Kapitel 3


Kapitel 3 Ein durch neuere Philosophie und Astronomie ausgelöstes Phänomen. Die Fortschritte der Laputier in letzterer Wissenschaft. Das Verfahren des Königs bei der Unterdrückung von Aufständen.

Ich ersuchte den König um Erlaubniß, die Merkwürdigkeiten der Insel besehen zu dürfen. Seine Majestät hatte die Gnade, mir dieselbe zu bewilligen und befahl meinem Lehrer mich zu begleiten. Ich wollte hauptsächlich wissen, welchen künstlichen und natürlichen Ursachen die Insel ihre Bewegungen verdanke, und will hierüber dem Leser jetzt einen philosophischen Bericht erstatten.

Die fliegende oder schwebende Insel ist zirkelförmig, beträgt siebentausend achthundert und siebenunddreißig Ellen, oder vier und eine halbe Meile im Durchmesser, und enthält somit zehntausend Morgen Land. Die Dicke beträgt dreihundert Ellen. Der Boden erscheint denen, welche sie von unten aus erblicken, als eine ebene Fläche von Diamant, die zur Höhe von zweihundert Ellen aufsteigt. Ueber dieser Fläche liegen mehrere Mineralschichten in gewöhnlicher Ordnung, und über diesen eine Lage wie von fetter Dammerde in der Tiefe von zehn oder zwölf Fuß. Die abhängige Lage der ersten Oberfläche, vom Umkreise bis zum Mittelpunkte, ist die natürliche Ursache, weßhalb Thau und Regen, der auf die Insel fällt, in kleinen Bächen nach der Mitte dringen und sich dort in große Becken ausleeren, die ungefähr eine halbe Meile im Umfang betragen, und zweihundert Ellen vom Mittelpunkte entfernt sind. Die Sonne verdunstet dieses Wasser fortwährend am Tage, so daß es nicht überfließen kann. Da der König außerdem nach Belieben die Insel über die Wolken- und Dünstregion erheben kann, vermag er das Niederfallen des Regens und Thaues, wie er will, verhindern. Die höchsten Wolken können ja nach der Behauptung der Naturforscher nicht über eine Stunde steigen; in diesem Lande hat man wenigstens die Bemerkung gemacht.

Im Mittelpunkt der Insel befindet sich eine Spalte von fünfzig Ellen im Durchmesser, von wo die Astronomen in ein großes Gebäude steigen, das deßhalb Flandona gagnole, oder die Astronomenhöhle heißt, und hundert Ellen über der Oberfläche des Diamants liegt. In dieser Höhle brennen fortwährend zwanzig Lampen, welche durch den Reflex des Diamants nach allen Seiten hin ein starkes Licht ausströmen. Der Ort ist mit einer großen Menge von Astrolaben, Sextanten, Quadranten, Teleskopen und anderen astronomischen Instrumenten versehen. Die größte Merkwürdigkeit, wovon das Schicksal der Insel abhängt, besteht in einem Magnetstein von ungeheurer Größe, welcher an Gestalt einem Weberschiff ähnlich ist. Er beträgt sechs Ellen in der Länge, und am dicksten Theil wenigstens drei Ellen. Dieser Magnet wird durch eine starke diamantene Axe gehalten, welche die Mitte durchdringt; man hat ihn so genau im Gleichgewicht aufgestellt, daß die schwächste Hand ihn drehen kann. Er ist mit einem hohlen Cylinder von Diamant eingefaßt, der vier Fuß in Tiefe und Dicke, zwölf Ellen im Durchmesser beträgt, und in horizontaler Lage von acht diamantenen, sechs Fuß hohen Füßen gehalten wird. In der Mitte der concaven Seite befindet sich eine zwölf Zoll tiefe Rinne, worin die Extremitäten der Axe liegen, und nach der sich bietenden Gelegenheit gedreht werden.

Der Stein kann durch keine Kraft fortgebracht werden, weil der Reif und die Grundlage mit dem diamantenen Körper zusammenhängen, welcher den Boden der Insel bildet.

Vermöge dieses Magnetsteins wird die Insel gehoben, gesenkt und fortbewegt. In Betreff des von dem König beherrschten Landes besitzt der Stein am einen Ende eine anziehende Kraft, und an dem andern eine zurückstoßende. Richtet man den Magnet in die Höhe, so daß die anziehende Kraft der Erde zugerichtet ist, so senkt sich die Insel; richtet man diezurückstoßende Extremität nach unten, so steigt die Insel; erhält der Stein eine schräge Richtung, so bewegt sich die Insel in derselben Weise. Der Magnet äußert stets seine Kräfte in paralleler Richtung.

Durch diese schräge Bewegung wird die Insel zu den verschiedenen Theilen des Reiches getragen. Um diese Reiseart auszudrücken, mag AB eine queer durch das Gebiet von Balnibarbi gezogene Linie bedeuten, CD den Magnet darstellen, wovon D das repulsirende, C das attrahirende Ende ist; die Insel selbst schwebt über C. Erhält nun der Magnet die Richtung CD mit dem repulsirenden Ende nach unten, so bewegt sich die Insel nach D. Ist sie in D angekommen, mag man den Stein auf seiner Axe drehen, bis das attrahirende Ende auf E gerichtet ist, und die Insel wird sich alsdann nach E bewegen; wird der Stein nun wieder gedreht, bis er die Stellung EF annnimmt, mit dem repulsirenden Ende nach unten, so wird die Insel in schräger Richtung nach F steigen, und richtet man sie durch die Attractive nach G, wird sie sich nach G erheben, und von G nach H kommen, wenn man das repulsirende Ende gerade nach unten stellt. Indem man so die Richtung des Steines verändert, läßt man die Insel in schräger Richtung fallen und steigen (letztere ist jedoch nicht sehr bedeutend), und transportirt sie von einem Theile des Landes zum andern.

Man muß jedoch bemerken, daß diese Insel sich nicht über das Königreich hinaus bewegen und auch nicht höher als zwei Stunden steigen kann. Die Astronomen, welche dicke Bücher über den Stein geschrieben haben, erklären dies aus folgendem Grunde: die magnetische Kraft dehne sich nicht über vier Meilen weit aus, und das Mineral, welches auf den Stein einwirkt, und im Inneren der Erde und in dem Meere bis auf die Entfernung von sechs Stunden, vom Ufer an gerechnet, verborgen liegt, sey nicht auf dem ganzen Erdkreis so verbreitet, sondern allein auf das Gebiet des Königs beschränkt. Sonst würde es durch den Vortheil der höheren Lage sehr leicht seyn, ein jedes Land zu unterwerfen, welches im Bereich des Magneten liege.

Liegt der Magnet mit dem Horizonte parallel, so steht die Insel still. Da seine Enden alsdann in gleicher Entfernung von der Erde sich befinden, wirken sie mit gleicher Kraft. Das eine zieht nach oben, das andere nach unten; somit kann auch keine Bewegung stattfinden.

Der Stein steht unter der Leitung mehrerer Astronomen, die ihm auf Befehl des Königs die verschiedenen Richtungen geben. Diese verbringen den größten Theil ihres Lebens in der Beobachtung der Himmelskörper, und zwar durch Hülfe von Gläsern, welche die unsrigen bei Weitem übertreffen. Obgleich ihre Teleskope nur drei Fuß Länge haben, vergrößern sie dennoch mehr als unsere von hundert Fuß, und zeigen auch die Sterne mit größerer Deutlichkeit. Dieser Vortheil hat die Laputier in Stand gesetzt, Entdeckungen zu machen, die wir in Europa nicht ahnen. In ihrem Katalog befinden sich zehntausend Fixsterne, da doch die größten Verzeichnisse, welche wir besitzen, kaum ein Drittel dieser Zahl enthalten. Sie haben auch zwei Trabanten des Mars entdeckt, deren nächster von seinem Hauptplaneten so weit entfernt ist, wie dessen Durchmesser dreimal beträgt, und der entferntere fünfmal; ersterer dreht sich um den Mars in zwanzig, letzterer in einundzwanzig und einer halben Stunde. Das Quadrat der periodischen Umwälzung beider steht in demselben Verhältniß wie das Kubik ihrer Entfernung vom Centrum des Mars, und dies erweist, daß sie nach denselben Gesetzen der Schwere, wie die übrigen Himmelskörper regiert werden.

Außerdem haben die Laputier neununddreißig verschiedene Kometen beobachtet und ihre Bahnen mit großer Sicherheit beschrieben. Ist dies wirklich der Fall (und sie behaupten es mit dem größten Selbstvertrauen), so wäre zu wünschen, daß ihre Bemerkungen allgemein bekannt würden; die Theorie der Kometen, welche bis jetzt sehr lahm und mangelhaft ist, würde dadurch dieselbe Vollkommenheit, wie andere Theile der Astronomie, erreichen. Der König würde der unumschränkteste Fürst der Erde seyn, wenn er seine Minister überreden könnte, ihm hierin behülflich zu seyn. Diese aber besitzen Güter auf dem Festlande, und überlegen, das Amt eines Günstlings sey ein sehr ungewisser Besitz. Deßhalb wollen sie nie ihre Einwilligung geben, ihrem Vaterlande zur Sclaverei zu verhelfen.

Wenn eine Stadt Meuterei und Empörung beginnt, in heftigen Parteikampf geräth, oder die gewöhnlichen Abgaben nicht zahlen will, so bringt sie der König durch zwei Methoden wieder zum Gehorsam. Das erste und mildere Verfahren besteht darin, daß er die Insel über eine solche Stadt und das sie umgebende Gebiet schweben läßt, wodurch er die Einwohner des Sonnenscheins und des Regens beraubt, und folglich Krankheiten und Theurung bei ihnen bewirkt. Verdient ihr Verbrechen eine größere Strafe, so werden sie zugleich von oben mit großen Steinen beworfen, gegen welche sie sich nicht anders schützen können, als daß sie sich in Keller und Höhlen verkriechen, während die Dächer ihrer Häuser zertrümmert werden. Bleiben sie dann noch immer hartnäckig, und drohen sie sogar mit einem Aufstande, so läßt der König die Insel ihnen auf den Kopf fallen, wodurch sowohl Häuser als Menschen vernichtet werden. Dies ist jedoch nur ein außerordentliches Mittel, wozu der König selten genöthigt wird, und was er auch nicht in Anwendung zu bringen wünscht. Ferner wagen auch die Minister nicht, ihm eine Handlung anzurathen, wodurch sie dem Volke verhaßt und ihre eigenen Güter, welche unten liegen, zerstört würden. Die Insel ist nämlich eine Domäne der Krone.

Es findet sich jedoch noch ein anderer Grund, weßhalb die Könige dieses Landes einer so furchtbaren Handlung stets abgeneigt sind, wenn sie nicht durch die äußerste Noth dazu gezwungen werden. Wenn nämlich die zu verwüstende Stadt große und spitze Felsen enthielte, wie dies in den größeren Städten nicht ungewöhnlich ist, da die Einwohner eine solche Lage, wahrscheinlich um jene Katastrophe zu verhindern, häufig gewählt haben, oder sollte eine Stadt viele Kirchthürme und steinerne Pfeiler besitzen, so möchte die untere Fläche der Insel, ob dieselbe gleich aus Diamant besteht und zweihundert Ellen dick ist, durch den plötzlichen Stoß zerbrochen, oder wenn sie den Feuern der Häuser zu nahe käme, einen Riß, wie bei uns ein Schornstein, bekommen, mag derselbe auch von Stein und Eisen erbaut seyn. Das Volk ist mit allen diesen Umständen genau bekannt und weiß sehr wohl, wie weit es seinen Eigensinn treiben darf, wenn Freiheit und Eigenthum in Gefahr geräth. Der König, wenn er am heftigsten gereizt und entschlossen ist, eine Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln, läßt die Insel nur langsam hinabsteigen, wobei er zärtliche Liebe zu seinen Unterthanen als Vorwand angibt, jedoch in Wirklichkeit die Besorgniß hegt, einen Riß in den diamantenen Boden zu bewirken. Alle Naturforscher sind nämlich der Meinung, in dem Fall würde der Magnet die Insel nicht mehr tragen können, und die ganze Masse würde zu Boden fallen müssen.

Durch ein Grundgesetz des Königreichs darf weder der Monarch noch seine zwei ältesten Söhne die Insel verlassen, auch nicht die Königin, bis sie ihr Kindbett überstanden hat.

Kapitel 4


Kapitel 4 Der Verfasser verläßt Laputa. Reise nach Balnibarbi; er kömmt in der Hauptstadt an. Die Beschreibung der Hauptstadt und des umliegenden Landes. Der Verfasser wird von einem vornehmen Manne gastfreundlich aufgenommen. Seine Unterhaltung mit demselben.

Quälereien habe ich zwar auf dieser Insel nicht erleiden müssen, ich hielt mich jedoch für vernachläßigt, und sogar auch theilweise für verachtet. Weder der König noch das Volk zeigte Neugier für irgend eine andere Kenntniß als Mathematik und Musik, worin die Laputier mir überlegenwaren, und mich deßhalb geringschätzten. Als ich nun die Merkwürdigkeiten der Insel gesehen hatte, war mein größter Wunsch, sie zu verlassen, denn ich war der Einwohner herzlich müde. Sie waren wirklich in zwei Wissenschaften, für die ich die größte Achtung hege und womit ich auch nicht unbekannt bin, im höchsten Grade ausgezeichnet, allein zugleich so sehr in ihre Spekulationen vertieft, daß ich mich niemals in unangenehmerer Gesellschaft befunden habe. Ich unterhielt mich während meines zweimonatlichen Aufenthalts allein mit Weibern, Klatschern und Pagen, wodurch ich mich zuletzt sehr verächtlich machte. Diese waren jedoch die einzigen Leute, von denen ich vernünftige Antworten erhalten konnte.

Durch angestrengtes Studium hatte ich mir eine bedeutende Kenntniß der Landessprache verschafft. Es war mir aber langweilig auf einer Insel zu bleiben, wo ich so wenig Ermuthigung erhielt, und beschloß deßhalb, sie mit der ersten Gelegenheit zu verlassen.

An dem Hofe befand sich ein vornehmer Mann, welcher mit dem Könige nahe verwandt und deßhalb allein mit Achtung behandelt wurde. Im Uebrigen hielt man ihn für die unwissendste und dummste Person. Er hatte der Krone viele ausgezeichnete Dienste erwiesen, besaß Talente und äußere Bildung, Rechtschaffenheit und Ehrgefühl, allein durchaus kein musikalisches Gehör, so daß seine Feinde behaupten konnten, er habe häufig den Takt zu unrechter Zeit angegeben. Auch konnten ihm seine Lehrer nur mit äußerster Schwierigkeit die leichtesten mathematischen Sätze beibringen. Er hatte die Güte, mir häufig Gunstbezeugungen zu erweisen, und wünschte Kenntniß von den Angelegenheiten Europa’s, von den Gesetzen, Gewohnheiten und Wissenschaften der verschiedenen von mir bereisten Länder zu erlangen. Er lieh mir ein aufmerksames Ohr und machte verschiedene sehr weise Bemerkungen über meinen Bericht. Er hatte zwei Klatscher, jedoch nur um sich der Sitte zu fügen, denn er gebrauchte sie nie, ausgenommen wenn er bei Hof war, oder ceremoniöse Besuche abstattete. Wenn wir allein waren, befahl er ihnen gewöhnlich sich zu entfernen.

Ich ersuchte diesen vornehmen Herrn, mich in einer Bitte an den König, in Betreff der Erlaubniß zur Abreise, zu unterstützen. Er hatte die Güte, mir zu willfahren, wie er jedoch gnädigst bemerkte, nur mit Widerwillen. Er machte mir auch wirklich mehrere vortheilhafte Anträge, die ich jedoch mit Beweisen der größten Dankbarkeit ablehnen mußte.

Am 11. Februar nahm ich Abschied vom König und vom Hof. Der König machte mir ein Geschenk, welches ungefähr zweihundert Pfund Sterling werth war, und mein Beschützer gab mir dieselbe Summe, zugleich mit einem Empfehlungsschreiben an einen seiner Freunde in der Hauptstadt Lagado. Als die Insel über einem zwei Stunden von Lagado entfernten Berge schwebte, ward ich von der untersten Terrasse in derselben Weise, wie ich aufgestiegen war, hinabgelassen.

Das Festland, so weit es dem Monarchen der fliegenden Insel gehört, führt den allgemeinen Namen Balnibarbi und die Hauptstadt, wie ich schon vorhin bemerkte, heißt Lagado. Ich empfand eine große Freude, als ich mich wieder auf festem Boden befand. Ich ging durch die Stadt, ohne Aufsehen zu erregen, denn ich war wie ein Eingeborener gekleidet und mit der Sprache schon genug bekannt, um mich mit den Einwohnern zu unterhalten. Bald fand ich auch das Haus des Herrn, an den ich empfohlen war, überreichte meinen Empfehlungsbrief des Granden der Insel und wurde mit großer Höflichkeit aufgenommen. Dieser vornehme Herr, dessen Name Munodi war, ließ mir ein Zimmer in seinem Hause zurichten, das ich auch während meines Aufenthalts bewohnte und bewirthete mich mit der größten Gastfreundschaft.

Am nächsten Tage fuhr er mit mir in seiner Carosse aus, um mir die Stadt zu zeigen, die ungefähr halb so groß wie London ist. Die Häuser waren aber sonderbar gebaut und die meisten dem Einsturz nahe. Die Leute in den Straßen gingen schnell, zeigten wilde Gesichter, starre Blicke, und waren größten Theils zerlumpt. Wir fuhren durch ein Hauptthor und alsdann auf das Land im Umkreise von drei Meilen, wo ich mehrere Arbeiter mit verschiedenen Werkzeugen die Erde aufwühlen sah, ohne den Zweck errathen zu können. Auch bemerkte ich weder Korn noch Gras, obgleich der Boden ausgezeichnet zu seyn schien. Ich konnte mein Erstaunen über das sonderbare Aussehen der Stadt und des Landes nicht unterdrücken, und wagte an meinen Führer die Frage, was die vielen so geschäftigen Köpfe, Hände und Gesichter zu bedeuten hätten, die ich sowohl in den Straßen als in den Feldern erblickt; ich sehe keine gute Wirkung, welche von diesen Leuten hervorgebracht wird; im Gegentheil, nie habe ich ein so schlecht bebautes Land, so schlecht angelegte und erhaltene Häuser, oder auch ein Volk erblickt, dessen Antlitz und Aeußeres so viel Elend und Mangel ausdrückt.

Dieser Herr Munodi war eine Person des ersten Ranges und einige Jahre Gouverneur von Lagado gewesen, aber nach einer Ministerkabale wegen Mangel an Kenntnissen abgesetzt worden. Der König behandelte ihn jedoch mit Zärtlichkeit als einen wohlwollenden Mann, der jedoch nur einen geringen und verächtlichen Verstand besitze.

Als ich mit solchem Freimuth Land und Einwohner tadelte, gab er mir zur Antwort: Ich habe noch nicht lange genug im Lande gelebt, um ein Urtheil mir bilden zu können; die verschiedenen Völker und Länder hätten verschiedene Sitten; und alsdann fügte er noch einige andere Gemeinplätze zu demselben Zwecke hinzu. Als wir aber nach seinem Palast zurückkehrten, fragte er mich, wie mir das Gebäude gefalle, welche Abgeschmacktheiten ich an demselben bemerke, was ich an der Kleidung und an dem Aussehen seiner Diener auszusetzen habe. Dies könne ich mit vollkommener Sicherheit thun, denn Alles, was ihn umgebe, sey prächtig regelmäßig und fein. Ich erwiderte: die Klugheit, Bildung und das Vermögen Seiner Excellenz habe ihn von Mängeln befreit, welche durch Thorheit und Bettelei bei Anderen bewirkt würden. Hierauf sagte er mir: wenn ich mit ihm auf sein ungefähr fünfzehn Stunden entferntes Landhaus gehen wolle, würde er mehr Muße für ähnliche Gespräche haben. Ich sagte Seiner Excellenz: ich stände vollkommen zu seiner Verfügung, und somit reisten wir am nächsten Morgen ab.

Während unserer Reise machte er mich auf die verschiedenen Methoden aufmerksam, welche von Pächtern in Bebauung ihrer Felder angewandt werden, ein Umstand, den ich durchaus nicht begreifen konnte, denn mit Ausnahme weniger Punkte konnte ich keine Kornähre und keinen Grashalm entdecken. Nach drei Stunden änderte sich jedoch die Scene; wir kamen in die lieblichste Gegend; Pächterhäuser waren in kleinen Entfernungen nett gebaut; die Felder waren umzäunt und enthielten Weingärten, Kornfelder und Wiesen. Ich erinnere mich, nie eine schönere Aussicht gehabt zu haben. Seine Excellenz bemerkte, daß sich mein Gesicht erheiterte. Er sagte mir mit einem Seufzer, hier beginne sein Landgut, und werde denselben Anblick darbieten, bis wir an sein Haus kämen; seine Landsleute verspotteten und verachteten ihn, weil er seine Angelegenheiten nicht besser leite und dem Königreiche ein so schlimmes Beispiel gebe. Dieses werde aber nur von wenigen befolgt, die, wie er selbst, alt, eigensinnig und geistesschwach seyen.

Zuletzt kamen wir zum Hause, welches wirklich ein schönes Gebäude und nach den besten Regeln der antiken Baukunst errichtet war. Die Fontänen, Gärten, Spaziergänge, Wege und Wäldchen waren mit dem feinsten Geschmack und zum besten Vortheil angelegt. Ich ertheilte jeder Einzelnheit das gebührende Lob. Seine Excellenz nahm aber hierauf nicht eher Rücksicht, als bis nach dem Abendessen, und sagte mir dann mit sehr melancholischen Zügen: er glaube, noch gezwungen zu werden, seine Häuser auf dem Lande und in der Stadt niederreißen zu lassen, um sie nach der gegenwärtigen Mode aufzubauen; er werde noch alle seine Pflanzungen zerstören müssen, um ihnen die Form zu geben, welche der neuere Geschmack verlange; er werde zuletzt allen seinen Pächtern Befehle in diesem Sinne ertheilen, wenn er nicht den fortwährenden Tadel des Stolzes, der Affektation, der Unwissenheit und des Eigensinns auf sich laden, oder vielleicht noch die Ungnade des Königs vermehren wolle; die Bewunderung, die ich gegen ihn äußere, werde wahrscheinlich aufhören, wenn er mir mehrere Einzelnheiten berichtet haben werde, von denen ich bei Hof Nichts hätte hören können. Die Leute dort oben beschäftigen sich zu sehr mit ihren Spekulationen, um auf dasjenige, was unten geschehe, irgend Rücksicht nehmen zu können.

Folgendes ergab sich als Hauptinhalt seines Vortrags: Vor ungefähr fünfzig Jahren begaben sich mehrere Personen nach Laputa, entweder des Vergnügens oder ihrer Geschäfte wegen. Nachdem sie dort fünf Monate geblieben waren, kehrten sie mit einiger oberflächlichen Kenntniß der Mathematik, aber mit einer Menge flüchtigen Geistes zurück, den sie in der oberen Region erlangt hatten. Nach ihrer Rückkehr begannen diese Leute an Allem hier unten Mißbehagen zu finden, und kamen auf Entwürfe, alle Künste, Wissenschaften, Sprachen und Handwerke nach neuem Fuß umzubilden. Zu dem Zweck verschafften sie sich ein königliches Patent für Errichtung einer Akademie von Projektenmachern, und ihre Laune verbreitete sich unter dem Volke mit solcher Schnelle, daß es bald keine Stadt von Wichtigkeit im Königreiche mehr gab, worin nicht eine solche Akademie errichtet wurde. In diesen Kollegien erfinden die Professoren neue Regeln des Ackerbaus und der Baukunst, neue Instrumente für alle Handwerke und Manufakturen. Das Unternehmen geht darauf hinaus, daß ein Mann die Arbeiten von zehn verrichtet; ein Palast soll in einer Woche von so dauerhaftem Material erbaut werden, daß er, ohne der Ausbesserung zu bedürfen, für immer feststeht. Alle Früchte der Erde sollen zu jeder beliebigen Jahreszeit reif werden, und einen um hundert Procent größeren Ertrag, wie gegenwärtig, liefern; ähnliche Vorschläge, die genug Glück verheißen, sind in Menge gemacht worden. Das einzige Unglück besteht nur darin, daß keines dieser Projekte bis jetzt zur Vollkommenheit gelangt ist. Mittlerweile liegt das ganze Land elend und wüst, die Häuser verfallen und die Einwohner sind ohne Kleider und Nahrung. Anstatt hiedurch entmuthigt zu werden, verfolgen dieselben nur ihre Entwürfe mit desto größerer Heftigkeit, zugleich voll Hoffnung und Verzweiflung. Er selbst (Seine Excellenz) sey kein Mann mit Unternehmungsgeist; er ziehe es vor, bei den alten Formen zu bleiben, im Hause seiner Ahnen zu wohnen, und in jedem Lebensverhältnisse ohne Neuerung den ruhigen Gang beizubehalten. Einige wenige Personen von Stand hätten dasselbe gethan, würden aber verächtlich und übelwollend als Feinde der Künste, als unwissende und schlechte Staatsbürger betrachtet, welche ihre eigene faule Bequemlichkeit der allgemeinen Verbesserung ihres Vaterlandes vorziehen.

Seine Excellenz fügte hinzu: Er wolle in keiner Weise das Vergnügen verhindern, das ich sicherlich im Besuche der großen Akademie empfinden würde, wohin er mich zu führen entschlossen sey. Er bat mich, nur ein ruinirtes Gebäude an einem Berge, in der Entfernung von anderthalb Stunden von seinem Hause, zu betrachten, wovon er mir folgenden Bericht gab: Er hatte eine sehr gute Mühle, welche, eine halbe Stunde vom Hause entfernt, durch einen Wasserstrom getrieben wurde. Die Mühle genügte ihm, seiner Familie und einem großen Theile seiner Pächter. Vor sieben Jahren aber kam ein Klub von Projektenmacher mit dem Vorschlage, er solle die Mühle niederreißen und eine andere an dem Abhange jenes Berges erbauen, an dessen Wand ein Kanal eingehauen werden müsse, nebst einem Behälter für das Wasser, welches durch Röhren und Maschinen der Mühle zugeführt werben solle. Wind und Luft wirkten nämlich in der Höhe auf das aufgeregte Wasser, und machten es somit passender zur Bewegung; wenn nun das Wasser einen Abhang hinabfahre, würde es die Mühle mit der Hälfte des Stromes treiben, welcher nur wenig tiefer als das Niveau sey. Seine Excellenz sagte: damals sey er bei Hofe nicht gut angeschrieben gewesen; seine Freunde hätten ihn bedrängt, und somit sey er auf den Vorschlag eingegangen. Er habe hundert Menschen zwei Jahre lang arbeiten lassen, das Werk sey mißlungen, die Projektmacher seyen davon gegangen und hätten ihm allein die Schuld zugeschoben, seitdem fortwährend über ihn gespottet, und Andere zu demselben Experiment mit derselben Versicherung des glücklichen Erfolgs bewogen, aber auch mit derselben Vereitelung aller Hoffnungen sitzen lassen.

Nach wenigen Tagen kehrten wir zur Stadt zurück. Seine Excellenz wollten mich, in Betracht des schlechten Rufes, den er bei der Akademie besaß, nicht selbst dort einführen, sondern empfahl mich einem seiner Freunde, der mich dort hinbringen sollte. Auch hatte Seine Excellenz die Güte, mich als einen großen Bewunderer von Projekten, und eine sehr neugierige und leichtgläubige Person vorzustellen. Dies war auch wirklich einigermaßen der Fall, denn ich war in meiner Jugend eine Art von Projektmacher gewesen.

Kapitel 5


Kapitel 5 Der Verfasser erhält die Erlaubniß, die große Akademie von Lagado zu besehen; die Akademie wird weitläufig beschrieben. Die Künste, womit sich die Professoren beschäftigen.

Complicirt ist dieses Gebäude der Akademie in hohem Grade. Es besteht nämlich aus einer Reihe Häuser an beiden Seiten der Straße, welche zu dem Zweck gekauft und eingerichtet wurden, da sie bereits leer standen und in Verfall geriethen. Ich wurde von dem Aufseher sehr gut aufgenommen und besuchte darauf mehrere Tage die Akademie. Jedes Zimmer hatte einen oder mehrereProjektmacher und wie ich glaube, bin ich in nicht weniger als fünfhundert Zimmer gewesen.

Der Erste, den ich erblickte, war ein magerer Mann mit schmutzigen Händen und Gesicht, langem Bart und Haar, zerlumpt, und an mehreren Stellen seines Körpers versengt. Kleider, Hemd und Haut waren bei ihm von derselben Farbe. Er hatte acht Jahre lang das Projekt verfolgt, Sonnenstrahlen aus Gurken zu ziehen, welche in hermetisch geschlossenen Phiolen aufgestellt und in rauhen Sommern herausgenommen wurden, weil sie die Luft erwärmen sollten. Er sagte mir, ohne Zweifel werde er in acht Jahren, oder vielleicht in noch längerer Zeit im Stande seyn, die Gärten des Gouverneurs zu mäßigen Preisen mit Sonnenschein zu versehen. Er beklagte sich jedoch über Mangel an Geld, und bat mich, ihm zur Ermuthigung des Genies etwas zu geben, besonders da die Gurken in jetziger Jahreszeit sehr theuer wären. Ich gab ihm ein kleines Geschenk, denn der Lord hatte mich zu dem Zwecke mit Geld versehen, weil er die Gewohnheit jener Leute kannte, von Jedem, der sie besuchte, Etwas zu erbetteln.

Ich ging in ein anderes Zimmer, war aber schon im Begriff zurückzueilen, weil mich ein furchtbarer Gestank beinahe überwältigte. Mein Führer aber drängte mich wieder voran, indem er mich mit einem Flüstern beschwor, keinen Anstoß zu geben, den man mir im höchsten Grade übel nehmen würde, und deßhalb wagte ich nicht einmal, mir die Nase zuzuhalten. Der Projektmacher in dieser Zelle war der älteste Gelehrte der Akademie; Gesicht und Bart waren von blassem Gelb, Hände und Kleider mit Koth bedeckt. Als ich ihm vorgestellt wurde, erdrückte er mich beinahe mit einer Umarmung, ein Kompliment, das ich abzulehnen Ursache wohl gehabt hätte. Seine Beschäftigung war seit seiner ersten Anstellung in der Akademie, den Menschenkoth in den primativen Zustand, durch Scheidung der verschiedenen Theile, durch Entfernung der Galle, des Speichels und des Geruchs wieder zu versetzen. Die Gesellschaft hatte ihm wöchentlich ein gefülltes Gefäß von der Dicke einer Schiffstonne bewilligt.

Ich sah einen Andern, welcher Eis in Schießpulver kalciniren wollte. Dieser zeigte mir auch eine Abhandlung, die er über die Hämmerbarkeit des Feuers geschrieben hatte, und die er herausgeben wollte.

Auch befand sich dort ein wahrhaftes Genie, durch welches man die neue Baukunst-Methode verbesserte, nach welcher man mit dem Dache anfangen und so bis zum Fundamente fortfahren sollte. Er rechtfertigte dieses Verfahren durch die Bauart der klügsten Insekten, der Bienen und Spinnen.

Ein Blinder hatte dort mehrere Lehrlinge, die sich in demselben Zustande befanden. Ihre Beschäftigung bestand darin, daß sie Farben für Maler mischten; ihr Lehrer hatte sie nämlich unterrichtet, dieselben durch Gefühl und Geruch zu unterscheiden. Zu meinem Unglück hatten sie damals noch keine große Fortschritte gemacht, und auch der Professor versah sich jeden Augenblick. Dieser Künstler findet bei der ganzen Brüderschaft viel Ermuthigung und Achtung.

In einem andern Zimmer fand ich viel Vergnügen an einem Projektmacher, welcher einen Entwurf erfunden hatte, das Land mit Schweinen zu pflügen, um die Kosten des Pflugs, des Rindviehs und der Arbeit zu ersparen. Seine Methode ist folgende: man verbirgt in dem Acker acht Zoll tief und sechs Zoll von einander entfernt eine Anzahl Eicheln, Datteln, Haselnüsse und andere zur Mast dienende Pflanzen, welche bei jenen Tieren besonders beliebt sind. Hierauf treibt man eine Herde von sechshundert Stück auf das Land, und dann wühlen die Schweine, um ihre Nahrung zu suchen, den Boden in der Art auf, dass er sich zur Saat eignet; und versehen ihn zugleich auch mit Dünger. Man hat allerdings den Versuch gemacht, fand aber Kosten wie Mühe sehr groß und die Ernte nur sehr gering; man zweifelt jedoch nicht daran, daß die Erfindung sehr verbessert werden kann.

Ich ging in ein anderes Zimmer, wo Wand und Decke mit Spinnweben gänzlich bedeckt waren; nur ein kleiner Weg war dem Künstler zum Ein- und Ausgehen geblieben. Als ich eintrat, rief er mir mit lauter Stimme zu: ich solle seine Spinnwebe nicht beschädigen. Er beklagte den unglücklichen Irrtum, welchen die Welt so lange gehegt habe, indem sie Seidenwürmer benütze, da man doch eine solche Menge häuslicher Insekten habe, welche die Seidenwürmer durch Festigkeit im Weben und Spinnen bei weitem übertreffen. Auch war er der Meinung, durch Benützung der Spinnen würden die Kosten des Färbens der Seide gänzlich erspart werden; er zeigte mir eine Menge sehr schön gefärbter Fliegen, womit er seine Spinnen fütterte, und behauptete, die Spinnweben würden dadurch eine bestimmte Färbung erlangen. Da er nun Fliegen von allen Farben besitze, so hoffe er den Geschmack eines Jeden zu befriedigen, sobald er ein passendes Futter von Gummi, Oelen und gallertartigen Stoffen für die Fliegen auffinden könne, wodurch dann auch die Fäden des Gewebes Stärke und Konsistenz erhalten müßten.

Ein Astronom hatte eine Unternehmung eingeleitet, eine Sonnenuhr auf den Wetterhahn des Stadtturmes aufzustellen, welche die jährlichen und täglichen Bewegungen der Erde um die Sonne anzeigen und zugleich auch den zufälligen Wechsel des Windes angeben sollte.

Da ich seit einiger Zeit an einer schwachen Kolik litt, brachte mich mein Führer in ein Zimmer, wo ein großer Arzt wohnte, welcher durch die Behandlung dieser Krankheit berühmt geworden war. Derselbe kurierte durch die entgegengesetzte Behandlung des Organs. Er hatte nämlich einen großen Blasebalg mit einer langen und schmalen Mündung aus Elfenbein. Diese hielt er acht Zoll von dem Anus entfernt und behauptete, er könne die Eingeweide hiedurch so schmal machen, wie eine getrocknete Blase. War aber die Krankheit zu hartnäckig und heftig, so steckte er die Mündung in den Leib des Patienten hinein, während der Blasebalg voll Wind war, und entlud denselben in die Eingeweide; alsdann zog er sein Instrument zurück, um es wieder zu füllen, hielt aber unterdessen mit seinem Daumen die Öffnung des Hinteren zu. Nachdem dies drei- oder viermal wiederholt sei, müsse der hinzu gekommene Wind nach seiner Behauptung sich heraus drängen, und den schädlichen mit sich fortreißen, wie man Wasser in eine Pumpe schütte, um sie zu reinigen. Alsdann sei der Patient gänzlich hergestellt. Ich sah, wie er beide Experimente bei einem Hunde machte, konnte jedoch keine Wirkung des ersteren bemerken. Nach dem zweiten war das Tier dem Bersten nahe, und machte eine so furchtbare Entladung, daß diese mir und meinem Führer sehr ekelhaft wurde. Der Hund starb auf der Stelle, und wir verließen den Doktor, als er ihn durch dieselbe Operation wieder zu erwecken versuchte.

Ich besuchte noch viele andere Zimmer, werde aber den Leser mit allen von mir beobachteten Merkwürdigkeiten nicht langweilen, da ich mich der Kürze befleiße.

Bis dahin hatte ich bloss eine Seite der Akademie gesehen; die andere ist nämlich für die Beförderer spekulativer Wissenschaften bestimmt; ich werde davon reden, wenn ich zuvor noch eine ausgezeichnete Person erwähnt habe, welche dort mit dem Namen »universeller Künstler« bezeichnet wird. Derselbe sagte uns, er habe dreißig Jahre lang ausschließlich die Verbesserung des menschlichen Lebens im Auge gehabt. Er hatte zwei Zimmer, die mit wunderbaren Seltenheiten gefüllt, und fünfzig Menschen, die stets an der Arbeit waren. Einige verdikten die Luft in eine trockene und berührbare Substanz, indem sie das Nitrum ausschieden, und die flüssigen Teile verdunsten ließen; andere erweichten den Marmor zu Kissen; andere versteinerten die Hufe lebendiger Pferde, um sie vor dem Sturze zu bewahren. Der Künstler selbst beschäftigte sich damals mit zwei großartigen Projekten; das erste bestand darin, Ackerland mit Spreu zu besäen, worin er eine außerordentliche Keimkraft nachweisen wollte, und worüber er auch Versuche anstellte, die ich jedoch wegen geringerer Geschicklichkeit nicht verstehen konnte. Das andere Projekt war ein Plan, durch eine gewisse Mischung aus Gummi, Mineral- und Pflanzenstoffen, welche äußerlich angewandt werden mußten, das Wachsen der Wolle auf zwei jungen Lämmern zu verhindern; er hoffte nach gehöriger Zeit die Brut nackter Schaft in dem ganzen Königreich verbreiten zu können. Wir gingen darauf zur anderen Seite der Akademie hinüber, wo die Projektmacher in spekulativen Wissenschaften, wie ich bereits gesagt habe, residiren.

Der erste Professor, den ich sah, befand sich in einem großen Zimmer, und war von vierzig Schülern umgeben. Nach der gewöhnlichen Begrüßung bemerkte er, daß ich ernstlich einen Rahmen betrachtete, welcher den größten Theil des Zimmers in Länge und Breite ausfüllte, und sagte: Ich wundere mich vielleicht, daß er sich mit einem Projekt beschäftige, die spekulativen Wissenschaften durch praktische und mechanische Operationen zu verbessern. Die Welt werde aber bald die Nützlichkeit dieses Verfahrens bemerken. Er schmeichle sich mit dem Gedanken, daß eine höhere und edlere Idee noch nie aus dem Gehirn eines Menschen entsprungen sei. Ein Jeder wisse, wie viel Mühe die gewöhnliche Erlernung der Künste und Wissenschaften bei den Menschen erfordere; er sei überzeugt, durch seine Erfindung werde die ungebildeteste Person bei mäßigen Kosten und bei einiger körperlicher Anstrengung Bücher über Philosophie, Poesie, Mathematik und Theologie ohne die geringste Hilfe des Genies oder der Studien schreiben können. Er führte mich an einen Rahmen, wo alle seine Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen enthielt zwanzig Quadratfuß, und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand aus einzelnen Holzstücken, von der Dicke eines Würfels, von denen jedoch einzelne größer wie andere waren. Sie waren sämmtlich durch leichte Drähte mit einander verknüpft. Diese Holzstücke waren an jedem Viereck mit überklebtem Papier bedeckt, und auf diesen Papieren waren alle Worte der Landessprache in Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung aufgeschrieben. Der Professor bat mich, Acht zu geben, da er seine Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen Befehl einen eisernen Griff zur Hand, von denen vierzig am Rande befestigt waren. Durch eine plötzliche Umwendung wurde die ganze Anordnung verändert. Alsdann befahl er sechzehn Knaben, die verschiedenen Zeilen langsam zu lesen, und wann sie drei oder vier Worte ausgefunden hatten, die einen Satz bilden konnten, diktirten sie dieselben vier anderen Knaben, welche dieselben niederschrieben. Diese Arbeit wurde drei- oder viermal wiederholt. Die Maschine war aber so eingerichtet, daß die Worte bei jeder Umdrehung einen neuen Platz einnehmen, so wie das ganze Viereck sich von oben nach unten drehte.

Sechs Stunden mußten die Schüler täglich bei dieser Arbeit zubringen. Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, welche auf diese Weise aus abgebrochenen Sätzen gebildet waren, und die er zusammenstellen wollte. Aus diesem reichen Material werde er einen vollständigen Inbegriff aller Künste und Wissenschaften bilden; ein Verfahren, das er jedoch verbessern und schneller beendigen würde, wenn das Publikum ein Kapital zusammenbringen wollte, um fünfhundert solcher Rahmen in Lagado zu errichten, und wenn man die Unternehmer zwingen werde, in ihren verschiedenen Collekten die gehörige Summe beizusteuern.

Er gab mir die Versicherung, diese Erfindung habe schon von Jugend auf alle seine Gedanken in Anspruch genommen; er habe seinen Rahmen so eingerichtet, daß er den ganzen Sprachreichthum umfasse, und sogar das allgemeine Verhältniß berechnet, welches in Büchern hinsichtlich der Anzahl von Partikeln, Haupt- und Zeitwörtern und anderen Redetheilen stattfinde.

Ich bezeugte dieser ausgezeichneten Person meinen demüthigsten Dank für seine große Güte, mir die ganze Erfindung mitzutheilen, und versprach, im Fall ich je in mein Vaterland zurückkehre, würde ich ihm Gerechtigkeit, als dem einzigen Erfinder dieser wunderbaren Maschine, erweisen, deren Form und Einrichtung ich auf’s Papier warf, wie beiliegende Abzeichnung beweist. Ich sagte ihm: obgleich es in Europa die Gewohnheit bei Gelehrten sey, die Erfindungen sich einander zu stehlen, so daß diese den Vortheil hatten, daß wenigstens ein Streit über das Eigenthum statt finde, so werde ich doch mit aller Vorsicht darauf hinwirken, daß er, ohne irgend einen Nebenbuhler, die Ehre derselben ausschließlich erlange.

Hierauf begaben wir uns in die Sprachschule, wo drei Professoren sich über die zweckmäßigste Methode, ihre Landessprache zu verbessern, beriethen. Das Projekt des Ersten bestand darin, die Rede dadurch abzukürzen, daß man die vielsylbigen Worte in einsylbige verwandle, daß man Verben und Participien auslasse; alle vorstellbaren Dinge seyen in Wirklichkeit nur Hauptwörter.

Das Projekt des Zweiten bezweckte die Abschaffung aller Wörter, und dies ward als eine große Verbesserung der Gesundheit wie der Kürze betrachtet. Denn es ist klar, daß jedes von uns gesprochene Wort eine Verminderung unserer Lungen durch Abreibung bewirkt, folglich auch die Verkürzung unseres Lebens zur Folge hat. Es wurde deßhalb folgendes Auskunftsmittel angeboten: da Worte allein in Zeichen der Dinge bestehen, sey es passender, wenn alle Menschen solche Auskunftsmittel bei sich herumtrügen, welche ein besonderes Geschäft bezeichneten, worüber sie sich unterhalten wollten.

Diese Erfindung würde allgemein geworden seyn, wenn sich die Weiber nicht mit dem Pöbel und den ungebildeten Menschen verbunden und mit einer Rebellion gedroht hätten, im Fall die Freiheit ihrer Zungen nach herkömmlicher Weise ihnen nicht verbliebe; der Pöbel ist ja ohnedem der unversöhnlichste Feind jeder Wissenschaft.

Die Klügsten und Weisesten jedoch befolgen die neue Methode, sich durch Dinge auszudrücken; die einzige Unbequemlichkeit, die sich daraus ergibt, besteht nur darin, daß ein Mann, dessen Geschäft sehr groß und von verschiedener Art ist, ein Bündel auf seinem Rücken mit sich herumtragen muß, wenn er nicht im Stande ist, sich einen oder zwei starke Bedienten als Begleiter zu halten.

Zwei dieser Weisen habe ich oft unter ihren Bündeln beinahe zusammensinken sehen, wie dies bei Hausirern in England wohl der Fall ist. Wenn sie sich in den Straßen begegneten, legten sie ihre Last nieder, öffneten ihre Säcke, und hielten ein stundenlanges Gespräch; alsdann füllten sie ihren Behälter auf’s Neue, halfen sich einander, wenn sie die Last wieder auf den Rücken nahmen, und empfahlen sich. Für ein kurzes Gespräch mag Jeder seinen Bedarf in der Tasche oder unter dem Arme tragen, weil ihm weniger genügt. Zu Hause aber kann Niemand in Verlegenheit kommen. Deßhalb ist ein Zimmer, wo eine in dieser Kunst gewandte Gesellschaft zusammen kommt, mit allen Dingen angefüllt, welche Stoff zu diesem künstlichen Gespräch darbieten.

Ein anderer Vortheil, welcher sich aus dieser Erfindung ergeben muß, besteht darin, daß eine allgemeine Sprache erfunden würde, die man bei allen civilisirten Nationen verstände, bei denen Güter und Geräth sich gleichen, so daß man sich leicht in die verschiedenen Gewohnheiten würde finden können. Somit könnten Gesandte mit fremden Fürsten oder Staatsmännern leicht verhandeln, obgleich sie deren Sprache nicht verstanden.

Ich war auch in der mathematischen Schule, wo die Lehrer nach einer Methode unterrichten, von der man in Europa kaum einen Begriff hat. Satz und Beweis werden auf einer dünnen Oblate, mit gehirnartiger Tinktur aufgezeichnet, eingegeben. Der Schüler muß dieselbe schnell hinunterschlucken, und dann drei Tage lang nichts als Brod und Wasser essen. Ist die Oblate verdaut, so steigt die Tinktur in’s Hirn, und führt dort den mathematischen Satz ein. Bisher hat aber der Erfolg sich noch nicht erwiesen, ein Umstand, der theilweise aus einem Fehler in der Quantität der Composition folgen mag, theilweise auch aus der Störrigkeit der Knaben, denen diese Medicin so eckelhaft ist, daß sie sich gewöhnlich fortstahlen, und sich der Dose von oben entledigten, bevor sie operiren konnte; auch hat man sie bis jetzt nicht überreden können, so lange zu hungern, wie es bei dem Recepte nothwendig ist.

Kapitel 6


Kapitel 6 Fernere Beschreibung der Akademie. Der Verfasser bringt einige Verbesserungen in Vorschlag, die auch mit ehrenvoller Anerkennung angenommen werden.

In der Schule der politischen Projektmacher habe ich mich nur schlecht unterhalten, denn die Professoren schienen mir verrückt zu seyn, und eine solche Scene machte mich immer sehr melancholisch. Diese unglücklichen Leute brachten Entwürfe in Vorschlag, die Monarchen dahin zu überreden, daß sie ihre Günstlinge nur nach Weisheit, Fähigkeit und Tugend wählen; daß Minister belehrt würden, nur das Wohl des Staates in Betracht zu nehmen, Verdienst, Fähigkeit und Dienste zu belohnen; die Fürsten über ihr wahres Interesse aufzuklären, so daß sie dasselbe auf derselben Grundlage, wie das Volk, erbauten, und daß sie für Aemter nur die passenden Personen wählen. Es fanden sich darunter noch mehrere wilde und unausführbare Hirngespinnste, die kein Mensch bisher begreifen konnte, und die mich von der Wahrheit jener alten Bemerkung überzeugten, es gäbe keine so ausschweifende und unvernünftige Meinung, welche von einzelnen Menschen nicht als Wahrheit aufgestellt sey.

Hier muß ich jedoch diesem Theil der Akademie in so fern Gerechtigkeit erweisen, daß ich eingestehe, alle die Mitglieder seyen nicht so sehr zu Visionen geneigt gewesen. Unter Andern machte ich die Bekanntschaft eines Arztes, welcher mit der Natur und dem System des Regierens vollkommen bekannt zu seyn schien. Diese ausgezeichnete Person richtete seine Studien auf einen sehr nützlichen Zweck, auf die Erfindung von Mitteln, welche allen Krankheiten und Verderbnissen der Staatsverwaltung abhelfen werden, denen letztere durch Lasten und Schwächen der Regierenden, so wie durch Zügellosigkeit der Gehorchenden unterworfen ist. Z. B. da alle Schriftsteller und Philosophen einstimmig zugestehen, es finde sich eine Aehnlichkeit zwischen dem natürlichen und politischen Körper, so ist es klar, daß die Gesundheit Beider erhalten, und die Krankheit Beider durch dieselben Recepte kurirt werden muß. Es ist bekannt, daß große Versammlungen häufig durch überflüssige, aufbrausende und andere schädliche Säfte belästigt werden, daß man Krankheiten des Kopfes, und noch häufiger des Herzens, bei ihnen beobachtet; daß starke Convulsionen der Nerven und Sehnen in beiden Händen, besonders aber in der rechten Faust, bei ihnen stattfinden; daß sie an Spleen, an Blähungen, Schwindel und Delirien leiden; daß sie skrophulöse Geschwülste mit fauler Materie enthalten; daß sie an saurem und stinkendem Aufstoßen, an Unverdaulichkeit und an anderen Uebeln krank sind, deren Erwähnung hier nutzlos seyn würde. Der Doktor machte deßhalb den Vorschlag, sobald man im Senat zusammenkomme, sollten Aerzte bei den drei ersten Versammlungen gegenwärtig seyn, und nach dem Schlusse einer jeden Sitzung den Puls der Senatoren untersuchen; nachdem sie hierauf die Natur der Krankheit und die Gegenmittel reiflich berathen, sollten sie am vierten Tage, vom Apotheker begleitet, welcher die passende Medicin mitbringen würde, in den Versammlungssaal zurückkehren. Bevor alsdann die Sitzung beginne, sollten den Parlamentsgliedern Abführungsmittel, Brechmittel, Corrosiva, Astringentia, Palliativa, Acustica u. s. w. gereicht werden, wie dies die besonderen Fälle erforderten; nach der Wirkung dieser Medicin sollten alsdann diese Mittel bei jeder Sitzung vermehrt, verändert oder aufgegeben werden.

Dies Projekt würde nicht viel Geld kosten und müßte nach meiner demüthigen Meinung die schnellere Abfertigung in denjenigen Ländern befördern, wo die Parlamente Antheil an der gesetzgebenden Gewalt besitzen. Die Einstimmigkeit würde dadurch befördert, die Debatte abgekürzt. Mancher jetzt geschlossene Mund erhielte dadurch Flüssigkeit der Rede, ein anderer, der zu sehr sich öffnet, würde dadurch geschlossen werden; der Muthwille der jungen Parlamentsglieder würde dadurch wegpurgirt, und das Phlegma der älteren vermindert werden; der Dumme würde dadurch aufgeweckt und der Impertinente in seiner Hitze gemäßigt.

Ferner: da die Klage allgemein ist, daß Günstlinge der Fürsten ein schwaches und kurzes Gedächtniß besitzen, solle jeder, welcher zu einem ersten Minister gehe, nachdem er sein Geschäft mit der größten Kürze und Deutlichkeit vorgetragen, wann er wieder gehe, dem Minister einen Nasenstüber oder einen Schlag auf den Bauch geben, oder ihm auf einen Leichtdorn treten, oder ihn dreimal am Ohr zwicken, oder eine Nadel in seine Beinkleider stecken, oder seinen Arm braun und blau kneipen. Um ferner Vergeßlichkeit zu verhindern, müsse die Operation bei jeder Audienz wiederholt werden, bis das Gesuch erfüllt oder gänzlich abgeschlagen wäre.

Der Doktor gab ferner den Rath: jeder Deputirte einer National-Versammlung solle, nachdem er seine Meinung ausgesprochen und vertheidigt, seine Stimme für die entgegengesetzte Behauptung übergeben. Geschehe dies, so würde das Resultat unfehlbar zum Vortheil des Publikums ausfallen. 

Wenn Parteiwuth in einem Staate zu heftig wird, so sey ein wunderbares Mittel in Anwendung zu bringen, damit der Frieden wieder hergestellt werde. Die Methode ist folgende: Man nimmt ungefähr hundert Parteiführer und stellt sie paarweise, nach Aehnlichkeit ihrer Schädel, auf. Alsdann sägt ein geschickter Operator den Schädel eines jeden zu derselben Zeit und in solcher Weise ab, daß er das Gehirn auf gleiche Weise theilt. Alsdann werden die abgesägten Theile des Hirnschädels vertauscht, indem der Tory den eines Whigs erhält und umgekehrt. Allerdings scheint dies Verfahren eine große Geschicklichkeit zu erfordern. Der Professor gab uns jedoch die Versicherung, der Erfolg werde unfehlbar seyn, wenn die Operation nur auf geschickte Weise ausgeführt würde. Seine Schlußfolge war folgende: da die beiden Gehirne alsdann in einem Schädel die Sache unter sich ausmachen, werden sie sich sehr bald gegenseitig verständigen und dadurch jene Mäßigung und regelrechte Denkmethode bewirken, welche in den Köpfen derjenigen so sehr zu wünschen ist, welche einzig zu dem Zweck in die Welt gekommen zu seyn glauben, damit sie die Bewegung derselben überwachen und leiten. Was nun den Unterschied der Gehirne in Quantität und Qualität betreffe, so versicherte uns der Doktor, dies sey kein sehr wichtiger Umstand.

Ich hörte eine heftige Debatte zweier Professoren über die bequemste und wirksamste Weise Steuern zu erheben, ohne den Unterthanen lästig zu werden. Der erste behauptete: die gerechteste Methode werde darin bestehen, wenn man Laster und Thorheit besteuere; die Summe für Jeden müsse alsdann aufrichtig durch eine Jury bestimmt werden, welche aus seinen Nachbarn zusammengesetzt würde. Der zweite war durchaus der entgegengesetzten Meinung: man müsse diejenigen Eigenschaften des Körpers und der Seele besteuern, worauf die Menschen hauptsächlich eitel wären; man müsse geringere oder höhere Abgaben nach dem Verhältniß der Eitelkeit bestimmen; einem Jeden müsse die Entscheidung in diesem Punkte überlassen bleiben. Die höchste Abgabe müsse von Männern bezahlt werden, welche große Günstlinge des andern Geschlechtes seyen, und zwar nach Verhältniß der Zahl und der Natur aller Gunstbezeugungen, die sie erhalten hätten. Hiebei solle ihnen erlaubt seyn, Zeugniß für sich selbst abzulegen. Witz, Tapferkeit und Höflichkeit solle ebenfalls hoch besteuert werden, wo dann die Abgaben in derselben Art eingezogen werden müßten; indem nämlich jeder Mann die Quantität, die er besitze, auf sein Ehrenwort angebe. Ehre, Gerechtigkeit, Weisheit und Gelehrsamkeit sollten jedoch nicht besteuert werden, weil es Eigenschaften sind, die Keiner seinem Nebenmenschen zugestehen oder bei sich selbst bedeutend schätzen wird.

Die Weiber müßten ferner im Verhältniß ihrer Schönheit und ihrer Geschicklichkeit sich zu putzen besteuert werden, und dabei dasselbe Privilegium, wie die Männer, besitzen, d.h. sie müssen den Grad derselben selbst bestimmen; Beständigkeit, Keuschheit, Verstand und Gutmüthigkeit sollten jedoch in die Steuerliste nicht aufgenommen werden, weil sie die Kosten des Steuererhebens nicht einbringen würden.

Damit die Parlamentsglieder stets im Interesse der Krone ihre Stimmen abgäben, wurde der Vorschlag gemacht, sie sollten um Staatsämter würfeln. Jeder müsse zuvor schwören und Bürgschaft leisten, um nach dem Willen des Hofes zu votiren, er möge gewinnen oder verlieren; dafür erhalten diejenigen, welche verlieren, auch die Freiheit, bei der nächsten Vacanz wieder zu würfeln. So würde Hoffnung und Erwartung fortwährend rege erhalten; Keiner würde sich über gebrochene Versprechen beklagen, sondern jede Vereitlung seiner Hoffnungen ausschließlich der Fortuna zur Last legen, deren Schultern breiter und stärker wie die eines Ministers seyen. Ein anderer Professor hielt ein großes Papier voll Anleitungen, Komplote und Verschwörungen gegen die Regierung zu entdecken, in der Hand. Er rieth allen großen Staatsmännern die Diät verdächtiger Personen zu erforschen; sich nach ihrer Essenszeit und nach der Seite zu erkundigen, auf welcher sie sich des Nachts in’s Bett legten; mit welcher Hand sie sich den Hintern wischten; ihre Excremente hinsichtlich des Geschmacks, der Farbe, des Geruchs, der Consistenz, zu früher oder zu später Verdauung zu untersuchen, um sich so ein Urtheil über ihre Gedanken und Absichten zu bilden; nie seyen die Menschen so ernsthaft, gedankenvoll und nur mit sich beschäftigt, als wenn sie zu Stuhle gingen; er wisse dies aus eigener Erfahrung; unter diesen Conjunkturen habe er selbst des Versuchs halber an Königsmord gedacht, und bemerkt, seine Excremente hätten eine gallichtere Farbe, als wenn er nur über Aufstände und Verbrennung der Hauptstadt nachgesonnen habe.

Die ganze Abhandlung war mit vielem Scharfsinn geschrieben, und enthielt manche für Politiker höchst merkwürdige Beobachtungen; sie war aber, wie ich glaubte, nicht ganz vollständig. Eine Aeußerung der Art erlaubte ich mir gegen den Verfasser und stellte ihm den Antrag, mit seiner Genehmigung noch einige Zusätze zu machen. Er nahm meine Vorschläge mit größerer Bereitwilligkeit auf, als sonst bei Schriftstellern gewöhnlich ist, besonders bei denjenigen, die in das Gebiet des Projektirens hineinstreifen, und erklärte mir, fernere Belehrung werde er mit dem größten Vergnügen annehmen.

Hierauf erzählte ich ihm, im Königreich Tribnia, welches von den Eingeborenen Langden genannt wird, und wo ich früher auf meinen Reisen einige Zeit verweilte, bestehe die größere Masse des Volkes aus Angebern, Zeugen, Spionen, Klägern und Eidleistern, nebst dienenden und subalternen Werkzeugen, welche sämmtlich unter den Fahnen, der Leitung und Besoldung der Staatsminister und ihrer Beamten ständen. Die Verschwörungen in jenem Königreich seyen gewöhnlich die Schöpfung der Personen, welche sich einen Ruf als tiefe Politiker machen wollten; oder sie seyen erregt, um eine zerbrechliche Regierung aufrecht zu erhalten, oder damit jene ihre Koffer mit Confiskationen füllten, oder den Staatscredit sinken und steigen ließen, wie es ihrem Privatvortheil angemessen sey. Zuerst wird bestimmt, welche verdächtige Personen einer Verschwörung angeklagt werden sollen; alsdann trägt man Sorge, alle ihre Briefe und Papiere zu untersuchen und die Eigenthümer derselben in Ketten zu schmieden. Diese Papiere werden einer Künstler-Gilde übergeben, welche sehr geschickt ist, die geheimnißvolle Bedeutung der Worte, Sylben und Buchstaben zu enträthseln; z.B. sie finden aus:

Ein Nachtstuhl bedeute einen geheimen Rath;

eine Heerde Gänse, eine Staatsversammlung;

ein lahmer Hund Hiemit meint Swift offenbar den damaligen Kronprätendenten Jacob Stuart, oder Jacob III. wie er sich zu nennen beliebte. einen Feind, welcher einen Angriff von aussen beabsichtigt;

eine Pest, ein stehendes Heer;

ein Maikäfer, einen Premier-Minister;

das Podagra, einen Hohen-Priester;

ein Galgen, einen Staatssecretair;

ein Nachttopf, einen Ausschuß von Lords;

ein Sieb, eine Hofdame;

ein Besen, eine Revolution;

eine Mausefalle, ein öffentliches Amt;

ein bodenloser Brunnen, eine Schatzkammer;

ein Abzugskanal, einen Hof.

eine Narrenkappe, einen Günstling;

ein zerbrochenes Rohr, einen Gerichtshof;

ein leeres Faß, einen General;

eine offene Wunde, die Staatsverwaltung;

Ist diese Methode nicht genügend, so werden zwei andere von größerer Wirksamkeit in Anwendung gebracht, welche bei den Gelehrten mit dem Namen Akrostichen und Anagrammen bezeichnet werden. Erstens können sie in allen Anfangsbuchstaben eine politische Bedeutung dechiffriren. So soll N. eine politische Verschwörung;

B. ein Kavallerieregiment

L. eine Flotte zur See bedeuten, Swift hat hier einen damaligen Staatsprozeß gegen einen bekannten Jacobiten, Atterbury, Bischof von Rochester, im Auge, den die Whigs, durch Parteileidenschaft fortgerissen, nicht in der Weise geführt hatten, wie es die Nation erwartete. Es war die allen Engländern verhaßte Espionage angewandt; man sollte Briefe erbrochen haben u. s. w.

oder man versetzt den Buchstaben in einem verdächtigen Papier und entdeckt so die tieffen Pläne einer unzufriedenen Partei. Wenn ich z. B. schreibe: unser Bruder Tom hat einen Hämorhoidalknoten, so kann dies auf folgende Weise dechiffrirt werden: Wir haben ein Complot organisiert, welches (durch Hämorhoidalknoten bezeichnet) bald ausbrechen wird.

Der Professor bezeigte mir die größte Dankbarkeit für meine Mittheilungen und versprach mir, dieselben auf ehrenvolle Weise in seinem Traktate zu erwähnen. Ich sah in dem Lande nichts Weiteres, welches mich zum längeren Bleiben hätte bewegen können, und begann deßhalb an meine Rückkehr nach England zu denken.

Kapitel 7


Kapitel 7 Der Verfasser verläßt Lagado und kommt in Maldonada an. Kein Schiff liegt dort bereit. Er macht eine kurze Reise nach Glubdubdrib. Sein Empfang beim Gouverneur.

Landwärts dehnt sich das Festland, dessen Theil dieses Königreich bildet, nach Allem was ich bemerkt habe, gegen Osten hinaus, und zwar zu dem unbekannten, westwärts von Californien liegenden Theile Amerika’s. Nördlich reicht es an den Stillen Ocean, der ungefähr nur fünfundsiebenzig Stunden von Lagado entfernt ist. Dort befindet sich ein guter Hafen, wo viel Handel mit der großen Insel Luggnagg betrieben wird, welche im neunundzwanzigsten Grad nördlicher Breite und im hundertundvierzigsten der Länge nordwestlich liegt. Diese Insel Luggnagg erhebt sich aus dem Meere südöstlich von Japan, und ist ungefähr hundert Stunden davon entfernt. Zwischen dem Kaiser von Japan und dem König von Luggnagg besteht ein genaues Bündniß, so daß man von einer Insel zur andern häufig reisen kann. Ich beschloß deßhalb, mich dorthin zu begeben, um nach Europa zurückkehren zu können. Ich miethete zwei Maulesel und einen Führer, der mir den Weg weisen und mein kleines Gepäck tragen sollte. Ich nahm Abschied von meinem edlen Beschützer, der mir so viele Gunstbezeigungen erwiesen hatte, und bei meiner Abreise mir noch ein kostbares Geschenk machte.

Meine Reise war ohne Abenteuer oder Ereigniß, welches des Erzählens werth wäre. Als ich im Hafen von Maldonada ankam (das ist der Name), fand ich kein Schiff segelfertig, welches nach Luggnagg bestimmt war. Auch war es unwahrscheinlich, daß ein Fahrzeug bald ankommen würde. Die Stadt ist so groß wie Portsmouth. Ich machte bald einige Bekanntschaften und ward sehr gastfrei aufgenommen. Ein Herr von höherem Stande sagte mir: da Schiffe nach Luggnagg erst in einem Monate absegeln würden, mögte es mir keine unangenehme Unterhaltung gewähren, eine kleine Reise nach der Insel Glubdrubdib zu machen, die ungefähr fünf Stunden entfernt südwestlich liege. Er und einer seiner Freunde machten mir den Vorschlag, mich zu begleiten und ein passendes Fahrzeug für die Reise zu verschaffen.

Glubdubdrib bedeutet, so weit ich die Sprache verstehe, eine Insel von Hexenmeistern und Zauberern. Sie ist ungefähr um ein Drittel so groß, wie die Insel Wight, zugleich sehr fruchtbar, und wird von dem Haupte eines Stammes regiert, welcher ausschließlich aus Zauberern besteht. Die Mitglieder dieses Stammes verheirathen sich nur untereinander, und der älteste Sohn wird stets der Fürst oder Gouverneur. Er besitzt einen herrlichen Palast und einen Park von ungefähr dreihundert Morgen, welcher von einer zwanzig Fuß hohen Mauer aus gehauenem Stein umringt ist. In diesem Park befinden sich kleine Einfriedigungen für Viehweiden, Kornfelder und Gärten.

Der Gouverneur und seine Familie werden von einem etwas sonderbaren Gesinde bedient. Durch seine Geschicklichkeit in der Zauberkunst wird er in Stand gesetzt, jede Person von den Todten zu citiren und ihren Dienst auf vierundzwanzig Stunden, jedoch nicht länger in Anspruch zu nehmen; auch darf er dieselbe Person erst nach drei Monaten wieder citiren, wenn nicht eine ganz außerordentliche Gelegenheit sich darbietet.

Als wir gegen 11 Uhr Morgens an der Insel gelandet waren, ging einer der Herren, die mich begleiteten, zum Gouverneur, und bat um Audienz für einen Fremden, welcher zu dem Zwecke gekommen sey, um die Ehre derselben von Seiner Hoheit zu erlangen. Die Bitte ward sogleich gewährt, und wir gingen alle drei in das Hofthor durch eine Reihe von Garden, welchenach sehr alter Weise gekleidet und bewaffnet waren, und einen Schauder in mir erweckten, den ich nicht ausdrücken kann. Wir kamen durch mehrere Zimmer, wo sich Diener derselben Art befanden, welche, bis wir in den Audienzsaal gelangten, reihenweise aufgestellt waren. In letzterem ward uns nach drei tiefen Verbeugungen und einigen allgemeinen Fragen die Erlaubniß ertheilt, uns auf drei Stühle neben dem Throne Seiner Hoheit niederzusetzen.

Dieser Fürst verstand die Sprache von Balni-barbi, ob sie gleich von der dieser Insel verschieden war. Er bat mich, ihm einen Bericht von meinen Reisen zu geben, und um mir zu zeigen, daß er sich mit mir auf vertrauten Fuß setze, entließ er alle seine Begleiter mit einem Winke seines Fingers, welche dann auch augenblicklich wie Visionen eines Traumes verschwanden. Einige Zeit lang war ich sehr bestürzt, bis mir der Gouverneur die Versicherung gab, ich werde keinen Schaden erleiden; und als ich nun auch bemerkte, daß meine beiden Gefährten, welche schon oft in dieser Art unterhalten worden waren, durchaus gleichgültig blieben, fing ich an, wieder Muth zu fassen und erzählte Seiner Hoheit meine Abenteuer; jedoch fühlte ich noch immer Bedenklichkeit und sah mich häufig nach den Platz um, wo ich die gespenstischen Bedienten erblickt hatte.

Ich hatte die Ehre, mit dem Gouverneur zu speisen, wo denn eine neue Reihe Geister das Essen auftrug und bei Tische aufwartete. Jetzt bemerkte ich schon, daß ich weniger erschrack, wie am Morgen. Ich blieb bis Sonnenuntergang und bat unterthänig, Seine Hoheit möge entschuldigen, wenn ich seine Einladung, im Palaste zu schlafen, nicht annehmen könne. Meine Freunde schliefen mit mir in einem Privathause der nahen Stadt, welche die Hauptstadt dieser kleinen Insel ist. Am nächsten Morgen nahmen wir uns aber die Freiheit, dem Gouverneur wieder unsere Aufwartung zu machen, wie er die Güte gehabt hatte, uns zu befehlen.

Auf diese Weise blieben wir zehn Tage auf der Insel, indem wir beinah täglich beim Gouverneur und des Nachts in unsrer Wohnung waren. Ich ward bald mit dem Anblick der Geister so vertraut, daß sie nach dem dritten oder vierten Mal durchaus keinen Eindruck mehr auf mich hervorbrachten, oder wenn dies auch noch stattfand, so war meine Neugier doch zuletzt überwiegend. Seine Hoheit befahl mir nämlich, alle Personen und nach beliebiger Zahl unter allen Todten von Anfang der Welt bis gegenwärtig, wie es mir gerade einfiele, zu nennen. Er werde ihnen befehlen, alle Fragen, wozu ich Lust hätte, zu beantworten, unter der Bedingung, daß die Fragen auf die Zeit, worin jeder Todte gelebt hätte, beschränkt blieben. Ich könne mich auf Eines genau verlassen, daß sie mir die Wahrheit sagen würden, da das Lügen in der andern Welt durchaus nichts helfe.

Ich dankte Seiner Hoheit auf die verbindlichste Weise für eine so große Gnadenbezeugung. Wir befanden uns in einem Zimmer, von wo wir eine schöne Aussicht in den Park genossen. Weil nun meine erste Neigung dahin zielte, mich mit Scenen des Pompes und der Pracht unterhalten zu lassen, so wünschte ich Alexander den Großen an der Spitze seines Heeres nach der Schlacht bei Arbela zu sehen, welcher denn auch sogleich, auf eine Bewegung des Fingers von Seiten des Gouverneurs, unter dem Fenster, wo wir standen, erschien. Alexander ward in das Zimmer citirt, und nur mit einiger Schwierigkeit verstand ich sein Griechisch, eben so wie er auch von dem meinigen nichts verstehen konnte. Er gab mir sein Wort, er sey nicht vergiftet worden, sondern an einem Fieber gestorben, welches in Folge eines heftigen Katzenjammers entstanden sey.

Hierauf sah ich, wie Hannibal die Alpen passirte. Dieser sagte mir, er habe keinen einzigen Tropfen Essig in seinem Lager gehabt.

Alsdann wurden mir Cäsar und Pompejus an der Spitze ihrer Truppen, vorgeführt, und zwar in dem Augenblick, wo sie im Begriff waren die Schlacht von Pharsalus zu liefern. Ersteren sah ich auch in seinem letzten großen Triumph. Ich wünschte, der römische Senat möge in einem großen Zimmer, und eine neuere Repräsentativ-Versammlung in einem andern vor mir erscheinen. Der erstere erschien mir als eine Versammlung von Helden und Halbgöttern; die andere als ein Zusammenlauf von Krämern, Taschendieben, Räubern und Renommisten.

Der Gouverneur gab auf mein Verlangen Cäsar und Brutus ein Zeichen, zu uns herzutreten. Beim Anblick des Brutus ward ich von höchster Ehrerbietung erfüllt und konnte in jedem Zuge seines Gesichts die strengste Tugend, die größte Unerschrockenheit und Seelenfestigkeit, die reinste Vaterlandsliebe und allgemeines Wohlwollen gegen die ganze Menschheit sehr leicht erkennen.

Ich bemerkte mit vielem Vergnügen, daß diese beiden Personen in gutem Einverständniß mit einander standen, und Cäsargestand mir freimüthig, die großen Handlungen seines eigenen Lebens seyen um viele Grade mit dem Ruhme seiner Ermordung nicht vergleichbar.

Ich hatte die Ehre eines langen Gesprächs mit Brutus, und erfuhr von ihm, sein Vorfahr Junius Brutus, Epaminondas, Cato der Jüngere, Sir Thomas More und er selbst befänden sich in immerwährender Gesellschaft, ein Verein von sechs Männern, zu welchem alle Zeitalter der Welt den siebenten nicht hinzufügen können. Ich würde dem Leser Langeweile erwecken, wollte ich die ungeheure Anzahl aller erlauchten Personen hier anführen, welche zur Befriedigung meines unersättlichen Verlangens, die Welt in jeder Periode des Alterthums zu erblicken, von dem Gouverneur herbeicitirt wurden. Ich weidete hauptsächlich meine Augen an den Vernichtern der Tyrannen und Usurpatoren, und an denjenigen Helden, welche die Freiheit unterdrückter und gemißhandelter Nationen wieder herstellten. Es ist mir jedoch unmöglich, das Vergnügen meines Herzens in der Art auszudrücken, daß der Leser einen Begriff davon erhält.

Kapitel 8


Kapitel 8 Fernere Nachrichten über Glubdubdrib. Die ältere und neuere Geschichte wird berichtet.

Da ich diejenigen Alten, welche wegen ihres Verstandes und ihrer Gelehrsamkeit vor Allen berühmt sind, zu sehen wünschte, so bestimmte ich einen besondern Tag für ihren Besuch. Somit machte ich den Vorschlag, Homer und Aristoteles sollten an der Spitze aller ihrer Erklärer erscheinen; diese aber waren so zahlreich, daß mehrere Hunderte im Hofe und in den äußern Räumen des Palastes warten mußten.

Ich erkannte die beiden Heroen auf den ersten Blick und konnte sie nicht allein von der Masse, sondern auch von einander unterscheiden. Homer war größer und im Wesen zierlicher wieAristoteles; er hatte, obgleich ein Greis, einen aufrechten Gang, und die lebhaftesten und durchdringendsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Aristoteles ging sehr gebeugt und bediente sich einer Krücke. Sein Gesicht war mager, sein Haar schmal und dünn, seine Stimme klang hohl. Ich bemerkte bald, daß beide der Gesellschaft gänzlich fremd waren, und daß sie nie von den Uebrigen etwas gehört hatten. Ein Geist, den ich nicht nennen will, flüsterte mir auch zu, diese Erklärer hielten sich in der Geisterwelt von ihren Autoren so weit wie möglich entfernt. Dies werde durch Schaam und durch das Bewußtseyn ihrer Schuld bewirkt, weil sie auf so furchtbare Weise den Sinn entstellt und der Nachwelt übergeben hätten. Hierauf stellte ich Didymus und Eustathius dem Homer vor, und bewog ihn, sie besser zu behandeln, als sie verdienten, denn er fand bald, daß sie nicht genug Verstand besaßen, um in den Geist eines Dichters einzudringen. Aristoteles aber gerieth in Wuth über den Bericht, den ich ihm von Scotus und Ramus gab, als ich diese beiden Herren ihm vorstellte. Er fragte sie, ob alle Uebrigen ihres Standes eben solche Dummköpfe, wie sie selbst, wären.

Alsdann bat ich den Gouverneur Descartes und Gassendi zu citiren und überredete dieselben, ihre Systeme demAristoteles darzulegen. Dieser große Philosoph gestand offen seine Versehen in der Physik ein, weil er in vielen Dingen nur Vermuthungen aufstellte, wie dies bei allen Menschen nothwendig ist. Er war der Meinung, das System Gassendis, welches die Lehre Epicurs so genießbar wie möglich zugerichtet habe, ferner auch die Wirbel des Descartes müßten auf gleiche Weise verworfen werden. Dasselbe Schicksal sagte er dem Attraktionsprincip voraus, welches die Gelehrten mit so viel Eifer jetzt verfechten. Er sagte: Neue Natursysteme glichen den Moden, die mit jedem Zeitalter wechseln; sogar diejenigen, welche sie nach mathematischen Grundsätzen beweisen wollen, werden nur eine Zeit lang blühen, und sobald diese verflossen sey, in Vergessenheit gerathen.

Fünf Tage lang habe ich mich mit vielen alten Gelehrten unterhalten. Auch sah ich die meisten römischen Imperatoren der ersten Kaiserzeit. Ferner bewog ich den Gouverneur die Köche des Heliogabalus zu beschwören, damit uns diese ein Mittagessen bereiteten. Sie konnten uns jedoch aus Mangel an Material ihre Geschicklichkeit nicht zeigen. Ein Helot desAgesilaus bereitete uns eine Schüssel spartanischer Suppe. Es war mir jedoch unmöglich, mehr als einen Löffel voll hinunterzuschlucken.

Die beiden Herren, welche mich zu der Insel begleitet hatten, mußten wegen ihrer Privatgeschäfte in zwei Tagen zurückkehren. Ich benutzte diese Zeit, um einige neuere Todte kennen zu lernen, welche während der drei letzten Jahrhunderte in meinem Vaterlande und im übrigen Europa die bedeutendste Rolle gespielt hatten. Da ich nun von jeher ein Bewunderer erlauchter Familien war, bat ich den Gouverneur, ein oder zwei Dutzend Könige mit ihren Vorfahren, in der Reihe von acht oder neun Generationen zu beschwören. Ich ward jedoch auf eine traurige und unerwartete Weise in meiner Erwartung getäuscht. Anstatt eines langen Zuges mit königlichen Diademen sah ich in einer Familie zwei Fiedler, drei muntere Hofleute und einen italienischen Prälaten, in einer andern einen Barbier, einen Abt und zwei Kardinale.

Ich hege zu große Verehrung gegen gekrönte Häupter, um bei einem so kitzlichen Punkte länger zu verweilen, muß jedoch gestehen, daß ich mit einem großen Vergnügen den Gesichtszügen, wodurch sich einzelne Familien auszeichnen, bis auf die Originale nachspüren konnte. Ich konnte deutlich entdecken, weßhalb die eine Familie ein langes Kinn besaß, weßhalb eine andere zwei Generationen lang an Schurken, und noch zwei andere Menschenalter an Dummköpfen Ueberfluß gehabt hat; weßhalb eine dritte verrückt und eine vierte spitzbübisch wurde; woher es gekommen sey, was Polydorus Virgilius von einem gewißen großen Hause sagte: Nec vir fortis, nec foemina casta; wie Grausamkeit, Falschheit und Feigheit charakteristische Merkmale wurden, welche in gerader Linie, wie skrophulöse Geschwülste, auf die Nachkommenschaft übergingen. Auch durfte ich mich hierüber gar nicht wundern, als ich eine solche Unterbrechung der Geschlechter durch Pagen, Lakaien, Kutscher, Spieler, Fiedler, Schauspieler, Offiziere und Gauner sah.

Vorzüglich empfand ich Ekel über neuere Geschichte. Als ich nämlich alle berühmtesten Personen an den Höfen der Fürsten seit hundert Jahren genau beobachtet hatte, fand ich, wie die Welt durch charakterlose Schriftsteller irre geführt wurde, welche die größten Kriegsthaten den Feiglingen, die weisesten Rathschläge den Thoren, Aufrichtigkeit den Schmeichlern, römische Tugend den Vaterlandsverräthern, Frömmigkeit den Atheisten, Keuschheit unnatürlichen Wollüstlingen, Wahrheit den Spionen und Angebern zuschreiben; wie viele unschuldige und ausgezeichnete Personen zum Tode oder zur Verbannung dadurch verurtheilt worden sind, daß mächtige Minister die Verderbniß der Richter und die Bosheit der Parteien benutzten; wie viele Schurken zu den höchsten Aemtern, des Vertrauens, der Macht, der Würde und des reichlichsten Einkommens erhoben wurden; welch ein Antheil an den Vorschlägen und Ereignissen der Höfe, Rathsversammlungen und Senate, Dirnen, Kupplern, Schmarotzern und Lustigmachern zuzuschreiben ist. Welch eine niedrige Meinung erlangte ich von menschlicher Weisheit und Rechtlichkeit, als ich die Quellen und Beweggründe der großen Revolutionen in der Welt, und die verächtlichen Zufälle, denen sie ihren Erfolg verdankten, erfuhr.

Hier entdeckte ich die Schurkerei und die Unwissenheit derer, welche anekdotisch die geheime Geschichte zu schreiben behaupten, welche so viele Könige durch einen Becher Gift ins Grab schicken, welche die Unterredung zwischen einem Fürsten und Premierminister wiederholen, wobei kein Zeuge gegenwärtig war; welche die Gedanken und Kabinette der Staatssekretäre erschließen, und fortwährend das Unglück haben, sich zu irren.

Hier entdeckte ich die wahren Ursachen vieler großen Ereignisse, welche die Welt überrascht haben; wie eine Buhlerin das geheime Boudoir, das geheime Boudoir einen geheimen Rath, der geheime Rath eine Senatsversammlung leitet.

Ich hörte wie ein General in meiner Gegenwart gestand, er habe einen Sieg nur durch die Macht der Feigheit und des schlechten Benehmens gewonnen; wie ein Admiral erzählte, er habe aus Mangel an genügendem Einverständniß mit dem Feinde denselben geschlagen, ob er ihm gleich die Flotte verrathen wollte. Drei Könige behaupteten, sie hätten während ihrer ganzen Regierung niemals einen Mann von Verdienst befördert, wenn dies nicht durch Versehen oder durch die Verrätherei eines Ministers, dem sie ihr Vertrauen geschenkt, geschehen sey; sie würden dies auch nicht thun können, wenn sie wieder zum Leben erweckt würden; sie bewiesen in logischer Darlegung, der königliche Thron könne nie ohne Corruption erhalten werden, weil das entschiedene, vertrauensvolle und hartnäckige Temperament, welches der Mensch durch die Tugend erhalte, den Staatsgeschäften ein ewiges Hinderniß bieten werde.

Aus Neugierde erkundige ich mich hauptsächlich durch welche Verfahrungsart eine große Anzahl Menschen hohe Ehrentitel und werthvolle Landgüter erworben hätten, und ich beschränkte meine Fragen auf eine Zeit, die uns noch sehr neu ist; ich kratzte jedoch nicht im Geringsten an der Gegenwart, weil ich auf keine Weise, nicht einmal dem Auslande Anstoß erregen wollte. Auch brauche ich dem Leser wohl durchaus nicht zu sagen, daß ich in Allem, was ich hier berichte, mein eigenes Vaterland nicht im Auge habe.

Eine große Anzahl von Personen, die in dieser Hinsicht betheiligt waren, wurde herbeibeschworen und enthüllten mir, bei einer nur flüchtigen Untersuchung, eine solche Schande, daß ich ohne ernsten Tadel nicht darüber reden kann. Meineid, Unterdrückung, Verführung, Betrug, Kuppelei und ähnliche Gebrechlichkeiten wären noch unter den Schlichen am ehesten zu entschuldigen, und ich war auch so vernünftig, in Betreff derselben nachsichtig zu seyn. Als mir aber Einige gestanden, sie verdankten ihren Reichthum unnatürlichen Lastern; Andere ihrer Willfährigkeit Frauen und Töchter Preis zu geben; Andere dem Verrathe ihres Vaterlandes und ihres Fürsten; Einige der Vergiftung; eine größere Anzahl der Verdrehung des Rechts, um Unschuldige zu Grunde zu richten: so hoffe ich auf Verzeihung, wenn diese Entdeckung die große Verehrung ein wenig verminderte, die ich gegen Personen von hohem Range hege, weil diese mit der äußersten Achtung, die man ihrer hohen Würde schuldig ist, von uns, ihren Untergebenen, behandelt werden müssen. Ich hatte oft von großen Diensten gelesen, welche Fürsten und Staaten erwiesen wurden, und wünschte deßhalb die Personen zu sehen, welche jene Dienste geleistet hatten. Nach näherer Untersuchung wurde mir aber gesagt, die Namen fänden sich in keiner geschichtlichen Angabe, mit Ausnahme weniger, welche man als die schändlichsten Schurken und Verräther dargestellt hatte. Von den übrigen war mir kein einziger Name bekannt. Sie alle erschienen mit gesenkten Blicken und in den schlechtesten Kleidern; die Meisten sagten mir, sie seyen in Armuth und Schande und die übrigen am Galgen oder auf einem Schaffott gestorben.

Unter Anderen sah ich einen Mann, dessen Fall mir als etwas besonderes erschien. An seiner Seite stand ein Jüngling von ungefähr achtzehn Jahren. Er sagte mir: Mehrere Jahre lang sey er der Befehlshaber eines Schiffes gewesen; in der Seeschlacht von Actium habe er das Glück gehabt, durch die Schlachtlinie des Feindes zu brechen, drei Hauptschiffe zu versenken und ein viertes zu nehmen. Dieses sey die einzige Ursache von des Antonius Flucht und des daraus sich ergebenden Sieges; der neben ihm stehende Jüngling sey sein Sohn, welcher in diesem Kampfe sein Leben verloren habe. Er fügte hinzu: Im Vertrauen auf sein Verdienst sey er nach Beendigung des Krieges nach Rom gegangen und habe am Hofe des August um Beförderung als Befehlshaber eines größeren Schiffes nachgesucht, dessen Commandeur in der Schlacht gefallen war; die Stelle sey jedoch, ohne Rücksicht auf seine Ansprüche, einem Knaben gegeben, der noch nie das Meer gesehen hatte, dem Sohn der Libertina, welcher einer Geliebten des Kaisers seine Aufwartung gemacht habe. Als er nun zu seinem eigenen Schiffe zurückgekehrt sey, habe man ihm Vernachläßigung des Dienstes zum Vorwurf gemacht; der Befehl über sein Schiff sey einem Lieblingspagen des Viceadmirals Publicola übertragen worden. Hierauf habe er sich auf ein kleines, von Rom weit entferntes Landgut zurückgezogen und dort sein Leben geendet.

Ich war so neugierig, die Wahrheit dieser Geschichte zu erfahren, daß ich mir erbat, Agrippa, der Admiral in jener Schlacht, möchte heraufbeschworen werden. Dieser erschien und bestätigte mir den ganzen Bericht noch mehr zum Vortheil des Kapitäns, dessen Bescheidenheit einen großen Theil seines Verdienstes vermindert oder verheimlicht hatte.

Ich erstaunte, Verderbniß in jenem Reiche, durch die Gewalt des eingeführten Luxus, so weit und schnell verbreitet zu erblicken, weßhalb ich mich über mehrere Parallelfälle in andern Ländern weniger wunderte, wo Laster jeder Art weit länger geherrscht haben, wo der ganze Ruhm, so wie auch der Raub, ausschließlich dem ersten Befehlshaber ertheilt ward, welcher vielleicht auch nicht den geringsten Anspruch für eines von Beiden hatte.

Da jeder beschworene Geist in derselben Art vor mir erschien, wie es früher bei ihm, in der Welt, der Fall gewesen war, so erweckte dies bei mir den melancholischen Gedanken, das Menschengeschlecht sey in dem letzten Jahrhundert sehr entartet; die Blattern, unter jeder Benennung und mit allen Folgen, hätten jeden Zug der englischen Physiognomie entstellt, die Größe der Körper vermindert, die Nerven geschwächt, die Spannkraft der Sehnen und Muskeln verringert, eine bleiche Gesichtsfarbe hervorgebracht und das Fleisch locker und übelriechend gemacht.

Ich stieg so weit hinunter, daß ich auch einige englische Yeomen, vom alten Schlage, heraufbeschwören ließ; jene Männer, welche wegen der Einfachheit ihrer Sitten, ihrer Lebensart und Kleidung, wegen der Gerechtigkeit in ihrem Verfahren, wegen ihres freien Geistes, ihrer Tapferkeit und Vaterlandsliebe so sehr berühmt waren.

Ich konnte eine gewisse Aufregung nicht unterdrücken, als ich die Todten mit den Lebenden verglich, und dabei bedachte, wie alle diese reinen und angeborenen Tugenden von ihren Enkeln für Geld preisgegeben werden, welche durch den Verkauf ihrer Stimmen und durch ihr Verfahren bei Wahlen jedes Laster und jede Verderbniß sich erworben haben, die nur an einem Hofe erworben werden können.

Kapitel 9


Kapitel 9 Der Verfasser kehrt nach Maldonado zurück und segelt nach dem Königreich Luggnag. Er wird eingesperrt und an den Hof gebracht. Die Art, wie er Audienz erhält. Des Königs Milde gegen seine Unterthanen.

Lange genug war ich auf der Insel gewesen. Ich nahm deßhalb Abschied von Seiner Hoheit, dem Gouverneur, und kehrte mit meinen beiden Reisegefährten nach Maldonado zurück. Als ich vierzehn Tage lang gewartet, war ein Schiff nach Luggnag segelfertig; die beiden Herren und einige Andere waren so edelmüthig, mich mit Lebensmitteln zu versehen und mich an Bord zu geleiten. Auf dieser Reise brachte ich einen Monat zu. Wir überstanden einen heftigen Sturm und mußten westwärts steuern, um in einen regelmäßigen Wind zu gelangen, der auf einem Striche von mehr als sechzig Stunden in einem Zuge weht. Am 21. April 1708 fuhren wir in den Fluß Clumegnig ein, wo eine Hafenstadt an der südöstlichen Spitze von Luggnag liegt. Wir warfen Anker eine Stunde von der Stadt entfernt und signalisirten nach einem Piloten. Zwei derselben kamen nach einer halben Stunde an Bord und führten uns dann durch Bänke und Felsen, welche die Durchfahrt sehr gefährlich machten, in ein breites Becken, wo eine ganze Flotte, in der Entfernung einer Kabellänge von der Stadtmauer, mit Sicherheit ankern kann.

Einige unserer Matrosen hatten aus Verrätherei oder aus Unvorsichtigkeit den Piloten gesagt, ich sey ein großer Reisender. Deßhalb wurde ich von einem Zollbeamten, bei meiner Landung, sehr genau in’s Verhör genommen. Dieser Beamte redete mit mir in der Sprache von Balnibarbi, welche wegen des starken Handels in dieser Stadt gewöhnlich, hauptsächlich aber von Seeleuten und Zollbeamten, verstanden wird. Ich gab ihm einen kurzen Bericht von einigen Einzelnheiten, und erzählte meine Geschichte so deutlich und consequent, wie möglich. Ich hielt es jedoch für nothwendig, mein Vaterland zu verschweigen und mich als Holländer anzugeben, weil ich nach Japan reisen wollte und weil ich wußte, die Holländer seyen die einzigen Europäer, welche in dieses Land gelangen könnten. Ich sagte deßhalb dem Beamten:nachdem ich auf der Küste von Balnibarbi Schiffbruch gelitten und auf einen Felsen geworfen worden sey, habe man mich in Laputa oder in der schwebenden Insel aufgenommen (wovon der Beamte gehört hatte) und ich wolle jetzt nach Japan, um dort eine Gelegenheit zur Rückkehr in mein Vaterland zu finden. Der Beamte sagte: Ich müsse verhaftet werden, bis er Befehle von seinem Hofe erhalten habe; er werde sogleich dorthin berichten, und hoffe, in vierzehn Tagen eine Antwort zu bekommen. Hierauf ward ich in eine passende Wohnung gebracht und eine Schildwache vor meiner Thüre aufgestellt; ich konnte jedoch einen großen Garten zu Spaziergängen benutzen und wurde mit aller Menschlichkeit behandelt; meine Ernährung geschah auf Kosten des Königs. Auch erhielt ich Besuche von mehreren Personen, und zwar aus Neugier, weil man berichtete, ich sey von sehr entfernten Ländern gekommen, von denen man bisher noch nichts gehört habe.

Ich miethete mir einen jungen Mann, der in demselben Schiff die Überfahrt gemacht hatte, als Dollmetscher. Er war in Luggnag geboren, hatte aber mehrere Jahre in Maldonado gelebt, und besaß eine genaue Kenntniß beider Landessprachen. Somit war es mir möglich, mich mit denjenigen, die mich besuchten, zu unterhalten; das Gespräch bestand jedoch allein aus ihren Fragen und meinen Antworten.

Die Depesche kam vom Hofe zu der erwarteten Zeit. Sie enthielt einen Verhaftsbefehl, mich und mein Zubehör nach Traldragdubh oder Trildrogdrib (so weit ich mich erinnere, wird das Wort in beiderlei Arten ausgesprochen) mit zehn Mann Kavallerie zu transportiren. Mein ganzes Zubehör bestand aber aus dem armen Bursch von Dollmetscher, den ich überredet hatte, in meinen Dienst zu treten, und auf mein demüthiges Gesuch erhielten wir Beide zwei Maulesel, um darauf zu reiten. Ein Bote ward auf eine halbe Tagereise uns vorausgeschickt, um dem König Nachricht von unserer Ankunft zu geben, und den Wunsch auszudrücken, Seine Majestät möge gnädigst geruhen, Tag und Stunde zu bestimmen, wo es sein allerhöchstes Vergnügen feyn würde, daß ich die Ehre erhalten möchte, den Staub vor Seinem Fußschemel abzulecken. Dies ist der Hofstyl; auch fand ich, daß es nicht eine bloße Förmlichkeit sey. Als ich nämlich zwei Tage nach meiner Ankunft Audienz erhielt, wurde mir befohlen, auf dem Bauch zu kriechen und den Boden abzulecken während ich vorwärts kroch; da ich jedoch ein Fremder war, so hatte man zuvor dafür gesorgt, den Fußboden so rein zu machen, daß der Staub mir nicht sehr unbequem wurde. Dieses war jedoch eine besondere Gnade, welche nur den Personen vom höchsten Range bewilligt wird, wenn sie eine Audienz zu erhalten wünschen. Bisweilen wird sogar der Boden absichtlich mit Staub bestreut, wenn die Person, welche Zutritt erhält, bei Hof mächtige Feinde hat. Auch habe ich gesehen, daß der Mund eines vornehmen Herrn so vollgestopft war, daß er kein einziges Wort aussprechen konnte. Dagegen gibt es auch kein Mittel, weil es für diejenigen, welche Audienz erhalten, als Todesverbrechen gilt, wenn sie in Gegenwart Ihrer Majestät ausspucken, oder sich den Mund wischen.

Es gibt noch eine andere Gewohnheit, die ich durchaus nicht billigen kann; wenn der König die Absicht hat, einen seiner Edelleute in sanfter und milder Art zu tödten, so läßt er den Fußboden mit einem gewissen braunen Pulver, einem tödtlichen Gifte, bestreuen, welches Jeden, der es aufleckt, in vierundzwanzig Stunden tödtet. Um jedoch der großen Milde dieses Königs und der Sorgfalt, die er hinsichtlich des Lebens seiner Unterthanen hegt, genügende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (und ich wünschte, daß die europäischen Monarchen ihm hierin nachahmten), so muß ich zu seiner Ehre erwähnen, daß genaue Befehle gegeben wurden, die vergifteten Theile des Fußbodens nach einer solchen Hinrichtung genügend zu waschen und abzukehren. Unterlassen dies seine Hausbedienten, so sind sie der Gefahr ausgesetzt, die königliche Ungnade sich zuzuziehen. Ich hörte selbst, wie er Befehle ertheilte, einer seiner Pagen solle gepeitscht werden; es war nämlich die Reihe an demselben gewesen, die Reinigung des Fußbodens zu besorgen, und er hatte es boshafterweise unterlassen. Durch die Vernachläßigung ward ein junger hoffnungsvoller Lord, welcher eine Audienz erhalten hatte, unglücklicherweise vergiftet, obgleich der König damals keine Absicht hegte, ihm das Leben zu nehmen. Doch war der gutmüthige Fürst so gnädig, dem armen Pagen die Peitschenstrafe zu erlassen, als derselbe versprochen hatte, er werde es ohne besonderen Befehl nicht wieder thun.

Ich kehre nun von dieser Digression zu meinem Berichte zurück. Als ich bis auf vier Ellen vom Throne gekrochen war, erhob ich mich langsam auf meine Knie, schlug dreimal mit der Stirne auf den Fußboden und sprach in der Landessprache einen Satz, den ich am Abend vorher erlernt hatte, und den ich folgendermaßen übersetze: Mag Eure himmlische Majestät die Sonne um elf und einen halben Monat überleben! Dieses ist das gesetzmäßige Kompliment des Landes, für alle Leute, welche Audienz erhalten. Der König gab eine Antwort, die ich nicht verstand, und ich erwiderte, wie ich zuvor gelernt hatte: Meine Zunge ist im Munde meines Freundes, worauf der junge, von mir schon erwähnte Mann hereingeführt wurde; durch dessen Hülfe beantwortete ich so viele Fragen, als Seine Majestät ungefähr in einer Stunde an mich richten konnte. Ich sprach im Balnibarbischen und mein Dollmetscher sagte den Sinn meiner Worte im Luggnagischen.

Der König fand an meiner Gesellschaft viel Vergnügen und befahl seinem Bliffmarklub oder Oberkämmerling, eine Wohnung für mich und meinen Dollmetscher am Hofe einzurichten. Ein bestimmter Betrag von Lebensmitteln ward für meine Tafel geliefert, und ich erhielt einen großen Beutel voll Geld für meine täglichen Ausgaben.

Nur um dem Könige zu gehorchen, blieb ich drei Monate im Lande; er hatte die Gnade, mir hohe Gunstbezeugungen zu erweisen, und machte mir sehr ehrenwerthe Anträge. Ich hielt es jedoch für klug und gerecht, die mir noch übrigen Tage bei meiner Frau und Familie zuzubringen. 

Kapitel 10


Kapitel 10 Die Luggnagier werden sehr gerühmt. Eine besondere Beschreibung der Struldbruggs. Gespräche des Verfassers mit einigen ausgezeichneten Personen.

Luggnag wird von einem höflichen und großmüthigen Volke bewohnt. Obgleich die Luggnagier einigermaßen den Stolz besitzen, welcher allen östlichen Nationen gemein ist, so zeigen sie sichdennoch höflich gegen Fremde, besonders solche, welche am Hofe eine Stütze besitzen. Ich hatte viele Bekannte, und darunter Personen von der besten Gesellschaft. Da ich nun auch stets von meinem Dollmetscher begleitet wurde, so war die Unterhaltung durchaus nicht unangenehm.

Eines Tages fragte mich ein Mann von Stande in einer großen Gesellschaft, ob ich die Struldbruggs oder die Unsterblichen des Landes gesehen hätte. Ich verneinte dies und bat, mir zu erklären, was diese Benennung, welche sterblichen Geschöpfen ertheilt würde, denn eigentlich bedeute. Der Herr nun sagte mir: Es ereigne sich bisweilen, obgleich sehr selten, daß ein Kind mit einem runden rothen Flecken an der Stirne, gerade über der linken Braue, in einer Familie geboren werde.

Dieser Flecken aber sey ein unfehlbares Zeichen, daß es nimmer sterben werde. Wie er ihn beschrieb, war er ungefähr von der Größe eines silbernen Groschens, wird aber mit der Zeit weit größer und verändert die Farbe; im zwölften Jahre wird er grün, und behält diese Farbe bis zum fünfundzwanzigsten, wo er dunkelblau wird; im fünfundvierzigsten wird er kohlschwarz und so groß wie ein englischer Schilling, nachher aber läßt er keine weitere Veränderung zu. Der Herr sagte: diese Geburten seyen so selten, daß es im ganzen Königreiche nicht mehr als elfhundert Struldbruggs beider Geschlechter gebe; darunter befinde sich ein junges, vor drei Jahren geborenes Mädchen. Diese Produktionen seyen keiner Familie eigenthümlich, sondern ein bloßes Werk des Zufalls. Die Kinder der Struldbruggs selbst seyen eben so sterblich, wie die des übrigen Volkes.

Ich muß offen gestehen, daß ich mit unaussprechlichem Entzücken diesen Bericht hörte. Da nun der Herr, mit dem ich sprach, das Valnibarbische verstand, womit ich sehr gut bekannt war, so konnte ich es nicht unterlassen, Ausdrücke zu gebrauchen, die vielleicht ein wenig zu ausschweifend waren. Ich rief, wie in Entzücken, aus: Oh glückliche Nation, wo wenigstens jedes Kind das Glück haben kann, unsterblich zu seyn! Oh glückliches Volk, welches so viele noch lebende Beispiele der alten Tugend erblickt, und Lehrer besitzt, die es in der Weisheit früherer Zeiten unterrichten können! Am glücklichsten vor Allen sind aber jene ausgezeichneten Struldbruggs, welche durch Geburt von jenem allgemeinen Unglück der Menschennatur ausgenommen sind, einen freien und ungefesselten Geist besitzen, weil sie die Last und die Niedergeschlagenheit der Todesfurcht nicht kennen. Ich drückte mein Erstaunen aus, daß ich noch keine dieser erlauchten Personen bei Hofe gesehen habe; der schwarze Fleck an der Stirne sey ja ein so auffallendes Zeichen, daß ich dies schwerlich übersehen hätte. Es sey unmöglich, daß ein so verständiger Fürst, wie Seine Majestät, sich nicht mit einer bedeutenden Anzahl solcher weisen und brauchbaren Rathgeber hätte versehen sollen. Vielleicht aber sey die Tugend solcher ehrwürdigen Weisen zu streng für die verdorbenen und freien Sitten eines Hofes; wir sehen ja häufig durch Erfahrung, daß junge Leute zu eigensinnig und flüchtig seyen, um durch den verständigen Rath der älteren sich leiten zu lassen. Da jedoch Seine Majestät mir die Gnade ertheilt habe, den Zutritt zu ihrer königlichen Person zu bewilligen, so sey ich entschlossen, bei der ersten Gelegenheit ihr offen und weitläufig meine Meinung, mit Hülfe meines Dollmetschers, hierüber zu sagen. Ob der König meinen Rath gnädigst annehme oder nicht, so habe ich dennoch in einem Punkte einen festen Entschluß gefaßt. Seine Majestät habe mir häufig eine Versorgung in Ihrem Reiche angeboten. Ich würde mit größter Dankbarkeit diese Gnade annehmen und mein Leben im Gespräch mit jenen uns überlegenen Wesen, den Struldbruggs, zubringen, wenn sie die Güte hätten, mich in ihrer Gesellschaft zuzulassen.

Der Herr, an den ich diese Worte richtete, antwortete mir (wie ich schon bemerkte, verstand er die Sprache von Balnibarbi) mit einem Lächeln, welches gewöhnlich ist, wenn man Unwissenheit bemitleidet: Es sey ihm sehr angenehm, eine Gelegenheit gefunden zu haben, weßhalb ich im Lande bleiben wolle; er bitte mich um Erlaubniß, der übrigen Gesellschaft meine Absicht wieder sagen zu dürfen. Dies geschah; die Anwesenden unterhielten sich in ihrer Landessprache, wovon ich keine Sylbe verstand; auch konnte ich an dem Ausdruck ihrer Züge den Eindruck nicht erkennen, welchen meine Worte bei ihnen erweckt hatten. Nach einem kurzen Schweigen sagte mir derselbe Herr: Seine Freunde und die meinigen (in dieser Art hatte er die Güte sich auszudrücken) seyen sehr erfreut über die verständigen Bemerkungen, die ich über das Glück und die Vortheile des unsterblichen Lebens gemacht habe, und sie wünschten besonders zu erfahren, welchen Lebensplan ich hinsichtlich meiner gebildet hätte, wäre mir das Schicksal zu Theil geworden, als Struldbrugg geboren zu werden.

Ich erwiderte, es sey nicht schwer, bei einem so reichhaltigen und angenehmen Gegenstand Beredtsamkeit zu zeigen; dies sey bei mir hauptsächlich der Fall, da ich mich oft an Visionen ergötzt habe, was ich thun würde wie ich mich z. B. als König, als General, als Lord benehmen würde; auch in dem Fall der Unsterblichkeit hätte ich mir bereits ein System gebildet, wie ich wirken und mir die Zeit vertreiben wolle, im Fall es mir möglich wäre, auf ewig zu leben.

Wäre ich so glücklich gewesen, als Struldbrugg in die Welt zu kommen, so würde ich, wenn ich mein eigenes Glück durch den Unterschied zwischen Leben und Tod erkannt hätte, auf alle mögliche Weise mir Reichthümer zu verschaffen suchen; durch Geschicklichkeit und gute Verwaltung könnte ich alsdann, nach vernünftiger Erwartung, in ungefähr zweihundert Jahren dieselben so sehr vermehren, daß ich der reichste Mann des Königreichs würde; zweitens würde ich mich von meiner frühesten Jugend an mit den Studien der Künste und Wissenschaften beschäftigen, wodurch ich zuletzt dahin gelangen müßte, alle Anderen an Gelehrsamkeit zu übertreffen. Zuletzt würde ich jede Handlung und jedes Ereigniß von Wichtigkeit aufnotiren, die Charaktere der aufeinanderfolgenden Fürsten und Staatsminister und meine Bemerkungen über jede Einzelnheit niederschreiben. Ich würde mir die verschiedenen Veränderungen der Gewohnheiten, Sprachen, Moden,Lebensarten und Vergnügungen merken. Durch alle diese Erwerbungen müßte ich ein lebendiger Schatz der Gelehrsamkeit und Weisheit und sicherlich das Orakel der Nation werden.

Ich würde mich nach sechzig Jahren nicht mehr verheirathen, sondern ein offenes Haus machen, jedoch immer noch Geld sparen. Ich würde den Geist hoffnungsvoller Jünglinge bilden und leiten, und würde sie nach meiner Erinnerung, Erfahrung und Beobachtung durch viele Beispiele von der Nützlichkeit der Tugend im öffentlichen und Privatleben überzeugen. Meine gewöhnliche und fortwährende Gesellschaft würde jedoch in einer Anzahl meiner unsterblichen Brüderschaft bestehen. Ich würde aus diesen ein Dutzend von den ältesten bis auf meine Zeitgenossen auswählen. Wo es Einigen derselben an Vermögen fehlte, würde ich sie mit passenden Wohnungen in der Nähe meines Gutes versehen, und Einige derselben stets an meine Tafel laden. Ich würde alsdann nur wenige der trefflichsten Sterblichen hinzuziehen, deren Verlust ich mit geringem Widerstreben zu ertragen, durch die Zeit verhärtet, erlernen müßte; die Geschlechter der Gegenwart aber in derselben Art behandeln, wie man sich über die jährliche Reihenfolge der Nelken und Tulpen in Gärten erfreut, ohne den Verlust derjenigen zu bedauern, welche im vergangenen Jahre verwelkt sind.

Wir würden uns gegenseitig unsere Bemerkungen und Denkwürdigkeiten über den Lauf der Zeiten mittheilen, Beobachtungen anstellen, wie die Verderbniß sich allmählich einschleicht und bei jedem Schritt ihr widerstehen, indem wir den Menschen immerwährende Belehrung und Warnung gäben. Käme dieser Umstand zu dem starken Einfluß unseres eigenen Beispiels hinzu, so müßte dies die fortwährende Entartung der Menschennatur verhindern, worüber man sich mit so vollem Recht in allen Zeiten beklagt.

Zu allen diesen glücklichen Verhältnissen müßte noch das Vergnügen hinzukommen, daß man die verschiedenen Revolutionen der Staaten und Reiche, die Veränderungen der oberen und niederen Welt bemerkte; daß man alte Städte in Trümmer fallen und unbedeutende Dörfer zu Residenzen sich erheben sehe; daß man erblicken könnte, wie berühmte Flüsse sich zu seichten Bächen verminderten, wie der Ocean die eine Küste verließe und eine andere überschwemmte; wie man bis jetzt unbekannte Länder entdecke, wie Barbarei die feinsten Nationen erdrücke und wie barbarische Völker sich civilisirten. Ich würde alsdann die Entdeckung der geographischen Länge, des Perpetuum mobile, der Universalmedicin und anderer großen Erfindungen noch erleben, welche zur größten Vollkommenheit gelangen müßten.

Wie wunderbare Entdeckungen würde man in der Astronomie machen, welche alsdann unsere eigenen Vorhersagungen überleben oder bestätigen müßten. Man könnte die Wanderungen und die Wiederkehr der Kometen mit dem Wechsel der Bewegung von Sonne, Mond und Sternen beobachten.

Ich sprach noch lange über andere Gegenstände, welche mir der natürliche Wunsch eines endlosen Lebens und einer Glückseligkeit unter dem Monde sehr leicht an die Hand gaben. Als ich geendet hatte, und als der Inhalt meiner Rede, wie vorher, der übrigen Gesellschaft übersetzt worden war, so entstand unter derselben ein langes Gespräch in der Landessprache, verbunden mit einigem Gelächter auf meine Kosten. Zuletzt aber sagte derselbe Herr, welcher mein Dollmetscher war, die übrigen Anwesenden hätten den Wunsch geäußert, er möge mir einige Irrthümer berichtigen, auf die ich durch die allgemeine Schwäche der menschlichen Natur verfallen, und deßhalb auch nicht sehr zu tadeln sey. Diese Race der Struldbruggs sey seinem Vaterlande eigenthümlich, denn es fänden sich solche Leute weder in Balnibarbi noch Japan, wo er die Ehre gehabt habe, Gesandter Seiner Majestät zu seyn; auch habe er dort bemerkt, daß die Einwohner beider Königreiche nicht glauben wollten, jene Thatsache sey möglich. Es scheine ihm, aus meinem Erstaunen, als er die Sache zuerst erwähnte, ich habe dieselbe als eine durchaus neue erfahren, welche man kaum für glaublich halten dürfe.

In den beiden erwähnten Königreichen, wo er während seines Aufenthalts mit einer großen Anzahl Personen in’s Gespräch gekommen sey, habe er bemerkt, langes Leben sey ein allgemeiner Wunsch des Menschengeschlechts. Jeder, dessen einer Fuß schon im Grabe stehe, stemme sich mit dem andern so stark wie möglich noch dagegen. Der älteste Greis hoffe noch einen Tag länger zu leben und betrachte den Tod als ein großes Uebel, welches die Natur ihn fortwährend zu vermeiden zwinge. Nur auf der Insel Luggnag sey die Begierde zum Leben nicht so heftig, weil sie Struldbruggs fortwährend vor Augen hätten. Der von mir aufgestellte Lebensplan sey unvernünftig und ungerecht, weil er eine immerwährende Blüthe der Jugend, Gesundheit und Lebenskraft voraussetze. Kein Mensch könne jedoch so thöricht seyn, diese zu hoffen, wie ausschweifend er auch in seinen Wünschen seyn möge. Die Frage handle sich deßhalb nicht darum, ob ein Mensch stets in der Blüthe der Jugend bei Gesundheit und Reichthum leben möge, sondern wie er ein ewiges Leben mit allen Nachtheilen des Greisenalters führen werde. Zwar wollten wenige Menschen ihren Wunsch, bei so harten Bedingungen unsterblich zu bleiben, eingestehen, er habe jedoch in den beiden vorher erwähnten Königreichen, Balnibarbi und Japan, die Bemerkung gemacht, daß jeder Mensch seinen Tod noch etwas länger verschiebe, wäre sein Leben auch noch so weit hinaufgerückt. Er habe noch nie gehört, ein Mensch sey gern gestorben, ausgenommen in der Aufregung des höchsten Grades von Gram und Körperqual. Er beruft sich auf mich, ob ich nicht in den von mir bereisten Ländern dieselbe allgemeine Neigung vorgefunden habe.

Nach dieser Vorrede gab mir der Herr einen besonderen Bericht über die Struldbruggs im Lande. Er sagte: Jene Menschen handelten wie gewöhnliche Sterbliche bis zum dreißigsten Lebensjahre; hierauf würden sie jedoch melancholisch und niedergeschlagen, und diese Stimmung steige bis zum achtzigsten Jahre. Er habe dies durch ihr eigenes Geständniß erfahren; sonst würde er sich kein allgemeines Urtheil haben bilden können, da nur zwei oder drei in einem Menschenalter geboren würden, und da somit die Zahl der Struldbruggs sehr gering sey. Gelangten sie nun zum achtzigsten Jahre, welches sonst als äußerster Lebenspunkt in diesem Lande angenommen werde, so zeigten sie nicht allein die Thorheiten und Schwächen anderer Greise, sondern noch eine weit größere Anzahl derselben, welche durch die furchtbare Aussicht, niemals zu sterben, bewirkt würden. Sie wären nicht allein eigensinnig, hölzern, habgierig, mürrisch, eitel und geschwätzig, sondern auch der Freundschaft unfähig und für jede natürliche Neigung erstorben, welche nie über ihre Enkel hinaus gehe. Neid und ohnmächtige Begierde seyen ihre überwiegenden Leidenschaften. Hauptsächlich betreffe jedoch ihr Neid diejenigen Gegenstände, welche Laster bei dem jüngeren Geschlecht und Tod bei dem älteren veranlaßten. Gedächten sie der früheren Zeiten, so fänden sie zugleich, daß ihnen jede Möglichkeit des Vergnügens abgeschnitten sey; sähen sie ein Begräbniß, so beklagten und beneideten sie, daß Andere in den Hafen der Ruhe gelangten, von welchem sie selbst auf ewig ausgeschlossen sind. Sie erinnern sich, fuhr der Herr weiter fort, nur an diejenigen Dinge, die sie in ihrer Jugend und in ihrem Mannesalter beobachteten, und auch in diesem Punkte ist ihr Gedächtniß sehr unvollkommen. Was aber die Wahrheit und die Einzelnheiten einer Thatsache betrifft, so ist es besser, sich auf die gewöhnliche Tradition, als auf ihr Gedächtniß zu verlassen. Die unglücklichsten unter den Struldbruggs sind diejenigen, welche kindisch werden und ihr Gedächtniß verlieren; diese erlangen mehr Mitleid und Hülfe, weil sie viele schlechte Eigenschaften, welche man bei den Uebrigen findet, nicht besitzen.

Wenn ein Struldbrugg ein Weib aus seiner Art heirathet, so wird die Ehe nach dem Gesetz des Königreichs aufgelöst, sobald der jüngere Theil das achtzigste Jahr erreicht hat. Nach dem Rechte wird es nämlich für eine billige Nachsicht gehalten, daß denjenigen, welche ohne ihre Schuld dazu verdammt sind, fortwährend in der Welt zu leben, ihr Elend, durch die Last eines Weibes, nicht verdoppelt werde.

Sobald sie das achtzigste Jahr erreicht haben, werden sie als gesetzlich todt betrachtet. Ihre Erben succediren sogleich in ihren Gütern; nur eine kleine Summe wird für ihre Ernährung zurückbehalten, und die ärmeren werden auf Kosten des Staates ernährt. Nach dieser Zeit dürfen sie kein Amt, mit oder ohne Gehalt, verwalten, sie dürfen kein Grundstück kaufen oder pachten; auch wird ihnen nicht erlaubt in irgend einem Civil- oder Kriminal-Proceß als Zeuge aufzutreten, nicht einmal bei der Entscheidung über Gränzen und Marken.

Im neunzigsten Jahre verlieren sie Zähne und Haare; in diesem Alter fehlt ihnen bereits der Geschmack; sie essen und trinken was sie erhalten können, ohne Vergnügen und Appetit. Die Krankheiten, an denen sie früher litten, dauern fort, ohne sich zu vermehren oder zu vermindern. Beim Sprechen vergessen sie die gewöhnlichsten Benennungen der Dinge und die Namen der Personen, sogar derjenigen, welche ihre nächsten Freunde und Verwandte sind. Aus demselben Grunde können sie sich nicht mehr mit Lesen vergnügen, weil ihr Gedächtniß vom Anfange des Satzes bis zum Ende nicht mehr ausreicht; hiedurch werden sie der einzigen Unterhaltung beraubt, deren sie sonst noch fähig seyn könnten.

Da die Landessprache fortwährenden Veränderungen unterworfen ist, so verstehen die Struldbruggs des einen Zeitalters nicht mehr die eines andern. Auch sind sie nach zweihundert Jahren nicht mehr im Stande, irgend ein Gespräch mit ihren Nachbarn, den Sterblichen, zu halten, wenn man wenige Worte ausnimmt. Somit erleiden sie auch den Nachtheil, als Fremde in ihrem Vaterlande zu leben.

Dies war der Bericht, so weit ich mich erinnern kann, der mir von den Struldbruggs gegeben wurde. Nachher sah ich fünf oder sechs von verschiedenen Zeitaltern, welche von einigen meiner Freunde zu verschiedenen Malen mir vorgeführt wurden. Obgleich man ihnen sagte, ich sey ein großer Reisender und habe die ganze Welt gesehen, hegten sie nicht die geringste Neugier um mir nur eine Frage vorzulegen. Sie baten mich nur, ich möge ihnen ein Slumskudask, oder ein Geschenk, zum Andenken geben, und dieses ist eine bescheidene Art des Bettelns, um das Gesetz zu umgehen, welches ihnen Bettelei streng verbietet, weil sie vom Staate unterhalten werden, obgleich sie nur eine sehr kärgliche Nahrung erhalten.

Sie werden von jeder Volksklasse verachtet und gehaßt. Wenn ein Struldbrugg geboren wird, hält man dies für ein böses Vorzeichen. Man kann ihr Alter erfahren, indem man die Register um Rath fragt, welche jedoch nicht über tausend Jahre hinaus gehalten, oder wenigstens durch bürgerliche Unruhen zerstört wurden. Die gewöhnliche Art ihr Alter zu berechnen aber besteht darin, daß man sie frägt, an welche Könige oder große Personen sie sich erinnern können, und daß man alsdann die Geschichte nachschlägt. Dies Verfahren ist untrüglich, denn der letzte Fürst, an den sie sich erinnern, hat seine Regierung vor ihrem achtzigsten Lebensjahre nicht begonnen.

Sie boten mir den scheußlichsten Anblick, der mir jemals vorgekommen ist; die Frauen waren aber noch furchtbarer anzusehen, wie die Männer. Neben den Entstellungen des Alters zeigten sie im Verhältniß zu ihren Jahren eine furchtbare Todtenfarbe, die ich nicht beschreiben kann, und unter einem halben Dutzend erkannte ich bald die ältesten, obgleich nicht mehr wie ein oder zwei Jahrhunderte den Unterschied ihres Alters abgaben.

Der Leser wird mir sehr leicht glauben, daß mein Wunsch, eines fortwährenden Lebens auf Erden, sehr herabgestimmt wurde. Ich schämte mich herzlich der angenehmen Visionen, die ich mir gebildet hatte, und dachte mir, kein Tyrann könne einen so schmerzhaften Tod erfinden, daß ich denselben einem solchen Leben nicht vorziehen möchte. Der König hörte Alles, was zwischen mir und meinen Freunden bei dieser Gelegenheit vorgegangen war, und hatte die Güte, mich hierüber zu necken. Er wünschte, ich könnte ein paar Struldbruggs in mein Vaterland senden, um unser Volk gegen die Todesfurcht zu schützen; dies war aber, wie es schien, durch die Grundgesetze des Königreichs verboten, sonst hätte ich gerne die Last und die Kosten des Transports auf mich genommen.

Ich wußte zugestehen, daß die Gesetze des Königreichs, in Betreff der Struldbruggs, auf Vernunftgründen beruhten, und daß jedes Land, unter ähnlichen Umständen, zu demselben Verfahren würde gezwungen werden. Da nämlich Geiz die nothwendige Folge des Greisenalters ist, so müßten diese Unsterbliche zuletzt die Eigenthümer des Vermögens der ganzen Nation werden und sich dadurch die Regierungsgewalt verschaffen, die sie aus Mangel an Fähigkeiten nicht ausüben könnten, so daß der Untergang des Staates die Folge seyn müßte.

Kapitel 11


Kapitel 11 Der Verfasser verläßt Luggnag und segelt nach Japan. Von dort kehrt er auf einem holländischen Schiffe nach Amsterdam und von dort nach England zurück.

Ich habe geglaubt, mein Bericht über die Struldbruggs könne dem Leser einige Unterhaltung gewähren, weil er etwas Ungewöhnliches enthält. Ich erinnere mich wenigstens niemals etwas Aehnliches in irgend einer Reisebeschreibung, die mir in die Hände gekommen ist, gelesen zu haben. Habe ich mich getäuscht, so muß es zu meiner Entschuldigung gereichen, daß Reisende, welche dasselbe Land beschreiben, häufig bei denselben Umständen verweilen müssen, ohne den Tadel zu verdienen, sie hätten von ihren Vorgängern abgeschrieben.

Es herrscht ein fortwährender Handelsverkehr zwischen diesem Königreich und dem Kaiserthum Japan. Somit ist es wahrscheinlich, daß die japanesischen Schriftsteller von den Struldbruggs etwas berichtet haben. Mein Aufenthalt in Japan aber war so kurz und ich war mit der Sprache so gänzlich unbekannt, daß ich nicht im Stande war, mich darnach zu erkundigen. Ich hoffe jedoch, die Holländer werden nach dieser von mir gegebenen Notiz neugierig und fähig seyn, meinen unvollkommenen Bericht zu erweitern.

Seine Majestät hatte mich oft gebeten, eine Stelle an seinem Hofe anzunehmen, erkannte aber bei mir den festen Entschluß, in mein Vaterland zurückzukehren, und hatte darauf die Gnade, mir die Erlaubniß zur Abreise zu ertheilen, und mich mit einem eigenhändig geschriebenen Empfehlungsbrief an den Kaiser von Japan zu beehren. Seine Majestät schenkte mir ferner vierhundertvierundvierzig große Goldstücke (die ganze Nation findet viel Vergnügen an gleichen Zahlen) und einen rothen Diamant, den ich in England für elfhundert Pfund Sterling verkaufte.

Am 6. Mai 1709 nahm ich von Seiner Majestät und allen meinen Freunden einen feierlichen Abschied. Der König war so gnädig, mir eine Garde bis nach Glanguenstala, dem königlichen Hafen an dem südwestlichen Theile der Insel, zu ertheilen. Nach sechs Tagen war ein Schiff nach Japan segelfertig, worauf ich fünfzehn Tage auf dieser Reise zubrachte. Wir landeten in einer kleinen Hafenstadt mit Namen Xamoschi, welche am südwestlichen Theile von Japan liegt; die Stadt ist auf der westlichen Spitze erbaut, wo eine schmale Meerenge nordwärts in eine Bucht führt, an deren nordwestlichem Theile die Hauptstadt Jeddo sich erhebt. Beim Landen zeigte ich den Zollbeamten meinen Brief des Königs von Luggnag an Seine Kaiserliche Majestät. Sie kannten das Siegel; es war so breit wie meine Hand. Auf demselben war ein König, welcher einen lahmen Bettler von der Erde aufhebt, dargestellt. Als die Beamten der Stadt von meinem Briefe gehört hatten, empfingen sie mich als einen Staatsminister; versahen mich mit Wagen und Dienern und ließen mich bis Jeddo verpflegen, wo ich eine Audienz erhielt und meinen Brief überreichte. Dieser ward mit vielen Ceremonien eröffnet und durch einen Dollmetscher dem Kaiser übersetzt, der mir auf Befehl seiner Majestät die Erklärung gab: ich möge meine Bitte aussprechen, was dieselbe auch betreffe, sie werde mir, aus Rücksicht für seinen königlichen Bruder in Luggnag, gewährt werden.

Dieser Dollmetscher war ein Beamter, welcher die Geschäfte mit den Holländern besorgte. Er vermuthete bald aus meinen Gesichtszügen, ich sey ein Europäer, und wiederholte deßhalb den Befehl des Kaisers auf holländisch, das er vollkommen verstand. Ich erwiderte, wie ich vorher beschlossen hatte: Ich sey ein holländischer Kaufmann, der in einem sehr entfernten Lande Schiffbruch gelitten habe; von dort sey ich zu Land und See nach Luggnag gereist, und endlich nach Japan eingeschifft worden. Ich wisse, daß meine Landsleute dort Handel trieben, und hoffe, durch einige derselben Gelegenheit zur Rückkehr nach Europa zu erlangen. Deßhalb erbitte ich mir die königliche Gunst, daß ich nach Nargasacki gebracht werde.

Hier fügte ich auch noch eine andere Bitte hinzu: Aus Rücksicht auf meinen Beschützer, den luggnagischen König, möge Seine Majestät die Herablassung zeigen, mir die meinen Landsleuten auferlegte Ceremonie zu erlassen, wonach sie das Crucifix mit Füßen treten müßten, Ich sey ja, ohne Absicht Handel zu treiben, durch Unglück in dies Königreich gerathen. Als diese letztere Bitte dem Kaiser übersetzt worden war, schien er ein wenig erstaunt und äußerte: Ich sey der erste meiner Landsleute, welcher in diesem Punkte Bedenklichkeiten geäußert habe; somit hege er Zweifel, ob ich ein wirklicher Holländer, und Verdacht, ob ich ein Christ sey. Wegen der Gründe, die ich angeführt, vorzüglich aber um dem König von Luggnag durch eine besondere Gunstbezeugung gefällig zu seyn, werde er bei meiner sonderbaren Laune sich nachgiebig erweisen. Die Angelegenheit müsse jedoch mit Geschicklichkeit ausgeglichen werden; seine Offiziere würden Befehl erhalten, mich passiren zu lassen, als sey dies durch Vergeßlichkeit geschehen. Er könne mir die Versicherung geben, daß meine Landsleute, die Holländer, mir den Hals unterwegs abschneiden würden, wenn sie dies Geheimniß entdeckten. Ich dankte durch meinen Dollmetscher auf die verbindlichste Weise für eine so außerordentliche Gunstbezeugung. Da nun einige Truppen damals nach Nangasacki marschirten, so erhielt der commandirende Offizier Befehl, mich dorthin in Sicherheit zu bringen, und außerdem noch besondere Instruktionen in Hinsicht des Crucifixes.

Am 9. Juni 1709 war ich in Nangusacki nach einer langen und verdrießlichen Reise angelangt. Ich machte bald Bekanntschaft mit einigen holländischen Matrosen der Amboyna von Amsterdam, einem starken Schiff von vierhundertundfünfzig Tonnen.

Ich hatte in Holland lange gelebt, weil ich in Leyden früher studirte, und verstand deßhalb die Sprache. Die Matrosen erfuhren bald, woher ich zuletzt gekommen war; sie erkundigten sich neugierig nach meinen früheren Reisen und nach meinem Lebenslauf. Ich brachte deßhalb eine Geschichte, so kurz und wahrscheinlich wie möglich, zusammen, verschwieg jedoch das Meiste aus meinem Leben. Ich kannte viele Personen in Holland, und konnte Namen für Verwandte leicht erfinden, von denen ich vorgab, sie beständen aus Leuten niederen Standes in der Provinz Geldern.

Ich hätte dem Kapitän Theodor Vangrult sehr gerne bezahlt, was er mir für die Reise nach Holland abgefordert haben würde. Als er aber erfuhr, ich sey ein Wundarzt, so begnügte er sich, mir die halbe Taxe der Ueberfahrt unter der Bedingung abzuverlangen, daß ich ihm in meinem Berufe diente. Ehe wir unter Segel gingen, wurde mir von einigen aus der Schiffsmannschaft die Frage vorgelegt, ob ich die oben erwähnte Ceremonie bereits ausgeführt hätte. Ich wich dieser Frage durch die allgemeine Antwort aus, ich habe den Kaiser und seinen Hof in jeder Hinsicht zufrieden gestellt. Ein boshafter Schurke von einem Bootsknecht ging aber zu einem Offizier und sagte demselben, indem er auf mich zeigte, ich habe noch nicht auf das Crucifix getreten; der Offizier jedoch, welcher Instruktionen hatte mich durchzulassen, gab dem Schurken zwanzig Hiebe mit einem Bambusrohr, worauf ich dann auch nicht weiter mit solchen Fragen belästigt wurde.

Auf dieser Reise ereignete sich nichts Erwähnenswerthes. Wir segelten mit einem guten Wind zum Kap der guten Hoffnung, wo wir allein anhielten, um frisches Wasser einzunehmen. Am 10. April 1710 kamen wir wohlbehalten in Amsterdam an, nachdem wir drei Mann durch Krankheit auf der Reise und einen vierten durch einen Fall vom Vordermaste verloren hatten. Von Amsterdam segelte ich bald darauf nach England in einem Schiffe aus jener Stadt.

Am 16. April ankerten wir in den Dünen. Ich landete am nächsten Morgen und sah mein Vaterland nach einer Abwesenheit von fünf Jahren und sechs Monaten wieder. Ich ging geradeswegs nach Redriff, wo ich an demselben Tage um 2 Uhr Nachmittags anlangte und meine Frau und Familie in bester Gesundheit fand.

Kapitel 7


Kapitel 7 Des Verfassers Vaterlandsliebe. Er macht dem König einen Vorschlag, der verworfen wird. Des Königs Unwissenheit in Betreff der Politik. Die Gelehrsamkeit von Brobdingnag ist sehr unvollkommen und beschränkt. Gesetze, Militärangelegenheiten und Staatsparteien.

Liebe zur Wahrheit hat mich allein daran verhindert, den eben angegebenen Theil meiner Geschichte zu unterdrücken. Vergeblich zeigte ich mich böse; mein Zorn ward lächerlich gemacht, und ich mußte geduldig anhören, wie mein geliebtes und edles Vaterland so schmählich gemißhandelt wurde. Es thut mir im Herzen leid, und bei meinen Leser wird dies möglicherweise auch der Fall seyn, daß sich dazu Gelegenheit darbot, allein der König war in jedem Punkte so neugierig und legte mir so viele Fragen vor, daß es sowohl der Dankbarkeit wie der guten Sitte widerstrebt hatte, wenn ich ihm nicht alle mir mögliche Aufklärung gab. Jedoch kann ich zu meiner eigenen Rechtfertigung sagen, daß ich mehreren seiner Fragen auswich, jedem Punkte allmählich eine günstigere Wendung gab, welche bei strengster Wahrheitsliebe schwerlich bestehen könnte. Ich habe nämlich stets die lobenswerthe Parteilichkeit für mein Vaterland gehegt, welche Dionysius von Halicarnaß mit so viel Gerechtigkeit den Historikern anempfiehlt. Ich möchte gern die Schwächen und Häßlichkeiten meiner politischen Mutter verhüllen, und ihre Tugenden und Schönheiten im besten Lichte darstellen. Das war mein aufrichtiges Bestreben in den vielen Unterredungen mit dem Könige von Brobdingnag, obgleich der Ausgang derselben unglücklicherweise nicht günstig ausfiel.

Man muß jedoch einem Könige Manches nachsehen, der von der übrigen Welt gänzlich abgeschlossen lebt und der deßhalb mit den Sitten und Gewohnheiten anderer Nationen durchaus unbekannt geblieben ist. Mangel an solcher Kenntniß wird aber stets mancherlei Vorurtheile und engherziges Urtheil zur Folge haben, dessen wir in den civilisirten Theilen Europa’s gänzlich entbehren. Es wäre allerdings ein schlimmer Umstand, sollten die Begriffe eines von der Welt so abgesonderten Fürsten, in Betreff des Lasters und der Tugend, für das ganze Menschengeschlecht als allgemeine Richtschnur gelten.

Um Alles, was ich so eben sagte, zu bestätigen, und um die traurigen Folgen einer beschränkten Erziehung zu zeigen, werde ich hier eine Stelle einschieben, der man schwerlich Glauben schenken wird. In der Hoffnung, Seine Majestät auch ferner günstig für mich zu stimmen, erzählte ich Ihr von einer vor drei- bis vierhundert Jahren gemachten Erfindung. Man verfertige nämlich seitdem ein gewisses Pulver; der kleinste Feuerfunke der in einen Haufen desselben falle, entzünde dasselbe augenblicklich, und bewirke, daß es in die Luft mit einem Geräusch und einer Gewalt auffliege, welche größer als die des Donners seyen, wenn der Haufe auch so groß wie ein Berg wäre. Werde eine passende Masse dieses Pulvers in eine Röhre von Erz oder Eisen, im Verhältnis zur Dicke derselben, eingestopft, so werfe es eine eiserne oder bleierne Kugel mit solcher Gewalt und Schnelligkeit vorwärts, daß Nichts ihrer Kraft widerstehen könne. Die größten so geschossenen Kugeln könnten nicht allein ganze Reihen eines Heeres auf einmal vernichten, sondern sie rissen auch die stärksten Mauern bis auf den Grund nieder und versenkten Schiffe mit tausend Mann Besatzung auf den Boden der See. Würden zwei derselben durch eine Kette verbunden, so zerschnitten sie Masten und Tauwerk, zerrissen die Menschen in der Mitte und würfen Alles vor sich nieder. Wir füllten oft mit diesem Pulver große und hohle eiserne Kugeln, die in eine belagerte Stadt geworfen würden. Alsdann werde das Pflaster von denselben aufgerissen und die Wohnungen zertrümmert; sie platzten, schleuderten Splitter nach allen Seiten hin und schlügen so allen Menschen in der Nähe das Hirn ein. Ich kenne die Bestandtheile, welche gemein und häufig seyen, ganz genau, so wie auch die Art der Bereitung; auch könne ich den Arbeitern Anleitung geben, wie jene Röhren, in dem Verhältnisse zu andern Dingen, im Gebiete Seiner Majestät zu verfertigen wären. Die größten dieser Röhren brauchten nicht über hundert Fuß lang zu seyn; zwanzig oder dreißig derselben, mit einer gehörigen Masse von Pulver und Kugeln geladen, würden die Mauern der stärksten Städte des Königreichs in wenigen Stunden niederschmettern, oder die ganze Hauptstadt zerstören, wenn diese jemals sich erfrechen würde, den unumschränkten Befehlen des Königs sich zu widersetzen. Dies biete ich Seiner Majestät als einen kleinen Tribut der Dankbarkeit für so viele Beweise seiner königlichen Gunst und Beschützung, die ich bereits empfangen.

Der König ward bei der Beschreibung dieser furchtbaren Maschinen und bei dem gemachten Vorschlage von Schauder ergriffen. Er erstaune, waren seine Worte, wie ein so schwaches und kriechendes Insekt, wie ich, so unmenschliche Gedanken hegen könne, mit denen ich so vertraut zu seyn scheine, daß ich bei jenen Scenen des Blutvergießens und der Zerstörung, die ich als die gewöhnlichen Wirkungen der verheerenden Maschinen ausmale, gänzlich unbewegt erscheine. Diese Maschinen könne nur ein böser Geist, ein Feind der Menschheit, erfunden haben. Was ihn selbst betreffe, so müsse er eingestehen, daß er eher sein Königreich verlieren, als jenes Geheimniß wissen möge, obgleich ihn selten etwas so sehr erfreue, wie neue Entdeckungen in Künsten und Wissenschaften; er befahl mir ferner, nie mehr davon zu sprechen, wenn mir mein Leben lieb sey. Welche sonderbare Folge engherziger Grundsätze und Ansichten! Ein Fürst, begabt mit jeder Eigenschaft, welche Verehrung, Liebe und Achtung erweckt; ein Mann von großen Geistesgaben, großer Weisheit, tiefer Gelehrsamkeit, mit bewundernswerthen Talenten, ein Fürst, welcher von seinen Unterthanen beinahe angebetet wird, ließ wegen unnöthiger Gewissenszweifel, von denen man in Europa keinen Begriff hat, eine Gelegenheit entschlüpfen, die ihn zum unumschränkten Herrn über Leben, Freiheit und Vermögen seiner Unterthanen gemacht hätte! Uebrigens sage ich dies nicht in der geringsten Absicht, die vielen Tugenden dieses ausgezeichneten Königs irgend herabzusetzen, über dessen Charakter der europäische Leser, wegen den angeführten Ursachen, eine geringe Meinung fassen wird. Ich glaube jedoch, dieser Mangel entspringt aus der Unwissenheit der Nation von Brobdingnag, da sie die Politik noch nicht zur Wissenschaft ausgebildet hat, wie dies in Europa von den scharfsinnigsten Männern geschehen ist.

Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ich einst dem König in einer Unterredung sagte: Mehrere tausend Bücher seyen bei uns über die Regierungskunst geschrieben. Dies bewirkte bei ihm aber einen ganz entgegengesetzten Eindruck, wie ich beabsichtigte, denn er faßte eine sehr geringe Meinung von unserem Verstande. Er gestand, wie er alle Geheimniskrämerei, Pfiffigkeit und Intriguen bei einem Fürsten oder Minister verachte. Er könne nicht begreifen, was ich unter Staatsgeheimnissen verstehe, wenn kein äusserer Feind oder keine feindlich gesinnte Nation dieselben erfordere. Er schloß die Kenntniß des Regierens in sehr enge Glänzen ein, in die des gesunden Menschenverstandes, der Vernunft, Gerechtigkeit, Milde, der schnellen Entledigung aller Civil- und Kriminal-Processe und einiger anderer Gemeinplätze, deren Wiederholung nicht der Mühe werth ist. Alsdann sprach er als seine Meinung aus, derjenige, welcher bewirke daß zwei Kornähren oder zwei Grashalme mehr wie früher auf irgend einem Boden wüchsen, erwerbe sich ein größeres Verdienst um die Menschheit und erweise seinem Vaterlands einen bedeutenderen Dienst, als das ganze Geschlecht der Politiker.

Die Literatur dieses Volkes ist sehr mangelhaft, denn sie besteht allein aus Moral, Geschichte, Poesie und Mathematik, worin man ihren hohen Standpunkt nicht abläugnen kann. Da aber die Letztere dieser Wissenschaften ausschließlich auf dasjenige angewandt wird, welches im Leben nützlich seyn kann, nämlich auf die Verbesserungen des Ackerbaues und der mechanischen Künste, so würde diese ihre Kenntniß bei uns in nur geringem Ansehen stehen. Was aber Primitivideen, Entitäten, Abstraktionen und Transscendentalbegriffe betrifft, so konnte ich nicht das Geringste hierüber ihren Köpfen eintrichtern.

Kein Gesetz des Landes darf in Worten die Zahl der Buchstaben im Alphabet übersteigen, und dieses besteht allein aus zweiundzwanzig. Wenige Gesetze haben jedoch sogar diese Länge. Sie sind in den deutlichsten und einfachsten Worten geschrieben und die Einwohner von Brobdingnag besitzen nicht genug Scharfsinn, um mehr als eine Auslegung ausfindig zu machen; ferner gilt es auch als Hauptvergehen, einen Commentar über Gesetze zu schreiben. Was die Entscheidung der Civil- und Criminal-Processe betrifft, so sind die Präcedentien von so geringer Anzahl, daß die Nation sich ihrer Fertigkeit in Beiden nicht rühmen darf.

Die Einwohner von Brobdingnag befinden sich, so wie die Chinesen, im Besitz der Buchdruckerkunst seit undenklichen Zeiten. Ihre Bibliotheken sind jedoch nicht sehr groß. Die des Königs, welche für die größte gehalten wird, beträgt nicht mehr als tausend Bände, die in einer Gallerie von eintausendzweihundert Fuß Länge aufgestellt sind. Ich hatte die Erlaubniß erhalten, mir dort Bücher nach Belieben zu leihen. Der Tischler der Königin erfand eine hölzerne Maschine von fünfundzwanzig Fuß Höhe, welche wie eine Doppelleiter verfertigt war, und in einem Zimmer der Glumdalclitch aufgestellt wurde; diese Maschine bestand aus einem beweglichen Treppenpaar, deren niedrigster Theil zehn Fuß von der Wand des Zimmers entfernt, aufgestellt wurde. Das Buch, welches ich lesen wollte, wurde an die Wand gelehnt. Ich stieg auf den Gipfel der Treppe, richtete mein Gesicht dem Buche zu und begann dann oben auf der Seite acht bis zehn Schritte, je nach Verhältniß der Zeilen, fortzuschreiten, damit dieselben ungefähr in gleicher Linie mit meinen Augen stünden. Alsdann stieg ich immer niedriger, bis ich an das Ende der Seite gelangte. In derselben Art verfuhr ich auch mit der andern Seite, nachdem ich das Blatt umgeschlagen hatte, was ich leicht mit beiden Händen ausführen konnte, denn die Blätter waren so dick und steif, wie ein Pappendeckel, und in den größten Foliobänden nicht über achtzehn bis zwanzig Fuß lang.

Der Styl der Schriftsteller ist deutlich, kräftig und fließend, aber durchaus nicht blumenreich. Sie vermeiden nämlich nichts so sehr, als die Anhäufung unnöthiger Worte, oder den Gebrauch verschiedener Ausdrücke. Ich habe mehrere Bücher gelesen, besonders über Geschichte und Moral. Unter andern machte mir eine kleine und alte Abhandlung viel Vergnügen, die stets im Schlafzimmer der Glumdalclitch lag, und ihrer Gouvernante gehörte, einer ernsten alten Dame, welche viele Erbauungsschriften las. Das Buch handelte von der Schwäche des Menschengeschlechtes und steht nur bei Frauen und bei dem geringeren Volke in Ansehen. Ich war jedoch neugierig, was ein Schriftsteller in diesem Lande über einen solchen Gegenstand sagen könne. Der Schriftsteller behandelte alle die gewöhnlichen Gemeinplätze europäischer Moralisten und zeigte, welch ein kleines, hülfloses und verächtliches Thier der Mensch, seiner eigenen Natur überlassen, seye, wie er sich nicht in einem rauhen Klima schützen, und gegen die Wuth wilder Thiere vertheidigen könne; wie sehr ihn das eine Geschöpf in Kraft, das andere in Schnelligkeit, das dritte in Vorsicht, das vierte im Fleiße übertreffe. Der Schriftsteller fügte hinzu: die Natur sey in diesem letzteren Zeitalter ganz entartet, und könne jetzt, in Vergleich mit alten Zeiten, nur kleine Mißgeburten hervorbringen. Man müsse vernünftigerweise annehmen, das Menschengeschlecht sey nicht allein ursprünglich weit größer gewesen, sondern es habe in alten Zeiten auch Riesen gegeben; so wie dies durch Geschichte und Tradition behauptet werde, so sey es durch die ungeheueren Knochen und Schädel erwiesen, die man durch Zufall in den verschiedenen Theilen des Königreichs ausgrabe, und deren Größe das gewöhnliche zusammengeschrumpfte Menschengeschlecht unserer Tage bei weitem übersteige. Der Verfasser glaubte: sogar die Naturgesetze erforderten, daß wir im Anfange größer und stärker gebaut gewesen und dem Untergange bei jedem Zufalle nicht so ausgesetzt gewesen wären, z. B. durch einen vom Dach herunterfallenden Ziegel, durch kleine von bösen Buben geworfenen Steine, oder durch das Hineinfallen in ein Loch. Durch diese Beweisführung kam der Verfasser auf die moralische Anwendung, die im gewöhnlichen Leben nützlich seyn könne, deren Wiederholung hier jedoch unnöthig ist. Was mich betrifft, so konnte ich den Gedanken nicht unterdrücken, das Talent, moralische Vorlesungen zu halten, oder vielmehr Unzufriedenheit und Aerger gleichsam im Zanke mit der Natur zu äußern, sey doch allgemein verbreitet. Wie ich glaube, wird man auch bei uns diese Zänkereien eben so unbegründet, wie bei jenem Volke finden.

Was die Militärangelegenheiten von Brobdingnag betrifft, so besteht die königliche Armee aus 176,000 Mann Infanterie und 32,000 Mann Kavallerie, wenn nämlich ein Heer den Namen einer Armee verdient, welches aus Geschäftsleuten verschiedener Städte und aus den Bauern des Landes zusammengesetzt, und von den höhern Ständen ohne Sold oder Belohnung befehligt wird. Die Truppen sind zwar gut exercirt und stehen unter guter Disciplin, allein darin sah ich kein großes Verdienst. Dies ist nämlich eine ganz natürliche Folge, da jeder Pächter von seinem Gutsherrn, und jeder Bürger von den angesehensten Leuten seiner Stadt befehligt wird, die nach Art der Republik Venedig durch geheime Abstimmung gewählt werden.

Ich habe die Miliz von Lorbgrulgrud zum Exerciren häufig ausrücken sehen, und diese Waffenübungen wurden auf einem großen Felde bei der Stadt, von zwanzig Quadratmeilen Umfang, gehalten. Die Miliz betrug nicht mehr als 25,000 Mann Infanterie und 6,000 Mann Kavallerie. Es war mir aber unmöglich ihre Zahl nach dem Boden, den sie einnahm, zu bestimmen. Ein Reiter auf einem großen Pferde mochte ungefähr neunzig Fuß hoch seyn. Ich habe gesehen, wie diese ganze Masse Kavallerie auf Commando ihre Säbel zog und in der Luft emporschwang. Die Einbildungskraft kann nichts so Großartiges, Ueberraschendes und Erstaunendes ersinnen. Es schien als ob zehntausend Blitze auf einmal von jedem Theile des Himmels herabführen.

Ich wurde neugierig, weßhalb dieser Fürst, dessen Gebiet von jedem andern abgeschlossen ist, eine Armee halte, und sein Volk an militärische Disciplin gewöhne; bald aber erfuhr ich den Grund sowohl durch Gespräch, wie durch Lesen der Geschichtschreiber von Brobdingnag. Viele Menschenalter hindurch litt das Volk an derselben Krankheit, der das Menschengeschlecht überall unterworfen ist; der Adel strebte oft nach Gewalt, das Volk nach Freiheit, der König nach unumschränkter Regierung. Alle diese Umstände, welche freilich durch die Gesetze des Königreichs glücklicherweise gemildert wurden, bewirkten mitunter, daß eine der drei Parteien das Recht verletzte, und daß Bürgerkriege entstanden. Der letzte derselben ward von dem Großvater des regierenden Königs glücklicherweise durch einen allgemeinen Vergleich beendet, und die Miliz, welche damals durch Uebereinstimmung Aller errichtet ward, ist seitdem im strengsten Dienste fortwährend erhalten worden.