartige Maßregel ist, von der wir wissen, den Juden der Aufenthalt und die freie Religionsübung in dem gesamten Reich zugestanden zu haben. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn jene Aufstände in den afrikanischen und syrischen Landschaften zur Austreibung der dort ansässigen Juden überhaupt geführt hätten; aber dergleichen Beschränkungen sind, wie wir sahen, nur lokal, zum Beispiel für Kypros, verfügt worden. Der Hauptsitz der Juden blieben immer die griechischen Provinzen; auch in der einigermaßen zweisprachigen Hauptstadt, deren zahlreiche Judenschaft eine Reihe von Synagogen umfaßte, bildete diese einen Teil der griechischen Bevölkerung Roms. Ihre Grabschriften in Rom sind ausschließlich griechisch; in der aus dieser Judenschaft entwickelten römischen Christengemeinde ist das Taufbekenntnis bis in späte Zeit hinab griechisch gesprochen worden und die ersten drei Jahrhunderte hindurch die Schriftstellerei ausschließlich griechisch gewesen. Aber restriktive Maßregeln gegen die Juden scheinen auch in den lateinischen Provinzen nicht getroffen worden zu sein; durch und mit dem Hellenismus ist das jüdische Wesen in den Okzident eingedrungen, und es fanden auch in diesem sich Judengemeinden, obwohl sie an Zahl und Bedeutung selbst jetzt noch, wo die gegen die Diaspora gerichteten Schläge die Judengemeinden des Ostens schwer beschädigt hatten, weit hinter diesen zurückstanden.

Politische Privilegien folgten aus der Tolerierung des Kultus an sich nicht. An der Anlegung ihrer Synagogen und Proseuchen wurden die Juden nicht gehindert, ebensowenig an der Bestellung eines Vorstehers für dieselbe (αρχουναγωγοσ) sowie eines Kollegiums der Ältesten (αρχοντεσ) mit einem Oberältesten (γερουσιαρχησ), an der Spitze. Obrigkeitliche Befugnisse sollten mit diesen Stellungen nicht verknüpft sein; aber bei der Untrennbarkeit der jüdischen Kirchenordnung und der jüdischen Rechtspflege übten die Vorsteher, wie im Mittelalter die Bischöfe, wohl überall eine wenn auch nur faktische Jurisdiktion. Auch waren die Judenschaften der einzelnen Städte nicht allgemein als Körperschaften anerkannt, sicher zum Beispiel die römische nicht; doch bestanden an vielen Orten auf Grund lokaler Privilegien dergleichen korporative Verbände mit Ethnarchen oder, wie sie jetzt meistens heißen, Patriarchen an der Spitze. Ja in Palästina finden wir im Anfang des 3. Jahrhunderts wiederum einen Vorsteher der gesamten Judenschaft, der kraft erblichen Priesterrechts über seine Glaubensgenossen fast wie ein Herrscher schaltet und selbst über Leib und Leben Gewalt hat, und welchen die Regierung wenigstens toleriert. Ohne Frage war dieser Patriarch für die Juden der alte Hohepriester, und es hatte also unter den Augen und unter dem Druck der Fremdherrschaft das hartnäckige Volk Gottes sich abermals rekonstituiert und insoweit Vespasians Werk zuschanden gemacht.

In betreff der Heranziehung der Juden zu den öffentlichen Leistungen war die Befreiung vom Kriegsdienst als unvereinbar mit ihren religiösen Grundsätzen längst anerkannt und blieb es. Die besondere Kopfsteuer, welcher sie unterlagen, die alte Tempelabgabe, konnte als Kompensation für diese Befreiung angesehen werden, wenn sie auch nicht in diesem Sinn auferlegt worden war. Für andere Leistungen, wie zum Beispiel für Übernahme von Vormundschaften und Gemeindeämtern, werden sie wenigstens seit Severus Zeit im allgemeinen als fähig und pflichtig betrachtet, diejenigen aber, welche ihrem »Aberglauben« zuwiderlaufen, ihnen erlassen; wobei in Betracht kommt, daß der Ausschluß von den Gemeindeämtern mehr und mehr aus einer Zurücksetzung zu einem Privilegium ward. Selbst bei Staatsämtern mag in späterer Zeit ähnlich verfahren worden sein.

Der einzige ernstliche Eingriff der Staatsgewalt in die jüdischen Gebräuche betrifft die Zeremonie der Beschneidung; indes ist gegen diese wahrscheinlich nicht vom religiös-politischen Standpunkt aus eingeschritten worden, sondern es sind diese Maßnahmen mit dem Verbot der Kastrierung verknüpft gewesen und zum Teil wohl aus Mißverständnis der jüdischen Weise hervorgegangen. Die immer mehr um sich greifende Unsitte der Verstümmelung zog zuerst Domitian in den Kreis der strafbaren Verbrechen; als Hadrian, die Vorschrift schärfend, die Kastrierung unter das Mordgesetz stellte, scheint auch die Beschneidung als Kastrierung aufgefaßt worden zu sein, was allerdings von den Juden als ein Angriff auf ihre Existenz empfunden werden mußte und empfunden ward, obwohl dies vielleicht nicht damit beabsichtigt war. Bald nachher, wahrscheinlich infolge des dadurch mit veranlaßten Aufstandes, gestattete Pius die Beschneidung für Kinder jüdischer Herkunft, während übrigens selbst die des unfreien Nichtjuden und des Proselyten nach wie vor für alle dabei Beteiligten die Strafe der Kastration nach sich ziehen sollte. Dies war insofern auch von politischer Wichtigkeit, als dadurch der förmliche Übertritt zum Judentum ein strafbares Verbrechen wurde; und wahrscheinlich ist das Verbot eben in diesem Sinne nicht erlassen, aber aufrechterhalten worden. Zu dem schroffen Abschließen der Judenschaft gegen die Nichtjuden wird dasselbe das seinige beigetragen haben.

Blicken wir zurück auf die Geschicke des Judentums in der Epoche von Augustus bis auf Diocletian, so erkennen wir eine durchgreifende Umgestaltung seines Wesens wie seiner Stellung. Dasselbe tritt in diese Epoche ein als eine um das beschränkte Heimatland festgeschlossene nationale und religiöse Macht, welche selbst dem Reichsregiment in und außerhalb Judäa mit der Waffe in der Hand sich entgegenstellt und auf dem Gebiet des Glaubens eine gewaltige propagandistische Macht entwickelt. Man kann es verstehen, daß die römische Regierung die Verehrung des Jahve und den Glauben des Moses nicht anders dulden wollte, als wie auch der Kultus des Mithra und der Glaube des Zoroaster Duldung fand. Die Reaktion gegen dies geschlossene und auf sich selbst stehende Judentum waren die von Vespasian und Hadrian gegen das jüdische Land, von Traianus gegen die Juden der Diaspora geführten zerschmetternden Schläge, deren Wirkung weit hinausreicht über die unmittelbare Zerstörung der bestehenden Gemeinschaft und die Herabdrückung des Ansehens und der Macht der Judenschaft. In der Tat sind das spätere Christentum wie das spätere Judentum die Konsequenzen dieser Reaktion des Westens gegen den Osten. Die große propagandistische Bewegung, welche die tiefere religiöse Anschauung vom Osten in den Westen trug, ward auf diese Weise, wie schon gesagt ward, aus den engen Schranken der jüdischen Nationalität befreit; wenn sie die Anlehnung an Moses und die Propheten keineswegs aufgab, löste sie sich doch notwendig von dem in Scherben gegangenen Regiment der Pharisäer. Die christlichen Zukunftsideale wurden universell, seit es ein Jerusalem auf Erden nicht mehr gab. Aber wie der erweiterte und vertiefte neue Glaube, der mit seinem Wesen auch den Namen wechselte, aus diesen Katastrophen hervorging, so nicht minder die verengte und verstockte Altgläubigkeit, die sich, wenn nicht mehr in Jerusalem, so in dem Haß gegen diejenigen zusammenfand, die dasselbe zerstört hatten und mehr noch in dem gegen die freiere und höhere aus dem Judentum das Christentum entwickelnde geistige Bewegung. Die äußere Macht der Judenschaft war gebrochen und Erhebungen, wie sie in der mittleren Kaiserzeit stattgefunden haben, begegnen späterhin nicht wieder; mit dem Staat im Staate waren die römischen Kaiser fertig geworden, und indem das eigentlich gefährliche Moment, die propagandistische Ausbreitung auf das Christentum überging, waren die Bekenner des alten Glaubens, die dem neuen Bunde sich verschlossen, für die weitere allgemeine Entwicklung beseitigt. Aber wenn die Legionen Jerusalem zerstören konnten, das Judentum selbst konnten sie nicht schleifen; und was nach der einen Seite Heilmittel war, übte nach der andern die Wirkung des Giftes. Das Judentum blieb nicht bloß, sondern es ward auch ein anderes. Es liegt eine tiefe Kluft zwischen dem Judentum der älteren Zeit, das für seinen Glauben Propaganda macht, dessen Tempelvorhof die Heiden erfüllen, dessen Priester täglich für Kaiser Augustus opfern, und dem starren Rabbinismus, der außer Abrahams Schoß und dem mosaischen Gesetz von der Welt nichts weiß noch wissen will. Fremde waren die Juden immer gewesen und hatten es sein wollen; aber das Gefühl der Entfremdung steigerte sich jetzt in ihnen selbst wie gegen sie in entsetzlicher Weise, und schroff zog man nach beiden Seiten hin dessen gehässige und schädliche Konsequenzen. Von dem geringschätzigen Spott des Horatius gegen den aufdringlichen Juden aus dem römischen Ghetto ist ein weiter Schritt zu dem feierlichen Groll, welchen Tacitus hegt gegen diesen Abschaum des Menschengeschlechts, dem alles Reine unrein und alles Unreine rein ist; dazwischen liegen jene Aufstände des verachteten Volkes und die Notwendigkeit dasselbe zu besiegen und für seine Niederhaltung fortwährend Geld und Menschen aufzuwenden. Die in den kaiserlichen Verordnungen stets wiederkehrenden Verbote der Mißhandlung des Juden zeigen, daß jene Worte der Gebildeten, wie billig, von den Niederen in Taten übersetzt worden. Die Juden ihrerseits machten es nicht besser. Sie wendeten sich ab von der hellenischen Literatur, die jetzt als befleckend galt, und lehnten sogar sich auf gegen den Gebrauch der griechischen Bibelübersetzung; die immer steigende Glaubensreinigung wandte sich nicht bloß gegen die Griechen und die Römer, sondern ebensosehr gegen die »halben Juden« von Samaria und gegen die christlichen Ketzer; die Buchstabengläubigkeit gegenüber den heiligen Schriften stieg bis in die schwindelnde Höhe der Absurdität, und vor allem stellte ein womöglich noch heiligeres Herkommen sich fest, in dessen Fesseln alles Leben und Denken erstarrte. Die Kluft zwischen jener Schrift vom Erhabenen, die den Land und Meer erschütternden Poseidon Homers und den die leuchtende Sonne erschaffenden Jehovah nebeneinander zu stellen wagt, und den Anfängen des Talmud, welche dieser Epoche angehören, bezeichnet den Gegensatz zwischen dem Judentum des 1. und dem des 3. Jahrhunderts. Das Zusammenleben der Juden und Nichtjuden erwies sich mehr und mehr als ebenso unvermeidlich wie unter den gegebenen Verhältnissen unerträglich; der Gegensatz in Glaube, Recht und Sitte verschärfte sich, und die gegenseitige Hoffart wie der gegenseitige Haß wirkten nach beiden Seiten hin sittlich zerrüttend. Die Ausgleichung wurde in diesen Jahrhunderten nicht bloß nicht gefördert, sondern ihre Verwirklichung immer weiter in die Ferne gerückt, je mehr ihre Notwendigkeit sich herausstellte. Diese Erbitterung, diese Hoffart, diese Verachtung, wie sie damals sich festsetzten, sind freilich nur das unvermeidliche Aufgehen einer vielleicht nicht minder unvermeidlichen Saat; aber die Erbschaft dieser Zeiten lastet auf der Menschheit noch heute.

Kapitel XII


Ägypten

Kapitel XII

Die beiden Reiche von Ägypten und Syrien, die so lange in jeder Hinsicht miteinander gerungen und rivalisiert hatten, fielen ungefähr um die gleiche Zeit widerstandslos in die Gewalt der Römer. Wenn dieselben auch von dem angeblichen oder wirklichen Testament Alexanders II. † 673 [81 v. Chr.]) keinen Gebrauch machten und das Land damals nicht einzogen, so standen doch die letzten Herrscher des Lagidenhauses anerkanntermaßen in römischer Klientel; bei Thronstreitigkeiten entschied der Senat, und seit der römische Statthalter von Syrien, Aulus Gabinius, den König Ptolemäos Auletes mit seinen Truppen nach Ägypten zurückgeführt hatte (699 [55 v. Chr.]), haben die römischen Legionen das Land nicht wieder verlassen. Wie die übrigen Klientelkönige nahmen auch die Herrscher Ägyptens an den Bürgerkriegen auf Mahnung der von ihnen anerkannten oder ihnen mehr imponierenden Regierung Teil; und wenn es unentschieden bleiben muß, welche Rolle Antonius in dem phantastischen Ostreich seiner Träume dem Heimatland des allzusehr von ihm geliebten Weibes zugedacht hat, so gehört doch Antonius Regiment in Alexandreia sowohl wie der letzte Kampf in dem letzten Bürgerkrieg vor den Toren dieser Stadt ebensowenig zu der Spezialgeschichte Ägyptens wie die Schlacht von Aktion zu der von Epirus. Wohl aber gab diese Katastrophe und der damit verknüpfte Tod der letzten Fürstin der Lagidendynastie den Anlaß dazu, daß Augustus den erledigten Thron nicht wieder besetzte, sondern das Königreich Ägypten in eigene Verwaltung nahm. Diese Einziehung des letzten Stückes der Küste des Mittelmeeres in die unmittelbare römische Administration und der zeitlich und pragmatisch damit zusammenfallende Abschluß der neuen Monarchie bezeichnen dieser für die Verfassung, jene für die Verwaltung des ungeheuren Reiches den Wendepunkt, das Ende der alten und den Anfang einer neuen Epoche.

Die Einverleibung Ägyptens in das römische Reich vollzog sich insofern in abweichender Weise, als das sonst den Staat beherrschende Prinzip der Dyarchie, das heißt des gemeinschaftlichen Regiments der beiden höchsten Reichsgewalten, des Prinzeps und des Senats, von einigen untergeordneten Bezirken abgesehen, allein auf Ägypten keine Anwendung fand, sondern in diesem Lande dem Senat als solchem sowie jedem einzelnen seiner Mitglieder jede Beteiligung bei dem Regiment abgeschnitten, ja sogar den Senatoren und den Personen senatorischen Ranges das Betreten dieser Provinz untersagt ward. Man darf dies nicht etwa in der Art auffassen, als wäre Ägypten mit dem übrigen Reich nur durch eine Personalunion verknüpft; der Prinzeps ist nach dem Sinn und Geist der augustischen Ordnung ein integrierendes und dauernd funktionierendes Element des römischen Staatswesens ebenso wie der Senat, und seine Herrschaft über Ägypten geradeso ein Teil der Reichsherrschaft wie die Herrschaft des Prokonsuls von Afrika. Eher mag man sich das staatsrechtliche Verhältnis in der Weise verdeutlichen, daß das britische Reich in derselben Verfassung sich befinden würde, wenn Ministerium und Parlament nur für das Mutterland in Betracht kämen, die Kolonien dagegen dem absoluten Regiment der Kaiserin von Indien zu gehorchen hätten. Welche Motive den neuen Monarchen dazu bestimmten, gleich im Beginn seiner Alleinherrschaft diese tief einschneidende und zu keiner Zeit angefochtene Einrichtung zu treffen und wie dieselbe in die allgemeinen politischen Verhältnisse eingegriffen hat, gehört der allgemeinen Geschichte des Reiches an; hier haben wir darzulegen, wie unter der Kaiserherrschaft die inneren Verhältnisse Ägyptens sich gestalteten.

Was im allgemeinen von allen hellenischen oder hellenisierten Gebieten gilt, daß die Römer, indem sie sie zum Reiche zogen, die einmal bestehenden Einrichtungen konservierten und nur, wo es schlechterdings notwendig erschien, Modifikationen eintreten ließen, das findet in vollem Umfang Anwendung auf Ägypten.

Wie Syrien so war Ägypten, als es römisch ward, ein Land zwiefacher Nationalität; auch hier stand neben und über dem Einheimischen der Grieche, jener der Knecht, dieser der Herr. Aber rechtlich und tatsächlich waren die Verhältnisse der beiden Nationen in Ägypten von denen Syriens völlig verschieden.

Syrien stand wesentlich schon in der vorrömischen und durchaus in der römischen Epoche nur mittelbar unter der Landesregierung; es zerfiel teils in Fürstentümer, teils in autonome Stadtbezirke und wurde zunächst von den Landesherren oder Gemeindebehörden verwaltet. In Ägypten dagegen gibt es weder Landesfürsten noch Reichsstädte nach griechischer Art. Die beiden Verwaltungskreise, in welche Ägypten zerfällt, das »Land« (ηχωρα), der Ägypter mit seinen ursprünglich sechsunddreißig Bezirken (νομοι) und die beiden griechischen Städte Alexandreia in Unterund Ptolemais in Oberägypten sind streng gesondert und scharf sich entgegengesetzt und doch eigentlich kaum verschieden. Der Land- wie der Stadtbezirk ist nicht bloß territorial abgegrenzt, sondern jener wie dieser auch Heimatbezirk; die Zugehörigkeit zu einem jeden ist unabhängig vom Wohnort und erblich. Der Ägypter aus dem chemmitischen Nomos gehört demselben mit den Seinigen ebenso an, wenn er seinen Wohnsitz in Alexandreia hat, wie der in Chemmis wohnende Alexandriner der Bürgerschaft von Alexandreia. Der Landbezirk hat zu seinem Mittelpunkt immer eine städtische Ansiedlung, der chemmitische zum Beispiel die um den Tempel des Chemmis oder des Pan erwachsene Stadt Panopolis, oder, wie dies in griechischer Auffassung ausgedrückt wird, es hat jeder Nomos seine Metropolis; insofern kann jeder Landbezirk auch als Stadtbezirk gelten. Wie die Städte sind auch die Nomen in der christlichen Epoche die Grundlage der episkopalen Sprengel geworden. Die Landbezirke ruhen auf den in Ägypten alles beherrschenden Kultusordnungen; Mittelpunkt für einen jeden ist das Heiligtum einer bestimmten Gottheit, und gewöhnlich führt er von dieser oder von dem heiligen Tier derselben den Namen; so heißt der chemmitische Bezirk nach dem Gott Chemmis oder nach griechischer Gleichung dem Pan, andere Bezirke nach dem Hund, dem Löwen, dem Krokodil. Aber auch umgekehrt fehlt den Stadtbezirken der religiöse Mittelpunkt nicht; Alexandreias Schutzgott ist Alexander, der Schutzgott von Ptolemais der erste Ptolemäos, und die Priester, die dort wie hier für diesen Kult und den ihrer Nachfolger eingesetzt sind, sind für beide Städte die Eponymen. Dem Landbezirk fehlt völlig die Autonomie: die Verwaltung, die Besteuerung, die Rechtspflege liegt in der Hand der königlichen Beamten, und die Kollegialität, das Palladium des griechischen wie des römischen Gemeinwesens, ist hier in allen Stufen schlechthin ausgeschlossen. Aber in den beiden griechischen Städten ist es auch nicht viel anders. Es gibt wohl eine in Phylen und Demen eingeteilte Bürgerschaft, aber keinen Gemeinderat; die Beamten sind wohl andere und anders benannte als die der Nomen, aber auch durchaus Beamte königlicher Ernennung und ebenfalls ohne kollegialische Einrichtung. Erst Hadrian hat einer ägyptischen Ortschaft, dem von ihm zum Andenken an seinen im Nil ertrunkenen Liebling angelegten Antinoupolis, Stadtrecht nach griechischer Art gegeben und späterhin Severus, vielleicht ebensosehr den Antiochenern zum Trutz als zu Nutz der Ägypter, der Hauptstadt Ägyptens und der Stadt Ptolemais und noch mehreren anderen ägyptischen Gemeinden zwar keine städtischen Magistrate, aber doch einen städtischen Rat bewilligt. Bis dahin nennt sich zwar im offiziellen Sprachgebrauch die ägyptische Stadt Nomos, die griechische Polis, aber eine Polis ohne Archonten und Buleuten ist ein inhaltloser Name. So ist es auch in der Prägung. Die ägyptischen Nomen haben das Prägerecht nicht gehabt; aber noch weniger hat Alexandreia jemals Münzen geschlagen. Ägypten ist unter allen Provinzen der griechischen Reichshälfte die einzige, welche keine andere Münze als Königsmünze kennt. Auch in römischer Zeit war dies nicht anders. Die Kaiser stellten die unter den letzten Lagiden eingerissenen Mißbräuche ab: Augustus beseitigte die unreelle Kupferprägung derselben, und als Tiberius die Silberprägung wieder aufnahm, gab er dem ägyptischen Silbergeld ebenso reellen Wert wie dem übrigen Provinzialkurant des Reiches. Aber der Charakter der Prägung blieb im wesentlichen der gleiche. Es ist ein Unterschied zwischen Nomos und Polis wie zwischen dem Gott Chemmis und dem Gott Alexander; in administrativer Hinsicht ist eine Verschiedenheit nicht da. Ägypten bestand aus einer Mehrzahl ägyptischer und einer Minderzahl griechischer Ortschaften, welche sämtlich der Autonomie entbehrten und sämtlich unter unmittelbarer und absoluter Verwaltung des Königs und der von diesem ernannten Beamten standen.

Es war hiervon eine Folge, daß Ägypten allein unter allen römischen Provinzen keine allgemeine Vertretung gehabt hat. Der Landtag ist die Gesamtrepräsentation der sich selber verwaltenden Gemeinden der Provinz. In Ägypten aber gab es solche nicht; die Nomen waren lediglich kaiserliche oder vielmehr königliche Verwaltungsbezirke, und Alexandreia stand nicht bloß so gut wie allein, sondern war ebenfalls ohne eigentliche munizipale Organisation. Der an der Spitze der Landeshauptstadt stehende Priester konnte wohl sich »Oberpriester von Alexandreia und ganz Ägypten« nennen und hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Asiarchen und dem Bithyniarchen Kleinasiens; aber die tiefe Verschiedenheit der Organisationen wird dadurch doch nur verdeckt.

Die Herrschaft trägt dementsprechend in Ägypten einen ganz anderen Charakter als in dem übrigen schließlich unter dem Kaiserregiment zusammengefaßten Gebiet der griechischen und der römischen Zivilisation. In diesem verwaltet durchgängig die Gemeinde; der Herrscher des Reiches ist genau genommen nur der gemeinsame Vorsteher der zahlreichen mehr oder minder autonomen Bürgerschaften, und neben den Vorzügen der Selbstverwaltung treten ihre Nachteile und Gefahren überall hervor. In Ägypten ist der Herrscher König, der Landesbewohner sein Untertan, die Verwaltung die der Domäne. Diese prinzipiell ebenso von oben herab absolut geführte wie auf das gleiche Wohlergehen aller Untertanen ohne Unterschied des Ranges und des Vermögens gerichtete Verwaltung ist die Eigenart des Lagidenregiments, entwickelt wahrscheinlich mehr aus der Hellenisierung der alten Pharaonenherrschaft als aus der städtisch geordneten Weltherrschaft, wie der große Makedonier sie gedacht hatte und wie sie am vollkommensten in dem syrischen Neumakedonien zur Durchführung gelangte. Das System forderte einen in eigener Person nicht bloß heerführenden, sondern in täglicher Arbeit verwaltenden König, eine entwickelte und streng disziplinierte Beamtenhierarchie, rücksichtslose Gerechtigkeit gegen Hohe und Niedere; und wie diese Herrscher, nicht durchaus ohne Grund, sich wohl den Namen des Wohltäters (εΰεργέσπς) beilegten, so darf die Monarchie der Lagiden zusammengestellt werden mit der friderizianischen, von der sie in den Grundzügen sich nicht entfernte. Allerdings hatte die Kehrseite, das unvermeidliche Zusammenbrechen des Systems in unfähiger Hand, auch Ägypten erfahren. Aber die Norm blieb; und der augustische Prinzipat neben der Senatsherrschaft ist nichts als die Vermählung des Lagidenregiments mit der alten städtischen und bündischen Entwicklung.

Eine weitere Folge dieser Regierungsform ist die namentlich vom finanziellen Standpunkt aus unzweifelhafte Überlegenheit der ägyptischen Verwaltung über diejenige der übrigen Provinzen. Man kann die vorrömische Epoche bezeichnen als das Ringen der finanziell dominierenden Macht Ägyptens mit dem räumlich den übrigen Osten erfüllenden asiatischen Reich; in der römischen setzt sich dies in gewissem Sinn darin fort, daß die kaiserlichen Finanzen insbesondere durch den ausschließlichen Besitz Ägyptens denen des Senats überlegen gegenüberstehen. Wenn es der Zweck des Staates ist, den möglichst großen Betrag aus dem Gebiet herauszuwirtschaften, so sind in der alten Welt die Lagiden die Meister der Staatskunst schlechthin gewesen. Insonderheit waren sie auf diesem Gebiet die Lehrmeister und die Vorbilder der Cäsaren. Wieviel die Römer aus Ägypten zogen, vermögen wir nicht mit Bestimmtheit zu sagen. In der persischen Zeit hatte Ägypten einen Jahrestribut von 700 babylonischen Talenten Silbers, etwa 4 Millionen Mark, entrichtet; die Jahreseinnahme der Ptolemäer aus Ägypten oder vielmehr aus ihren Besitzungen überhaupt betrug in ihrer glänzendsten Periode 14 800 ägyptische Silbertalente oder 57 Millionen Mark und außerdem 1 ½ Millionen Artaben = 591 000 Hektoliter Weizen; am Ende ihrer Herrschaft reichlich 6000 Talente oder 23 Millionen Mark. Die Römer bezogen aus Ägypten jährlich den dritten Teil des für den Konsum von Rom erforderlichen Korns, 20 Millionen römische Scheffel = 1 740 000 Hektoliter; indes ist ein Teil davon sicher aus den eigentlichen Domänen geflossen, ein anderer vielleicht gegen Entschädigung geliefert worden, während andererseits die ägyptischen Steuern wenigstens zu einem großen Teil in Geld angesetzt waren, so daß wir nicht imstande sind, die ägyptische Einnahme der römischen Reichskasse auch nur annähernd zu bestimmen. Aber nicht bloß durch ihre Höhe ist sie für die römische Staatswirtschaft von entscheidender Bedeutung gewesen, sondern weil sie als Vorbild diente zunächst für den kaiserlichen Domanialbesitz in den übrigen Provinzen, überhaupt aber für die gesamte Reichsverwaltung, wie dies bei deren Darlegung auseinanderzusetzen ist.

Aber wenn die kommunale Selbstverwaltung in Ägypten keine Stätte hat und in dieser Hinsicht zwischen den beiden Nationen, aus welchen dieser Staat ebenso wie der syrische sich zusammensetzt, eine reale Verschiedenheit nicht besteht, so ist zwischen ihnen in anderer Beziehung eine Schranke aufgerichtet, wozu Syrien keine Parallele bietet. Nach der Ordnung der makedonischen Eroberer disqualifizierte die ägyptische Ortsangehörigkeit für sämtliche öffentliche Ämter und für den besseren Kriegsdienst. Wo der Staat seinen Bürgern Zuwendungen machte, beschränkten sich diese auf die der griechischen Gemeinden; die Kopfsteuer dagegen zahlten lediglich die Ägypter, und auch von den Gemeindelasten, die die Eingesessenen des einzelnen ägyptischen Bezirkes treffen, sind die daselbst ansässigen Alexandriner befreit. Obwohl im Falle des Vergehens der Rücken des Ägypters wie des Alexandriners büßte, so durfte doch dieser sich rühmen, und tat es auch, daß ihn der Stock treffe und nicht wie jenen die Peitsche. Sogar die Gewinnung des besseren Bürgerrechts war den Ägyptern untersagt. Die Bürgerverzeichnisse der zwei großen von den beiden Reichsgründern geordneten und benannten Griechenstädte in Unter- und Oberägypten faßten die herrschende Bevölkerung in sich, und der Besitz des Bürgerrechts einer dieser Städte war in dem Ägypten der Ptolemäer dasselbe was der Besitz des römischen Bürgerrechts im römischen Reich. Was Aristoteles dem Alexander empfahl, den Hellenen ein Herrscher (ηγεμων), den Barbaren ein Herr zu sein, jene als Freunde und Genossen zu versorgen, diese wie die Tiere und die Pflanzen zu nutzen, das haben die Ptolemäer in vollem Umfang praktisch durchgeführt. Der König, größer und freier als sein Lehrmeister, trug den höheren Gedanken im Sinne der Umwandlung der Barbaren in Hellenen oder wenigstens der Ersetzung der barbarischen Ansiedlungen durch hellenische, und diesem gewährten die Nachfolger fast überall und namentlich in Syrien breiten Spielraum. In Ägypten geschah das gleiche nicht. Wohl suchten dessen Herrscher mit den Eingeborenen namentlich auf dem religiösen Gebiet Fühlung zu halten und wollten nicht als Griechen über die Ägypter, viel eher als irdische Götter über die Untertanen insgemein herrschen; aber damit vertrug sich die ungleiche Berechtigung der Untertanen durchaus, eben wie die rechtliche und faktische Bevorzugung des Adels ein ebenso wesentlicher Teil des friderizianischen Regiments war wie die gleiche Gerechtigkeit gegen Vornehme und Geringe.

Wie die Römer im Orient überhaupt das Werk der Griechen fortsetzten, so blieb auch die Ausschließung der einheimischen Ägypter von der Gewinnung des griechischen Bürgerrechts nicht bloß bestehen, sondern wurde auf das römische Bürgerrecht ausgedehnt. Der ägyptische Grieche dagegen konnte das letztere ebenso wie jeder andere Nichtbürger gewinnen. Der Eintritt freilich in den Senat wurde ihm so wenig gestattet wie dem römischen Bürger aus Gallien, und diese Beschränkung ist viel länger für Ägypten als für Gallien in Kraft geblieben; erst im Anfang des 3. Jahrhunderts wurde in einzelnen Fällen davon abgesehen und als Regel hat sie noch im fünften gegolten. In Ägypten selbst wurden die Stellungen der Oberbeamten, das heißt der für die ganze Provinz fungierenden, und ebenso die Offizierstellen den römischen Bürgern in der Form vorbehalten, daß als Qualifikation dafür das Ritterpferd verlangt ward; es war dies durch die allgemeine Reichsordnung gegeben, und ähnliche Privilegien hatten ja in Ägypten unter den früheren Lagiden die Makedonier gegenüber den sonstigen Griechen besessen. Die Ämter zweiten Ranges blieben unter römischer Herrschaft wie bisher den ägyptischen Ägyptern verschlossen und wurden mit Griechen besetzt, zunächst den Bürgern von Alexandreia und Ptolemais. Wenn im Reichskriegsdienst für die erste Klasse das römische Bürgerrecht gefordert wurde, so ließ man doch bei den in Ägypten selbst stationierten Legionen auch den ägyptischen Griechen nicht selten in der Weise zu, daß ihm bei der Aushebung das römische Bürgerrecht verliehen ward. Für die Kategorie der Auxiliartruppen unterlag die Zulassung der Griechen keiner Beschränkung; die Ägypter aber sind auch hierfür wenig oder gar nicht, dagegen für die unterste Klasse, die in der ersten Kaiserzeit noch aus Sklaven gebildete Flottenmannschaft späterhin in beträchtlicher Zahl verwendet worden. Im Laufe der Zeit hat die Zurücksetzung der eingeborenen Ägypter wohl in ihrer Strenge nachgelassen und sind dieselben öfter zum griechischen und mittels dessen auch zum römischen Bürgerrecht gelangt; im ganzen aber ist das römische Regiment einfach die Fortsetzung wie der griechischen Herrschaft so auch der griechischen Exklusivität gewesen. Wie das makedonische Regiment sich mit Alexandreia und Ptolemais begnügt hatte, so hat auch das römische einzig in dieser Provinz nicht eine einzige Kolonie gegründet.

Auch die Sprachordnung ist in Ägypten wesentlich unter den Römern geblieben, wie die Ptolemäer sie festgestellt hatten. Abgesehen von dem Militär, bei dem das Lateinische allein herrschte, ist für den Verkehr der oberen Stellen die Geschäftssprache die griechische. Der einheimischen Sprache, die, von den semitischen wie von den arischen Sprachen radikal verschieden, am nächsten vielleicht derjenigen der Berbern in Nordafrika verwandt ist, und der einheimischen Schrift haben die römischen Herrscher und ihre Statthalter sich nie bedient, und wenn schon unter den Ptolemäern den ägyptisch geschriebenen Aktenstücken griechische Übersetzung beigefügt werden mußte, so gilt für diese ihre Nachfolger mindestens dasselbe. Allerdings blieb es den Ägyptern unversehrt, soweit es ihnen nach dem Ritual erforderlich oder sonst zweckmäßig erschien, sich der Landessprache und ihrer altgeheiligten Schriftzeichen zu bedienen; es mußte auch in diesem alten Heim des Schriftgebrauchs im gewöhnlichen Verkehr nicht bloß bei Privatkontrakten, sondern selbst bei Steuerquittungen und ähnlichen Schriftstücken die dem großen Publikum allein geläufige Landessprache und die übliche Schrift zugelassen werden. Aber es war dies eine Konzession und der herrschende Hellenismus bemüht, sein Reich zu erweitern. Das Bestreben den im Lande herrschenden Anschauungen und Überlieferungen auch im Griechischen einen allgemeingültigen Ausdruck zu schaffen hat der Doppelnamigkeit in Ägypten eine Ausdehnung gegeben wie nirgend sonst. Alle ägyptische Götter, deren Namen nicht selbst den Griechen geläufig wurden, wie der der Isis, wurden mit entsprechenden oder auch nicht entsprechenden griechischen geglichen; vielleicht die Hälfte der Ortschaften, eine Menge von Personen führen sowohl eine einheimische wie eine griechische Benennung. Allmählich drang hierin die Hellenisierung durch. Die alte heilige Schrift begegnet auf den erhaltenen Denkmälern zuletzt unter Kaiser Decius um die Mitte des 3., ihre geläufigere Abart zuletzt um die Mitte des 5. Jahrhunderts; aus dem gemeinen Gebrauch sind beide beträchtlich früher verschwunden. Die Vernachlässigung und der Verfall der einheimischen Elemente der Zivilisation drückt sich darin aus. Die Landessprache selbst behauptete sich noch lange nachher in den abgelegenen Orten und den niederen Schichten und ist erst im 17. Jahrhundert völlig erloschen, nachdem sie, die Sprache der Kopten, gleich wie die syrische, infolge der Einführung des Christentums und der auf die Hervorrufung einer volkstümlichchristlichen Literatur gerichteten Bemühungen, in der späteren Kaiserzeit eine beschränkte Regeneration erfahren hatte.

In dem Regiment kommt vor allem in Betracht die Unterdrückung des Hofes und der Residenz, die notwendige Folge der Einziehung des Landes durch Augustus. Es blieb wohl, was bleiben konnte. Auf den in der Landessprache, also bloß für Ägypter geschriebenen Inschriften heißen die Kaiser wie die Ptolemäer Könige von Ober- und Unterägypten und die Auserwählten der ägyptischen Landesgötter, daneben freilich auch, was bei den Ptolemäern nicht geschehen war, Großkönige. Die Zeiten zählte man in Ägypten wie bisher nach dem landüblichen Kalender und seinem auf die römischen Herrscher übergehenden Königsjahr; den goldenen Becher, den in jedem Juni der König in den schwellenden Nil warf, warf jetzt der römische Vizekönig. Aber damit reichte man nicht weit. Der römische Herrscher konnte die mit seiner Reichsstellung unvereinbare Rolle des ägyptischen Königs nicht durchführen. Mit der Vertretung durch einen Untergebenen machte der neue Landesherr gleich bei dem ersten nach Ägypten gesandten Statthalter unbequeme Erfahrungen; der tüchtige Offizier und talentvolle Poet, der es nicht hatte lassen können, auch seinen Namen den Pyramiden einzuschreiben, wurde deswegen abgesetzt und ging daran zugrunde. Es war unvermeidlich, hier Schranken zu setzen. Die Geschäfte, deren Erledigung nach dem Alexandersystem nicht minder dem Fürsten persönlich oblag wie nach der Ordnung des römischen Prinzipats, mochte der römische Statthalter führen wie der einheimische König; König durfte er weder sein noch scheinen. Es ward das in der zweiten Stadt der Welt sicher tief und schwer empfunden. Der bloße Wechsel der Dynastie wäre nicht allzusehr ins Gewicht gefallen. Aber ein Hof wie der der Ptolemäer, geordnet nach dem Zeremoniell der Pharaonen, König und Königin in ihrer Göttertracht, der Pomp der Festzüge, der Empfang der Priesterschaften und der Gesandten, die Hofbankette, die großen Zeremonien der Krönung, der Eidesleistung, der Vermählung, der Bestattung, die Hofämter der Leibwächter und des Oberleibwächter (αρχισωματοφυλαξ), des einführenden Kammerherrn (εισαγγελευσ), des Obertafelmeisters (αρχεδεατροσ), des Oberjägermeisters (αρχικκυνηλοσ), die Vettern und Freunde des Königs, die Dekorierten – das alles ging für die Alexandriner ein für allemal unter mit der Verlegung des Herrschersitzes vom Nil an die Tiber. Nur die beiden berühmten alexandrinischen Bibliotheken blieben dort mit allem ihrem Zubehör und Personal als Rest der alten königlichen Herrlichkeit. Ohne Frage büßte Ägypten bei der Depossedierung seiner Regenten sehr viel mehr ein als Syrien; freilich waren beide Völkerschaften in der machtlosen Lage, daß sie hinnehmen mußten, was ihnen angesonnen ward, und an eine Auflehnung für die verlorene Weltmachtstellung ist hier so wenig wie dort auch nur gedacht worden.

Die Verwaltung des Landes liegt, wie schon gesagt ward, in den Händen des »Stellvertreters«, das heißt des Vizekönigs; denn obwohl der neue Landesherr, mit Rücksicht auf seine Stellung im Reiche, sowohl für sich wie für seine höhergestellten Vertreter der königlichen Benennungen auch in Ägypten sich enthielt, so hat er doch der Sache nach durchaus als Nachfolger der Ptolemäer die Herrschaft geführt, und die gesamte zivile wie militärische Obergewalt ist in seiner und seines Vertreters Hand vereinigt. Daß weder Nichtbürger noch Senatoren diese Stellung bekleiden durften, ist schon bemerkt worden; Alexandrinern, wenn sie zum Bürgerrecht und ausnahmsweise zum Ritterpferd gelangt waren, ist sie zuweilen übertragen worden. Im übrigen stand dieses Amt unter den nicht senatorischen an Rang und Einfluß anfänglich allen übrigen voran und späterhin einzig der Kommandantur der kaiserlichen Garde nach. Außer den eigentlichen Offizieren, wobei nur der Ausschluß des Senators und die dadurch bedingte niedrigere Titulatur des Legionskommandanten ( praefectus statt legatus) von der allgemeinen Ordnung sich entfernt, fungieren neben und unter dem Statthalter, und gleichfalls für ganz Ägypten, ein oberster Beamter für die Justiz und ein oberster Finanzverwalter, beide ebenfalls römische Bürger vom Ritterrang, und wie es scheint, nicht dem Verwaltungsschema der Ptolemäer entlehnt, sondern nach einem auch in anderen kaiserlichen Provinzen angewandten Verfahren dem Statthalter zu- und untergeordnet. – Alle übrigen Beamten fungieren nur für einzelne Bezirke und sind in der Hauptsache aus der ptolemäischen Ordnung übernommen. Daß die Vorsteher der drei Provinzen Unter-, Mittel- und Oberägypten, abgesehen vom Kommando mit dem gleichen Geschäftskreis wie der Statthalter ausgestattet, in augustischer Zeit aus den ägyptischen Griechen, späterhin wie die eigentlichen Oberbeamten aus der römischen Ritterschaft genommen wurden, ist bemerkenswert als ein Symptom der im Verlauf der Kaiserzeit sich steigernden Zurückdrängung des einheimischen Elements in der Magistratur. – Unter diesen oberen und mittleren Behörden stehen die Lokalbeamten, die Vorsteher der ägyptischen wie der griechischen Städte nebst den sehr zahlreichen bei dem Hebungswesen und den mannigfaltigen auf den Geschäftsverkehr gelegten Abgaben beschäftigten Subalternen und wieder in dem einzelnen Bezirk die Vorsteher der Unterbezirke und der Dörfer, welche Stellungen mehr als Lasten denn als Ehren angesehen und den Ortsangehörigen oder Ortsansässigen, jedoch mit Ausschluß der Alexandriner, durch den Oberbeamten auferlegt werden; die wichtigste darunter, die Vorstandschaft des Nomos, wird auf je drei Jahre von dem Statthalter besetzt. Die örtlichen Behörden der griechischen Städte waren der Anzahl wie der Titulatur nach andere; in Alexandreia namentlich fungierten vier Oberbeamte, der Priester Alexanders, der Stadtschreiber (υπομνατογραφοσ), der Oberrichter (αρχιδικαστησ) und der Nachtwächtermeister (νυκτερινοσ στρατηγοσ). Daß sie angesehener waren als die Strategen der Nomen, versteht sich von selbst und zeigt deutlich das dem ersten alexandrinischen Beamten zustehende Purpurgewand. Übrigens rühren sie ebenfalls aus der Ptolemäerzeit her und werden wie die Nomenvorsteher aus den Eingesessenen von der römischen Regierung auf Zeit ernannt. Römische Beamte kaiserlicher Ernennung finden sich unter diesen städtischen Vorstehern nicht. Aber der Priester des Museion, der zugleich der Präsident der alexandrinischen Akademie der Wissenschaften ist und auch über die bedeutenden Geldmittel dieser Anstalt verfügt, wird vom Kaiser ernannt; ebenso werden die Aufsicht über das Alexandergrab und die damit verbundenen Baulichkeiten und einige andere wichtige Stellungen in der Hauptstadt Ägyptens von der Regierung in Rom mit Beamten von Ritterrang besetzt.

Selbstverständlich sind Alexandriner und Ägypter in diejenigen Prätendentenbewegungen hineingezogen worden, die vom Orient ausgingen, und haben dabei regelmäßig mitgemacht; auf diese Weise sind hier Vespasian, Cassius, Niger, Macrianus, Vaballathus, der Sohn der Zenobia, Probus zu Herrschern ausgerufen worden. Die Initiative aber haben in allen diesen Fällen weder die Bürger von Alexandreia ergriffen noch die wenig angesehenen ägyptischen Truppen, und die meisten dieser Revolutionen, auch die mißlungenen, haben für Ägypten keine besonders empfindlichen Folgen gehabt. Aber die an den Namen der Zenobia sich knüpfende Bewegung ist für Alexandreia und für ganz Ägypten fast ebenso verhängnisvoll geworden wie für Palmyra. In Stadt und Land standen die palmyrenisch und die römisch Gesinnten mit den Waffen und der Brandfackel in der Hand sich gegenüber. An der Südgrenze rückten die barbarischen Blemyer ein, wie es scheint, im Einverständnis mit dem palmyrenisch gesinnten Teil der Bewohner Ägyptens, und bemächtigten sich eines großen Teils von Oberägypten. In Alexandreia war der Verkehr zwischen den beiden feindlichen Quartieren aufgehoben, selbst Briefe zu befördern war schwierig und gefährlich. Die Gassen starrten von Blut und von unbegrabenen Leichen. Die dadurch erzeugten Seuchen wüteten noch ärger als das Schwert; und damit keines der vier Rosse des Verderbens mangele, versagte auch der Nil und gesellte sich die Hungersnot zu den übrigen Geißeln. Die Bevölkerung schmolz in der Weise zusammen, daß, wie ein Zeitgenosse sagt, es früher in Alexandreia mehr Greise gab als nachher Bürger. Als der von Claudius gesandte Feldherr Probus endlich die Oberhand gewann, warfen sich die palmyrenisch Gesinnten, darunter die Mehrzahl der Ratsmitglieder, in das feste Kastell Prucheion in der unmittelbaren Nähe der Stadt; und obwohl, als Probus den Austretenden Schonung des Lebens verhieß, die große Mehrzahl sich unterwarf, harrte doch ein beträchtlicher Teil der Bürgerschaft bis zum äußersten aus in dem Kampf der Verzweiflung. Die Festung, endlich durch Hunger bezwungen, wurde geschleift und lag seitdem öde; die Stadt aber verlor ihre Mauern. In dem Lande haben die Blemyer sich noch Jahre lang behauptet; erst Kaiser Probus hat Ptolemais und Koptos ihnen wieder entrissen und sie aus dem Lande hinausgeschlagen. Der Notstand, den diese durch eine Reihe von Jahren sich hinziehenden Unruhen hervorgerufen haben müssen, mag dann wohl die einzige nachweislich in Ägypten entstandene Revolution zum Ausbruch gebracht haben. Unter der Regierung Diocletians lehnten sich, wir wissen nicht warum und wozu, sowohl die eingeborenen Ägypter wie die Bürgerschaft von Alexandreia gegen die bestehende Regierung auf. Es wurden Gegenkaiser aufgestellt, Lucius Domitius Domitianus und Achilleus, falls nicht etwa beide Namen dieselbe Persönlichkeit bezeichnen; die Empörung währte drei bis vier Jahre; die Städte Busiris im Delta und Koptos unweit Theben wurden von den Truppen der Regierung zerstört und schließlich unter der eigenen Führung Diocletians im Frühjahr 297 die Hauptstadt nach achtmonatlicher Belagerung bezwungen. Von dem Herunterkommen des reichen, aber durchaus auf den inneren und äußeren Frieden angewiesenen Landes zeugt nichts so deutlich wie die im J. 302 erlassene Verfügung desselben Diocletian, daß ein Teil des bisher nach Rom gesandten ägyptischen Getreides in Zukunft der alexandrinischen Bürgerschaft zugute kommen solle. Allerdings gehört dies zu den Maßregeln, welche die Dekapitalisierung Roms bezweckten; aber den Alexandrinern, die zu begünstigen dieser Kaiser wahrlich keine Ursache hatte, wäre die Lieferung nicht zugewandt worden, wenn sie sie nicht dringend gebraucht hätten.

Wirtschaftlich ist Ägypten bekanntlich vor allem das Land des Ackerbaues. Zwar ist die »schwarze Erde« – das bezeichnet der einheimische Landesname Chemi – nur ein schmaler Doppelstreifen zu beiden Seiten des mächtigen von der letzen Stromschnelle bei Syene, der Südgrenze des eigentlichen Ägyptens, auf 120 Meilen in breiter Fülle durch die rechts und links sich ausdehnende gelbe Wüste zum Mittelländischen Meer strömenden Nil; nur an seinem letzten Ende breitet die »Gabe des Flusses«, das Nildelta zwischen den mannigfaltigen Armen seiner Mündung sich zu beiden Seiten weiter aus. Auch der Ertrag dieser Strecken hängt Jahr für Jahr ab von dem Nil und den sechzehn Ellen seiner Schwelle, den den Vater umspielenden sechzehn Kindern, wie die Kunst der Griechen den Flußgott darstellt; mit gutem Grund nennen die Araber die niedrigen Ellen mit den Namen der Engel des Todes, denn erreicht der Fluß die volle Höhe nicht, so trifft das ganze ägyptische Land Hunger und Verderben. Im allgemeinen aber vermag Ägypten, wo die Bestellungskosten verschwindend niedrig sind, der Weizen hundertfältig trägt und auch die Gemüsezucht, der Weinbau, die Baumkultur, namentlich die Dattelpalme, und die Viehzucht guten Ertrag bringen, nicht bloß eine dichte Bevölkerung zu ernähren, sondern auch reichlich Getreide in das Ausland zu senden. Dies führte dazu, daß nach der Einsetzung der Fremdherrschaft dem Lande selbst von seinem Reichtum nicht viel verblieb. Ungefähr wie in persischer Zeit und wie heutzutage schwoll damals der Nil und frohnten die Ägypter hauptsächlich für das Ausland, und zunächst dadurch spielt Ägypten in der Geschichte des kaiserlichen Rom eine wichtige Rolle. Nachdem Italiens eigener Getreidebau gesunken und Rom die größte Stadt der Welt geworden war, bedurfte dasselbe der stetigen Zufuhr billigen überseeischen Getreides; und vor allem durch die Lösung der nicht leichten wirtschaftlichen Aufgabe, die hauptstädtische Zufuhr finanziell möglich zu machen und sicherzustellen, hat der Prinzipat sich befestigt. Diese Lösung ruhte auf dem Besitz Ägyptens, und insofern hier der Kaiser ausschließlich gebot, hielt er durch Ägypten das Land Italien mit seinen Dependenzen in Schach. Als Vespasianus die Herrschaft ergriff, sandte er seine Truppen nach Italien, er selbst aber ging nach Ägypten und bemächtigte sich Roms durch die Kornflotte. Wo immer ein römischer Regent daran gedacht hat oder haben soll, den Sitz der Regierung nach dem Osten zu verlegen, wie uns von Cäsar, Antonius, Nero, Geta erzählt wird, da richten sich die Gedanken wie von selber nicht nach Antiocheia, obwohl dies damals die regelmäßige Residenz des Ostens war, sondern nach der Geburtsstätte und der festen Burg des Prinzipats, nach Alexandreia. – Deshalb war denn auch die römische Regierung auf die Hebung des Feldbaues in Ägypten eifriger bedacht als irgendwo sonst. Da derselbe von der Nilüberschwemmung abhängig ist, ward es möglich, durch systematisch durchgeführte Wasserbauten, künstliche Kanäle, Dämme, Reservoirs die für den Feldbau geeignete Fläche bedeutend zu erweitern. In den guten Zeiten Ägyptens, des Heimatlandes der Meßschnur und des Kunstbaues, war dafür viel geschehen, aber diese segensreichen Anlagen unter den letzten elenden und finanziell bedrängten Regierungen in argen Verfall geraten. So führte die römische Besitznahme sich würdig damit ein, daß Augustus durch die in Ägypten stehenden Truppen die Nilkanäle einer durchgreifenden Reinigung und Erneuerung unterwarf. Wenn zur Zeit der römischen Besitzergreifung die volle Ernte einen Stand des Flusses von vierzehn Ellen erfordert hatte und bei acht Ellen Mißernte eintrat, so genügten später, nachdem die Kanäle instand gesetzt waren, schon zwölf Ellen für eine volle Ernte und gaben acht Ellen noch einen genügenden Ertrag. Jahrhunderte nachher hat Kaiser Probus Ägypten nicht bloß von den Äthiopen befreit, sondern auch die Wasserbauten am Nil wieder instand gesetzt. Es darf überhaupt angenommen werden, daß die besseren Nachfolger Augusts in ähnlichem Sinne administrierten und daß, zumal bei der durch Jahrhunderte kaum unterbrochenen inneren Ruhe und Sicherheit, der ägyptische Ackerbau unter dem römischen Prinzipat in dauerndem Flor gestanden hat. Welche Rückwirkung diese Verhältnisse auf die Ägypter selbst hatten, vermögen wir genauer nicht zu verfolgen. Zu einem großen Teil beruhten die Einkünfte aus Ägypten auf dem kaiserlichen Domanialbesitz, welcher in römischer wie in früherer Zeit einen beträchtlichen Teil des ganzen Areals ausmachte; hier wird, zumal bei der wenig kostspieligen Bestellung, den Kleinpächtern, die dieselbe beschafften, nur eine mäßige Quote des Ertrags geblieben oder eine hohe Geldpacht auferlegt worden sein. Aber auch die zahlreichen und durchgängig kleineren Eigentümer werden eine hohe Grundsteuer in Getreide oder in Geld entrichtet haben. Die ackerbauende Bevölkerung, genügsam wie sie war, blieb in der Kaiserzeit wohl zahlreich; aber sicher lastete der Steuerdruck, sowohl an sich wie wegen der Verwendung des Ertrages im Ausland, schwerer auf Ägypten unter der römischen Fremdherrschaft als unter dem keineswegs schonenden Regiment der Ptolemäer. Von der Wirtschaft Ägyptens bildete der Ackerbau nur einen Teil; wie dasselbe in dieser Hinsicht Syrien weit voranstand, so hatte es vor dem wesentlich agrikolen Afrika die hohe Blüte der Fabriken und des Handels voraus. Die Linnenfabrikation in Ägypten steht an Alter und Umfang und Ruhm der syrischen mindestens gleich und hat, wenn auch die feineren Sorten in dieser Epoche vorzugsweise in Syrien und Phönikien fabriziert wurden, sich durch die ganze Kaiserzeit gehalten; als Aurelian die Lieferungen aus Ägypten an die Reichshauptstadt auf andere Gegenstände als Getreide erstreckte, fehlte unter diesen die Leinewand und der Werg nicht. In feinen Glaswaren behaupteten, sowohl in der Färbung wie in der Formung, die Alexandriner entschieden den ersten Platz, ja, wie sie meinten, insofern das Monopol, als gewisse beste Sorten nur mit ägyptischem Material herzustellen seien. Unbestritten hatten sie ein solches in dem Papyrus. Diese Pflanze, die im Altertum massenweise auf den Flüssen und Seen Unterägyptens kultiviert ward und sonst nirgends gedieh, lieferte den Eingeborenen sowohl Nahrung wie das Material für Stricke, Körbe und Kähne, das Schreibmaterial aber damals für die ganze schreibende Welt. Welchen Ertrag sie gebracht haben muß, ermißt man aus den Maßregeln, die der römische Senat ergriff, als einmal auf dem römischen Platz der Papyrus knapp ward und zu fehlen drohte; und da die mühsame Zubereitung nur an Ort und Stelle erfolgen kann, müssen zahllose Menschen davon in Ägypten gelebt haben. Auf Glas und Papyrus erstreckten sich neben dem Leinen die von Aurelian zugunsten der Reichshauptstadt eingeführten alexandrinischen Warenlieferungen. Vielfach muß der Verkehr mit dem Osten auf die ägyptische Fabrikation bietend und verlangend eingewirkt haben. Gewebe wurden daselbst für den Export nach dem Orient fabriziert, und zwar in der durch den Landesgebrauch geforderten Weise: die gewöhnlichen Kleider der Bewohner von Habesch waren ägyptisches Fabrikat; nach Arabien und Indien gingen die Prachtstoffe besonders der in Alexandreia kunstvoll betriebenen Bunt- und Goldwirkerei. Ebenso spielten die in Ägypten angefertigten Glaskorallen in dem Handel der afrikanischen Küste dieselbe Rolle wie heutzutage. Indien bezog teils Glasbecher, teils unverarbeitetes Glas zur eigenen Fabrikation; selbst am chinesischen Hof sollen die Glasgefäße, mit welchen die römischen Fremden dem Kaiser huldigten, hohe Bewunderung erregt haben. Ägyptische Kaufleute brachten dem König der Axomiten (Habesch) als stehende Geschenke nach dortiger Landesart angefertigte Gold- und Silbergefäße, den zivilisierteren Herrschern der südarabischen und der indischen Küste unter anderen Gaben auch Statuen, wohl von Bronze, und musikalische Instrumente. Dagegen sind die Materialien der Luxusfabrikation, die aus dem Orient kamen, insbesondere Elfenbein und Schildpatt, schwerlich vorzugsweise in Ägypten, hauptsächlich wohl in Rom verarbeitet worden. Endlich kam in einer Epoche, welche in öffentlichen Prachtbauten ihresgleichen niemals in der Welt gehabt hat, das kostbare Baumaterial, welches die ägyptischen Steinbrüche lieferten, in ungeheuren Massen auch außerhalb Ägyptens zur Verwendung: der schöne rote Granit von Syene, die Breccia verde aus der Gegend von Kosêr, der Basalt, der Alabaster, seit Claudius der graue Granit und besonders der Porphyr der Berge oberhalb Myos Hormos. Die Gewinnung derselben ward allerdings größtenteils für kaiserliche Rechnung durch Strafkolonisten bewirkt; aber wenigstens der Transport muß dem ganzen Lande und namentlich der Stadt Alexandreia zugute gekommen sein. Welchen Umfang der ägyptische Verkehr und die ägyptische Fabrikation gehabt hat, zeigt eine zufällig erhaltene Notiz über die Ladung eines durch seine Größe ausgezeichneten Lastschiffes (άκατος), das unter Augustus den jetzt an der Porta del Popolo stehenden Obelisken mit seiner Basis nach Rom brachte; es führte außerdem 200 Matrosen, 1200 Passagiere, 400 000 römische Scheffel (34 000 Hektoliter) Weizen und eine Ladung von Leinwand, Glas, Papier und Pfeffer. »Alexandreia«, sagt ein römischer Schriftsteller des 3. Jahrhundert, »ist eine Stadt der Fülle, des Reichtums und der Üppigkeit, in der niemand müßig geht; dieser ist Glasarbeiter, jener Papierfabrikant, der dritte Leinweber; der einzige Gott ist das Geld.« Es gilt dies verhältnismäßig von dem ganzen Lande.

Von dem Handelsverkehr Ägyptens mit den südlich angrenzenden Landschaften sowie mit Arabien und Indien wird weiterhin eingehend die Rede sein. Derjenige mit den Ländern des Mittelmeeres tritt in der Überlieferung weniger hervor, zum Teil wohl, weil er zu dem gewöhnlichen Gang der Dinge gehörte und nicht oft sich Veranlassung fand seiner besonders zu gedenken. Das ägyptische Getreide wurde von alexandrinischen Schiffern nach Italien geführt, und infolgedessen entstand in Portus bei Ostia ein dem alexandrinischen Sarapistempel nachgebildetes Heiligtum mit einer Schiffergemeinde; aber an dem Vertrieb der aus Ägypten nach dem Westen gehenden Waren werden diese Lastschiffe schwerlich in bedeutendem Umfang beteiligt gewesen sein. Dieser lag wahrscheinlich ebensosehr und vielleicht mehr in der Hand der italischen Reeder und Kapitäne als der ägyptischen; wenigstens gab es schon unter den Lagiden eine ansehnliche italische Niederlassung in Alexandreia und haben im Okzident die ägyptischen Kaufleute nicht die gleiche Verbreitung gehabt wie die syrischen. Die später zu erwähnenden Anordnungen Augusts, welche auf dem Arabischen und dem Indischen Meer den Handelsverkehr umgestalteten, fanden auf die Schiffahrt des Mittelländischen keine Anwendung; die Regierung hatte kein Interesse daran, hier die ägyptischen Kaufleute vor den übrigen zu begünstigen. Es blieb dort der Verkehr vermutlich wie er war.

Ägypten war also nicht bloß in seinen anbaufähigen Teilen mit einer dichten ackerbauenden Bevölkerung besetzt, sondern auch, wie schon die zahlreichen und zum Teil sehr ansehnlichen Flecken und Städte dies erkennen lassen, ein Fabrikland, und daher denn auch weitaus die am stärksten bevölkerte Provinz des römischen Reiches. Das alte Ägypten soll eine Bevölkerung von 7 Millionen gehabt haben; unter Vespasian zählte man in den offiziellen Listen 7-1/2 Millionen kopfsteuerpflichtiger Einwohner, wozu die von der Kopfsteuer befreiten Alexandriner und sonstigen Griechen, sowie die wahrscheinlich nicht sehr zahlreichen Sklaven hinzutreten, so daß die Bevölkerung mindestens auf 8 Millionen Köpfe anzusetzen ist. Da das anbaufähige Areal heutzutage auf 500 deutsche Quadratmeilen, für die römische Zeit höchstens auf 700 veranschlagt werden kann, so wohnten damals in Ägypten auf der Quadratmeile durchschnittlich etwa 11 000 Menschen.

Wenn wir den Blick auf die Bewohner Ägyptens richten, so sind die beiden das Land bewohnenden Nationen, die große Masse der Ägypter und die kleine Minderzahl der Alexandriner, durchaus verschiedene Kreise, wenngleich zwischen beiden die Ansteckungskraft des Lasters und die allem Laster eigene Gleichartigkeit eine schlimme Gemeinschaft des Bösen gestiftet hat.

Die eingeborenen Ägypter werden von ihren heutigen Nachkommen weder in der Lage noch in der Art sich weit entfernt haben. Sie waren genügsam, nüchtern, arbeitsfähig und tätig, geschickte Handwerker und Schiffer und gewandte Kaufleute, festhaltend am alten Herkommen und am alten Glauben. Wenn die Römer versichern, daß die Ägypter stolz seien auf die Geißelmale wegen begangener Steuerdefrauden, so sind dies Anschauungen vom Standpunkt aus des Steuerbeamten. Es fehlte in der nationalen Kultur nicht an guten Keimen; bei aller Überlegenheit der Griechen auch in dem geistigen Kampfe der beiden so völlig verschiedenen Rassen hatten die Ägypter wieder manche und wesentliche Dinge vor den Hellenen voraus, und sie empfanden dies auch. Es ist schließlich doch der Rückschlag ihrer eigenen Empfindung, wenn die ägyptischen Priester der griechischen Unterhaltungsliteratur die von den Hellenen sogenannte Geschichtsforschung und ihre Behandlung poetischer Märchen als wirklicher Überlieferung aus vergangenen Urzeiten verspotten; in Ägypten mache man keine Verse, aber ihre ganze alte Geschichte sei eingeschrieben auf den Tempeln und Gedächtnissteinen; freilich seien jetzt nur noch wenige derselben kundig, da viele Denkmale zerstört seien und die Überlieferung zugrunde gehe durch die Unwissenheit und die Gleichgültigkeit der Späteren. Aber diese berechtigte Klage trägt in sich selbst die Hoffnungslosigkeit; der ehrwürdige Baum der ägyptischen Zivilisation war längst zum Niederschlagen gezeichnet. Der Hellenismus drang zersetzend bis an die Priesterschaft selbst. Ein ägyptischer Tempelschreiber, Chäremon, der als Lehrer der griechischen Philosophie an den Hof des Claudius für den Kronprinzen berufen ward, legte in seiner »ägyptischen Geschichte« den alten Landesgöttern die Elemente der stoischen Physik unter und die in der Landesschrift geschriebenen Urkunden in diesem Sinne aus. In dem praktischen Leben der Kaiserzeit kam das alte ägyptische Wesen fast nur noch in Betracht auf dem religiösen Gebiet. Religion war diesem Volke eins und alles. Die Fremdherrschaft an sich wurde willig ertragen, man möchte sagen kaum empfunden, solange sie die heiligen Gebräuche des Landes und was damit zusammenhing, nicht antastete. Freilich hing damit in dem inneren Landesregiment so ziemlich alles zusammen, Schrift und Sprache, Priesterprivilegien und Priesterhoffart, Hofsitte und Landesart; die Fürsorge der Regierung für den derzeit lebenden heiligen Ochsen, die Leistungen für dessen Bestattung bei seinem Ableben und für die Auffindung des geeigneten Nachfolgers galten diesen Priestern und diesem Volke als das Kriterium der Tüchtigkeit des jedesmaligen Landesherrn und als der Maßstab für die ihm schuldige Achtung und Treue. Der erste Perserkönig führte sich damit in Ägypten ein, daß er das Heiligtum der Neith in Sais seiner Bestimmung, das heißt den Priestern, zurückgab; der erste Ptolemäos brachte, noch als makedonischer Statthalter, die nach Asien entführten ägyptischen Götterbilder an ihre alte Stätte zurück und restituierte den Göttern von Pe und Tep die ihnen entfremdeten Landschenkungen; für die bei dem großen Siegeszuge des Euergetes aus Persien heimgebrachten heiligen Tempelbilder statten die Landespriester in dem berühmten kanopischen Dekret vom J. 238 v. Chr. dem König ihren Dank ab; die landübliche Einreihung der lebenden Herrscher und Herrscherinnen in den Kreis der Landesgötter haben diese Ausländer ebenso mit sich vornehmen lassen wie die ägyptischen Pharaonen. Die römischen Herrscher sind diesem Beispiel nur in beschränktem Maße gefolgt. In der Titulatur gingen sie wohl, wie wir sahen, einigermaßen auf den Landeskultus ein, vermieden aber doch, selbst in ägyptischer Fassung, die mit den okzidentalischen Anschauungen in allzu grellem Kontrast stehenden landüblichen Prädikate. Da diese Lieblinge des Ptah und der Isis in Italien gegen die ägyptische Götterverehrung ähnlich wie gegen die jüdische einschritten, ließen sie von solcher Liebe sich erklärlicherweise außerhalb der Hieroglyphen nichts merken und beteiligten sich auch in Ägypten in keiner Weise an dem Dienst der Landesgötter. Wie hartnäckig immer die Landesreligion noch unter der Fremdherrschaft bei den eigentlichen Ägyptern festgehalten ward, die Pariastellung, in welcher diese selbst neben den herrschenden Griechen und Römern sich befanden, drückte notwendig auf den Kultus und die Priester, und von der führenden Stellung, dem Einflusse, der Bildung des alten ägyptischen Priesterstandes sind unter dem römischen Regiment nur dürftige Reste wahrzunehmen. Dagegen diente die von Hause aus schöner Gestaltung und geistiger Verklärung abgewandte Landesreligion in und außer Ägypten als Ausgangs- und Mittelpunkt für allen erdenklichen frommen Zauber und heiligen Schwindel – es genügt dafür zu erinnern an den in Ägypten heimischen dreimal größten Hermes mit der an seinen Namen sich knüpfenden Literatur von Traktätchen und Wunderbüchern sowie der entsprechenden weitverbreiteten Praxis. In den Kreisen aber der Eingeborenen knüpften sich in dieser Epoche an den Kultus die ärgsten Mißbräuche – nicht bloß viele Tage hindurch fortgesetzte Zechgelage zu Ehren der einzelnen Ortsgottheiten mit der dazugehörigen Unzucht, sondern auch dauernde Religionsfehden zwischen den einzelnen Sprengeln um den Vorrang des Ibis vor der Katze, des Krokodils vor dem Pavian. Im J. 127 n. Chr. wurden wegen eines solchen Anlasses die Ombiten im südlichen Ägypten von einer benachbarten Gemeinde bei einem Festgelage überfallen, und es sollen die Sieger einen der Erschlagenen gefressen haben. Bald nachher verzehrte die Hundegemeinde der Hechtgemeinde zum Trotz einen Hecht und diese jener zum Trotze einen Hund, und es brach darüber zwischen diesen beiden Nomen ein Krieg aus, bis die Römer einschritten und beide Parteien abstraften. Dergleichen Vorgänge waren in Ägypten an der Tagesordnung. Auch sonst fehlte es an Unruhen im Lande nicht. Gleich der erste von Augustus bestellte Vizekönig von Ägypten mußte wegen vermehrter Steuern Truppen nach Oberägypten senden, nicht minder, vielleicht ebenfalls infolge des Steuerdruckes, nach Heroonpolis am oberen Ende des Arabischen Meerbusens. Einmal, unter Kaiser Marcus, nahm ein Aufstand der eingeborenen Ägypter sogar einen bedrohlichen Charakter an. Als in den schwer zugänglichen Küstensümpfen ostwärts von Alexandreia, der sogenannten »Rinderweide« (bucolia), welche den Verbrechern und den Räubern als Zufluchtsort diente und eine Art Kolonie derselben bildete, einige Leute von einer römischen Truppenabteilung aufgegriffen wurden, erhob sich zu deren Befreiung die ganze Räuberschaft, und die Landbevölkerung schloß sich an. Die römische Legion aus Alexandreia ging ihnen entgegen, aber sie wurde geschlagen, und fast wäre Alexandreia selbst den Aufständischen in die Hände gefallen. Der Statthalter des Ostens, Avidius Cassius, rückte wohl mit seinen Truppen ein, wagte aber auch nicht gegen die Überzahl den Kampf, sondern zog es vor, in dem Bunde der Aufständischen Zwietracht hervorzurufen; nachdem die eine Bande gegen die andere stand, wurde die Regierung leicht ihrer aller Herr. Auch dieser sogenannte Rinderhirtenaufstand hat wahrscheinlich, wie dergleichen Bauernkriege meistens, einen religiösen Charakter getragen; der Führer Isidoros, der tapferste Mann Ägyptens, war seinem Stande nach ein Priester, und daß zur Bundesweihe nach Ableistung des Eides ein gefangener römischer Offizier geopfert und von den Schwörenden gegessen ward, paßt sowohl dazu wie zu dem Kannibalismus des Ombitenkrieges. Einen Nachklang dieser Vorgänge bewahren die ägyptischen Räubergeschichten der spätgriechischen untergeordneten Literatur. Wie sehr übrigens dieselben der römischen Verwaltung zu schaffen gemacht haben mögen, einen politischen Zweck haben sie nicht gehabt, und auch die allgemeine Ruhe des Landes nur partiell und temporär unterbrochen.

Neben den Ägyptern stehen die Alexandriner, einigermaßen wie in Ostindien die Engländer neben den Landeseingeborenen. Allgemein gilt Alexandreia in der vorkonstantinischen Kaiserzeit als die zweite Stadt des römischen Reiches und die erste Handelsstadt der Welt. Sie zählte am Ende der Lagidenherrschaft über 300 000 freie Einwohner, in der Kaiserzeit ohne Zweifel noch mehr. Die Vergleichung der beiden großen im Wetteifer miteinander erwachsenen Kapitalen am Nil und am Orontes ergibt ebenso viele Gleichartigkeiten wie Gegensätze. Beides sind verhältnismäßig neue Städte, monarchische Schöpfungen aus dem Nichts, von planmäßiger Anlage und regelmäßiger städtischer Einrichtung; das Wasser läuft in jedem Hause wie in Antiocheia so auch in Alexandreia. An Schönheit der Lage und Pracht der Gebäude war die Stadt im Orontestal der Rivalin ebenso überlegen wie diese ihr in der Gunst der Örtlichkeit für den Großhandel und an Volkszahl. Die großen öffentlichen Bauten der ägyptischen Hauptstadt, der königliche Palast, das der Akademie gewidmete Museion, vor allem der Tempel des Sarapis waren Wunderwerke einer früheren architektonisch hochentwickelten Epoche; aber der großen Zahl kaiserlichen Anlagen in der syrischen Residenz hat die von wenigen der Cäsaren betretene ägyptische Hauptstadt nichts Entsprechendes entgegenzustellen.

In der Unbotmäßigkeit und der Oppositionslust gegen das Regiment stehen Antiochener und Alexandriner einander gleich; man kann hinzusetzen auch darin, daß beide Städte, und namentlich Alexandreia, eben unter der römischen Regierung und durch dieselbe blühten und vielmehr Ursache hatten zu danken als zu frondieren. Wie die Alexandriner sich zu ihren hellenischen Regenten verhielten, davon zeugt die lange Reihe zum Teil noch heute gebräuchlicher Spottnamen, welche die königlichen Ptolemäer ohne Ausnahme dem Publikum ihrer Hauptstadt verdankten. Auch Kaiser Vespasianus empfing von den Alexandrinern für die Einführung einer Steuer auf Salzfisch den Titel des Sardellensäcklers :(Κυβιοσακτησ, Kubiodactis), der Syrer Severus Alexander den des Oberrabbiners; aber die Kaiser kamen selten nach Ägypten, und die fernen und fremden Herrscher boten diesem Spott keine rechte Zielscheibe. In ihrer Abwesenheit widmete das Publikum wenigstens den Vizekönigen die gleiche Aufmerksamkeit mit beharrlichem Eifer; selbst die Aussicht auf unausbleibliche Züchtigung vermochte die oft witzige und immer freche Zunge dieser Städter nicht zum Schweigen zu bringen. Vespasian begnügte sich in Vergeltung jener ihm bewiesenen Aufmerksamkeit die Kopfsteuer um sechs Pfennige zu erhöhen und bekam dafür den weiteren Namen des Sechspfennigmannes; aber ihre Reden über Severus Antonius, den kleinen Affen des großen Alexander und den Geliebten der Mutter Iokaste, sollten ihnen teuer zu stehen kommen. Der tückische Herrscher erschien in aller Freundschaft und ließ sich vom Volke feiern, dann aber seine Soldaten auf die festliche Menge einhauen, so daß tagelang die Plätze und Straßen der großen Stadt im Blute schwammen; ja er ordnete die Auflösung der Akademie an und die Verlegung der Legion in die Stadt selbst, was freilich beides nicht zur Ausführung kam. Aber wenn es in Antiocheia in der Regel bei den Spottreden blieb, so griff der alexandrinische Pöbel bei dem geringsten Anlaß zum Stein und zum Knittel. Im Krawallieren, sagt ein selbst alexandrinischer Gewährsmann, sind die Ägypter allen anderen voraus; der kleinste Funken genügt hier, um einen Tumult zu entfachen. Wegen versäumter Visiten, wegen Konfiskation verdorbener Lebensmittel, wegen Ausschließung aus einer Badeanstalt, wegen eines Streites zwischen dem Sklaven eines vornehmen Alexandriners und einem römischen Infanteristen über den Wert oder Unwert der beiderseitigen Pantoffel haben die Legionen auf die Bürgerschaft von Alexandreia einhauen müssen. Es kam hier zum Vorschein, daß die niedere Schicht der alexandrinischen Bevölkerung zum größeren Teil aus Eingeborenen bestand; bei diesen Aufläufen spielten die Griechen freilich die Anstifter, wie denn die Rhetoren, das heißt hier die Hetzredner, dabei ausdrücklich erwähnt werden, aber im weiteren Verlauf tritt dann die Tücke und die Wildheit des eigentlichen Ägypters ins Gefecht. Die Syrer sind feige, und als Soldaten sind es die Ägypter auch; aber im Straßentumult sind sie imstande einen Mut zu entwickeln, der eines besseren Zieles würdig wäre. An den Rennpferden ergötzten sich die Antiochener wie die Alexandriner; aber hier endigte kein Wagenrennen ohne Steinwürfe und Messerstiche. Von der Judenhetze unter Kaiser Gaius wurden beide Städte ergriffen; aber in Antiocheia genügte ein ernstes Wort der Behörde, um ihr ein Ende zu machen, während der alexandrinischen von einigen Bengeln durch eine Puppencharade angezettelten Tausende von Menschenleben zum Opfer fielen. Die Alexandriner, heißt es, gaben, wenn ein Auflauf entstand, nicht Frieden, bevor sie Blut gesehen hatten. Die römischen Beamten und Offiziere hatten daselbst einen schweren Stand. »Alexandreia«, sagt ein Berichterstatter aus dem 4. Jahrhundert, »betreten die Statthalter mit Zittern und Zagen, denn sie fürchten die Volksjustiz; wo ein Statthalter ein Unrecht begeht, da folgt sofort das Anstecken des Palastes und die Steinigung.« Das naive Vertrauen auf die Gerechtigkeit dieser Prozedur bezeichnet den Standpunkt des Schreibers, der zu diesem »Volke« gehört hat. Die Fortsetzung dieses die Regierung wie die Nation gleich entehrenden Lynchsystems liefert die sogenannte Kirchengeschichte, die Ermordung des den Heiden und den Orthodoxen gleich mißliebigen Bischofs Georgios und seiner Genossen unter Julian und die der schönen Freidenkerin Hypatia durch die fromme Gemeinde des Bischofs Kyrillos unter Theodosius II. Tückischer, unberechenbarer, gewalttätiger waren diese alexandrinischen Aufläufe als die antiochenischen, aber ebenso wie diese weder für den Bestand des Reiches gefährlich noch auch nur für die einzelne Regierung. Leichtfertige und bösartige Buben sind recht unbequem, aber auch nur unbequem, im Hause wie im Gemeinwesen.

Auch in dem religiösen Wesen haben beide Städte eine analoge Stellung. Den Landeskultus, wie die einheimische Bevölkerung ihn in Syrien wie in Ägypten festhielt, haben in seiner ursprünglichen Gestalt wie die Antiochener so auch die Alexandriner abgelehnt. Aber wie die Seleukiden, so haben auch die Lagiden sich wohl gehütet an den Grundlagen der alten Landesreligion zu rütteln und nur die älteren nationalen Anschauungen und Heiligtümer mit den schmiegsamen Gestalten des griechischen Olymp verquickend sie äußerlich einigermaßen hellenisiert, zum Beispiel den griechischen Gott der Unterwelt, den Pluton unter dem bis dahin wenig genannten ägyptischen Götternamen Sarapis in den Landeskultus eingeführt und auf diesen dann den alten Osiriskult allmählich übertragen. So spielten die echt ägyptische Isis und der pseudo-ägyptische Sarapis in Alexandreia eine ähnliche Rolle wie in Syrien der Belos und der Elagabalos, und drangen auch in ähnlicher Weise wie diese, wenngleich weniger mächtig und heftiger angefochten, in der Kaiserzeit allmählich in den okzidentalischen Kultus ein. In der bei Gelegenheit dieser religiösen Gebräuche und Feste entwickelten Unsittlichkeit und der durch priesterlichen Segen approbierten und stimulierten Unzucht hatten beide Städte sich einander nichts vorzuwerfen. – Bis in späte Zeit hinab hat der alte Kultus in dem frommen Lande Ägypten seine festeste Burg behauptet. Die Restauration des alten Glaubens sowohl wissenschaftlich in der an denselben sich anlehnenden Philosophie wie auch praktisch in der Abwehr der von den Christen gegen den Polytheismus gerichteten Angriffe und in der Wiederbelebung des heidnischen Tempeldienstes und der heidnischen Mantik hat ihren rechten Mittelpunkt in Alexandreia. Als dann der neue Glaube auch diese Burg eroberte, blieb die Landesart sich dennoch treu; die Wiege des Christentums ist Syrien, die des Mönchtums Ägypten. Von der Bedeutung und der Stellung der Judenschaft, in welcher ebenfalls beide Städte sich gleichen, ist schon in anderer Verbindung die Rede gewesen. Von der Regierung ins Land gerufene Einwanderer wie die Hellenen, standen sie wohl diesen nach und waren kopfsteuerpflichtig wie die Ägypter, aber hielten sich und galten mehr als diese. Ihre Zahl betrug unter Vespasian eine Million, etwa den achten Teil der Gesamtbevölkerung Ägyptens, und wie die Hellenen wohnten sie vorzugsweise in der Hauptstadt, von deren fünf Vierteln zwei jüdisch waren. An anerkannter Selbständigkeit, an Ansehen, Bildung und Reichtum war die alexandrinische Judenschaft schon vor dem Untergang Jerusalems die erste der Welt; und infolgedessen hat ein guter Teil der letzten Akte der jüdischen Tragödie, wie dies früher dargelegt worden ist, auf ägyptischem Boden sich abgespielt.

Alexandreia wie Antiocheia sind vorzugsweise Sitze der wohlhabenden Handel- und Gewerbetreibenden; aber in Antiocheia fehlt der Seehafen und was daran hängt, und wie rege es dort auf den Gassen herging, sie hielten doch keinen Vergleich aus gegen das Leben und Treiben der alexandrinischen Fabrikarbeiter und Matrosen. Dagegen hatte für den Lebensgenuß, das Schauspiel, das Diner, die Liebesfreuden Antiocheia mehr zu bieten als die Stadt, in der »niemand müßig ging«. Auch das eigentliche vorzugsweise an die rhetorischen Exhibitionen anknüpfende Literatentreiben, welches wir in der Schilderung Kleinasiens skizzierten, trat in Ägypten zurück, wohl mehr im Drang der Geschäfte des Tages als durch den Einfluß der zahlreichen und gut bezahlten in Alexandreia lebenden und großenteils auch dort heimischen Gelehrten. Für den Gesamtcharakter der Stadt kamen diese Männer des Museums, von denen noch weiter die Rede sein wird, vor allem wenn sie in fleißiger Arbeit ihre Schuldigkeit taten;, nicht in hervorragender Weise in Betracht. Die alexandrinischen Ärzte aber galten als die besten im ganzen Reich; freilich war Ägypten nicht minder die rechte Heimstätte der Quacksalber und der Geheimmittel und jener wunderlichen zivilisierten Form der Schäfermedizin, in welcher fromme Einfalt und spekulierender Betrug sich im Mantel der Wissenschaft drapieren. Des dreimal größten Hermes haben wir schon gedacht; auch der alexandrinische Sarapis hat im Altertum mehr Wunderkuren verrichtet als irgendeiner seiner Kollegen und selbst den praktischen Kaiser Vespasian angesteckt, daß auch er die Blinden und Lahmen heilte, jedoch nur in Alexandreia.

Obgleich der Platz, welchen Alexandreia in der geistigen und literarischen Entwicklung des späteren Griechenlands und der okzidentalischen Kultur überhaupt einnimmt oder einzunehmen scheint, nicht in einer Schilderung der örtlichen Zustände Ägyptens, sondern nur in derjenigen dieser Entwicklung selbst entsprechend gewürdigt werden kann, ist das alexandrinische Gelehrtenwesen und dessen Fortdauer unter dem römischen Regiment eine allzu merkwürdige Erscheinung, um nicht auch in dieser Verbindung in seiner allgemeinen Stellung berührt zu werden. Daß die Verschmelzung der orientalischen und der hellenischen Geisteswelt neben Syrien vorzugsweise in Ägypten sich vollzog, wurde schon bemerkt; und wenn der neue Glaube, der den Okzident erobern sollte, von Syrien ausging, so kam die ihm homogene Wissenschaft, diejenige Philosophie, welche neben dem Menschengeist und außerhalb desselben den überweltlichen Gott und die göttliche Offenbarung anerkennt und verkündet, vorzugsweise aus Ägypten, wahrscheinlich schon der neue Pythagoreismus, sicher das philosophische Neujudentum, von dem früher die Rede war, sowie der neue Platonismus, dessen Begründer, der Ägypter Plotinos, ebenfalls schon erwähnt ward. Auf dieser vorzugsweise in Alexandreia sich vollziehenden Durchdringung der hellenischen und der orientalischen Elemente beruht es hauptsächlich, daß, wie dies in der Darstellung der italischen Verhältnisse näher darzulegen ist, der dortige Hellenismus in der früheren Kaiserzeit vorzugsweise ägyptische Form trägt. Wie die an Pythagoras, Moses, Platon anknüpfenden altneuen Weisheiten von Alexandreia aus in Italien eindrangen, so spielte die Isis und was dazu gehört die erste Rolle in der bequemen Modefrömmigkeit, welche die römischen Poeten der augustischen Zeit und die pompeianischen Tempel aus der des Claudius uns zeigen. Die ägyptische Kunstübung herrscht vor in den kampanischen Fresken derselben Epoche wie in der tiburtinischen Villa Hadrians. Dem entspricht die Stellung, welche das alexandrinische Gelehrtenwesen in dem geistigen Leben der Kaiserzeit einnimmt. Nach außen hin beruht dasselbe auf der staatlichen Pflege der geistigen Interessen und würde mit mehr Recht an den Namen Alexanders anknüpfen als an den Alexandreias; es ist die Realisierung des Gedankens, daß in einem gewissen Stadium der Zivilisation Kunst und Wissenschaft durch das Ansehen und die Machtmittel des Staates gestützt und gefördert werden müssen, die Konsequenz des genialen Moments der Weltgeschichte, welcher Alexander und Aristoteles nebeneinander stellte. Es soll hier nicht gefragt werden, wie in dieser mächtigen Konzeption Wahrheit und Irrtum, Beschädigung und Hebung des geistigen Lebens sich miteinander mischen, nicht die dürftige Nachblüte des göttlichen Singens und des hohen Denkens der freien Hellenen einmal mehr gestellt werden neben den üppigen und doch auch großartigen Ertrag des späteren Sammelns, Forschens und Ordnens. Konnten die Institutionen, welche diesem Gedanken entsprangen, der griechischen Nation unwiederbringlich Verlorenes nicht oder, was schlimmer ist, nur scheinhaft erneuern, so haben sie ihr auf dem noch freien Bauplatz der geistigen Welt den einzig möglichen und auch einen herrlichen Ersatz gewährt. Für unsere Erwägung kommen vor allem die örtlichen Verhältnisse in Betracht. Kunstgärten sind einigermaßen unabhängig vom Boden, und nicht anders ist es mit diesen wissenschaftlichen Institutionen, nur daß sie ihrem Wesen nach an die Höfe gewiesen sind. Die materielle Unterstützung kann ihnen auch anderswo zuteil werden; aber wichtiger als diese ist die Gunst der höchsten Kreise, die ihnen die Segel schwellt, und die Verbindungen, welche, in den großen Zentren zusammenlaufend, diese Kreise der Wissenschaft füllen und erweitern. In der besseren Zeit der Alexandermonarchen hatte es solcher Zentren so viele gegeben als es Staaten gab, und dasjenige des Lagidenhofs war nur das angesehenste unter ihnen gewesen. Die römische Republik hatte die übrigen eines nach dem andern in ihre Gewalt gebracht und mit den Höfen auch die dazugehörigen wissenschaftlichen Anstalten und Kreise beseitigt. Daß der künftige Augustus, als er den letzten dieser Höfe aufhob, die damit verknüpften gelehrten Institute bestehen ließ, ist die rechte und nicht die schlechteste Signatur der veränderten Zeit. Der energischere und höhere Philhellenismus des Cäsarenregiments unterschied sich zu seinem Vorteil von dem republikanischen dadurch, daß er nicht bloß griechischen Literaten in Rom zu verdienen gab, sondern die große Tutel der griechischen Wissenschaft als einen Teil der Alexanderherrschaft betrachtete und behandelte. Freilich war, wie in dieser gesamten Regeneration des Reiches, der Bauplan großartiger als der Bau. Die königlich patentierten und pensionierten Musen, welche die Lagiden nach Alexandreia gerufen hatten, verschmähten es nicht, die gleichen Bezüge auch von den Römern anzunehmen; und die kaiserliche Munifizenz stand hinter der früheren königlichen nicht zurück. Der Bibliothekfonds von Alexandreia und der Fonds der Freistellen für Philosophen, Poeten, Ärzte und Gelehrte aller Art, sowie die diesen gewährten Immunitäten wurden von Augustus nicht vermindert, von Kaiser Claudius vermehrt, freilich mit der Auflage, daß die neuen claudischen Akademiker die griechischen Geschichtswerke des wunderlichen Stifters Jahr für Jahr in ihren Sitzungen zum Vortrag zu bringen hatten. Mit der ersten Bibliothek der Welt behielt Alexandreia zugleich durch die ganze Kaiserzeit einen gewissen Primat der wissenschaftlichen Arbeit, bis das Museion zugrunde ging und der Islam die antike Zivilisation erschlug. Es war auch nicht bloß die damit gebotene Gelegenheit, sondern zugleich die alte Tradition und die Geistesrichtung dieser Hellenen, welche der Stadt jenen Vorrang bewahrte, wie denn unter den Gelehrten die geborenen Alexandriner an Zahl und Bedeutung hervorragen. Auch in dieser Epoche sind zahlreiche und achtbare gelehrte Arbeiten, namentlich philologische und physikalische, aus dem Kreise der Gelehrten »vom Museum«, wie sie gleich den Parisern »vom Institut« sich titulierten, hervorgegangen; aber die literarische Bedeutung, welche die alexandrinische und die pergamenische Hofwissenschaft und Hofkunst in der besseren Epoche des Hellenismus für die gesamte hellenische und hellenisierende Welt gehabt hat, knüpfte nie auch nur entfernt sich an die römisch-alexandrinische. Die Ursache liegt nicht in dem Mangel an Talenten oder anderen Zufälligkeiten, am wenigsten daran, daß der Platz im Museum vom Kaiser zuweilen nach Gaben und immer nach Gunst vergeben ward und die Regierung damit völlig schaltete wie mit dem Ritterpferd und den Hausbeamtenstellungen; das war auch an den älteren Höfen nicht anders gewesen. Hofphilosophen und Hofpoeten blieben in Alexandreia, aber nicht der Hof; es zeigte sich hier recht deutlich, daß es nicht auf die Pensionen und Gratifikationen ankam, sondern auf die für beide Teile belebende Berührung der großen politischen und der großen wissenschaftlichen Arbeit. Diese stellte wohl für die neue Monarchie sich ein und damit auch ihre Konsequenzen; aber die Stätte dafür war nicht Alexandreia: diese Blüte der politischen Entwicklung gehörte billig den Lateinern und der lateinischen Hauptstadt. Die augustische Poesie und die augustische Wissenschaft sind unter ähnlichen Verhältnissen zu ähnlicher bedeutender und erfreulicher Entwicklung gelangt wie die hellenistische an dem Hof der Pergamener und der früheren Ptolemäer. Sogar in dem griechischen Kreise knüpfte, soweit die römische Regierung auf denselben im Sinne der Lagiden einwirkte, mehr als an Alexandreia sich dies an Rom an. Die griechischen Bibliotheken der Hauptstadt standen freilich der alexandrinischen nicht gleich, und ein dem alexandrinischen Museum vergleichbares Institut gab es in Rom nicht. Aber die Stellung an den römischen Bibliotheken öffnete die Beziehungen zu dem Hofe. Auch die von Vespasian eingerichtete, von der Regierung besetzte und besoldete hauptstädtische Professur der griechischen Rhetorik gab ihrem Inhaber, wenn er gleich nicht in dem Sinne Hausbeamter war wie der kaiserliche Bibliothekar, eine ähnliche Stellung und galt, ohne Zweifel deswegen, als der vornehmste Lehrstuhl des Reiches. Vor allem aber war das kaiserliche Kabinettsekretariat in seiner griechischen Abteilung die angesehenste und einflußreichste Stellung, zu der ein griechischer Literat überhaupt gelangen konnte. Versetzung von der alexandrinischen Akademie in ein derartiges hauptstädtisches Amt war nachweislich Beförderung. Auch abgesehen von allem, was die griechischen Literaten sonst allein in Rom fanden, genügten die Hofstellungen und die Hofämter, um den angesehensten von ihnen den Zug vielmehr dahin zu geben als an den ägyptischen »Freitisch«. Das gelehrte Alexandreia dieser Zeit ward eine Art Witwensitz der griechischen Wissenschaft, achtungswert und nützlich, aber auf den großen Zug der Bildung wie der Verbildung der Kaiserzeit von keinem durchschlagenden Einfluß; die Plätze im Museum wurden, wie billig, nicht selten an namhafte Gelehrte von auswärts vergeben, und für das Institut selbst kamen die Bücher der Bibliothek mehr in Betracht als die Bürger der großen Handels- und Fabrikstadt.

Die militärischen Verhältnisse Ägyptens stellten, eben wie in Syrien, den Truppen daselbst eine zwiefache Aufgabe: den Schutz der Südgrenze und der Ostküste, der freilich mit dem für die Euphratlinie erforderlichen nicht entfernt verglichen werden kann, und die Aufrechthaltung der inneren Ordnung im Lande wie in der Hauptstadt. Die römische Besatzung bestand, abgesehen von den bei Alexandreia und auf dem Nil stationierten Schiffen, die hauptsächlich für die Zollkontrolle gedient zu haben scheinen, unter Augustus aus drei Legionen nebst den dazugehörigen nicht zahlreichen Hilfstruppen, zusammen etwa 20 000 Mann. Es war dies etwa halb soviel, als er für die sämtlichen asiatischen Provinzen bestimmte, was der Wichtigkeit dieser Provinz für die neue Monarchie entsprach. Die Besatzung wurde aber wahrscheinlich noch unter Augustus selbst um ein Drittel und dann unter Domitian um ein weiteres Drittel vermindert. Anfänglich waren zwei Legionen außerhalb der Hauptstadt stationiert; das Hauptlager aber und bald das einzige lag vor den Toren derselben, da wo Cäsar der Sohn den letzten Kampf mit Antonius ausgefochten hatte, in der danach benannten Vorstadt Nikopolis. Diese hatte ihr eigenes Amphitheater und ihr eigenes kaiserliches Volksfest und war völlig selbständig eingerichtet, so daß eine Zeitlang die öffentlichen Lustbarkeiten von Alexandreia durch die ihrigen in Schatten gestellt wurden. Die unmittelbare Bewachung der Grenze fiel den Auxilien zu. Dieselben Ursachen also, welche in Syrien die Disziplin lockerten, die zunächst polizeiliche Aufgabe und die unmittelbare Berührung mit der großen Hauptstadt, kamen auch für die ägyptischen Truppen ins Spiel; hier trat noch hinzu, daß die üble Gewohnheit den Soldaten bei der Fahne das eheliche Leben oder doch ein Surrogat desselben zu gestatten und die Truppe aus diesen Lagerkindern zu ergänzen bei den makedonischen Regimentern der Ptolemäer seit langem einheimisch war und rasch auch bei den Römern sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade einbürgerte. Dementsprechend scheint das ägyptische Korps, in welchem die Okzidentalen noch seltener dienten als in den übrigen Armeen des Ostens und das zum großen Teil aus der Bürgerschaft und dem Lager von Alexandreia sich rekrutierte, unter allen Armeekorps das am wenigstens angesehene gewesen zu sein, wie denn auch die Offiziere dieser Legion, wie schon bemerkt ward, im Rang denen der übrigen nachstanden.

Die eigentlich militärische Aufgabe der ägyptischen Truppen hängt eng zusammen mit den Maßregeln für die Hebung des ägyptischen Handels. Es wird angemessen sein, beides zusammenzufassen und zunächst die Beziehungen zu den kontinentalen Nachbarn im Süden, sodann diejenigen zu Arabien und Indien im Zusammenhang darzulegen.

Ägypten reicht nach Süden, wie schon bemerkt, bis zu der Schranke, welche der letzte Katarrakt unweit Syene (Assuân) der Schiffahrt entgegenstellt. Jenseit Syene beginnt der Stamm der Kesch, wie die Ägypter sie nennen, oder, wie die Griechen übersetzen, der Dunkelfarbigen, der Äthiopen, wahrscheinlich den später zu erwähnenden Urbewohnern Abessiniens stammverwandt und wenn auch vielleicht aus der gleichen Wurzel wie die Ägypter entsprungen, doch in der geschichtlichen Entwicklung als fremdes Volk ihnen gegenüberstehend. Weiter südwärts folgen die Nahsiu der Ägypter, das heißt die Schwarzen, die Nubier der Griechen, die heutigen Neger. Die Könige Ägyptens hatten in besseren Zeiten ihre Herrschaft weit in das Binnenland hinein ausgedehnt, oder es hatten wenigstens auswandernde Ägypter hier sich eigene Herrschaften gegründet; die schriftlichen Denkmäler des pharaonischen Regiments gehen bis oberhalb des dritten Katarakts nach Dongola hinein, wo Nabata (bei Nrûi) der Mittelpunkt ihrer Niederlassungen gewesen zu sein scheint; und noch beträchtlich weiter stromaufwärts, etwa sechs Tagereisen nördlich von Chartum, bei Schendi im Sennaar, in der Nähe der früh verschollenen Äthiopenstadt Merö finden sich Gruppen freilich schriftloser Tempel und Pyramiden. Als Ägypten römisch ward, war es mit dieser Machtentwicklung längst vorbei und herrschte jenseit Syene ein äthiopischer Stamm unter Königinnen, die stehend den Namen oder den Titel Kandake führten und in jenem einst ägyptischen Nabata in Dongola residierten; ein Volk auf niedriger Stufe der Zivilisation, überwiegende Hirten, imstande ein Heer von 30 000 Mann aufzubringen, aber gerüstet mit Schilden von Rindshäuten, bewehrt meist nicht mit Schwertern, sondern mit Beilen oder Lanzen und eisenbeschlagenen Keulen; räuberische Nachbarn, im Gefecht den Römern nicht gewachsen. Diese fielen im J. 730 oder 731 (24 oder 23 v. Chr.) in das römische Gebiet ein, wie sie behaupteten, weil die Vorsteher der nächsten Nomen sie geschädigt hätten, wie die Römer meinten, weil die ägyptischen Truppen damals großenteils in Arabien beschäftigt waren und sie hofften, ungestraft plündern zu können. In der Tat überwanden sie die drei Kohorten, die die Grenze deckten, und schleppten aus den nächsten ägyptischen Distrikten Philä, Elephantine, Syene die Bewohner als Sklaven fort und als Siegeszeichen die Statuen des Kaisers, die sie dort vorfanden.

Aber der Statthalter, der eben damals die Verwaltung des Landes übernahm, Gaius Petronius, vergalt den Angriff rasch; mit 10 000 Mann zu Fuß und 800 Reitern trieb er sie nicht bloß zum Lande hinaus, sondern folgte ihnen den Nil entlang in ihr eigenes Land, schlug sie nachdrücklich bei Pselchis (Dakke) und erstürmte ihre feste Burg Premis (Ibrim) sowie die Hauptstadt selbst, die er zerstörte. Zwar erneuerte die Königin, ein tapferes Weib, im nächsten Jahre den Angriff und versuchte Premis, wo römische Besatzung geblieben war, zu erstürmen; aber Petronius brachte rechtzeitig Entsatz, und so entschloß sich die Äthiopin, Gesandte zu senden und um Frieden zu bitten. Der Kaiser gewährte ihn nicht bloß, sondern befahl, das unterworfene Gebiet zu räumen und wies den Vorschlag seines Statthalters ab, die Besiegten tributpflichtig zu machen. Insofern ist dieser sonst nicht bedeutende Vorgang bemerkenswert, als gleich damals der bestimmende Entschluß der römischen Regierung sich zeigte, zwar das Niltal, soweit der Fluß schiffbar ist, unbedingt zu behaupten, aber von der Besitznahme der weiten Landschaften am oberen Nil ein für allemal abzusehen. Nur die Strecke von Syene, wo unter Augustus die Grenztruppen standen, bis nach Hiera Sykaminos (Maharraka), das sogenannte Zwölfmeilenland (Δωδεκάδχοινος) ist zwar niemals als Nomos eingerichtet und nie als ein Teil Ägyptens, aber doch als zum Reiche gehörig betrachtet worden; und spätestens unter Domitian wurden selbst die Posten bis nach Hiera Sykaminos vorgerückt. Dabei ist es im wesentlichen geblieben. Die von Nero geplante orientalische Expedition sollte allerdings auch Äthiopien umfassen; aber es blieb bei der vorläufigen Erkundung des Landes durch römische Offiziere bis über Merö hinauf. Das nachbarliche Verhältnis muß an der ägyptischen Südgrenze bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts im ganzen friedlicher Art gewesen sein, wenn es auch an kleineren Händeln mit jener Kandake und mit ihren Nachfolgerinnen, die längere Zeit sich behauptet zu haben scheinen, später vielleicht mit anderen jenseit der Reichsgrenze zur Vormacht gelangenden Stämmen, nicht gefehlt haben wird. Erst als das Reich in der valerianisch-gallienischen Zeit aus den Fugen ging, brachen die Nachbarn auch über diese Grenze. Es ist schon erwähnt worden, daß die in den Gebirgen an der Südostgrenze ansässigen, früher den Äthiopen gehorchenden Blemyer, ein Barbarenvolk von entsetzlicher Roheit, welches noch Jahrhunderte später sich der Menschenopfer nicht entwöhnt hatte, in dieser Epoche selbständig gegen Ägypten vorging und im Einverständnis mit den Palmyrenern einen guten Teil Oberägyptens besetzte und eine Reihe von Jahren behauptete. Der tüchtige Kaiser Probus vertrieb sie; aber die einmal begonnenen Einfälle hörten nicht auf, und Kaiser Diocletianus entschloß sich, die Grenze zurückzunehmen. Das schmale Zwölfmeilenland forderte starke Besatzung und trug dem Staate wenig ein. Die Nubier, welche in der libyschen Wüste hausten und besonders die große Oase stetig heimsuchten, gingen darauf ein, ihre alten Sitze aufzugeben und sich in dieser Landschaft anzusiedeln, die ihnen förmlich abgetreten ward; zugleich wurden ihnen sowohl wie ihren östlichen Nachbarn, den Blemyern, feste Jahrgelder ausgesetzt, dem Namen nach um sie für die Grenzbewachung zu entschädigen, in der Tat ohne Zweifel als Abkaufsgelder für ihre Plünderzüge, die natürlich dennoch nicht aufhörten. Es war ein Schritt zurück, der erste, seit Ägypten römisch war.

Von dem kaufmännischen Verkehr an dieser Grenze ist aus dem Altertum wenig überliefert. Da die Katarakten des oberen Nils den unmittelbaren Wasserweg sperrten, hat sich der Verkehr zwischen dem inneren Afrika und den Ägyptern, namentlich der Elfenbeinhandel in römischer Zeit mehr über die abessinischen Häfen als am Nil hin bewegt; aber gefehlt hat er auch in dieser Richtung nicht. Die auf der Insel Philä zahlreich neben den Ägyptern wohnenden Äthiopen sind offenbar meistens Kaufleute gewesen, und der hier vorwaltende Grenzfrieden wird das seinige beigetragen haben zum Aufblühen der oberägyptischen Grenzstädte und des ägyptischen Handels überhaupt.

Die Ostküste Ägyptens stellt der Entwicklung des Weltverkehrs eine schwer zu lösende Aufgabe. Der durchgängig öde und felsige Strand ist eigentlicher Kultur unfähig und in alter wie in neuer Zeit eine Wüste. Dagegen nähern die beiden für die Kulturentwicklung der Alten Welt vorzugsweise wichtigen Meere, das Mittelländische und das Rote oder Indische sich einander am meisten an den beiden nördlichsten Spitzen des letzteren, dem persischen und dem Arabischen Golf; jener nimmt den Euphrat in sich auf, der in seinem mittleren Lauf dem Mittelländischen Meere nahekommt; dieser ist nur wenige Tagemärsche entfernt von dem in dasselbe Meer fließenden Nil. Daher nimmt in alter Zeit der Handelsverkehr zwischen dem Osten und dem Westen überwiegend entweder die Richtung auf dem Euphrat zu der syrischen und der arabischen Küste, oder er wendet sich von der Ostküste Ägyptens nach dem Nil. Die Verkehrswege vom Euphrat her sind älter als die über den Nil; aber die letzteren haben den Vorzug der besseren Schiffbarkeit des Stromes und des kürzeren Landtransports; die Beseitigung des letzteren durch Herstellung einer künstlichen Wasserstraße ist bei dem Euphratweg ausgeschlossen, bei dem ägyptischen in alter wie in neuer Zeit wohl schwierig, aber nicht unmöglich befunden. Sonach ist dem Land Ägypten von der Natur selbst vorgeschrieben, die Ostküste mit dem Nillauf und der nördlichen Küste durch Land- oder Wasserstraßen zu verbinden; und es gehen auch die Anfänge derartiger Anlagen bis zurück in die Zeit derjenigen einheimischen Herrscher, welche zuerst Ägypten dem Ausland und dem großen Handelsverkehr erschlossen. Auf den Spuren, wie es scheint, älterer Anlagen der großen Regenten Ägyptens Sethi I. und Rhamses II. begann, der Sohn Psammetichs, König Necho (610 bis 594 v. Chr.), den Bau eines Kanals, der in der Nähe von Kairo vom Nil abzweigend eine Wasserverbindung mit den Bitterseen bei Ismailie und durch diese mit dem Roten Meer herstellen sollte, ohne indes das Werk vollenden zu können. Daß er dabei nicht bloß die Beherrschung des Arabischen Golfs und den Handelsverkehr mit den Arabern in das Auge faßte, sondern das Persische und das Indische Meer und der entlegenere Osten bereits in den Horizont dieses Ägypterkönigs getreten waren, ist deswegen wahrscheinlich, weil derselbe Herrscher die einzige im Altertum ausgeführte Umschiffung Afrikas veranlaßt hat. Außer Zweifel ist dies für König Dareios I., den Herrn sowohl Persiens wie Ägyptens; er vollendete den Kanal, aber, wie seine an Ort und Stelle aufgefundenen Denksteine melden, ließ er ihn selbst wieder verschütten, wahrscheinlich weil seine Ingenieure befürchteten, daß das Meerwasser, eingelassen in den Kanal, die Gefilde Ägyptens überschwemmen werde.

Der Wettkampf der Lagiden und der Seleukiden, welcher die Politik der nachalexandrischen Zeit überhaupt beherrscht, war zugleich ein Kampf zwischen dem Euphrat und dem Nil. Jener war im Besitz, dieser der Prätendent; und in der besseren Zeit der Lagiden ist die friedliche Offensive mit großer Energie geführt worden. Nicht bloß wurde jener von Necho und Dareios unternommene Kanal, jetzt der »Fluß Ptolemäos« genannt, durch den zweiten Ptolemäer Philadelphos († 247 v. Chr.) zum erstenmal der Schiffahrt eröffnet, sondern es wurden auch an den für die Sicherheit der Schiffe und für die Verbindung mit dem Nil am besten geeigneten Punkten der schwierigen Ostküste umfassende Hafenbauten ausgeführt. Vor allem geschah dies an der Mündung des zum Nil führenden Kanals, bei den Ortschaften Arsinö, Kleopatris, Klysma, alle drei in der Gegend des heutigen Suez. Weiter abwärts entstanden außer manchen kleineren Anlagen die beiden bedeutenden Emporien Myos Hormos, etwas oberhalb des heutigen Kosêr, und Berenike im Trogodytenland, ungefähr in gleicher Breite mit Syene am Nil sowie mit dem arabischen Hafen Leuke Kome, von der Stadt Koptos, bei der der Nil am weitesten östlich vorspringt, jenes 6 – 7, dieses 11 Tagemärsche entfernt und durch quer durch die Wüste angelegte, mit großen Zisternen versehene Straßen mit diesem Hauptemporium am Nil verbunden. Der Warenverkehr der Ptolemäerzeit ist wahrscheinlich weniger durch den Kanal gegangen als über diese Landwege nach Koptos.

Über jenes Berenike im Trogodytenland hinaus hat sich das eigentliche Ägypten der Lagiden nicht erstreckt. Die weiter gegen Süden liegenden Ansiedlungen Ptolemais »für die Jagd« unterhalb Suâkin und die südlichste Ortschaft des Lagidenreichs, das spätere Adulis, damals vielleicht »Berenike die goldene« oder »bei Saba« genannt, Zula unweit des heutigen Massaua, bei weitem der beste Hafen an dieser ganzen Küste, sind nicht mehr gewesen als Küstenforts und haben mit Ägypten nicht in Landverbindung gestanden. Auch sind diese entlegenen Ansiedlungen ohne Zweifel unter den späteren Lagiden entweder verlorengegangen oder freiwillig aufgegeben worden, und war in der Epoche, wo die römische Herrschaft eintritt, wie im Binnenland Syene, so an der Küste das trogodytische Berenike die Reichsgrenze.

In diesem von den Ägyptern nie besetzten oder früh geräumten Gebiet bildete sich, sei es am Ausgang der Lagidenepoche, sei es in der ersten Kaiserzeit ein unabhängiger Staat von Ausdehnung und Bedeutung, derjenige der Axomiten, entsprechend dem heutigen Habesch. Er führt seinen Namen von der im Herzen dieses Alpenlandes acht Tagereisen vom Meer in der heutigen Landschaft Tigre gelegenen Stadt Axômis, dem heutigen Axum; als Hafen dient ihm das schon erwähnte beste Emporium an dieser Küste, Adulis in der Bucht von Massaua. Die ursprüngliche Bevölkerung dieser Landschaft mag wohl das Agau gesprochen haben, von welcher Sprache sich noch heute in einzelnen Strichen des Südens reine Überreste behaupten und die dem gleichen hamitischen Kreise mit den heutigen Bedscha, Dankali, Somali, Galla angehört; der ägyptischen Bevölkerung scheint dieser Sprachkreis in ähnlicher Weise verwandt wie die Griechen mit den Kelten und den Slaven, so daß hier wohl für die Forschung eine Verwandtschaft, für das geschichtliche Dasein aber vielmehr allein der Gegensatz besteht. Aber bevor unsere Kunde von diesem Lande auch nur beginnt, müssen überlegene semitische zu den himjaritischen Stämmen des südlichen Arabiens gehörige Einwanderer den schmalen Meerbusen überschritten und ihre Sprache wie ihre Schrift dort einheimisch gemacht haben. Die alte, erst lange nach römischer Zeit im Volksgebrauch erloschene Schriftsprache von Habesch, das Ge’ez oder, wie sie fälschlich meist genannt wird, die äthiopische ist rein semitisch, und die jetzt noch lebenden Dialekte, namentlich das Tigriña, sind es im wesentlichen auch, nur durch die Einwirkung des älteren Agau getrübt. – Über die Anfänge dieses Gemeinwesens hat sich keine Überlieferung erhalten. Am Ausgang der neronischen Zeit und vielleicht schon lange vorher herrschte der König der Axomiten an der afrikanischen Küste etwa von Suâkin bis zur Straße Bab el Mandeb. Einige Zeit darauf – näher läßt sich die Epoche nicht bestimmen – finden wir ihn als Grenznachbar der Römer an der Südgrenze Ägyptens, auch an der anderen Küste des Arabischen Meerbusens in dem Zwischengebiet zwischen dem römischen Besitz und dem der Sabäer in kriegerischer Tätigkeit, also nach Norden mit dem römischen Gebiet auch in Arabien sich unmittelbar berührend überdies die afrikanische Küste außerhalb des Busens vielleicht bis zum Kap Guardafui beherrschend. Wie weit sich sein Gebiet von Axomis landeinwärts erstreckt hat, erhellt nicht; Äthiopien, das heißt Sennaar und Dongola, haben wenigstens in der früheren Kaiserzeit schwerlich dazu gehört; vielmehr mag zu der Zeit das Reich von Nabata neben dem axomitischen bestanden haben.

Wo uns die Axomiten entgegentreten, finden wir sie auf einer verhältnismäßig vorgeschrittenen Stufe der Entwicklung. Unter Augustus hob sich der ägyptische Handelsverkehr nicht minder wie mit Indien so mit diesen afrikanischen Häfen. Der König gebot nicht bloß über ein Heer, sondern, wie dies schon seine Beziehungen zu Arabien voraussetzen, auch über eine Flotte. Den König Zoskales, der in Vespasians Zeit in Axomis regierte, nennt ein griechischer Kaufmann, der in Adulis gewesen war, einen rechtschaffenen und der griechischen Schrift kundigen Mann; einer seiner Nachfolger hat an Ort und Stelle eine in geläufigem Griechisch verfaßte Denkschrift aufgestellt, die seine Taten den Fremden erzählte; er selbst nennt sich in derselben einen Sohn des Ares, welchen Titel die Könige der Axomiten bis in das 4. Jahrhundert hinab beibehielten und widmet den Thron, der jene Denkschrift trägt, dem Zeus, dem Ares und dem Poseidon. Schon zu Zoskales Zeit nennt jener Fremde Adulis einen wohlgeordneten Handelsplatz; seine Nachfolger nötigten die schweifenden Stämme der arabischen Küste zu Lande wie zur See Frieden zu halten und stellten eine Landverbindung her von ihrer Hauptstadt bis an die römische Grenze, was bei der Beschaffenheit dieser zunächst auf Seeverbindung angewiesenen Landschaft nicht gering anzuschlagen ist. Unter Vespasian dienten Messingstücke, die nach Bedürfnis geteilt wurden, den Eingeborenen statt des Geldes und zirkulierte die römische Münze nur bei den in Adulis ansässigen Fremden; in der späteren Kaiserzeit haben die Könige selber geprägt. Daneben nennt der axomitische Herrscher sich König der Könige, und keine Spur deutet auf römische Klientel; er übt die Prägung in Gold, was die Römer nicht bloß in ihrem Gebiet, sondern auch in ihrem Machtbereich nicht zuließen. Es gibt in der Kaiserzeit außerhalb der römisch-hellenischen Grenzen kaum ein anderes Land, welches in gleicher Selbständigkeit dem hellenischen Wesen bei sich eine Stätte bereitet hätte wie der Staat von Habesch. Daß im Laufe der Zeit die einheimische oder vielmehr aus Arabien eingebürgerte Volkssprache die Alleinherrschaft zurückgewann und das Griechische verdrängte, ist wahrscheinlich teils auf arabischen Einfluß zurückzuführen, teils auf den des Christentums und die damit zusammenhängende Wiederbelebung der Volksdialekte, wie wir sie auch in Syrien und in Ägypten fanden, und schließt nicht aus, daß die griechische Sprache in Axomis und Adulis im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine ähnliche Stellung gehabt hat wie in Syrien und in Ägypten, soweit es eben gestattet ist, Kleines mit Großem zu vergleichen.

Von politischen Beziehungen der Römer zu dem Staat von Axomis wird aus den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, auf welche unsere Erzählung sich beschränkt, kaum etwas gemeldet. Mit dem übrigen Ägypten nahmen sie auch die Häfen der Ostküste in Besitz bis hinab zu dem abgelegenen und darum in römischer Zeit unter einen eigenen Kommandanten gestellten trogodytischen Berenike. An Gebietserweiterung in die unwirtlichen und wertlosen Küstengebirge hinein ist hier nie gedacht worden; auch kann die dünne und auf der niedrigsten Stufe der Entwicklung stehende Bevölkerung des nächst angrenzenden Gebietes den Römern niemals ernsthaft zu schaffen gemacht haben. Ebensowenig haben die Cäsaren so, wie es die früheren Lagiden getan hatten, sich der Emporien der axomitanischen Küste zu bemächtigen versucht. Ausdrücklich gemeldet wird nur, daß Gesandte des Axomitenkönigs mit Kaiser Aurelian verhandelten. Aber eben dieses Stillschweigen sowie die früher bezeichnete unabhängige Stellung des Herrschers führen darauf, daß hier die geltenden Grenzen beiderseits dauernd respektiert wurden und ein gutes nachbarliches Verhältnis bestand, welches den Interessen des Friedens und vornehmlich dem ägyptischen Handelsverkehr zugute kam. Daß dieser, insbesondere der wichtige Elfenbeinhandel, in welchem Adulis für das innere Afrika das hauptsächliche Entrepot war, überwiegend von Ägypten aus und auf ägyptischen Schiffen geführt worden ist, kann bei der überlegenen Zivilisation Ägyptens schon für die Lagidenzeit keinem Zweifel unterliegen, und auch in römischer Zeit hat dieser Verkehr sich wohl nur gesteigert, nicht weiter geändert.

Bei weitem wichtiger als der Verkehr mit dem afrikanischen Süden war für Ägypten und das römische Reich überhaupt der Verkehr mit Arabien und den weiter östlich gelegenen Küsten. Die arabische Halbinsel ist dem hellenischen Kulturkreise fern geblieben. Es wäre wohl anders gekommen, wenn König Alexander ein Jahr länger gelebt hätte; der Tod raffte ihn weg mitten in den Vorbereitungen, die bereits erkundete arabische Südküste vom Persischen Meerbusen aus zu umfahren und zu besetzen, Aber die Fahrt, die der große König nicht hatte antreten können, hat nach ihm nie ein Grieche unternommen. Seit fernster Zeit hat dagegen zwischen den beiden Küsten des Arabischen Meerbusens ein lebhafter Verkehr über das mäßig breite Wasser hinüber stattgefunden. In den ägyptischen Berichten aus der Pharaonenzeit spielen die Seefahrten nach dem Land Punt, die von dort heimgebrachte Beute an Weihrauch, Ebenholz, Smaragden, Leopardenfellen eine bedeutende Rolle. Daß späterhin der nördliche Teil der arabischen Westküste zu dem Gebiet der Nabatäer gehörte und mit diesem in die Gewalt der Römer kam, ist schon angegeben worden. Es war dies ein ödes Gestade; nur das Emporium Leuke Kome, die letzte Stadt der Nabatäer und insofern auch des römischen Reiches, stand nicht bloß mit dem gegenüberliegenden Berenik in Seeverkehr, sondern war auch der Ausgangspunkt der nach Petra und von da zu den Häfen des südlichen Syriens führenden Karawanenstraße und insofern einer der Knotenpunkte des orientalisch-okzidentalischen Handels. Die südlich angrenzenden Gebiete, nord- und südwärts von dem heutigen Mekka, entsprachen in ihrer Naturbeschaffenheit dem gegenüberlegenden Trogodytenland und sind gleich diesem im Altertum weder politisch noch kommerziell von Bedeutung, auch dem Anschein nach nicht unter einem Szepter geeinigt, sondern von schweifenden Stämmen besetzt gewesen. Aber am Südende des Busens ist der einzige arabische Stamm zu Hause, welcher in der vorislamischen Zeit zu größerer Bedeutung gelangt ist. Die Griechen und die Römer nennen diese Araber in älterer Zeit nach der damals am meisten hervortretenden Völkerschaft Sabäer, in späterer nach einer anderen gewöhnlich Homeriten, wir nach der neuarabischen Form des letzteren Namens jetzt meistens Himjariten. Die Entwicklung dieses merkwürdigen Volkes hatte lange vor dem Beginn der römischen Herrschaft über Ägypten eine bedeutende Stufe erreicht. Seine Heimstatt, das »glückliche Arabien« der Alten, die Gegend von Mocha und Aden, ist von einer schmalen, glühend heißen und öden Strandebene umsäumt, aber das gesunde und temperierte Innere von Jemen und Hadramaut erzeugt an den Gebirgshängen und in den Tälern eine üppige Vegetation, und die zahlreichen Bergwässer gestatten bei sorgfältiger Wirtschaft vielfach eine gartenartige Kultur. Von der reichen und eigenartigen Zivilisation dieser Landschaft geben noch heute ein redendes Zeugnis die Reste von Stadtmauern und Türmen, von Nutz-, namentlich Wasserbauten und mit Inschriften bedeckten Tempeln, welche die Schilderung der alten Schriftsteller von der Pracht und dem Luxus dieser Landschaft vollkommen bestätigen; über die Burgen und Schlösser der zahlreichen Kleinfürsten Jemens haben die arabischen Geographen Bücher geschrieben. Berühmt sind die Trümmer des mächtigen Dammes, welcher einst in dem Tal bei Mariaba den Danafluß staute und es möglich machte, die Fluren aufwärts zu bewässern, und von dessen Durchbruch und der dadurch angeblich veranlaßten Auswanderung der Bewohner von Jemen nach Norden die Araber lange Zeit ihre Jahre gezählt haben. Vor allem aber ist dieser Bezirk einer der Ursitze des Großhandels zu Lande wie zur See, nicht bloß weil seine Produkte, der Weihrauch, die Edelsteine, das Gummi, die Cassia, Aloe, Senna, Myrrhe und zahlreiche andere Drogen den Export hervorrufen, sondern auch weil dieser semitische Stamm, ähnlich wie der der Phöniker, seiner ganzen Art nach für den Handel geschaffen ist; eben wie die neueren Reisenden sagt auch Strabon, daß die Araber alle Händler und Kaufleute sind. Die Silberprägung ist hier alt und eigenartig; die Münzen sind anfänglich athenischen Stempeln, später römischen des Augustus nachgeprägt, aber auf einen selbständigen wahrscheinlich babylonischen Fuß. Aus dem Land dieser Araber führten die uralten Weihrauchstraßen quer durch die Wüste nach den Stapelplätzen am Arabischen Meerbusen Älana und dem schon genannten Leuke Kome und den Emporien Syriens Petra und Gaza; diese Wege des Landhandels, welche neben denen des Euphrat und des Nil den Verkehr zwischen Orient und Okzident seit ältester Zeit vermitteln, sind vermutlich die eigentliche Grundlage des Aufblühens von Jemen. Aber der Seeverkehr gesellte ebenfalls bald sich dazu; der große Stapelplatz dafür ward Adane, das heutige Aden. Von hier aus gingen die Waren zu Wasser, sicher überwiegend auf Arabischen Schiffen, entweder nach eben jenen Stapelplätzen am Arabischen Meerbusen und also nach den syrischen Häfen oder nach Berenike und Myos Hormos und von da nach Koptos und Alexandreia. Daß dieselben Araber ebenfalls in sehr früher Zeit sich der gegenüberliegenden Küste bemächtigten und ihre Sprache und Schrift und ihre Zivilisation nach Habesch verpflanzten, wurde schon gesagt. Wenn Koptos, das Nil-Emporium für den östlichen Handel, ebensoviel Araber wie Ägypter zu Bewohnern hatte, wenn sogar die Smaragdgruben oberhalb Berenike (bei Djebel Zebâra) von den Arabern ausgebeutet wurden, so zeigt dies, daß sie im Lagidenstaat selbst den Handel bis zu einem gewissen Grad in der Hand hatten; und dessen passives Verhalten in betreff des Verkehrs auf dem Arabischen Meer, wohin höchstens einmal ein Zug gegen die Piraten unternommen wurde, wird eher begreiflich, wenn ein seemächtiger und geordneter Staat diese Gewässer beherrschte. Auch außerhalb ihres eigenen Meeres begegnen wir den Arabern des Jemen. Adane blieb bis in die römische Kaiserzeit hinein Stapelplatz des Verkehrs einerseits mit Indien, andererseits mit Ägypten und gedieh trotz seiner eigenen ungünstigen Lage an dem baumlosen Strand zu solcher Blüte, daß die Benennung des »glücklichen Arabien« zunächst auf diese Stadt sich bezieht. Die Herrschaft, die in unseren Tagen der Imam von Maskat im Südosten der Halbinsel über die Inseln Sokotra und Zanzibar und die afrikanische Ostküste vom Kap Guardafui südlich ausgeübt hat, stand in vespasianischer Zeit »von alters her« den Fürsten Arabiens zu: die Dioskorides-Insel, eben jenes Sokotra, gehorchte damals dem König von Hadramaut, Azania, das heißt die Küste Somal, und weiter südlich, einem der Unterkönige seines westlichen Nachbarn, des Königs der Homeriten. Die südlichste Station an der ostafrikanischen Küste, von welcher die ägyptischen Kaufleute wußten, Rhapta in der Gegend von Zanzibar, pachteten von diesem Scheich die Kaufleute von Muza, das ist ungefähr das heutige Mocha, »und senden dorthin ihre Handelsschiffe, meistens bemannt mit arabischen Kapitänen und Matrosen, welche mit den Eingeborenen zu verkehren gewohnt und oft durch Heirat verknüpft und der Örtlichkeiten und der Landessprachen kundig sind«. Die Bodenkultur und die Industrie reichten dem Handel die Hand: in den vornehmen Häusern Indiens trank man neben dem italischen Falerner und dem syrischen Laodikener auch arabischen Wein; und die Lanzen und die Schusterpfriemen, welche die Eingeborenen der Küste von Zanzibar von den fremden Händlern kauften, waren Fabrikat von Muza. So ward diese Landschaft, die zudem viel verkaufte und wenig kaufte, eine der reichsten der Welt. – Wieweit die politische Entwicklung derselben mit der wirtschaftlichen Schritt gehalten hatte, läßt sich für die vorrömische und die frühere Kaiserzeit nicht bestimmen; nur so viel scheint sowohl aus den Berichten der Okzidentalen wie aus den einheimischen Inschriften sich zu ergeben, daß diese Südwestspitze Arabiens unter mehrere selbständige Herrscher mit Gebieten von mäßiger Größe geteilt war. Es standen dort neben den am meisten hervortretenden Sabäern und Homeriten die schon genannten Chatramotiten in Hadramaut und nördlich im Binnenland die Minäer, alle unter eigenen Fürsten.

Den Arabern Jemens gegenüber haben die Römer die gerade entgegengesetzte Politik befolgt wie gegenüber den Axomiten. Augustus, für den die Nichterweiterung der Grenzen der Ausgangspunkt des Reichsregiments war, und der die Eroberungspläne seines Vaters und Meisters beinahe alle fallen ließ, hat eine Ausnahme mit der arabischen Südwestküste gemacht und ist hier nach freiem Entschluß angreifend vorgegangen. Es geschah dies wegen der Stellung, welche diese Völkergruppe in dem indisch-ägyptischen Handelsverkehr damals einnahm. Um die politisch und finanziell wichtigste Landschaft seines Herrschaftsgebietes wirtschaftlich auf die Höhe zu bringen, welche seine Vorherrscher herzustellen versäumt hatten oder hatten verfallen lassen, bedurfte er vor allem der Gewinnung des Zwischenverkehrs zwischen Arabien und Indien einer- und Europa andererseits. Der Nilweg konkurrierte seit langem erfolgreich mit den arabischen und den Euphratstraßen; aber Ägypten spielte dabei, wie wir sahen, wenigstens unter den späteren Lagiden, eine untergeordnete Rolle. Nicht mit den Axomiten, aber wohl mit den Arabern bestand Handelskonkurrenz; sollte der ägyptische Verkehr aus einem passiven ein aktiver, aus einem indirekten ein direkter werden, so mußten die Araber niedergeworfen werden; und dies ist es, was Augustus gewollt und das römische Regiment einigermaßen auch erreicht hat.

Im sechsten Jahr seiner Regierung in Ägypten (Ende 729 [25 v. Chr.]) entsandte Augustus eine eigens für diese Expedition hergestellte Flotte von 80 Kriegs- und 130 Transportschiffen und die Hälfte der ägyptischen Armee, ein Korps von 10 000 Mann, ungerechnet die Zuzüge der beiden nächsten Klientelkönige, des Nabatäers Obodas und des Juden Herodes, gegen die Staaten der Jemen, um dieselben entweder zu unterwerfen oder wenigstens zugrunde zu richten, woneben die dort aufgehäuften Schätze sicher auch in Rechnung kamen. Aber das Unternehmen schlug vollständig fehl, und zwar durch die Unfähigkeit des Führers, des damaligen Statthalters von Ägypten, Gaius Älius Gallus. Da auf die Besetzung und den Besitz der öden Küste von Leuke Kome abwärts bis an die Grenze des feindlichen Gebiets gar nichts ankam, so mußte die Expedition unmittelbar gegen dieses gerichtet und aus dem südlichsten ägyptischen Hafen die Armee sofort in das glückliche Arabien geführt werden. Statt dessen wurde die Flotte in dem nördlichsten, dem von Arsinö (Suez) fertiggestellt und das Heer in Leuke Kome ans Land gesetzt, gleich als wäre es darauf angekommen, die Fahrt der Flotte und den Marsch der Truppen möglichst zu verlängern. Überdies waren die Kriegsschiffe überflüssig, da die Araber keine Kriegsflotte besaßen, die römischen Seeleute mit der Fahrt an der arabischen Küste unbekannt und die Fahrzeuge, obwohl besonders für die Expedition gebaut, für ihre Bestimmung ungeeignet. Die Piloten fanden sich nicht zurecht zwischen den Untiefen und Klippen, und schon die Fahrt auf den römischen Gewässern von Arsinö nach Leuke Kome kostete viele Schiffe und Leute. Hier wurde überwintert; im Frühjahr 730 begann der Zug in Feindesland. Die Araber hinderten ihn nicht, aber wohl Arabien. Wo einmal die Doppeläxte und die Schleudern und Bogen mit dem Pilum und dem Schwert zusammenstießen, stoben die Eingeborenen auseinander wie die Spreu vor dem Winde; aber die Krankheiten, die im Lande endemisch sind, der Skorbut, der Aussatz, die Gliederlähmung dezimierten die Soldaten ärger als die blutigste Schlacht, und um so mehr, als der Feldherr es nicht verstand, die schwerfällige Heermasse rasch vorwärts zu bringen. Dennoch gelangte die römische Armee bis vor die Mauern der Hauptstadt der zunächst von dem Angriff betroffenen Sabäer Mariaba. Aber da die Einwohner die Tore ihrer mächtigen heute noch stehenden Mauern schlossen und energische Gegenwehr leisteten, verzweifelte der römische Feldherr an der Lösung der ihm gestellten Aufgabe und trat, nachdem er sechs Tage vor der Stadt gelegen hatte, den Rückzug an, den die Araber kaum ernstlich störten und der im Drang der Not, freilich unter schlimmer Einbuße an Mannschaften, verhältnismäßig schnell gelang. Es war ein übler Mißerfolg; aber Augustus gab die Eroberung Arabiens nicht auf. Es ist schon erzählt worden, daß die Orientfahrt, die der Kronprinz Gaius im Jahre 753 antrat, in Arabien endigen sollte; es war diesmal im Plan nach der Unterwerfung Armeniens im Einverständnis mit der parthischen Regierung oder nötigenfalls nach Niederwerfung ihrer Armeen, an die Euphratmündung zu gelangen und von da aus den Seeweg, den einst der Admiral Nearchos für Alexander erkundet hatte, nach dem glücklichen Arabien zu nehmen. In anderer, aber nicht minder unglücklicher Weise endigten diese Hoffnungen durch den parthischen Pfeil, der den Kronprinzen vor den Mauern von Artageira traf. Mit ihm ward der arabische Eroberungsplan für alle Zukunft begraben. Die große Halbinsel ist in der ganzen Kaiserzeit, abgesehen von dem nördlichen und nordwestlichen Küstenstriche, in derjenigen Freiheit verblieben, aus welcher seiner Zeit der Henker des Hellenentums, der Islam, hervorgehen sollte.

Aber gebrochen ward der arabische Handel allerdings, teils durch die weiterhin zu erörternden Maßregeln der römischen Regierung zum Schutz der ägyptischen Schiffahrt, teils durch einen gegen den Hauptstapelplatz des indisch-arabischen Verkehrs von den Römern geführten Schlag. Sei es unter Augustus selbst, möglicherweise bei den Vorbereitungen zu der von Gaius auszuführenden Invasion, sei es unter einem seiner nächsten Nachfolger, es erschien eine römische Flotte vor Adane und zerstörte den Platz; in Vespasians Zeit war er ein Dorf und seine Blüte vorüber. Wir kennen nur die nackte Tatsache, aber sie spricht für sich selber. Ein Seitenstück zu der Zerstörung Korinths und Karthagos durch die Republik, hat sie wie diese ihren Zweck erreicht und dem römisch-ägyptischen Handel die Suprematie im Arabischen Meerbusen und im Indischen Meere gesichert.

Indes die Blüte des gesegneten Landes von Jemen war zu fest begründet, um diesem Schlag zu erliegen; politisch hat es sogar vielleicht erst in dieser Epoche sich straffer zusammengefaßt. Mariaba war, als die Waffen des Gallus an seinen Mauern scheiterten, vielleicht nicht mehr als die Hauptstadt der Sabäer; aber schon damals war die Völkerschaft der Homeriten, deren Hauptstadt Sapphar etwas südlich von Mariaba auch im Binnenland liegt, die stärkste des glücklichen Arabiens. Ein Jahrhundert später finden wir beide vereinigt unter einem in Sapphar regierenden König der Homeriten und der Sabäer, dessen Herrschaft bis Mocha und Aden und, wie schon gesagt ward, über die Insel Sokotra und die Küste von Somal und Zanzibar sich erstreckt; und wenigstens von dieser Zeit an kann von einem Reich der Homeriten die Rede sein. Die Wüstenei nördlich von Mariaba bis zur römischen Grenze gehörte damals nicht dazu und stand überhaupt unter keiner geordneten Gewalt; die Fürstentümer der Minäer und der Chatramotiten blieben auch ferner unter eigenen Landesherren. Die östliche Hälfte Arabiens hat beständig einen Teil des persischen Reiches gebildet und niemals unter dem Szepter der Beherrscher des glücklichen Arabien gestanden. Auch jetzt also waren die Grenzen enge und sind es wohl geblieben; es ist wenig über die weitere Entwicklung der Verhältnisse bekannt. In der Mitte des 4. Jahrhunderts war das Reich der Homeriten mit dem der Axomiten vereinigt und wurde von Axomis aus beherrscht, welche Untertänigkeit indes späterhin sich wieder gelöst hat. Sowohl das Reich der Homeriten wie das vereinigte axomitisch-homeritische stand als unabhängiger Staat in der späteren Kaiserzeit mit Rom in Verkehr und Vertrag. In dem Handel und der Schiffahrt haben die Araber des Südwestens der Halbinsel auch später noch, wenn nicht mehr den Platz der Vormacht, doch die ganze Kaiserzeit hindurch eine hervorragende Stelle eingenommen. Nach der Zerstörung von Adane ist Muza die Handelsmetropole dieser Landschaft geworden. Noch für die vespasianische Zeit trifft die früher gegebene Darstellung im wesentlichen zu. Der Ort wird uns in dieser Zeit geschildert als ausschließlich arabisch, bewohnt von Reedern und Seeleuten und voll rührigen kaufmännischen Treibens, mit ihren eigenen Schiffen befahren die Muzaiten die ganze afrikanische Ost- und die indische Westküste und verfrachten nicht bloß die Waren des eigenen Landes, sondern bringen auch die nach orientalischem Geschmack in den Fabriken des Okzidents gefertigten Purpurstoffe und Goldstickereien und die feinen Weine Syriens und Italiens den Orientalen, hinwiederum den Westländern die edlen Waren des Ostens. In dem Weihrauch und den sonstigen Aromen müssen Muza und das Emporium des benachbarten Reiches von Hadramaut Kane östlich von Aden eine Art tatsächlichen Monopols immer behalten haben; erzeugt wurde diese im Altertum sehr viel mehr als heute gebrauchte Ware wie auf der südlichen arabischen so auch auf der afrikanischen Küste von Adulis bis zum »Vorgebirge der Arome«, dem Kap Guardafui, aber von hier holten sie die Kaufleute von Muza, und sie brachten sie in den Welthandel. Auf der schon erwähnten Dioskorides-Insel war eine gemeinschaftliche Handelsniederlassung der drei großen seefahrenden Nationen dieser Meere, der Hellenen, das heißt der Ägypter, der Araber und der Inder. Von Beziehungen aber zum Hellenismus, wie wir sie auf der gegenüberliegenden Küste bei den Axomiten fanden, begegnet im Lande Jemen keine Spur; wenn die Münzprägung durch okzidentalische Stempel bestimmt ist, so waren diese eben im ganzen Orient gangbar. Sonst haben sich Schrift und Sprache und Kunstübung, soweit wir zu urteilen vermögen, hier ebenso selbständig entwickelt wie Handel und Schiffahrt, und sicher ist es dadurch mit bewirkt worden, daß die Axomiten, während sie politisch die Homeriten sich unterwarfen, später aus der hellenischen Bahn in die arabische zurücklenkten.

In dem gleichen Sinn, wie für die Beziehungen zu dem südlichen Afrika und zu den arabischen Staaten, und in erfreulicherer Weise ist in Ägypten selbst für die Wege des Handelsverkehrs zunächst von Augustus und ohne Zweifel von allen verständigen Regenten gesorgt worden. Das von den früheren Ptolemäern auf den Spuren der Pharaonen eingerichtete Straßen- und Hafensystem war, wie die gesamte Verwaltung, in den Wirren der letzten Lagidenzeit arg heruntergekommen. Es wird nicht ausdrücklich gemeldet, daß Augustus die Land- und die Wasserwege und die Häfen Ägyptens wieder instand gesetzt hat; aber daß es geschehen, ist darum nicht minder gewiß.

Koptos ist die ganze Kaiserzeit hindurch der Knotenpunkt dieses Verkehrs geblieben. Aus einer kürzlich aufgefundenen Urkunde hat sich ergeben, daß in der ersten Kaiserzeit die beiden von da nach den Häfen von Myos Hormos und von Berenike führenden Straßen durch die römischen Soldaten repariert und an den geeigneten Stellen mit den erforderlichen Zisternen versehen worden sind. Der Kanal, der das Rote Meer mit dem Nil und also mit dem Mittelländischen Meer verband, ist auch in römischer Zeit nur in zweiter Reihe, hauptsächlich vielleicht für den Transport der Marmor- und Porphyrblöcke von der ägyptischen Ostküste an das Mittelmeer benutzt worden; aber fahrbar blieb er durch die ganze Kaiserzeit. Kaiser Traianus hat ihn erneuert und wohl auch erweitert – vielleicht ist er es gewesen, der ihn mit dem noch ungeteilten Nil bei Babylon (unweit Kairo) in Verbindung gesetzt und dadurch seine Wassermenge verstärkt hat – und ihm den Namen des Traianus- oder des Kaiserflusses ( Augustus amnis) beigelegt, von welchem in späterer Zeit dieser Teil Ägyptens benannt wurde ( Augustamnica). – Auch für die Unterdrückung der Piraterie auf dem Roten und Indischen Meer ist Augustus ernstlich tätig gewesen; die Ägypter dankten es ihm noch lange nach seinem Tode, daß durch ihn die Piratensegel vom Meer verschwanden und den Handelsschiffen wichen. Freilich geschah dafür bei weitem nicht genug. Daß die Regierung in diesen Gewässern wohl von Zeit zu Zeit Schiffsgeschwader in Tätigkeit setzte, aber eine ständige Kriegsflotte nicht daselbst stationierte; daß die römischen Kauffahrer regelmäßig im Indischen Meer Schützen an Bord nahmen, um die Angriffe der Piraten abzuweisen, würde befremden, wenn nicht die relative Gleichgültigkeit gegen die Unsicherheit der Meere überall, hier so gut wie an der belgischen Küste und an denen des Schwarzen Meeres, wie eine Erbsünde dem römischen Kaiserregiment oder vielmehr dem römischen Regiment überhaupt anhaftete. Freilich waren die Regierungen von Axomis und von Sapphar durch ihre geographische Lage noch mehr als die Römer in Berenike und Leuke Korne dazu berufen der Piraterie zu steuern, und es mag diesem Umstand mit zuzuschreiben sein, daß die Römer mit diesen teils schwächeren, teils unentbehrlichen Nachbarn im ganzen in gutem Einvernehmen geblieben sind.

Daß der Seeverkehr Ägyptens, wenn nicht mit Adulis, so doch mit Arabien und Indien in derjenigen Epoche, welche der Römerherrschaft unmittelbar vorher ging, in der Hauptsache nicht durch die Ägypter vermittelt ward, ist früher gezeigt worden. Den großen Seeverkehr nach Osten erhielt Ägypten erst durch die Römer. »Nicht zwanzig ägyptische Schiffe im Jahr«, sagt ein Zeitgenosse des Augustus, »wagten unter den Ptolemäern sich aus dem Arabischen Golf hinaus; jetzt fahren jährlich 120 Kauffahrer allein aus dem Hafen von Myos Hormos nach Indien.« Der Handelsgewinn, den der römische Kaufmann bis dahin mit dem persischen oder arabischen Zwischenhändler hatte teilen müssen, floß seit der Eröffnung der direkten Verbindung mit dem ferneren Osten ihm in seinem ganzen Umfang zu. Dies ist wahrscheinlich zunächst dadurch erreicht worden, daß den arabischen und indischen Fahrzeugen die ägyptischen Häfen, wenn nicht geradezu gesperrt, so doch durch Differenzialzölle tatsächlich geschlossen wurden; nur durch die Voraussetzung einer solchen Navigationsakte zugunsten der eigenen Schiffahrt konnte diese plötzliche Umgestaltung der Handelsverhältnisse herbeigeführt werden. Aber der Verkehr wurde nicht bloß gewaltsam aus einem passiven in einen aktiven umgewandelt; er wurde auch absolut gesteigert, teils infolge der vermehrten Nachfrage im Okzident nach den Waren des Ostens, teils auf Kosten der übrigen Verkehrsstraßen durch Arabien und Syrien. Für den arabischen und den indischen Handel mit dem Okzident erwies sich der Weg über Ägypten mehr und mehr als der kürzeste und der billigste. Der Weihrauch, der in älterer Zeit großenteils auf dem Landweg durch das innere Arabien nach Gaza ging, kam späterhin meistens zu Wasser über Ägypten. Einen neuen Aufschwung nahm um die Zeit Neros der indische Verkehr, indem ein kundiger und mutiger ägyptischer Kapitän Hippalos es wagte, statt an der langgestreckten Küste hin vielmehr vom Ausgang des Arabischen Golfes durch das offene Meer geradewegs nach Indien zu steuern; er kannte den Monsun, den seitdem die Schiffer, die nach ihm diese Straße befuhren, den Hippalos nannten. Seitdem war die Fahrt nicht bloß wesentlich kürzer, sondern auch den Land- und den Seepiraten weniger ausgesetzt. In welchem Umfang der sichere Friedensstand und der zunehmende Luxus den Verbrauch orientalischer Waren im Okzident steigerte, lassen einigermaßen die Klagen erkennen, welche in der Zeit Vespasians laut wurden über die ungeheuren Summen, welche dafür aus dem Reiche hinausgingen. Den Gesamtbetrag der jährlich den Arabern und den Indern gezahlten Kaufgelder schlägt Plinius auf 100 (= 22 Mill. M.), für Arabien allein auf 55 Mill. Sesterzen (= 12 Mill. M.) an, wovon freilich ein Teil durch Warenexport gedeckt ward. Die Araber und die Inder kauften wohl die Metalle des Okzidents, Eisen, Kupfer, Blei, Zinn, Arsenik, die früher erwähnten ägyptischen Artikel, den Wein, den Purpur, das Gold- und Silbergerät, auch Edelsteine, Korallen, Krokusbalsam; aber sie hatten dem fremden Luxus immer weit mehr zu bieten als für ihren eigenen zu empfangen. Daher ging nach den großen arabischen und indischen Emporien das römische Gold- und Silbergeld in ansehnlichen Quantitäten. In Indien hatte dasselbe schon unter Vespasian sich so eingebürgert, daß man es mit Vorteil dort ausgab. Von diesem orientalischen Verkehr kam der größte Teil auf Ägypten; und wenn die Steigerung des Verkehrs durch die vermehrten Zolleinnahmen der Regierungskasse zugute kam, so hob die Nötigung zu eigenem Schiffbau und eigener Kauffahrt den Wohlstand der Privaten.

Während also die römische Regierung ihre Herrschaft in Ägypten auf den engen Raum beschränkte, den die Schiffbarkeit des Nils abgrenzt, und sei es nun in Kleinmut oder in Weisheit, auf jeden Fall mit folgerichtiger Energie weder Nubien noch Arabien jemals zu erobern versuchte, erstrebte sie mit gleicher Energie den Besitz des arabischen und des indischen Großverkehrs und erreichte wenigstens eine bedeutende Beschränkung der Konkurrenten. Die rücksichtslose Verfolgung der Handelsinteressen bezeichnet wie die Politik der Republik, so nicht minder, und vor allem in Ägypten, die des Prinzipats.

Wie weit überhaupt gegen Osten der direkte römische Seeverkehr gegangen ist, läßt sich nur annähernd bestimmen. Zunächst nahm er die Richtung auf Barygaza (Barotsch am Meerbusen von Cambay oberhalb Bombay), welcher große Handelsplatz durch die ganze Kaiserzeit der Mittelpunkt des ägyptisch-indischen Verkehrs geblieben sein wird; mehrere Orte auf der Halbinsel Gudjerat führen bei den Griechen griechische Benennungen, wie Naustathmos und Theophila. In der flavischen Zeit, in welcher die Monsunfahrten schon stehend geworden waren, ist die ganze Westküste Vorderindiens den römischen Kaufleuten erschlossen bis hinab zu der Küste von Malabar, der Heimat des hochgeschätzten und teuer bezahlten Pfeffers, dessentwegen sie die Häfen von Muziris (wahrscheinlich Mangaluru) und Nelkynda (indisch wohl Nilakantha, von einem der Beinamen des Gottes Shiwa; wahrscheinlich das heutige Nileswara) besuchten; etwas weiter südlich bei Kananor haben sich zahlreiche römische Goldmünzen der julisch-claudischen Epoche gefunden, einst eingetauscht gegen die für die römischen Küchen bestimmten Gewürze. Auf der Insel Salike, der Taprobane der älteren griechischen Schiffer, dem heutigen Ceylon, hatte in Claudius Zeit ein römischer Angestellter, der von der arabischen Küste durch Stürme dorthin verschlagen worden war, freundliche Aufnahme bei dem Landesherrn gefunden, und es hatte dieser, verwundert, wie der Bericht sagt, über das gleichmäßige Gewicht der römischen Münzstücke trotz der Verschiedenheit der Kaiserköpfe, mit dem Schiffbrüchigen zugleich Gesandte an seinen römischen Kollegen geschickt. Dadurch erweiterte sich zunächst nur der Kreis der geographischen Kunde; erst später, wie es scheint, wurde die Schiffahrt bis nach jener großen und produktenreichen Insel ausgedehnt, auf der auch mehrfach römische Münzen zum Vorschein gekommen sind. Aber über das Kap Komorin und Ceylon gehen die Münzfunde nur ausnahmsweise hinaus, und schwerlich hat auch nur die Küste von Koromandel und die Gangesmündung, geschweige denn die hinterindische Halbinsel und China ständigen Handelsverkehr mit den Okzidentalen unterhalten. Die chinesische Seide ist allerdings schon früh regelmäßig nach dem Westen vertrieben worden, aber wie es scheint, ausschließlich auf dem Landweg und durch Vermittlung teils der Inder von Barygaza, teils und vornehmlich der Parther: die Seidenleute oder die Serer (von dem chinesischen Namen der Seide Ser) der Okzidentalen sind die Bewohner des Tarim-Beckens nordwestlich von Tibet, wohin die Chinesen ihre Seide brachten, und auch den Verkehr dorthin hüteten eifersüchtig die parthischen Zwischenhändler. Zur See sind allerdings einzelne Schiffer zufällig oder erkundend wenigstens an die hinterindische Ostküste und vielleicht noch weiter gelangt; der im Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. den Römern bekannte Hafenplatz Kattigara ist eine der chinesischen Küstenstädte, vielleicht Hang-tschau-fu an der Mündung des Yang-tse-kiang. Der Bericht der chinesischen Annalen, daß im J. 166 n. Chr. eine Gesandtschaft des Kaisers An-tun von Ta- (das ist Groß) Tsin (Rom) in Ji-Nan (Tongking) gelandet und von da auf dem Landweg in die Hauptstadt Lo-yang (oder Ho-nan-fu am mittleren Hoang-ho) zum Kaiser Hwan-ti gelangt sei, mag mit Recht auf Rom und den Kaiser Marcus Antoninus bezogen werden. Indes dieser Vorfall und was die chinesischen Quellen von ähnlichem Auftreten der Römer in ihrem Lande im Laufe des 3. Jahrhunderts melden, wird kaum von öffentlichen Sendungen verstanden werden können, da hierüber römische Angaben schwerlich fehlen würden; wohl aber mögen einzelne Kapitäne dem chinesischen Hof als Boten ihrer Regierung gegolten haben. Bemerkbare Folgen haben diese Verbindungen nur insofern gehabt, als über die Gewinnung der Seide die früheren Märchen allmählich besserer Kunde wichen.

Geleitwort


Geleitwort des Herausgebers

Statt seine » Römische Geschichte«, die von den Anfängen Roms bis zum Siege Cäsars führt, durch das unübersichtliche Dickicht der oft verfälschten Kaisergeschichte chronologisch weiterzuführen, reizte es Mommsen, ein abschließendes Kulturbild der spätantiken Welt in einer zusammenfassenden historischen Übersicht über die im Laufe der Jahrhunderte gewonnenen Provinzen und Grenzgebiete zu geben, so daß uns eine Überschau über den gewaltigen Umkreis geboten wird: er suchte die Geschichte des » Imperium Romanum« positiv abzurunden und durch einen » Orbis pictus« der » Länder und Leute von Cäsar bis Diocletian« – zugleich in einer Umreißung der Romanisierung der Italien wie ein Kranz umschließenden römischen Annexionen – einer häufig unrichtigen und unbilligen Beurteilung der römischen Kaiserzeit ein abschließend notwendiges Gegengewicht zu schaffen.

Mommsen stellt in den Mittelpunkt seiner Darstellung den historio-geographischen Gegensatz zwischen Rom – als Vormacht des Westens – und dem nachalexandrinischen hellenisierten Osten.

Bis in die kleinsten Details der Lokalforschung zeichnet er die vielfarbigen Physiognomien all der überwundenen und mehr oder weniger romanisierten Völkerschaften und Stämme: vornehmlich der Iberer, Kelten, Germanen, Illyrier, Daker, Thraker, Hellenen, Parther, Syrer, Juden und Ägypter sowie der weiteren Nordafrikaner. Mit Bewunderung folgen wir seiner kundigen Führung und staunen über die einzigartige Verschmelzungsorganisation dieser vielseitigen Umwelt.

Mommsens Darstellung des »Imperium Romanum« beginnt im Norden mit den Donauländern, geht über die Alpenscheide nach Germanien und dem Rhein (Drusus und Tiberius, Varus 1 und Arminius und Germanicus), schildert dann Hispanien sowie die Romanisierung Galliens, das Verhältnis der römischen und der durch Arminius freigebliebenen Germanen, den Bataverkrieg unter Claudius Civilis und die Schaffung des Limes, sowie die ständigen Germanenkämpfe der späteren Kaiser, die Unterwerfung Britanniens durch Claudius, dessen vielfach verzeichnete Erscheinung ein Neffe Rankes, Robert von Ranke-Graves, in seinem Buche »Ich Claudius« gerechter gezeichnet hat, die Besiegung Illyricums und Dalmatiens, die Begründung der Provinz Thrakien, die Dakerkriege Domitians und Trajans, den Markomannenkrieg Marc Aurels, die Gotenkriege des Decius und Claudius (Gothicus), ferner das griechische Europa unter römischer Verwaltung, Thessalien, Makedonien, Thrakien, das Reich von Pontos, die Gewinnung des Bosporus, die kleinasiatischen Provinzen, den griechischen Archipelagos, die Euphratgrenze und das Partherreich, Parthoindien, die Partherkriege, die Sicherung des Ostens, die Entstehung des Sassanidenreiches in Persien, den Untergang von Palmyra, die weiteren Perserkriege der Kaiser bis Diocletian, die Provinz Syrien, das Eindringen des Christentums, das jüdische Reich, die Provinz Arabien, Judäa unter Herodes und den Herodianern, den jüdischen Krieg unter Vespasian und Titus, die späteren Judenaufstände, schließlich Ägypten und den alexandrinischen Hellenismus, Äthiopien und Abessinien und die Provinz Afrika und Numidien, die Gätulerkriege und die Mauren. Ein grandioses Panorama! Die Essenz dieser gewaltigen Außenkolonisation Roms ergibt sich in der Mommsenschen Darstellung dieser vor ihm noch ungeschriebenen Provinzialgeschichte der Kaiserzeit.

Mommsen, der im Gegensatz zu dem »Idealisten« Ranke ein – bei aller künstlerischer Dämonie – sehr real eingestellter Historiker war, hat es vermieden, an seine Darstellung eine geschichtsphilosophische Summa anzuhängen, weswegen wir die unser Blickfeld bis zu Justinian und der germanischen Umgestaltung erweiternde und uns in das »Reich der Ideen« erhebende Zusammenfassung Rankes über die »Weltgeschichte des römischen Imperiums« abschließend folgen lassen; aber Mommsen hat einmal betont, daß Griechenland – seiner Lage nach – nach dem Osten schaue, Rom und Italien nach dem Westen: Griechenlands Weltmission war es, den Orient zu hellenisieren, Roms Aufgabe, den Okzident unter Zuhilfenahme des griechischen Kulturerbes zu romanisieren. Man kann nicht sagen, daß das hellenische Element das stärkere war, wenn es auch im ganzen Osten die geistige Vormacht blieb und auch die Starrheit des römischen Wesens gemildert und gelockert hat.

Gewiß erkannte Mommsen die finale Unzulänglichkeit des Imperium Romanum sehr wohl. Er warnte als Greis vor einer Pax Romana, die aus dem Recht des Stärkeren ihre letzten Konsequenzen zog: »Denn, wenn also eine Nation bereichert wird, so vergeht eben die göttliche Welt mit ihrer glänzenden Mannigfaltigkeit, und wohl tritt ein Frieden ein, aber der Frieden des Grabes.«

Roms antike Sendung war, das Bollwerk Europas gegen den Osten zu sein, und die Fixierung des römischen Rechts.

Wie sagt Grabbes Faust (in seinem »Don Juan und Faust«):

»… Und als Dein Schwert nun alles
Dir errungen, fielst Du auch mit allem wieder
in Nacht und Barbarei. – Aus dieser quoll
ein neues Blut, ein neues Licht hervor …
Der Klang nur von zerissnen Geistesfesseln,
die Du um halb Europa wandest, ist
geblieben – Frankreichs, Spaniens, Italiens Sprachen.«

Kurt L. Walter-Schomburg.

Gehe durch die Welt und sprich mit Jedem
Firdusi

  1. Edm. Meyer macht in seinen »Untersuchungen über die Schlacht im Teutoburger Walde« (Berlin 1893) nicht unbeachtliche Einwendungen gegen die Auffassung Mommsens.

Kapitel 1


Kapitel 1 Der Verfasser gibt Nachricht von seiner Person und seiner Familie. Seine erste Veranlassung zu reisen. Er leidet Schiffbruch, sucht sich durch Schwimmen zu retten, erreicht wohlbehalten den Strand von Lilliput, wird gefangen genommen und in das Innere des Landes gebracht.

Mein Vater besaß ein kleines Gut in Nottinghamshire; ich war der Dritte seiner fünf Söhne. Mit dem vierzehnten Jahre ward ich auf die Universität Cambridge geschickt, wo ich drei Jahre lang blieb und fleißig studirte. Jedoch die damit verbundenen Kosten waren zu groß für das kleine Vermögen meines Vaters, obgleich ich nur einen unbedeutenden Wechsel erhielt; somit wurde ich bei HerrnJames Bates, einem ausgezeichneten Wundarzte der Hauptstadt London, in die Lehre gegeben, bei welchem ich drei Jahre blieb. Von Zeit zu Zeit schickte mir mein Vater kleine Geldsummen, die ich auf die Erlernung der Schifffahrtkunde und auf das Studium anderer mathematischen Wissenschaften verwandte, deren Kenntniß für diejenigen durchaus nothwendig ist, welche große Reisen unternehmen wollen; ich hegte nämlich immer ein gewisses Vorgefühl, dies werde früher oder später mein Schicksal seyn. Als ich Herrn Bates verließ, kehrte ich zu meinem Vater zurück, und erlangte von ihm, meinem Onkel James und einigen andern Verwandten die Summe von 43 Pfund. Zugleich wurden mir 30 Pfund jährlich versprochen, so daß ich die Universität Leyden beziehen konnte. Dort studierte ich zwei Jahre und sieben Monate die Medicin. Ich wußte, daß sie mir auf großen Reisen von Nutzen seyn würde.

Bald nach meiner Rückkehr von Leyden erhielt ich durch die Empfehlung meines guten Lehrers Bates die Stelle eines Wundarztes auf der Schwalbe, deren Capitän der Commander Abraham Pannel war. Mit diesem Schiffe machte ich einige Reisen nach der Levante und andern Gegenden. Nach meiner Rückkehr beschloß ich, mich in London niederzulassen, wozu mich auch Hr. Bates ermuthigte, nachdem er mich mehreren seiner Patienten empfohlen hatte. Ich miethete mir ein Stockwerk eines kleinen Hauses in Old Jewry, und da man mir rieth den Stand des Hagestolzen aufzugeben, verheirathete ich mich mit Marie Burton, der zweiten Tochter des Strumpfhändlers Edmund Burton in Newgatestreet, von der ich 60 Pfund Mitgift erhielt.

Nach zwei Jahren starb aber mein guter Lehrer Bates. Ich hatte nur wenig Freunde und somit verschlimmerte sich auch mein Geschäft, denn mein Gewissen erlaubte mir nicht auf tadelnswerthe Art in meiner Praxis mitunter zu verfahren, wie dies bei so vielen meiner Collegen gewöhnlich ist. Nachdem ich deßhalb eine lange Berathung mit meiner Frau und mehreren meiner Bekannten gehalten hatte, beschloß ich wieder in See zu gehen. Ich wurde Wundarzt auf zwei Schiffen und machte sechs Jahre lang verschiedene Reisen nach Ostindien und Amerika, wodurch ich mein Vermögen etwas vermehrte. In meinen Mußestunden las ich die besten älteren und neueren Schriftsteller, denn ich hatte stets eine nicht unbedeutende Anzahl Bücher mitgenommen; war ich an’s Land gegangen, so beobachtete ich die Sitten und Charaktere der verschiedenen Nationen und erlernte ihre Sprachen. Durch die Stärke meines Gedächtnisses war ich zu letzterem befähigt.

Da die letzte dieser Reisen nicht sehr glücklich ausfiel, ward ich des Seefahrens müde, und beschloß, bei meiner Frau und meiner Familie zu bleiben. Ich zog aus Old Jewry nach Fetterlane und von da nach Wapping, denn ich hoffte, unter den dortigen Matrosen mir eine ärztliche Praxis zu verschaffen; allein diese Veränderung schlug nicht zu meinem Vortheil aus. Nachdem ich drei Jahre auf eine Verbesserung meiner Lage gewartet hatte, erhielt ich vom Capitän William Prichard, dem Eigenthümer der Antilope, welche im Begriff war, nach der Südsee abzusegeln, ein vortheilhaftes Anerbieten. Wir fuhren am 4. Mai 1699 von Bristol ab und unsre Reise war anfangs glücklich.

Einige Gründe bestimmen mich, den Leser mit den Einzelnheiten unsrer Reise in jenen Meeren nicht zu langweilen; es genüge die Bemerkung, daß wir auf unserer Fahrt von Bristol nach Ostindien durch einen heftigen Sturm nordwestlich von Van Diemen’s Land getrieben wurden. Durch nautische Beobachtungen bemerkten wir, daß wir uns in der 2ten Minute des 30sten Grades südlicher Breite befanden. Zwölf Mann hatten wir durch übermäßige Arbeit bei schlechter Nahrung bereits verloren; die Uebrigen waren gänzlich erschöpft. Am 5. November, dem Anfang des Sommers unter diesen Breitengraden, war das Wetter trübe; die Matrosen gewahrten ein Felsenriff in der Entfernung von einer halben Kabel-Länge; der Wind war stark. Wir wurden darauf hingetrieben und scheiterten. Sechs von der Mannschaft, worunter ich mich befand, setzten das Boot aus und suchten vom Schiff und dem Felsenriff loszukommen. Wir ruderten nach meiner Berechnung drei Seemeilen, bis es unmöglich ward, die Ruder länger zu führen, da unsere Kräfte durch fortwährende Anstrengung im Schiffe bereits aufgerieben waren. Wir gaben uns deßhalb den Wogen preis und nach ungefähr einer halben Stunde ward das Boot durch einen plötzlichen Windstoß von Norden her umgeworfen. Ich kann nicht berichten, was aus meinen Gefährten im Boot und der Schiffsmannschaft geworden ist, vermuthe jedoch, daß sie ertranken. Was mich betrifft, so schwamm ich auf gut Glück, wohin Wogen und Fluth mich trieben.

Oft ließ ich die Füße herabhängen, konnte aber keinen Grund fassen; als ich beinah verloren war, denn ich konnte nicht länger mit den Wellen ringen, fand ich endlich festen Boden; zugleich ließ auch der Sturm nach. Der Strand war so flach, daß ich beinah eine Meile gehen mußte, bevor ich auf das trockene Ufer, um 8 Uhr Abends wie ich glaube, gelangte. Alsdann ging ich noch eine halbe Meile, konnte aber keine Spur von Einwohnern und Wohnungen entdecken. Zuletzt ward ich so schwach, daß ich gar nichts mehr bemerkte. Da ich sehr müde und das Wetter heiß war, ich auch, als ich das Schiff verließ, eine halbe Pinte Branntwein getrunken hatte, fühlte ich Neigung zum Schlaf. Ich legte mich auf das Gras, welches mir kurz und weich zu seyn schien und schlief dann fester, wie jemals in meinem Leben, so viel ich weiß, und wie ich glaube an die neun Stunden. Als ich erwachte, war der Tag angebrochen. Ich versuchte aufzustehn, konnte mich aber nicht bewegen; während ich auf dem Rücken lag, bemerkte ich, daß meine Arme und Beine fest gebunden an dem Boden hafteten. Dasselbe war mit meinen sehr langen und dicken Haaren der Fall. Auch fühlte ich mehrere kleine Binden am ganzen Leibe von den Schulterhöhlen bis zu den Schenkeln. Ich konnte nur aufwärts blicken; die Sonne ward heiß und ihr Licht blendete meine Augen. Ich vernahm ein verwirrtes Geräusch in meiner Nähe; in der Stellung jedoch, die ich einnahm, konnte ich nur den Himmel sehen. Mittlerweile fühlte ich, wie sich etwas auf meinem linken Schenkel bewegte; irgend ein Geschöpf rückte leise vorwärts, und kam über meine Brust bis fast an mein Kinn; ich erkannte in demselben eine Menschengestalt von etwa sechs Zoll Höhe, mit Bogen und Pfeilen in der Hand und mit einem Köcher auf dem Rücken. Zugleich fühlte ich, daß wenigstens noch vierzig derselben Menschengattung dem Ersteren folgten. Ich war äußerst erstaunt und brüllte so laut, daß sie sämmtlich erschrocken fortliefen; Einige, wie ich nachher hörte, beschädigten sich durch den Fall, als sie von meiner Seite herabspringen wollten. Sie kamen aber bald wieder; Einer von ihnen wagte sich so weit, daß er vollkommen in mein Gesicht blicken konnte, erhob voll Bewunderung seine Hände und Augen und rief mit schallender und deutlicher Stimme:Hekinah Degul. Die Uebrigen wiederholten dieselben Worte mehrere Male; ich konnte damals aber den Sinn derselben noch nicht verstehen.

Der Leser wird wohl vermuthen, daß ich mich in keiner bequemen Lage befand; ich suchte los zu kommen und hatte zuletzt das Glück, die Stricke zu zerreissen oder die Pfähle abzubrechen, woran mein rechter Arm befestigt war. Als ich ihn nun zum Gesicht erhob, bemerkte ich die Art, wie man mich gebunden hatte. Durch einen heftigen Ruck, der mir viel Schmerz verursachte, machte ich die Bande, welche mein Haar auf der rechten Seite hielten, etwas lockerer, so daß ich im Stande war, meinen Kopf zwei Zoll umzuwenden; allein die Geschöpfe liefen noch einmal fort, ehe ich eines derselben ergreifen konnte, worauf ein sehr lauter Ruf von mehreren Stimmen entstand, der aber schnell wieder verhallte. Hierauf hörte ich, wie Einer Tolgo Phonac rief. Sogleich trafen mehr als hundert Pfeile meine linke Hand und prickelten mich wie Nadeln. Außerdem wurde eine andere Salve in die Luft, so wie wir die Bomben in Europa schleudern, geschossen. Ich glaube, eine Menge Pfeile fiel auf meinen Körper, ich habe sie aber nicht gefühlt. Einige richteten ihre Geschosse auf mein Gesicht, das ich sogleich mit der rechten Hand bedeckte. Als dieser Pfeilschauer vorüber war, begann ich aus Gram und wegen meiner Schmerzen zu seufzen; ich suchte mich wieder loszumachen, und erhielt noch eine zweite und größere Salve; Einige suchten mit Speeren in meine Seite zu stechen; zum Glück aber trug ich ein Wamms von Büffelleder, das sie nicht durchbohren konnten. Ich hielt es deßhalb für das Klügste regungslos liegen zu bleiben, bis die Nacht einbräche.

Da meine linke Hand bereits von den Banden gelöst war, konnte ich mich sehr leicht gänzlich befreien, und was die Einwohner betraf, so hegte ich die Ueberzeugung, ihrem größten Heere vollkommen gewachsen zu seyn, wenn alle Soldaten von derselben Größe wären, wie jenes Geschöpf, das ich gesehen. Allein das Glück hatte mir ein andres Loos beschieden. Als die Volksmasse meine Ruhe sah, gab sie mir keine weitere Salve von Pfeilen; aus dem Lärm, den ich vernahm, konnte ich jedoch den Schluß ziehen, daß ihre Anzahl sich vermehrte. Auch vernahm ich, wie man in Entfernung von vier Ellen, meinem rechten Ohre gegenüber, ungefähr eine Stunde lang in der Art polterte, wie es bei beschäftigten Arbeitern der Fall zu seyn pflegt. Deßhalb drehte ich den Kopf nach der Seite hin, so gut es die Stricke und Pfähle erlaubten, und erblickte ein ungefähr anderthalb Fuß hohes Gerüst, welches mit einer oder drei Leitern, um es zu besteigen, versehen, vier jener Eingebornen tragen konnte.

Von dort aus hielt eines der Geschöpfe, wie es schien ein Mann von Stande, eine lange an mich gerichtete Rede, wovon ich aber keine Sylbe verstand. Jedoch ich muß noch erwähnen, daß jene Hauptperson, bevor, sie ihre Rede begann, dreimal ausrief: Langro dehul san (diese, so wie auch die früheren Worte wurden mir nachher wiederholt und erklärt). Hierauf traten ungefähr fünfzig Einwohner näher, welche die Stricke an der linken Seite meines Kopfes abschnitten, so daß ich denselben rechts hin drehen und die Gestalt so wie die Handlung des Diminutiv-Menschen, welcher reden wollte, beobachten konnte. Er war ein Mann von mittlerer Größe, und schlanker als die andern drei, welche ihn begleiteten. Einer derselben war ein Page, der ihm die Schleppe hielt, und etwas länger als mein Mittelfinger zu seyn schien. Die andern Beiden standen an den Seiten der hohen Person, um sie zu halten. Diese spielte vollkommen die Rolle eines Redners, und ich konnte manche Perioden der Drohung, eine andere der Versprechung, des Mitleids und der Höflichkeit unterscheiden. Ich antwortete in wenig Worten, jedoch in der unterthänigsten Weise. Die linke Hand und die Augen erhob ich zur Sonne, als wollte ich sie zum Zeugen anrufen. Da ich nun aber mehrere Stunden, bevor ich das Schiff verließ, nur einige sehr schmale Bissen gegessen hatte, war ich jetzt beinahe verhungert; die Ansprüche der Natur wirkten deßhalb mit solcher Stärke, daß ich es nicht unterlassen konnte, meine Ungeduld, vielleicht gegen die strengen Regeln des Anstandes, dadurch zu zeigen, daß ich meinen Finger mehrere Male in den Mund steckte, um anzudeuten, ich müsse durchaus Nahrung zu mir nehmen.

Der Hurgo (so nannten die Andern den erwähnten vornehmen Herrn, wie ich nachher erfuhr) verstand mich vollkommen. Er stieg von dem Gerüste herab und gab Befehl, mehrere Leitern an meine Seite zu stellen; ungefähr hundert Einwohner stiegen hinauf und gingen mit Körben voll Fleisch, welches auf des Königs Befehl nach der ersten Nachricht von meiner Ankunft hieher gesandt war, auf meinen Mund zu. Ich erkannte dasselbe als das Fleisch verschiedener Thiere, konnte es aber nach dem Geschmack nicht unterscheiden. Mir wurden Keulen- und Rippenstücke, von der Gestalt der Hammel-Keulen und Rippen, gebracht; sie waren sehr schmackhaft gekocht, aber nur von der Größe eines Lerchenflügels. Zwei oder drei steckte ich auf einmal mit drei runden Broden, so dick wie Musketenkugeln, in den Mund. Jene versahen mich nun so schnell als möglich mit Nahrung, und äußerten dabei mehr als tausendmal ihr Erstaunen über meine Größe und meinen Hunger. Darauf gab ich ein anderes Zeichen, daß ich zu trinken wünsche. Sie hatten durch meinen Appetit bereits erkannt, eine kleine Quantität werde mir nicht genügen und da sie nun sehr verständig waren, zogen sie mit vieler Geschicklichkeit eines ihrer größten Fässer zu mir hinauf, rollten es auf meine Hand und stießen den Boden ein; ich trank es mit einem Zuge aus, und dies war ganz natürlich, denn es enthielt keine halbe Pinte und schmeckte beinah wie der sogenannte Petit Bourgogne,aber köstlicher. Alsdann brachte man mir ein zweites Faß, das ich auf dieselbe Weise leerte; ich gab durch Zeichen zu verstehen, man möge mir noch mehr bringen, aber leider war nichts mehr vorhanden. Als ich diese Wunder vollbrachte, stießen die erwähnten Geschöpfe ein lautes Geschrei aus, tanzten auf meiner Brust und wiederholten mehrere Male, wie früher, Hekinah Degul. Dann gaben sie mir durch Zeichen zu verstehen, ich solle die leeren Fässer fortwerfen. Zuerst aber hatten sie den Umstehenden erklärt, auf ihrer Hut zu seyn. Als die Fässer nun durch die Luft flogen, ertönte ein abermaliges Freudengeschrei.

Ich muß gestehen, daß ich wohl in Versuchung kam, dreißig oder vierzig von jenen Herren, welche auf meiner Brust herum spazirten, die ich packen konnte, mit kurzem Proceß auf den Boden zu werfen. Allein die Erinnerung meiner so eben überstandenen Plage, wahrscheinlich noch nicht die schlimmste Peinigung, die in ihrer Macht lag, und dann auch mein Ehrenwort ruhig zu bleiben, (denn so deutete ich mir meine unterthänigen Bewegungen) brachte mich bald auf andere Gedanken. Außerdem hielt ich mich durch die Gesetze der Gastfreundschaft jenen Leuten für moralisch verpflichtet. Sie bewirtheten mich ja mit so viel Kostenaufwand und Freigebigkeit. Dennoch mußte ich über die Unerschrockenheit dieser Diminutiv-Menschen erstaunen, welche keck genug auf meinem Leibe spazieren gingen, während meine linke Hand durchaus zu meiner Verfügung stand, und die dennoch nicht vor einem so wunderbaren Geschöpf, wie ich ihnen erscheinen mußte, erzitterten. Als meine neuen Bekannten darauf bemerkten, daß ich nicht weiter zu essen verlangte, erschien eine Person hohen Ranges von Seiten Seiner Kaiserlichen Majestät. Seine Excellenz stieg auf mein rechtes Knie, unter meinen Waden hinauf; marschirte mit einem Dutzend Trabanten an mein Gesicht, präsentirte mir sein Creditiv mit dem königlichen Siegel, hielt es mir dicht vor die Augen, und sprach ungefähr zehn Minuten ohne Zeichen von Zorn, jedoch mit dem Ausdruck der Entschlossenheit; oftmals wies die Excellenz nach einer bestimmten Richtung, wo, wie ich bald bemerkte, die Hauptstadt in der Entfernung einiger Meilen lag. Seine Majestät hatte nämlich im geheimen Rathe beschlossen, mich dorthin transportiren zu lassen. Ich antwortete in wenig Worten. Allein, was half mir das? Deßhalb machte ich ein Zeichen mit meiner noch freien Hand. Ich legte sie auf die andre (beiläufig gesagt, ich mußte mich sehr in Acht nehmen, den Kopf seiner Excellenz nicht zu berühren, und ihn oder sein Gefolge zu beschädigen) und dann auf meinen Kopf und meinen Leib. Dies sollte nämlich bedeuten, ich wünsche meine Freiheit. Wie es schien, verstand Se. Excellenz mich vollkommen, schüttelte jedoch mißbilligend ihr Haupt und hielt ihre Hand in solcher Art, daß sie mir zu verstehen gab, ich müsse als Gefangener fortgeführt werden. Zugleich aber eröffnete sie mir durch andere Zeichen, ich würde Getränk und Speise zur Genüge erhalten und sehr gut behandelt werden. Hierauf versuchte ich noch einmal meine Fesseln zu zerreißen, allein zum zweiten Mal empfand ich das Prickeln der Pfeile auf Gesicht und Händen, die bereits beide mit Blasen bedeckt waren; auch fühlte ich, daß noch einige Pfeile in der Haut steckten, und sah zugleich, wie die Zahl meiner Feinde sich vermehrte. Somit gab ich Zeichen, sie mögten mit mir thun, was sie wollten. Alsdann entfernte sich der Hurgo nebst seinem Gefolge mit vieler Höflichkeit und vergnügtem Gesicht. Bald darauf vernahm ich einen allgemeinen Schrei, worin die Worte Peplom selanhäufig wiederholt wurden; ich fühlte zugleich wie eine Menge von Leuten die Stricke an meiner linken Seite in der Art lösten, daß ich mich auf die rechte umdrehen konnte, um endlich meine Blase zu erleichtern.

Dies that ich in vollem Maße, zum großen Erstaunen meiner neuen Bekannten, die aus meinen Bewegungen auf mein Vorhaben schlossen und sogleich rechts und links eine Gasse öffneten, den Strom zu vermeiden, der mit solchem Getöse und solcher Heftigkeit aus mir hervorbrauste. Zuvor jedoch hatten sie mir Gesicht und Hände mit einer angenehm duftenden Salbe eingerieben, welche in wenigen Minuten den durch die Pfeile verursachten Schmerz entfernte; dieser Umstand, so wie auch die Erfrischung, die ich durch Getränk und Speise erhalten hatte, welche wirklich sehr nahrhaft war, machte mich zum Schlaf geneigt. Wie man mir nachher gesagt hat, schlief ich acht Stunden, und dies war sehr natürlich, denn die Aerzte hatten auf Befehl des Kaisers einen Schlaftrunk mit dem Weine gemischt. Wie es scheint, war der Kaiser, sobald man mich nach meiner Landung auf dem Strande schlafend gefunden hatte, sogleich durch Couriere davon benachrichtigt worden und hatte im Staatsrath beschlossen, man solle mich in der von mir berichteten Weise fesseln und verhaften, wie es wahrend meines Schlafes geschah; ferner solle mir Speise und Trank zur Genüge gereicht, und eine Maschine zu meinem Transport in die Hauptstadt in Stand gerichtet werden.

Dieser Entschluß konnte vielleicht kühn und gefährlich erscheinen; auch würde ein europäischer Fürst bei ähnlicher Gelegenheit schwerlich eine solche Maßregel treffen. Nach meiner Meinung war er aber sowohl klug als edelmüthig. Hätten nämlich jene Leute es versucht, mich mit ihren Pfeilen und Speeren zu tödten, während ich schlief, so wäre mein erstes Gefühl beim Erwachen sicherlich ein heftiger Schmerz gewesen; dadurch wäre meine Wuth und alle meine Kraft aufgeregt worden, so daß ich meine Bande sehr leicht würde zersprengt haben. Da sie in dem Fall mir keinen Widerstand hätten leisten können, durften sie auch keine Gnade erwarten.

Das Volk zeichnet sich durch mathematisches Wissen aus und hat es zu einer großen Vollkommenheit in mechanischen Arbeiten gebracht, weil der Kaiser, der überhaupt als berühmter Beschützer der Gelehrten gilt, jene Bestrebungen unterstützt und ermuthigt. Dieser Fürst besitzt mehrere auf Rädern ruhende Maschinen zum Transport der Bäume und anderer Dinge von großem Gewicht. Er läßt oft seine größten Kriegsschiffe, wovon einige an neun Fuß lang sind, an Ort und Stelle, wo das Zimmerholz wächst, verfertigen, und dann in der Entfernung von drei bis vierhundert Ellen zur See fahren. Fünfhundert Zimmerleute und Ingenieure wurden sogleich in Thätigkeit gesetzt, um die größte Maschine der Art, welche vorhanden war, in der Schnelle zuzurichten. Es war ein hölzerner und drei Zoll über den Boden erhabener Bau, sieben Fuß lang, vier Fuß breit, und mit zweiundzwanzig Rädern versehen. Der Freudenruf, den ich vernahm, erscholl wegen der Ankunft der Maschine, die, wie es schien, schon vier Stunden nach meiner Landung in Bewegung gesetzt wurde. Sie ward mit meiner Lage parallel gestellt; aber nun kam die größte Schwierigkeit. Wie sollte ich auf das Fuhrwerk gehoben werden? Achtzig Pfähle von ein Fuß Höhe wurden zu dem Zweck eingerammt. Sehr starke Stricke, von der Dicke eines Bindfadens, wurden mit Haken an eine gleiche Zahl von Banden geheftet, welche die Arbeiter mir um Hände, Hals, Leib und Arme geschlungen hatten. An den Pfählen hingen diese Stricke auf Rollen; neunhundert der stärksten Männer wanden dieselben auf. Somit wurde ich in ungefähr drei Stunden emporgehoben, in die Maschine geworfen und dort festgebunden. Alles dies ist mir nachher erzählt worden, denn während der Operation lag ich, wegen des Schlaftrunkes in dem von mir genossenen Weine, im tiefsten Schlaf. Fünfzehnhundert Pferde, die größten, welche der Kaiser besaß, die an Länge zwei Zoll und an Höhe einen halben Zoll betrugen, wurden vorgespannt, um mich zur Hauptstadt zu ziehen, welche, wie ich hörte, eine halbe Meile entfernt war.

Nachdem wir ungefähr vier Stunden unterweges gewesen waren, erwachte ich durch einen sehr lächerlichen Umstand. Als nämlich das Fuhrwerk anhielt, damit irgend einer plötzlichen Verwirrung abgeholfen werde, konnten zwei oder drei junge Eingeborne ihre Neugier, mich schlafen zu sehen, nicht unterdrücken. Sie kletterten auf das Fuhrwerk, und schlichen sich auf den Zehen an mein Gesicht. Einer von ihnen, ein junger Gardeoffizier, steckte aber in mein linkes Nasenloch die Spitze seines Spontons, welche mich wie ein Strohhalm kitzelte, so daß ich mehrere Male niesen mußte. Dann schlichen sie sich unbemerkt davon und erst nach drei Wochen erfuhr ich die Ursache meines plötzlichen Erwachens. Während der übrigen Zeit machten wir einen langen Marsch; in der Nacht ward Halt gemacht. Fünfhundert Gardisten waren an jeder Seite aufgestellt; die eine Hälfte derselben trug Fackeln; die andere, mit Bogen und Pfeilen ausgerüstet, stand bereit auf mich zu schießen, sobald ich mich rühren würde. Am nächsten Morgen setzten wir bei Sonnenaufgang uns wieder in Bewegung und waren gegen Mittag nur noch zweihundert Ellen von den Stadthoren entfernt. Der Kaiser kam uns mit seinem ganzen Hofe entgegen; die Großoffiziere wollten aber durchaus nicht leiden, daß Seine Majestät durch das Besteigen meines Körpers sein Leben in Gefahr setze.

Der Wagen hielt bei einem alten Tempel an, welcher, wie es hieß, der größte im ganzen Königreiche war. Einige Jahre vorher war er durch einen unnatürlichen Mord befleckt worden. Das Volk hielt ihn deshalb für entweiht und man hatte ihn nunmehr zum gewöhnlichen Gebrauch bestimmt und alle heiligen Geräthe und Verzierungen daraus hinweggeschafft. Das Gebäude ward mir als Wohnung angewiesen. Das große nach Norden hin gerichtete Thor war vier Fuß hoch und zwei Fuß breit, so daß ich bequem hindurchkriechen konnte. Auf jeder Seite dieses Thores befand sich ein kleines Fenster, kaum sechs Fuß über dem Boden erhaben; auf dem, welches sich links befand, spannte der Hofschmied des Königs einundneunzig Ketten aus, von der Größe derjenigen, woran die Damen ihre Uhren tragen; diese wurden mit einundsechszig Schlössern an meinem linken Schenkel befestigt. Dem Tempel gegenüber, auf der anderen Seite der Heerstraße, stand in der Entfernung von zwanzig Fuß ein wenigstens fünf Fuß hoher Thurm. Diesen bestieg der Kaiser mit dem ersten Adel seines Hofes, um mich zu sehen. Ich selbst konnte sie nicht erblicken, habe es aber nachher erfahren. Zu demselben Zweck sollen wenigstens hunderttausend Menschen aus der Stadt gekommen seyn, und ich glaube, daß nicht weniger wie zehntausend meinen Leib mit Leitern erstiegen, und den Verboten meiner Wachen trotzten. Bald aber erschien eine Proklamation, welche diese Neugier bei Todesstrafe untere sagte. Als die Arbeiter sahen, es sey mir unmöglich meine Ketten zu brechen, durchschnitten sie alle Stricke, womit ich gefesselt war. Hierauf erhob ich mich in so melancholischer Gemüthsverfassung, wie ich noch nie bisher empfunden hatte. Allein der Lärm und das Staunen des Volkes, als man mich aufstehen und herumgehen sah, ist nicht zu beschreiben. Die Ketten an meinem linken Schenkel waren ungefähr zwei Ellen lang und gestatteten mir nicht allein im Halbkreise vorwärts und rückwärts zu gehen, sondern erlaubten mir auch in das Thor zu kriechen und mich der Länge nach im Tempel auszustrecken, da sie vier Zoll vom Thore befestigt waren.

Kapitel 8

Kapitel 8 Der Verfasser gibt Bericht von mehreren Eigenschaften der Yaehus. Die großen Tugenden der Hauyhnhnms. Ihre Erziehung und ihre Uebungen während der Jugend. Ihre allgemeine Versammlung.

Ich mußte natürlich mit der menschlichen Natur genauer wie mein Herr bekannt seyn, und somit wurde es mir leicht, den Charakter der Yähus, wie er ihn darstellte, auf mich und meine Landsleute anzuwenden. Auch glaubte ich, vielleicht würde ich durch eigene Beobachtung fernere Entdeckungen machen können. Deßhalb bat ich oft meinen Herrn, mir die Erlaubniß zu ertheilen, daß ich unter die benachbarten Heerden der Yähus gehen dürfe; er hatte auch die Güte, seine Einwilligung zu geben, denn er hegte die vollkommene Ueberzeugung, der Haß, den ich gegen dieses Vieh hege, werde verhindern, daß ich durch dasselbe verdorben würde. Alsdann befahl er auch einem Diener, dem fuchsrothen Klepper, welcher sehr stark, ehrlich und gutmüthig war, mich zu bewachen. Ohne diesen Schutz hätte ich niemals die Abenteuer, die ich beschreiben will, gewagt.

Ich habe ja dem Leser schon erzählt, wie ich bei meiner Ankunft von jenen Thieren belästigt wurde. Später wäre ich ein- oder zweimal beinahe in ihre Klauen gefallen, als ich ohne meinen Hirschfänger zufällig in einiger Entfernung von meiner Wohnung spazieren ging. Auch habe ich Grund zu dem Glauben, daß sie einigen Begriff hegten, ich gehöre zu ihrer Gattung. Daran war ich aber selbst Schuld, denn ich hatte oft meine Rockärmel aufgekrämpt, und Arme so wie Füße, wenn mein Beschützer bei mir war, ihnen nackt gezeigt. Alsdann kamen sie mir so nahe, wie sie dies wagten, und pflegten meine Bewegungen wie Affen nachzuahmen, wobei sie jedoch immerwährend Zeichen des Hasses offenbarten, so wie ein zahmer Affe mit Mütze und Strümpfen, wenn er in die Gesellschaft der wilden gelangt, stets verfolgt wird.

Von Kindheit auf sind die Yähus ausserordentlich behende; einst fing ich einen dreijährigen Jungen und suchte durch alle Arten von Liebkosungen denselben ruhig zu machen, allein der kleine Kobold begann zu kreischen und mich mit solcher Heftigkeit zu beißen und zu kratzen, daß ich ihn aufgeben mußte; auch war es Zeit, daß ich ihn los ließ, denn eine ganze Heerde von alten Yähus lief bei dem Geräusch herbei; als sie aber fand, der Junge sey unverletzt (denn er lief mit größter Schnelligkeit), und da der fuchsbraune Klepper in der Nähe stand, wagte kein Yähu mir nahe zu kommen.

Ich bemerkte, das Fleisch des jungen Thieres sey sehr stinkend; er hatte einen Geruch, der aus dem eines Wiesels und eines Fuchses zusammengesetzt, aber bei Weitem unangenehmer war. Ich vergaß noch einen Umstand (und wahrscheinlich würde ich die Verzeihung des Lesers erlangen, hätte ich denselben gänzlich ausgelassen); während ich das verhaßte Geschöpf mit den Händen hielt, entleerte es seinen Koth über meine Kleider; glücklicherweise war ein kleiner Bach in der Nähe, wo ich mich so rein wie möglich abwusch. Ich wagte es jedoch nicht, vor meinem Herrn zu erscheinen, bevor ich mich gehörig gelüftet hatte.

Nach Allem, was ich entdecken konnte, scheinen die Yähus die ungelehrigsten Thiere zu seyn. Ihre Fähigkeiten gelangen nie weiter, als daß sie Lasten weiterziehen und tragen können. Ich glaube jedoch, dieser Mangel entsteht nur aus ihrem verkehrten und störrigen Charakter. Sie sind listig, verrätherisch, boshaft und rachsüchtig. Sie sind stark und kräftig, aber zugleich auch feig, und folglich unverschämt, niederträchtig und grausam. Man hat bemerkt, die Rothharigen beider Geschlechter seyen gieriger und boshafter wie die Uebrigen, die sie jedoch in Stärke und Thätigkeit übertreffen.

Die Hauyhnhnms verwahren die Yähus, die sie gewöhnlich gebrauchen, in Hütten, welche von ihren Wohnungen nicht sehr entfernt liegen. Die übrigen werden auf bestimmte Felder gesandt, wo sie Wurzeln ausgraben, jede Kräuterart essen, Aeser aufsuchen und bisweilen Wiesel oder Luhimuhs (eine Art wilder Ratten) fangen, die sie mit Gier verschlingen. Die Natur hat sie gelehrt, mit den Nägeln tiefe Löcher in die abhängige Seite eines Hügels zu graben, wohin sie sich einzeln niederlegen; die Lagerstätten für die Weibchen sind jedoch größer, so daß sie auch zwei oder drei Junge fassen können.

Von ihrer Kindheit auf können sie wie Frösche schwimmen und auch lange unter Wasser bleiben, wo sie häufig Fische fangen, welche die Weibchen nach Hause zu ihren Jungen tragen. Ich hoffe, der Leser wird mir verzeihen, wenn ich bei dieser Gelegenheit ein sonderbares Abenteuer erzähle. Als ich eines Tages bei sehr heißem Wetter mit meinem Beschützer, dem fuchsbraunen Klepper spazieren ging, bat ich ihn um die Erlaubniß, mich in einem nahen Flusse baden zu dürfen. Er gab seine Einwilligung; ich zog mich sogleich nakt aus und ging langsam in den Fluß hinein. Zufällig stand aber eine junge weibliche Yähu hinter einer Anhöhe und sah das ganze Verfahren; sie kam sogleich, von Begierde, wie ich und der Klepper vermuthete, entzündet, mit aller Eile herbeigelaufen und sprang in der Entfernung von fünf Ellen, wo ich badete, in’s Wasser hinein. Nie in meinem Leben habe ich einen solchen Schreck empfunden. Der Klepper graste in einiger Entfernung, da er nichts Böses vermuthete. Die Yähu umarmte mich in der ekelhaftesten Weise. Ich brüllte so laut wie möglich, worauf der Klepper zu mir galoppirte; sie ließ mich mit dem größten Widerstreben los und sprang auf das entgegengesetzte Ufer, wo sie während der ganzen Zeit, da ich meine Kleider anlegte, zusah und heulte.

Dies gab meinem Herrn und seiner ganzen Familie viel Stoff zur Belustigung, sowie mir zur Kränkung. Ich konnte nämlich jetzt nicht mehr läugnen, ich sey ein wirklicher Yähu, in jedem Gliede und nach meinen Gesichtszügen, da die Weibchen eine natürliche Neigung, als zu einem Geschöpf ihrer eigenen Species, hegten. Auch war das Haar dieses Thieres nicht von rother Farbe, die einige Entschuldigung für unregelmäßige Begierden hätte gewähren können, sondern schwarz wie eine Schlehe, und ihr Gesicht war auch nicht ganz so scheußlich wie bei den Uebrigen, so daß ich glaube, sie konnte nicht über elf Jahre alt seyn.

Da ich drei Jahre in diesem Lande gelebt habe, so erwartet der Leser, wie ich glaube, daß ich, wie andere Reisende, ihm einen Bericht von den Sitten und Gewohnheiten der Einwohner gebe, deren Kenntniß wirklich mein Hauptstudium bildete.

Da diese edlen Hauyhnhnms von der Natur mit einer allgemeinen Anlage zu allen Tugenden begabt sind, und keine Begriffe und Ideen von dem Bösen bei vernünftigen Geschöpfen besitzen, so besteht ihr Hauptgrundsatz in Ausbildung der Vernunft, um durchaus von derselben geleitet zu werden. Auch gilt die Vernunft bei ihnen nicht als problematischer Punkt, wie dies bei uns der Fall ist, wo man plausible Gründe für und gegen deren Existenz angeben kann, sondern sie erweckt bei ihnen augenblickliche Ueberzeugung, wie dies überall nothwendig ist, wo sie durch Leidenschaft und Interesse nicht vermischt, verdunkelt oder entfärbt wird.

Ich erinnere mich noch, wie ich meinem Herrn einen Begriff von der Bedeutung des Wortes Meinung, oder über die Möglichkeit des Disputirens, nur mit größter Schwierigkeit beibringen konnte. Er meinte nämlich, die Vernunft lehre uns ja nur da zu läugnen oder zu behaupten, wo wir unserer Sache gewiß seyen; läge irgend etwas jenseits unserer Kenntnisse, sey beides für uns unmöglich. Somit sind Controverse, Zänkereien und Disputationen über falsche und zweifelhafte Sätze bei den Hauyhnhnms durchaus unbekannte Uebel. In derselben Art pflegte er mich auszulachen, als ich ihm unsere verschiedenen Systeme der Naturphilosophie auseinandersetzte, weil ein Geschöpf, welches auf Vernunft Anspruch mache, sich auf die Vermuthungen anderer Leute so viel einbilde, und besonders auch in Dingen, wo diese Kenntniß, selbst wenn sie gewiß wäre, zu Nichts helfen könne. Hierin stimmte er vollkommen mit den Gedanken des Socrates überein, wie siePlato uns darlegt, und ich glaube, durch diese Bemerkung jenem Fürsten der Philosophen die größte Ehre zu erweisen. Oft habe ich überlegt, wie ungeheure Verluste die europäischen Buchhandlungen durch eine solche Lehre erleiden müßten und wie viele Wege zum Ruhm der gelehrten Welt dadurch verschlossen würden. Freundschaft und Wohlwollen sind die zwei hauptsächlichsten Tugenden der Hauyhnhnms, und diese werden nicht auf einzelne Individuen beschränkt, sondern über das ganze Geschlecht hin ausgedehnt. Ein Fremder, aus dem entferntesten Theile des Landes, wird eben so wie der nächste Nachbar behandelt; wohin er auch kömmt, benimmt er sich sogleich als sey er zu Hause.

Die Hauyhnhnms beobachten Anstand und Höflichkeit im höchsten Grade, sind aber mit Komplimenten gänzlich unbekannt. Sie hegen keine Zärtlichkeit zu ihren Füllen; die Sorgfalt, die sie jedoch auf die Erziehung verwenden, entspringt ausschließlich aus den Vorschriften der Vernunft. Ich bemerkte auch, daß mein Herr dieselbe Neigung zu den Kindern seines Nachbars hegte, wie für seine eigenen. Sie glauben, die Natur erfordere, daß man die ganze Gattung liebe; es sey ferner vernünftig, daß man blos diejenigen Individuen auszeichne, welche einen höheren Grad der Tugend besitzen.

Wenn eine Matrone der Hauyhnhnms mit einem Füllen niedergekommen ist, so kommt sie mit ihrem Gatten nur dann noch zusammen, wenn durch irgend einen Zufall ein Füllen ihrer Nachkommenschaft verloren geht; ein Umstand, der sich jedoch nur sehr selten ereignet. Betrifft ein solches Unglück ein Individuum, dessen Gattin schon sehr alt ist, so erhält dasselbe ein Füllen von einem andern Paare, das dann wieder zusammen lebt. Diese Vorsicht ist nothwendig, damit das Land nicht zu sehr bevölkert werde. Die Race der niederen Hauyhnhnms muß sich jedoch nicht so genau auf diese Zahl beschränken; ihre Füllen dürfen von jedem Geschlechte drei betragen, die alsdann später als Bediente in den adelichen Familien angestellt werden.

Bei den Ehen zeigen die Hauyhnhnms besondere Sorgfalt in der Wahl der Farben, um keine unangenehme Mischung in der Race zu veranlassen. Kraft wird hauptsächlich bei den männlichen und Zierlichkeit bei den weiblichen Individuen geschützt, jedoch nicht in Betreff der Liebe, sondern um die Entartung der Race zu verhindern; wo nämlich ein Weibchen durch Körperstärke sich auszeichnet, wird der Gatte mit besonderer Rücksicht auf Zierlichkeit gewählt.

Das Hofmachen, die Zärtlichkeiten, die Geschenke, das Nadelgeld und Versorgung sind unbekannte Begriffe.

Das junge Paar kommt zusammen und wird ganz allein deßhalb verbunden, weil dies der Wille seiner Eltern und Verwandten ist. Die jungen Leute betrachten dies als etwas ganz Gewöhnliches und als eine Handlung, welche vernünftigen Wesen natürlich ist. Eine Verletzung der Ehe und eine andere unmoralische Handlung ist jedoch unerhört, und das verheirathete Paar verbringt sein Leben in derselben gegenseitigen Freundschaft und mit demselben Wohlwollen, welches Anderen, die mit ihnen zusammen kommen, erwiesen wird; Eifersucht, Zärtlichkeit, Zänkerei oder Unzufriedenheit sind unbekannte Begriffe.

In Erziehung der Jungen von beiden Geschlechtern ist die Methode der Hauyhnhnms bewunderungswürdig und verdient unsere Nachahmung. Die Füllen dürfen kein Korn, Hafer berühren, mit Ausnahme gewisser Tage, bis sie das achtzehnte Jahr erreicht haben; Milch erhalten sie nur selten; im Sommer grasen sie zwei Stunden des Morgens und dieselbe Zeit am Abend, wobei sie von ihren Eltern beobachtet werden. Den Dienern ist nicht mehr als die Hälfte dieser Zeit zugestanden, und ein großer Theil des Grases, wovon sie sich nähren, wird nach Hause gebracht. Sie essen dasselbe in passenden Stunden, wenn man sie am besten bei der Arbeit entbehren kann.

Mäßigkeit, Fleiß, Körperbewegung und Reinlichkeit werden als immerwährende Lehren den Füllen beider Geschlechter gegeben. Auch hielt es mein Herr für ein widernatürliches Verfahren, daß wir den weiblichen Personen unseres Geschlechtes eine andere Erziehung wie den männlichen geben, mit Ausnahme einiger Punkte, welche die Verwaltung des Hauswesens betreffen. Er bemerkte mit vollkommenem Recht, die Hälfte unserer Eingeborenen sey deßhalb zu nichts anderem brauchbar, als zum Hervorbringen von Kindern. Der Umstand jedoch, daß man die Erziehung der Kinder solchen nutzlosen Personen anvertraue, sey ein noch größerer Beweis von unserer thierischen Natur.

Die Hauyhnhnms ziehen dagegen ihre Jugend zur Kraft, Schnelligkeit und Abhärtung auf; dieselbe muß auf steilen Anhöhen und steinigem Boden öftere Wettrennen halten. Sind die Füllen in Schweiß gerathen, so müssen sie bis über die Ohren in einen Teich oder Fluß sich tauchen. Viermal des Jahres kommt die Jugend eines bestimmten Distrikts zusammen, um ihre Fortschritte im Laufen, Springen und anderen Beweisen ihrer Fertigkeit und Behendigkeit zu zeigen; der Sieger oder die Siegerin wird dabei mit einem Lobgedichte belohnt. Bei dieser Festlichkeit treiben die Bedienten eine Heerde Yähus auf das Feld, welche mit Heu, Hafer und Milch zur Bewirthung der Hauyhnhnms bestimmt sind. Alsdann aber werden die Thiere sogleich wieder zurückgetrieben, damit sie der Gesellschaft nicht lästig werden.

Alle vier Jahre wird im Frühlingsäquinoctium eine Repräsentativ-Versammlung der ganzen Nation auf einer Ebene gehalten, welche ungefähr zehn Stunden von unserem Hause entfernt liegt. Hier untersuchen die Hauyhnhnms den Zustand der verschiedenen Distrikte, ob dieselben Ueberfluß an Heu, Hafer, Kühen, Yähus besitzen, oder daran Mangel leiden. Findet sich irgendwo ein Mangel (ein Fall, der sich jedoch nicht häufig ereignet), so wird er sogleich durch einstimmig ertheilten Beitrag wieder ausgeglichen. Hier werden auch die Regulirungen, hinsichtlich der Kinder festgesetzt; z. B. wenn ein Hauyhnhnm zwei männliche Kinder hat, so vertauscht er eines mit einem andern, der zwei weibliche besitzt; ist ferner ein Kind durch Zufall verloren gegangen und die Mutter bereits schon alt, so wird beschlossen, welcher Distrikt ein anderes Kind aufziehen soll, um den Verlust zu ersetzen.

Kapitel 9


Kapitel 9 Eine große Debatte in der allgemeinen Versammlung der Hauyhnhnms und was darin beschlossen wird. Die Gelehrsamkeit der Hauyhnhnms. Ihre Gebäude. Ihre Begräbnißart. Die Mangelhaftigkeit ihrer Sprache.

Über eine dieser großen Versammlungen will ich hier berichten, welche drei Monate vor meiner Abreise gehalten wurde, und an welcher mein Herr als Repräsentant seines Distriktes Antheil nahm. In dieser Versammlung wurde die alte Debatte wieder aufgenommen, welche beinahe die einzige in dem Lande ist. Mein Herr gab mir darüber nach seiner Rückkehr einen sehr ausführlichen Bericht.

Die Frage betraf die Vertilgung der Yähus von der Erde. Ein Parlamentsglied sprach dafür und führte mehrere gewichtige Gründe für seine Meinung an. Es behauptete: So wie die Yähus die schmutzigsten, unruhigsten und häßlichsten Thiere seyen, welche die Natur jemals hervorgebracht habe, so zeigten sie sich auch störrig, ungelehrig und boshaft. Im Geheimen sögen sie Milch aus den Brüsten der Kühe, welche den Hauyhnhnms gehörten, tödteten und fräßen die Katzen derselben, zerträten Hafer und Gras, wenn man nicht ein genaues Auge auf sie habe, und begingen tausend andere Ausschweifungen.

Der Redner führte alsdann eine allgemeine Tradition an: Yähus habe es nicht ewig in seinem Vaterlande gegeben. Vor langer Zeit seyen zwei dieser Thiere auf einem Berge erschienen. Ob sie von der Hitze der Sonne aus verfaultem Morast und Schlamm, oder aus dem Abfluß und dem Schaum der See entstanden seyen, bleibe ungewiß; diese Yähus hätten eine Nachkommenschaft gezeugt, die bald so zahlreich geworden, daß sie die ganze Nation angreifen konnte; die Hauyhnhnms, um das Uebel los zu werden, hätten eine allgemeine Jagd angestellt und zuletzt die ganze Heerde eingeschlossen; die älteren seyen getödtet worden; jeder Hauyhnhnm habe zwei junge in seinem Stall gehalten und sie zu einem solchen Grade von Zahmheit, wie sie ein von Natur so wildes Thier nur erlangen könne, dadurch gebracht, daß er sie zum Ziehen und Lasttragen verwandt habe.

Diese Tradition scheine wahr zu seyn, denn jene Geschöpfe konnten nicht Ylnhiamshy (Ureinwohner) des Landes seyn, weil die Hauyhnhnms wegen des heftigen Hasses, welchen sie, wie andere Thiere, gegen die Yähus mit vollem Rechte hegten, unmöglich zu der Höhe von Vollkommenheit hätten gelangen können; wären Yähus die Ureinwohner, so wären die Hauyhnhnms wahrscheinlich ausgerottet worden. Die Einwohner hätten hierauf eine besondere Vorliebe für den Dienst der Yähus gefaßt, und dadurch, unvorsichtigerweise, die Fortpflanzung der Esel vernachläßigt, welche artige, weit ordentlichere und zahme, leicht zu bewachende Thiere seyen, die auch keinen unangenehmen Geruch besäßen. Sie seyen ferner auch stark genug zur Arbeit, obgleich sie den Yähus an Behendigkeit nachstünden; sey auch ihr Geschrei kein angenehmer Schall, so müsse man dasselbe doch dem furchtbaren Geheule der Yähus vorziehen.

Mehrere Andere sprachen ihre Ansicht in derselben Weise aus, worauf mein Herr der Versammlung einen Vorschlag machte, worüber ich ihm in der That einen Wink gegeben hatte. Er gestand die Wahrheit der Tradition zu, welche das ehrenwerthe Parlamentsglied, das so eben gesprochen, angeführt habe. Jedoch die beiden Yähus die man zuerst im Lande erblickte, müßten auf dem Meere hieher verschlagen und von ihren Gefährten verlassen seyn. Sie hätten sich auf die Gebirge zurückgezogen, seyen dorten allmählich entartet und wilder wie die Menschen des Landes geworden, von wo sie anlangten. Den Grund zu dieser Behauptung, fuhr der Andere fort, sehe ich in dem Umstände, daß ich jetzt einen wunderbaren Yähu besitze (damit war ich gemeint); die meisten von euch haben wohl schon davon gehört und viele ihn auch gesehen (der Redner erzählte alsdann die Art, wie er mich gefunden habe). Sein Körper ist mit einer künstlichen Zusammensetzung von Häuten und Haaren anderer Thiere bedeckt; er hat seine eigene Sprache, versteht jedoch auch die unsrige. Er hat mir die Begebenheiten erzählt, die ihn hieher brachten. Ich habe ihn auch ohne Bedeckung gesehen. Er ist ein vollkommner Yähu in jedem Körpertheile, jedoch von weißer Farbe, weniger haarig und besitzt keine Klauen. Er hat sich bemüht, mich zu überreden, daß die Yähus in seinem Vaterlande die regierenden und vernünftigen Thiere sind und die Hauyhnhnms zu ihrem Dienste gebrauchen. Er hat alle Eigenschaften eines Yähu, ist aber durch einen Anflug von Vernunft ein wenig verfeinert; dieser ist jedoch in demselben Gerade geringer wie unsre Vernunft, als die der Yähus seines Vaterlandes im Vergleich mit der unsrigen. Er hat mir unter Andern einen Gebrauch derselben erzählt, wonach die Hauyhnhnms in ihrer Jugend verschnitten werden, um sie zahmer zu machen, und diese Operation ist leicht und sicher. Auch ist es ja keine Schande, von Thieren zu lernen; Fleiß lernt man von der Ameise, das Bauen von der Schwalbe, (so übersetze ich das Wort Leihanhh, obgleich dieser Vogel etwas größer ist, als der erwähnte). So läßt sich diese Erfindung bei den jüngeren Yähus anwenden, welche ohnedies leichter zu behandeln, und zu gebrauchen sind. Dadurch wird das ganze Geschlecht ohne Tödtung aufhören. Zugleich müssen aber die Hauyhnhnms die Zucht der Esel befördern, die in jeder Hinsicht werthvollere Thiere sind, und zugleich den Vortheil gewahren, daß man sie schon im fünften Jahre gebrauchen kann, da dies bei den Yähus nur im zwölften möglich ist.

Dies war Alles, was mir mein Herr über den Vorgang in der Rathsversammlung damals sagen wollte. Er hatte die Güte, einen Umstand zu verhehlen; der sich auf mich bezog, und dessen unheilvolle Wirkung ich bald empfand, wie der Leser am gehörigen Orte erfahren wird, wovon ich alle meine spätern Unglücksfälle herleite.

Die Hauyhnhnms kennen keine Schrift und deßhalb beruht ihr ganzes Wissen auf Tradition. Da jedoch bei einem Volke, wo Alle befreundet und zu jeder Tugend durch Natur geneigt sind, das ferner ausschließlich durch Vernunft regiert wird, nur keinen Verkehr mit andern Völkern hat, wenige Ereignisse sich zutragen können, so wird der historische Theil des Wissens durch das Gedächtniß sehr leicht bewahrt. Ich bemerkte schon, daß die Hauyhnhnms keinen Krankheiten ausgesetzt sind, und deßhalb keine Aerzte gebrauchen. Sie haben jedoch ausgezeichnete Arzneimittel, die aus Kräutern bestehen, um zufällige Beulen und Ritzen im Fußgelenke oder in der Kehle, welche durch scharfe Steine bewirkt werden, sowie auf andere Verletzungen und Lähmungen an den verschiedenen Körpertheilen zu heilen.

Das Jahr berechnen sie nach den Umwälzungen des Mondes und der Sonne, gebrauchen jedoch keine Unterabtheilungen in Betreff der Wochen. Sie sind mit den Bewegungen dieser beiden Licht gebenden Körper genau bekannt, so wie auch mit der Ursache ihrer Verfinsterungen. Hierauf aber beschränken sich alle ihre Fortschritte in der Astronomie.

Man muß zugestehen, daß sie in der Poesie alle übrigen Sterblichen übertreffen; die Richtigkeit ihrer Gleichnisse, so wie die Genauigkeit ihrer Beschreibungen sind wirklich unübertreffbar. Ihre Verse haben an diesen beiden Eigenschaften Ueberfluß und enthalten gewöhnlich exaltirte Begriffe von Freundschaft und Wohlwollen, oder den Ruhm der Sieger beim Wettrennen oder bei andern körperlichen Uebungen. Ihre Gebäude, obgleich sehr roh und einfach, sind nicht sehr zierlich, aber sehr gut eingerichtet, um vor jeder schädlichen Einwirkung der Kälte und Hitze zu schützen. Sie besitzen einen Baum, welcher, sobald er vierzig Jahre alt ist, an der Wurzel lose wird und beim ersten Sturme niederfällt. Er wächst ganz gerade in die Höhe, wird als ein Stock mit scharfen Steinen (der Gebrauch des Eisens ist den Hauyhnhnms unbekannt,) zugespitzt; die so gebildeten Balken werden in der Entfernung von zehn Fuß nebeneinander ausgestellt, mit Haferstroh und bisweilen mit Hürden verflochten. Dach und Thür wird in derselben Art gebildet.

Die Hauyhnhnms gebrauchen den hohlen Theil ihres Vorderfußes, zwischen dem Hufe und dem Fußgelenk, in derselben Weise wie wir unsere Hände und zwar mit größerer Geschicklichkeit, als ich zuerst glauben konnte. Ich habe gesehen, wie eine weiße Stute aus unserer Familie mit diesem Gelenke eine Nadel einfädelte, die ich ihr zu dem Zwecke geliehen hatte. Auf dieselbe Weise melken sie ihre Kühe, ärnten sie ihren Hafer und verrichten jede Arbeit, welche die Hand erfordert. Sie haben ferner eine Art Feuerstein, den sie durch Schleifen an andern Steinen zu Instrumenten bilden, deren sie sich als Keile, Aexte und Hämmer bedienen. Mit Werkzeugen aus diesen Feuersteinen schneiden sie auch das Heu und den Hafer ab, welcher auf ihren Feldern wächst; alsdann ziehen Yähus die Garben auf Wägen nach Hause und die Diener treten auf dieselben in geeigneten verdeckten Hütten, bis das Korn heraus ist, welches alsdann aufbewahrt wird. Sie verfertigen ferner eine rohe Art hölzerner und irdener Gefäße und trocknen letztere an der Sonne.

Wenn die Hauyhnhnms zufällige Unglücksfälle vermeiden können, so sterben sie nur im höchsten Alter, und werden alsdann an den dunkelsten Orten, die man finden kann, begraben, wobei Freunde und Verwandte weder Kummer noch Freude zeigen.

Auch offenbart die sterbende Person nicht den geringsten Schmerz, daß sie die Welt verlassen muß, sondern äußert dieselbe Stimmung, als kehre sie von einem Besuche bei Nachbarn nach Hause zurück. Ich erinnere mich, einst hatte mein Herr mit einem Freunde und dessen Familie die Verabredung getroffen, in seinem Hause eine wichtige Angelegenheit zu besprechen. An dem festgesetzten Tage kam die Gemahlin desselben mit ihren zwei Kindern jedoch sehr spät. Sie brachte zwei Entschuldigungen vor. Der erste betraf ihren Mann, der, wie sie sagte, den Morgen gerade Llnuwnh wäre; dies Wort ist sehr ausdrucksvoll in der Sprache, und läßt sich nicht leicht in’s Englische übersetzen. Es bedeutet: »sich zu seiner ersten Mutter zurückziehn.« Die zweite Entschuldigung, weil sie nicht früher kam, betraf sie selbst. Als ihr Mann spät am Morgen gestorben sey, habe sie sich mit ihren Bedienten berathen, an welchem passenden Platze der Leichnam wohl hingelegt werden könne. Ich bemerkte, sie benahm sich in unserem Hause so heiter wie die übrigen, und starb ungefähr drei Monate nachher.

Die Hauyhnhnms leben gewöhnlich bis zum siebenzigsten oder fünfundsiebenzigsten, selten bis zum achtzigsten Jahre. Einige Wochen vor ihrem Tode fühlen sie eine allmählige Abnahme ihrer Kräfte, jedoch ohne Schmerz zu empfinden. Während dieser Zeit werden sie häufig von ihren Freunden besucht, weil sie mit der gewöhnlichen Bequemlichkeit und Zufriedenheit nicht mehr ausgehen können. Zehn Tage vor ihrem Tode, dessen Augenblick sie mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen können, erwidern sie die Besuche den nächsten Nachbarn, indem sie von Yähus in einem bequemen Sessel getragen werden. Diese Sessel gebrauchen sie nicht allein bei dieser Gelegenheit, sondern überhaupt wenn sie alt werden, oder auf großen Reisen, oder wenn sie durch Zufall gelähmt sind. Die sterbenden Hauyhnhnms, welche diesen Besuch abstatten, nehmen feierlichen Abschied von ihren Freunden, als ob sie sich in einen entfernten Theil des Landes begäben, wo sie die letzte Zeit ihres Lebens zubringen wollen.

Ich weiß nicht, ob es der Mühe werth ist, hier noch zu bemerken, daß es kein Wort in ihrer Sprache für den Begriff böse giebt, mit Ausnahme einiger Ausdrücke, welche von der Entstellung oder den schlechten Eigenschaften der Yähus hergenommen sind. So bezeichnen sie die Dummheit eines Bedienten, die Unart eines Kindes, einen Stein, der ihren Fuß ritzt, lange Dauer des schlechten Wetters und ähnliche Dinge durch die Hinzufügung des Beiwortes Yähu. Z. B. hhnm Yähu, whnaholm Yähu, ylnhmndwilma Yähu; ein schlecht gebautes Haus heißt ynholmhnmrohlnw Yähu.

Ich würde mit großem Vergnügen die Sitten und Tugenden dieses ausgezeichneten Volkes noch länger darlegen, habe jedoch die Absicht, in kurzer Zeit ein besonderes Buch über diesen Gegenstand herauszugeben und muß den Leser deßhalb hierauf verweisen. Mittlerweile will ich meine traurige Katastrophe hier erzählen.

Kapitel 10


Kapitel 10 Des Verfassers Haushalt und glückliches Leben bei den Hauyhnhmns. Seine Fortschritte in der Tugend durch den Umgang mit denselben. Ihre Unterhaltungen. Dem Verfasser wird von seinem Herrn angezeigt, er müsse das Land verlassen. Er fällt aus Gram in Ohnmacht, unterwirft sich jedoch seinem Unglück. Er erfindet und verfertigt einen Kahn mit Hülfe des

Ich hatte meinen kleinen Haushalt durchaus nach meiner Zufriedenheit eingerichtet. Mein Herr hatte befohlen, mir eine Hütte nach der Landessitte zu erbauen, welche sechs Ellen vom Hauptgebäude entfernt war. Die Seiten und den Fußboden desselben bedeckte ich mit Lehm und Binsenmatten, die ich selbst erfunden. Ich hatte Hanf, der dort wild wächst, mir zubereitet und machte daraus eine Art Zwillich; diesen füllte ich mit den Federn verschiedener Vögel, die ich in Schlingen aus Yähuhaaren einfing und die mir eine treffliche Nahrung boten. Ich hatte zwei Stühle mit meinem Messer verfertigt, wobei der fuchsbraune Klepper in dem gröberen und mühseligeren Theile der Arbeit half. Als meine Kleider zerrissen waren, machte ich mir andere aus den Häuten von Kaninchen und von gewissen schönen Thieren derselben Größe, die Nnuhnoh heißen, deren Fell mit dem zartesten Flaum bedeckt ist. Daraus machte ich mir auch erträgliche Strümpfe. Meine Schuhe besohlte ich mit Holz, das ich aus Bäumen geschnitten und zugerichtet hatte, so daß ihre Sohle an das Oberleder paßte; als auch dieses abgenutzt war, ersetzte ich es durch Fell von Yähus, das an der Sonne getrocknet war. Oft auch nahm ich Honig aus hohlen Bäumen, vermischte denselben mit Wasser, oder aß ihn zu meinem Brode. Niemand hat somit, wie ich, die Wahrheit der zwei Grundsätze erfahren: die Natur werde leicht zufriedengestellt und Nothwendigkeit sey die Mutter der Erfindung.

Ich war im Körper vollkommen gesund und meine Seele genoß der größten Heiterkeit. Ich härmte mich nicht über die Verrätherei oder Unbeständigkeit eines Freundes, noch über die Beleidigungen eines offenen oder geheimen Feindes. Ich hatte keine Gelegenheit zum Bestechen, Heucheln und Kuppeln, um mir die Gunst eines mächtigen Mannes oder seines Lieblings zu verschaffen. Ich brauchte keinen Schutz gegen Betrug oder Unterdrückung. Es gab dort weder Aerzte meinen Leib, oder Juristen mein Vermögen zu ruiniren, keine Spione, meine Worte und Handlungen zu belauschen, oder Anklagen für Geld gegen mich zu schmieden; hier gab es keine Spötter, Klatscher, Verläumder, Taschendiebe, Räuber, Sachwalter, Kuppler, Narren, Spieler, Politiker, Witzlinge, launenhafte Menschen, langweilige Schwätzer, Zänker, Nothzüchter, Mörder und Virtuosen; keine Parteihäupter und Parteigänger, keine Anreizer zum Laster durch Verführung oder Beispiel; keine Gefängnisse, Beile, Galgen, Prügelpfosten oder Schandpfähle; keine betrügerischen Wirthe oder Handwerker; keinen Stolz, keine Eitelkeit oder Affektation; keine Stutzer, Trunkenbolde und entwürdigte Frauen; keine zänkische, ungetreue und kostbare Gattinnen; keine dummen und stolzen Pedanten; keine zudringliche, herrschsüchtige, zänkische, unruhige, schreiende, dumme, launenhafte, fluchende Gesellschafter; keine Schufte, die aus dem Staube durch das Verdienst des Lasters sich erheben; keinen Adel, der unter dem Verwand der Tugenden übertragen wird; keine Lords, Fiedler, Richter und Tanzmeister.

Ich hatte die Ehre, mehreren Hauyhnhnms vorgestellt zu werden, welche meinen Herrn besuchten oder bei ihm speisten. Seine Gnaden ertheilte mir alsdann gütigst die Erlaubniß, im Zimmer zu bleiben und die Unterredung anzuhören.

Sowohl mein Herr als seine Gesellschaft hatten die Herablassung, mir Fragen vorzulegen und meine Antworten anzuhören. Bisweilen wurde mir auch erlaubt, meinen Herrn bei seinen Besuchen bei Andern zu begleiten. Ich nahm mir nie heraus, Etwas zu sagen, wenn ich nicht gefragt wurde; die Erwiderung gab ich jedoch stets mit innerlichem Kummer, weil ein Zeitverlust, in Betreff meiner Besserung, dadurch bewirkt wurde; die Stellung eines demüthigen Zuhörers gefiel mir aber außerordentlich in diesen Gesprächen, wo nur das Nützliche besprochen und in bezeichnenden und kurzen Worten ausgedrückt ward. Wie ich schon sagte, wurde der höchste Anstand dabei beobachtet, ohne daß viele Komplimente gewechselt wurden. Einem jeden Hauyhnhnm machte das Sprechen Vergnügen, und ihm wurde von der Gesellschaft mit demselben Vergnügen zugehört; Unterbrechung, Langweiligkeit, oder Verschiedenheit der Meinung fand nirgends statt. Die Hauyhnhnms hegen den Glauben, bei Unterhaltungen werde das Gespräch durch ein kurzes Stillschweigen sehr verbessert. Auch fand ich, daß dies sich wirklich so verhielt, denn während der Pause entstanden neue Ideen, welche ihre Unterhaltung belebten. Ihre gewöhnlichen Gespräche betreffen Freundschaft und Wohlwollen, Ordnung und Sparsamkeit, bisweilen auch die sichtbaren Wirkungen der Natur oder alte Traditionen, die Gränzen der Tugend, die nie fehlschlagenden Andeutungen der Vernunft, oder auch Beschlüsse, die man bei der nächsten großen Versammlung fassen soll; oft auch die verschiedenen Erhabenheiten der Poesie.

Ohne Eitelkeit darf ich behaupten, daß auch meine Gegenwart ihnen öfter Stoff zur Unterhaltung bot, weil sie meinem Herrn Gelegenheit gab, seine Freunde in meine Geschichte und in die meines Vaterlandes einzuweihen, worüber sie sämmtlich die Güte hatten, sich in keiner schmeichelhaften Weise gegen das Menschengeschlecht auszusprechen. Deßhalb will ich nicht wiederholen, was die Hauyhnhnms sagten; der Leser wird mir jedoch die Bemerkung erlauben, daß mein Herr, zu meinem Erstaunen, die Natur der Yähus weit besser kannte, wie ich selbst. Er sprach über alle unsere Laster und Thorheiten und entdeckte viele derselben, die ich nie erwähnte, und zwar ausschließlich durch die Vermuthung, welche Eigenschaften die Yähus seines Vaterlandes bei einiger Vernunft besitzen müßten. Alsdann bildete er ganz natürlich den Schluß, wie elend und erbärmlich ein solches Geschöpf seyn müsse.

Ich gestehe offen, alle geringe Kenntniß von einigem Werth, die ich besitze, ward von mir durch die Vorlesungen meines Herrn und die Unterredung zwischen ihm und seinen Freunden erworben; ich hege größeren Stolz, darauf gehört zu haben, als der weisesten und größten Gesellschaft Europa’s zu diktiren. Ich bewunderte die Kraft, Zierlichkeit und Schnelle der Einwohner, und eine solche Vereinigung von Tugenden bei so liebenswürdigen Personen, erweckte bei mir die höchste Achtung. Zuerst fühlte ich zwar nicht jene natürliche Verehrung, welche die Yähus und alle Thiere gegen die Hauyhnhnms hegen. Diese entstand jedoch allmählig und schneller als ich dachte, und war mit einer natürlichen Liebe und Dankbarkeit vermischt, daß sie mich gnädigst von den andern Thieren meiner Gattung auszeichneten.

Dachte ich an meine Familie, meine Freunde, Landsleute und an das Menschengeschlecht im Allgemeinen, so betrachtete ich sie für das, was sie wirklich waren, als Yähus in Form und Charakter, obgleich vielleicht etwas mehr civilisirt und mit der Gabe der Rede versehen, die jedoch von ihrer Vernunft keinen andern Gebrauch machten, als um jene Laster zu verbessern und zu vermehren, von denen ihre Brüder in dem Lande der Hauyhnhnms nur einen von der Natur ihnen übertragenen Theil besitzen.

Wenn ich das zurückgeworfene Bild meiner Form in einem See oder in einer Quelle sah, so wandte ich voll Schauder über mich selbst mein Gesicht ab; ich konnte sogar den Anblick eines gewöhnlichen Yähu besser ertragen, als den meiner eigenen Person. Durch Umgang mit den Hauyhnhnms und durch Bewunderung ihrer Eigenschaften konnte ich es nicht unterlassen, ihren Gang und ihre Bewegungen nachzuahmen, welches mir so zur Gewohnheit geworden ist, daß meine Freunde mir die Versicherung geben, ich trottire wie ein Pferd, und dieses halte ich in der That für ein großes Kompliment; auch will ich nicht läugnen, daß ich beim Sprechen geneigt bin, Stimme und Art der Hauynhnms anzunehmen, und daß ich ohne die geringste Kränkung Spöttereien hierüber anhören kann.

In der Mitte dieses Glücks und als ich schon wähnte, ich würde mein ganzes Leben lang im Lande bleiben können, ließ mich mein Herr einstens früher als gewöhnlich rufen. Ich bemerkte an seinem Gesicht, daß er in einiger Verlegenheit war, und nicht wußte, wie er das, was er sagen wollte, mir eröffnen könnte. Nach einem kurzen Schweigen sagte er mir: Er wisse nicht, wie ich das, was er mir zu sagen habe, aufnehmen werde. Bei der letzten allgemeinen Versammlung hätten die Repräsentanten, als die Angelegenheit der Yähus besprochen wurde, daran Antheil genommen, daß er ein Individuum dieser Gattung in seiner Familie halte, welches mehr einem Hauyhnhnm als einem unvernünftigen Thiere gleiche; daß er ferner sich häufig mit mir unterhalte, als ob er Vortheil oder Vergnügen an meiner Gesellschaft erlangen könne. Ein solches Verfahren sey mit Natur und Vernunft nicht übereinstimmend. Die Versammlung ermahne ihn deßhalb, mich entweder wie die Uebrigen meines Geschlechtes zu behandeln, oder mich zu zwingen, daß ich zu dem Orte, woher ich gekommen, wieder zurückschwimmen möge. Das erste dieser Auskunftsmittel sey jedoch sogleich von allen Hauyhnhnms, die mich je in ihrem Hause gesehen hätten, verworfen worden; sie hätten angeführt: da ich einige Elemente der Vernunft besäße, und da jene Thiere so boshaft wären, so möchte ich sie verführen in die waldigen und gebirgigen Theile des Landes zu fliehen, und sie alsdann des Nachts in Haufen herunterführen und das Vieh der Hauyhnhnms zu zerstören. Die Yähus seyen ja von Natur als Raubthiere gebildet und der Arbeit abgeneigt.

Mein Herr fügte hinzu: Er werde alle Tage von den Hauyhnhnms der Nachbarschaft dringend dazu aufgefordert, daß er den Beschluß der Versammlung ausführe, und könne dies jetzt auch nicht länger aufschieben. Er glaube wohl, daß es mir unmöglich sey, nach einem andern Lande zu schwimmen, er wünsche deßhalb, daß ich mir ein Fahrzeug verschaffe, welches demjenigen gleiche, das ich ihm bereits beschrieben, und wodurch ich auf dem Meere hergekommen sey. Bei dieser Arbeit würde mir von seinen Bedienten und von denen aller Nachbarn geholfen werden. Er fügte am Schlusse noch hinzu: Seiner Seits hätte er mich gern während meines ganzen Lebens in seinem Dienste behalten; er habe gefunden, daß ich mich von mancher schlechten Gewohnheit und Neigung dadurch geheilt habe, daß ich mich bemühte, so weit es meine untergeordnete Natur erlaube, die Hauyhnhnms in jeder Hinsicht nachzuahmen.

Ich hätte dem Leser schon bemerken müssen, daß ein Dekret der allgemeinen Versammlung in diesem Lande Hnhloayn ausgedrückt wird, welches Ermahnung bedeutet, so weit ich das Wort übersetzen kann; die Hauyhnhnms haben nämlich keinen Begriff davon, daß ein vernünftiges Geschöpf gezwungen werden müsse, anstatt sich nur rathen oder ermahnen zu lassen. Kein Geschöpf könne nämlich der Vernunft ungehorsam seyn, ohne seine Ansprüche auf dieselbe aufzugeben.

Die Rede meines Herrn erfüllte mich mit äusserstem Kummer und mit Verzweiflung, und da es mir unmöglich war, meinen Schmerz zu ertragen, fiel ich zu seinen Füßen in Ohnmacht.

Als ich meine Besinnung wieder erlangt hatte, sagte er mir, er habe geglaubt, ich sey todt. Die Hauyhnhnms sind nämlich solchen Schwächen nicht unterworfen. Ich erwiderte mit schwacher Stimme: Der Tod würde ein zu großes Glück für mich gewesen seyn. Ich könne zwar die Ermahnung der Versammlung und das dringende Verlangen seiner Freunde nicht tadeln. Ich glaube jedoch, meinem schwachen und verdorbenen Verstande gemäß, auch eine geringere Strenge sey der Vernunft nicht widerstrebend gewesen. Ich könne keine Stunde weit schwimmen und das nächste Land würde ungefähr hundert Stunden weit entfernt seyn. Eine Menge Materialien, die zur Verfertigung eines Fahrzeuges nochwendig seyen, fehlten in diesem Lande. Ich würde jedoch, aus Gehorsam und Dankbarkeit gegen Seine Gnaden, den Versuch machen, ob ich gleich die Ausführung für unmöglich hielte, so daß ich schon jetzt mich als verloren betrachte; die sichere Aussicht auf einen unnatürlichen Tod, sey das geringste meiner Nebel. Sollte ich nämlich durch irgend einen besondern Zufall dem Tode entgehen, so könne ich doch unmöglich mit Gelassenheit daran denken, mein Leben wieder bei Yähus zuzubringen und in die alte Verderbniß, aus Mangel an Beispielen, wieder zu versinken, welche mich auf die Pfade der Tugend führen und auf denselben erhalten würden. Ich wisse sehr wohl, daß die Beschlüsse der weisen Hauyhnhnms zu richtig begründet seyen, als daß ich, ein erbärmlicher Yähu, sie erschüttern könne. Ich sage ihm deßhalb meinen demüthigen Dank für die mir angebotene Hülfe seiner Diener bei Verfertigung eines Schiffes, bitte um die erforderliche Zeit für ein so schwieriges Werk und wolle mich bemühen, mein elendes Leben zu erhalten. Würde ich jemals nach England zurückkehren, so hege ich einige Hoffnung, meinem Geschlechte dadurch nützlich zu werden, indem ich den Ruhm der berühmten Hauyhnhnms feiern und ihre Tugenden dem Menschengeschlechte zur Nachahmung hinstelle.

Mein Herr gab mir in wenigen Worten eine sehr gnädige Antwort; er gestattete mir die Zeit von zwei Monaten, um mein Boot zu vollenden, und befahl dem fuchsrothen Klepper, meinem Kameraden im Dienste (so darf ich ihn jetzt, da ich so weit von ihm entfernt bin, wohl nennen), meine Anleitung zu befolgen. Ich sagte nämlich meinem Herrn, die Hülfe desselben werde genügen, und ich wußte, daß dieser mein Kamerad viele Zuneigung zu mir hegte. Mein erstes Geschäft in der Gesellschaft desselben bestand darin, daß ich zu dem Theile der Küste ging, wo meine rebellische Schiffsmannschaft mich hatte an’s Land setzen lassen. Ich bestieg eine Höhe, sah nach allen Seiten in das Meer hinein und glaubte eine kleine Insel im Nordosten zu bemerken. Alsdann nahm ich mein Taschenperspektiv zur Hand und konnte dieselbe nach meiner Berechnung in der Entfernung von fünf Stunden deutlich erkennen. Der fuchsbraune Klepper hielt die Insel aber nur für eine blaue Wolke, denn er hatte keinen Begriff, daß es noch ein Land ausser dem seinigen gebe, und konnte deßhalb entfernte Gegenstände auf der See nicht wie wir erblicken, die wir auf diesem Elemente sehr bewandert sind.

Als ich diese Insel entdeckt hatte, überlegte ich nicht weiter, sondern beschloß, dieselbe solle für’s erste mein Verbannungsort werden. Das übrige überließ ich dem Glück.

Ich kehrte nach Hause, und nachdem ich eine Berathung mit dem fuchsbraunen Klepper gehalten, gingen wir Beide in ein nicht weit von unserm Hause entferntes Gebüsch, wo ich mit meinem Messer und er mit einem scharfen Feuerstein, der nach Landessitte an einem hölzernen Griff sehr geschickt befestigt war, mehreres Eichen-Gesträuch, von der Dicke eines Spazierstocks, und einige größere Stöcke abschnitt. Ich will jedoch den Leser mit einer zu genauen Beschreibung meines Verfahrens nicht langweilen; es genüge die Bemerkung, daß ich im Verlauf von sechs Wochen mit Hülfe des fuchsrothen Kleppers, welcher die mühsamste Arbeit verrichtete, eine Art indianischen Cano’s baute; dasselbe war jedoch bei weitem größer. Ich bedeckte es mit Yähu-Häuten und heftete letztere mit Fäden aus Hanf, die ich selbst erfunden, dicht an einander. Mein Segel bestand ebenfalls aus der Haut dieses Thieres; ich gebrauchte jedoch dazu die Häute der jüngeren, denn die der älteren waren viel zu rauh und dick. Auch versah ich mich mit vier Rudern, legte in das Cano einen Vorrath gekochten Fleisches von Kaninchen und Vögeln, so wie auch zwei Gefäße, eines voll Milch und das andere voll Wasser.

Ich probirte mein Cano in einem großen Teiche bei dem Hause meines Herrn, und verbesserte dann die Mängel, die ich bemerkte, indem ich die Ritzen mit Yähu-Talg verstopfte, bis das Fahrzeug im Stande war, mich und meine Fracht zu tragen. Als es nun vollständig in jeder Hinsicht erschien, wurde es von Yähus auf einem Wagen langsam an das Ufer gezogen, wobei der fuchsbraune Klepper und noch ein anderer Bediente die Treiber waren.

Als Alles bereit und der Tag meiner Abreise angebrochen war, nahm ich von meinem Herrn, seiner Gemahlin und der ganzen Familie Abschied. Meine Augen schwammen in Thränen und mein Herz war durch Gram erdrückt. Seine Gnaden beschloß jedoch, theils aus Neugier, theils aus Gütigkeit gegen mich (wenn ich ohne Eitelkeit dies Wort gebrauchen darf), mich in meinem Cano zu sehen, und nahm mehrere seiner Freunde mit sich, welche in der Nachbarschaft wohnten. Ich mußte ungefähr eine Stunde auf die Fluth warten, und als ich dann bemerkte, daß der Wind für meine Fahrt nach der Insel günstig war, nahm ich zum zweiten Mal Abschied von meinem Herrn. Als ich mich nun niederwerfen wollte, um seinen Huf zu küssen, erwies er mir die Ehre, ihn sanft an meinen Mund zu erheben. Ich weiß sehr wohl, daß man mich wegen der Erwähnung dieses letzteren Umstandes sehr getadelt hat. Verleumder haben es für unwahrscheinlich gehalten, daß eine so erlauchte Person sich herabließ gegen ein so tief unter ihm stehendes Geschöpf. Auch habe ich nicht vergessen, wie gern einige Reisende sich außerordentlicher Gunstbezeugungen rühmen. Wären aber diese Verleumder mit dem edlen und höflichen Charakter der Hauyhnhnms besser bekannt, so würden sie bald ihre Meinung ändern.

Ich begrüßte die übrigen Hauyhnhnms in Gesellschaft Seiner Gnaden, stieg in mein Cano und stieß vom Ufer.

Der Herausgeber an den Leser


Der Herausgeber an den Leser.

Der Verfasser dieser Reisen, Lemuel Gulliver, ist mein alter und sehr vertrauter Freund; wir sind sogar von mütterlicher Seite ein wenig verwandt. Es mag etwa drei Jahre her seyn, daß Herr Gulliver, des Zusammenlaufens von Neugierigen an seinem Hause zu Redriff müde, ein kleines Landgut und ein bequemes Haus bei Newark in der Grafschaft Nottingham, der Provinz, worin er geboren war, kaufte, und jetzt lebt er hier, zwar sehr zurückgezogen, aber von allen seinen Nachbarn geachtet. Obgleich Herr Gulliver in der Grafschaft Nottinham, wo sein Vater wohnte, geboren wurde, habe ich sagen hören, seine Familie stamme aus der Grafschaft Oxford; und in der That habe ich auf dem Kirchhof von Baubury, der zu dieser Provinz gehört, mehrere Gräber und Grabmäler der Gulliver bemerkt.

Ehe er Redriff verließ, händigte er mir die folgenden Schriften ein, und bevollmächtigte mich, darüber nach Gutdünken zu verfügen. Der Styl darin ist klar und einfach; und ich finde nur einen einzigen Fehler darin, der übrigens allen Reisenden gemeinschaftlich ist, daß nämlich darin allzusehr in die Einzelnheiten eingegangen wird; aber durch das ganze Werk weht ein Geist der Wahrheit; und der Verfasser zeichnet sich wirklich so sehr durch Wahrhaftigkeit aus, daß, wenn man in der Nachbarschaft von Redriff Einem etwas recht versichern wollte, man gewöhnlich sagte: dies ist so wahr, als wenn Herr Gulliver es gesagt hätte.

Nach dem Rathe mehrerer Personen, denen ich mit der Erlaubniß des Verfassers die Papiere mitgetheilt hatte, wage ich es jetzt, sie in die Welt einzuführen in der Hoffnung, sie werden wenigstens einige Zeit lang ein angenehmerer Zeitvertreib für unsern jungen Adel seyn, als die Rapsodien der Parteischriftsteller.

Dieser Band wäre wenigstens noch einmal so dick geworden, wenn ich mir nicht erlaubt hätte, eine Menge Stellen auszumerzen, die sich auf Winde, Ebbe und Fluth bezogen, ebenso alle meteorologische Beobachtungen auf verschiedenen Reisen, und die Beschreibung der Bewegungen eines Schiffes während des Sturmes, in seemännischem Style geschrieben. Ebenso habe ich alle Höhenangaben übergangen, und ich fürchte, Herr Gulliver wird mit diesen Weglassungen nicht sehr zufrieden seyn; aber ich war entschlossen, das Werk so gut als möglich dem großen Haufen zugänglich zu machen. Wenn indeß meine Unkenntniß des Seewesens mich in einige Irrthümer fallen ließ, so würde ich allein dafür verantwortlich seyn müssen. Sollten übrigens Reisende den Originaltext in seinem Umfange und so zu sehen wünschen, wie er unter den Händen des Verfassers hervorgegangen ist, so bin ich bereit, ihnen Genüge zu leisten.

Was die näheren Lebensumstände des Verfassers betrifft, so wird sie der Leser auf den ersten Blättern des Buches finden.

Richard Sympson.

Kapitel 11


Kapitel 11 Des Verfassers gefährliche Reise. Er kommt nach Neuholland und hofft sich dort niederzulassen. Er wird von einem Eingeborenen durch einen Pfeil verwundet. Er wird gefangen genommen und mit Gewalt in ein portugisisches Schiff gebracht. Die große Höflichkeit des Kapitäns. Der Verfasser kommt in England an.

Ich begann diese zweifelte Reise am 15. Februar 1715 um 9 Uhr Morgens. Der Wind war sehr günstig. Zuerst machte ich nur von meinen Rudern Gebrauch. Da ich jedoch bedachte, daß ich bald müde seyn würde, und daß der Wind umschlagen könne, wagte ich es, mein kleines Segel aufzuziehen, und kam hierdurch und durch Hülfe der Fluth ziemlich schnell vorwärts. Mein Herr und seine Freunde blieben am Ufer, bis ich beinahe ausser ihrem Gesicht war. Auch hörte ich, wie der fuchsbraune Klepper, der mich immer liebte, mir mehrere Male zurief: Hnuy illy neihä mädschuh Yähu; das heißt: Hüte dich vor Gefahr, artiger Yähu.

Ich beabsichtigte, eine kleine unbewohnte Insel zu entdecken, welche jedoch genügen würde, bei einiger Arbeit mich mit den nothwendigen Bedürfnissen des Lebens zu versehen; dies hätte ich für ein größer Glück gehalten, als wäre ich Premierminister am ersten europäischen Hofe geworden, so furchtbar war mir der Gedanke, in die Gesellschaft und unter die Regierung von Yähus zurückzukehren. In solcher Einsamkeit, wie ich sie mir wünschte, konnte ich doch wenigstens meinen Gedanken nachhängen und mit Entzücken an die Tugenden der unnachahmbaren Hauyhnhnm’s denken, wobei mir keine Gelegenheit geboten wäre, in die Laster und Verderbnisse meines Geschlechts zu entarten.

Der Leser wird sich an meine frühere Erzählung erinnern, wie ich nach der Verschwörung meiner Schiffmannschaft und während meiner Gefangenschaft in der Kajüte mehrere Wochen lang eingesperrt blieb, ohne die Richtung, die wir eingeschlagen hatten, zu wissen, wie mir ferner die Matrosen, als ich in das lange Boot gebracht wurde, mit wahren oder falschen Eiden die Versicherung gaben, sie wüßten nicht, in welchem Theile der Welt wir wären. Ich glaubte jedoch damals, wir befänden uns zehn Grade südlich vom Kap der guten Hoffnung ungefähr im 45sten Grade südlicher Breite. Dies konnte ich aus einigen Worten, die ich zufällig hörte, schließen, und die mir, wie ich glaubte, andeuteten, daß sie südöstlich nach Madagaskar steuerten. Obgleich diese Worte mir nur eine Vermuthung an die Hand gaben, so beschloß ich doch, östlich zu steuern: denn ich hoffte, die südwestliche Küste von Neuholland, oder vielleicht eine westwärts von diesem Lande gelegene Insel zu erreichen. Der Wind blies aus Westen, und um 6 Uhr Abends war ich wenigstens 18 Seemeilen nach Osten gefahren, als ich eine kleine, ungefähr eine Seemeile weit entfernte Insel entdeckte, die ich dann auch bald erreichte. Sie bestand nur aus einem Felsen, mit einem durch die Gewalt der Stürme natürlich gebildeten Damm. Hier brachte ich mein Cano in Sicherheit, bestieg einen Theil des Felsens und konnte deutlich in Osten Land entdecken, welches sich von Süden nach Norden hin ausdehnte. Die ganze Nacht blieb ich in meinem Cano liegen; alsdann setzte ich meine Reise am Morgen weiter fort, und erreichte nach sieben Stunden die südöstliche Spitze von Neuholland. Alles bestätigte die schon früher von mir gehegte Meinung, daß die geographischen Karten dies Land wenigstens um drei Grade zu weit nach Osten setzen. Vor mehreren Jahren machte ich hierüber meinem würdigen Freunde, Hermann Moll, eine Mittheilung, und sagte ihm die Gründe, weßhalb ich meinen Gedanken für wahr halte. Er hat es jedoch vorgezogen, die Angaben anderer Schriftsteller zu befolgen.

Ich sah keine Einwohner an der Stelle, wo ich landete. Da ich unbewaffnet war, wagte ich es nicht, zu tief in das Land hinein zu gehen. An der Küste fand ich einige Schaalthiere, die ich roh aß; denn ich wollte kein Feuer anzünden, aus Furcht von den Eingebornen entdeckt zu, werden. So lebte ich drei Tage lang von Austern und Napfschnecken, um meine Lebensmittel zu sparen. Glücklicher Weise entdeckte ich auch eine Quelle ausgezeichneten Wassers, welches mir große Erleichterung gewährte.

Als ich mich am vierten Tage früh Morgens ein wenig zu weit in das Innere hineinwagte, erblickte ich ungefähr zwanzig bis dreißig Einwohner auf einer an fünfhundert Ellen von mir entfernten Höhe. Sie waren nackt, und saßen sämmtlich, Männer, Weiber und Kinder an einem Feuer, das ich durch den Rauch erkennen konnte. Einer dieser Wilden bemerkte mich und setzte die Andern davon in Kenntniß, worauf fünf Mann auf mich zugingen und die Weiber und Kinder beim Feuer ließen. Ich lief so schnell wie möglich zum Ufer zurück, bestieg mein Cano und stieß vom Lande. Als die Wilden mich fliehen sahen, liefen sie hinter mir her, und bevor ich weit genug in die See gekommen war, schoß Einer derselben einen Pfeil gegen mich ab, der mich tief am linken Kniegelenk verwundete; ich werde die Narbe mit in’s Grab nehmen. Da ich besorgte, der Pfeil könne vergiftet seyn, bemühte ich mich, als ich aus dem Bereich der Wilden mich fortgerudert hatte (an diesem Tage herrschte Windstille), die Wunde auszusaugen und sie dann so gut wie möglich zu verbinden.

Ich wußte nicht, was ich thun sollte, denn ich wagte nicht, an demselben Landungsplatz zurückzukehren. Somit steuerte ich nordwärts. Es erhob sich ein sanfter Wind, der aber nordwestlich meiner Richtung entgegengesetzt war; ich wurde dadurch zum Rudern genöthigt. Als ich mich nun nach einem andern sichern Landungsplatz umsah, bemerkte ich in Nord-Nord-Ost ein Segel, welches mit jeder Minute sichtbarer wurde. Ich bedachte mich lange, ob ich dasselbe erwarten sollte oder nicht; zuletzt aber erhielt mein Abscheu gegen das Yähu-Geschlecht die Oberhand, ich wendete mein Cano, segelte und ruderte südwärts, bis ich denselben Damm erreichte, von wo ich am Morgen ausgefahren war; denn ich zog es vor, lieber bei diesen Barbaren, als bei den europäischen Yähus zu wohnen. Ich zog mein Cano so nahe wie möglich an das Land, und Versteckte mich hinter einem Steine bei dem kleinen Bache, der, wie schon gesagt, ein ausgezeichnetes Wasser enthielt.

Das Schiff kam bis auf eine halbe Meile an diesen Damm, und sandte sein großes Boot aus mit Gefäßen, um frisches Wasser einzunehmen (wie es scheint, war der Ort Seefahrern schon genug bekannt). Ich bemerkte dies nicht eher, als bis das Boot beinahe das Ufer erreicht hatte, demnach war es mir unmöglich einen andern Ort, wo ich mich verbergen konnte, aufzusuchen. Die Matrosen besahen mein Cano bei ihrer Landung, durchsuchten es an jedem Punkte, und schlossen daraus, der Eigenthümer müsse in der Nähe seyn. Vier derselben blickten in jede Ritze und in jedes Loch, bis sie mich am Ende auffanden. Ich lag flach auf meinem Gesichte; einige Zeit lang betrachteten sie mit Staunen meine sonderbare und auffallende Kleidung, meinen Rock aus Häuten, meine Schuhe mit hölzernen Sohlen und meine Strümpfe aus Pelzwerk. Daraus schlosen sie jedoch, ich könne kein Eingeborner seyn, da diese mit Kleidung gänzlich unbekannt sind. Ein Matrose befahl mir endlich in portugiesischer Sprache aufzustehen und zu sagen, wer ich sey. Ich verstand das Portugiesische, stand auf und sagte: Ich sey ein armer von den Hauyhnhnms verbannter Yähu und bitte nur, daß man mich abreisen lasse. Siewunderten sich, daß ich in ihrer eigenen Sprache Antwort gab, und sahen an meiner Gesichtsfarbe, ich müsse ein Europäer seyn; sie konnten jedoch nicht begreifen, was ich mit Jähus und Hauyhnhnms meinte, und brachen zugleich über meine sonderbare Redeweise, welche dem Wiehern eines Pferdes glich, in ein lautes Gelächter aus. Furcht und Haß erweckten bei mir ein heftiges Zittern. Ich bat sie auf’s Neue, mich abreisen zu lassen, und näherte mich langsam meinem Cano. Die Matrosen packten mich jedoch an der Brust und fragten mich, von welchem Lande und woher ich gekommen sey; außerdem wurden mir noch manche andere Fragen vorgelegt. Ich erwiderte: In England sey ich geboren und habe mein Vaterland vor ungefähr fünf Jahren verlassen; damals habe Frieden zwischen England und Portugal stattgefunden; ich hoffe deßhalb, daß man mich nicht als Feind behandeln werde, ich beabsichtige durchaus nicht, ihnen irgend einen Schaden zuzufügen, ich sey nur ein armer Yähu, welcher irgend einen einsamen Ort sich aufsuche, um seine übrigen unglücklichen Lebenstage dort zuzubringen.

Als jene Seeleute miteinander sprachen, glaubte ich nie etwas Unnatürlicheres gehört zu haben; es kam mir vor, als wollte ein Hund oder eine Kuh in England und ein Yähu in Hauyhnhnmland sprechen. Die ehrlichen Portugiesen erstaunten gleicher Weise über meine sonderbare Kleidung und die Aussprache meiner Worte, die sie jedoch sehr gut verstanden. Sie erwiesen mir in ihren Reden sehr viel Menschlichkeit und sagten: der Kapitän werde mich gewiß umsonst nach Lissabon bringen, von wo ich in mein Vaterland zurückkehren könne. Zwei Matrosen würden zum Schiffe zurückkehren, den Kapitain von dem, was sie gesehen hatten, benachrichtigen und sich seine Befehle holen. Mittlerweile würden sie mich mit Gewalt in Sicherheit bringen, wenn ich nicht einen feierlichen Eid, nie zu fliehen, leistete. Sie waren sehr neugierig, meine Geschichte zu erfahren; ich gab ihnen aber nur wenig Befriedigung und sie glaubten, mein Unglück habe mir das Gehirn verwirrt. Nach zwei Stunden kehrte das Boot mit Wassergefäßen beladen und mit dem Befehl des Kapitän’s, mich an Bord zu bringen, wieder zurück. Ich flehete auf den Knien mir die Freiheit zu lassen, allein Alles war vergeblich. Die Männer banden mich mit Stricken und hoben mich in das Boot, von wo ich in das Schiff und dann in die Kajüte des Kapitän’s gebracht wurde.

Er hieß Pedro de Mendez und war ein artiger und großmüthiger Mann. Er bat mich, ihm einen Bericht über mich zu geben, und wünschte zu wissen, was ich essen und trinken wolle; ich solle, eben so gut bewirthet werden, wie er selbst lebe. Zugleich sagte er mir so viele verbindliche Sachen, daß ich mich wunderte, so viel Höflichkeit bei einem Yähu zu finden. Ich blieb jedoch still und mürrisch; der Geruch von ihm und seinen Leuten brachte mich einer Ohnmacht nahe. Zuletzt bat ich, man möge mir etwas aus meinem Cano zu essen bringen; der Kapitän aber ließ für mich ein Huhn und eine Flasche ausgezeichneten Wein kommen und befahl alsdann, mich in einer sehr reinlichen Kajüte zu Bett zu bringen. Ich wollte mich nicht auskleiden, sondern legte mich, wie ich war, auf das Bett; nach einer halben Stunde, als ich glaubte, die Mannschaft halte ihr Mittagsmahl stahl ich mich aus meiner Kajüte, ging auf die Schiffsseite, um in’s Meer zu springen und lieber schwimmend mich zu retten, als bei den Yähu’s in Zukunft noch zu leben. Ein Matrose verhinderte mich jedoch an der Ausführung meines Vorsatzes und stattete dem Kapitän hierüber Bericht ab; darauf wurde ich gefesselt in meine Kajüte gebracht.

Nach dem Mittagessen kam Don Pedro zu mir und bat mich, ich möge ihm den Grund jener so verzweifelten Handlung sagen. Er gab mir die Versicherung, daß er mir alle ihm möglichen Dienste erweisen wolle, und sprach dabei so rührend, daß ich mich zuletzt herabließ, ihn als ein Thier zu behandeln, welches einen kleinen Theil von Vernunft besitze. Ich gab ihm einen kurzen Bericht von meiner Reise, von der Verschwörung meiner Leute, von dem Lande wo sie mich aussetzten und von meinem dortigen fünfjährigen Aufenthalte. Der Kapitän betrachtete dies Alles wie ein Traum oder wie ein Hirngespinst, so daß ich außerordentlich zornig ward, denn ich hatte die Eigenschaft des Lügens, welche allen Jähus, wo sie auch wohnen mögen, so eigenthümlich ist, durchaus vergessen, und dachte auch deßhalb nicht an ihre Neigung hinsichtlich der Wahrheit gegen Andere ihrer eigenen Gattung Verdacht zu hegen. Ich fragte ihn deßhalb, ob es in seinem Vaterlande Gebrauch sey, das Ding zu sagen, welches nicht existire, und gab ihm die Versicherung, ich habe beinahe die Bedeutung des Wortes Falschheit vergessen, und hätte ich tausend Jahre im Hauyhnhnmslande gelebt, so würde ich doch nie eine Lüge von dem geringsten Diener gehört haben. Es sey mir gleichgültig, ob er mir glaube oder nicht; als Dank für seine mir erwiesenen Gefälligkeiten wolle ich der Verderbniß seiner Natur so viel zugestehen, daß ich jeden Einwurf, den er mir mache, beantworten werde, so daß er die Wahrheit leicht entdecken könne.

Der Kapitän, ein verständiger Mann, bemühete sich mehrere Male, mich auf Widersprüchen zu ertappen, und hegte zuletzt eine bessere Meinung von meiner Wahrhaftigkeit; er fügte jedoch hinzu: da ich eine so unverletzliche Anhänglichkeit an der Wahrheit besitze, so müsse ich ihm mein Ehrenwort geben, ihm auf dieser Reise Gesellschaft zu leisten, ohne irgend einen Versuch gegen mein Leben zu machen, sonst werde er mich gefangen halten, bis wir nach Lissabon kämen. Ich gab ihm das verlangte Versprechen, zugleich aber auch die Versicherung, ich wolle lieber die größten Leiden ertragen, als daß ich unter die Yähus wieder zurückkehre.

Unsere Reise verging ohne bemerkenswerthen Vorfall. Aus Dankbarkeit zu dem Kapitän setzte ich mich bisweilen auf seine ernstlichen Bitten mit ihm zu Tisch, und suchte dann meine Abneigung gegen das Menschengeschlecht zu verbergen, obgleich derselbe sich mehrere Male Luft machte; dies schien der Kapitän jedoch nicht zu bemerken. Den größten Theil des Tages verschloß ich mich jedoch in meine Kajüte und vermied es, irgend Jemand aus dem Schiffsvolke zu erblicken. Der Kapitän bat mich öfter, meine Kleidung eines Wilden abzulegen, und wollte mir seinen besten Anzug leihen. Ich ließ mich jedoch nicht bewegen, irgend ein Gewand anzulegen, welches auf dem Rücken eines Yähu geruhet hatte. Ich bat ihn, mir nur zwei reine Hemde zu leihen, welche, wie ich glaubte, mich nicht sehr beschmutzen könnten, da dieselben seitdem er sie getragen, gewaschen waren. Diese wechselte ich immer am zweiten Tage und pflegte sie auch selbst zu waschen.

Am 5. November 1715 landeten wir in Lissabon. Der Kapitän lieh mir, als ich ausstieg, seinen Mantel, damit sich der Pöbel nicht um mich versammele. Er brachte mich in sein eigenes Haus, und gab mir auf meine Bitte, das höchste Zimmer im obersten Stockwerk an der Hinterseite des Gebäudes. Ich beschwor ihn, gegen alle Leute zu verheimlichen, was ich ihm über die Hauyhnhnms erzählt hatte, weil der geringste Wink über diese Geschichte nicht allein eine Masse Personen herbeiführen würde, die mich sehen wollten, sondern weil ich auch dadurch wahrscheinlich in Gefahr gerathen müßte,verhaftet und von der Inquisition verbrannt zu werden. Der Kapitän überredete mich, einen neuen Anzug anzulegen, ich wollte jedoch dem Schneider nicht erlauben, mir das Maaß zu nehmen. Da jedoch Don Pedro beinah von demselben Körperbau war, so paßten mir die Kleider. Er versah mich auch mit anderen Bedürfnissen, die ich vierundzwanzig Stunden lüftete, ehe ich sie gebrauchen konnte.

Der Kapitän hatte keine Frau und nicht mehr als drei Bedienten, von denen keiner bei Tische aufwarten durfte; sein ganzes Benehmen war auch so artig und sein Verstand so ausgezeichnet, daß ich wirklich anfing, seine Gesellschaft erträglich zu finden. Er überredete mich, aus dem Hinterfenster zu sehen. Allmählich ward ich auch in andere Zimmer gebracht, von wo ich auf die Straße blickte; sogleich aber fuhr ich erschrocken wieder zurück.

Nach einer Woche verführte mich der Kapitän an die Thür zu gehen; ich fand, daß mein Schauder sich allmählich verminderte, Haß und Verachtung schienen sich jedoch zu vermehren. Zuletzt war ich so kühn, in seiner Gesellschaft durch die Straßen zu gehen, verstopfte mir aber die Nase gehörig mit Raute und bisweilen mit Taback.

Nach zehn Tagen legte mir Don Pedro, dem ich einige Nachricht von meinen häuslichen Angelegenheiten gegeben hatte, es als eine Pflicht an’s Herz, ich müsse in mein Vaterland zurückkehren und bei Frau und Kindern leben. Er sagte mir, ein englisches Schiff liege gerade im Hafen bereit und er werde mich mit allem Nothwendigen versehen. Es würde langweilig seyn, die Gründe, welche er anführte und meine Widersprüche hier zu wiederholen. Er sagte, es sey rein unmöglich, eine so einsame Insel, wie ich sie mir als Wohnort wünsche, aufzufinden. Ich möge jedoch über mein eigenes Haus verfügen und meine Zeit in so abgeschlossener Weise, wie ich es wünsche, zubringen.

Zuletzt gab ich nach, da ich nicht anders konnte. Ich verließ Lissabon am 24. November in einem englischen Kauffahrteischiff. Wer der Kapitän war, wollte ich nicht nachfragen. Don Pedrobegleitete mich an Bord, und lieh mir zwanzig Pfund. Er nahm von mir höflichen Abschied, und umarmte mich bei der Trennung, was ich so gut wie möglich ertragen mußte. Während dieser letzten Reise gab ich mich weder mit dem Kapitän noch mit einem seiner Leute ab, sondern ich verschloß mich in meine Kajüte, indem ich Krankheit als Vorwand brauchte. Am 5. December 1715, neun Uhr Morgens, warfen wir in den Dünen Anker und um drei Uhr Nachmittags kam ich wohlbehalten nach meinem Hause in Redriff.

Meine Frau und meine Kinder empfingen mich mit großer Ueberraschung und Freude, weil sie mich für todt gehalten hatten; ich muß jedoch offen gestehen, ihr Anblick erfüllte mich nur mit Haß, Ekel und Verachtung und zwar um so mehr, da ich an die nahe Verbindung mit ihnen dachte. Ob ich mich gleich seit meiner unglücklichen Verbannung aus Hauyhnhnmland bereits daran gewöhnt hatte, den Anblick der Yähus zu ertragen, und mich mit Don Pedro de Mendez zu unterhalten, so war dennoch meine Einbildungskraft wie mein Gedächtniß fortwährend mit den Tugenden und Ideen der erhabenen Hauyhnhnms angefüllt. Wenn ich nun ferner bedachte, daß ich durch die Verbindung mit einer weiblichen Yähu der Vater mehrerer Yähus geworden sey, so empfand ich die äußerste Schaam und Geistesverwirrung so wie auch den heftigsten Abscheu.

Sobald ich in mein Haus getreten war, umarmte mich meine Frau und gab mir einen Kuß; da ich nun an die Umarmungen eines so verhaßten Thieres schon lange nicht mehr gewohnt war, fiel ich in eine Ohnmacht, welche beinahe eine Stunde dauerte. Seit meiner Rückkehr nach England sind jetzt bereits fünf Jahre verflossen; im ersten Jahre konnte ich die Gegenwart meiner Frau und meiner Kinder nicht ertragen; ihr Geruch war mir sogar unausstehlich; noch weniger konnte ich es leiden, daß sie mit mir in demselben Zimmer aßen. Bis auf diesen Augenblick dürfen sie nicht wagen, mein Brod zu brechen, oder mit mir aus demselben Becher zu trinken; auch konnte ich es nicht erlauben, daß irgend eine Person meiner Familie, mir die Hand berührte. Das erste Geld, das ich besaß, verwandte ich auf den Ankauf zweier junger Hengste, die ich mir in einem guten Stalle halte; sie sind meine besten Freunde zugleich mit dem Stallknecht denn meine gute Laune wird durch den Geruch, der im Stalle herrscht, wieder hergestellt. Meine Pferde verstehen mich ziemlich gut; ich unterhalte mich mit ihnen jeden Tag, und zwar gewöhnlich vier Stunden lang. Sie sind unbekannt mit Zaum und Sattel und leben in großer Freundschaft mit mir so wie untereinander.

Kapitel 12


Kapitel 12 Des Verfassers Wahrhaftigkeit. Sein Zweck bei der Herausgabe dieses Werkes. Sein Tadel über Reisende welche von der Wahrheit abweichen. Der Verfasser rechtfertigt sich gegen den Vorwurf böslicher Absicht. Widerlegung eines Einwurfes. Die Methode des Anbaues neuer Colonien. Lob seines Vaterlandes. Das Recht der Krone auf die vom Verfasser beschriebe

Also, lieber Leser, habe ich dir eine getreue Geschichte meiner Reisen gegeben, welche 16 Jahre und über 7 Monate dauerten. In der Beschreibung habe ich weniger den Schmuck der Rede als die Wahrheit in Obacht genommen. Ich hätte vielleicht wie Andere, mit sonderbaren und unwahrscheinlichen Geschichten das Erstaunen erregen können; allein ich habe vorgezogen, nur die Thatsachen und zwar in gerader Art und im einfachsten Style darzustellen. Mein Hauptzweck war nämlich, dich zu belehren, aber durchaus nicht dich zu unterhalten.

Für uns, die wir entfernte Länder bereisen, welche von Engländern und andern Europäern selten besucht werden, ist es sehr leicht, wunderbare Land- und See-Thiere zu beschreiben. Dagegen sollte es der Hauptzweck der Reisenden seyn, durch ihre Berichte von fremden Orten die Menschen besser und klüger zu machen, ihre Seelen durch schlechtes und gutes Beispiel zu vervollkommnen.

Ich wünschte sehr, das Parlament möge ein Gesetz erlassen, wonach jeder Reisende, bevor er seine Berichte herausgibt, dem Lord-Kanzler einen feierlichen Eid schwören müßte, er wolle nur dasjenige drucken lassen, was seinem besten Wissen gemäß vollkommen wahr sey. Alsdann würde die Welt der gegenwärtig gewöhnlichen Täuschung nicht länger ausgesetzt seyn, weil mehrere Schriftsteller, damit ihre Bücher im Publikum desto mehr gelesen werden, den arglosen Leser mit den gröbsten Verfälschungen betrügen. Ich habe in meiner Jugend mehrere Reisebeschreibungen mit dem höchsten Entzücken durchgelesen. Da ich aber seitdem den größten Theil des Erdkreises bereist habe, und somit in Stand gesetzt war, manchen fabelhaften Berichten nach näherer Beobachtung zu widersprechen, so habe ich einen heftigen Abscheu gegen diese Lectüre erlangt, und ich ärgerte mich häufig, wenn ich die Leichtgläubigkeit des Menschengeschlechts so sehr mißbraucht sah; da nun meine Bekannten die Güte hatten, ihre Meinung, dahin auszusprechen, meine unbedeutenden Bemühungen, um meine Landsleute zu belehren, würden von denselben nicht übel aufgenommen werden, so stellte ich als meinen hauptsächlichsten Grundsatz auf, nie von der Wahrheit abzuweichen und mich mit aller Strenge daran zu halten. Auch kann sich mir die geringste Versuchung zum Lügen durchaus nicht darbieten, so lange ich die Lehren und das Beispiel meines edlen Herrn und der erlauchten Hauyhnhnms vor Augen habe, deren Schüler zu seyn, ich so lang die Ehre hatte.

Nec si miserum fortuna Sinonem
Finxit, vanum etiam mendacemque improba finget.

Ich weiß sehr wohl, daß nur wenig Ruhm durch Schriften erlangt wird, welche weder Genie noch Gelehrsamkeit und überhaupt kein Talent, sondern nur ein gutes Gedächtnis und ein genaues Tagebuch erfordern. Ich weiß ferner, daß Reisebeschreiber, wie die Verfasser von Wörterbüchern durch das Gewühl und die Masse derer in Vergessenheit gerathen, welche zuletzt kommen, und deßhalb oben schwimmen. Auch ist wahrscheinlich, daß Reisende, welche später die von mir beschriebenen Länder besuchen, Irrthümer entdecken werden, wenn dieselben wirklich vorhanden sind, daß sie neue Entdeckungen hinzufügen und mich so außer Vogue bringen, so daß sie meine Stelle einnehmen, worauf dann die Welt vergessen wird, daß ich jemals ein Schriftsteller gewesen bin. Dies würde mir wirklich eine große Kränkung bereiten, wenn ich des Ruhmes wegen dies Buch verfaßt hätte; da ich jedoch ausschließlich das Wohl meines Vaterlandes im Auge hatte, so kann ich mich in meiner Erwartung unmöglich trügen. Wer wird meine Berichte der ruhmwürdigen Hauyhnhnms lesen können, ohne sich seiner eigenen Laster zu schämen, ob er sich gleich als das vernünftige und herrschende Thier seines Vaterlandes betrachtet? Ich will von den entfernten Nationen, wo Yähus die Regierung führen, nichts weiter sagen; von diesen sind aber die Brobdignagier gewiß am Wenigsten verdorben. Es würde zu unserem Glück gereichen, wenn wir die weisen Grundsätze derselben in Moral und Regierung beobachteten. Ich vermeide es jedoch, noch weiter zu sprechen, und überlasse dem verständigen Leser seine eigenen Bemerkungen, und der Anwendung der von mir gegebenen Beispiele.

Es ist mir sehr angenehm, daß dies Werk wahrscheinlich keine Tadler finden wird. Welche Vorwürfe können einem Schriftsteller gemacht werden, welcher nur einfache Thatsachen erzählt, die sich in den entferntesten Ländern zutrugen, die uns nicht das geringste Interesse durch Handel oder durch diplomatische Verhandlungen darbieten. Ich habe jeden Fehler sorgfältig vermieden, den man Reisebeschreibern zu oft und mit zu viel Recht zum Vorwurf macht. Außerdem lasse ich mich durchaus in keine Parteistreitigkeiten ein, und zeige weder Vorurtheil noch Böswilligkeit gegen irgend einen Menschen, oder gegen irgend eine Klasse von Menschen. Ich schreibe mit dem edlen Zwecke, das Menschengeschlecht zu belehren und zu unterrichten. Auch kann ich, ohne die Regel der Bescheidenheit zu verletzen, mit aller Dreistigkeit behaupten, daß ich demselben überlegen bin, denn ich habe mancherlei Vorzüge durch meinen längeren Verkehr mit den ausgezeichneten Hauyhnhnms erlangt. Ich schreibe, ohne Absicht auf Ruhm oder Nutzen zu hegen. Ich habe es mir nie erlaubt, ein Wort niederzuschreiben, welches als Tadel gelten oder durch Beleidigung verletzen könnte, sogar die empfindlichsten Leute werden dergleichen nicht vorfinden. Somit habe ich vollkommenes Recht, mich als durchaus tadellosen Schriftsteller hinzustellen, und die Zünfte der Erwiderer, Bemerker, Recensenten, Spione und Entdecker werden niemals Gelegenheit finden, ihre Talente bei mir auszuüben.

Ich muß jedoch gestehen, daß mir folgender Wink gegeben wurde: Als Unterthan von England sey ich verpflichtet gewesen, nach meiner ersten Rückkehr einem Staatssecretär irgend ein Memoir zu überreichen; jedes von einem Unterthan neu entdeckte Land gehöre der Krone. Ich bezweifle jedoch, daß Eroberungen, in den von mir entdeckten Ländern, so leicht seyn würden, als die des Fernando Cortez über nackte Amerikaner. Die Lilliputer sind, wie ich glaube, durchaus nicht die Kosten werth, welche eine Flotte und Armee zu ihrer Eroberung erfordern würde; es ist ferner eine große Frage, ob ein Angriff auf die Brobdignagier verständig und ausführbar wäre. Ein englisches Heer oder eine Flotte würde auch in eine schlimme Lage gerathen, wenn die fliegende Insel über ihren Häuptern schwebte. Die Hauyhnhnms sind zwar zum Kriege jetzt nicht vorbereitet, in der Kunst desselben sind sie vollkommen unerfahren und haben auch keine Wurfgeschütze. Jedoch angenommen, ich sey Staatsminister, so würde ich abrathen, einen Angriff gegen sie auszuführen. Ihre Klugheit, Einstimmigkeit und Unbekanntschaft mit Furcht, so wie ihre Vaterlandsliebe würde allen Mangel an Kriegskunst leicht ersetzen. Man denke sich 20+000 Hauyhnhnms, welche in die Mitte einer europäischen Schlachtlinie brechen, die Reihen verwirren, die Wagen umstürzen und die Gesichter der Soldaten durch furchtbare Hiebe ihrer Hinterhufe zu Mumien zerschlügen: sie würden sicher den Charakter verdienen, den man August ertheilte: Realcitrat undique tutus. Anstatt einer Eroberung dieser großmüthigen Nation vorzuschlagen, wünsche ich vielmehr, sie wären fähig oder geneigt, eine genügende Anzahl Einwohner abzusenden, um auch Europa zu civilisiren, und uns die ersten Grundsätze der Ehre, Wahrheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Vaterlandsliebe, Tapferkeit, Keuschheit, Freundschaft, des Wohlwollens und der Treue zu lehren. Die Namen aller dieser Tugenden befinden sich zwar noch in jeder Sprache und kommen in älteren, so wie neueren Schriftstellern häufig genug vor, eine Behauptung, die ich ungeachtet meiner geringen Belesenheit wagen darf.

Außerdem war ich noch aus einem anderen Grunde nicht sehr geneigt, die Besitzungen Seiner Majestät durch meine Entdeckungen zu vergrößern. Um die Wahrheit zu gestehen, so fühlte ich einige Gewissensbisse in Betreff der Gerechtigkeit womit Fürsten bei dieser Gelegenheit verfahren. Zum Beispiel: eine Piraten-Mannschaft wird durch Sturm in eine unbekannte Gegend verschlagen; zuletzt entdeckt ein Matrose Land von dem Hauptmast aus; die Piraten ziehen an den Strand um zu rauben und zu plündern, sie sehen ein harmloses Volk und werden mit Güte bewirthet. Alsdann geben sie dem Lande einen neuen Namen, nehmen davon förmlichen Besitz für ihren König, stellen ein verfaultes Brett oder einen Stein als Denkzeichen auf; ermorden zwei, drei Dutzend Einwohner, nehmen ein paar Andere als Muster durch Gewalt mit sich fort, kehren nach Haus zurück und erhalten ihre Verzeihung. Hier nun beginnt eine neue Herrschaft, welche unter dem Besitztitel des göttlichen Rechts erworben ist. Mit der ersten Gelegenheit werden Schiffe dorthin gesandt, die Eingeborenen vertrieben oder vernichtet, ihre Fürsten gefoltert, um ihr Geld zu entdecken; es wird eine vollkommene Straflosigkeit für alle Handlungen der Unmenschlichkeit und Begierde ausgesprochen, so daß die Erde von dem Blute der Eingebornen dampft und diese verabscheuungswürdige Mannschaft von Schlächtern, welche zu einer so frommen Expedition gebraucht ist, bildet eine moderne, zur Bekehrung und Civilisirung eines barbarischen und abgöttischen Volkes bestimmte Colonie.

Diese Beschreibung hat jedoch, wie ich gestehen muß, durchaus keine Beziehung auf die brittische Nation, welche wegen ihrer Weisheit, Sorgfalt und Gerechtigkeit in Anlegung der Colonien der ganzen Welt zum Muster dienen kann, welche durch freigebige Schenkungen zur Verbreitung der Religion und Wissenschaft, durch die Wahl frommer geschickter Hirten zur Ausbreitung des Christenthums, durch Vorsicht ihre entlegenen Provinzen mit nüchternen und verständigen Leuten aus dem Mutterlande zu bevölkern, durch genaue Vertheilung der Gerechtigkeit, durch Ernennung von fähigen, der Bestechung unzugänglichen Mitbeamten, und endlich durch die Absendung von wachsamen und tugendhaften Gouverneuren sich im höchsten Grade auszeichnet, wovon Letztere keine andre Zwecke verfolgen, als das Glück des Volkes, das sie regieren, und die Ehre ihres Königs zu befördern.

Da jedoch die Länder, welche ich beschrieben habe, durchaus nicht wünschen, erobert und unterworfen, oder durch Kolonisten ermordet und vertrieben zu werden; da sie auch keinen Ueberfluß an Gold, Silber, Zucker und Taback besitzen, so hegte ich auch die demüthige Meinung, sie seyen kein passender Gegenstand für unsern Eifer, unsere Tapferkeit oder unser Interesse. Wenn jedoch diejenigen, deren Geschäft es ist, sich mehr um diese Sache zu bekümmern, anderer Meinung zufällig seyn sollten, so bin ich bereit, sobald ich gesetzlich aufgefordert werde, mein Zeugniß abzulegen, daß kein Europäervor mir diese Länder besucht hat. Hierunter verstehe ich jedoch nur, in so weit man den Einwohnern Glauben beimessen darf, im Fall kein Streit über die beiden Jähus entstehen sollte, die man vor vielen Jahren auf einem Berge in Hauyhnhnmland gesehen haben will.

Die Förmlichkeit jedoch, im Namen meines Fürsten von dem Lande Besitz zu nehmen, ist mir niemals eingefallen. Wäre dies aber auch wirklich der Fall gewesen, so hätte ich, in Betracht des damaligen Standes meiner Angelegenheiten, wahrscheinlich aus Klugheit und Selbsterhaltung, die Sache auf eine gelegenere Zeit verschoben.

Nachdem ich so den einzigen Tadel, der gegen mich als Reisenden erhoben werden kann, entfernt habe, nehme ich hier zuletzt noch Abschied von allen meinen höflichen Lesern, und kehre zu meinen Spekulationen in meinem kleinen Garten bei Redriff zurück. Ich werde jetzt die ausgezeichnetsten Tugendlehren, die ich bei den Hauyhnhnms erlernte, anwenden, und die Yähus meiner eigenen Familie, soweit solche Thiere dieselbe begreifen können, darin unterrichten, und so mich allmählich daran gewöhnen, den Anblick menschlicher Geschöpfe zu ertragen; ich werde die viehische Natur der Hauyhnhnms in meinem Vaterlande stets beklagen, allein aus Rücksicht für meinen edlen Herrn, seine Familie, seine Freunde und das ganze Hauyhnhnm-Geschlecht, ihre Personen stets mit großer Rücksicht behandeln, denn sie gleichen denselben in allen ihren Zügen, wie sehr auch ihr Verstand entartet ist.

Vergangene Woche erlaubte ich meiner Frau mit mir zu essen; sie mußte jedoch an dem entferntesten Ende eines langen Tisches sitzen, und die ihr vorgelegten Fragen mit aller Kürze beantworten. Da mir jedoch der Geruch eines Yähu noch immer anstößig ist, verstopfe ich mir die Nase mit Raute, Lavendel und Taback. Ob es gleich einem Manne in vorgerückten Jahren sehr schwer ankommen muß, alte Gewohnheiten zu entfernen, so hege ich doch noch die Hoffnung, daß ich bald meinen Nachbar-Yähu in meiner Gesellschaft werde dulden können, ohne wie es jetzt noch der Fall ist, mich vor seinen Zähnen und Klauen fürchten zu müssen.

Meine Wiederaussöhnung mit der Yähu-Kaste im allgemeinen, würde nicht so schwierig seyn, wenn sie nur mit den Lastern und Thorheiten zufrieden seyn wollten, wozu sie die Natur berechtigt hat. Ich ärgere mich nicht im geringsten über den Anblick eines ersten Taschendiebes, Obersten, Narren, Lords, Spielers, Politikers, Kupplers, falschen Zeugen, Verführers zum falschen Zeugniß, eines Sachwalters, Verräthers u.s.w. Alle diese Erscheinungen sind dem natürlichen Laufe der Dinge gemäß. Sehe ich aber eine Masse von Häßlichkeit und Krankheit sowohl des Körpers als der Seele, von Stolz sich blähen, so ist sogleich meine Geduld zu Ende. Auch kann ich nicht begreifen, wie solch ein Laster und solch ein Thier zusammen passen können. Die weisen und tugendhaften Hauyhnhnms, welche in allen ausgezeichneten Eigenschaften, die ein vernünftiges Geschöpf nur ausschmücken können, so viel Ueberfluß haben, besitzen in ihrer Sprache keinen Namen für dieses Laster. Diese entbehrt ohnedem der Ausdrücke, welche etwas Böses bezeichnen, mit Ausnahme dessen, was sie an den verabscheuungswürdigen Yähus bemerken. Das Laster des Stolzes konnten sie aber bei denselben nicht ausfindig machen, weil sie die menschliche Natur nicht in dem Grade kennen konnten, wie dies in den Ländern, wo der Yähu herrscht, der Fall seyn muß. Ich, der ich jedoch mehr Erfahrung hatte, konnte einige Elemente des Stolzes bei den Yähus andeuten. Die Hauyhnhnms, die unter der Herrschaft der Vernunft leben, hegen nicht mehr Stolz auf ihre guten Eigenschaften, wie ich z. B. daß mir weder ein Arm noch ein Bein fehlt. Jedermann wird sich dessen wohl nicht rühmen, so lange er nicht verrückt ist, obgleich der Mangel jener Glieder ihn unglücklich machen müßte. Ich verweile länger bei diesem Gegenstande, weil ich die Gesellschaft eines englischen Yähu erträglicher zu machen wünsche, und deßhalb bitte ich diejenigen, welche einige Neigung zu diesem Laster haben, mir in Zukunft vom Leibe zu bleiben.