Die Tochter des Regiments

Die Tochter des Regiments

»Ein Herr, der von ’ner Tscherkessen-Quadrille keine Ahnung hat, soll einen dazu auch nicht auffordern und alle Leute durcheinanderhetzen.« Das waren Miß McKennas Worte, und die Miene des Feldwebels, der mein Visavis war, besagte das gleiche. Ich hatte Angst vor Miß McKenna. Sie war sechs Fuß groß, nichts als gelbe Sommersprossen und rote Haare, und trug eine unauffällige Toilette – weiße Atlasschuhe, rosa Musselinkleid, apfelgrüne Wollschärpe und schwarze Seidenhandschuhe – außerdem noch gelbe Rosen im Haar. Daher floh ich vor Miß McKenna und suchte meinen Freund, den Gemeinen Mulvaney, auf, der sich in der Kantine bei den Erfrischungen zu schaffen machte.

»Also haben Sie mit der kleinen Jhansi McKenna getanzt – die wo den Unteroffizier Slane heiraten soll? Na, Herr, wenn Sie sich das nächste Mal mit Ihren Grafen und Gräfinnen unterhalten, dann erzählen Sie ihnen nur, daß Sie mit der kleinen Jhansi getanzt haben. Das is was, worauf Sie stolz sein können.«

Aber ich war gar nicht stolz. Im Gegenteil, ich fühlte mich ganz klein. Denn aus des (Gemeinen Mulvaneys Augen leuchtete eine Geschichte; außerdem wußte ich, daß ein allzu ausgedehnter Aufenthalt vor dem Bar-Tisch Mulvaney reif für abermaliges Strafexerzieren machen würde. Nun ist es aber ungemein peinlich, einem geschätzten Freunde zu begegnen, während er in voller Marschrüstung vor der Wachtstube nachexerziert, besonders, wenn man sich zufällig in Begleitung von dessen Regimentskommandeur befindet.

»Kommen Sie nach dem Exerzierplatz, Mulvaney draußen ist’s kühler – und erzählen Sie mir von Miß Mac Kenna. Wer und was ist sie und warum nennt man sie »Jhansi«?

»Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß Sie noch nie von der alten Mutter Pauken ihrer Tochter gehört haben? Un‘ Sie glauben, Bescheid zu wissen! Ich komme gleich nach, sowie ich meine Pfeife angezündet habe.«

Wir gingen hinaus unter den Sternenhimmel. Mulvaney setzte sich auf eine der Lafetten und begann in der üblichen Weise: Pfeife in den Mund geklemmt, die großen Hände verschlungen zwischen den Knien und die Mütze tief in den Nacken geschoben:

»Dazumalen, als die jetzige Frau Mulvaney noch Fräulein Shad hieß, waren Sie, Herr, noch ein gut Teil jünger als heute, und mit der Armee stand’s in mancher Hinsicht auch ganz anders. Heutzutage haben die Jungen keine Lust mehr zum Heiraten, und das is auch der Grund, warum es in der Armee jetzt so viel weniger echte, brave, ehrliche, fluchende, tüchtige Weiber gibt – ’n bißchen elephantenfüssig vielleicht, aber mit dem Herz auf dem richtigen Fleck. Aber damals als ich noch Unteroffizier war – – Ich hab‘ die Tressen später wieder verloren – macht nichts – aber ich war mal Unteroffizier. Dazumalen also lebte und starb ein Kerl noch mit seinem Regiment; und wie’s ganz natürlich war, heiratete er, wenn er Mann wurde. Als ich nun Unteroffizier war – Herrgott noch mal, was im Regiment inzwischen alles geboren und gestorben is – war der alte McKenna Fahnenträger; auch ein verheirateter Mann. Un‘ seine Frau – seine erste Frau – denn er hat dreimal geheiratet, der McKenna – war Bridget McKenna, aus Portarlington wie ich. Ich weiß nich mehr, was ihr Mädchenname war; aber wir von der zweiten Kompagnie nannten sie nur ›Mutter Pauken‹ von wegen ihrer Figur, die vollkommen kreisrund war. Wie die große Trommel! Die Frau nun – der Herrgott schenk‘ ihr die ewige Seligkeit und laß es ihr im Himmel gutgehn! – bekam egal weg Kinder; un‘ McKenna schwor, als das fünfte oder sechste angekommen war und sich brüllend zur Stammrolle meldete, er würde se von nun an numerieren. Aber Mutter Pauken bat ihn, se doch lieber nach den Garnisonen, in denen sie zur Welt kämen, zu taufen. Es gab also Colaba McKenna un‘ Muttra McKenna, ja ’ne ganze Provinz anderer McKennas, un‘ die kleine Jhansi, die wo da drüben tanzt. Wenn die Kinder nich grade geboren wurden, dann starben sie; un‘ sterben unsere Kinder heute wie die Schafe, so starben se damals wie die Fliegen. Meinen eigenen kleinen Shad hab ich auch verloren – aber, tut nichts zur Sache. S‘ is schon lange her, un‘ die Alte hat nie wieder eins gehabt.

Zur Sache. Einen verdammt heißen Sommer kam da so’n Befehl von irgend ’nem hirnverbrannten Idioten, von dem ich den Namen vergessen habe, daß das ganze Regiment in’s Innere vorrücken sollte. Vielleicht wollten se auch bloß wissen, wie die Truppenverschiebungen auf der neuen Eisenbahn funktionierten … Na, sie erfuhren es! Bei Gott, sie erfuhren es, und zwar gründlich, eh se damit fertig waren. Mutter Pauken hatte gerade eben Muttra McKenna begraben; von den ganzen jungen McKennas war in dem ungesunden Sommer nur die kleine Jhansi übrig geblieben, die damals gerade vier Jahre alt war.

In vierzehn Monaten fünf Kinder verloren. Es is ’n bißchen hart, was?

Also wir fuhren in der glühenden Hitze los nach unserer neuen Station – der Teufel fresse den Mann, der den Befehl dazu gab! Ob ich den Transport je vergessen werde? Zwei kurze Züge hatten se uns zugewiesen – un‘ wir waren achthundertundsiebzig Mann stark. Im zweiten Zuge waren die erste, zweite, dritte un‘ vierte Kompanie mitsamt zwölf Frauen – keine Offiziersdamen – un‘ dreizehn Kindern untergebracht. Sechshundert Meilen sollten wir fahren – un‘ Eisenbahnen waren damals noch was Neues. Nachdem wir so ’ne Nacht im Bauche des Zuges gehockt hatten – die Mannschaft sämtlich in Hemdärmeln und rasend vor Durst und saufend, was ihnen unter die Finger kam, un‘ faules Obst runterstopfend, wo se ’s nur erwischen konnten, denn aufhalten konnten wir se nich – damals war ich noch Unteroffizier – brach bei Morgengrauen die Cholera aus.

Beten Sie zum Himmel, daß Sie niemals die Cholera auf ’nem Truppentransport erleben! S’iss wie das Strafgericht Gottes, das am hellichten Tage über einen reinbricht. Wir machten in ’nem provisorischen Lager halt – s‘ hätt‘ das von Ludianny sein können, nur war ’s nich ganz so gemütlich. Der Kommandierende schickte ’n Telegramm dreihundert Meilen landeinwärts mit der Bitte um Hilfe. Wahrhaftig, wir hatten se nötig, denn jede einzelne Seele von den Hilfstruppen nahm Reißaus, sobald der Zug nur stoppte. Bis das Telegramm geschrieben war, war auf der ganzen Station kein Nigger mehr zu finden, ausgenommen den Telegraphenbeamten – un‘ der auch nur, weil er bei seinem dreckigen schwarzen Genick in seinem Stuhle festgehalten wurde. Un‘ dann fing der Tag an mit dem Radau in den Waggons, un‘ mit dem Gepolter der Leute, die mit Waffen und allem Drum und Dran der Länge nach auf den Bahnsteig schlugen, als se vor dem Abmarsch ins Lager zum Appell gerufen wurden. Na, meine Sache is es nich, zu beschreiben, wie so ’ne Choleraepidemie aussieht. Der Doktor hätt ’s Ihnen vielleicht sagen können, wenn er nich auch vom Waggon runter, wo wir die Toten aufluden, auf den Perron gestürzt wäre. Er starb dann mit den anderen. Einige von den Jungens waren noch in der ersten Nacht gestorben un‘ weitere zwanzig waren schwer krank, als wir se rausholten. Un‘ die Frauen standen alle in ’ne Ecke gedrängt un‘ schrien nur so vor Furcht.

Da sagt der Kommandierende – ich hab seinen Namen vergessen –: ›Bringt die Weiber dort rüber nach der Baumgruppe. Schafft sie aus dem Lager raus. Das ist hier kein Platz für sie.‹

Währenddem sitzt Mutter Pauken auf ihrer Matratze und versucht die kleine Jhansi zu beruhigen. ›Marsch, weg mit Ihnen nach den Bäumen da‹ sagt der Offizier. ›Gehen Sie den Leuten aus dem Wege!‹

»Der Satan soll mich holen, wenn ich das tu!« sagt die alte Pauken, un‘ die kleine Jhansi, die neben ihrer Mutter auf der Matratze hockt‘, quakt gleichfalls los: ›Der Satan soll mich holen!‹ Dann wandte sich Mutter Pauken an die Weiber und fährt se an: ›Wollt ihr die Jungens hier krepieren lassen, während ihr Picknicks feiert, ihr Dreckschlampen? Gutes Wasser is, was se brauchen. Los, packt zu!‹

Un‘ damit krempelt se sich die Ärmel auf und marschiert auf einen Brunnen los – die kleine Jhansi mit ’nem Schöpfgefäß un‘ ’ner Strippe immer hinterdrein – un‘ hinter ihr die anderen Weiber, folgsam wie die Lämmer, mit Pferdeeimern und Kochpötten. Als alles Geschirr voll war, marschiert die alte Pauken wieder an der Spitze ihres Weiberregiments ins Lager zurück – ’s war das reinste Schlachtfeld, nur ganz ohne den Ruhm und die Ehre.

›McKenna, mein Jung‘!‹ sagt sie mit ’ner Stimme, die wie so ’n Trompetenstoß klang, ›sag‘ den Jungens, daß se Ruhe halten sollen. Die alte Pauken kommt un‘ sorgt für se – mit ’ner Runde Freibier für alle.‹

Dann schrieen wir Hurrah, un‘ das Hurrah in den Linien war lauter als das Geschrei der armen Teufel, die die Krankheit im Leibe hatten – aber nich so sehr viel lauter.

Sie müssen nämlich wissen, das Regiment war damals noch grün, un‘ wir kannten uns in der Krankheit überhaupt nich aus, un‘ so waren wir zu nichts zu gebrauchen. Die Leute gingen nur immer wie die blöden Schafe im Kreise herum un‘ warteten, bis der nächste umfallen würde, un‘ flüsterten so ganz für sich: ›Was is denn nur los? Im Namen Gottes, was is denn bloß los?‹ Es war furchtbar. Aber derweil marschierte die alte Pauken in einem fort hin un‘ her, her un‘ hin, mit der kleinen Jhansi an ihrem Rockzipfel – wenigstens alles, was von dem Kind noch zu sehen war, denn se hatte sich den Helm von ’nem Toten über den Kopf gestülpt, un‘ der Kinnriemen hing ihr bis auf den kleinen Bauch herab – hin un‘ her mit dem Wasser un‘ mit dem, was an Schnaps vorhanden war.

Von Zeit zu Zeit sagte die alte Pauken, un‘ die Tränen kullerten nur so über ihr dickes, rotes Gesicht: ›Meine Jungens, meine armen, lieben, guten, toten Jungens!‹ Meistens aber versuchte se den Leuten Mut einzureden un‘ se bei der Stange zu halten, un‘ die kleine Jhansi erzählte ihnen in einem fort, morgen früh würde ihnen schon besser sein. Das war so ’n Trick, den se von der alten Pauken aufgeschnappt hatte, als Muttra am Fieber ausbrannte. Morgen früh! Der Morgen, der siebenundzwanzig tüchtigen Leuten aufging, war der ewige Morgen vor den Toren Sankt Peters; un‘ weitere zwanzig Mann lagen da sterbenskrank in der bitteren, brennenden Sonne. Aber, wie gesagt, die Weiber arbeiteten wie die Engel un‘ die Männer wie die Teufel, bis endlich von da oben her zwei Ärzte kamen un‘ wir gerettet waren.

Aber kurz vorher – die alte Pauken lag auf den Knien neben einem Jungen aus meiner Gruppe – im Schlafsaal in der Kaserne war er mein rechter Nebenmann – un‘ hielt ihm das Gotteswort vor, das noch keinen im Stich gelassen hat – un‘ da sagt se plötzlich: ›Haltet mich, Jungens! Ich fühl‘ mich verdammt schlecht!‹ ’s war die Sonne, nich die Cholera, die ’s ihr angetan hatte. Mutter Pauken hatte vergessen, daß se nichts als ihren alten schwarzen Kapotthut aufhatte, un‘ se starb, während ›McKenna, mein Jung‹ se in den Armen hielt, un‘ die Jungens heulten wie die Kinder, als se sie begruben.

Noch in derselben Nacht sprang ’n mächtiger Wind auf, un‘ er blies un‘ blies unsere Zelte einfach um. Aber er blies auch die Cholera weg – keinen einzigen neuen Fall hatten wir die ganze Zeit – zehn Tage, – die wir in Quarantäne lagen. Un‘ Sie mögen’s nun glauben oder nich, aber die Spur, die die Seuche durch das Lager gezogen hatte, glich aufs Haar der Spur eines Mannes, der viermal hintereinander in ’ner doppelten Schleife durch die Zeltgassen gegangen is. Sie sagen, der Ewige Jude führe die Cholera mit sich. Un‘ ich glaube, se haben recht.

»Un‘ das,« bemerkte Mulvaney unlogisch, »is der Grund, warum die kleine Jhansi McKenna is wie se is. Als McKenna starb, wurde se von der Frau des Unterquartiermeisters erzogen, aber gehören tut se der zweiten Kompanie; un‘ die Geschichte, die ich Ihnen eben erzählt habe – mitsamt der richtigen Wertschätzung Jhansi McKennas – die hab ich jedem Rekruten der Kompanie eingebläut. Straf mich, wenn ich Unteroffizier Slane nich so lange verdroschen habe, bis er um se anhielt!«

»Nein, wirklich?«

»Mensch, wahrhaftig! Se is nich gerade eine Schönheit, aber se is der alten Mutter Pauken ihre Tochter, un‘ es is meine Pflicht, für sie zu sorgen. Kurz eh der Slane seine ein Shilling achtzig den Tag kriegte, sag ich zu ihm: ›Slane,‹ sag‘ ich, ›von morgen ab is es Meuterei, wenn ich dich versohle, aber bei der Seele der alten Pauken, die jetzt in der Verklärung weilt, wenn du mir nich dein Wort gibst, daß du auf der Stelle um die Jhansi McKenna anhältst, dann schäl‘ ich dir mit dem Messinghaken das Fleisch von den Knochen, ’s ja ’ne Schande für die zweite Kompanie, daß se so lange ledig geblieben is;« sag ich. »Soll ich mich etwa mit so ’nem grünen Dreijährigen erst noch lange rumstreiten, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe? Fällt mir ja gar nicht ein! Slane is auch gegangen un‘ hat se gefragt. Er is ’n guter Junge, der Slane. Der kommt eines schönen Tags noch in die Intendantur un‘ wird mal in seinem eigenen Einspänner spazierenfahren – dank seiner Ersparnisse. So hab‘ ich der alten Pauken ihre Tochter versorgt! Un‘ jetzt gehen Sie mal hin un‘ tanzen Sie mit ihr.«

Ich gehorchte.

Ich empfand tiefen Respekt vor Miß Jhansi McKenna; und später ging ich auf ihre Hochzeit.

Vielleicht werde ich eines Tages auch davon noch erzählen.

In der Blüte seiner Jugend

In der Blüte seiner Jugend

Als ich von dem lustigen Streich berichtete, den »der Wurm« dem Oberleutnant spielte, versprach ich eine ähnliche, aber jeder Komik bare Geschichte. Hier ist sie.

Dicky Hart wurde in seiner frühen, frühen Jugend gekapert – nicht von Wirtstochter, Dienstmädchen, Barmädchen oder Köchin, sondern von einer jungen Dame so sehr seiner eigenen Klasse und Erziehung, daß nur eine Frau entdeckt hätte, daß sie in der Welt ein ganz, ganz klein wenig unter ihm stand. Dies geschah einen Monat vor seiner Abreise nach Indien und genau fünf Tage nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Das Mädchen war neunzehn – will sagen sechs Jahre älter in den Erfahrungen dieser Welt als Dicky, also – im Augenblick – doppelt so töricht wie er.

Nichts ist so gefährlich leicht – ausgenommen natürlich ein Sturz vom Pferd – wie eine Trauung auf dem Standesamt. Die Zeremonie kostet noch keine fünfzig Shilling und hat eine fatale Ähnlichkeit mit einem Gang aufs Leihhaus. Nach Angabe der Personalien genügen vier Minuten für die übrigen Formalitäten: Unterschriften, Zahlung der Gebühren usw. Zum Schluß fährt der Standesbeamte mit dem Löschpapier über die Namen und sagt grimmig, den Federhalter zwischen den Zähnen: »Jetzt sind Sie Mann und Frau«; und das junge Paar marschiert auf die Straße mit dem Gefühl, daß irgendwo irgend etwas entsetzlich illegal ist.

Aber diese Zeremonie ist trotzdem bindend und kann einen Mann genau so sicher ins Verderben schleifen wie der Fluch: »Bis der Tod euch scheidet«, der regelrecht von den Stufen des Altars gesprochen wird, während kichernde Brautjungfern den Hintergrund ausfüllen und das Kirchenschiff erdröhnt vom Klange: »So nimm denn meine Hände«. Auf jene andere Weise wurde Dicky Hatt gekapert, und er fand die Sache wunderschön, denn soeben hatte er eine Anstellung in Indien erhalten, die vom heimatlichen Gesichtspunkte aus einen geradezu fürstlichen Gehalt mit sich brachte. Die Heirat sollte ein Jahr lang geheimgehalten werden. Dann sollte Frau Dicky Hatt ihm nachreisen, und der Rest ihres Lebens würde ein einziger, goldener Traum sein. So wenigstens wurde der Plan unter den Laternen des Addison-Road Bahnhofs entworfen; und nach kurzen vier Wochen kam Gravesend, und Dicky dampfte seinem neuen Leben entgegen, während sich das Mädchen in einem Dreißig-Shilling-die-Woche, kombinierten Wohn- und Schlafzimmer, Montpelier-Square (Seitengasse des Knightsbridge-Kasernenviertels) die Augen ausweinte.

Aber das Land, in das Dicky reiste, war ein hartes Land, wo »Männer« von einundzwanzig Jahren noch als sehr junge Burschen gelten, und das Leben ungewöhnlich teuer ist. Das Gehalt, das aus einer Entfernung von sechstausend Meilen betrachtet, so stattliche Dimensionen zu haben schien, reichte nicht weit. Besonders wenn Dicky es durch zwei dividierte und mehr als die größere Hälfte nach Nummer 1-6 7/8 Montpelier Square sandte. Einhundertundfünfunddreißig Rupien als Rest von dreihundertunddreißig ist nicht viel zum Leben; aber es war natürlich lächerlich, anzunehmen, daß Mrs. Hatt ewig mit den zwanzig Pfund auskommen könnte, die Dicky von seiner Ausrüstung abgespart hatte. Dicky sah das auch ein und sandte natürlich sofort eine Rimesse, wobei er jedoch ständig im Auge behielt, daß zwölf Monate später siebenhundert Rupien daliegen mußten, um die Überfahrt erster Klasse für ein Dame zu bezahlen. Wenn man zu diesen Bagatellen noch die natürlichen Instinkte eines Jungen hinzurechnet, der in einem neuen Lande ein neues Leben anfängt und sich sehnt, unter die Leute zu gehen und sich zu amüsieren, sowie die Notwendigkeit, sich mühsam in ganz fremde Arbeit einzuarbeiten – das allein sollte eines jungen Burschen Kraft beanspruchen – so wird man einsehen, daß Dicky unter ziemlichen Hindernissen seine Laufbahn begann. Ja, er selbst sah das sogar ein – für zwei, drei Sekunden, trotzdem ahnte er noch nicht den vollen Glanz seiner Zukunft.

Als das heiße Wetter einsetzte, schlangen sich die Ketten fester um ihn und fraßen ihm ins Fleisch. Anfänglich kamen Briefe – ausführliche, sieben Seiten lange, kreuz und quer geschriebene Briefe – von seiner Frau, die ihm erzählten, wie sehr sie sich nach ihm sehnte und was ihnen für ein Himmel auf Erden erblühen würde, wenn sie erst beisammen wären. Dann klopfte wohl irgendein jugendlicher Insasse des Junggesellenheims, in dem Dicky abgestiegen war, an die Tür von Dickys kahlem, kleinem Zimmer, um ihn aufzufordern, doch einmal herauszukommen und sich ein Pferd anzusehen – für ihn absolut das richtige. Aber Dicky konnte sich keine Pferde leisten und mußte das dem anderen auseinandersetzen. Dicky konnte es sich auch nicht leisten, in dem Junggesellenheim zu wohnen, und auch das mußte er auseinandersetzen, ehe er in ein einzelnes kleines Zimmer ganz in der Nähe des Büros zog, in dem er den ganzen Tag über beschäftigt war. Dort wirtschaftete er mit einem Inventar von einem grünen Wachstischtuch, einem Stuhl, einer eisernen Bettstelle, einer Photographie, einem Zahnputzglase – sehr stark und möglichst unzerbrechlich – und einem Kaffeefilter im Werte von sieben Rupien sechs Annas. Mittagessen erhielt er laut Vereinbarung für siebenunddreißig Rupien im Monat, was eine schamlose Übervorteilung bedeutete. Einen Punkah – oder Luftfächer – hatte er nicht, denn ein Punkah kostet monatlich fünfzehn Rupien; aber er schlief auf dem Dache seines Büros mit sämtlichen Briefen seiner Frau unter dem Kopfkissen. Hin und wieder wurde er zum Essen eingeladen, wo er sowohl einen Punkah wie eisgekühlte Getränke bekam. Allein das geschah nicht allzuoft, denn die Leute wollten keinen jungen Burschen bei sich sehen, der allem Anschein nach die Instinkte eines schottischen Seifenkrämers besaß und auf so unerfreuliche Art lebte. An Vergnügungen konnte sich Dicky auch nicht beteiligen, deshalb hatte er keine, außer der Freude, in seinem Bankbuch zu blättern und zu lesen, was darin über »Anleihen gegen genügende Sicherheit« zu lesen war. Die Rimessen schickte er übrigens durch eine Bank in Bombay, so daß niemand an dem Ort, wo er wohnte, etwas von seinen Privatangelegenheiten erfuhr.

Allmonatlich sandte er alles, was er nur irgend hatte erübrigen können, nach Hause, für seine Frau und – für noch etwas anderes, von dem man erwartete, daß es demnächst konkrete Form annehmen und einiges Geld kosten würde.

Etwa um diese Zeit wurde Dicky von einer nervösen, quälenden Furcht befallen, wie sie einen verheirateten Mann mitunter verfolgt, wenn er sich nicht wohlfühlt. Er hatte keinen Anspruch auf Pension. Wie, wenn er nun plötzlich stürbe und seine Frau unversorgt zurückblieb? Dieser Gedanke pflegte sich seiner an stillen, heißen Nächten zu bemächtigen, wenn er oben auf dem Dache lag, bis er ihn schüttelte und sein Herz ihn glauben machte, daß er auf der Stelle an einem Krampf sterben müßte. Auch das ist eine Gemütsverfassung, wie sie kein Junge in seinem Alter kennen dürfte. Das Ganze ist eine Sorge für einen in sich gefestigten, reifen Mann, und unter diesen Umständen machte es den armen, punkahlosen, schwitzenden Dicky Hatt halb verrückt. Dabei konnte er sich niemandem anvertrauen.

Eine gewisse Anzahl Widerstände ist für jeden Mann so notwendig wie für einen Billardball. Beide verrichten gegebenenfalls Wunder. Dicky brauchte sehr dringend Geld und arbeitete wie ein Pferd dafür. Aber natürlich wußten die Leute, die seine Arbeitskraft gekauft hatten, daß ein junger Bursche mit einem gewissen Einkommen sehr behaglich leben kann – und Gehälter sind in Indien eine Frage des Alters, nicht der Leistungen. Wenn dieser spezielle junge Dachs also für zwei arbeiten wollte, Gott – der große Gott Geschäft – verhüte, daß sie es ihm untersagten! Aber der nämliche große Gott verbot auch, ihm in seinem geradezu lächerlich jugendlichen Alter eine Gehaltserhöhung zu gewähren! Dicky verdiente sich daher zwar einige kleine Zulagen – recht anständige für einen grünen Jungen – aber lange nicht ausreichend für Frau und Kind, und viel, viel zu klein für die siebenhundert Rupien Überfahrt, die er und seine junge Frau seinerzeit so leichten Herzens besprochen hatten. Trotzdem mußte er sich wohl oder übel zufriedengeben.

Sein ganzes Geld – er wußte selbst nicht wie – schmolz dank der Rimessen nach der Heimat und der erdrückenden Wechselkurse dahin – und der Ton der Briefe von Hause änderte sich und wurde unzufrieden. »Weshalb wollte er, Dicky, nicht Frau und Kind zu sich nehmen? Er hätte doch sein Gehalt – ein ausgezeichnetes Gehalt – und es sei doch nicht recht von ihm, sich in Indien zu amüsieren. Und würde – könnte er nicht den Wechsel ein wenig erhöhen?« Hier folgte die Liste einer Baby-Ausstattung, so lang wie eine Wucherrechnung. Und Dicky, der sich halb krank sehnte nach seiner Frau und nach dem kleinen Sohn, den er nie gesehen hatte – was wiederum ein Erlebnis ist, das kein Junge seines Alters durchmachen dürfte, – erhöhte den Wechsel und schrieb sonderbare, halb knabenhafte, halb männliche Briefe des Inhalts, daß das Leben doch nicht ganz so vergnüglich sei, und würde die kleine Frau nicht noch ein Weilchen warten? Allein die kleine Frau nahm zwar das Geld bereitwilligst an, murrte aber gegen die Wartezeit, und in ihre Briefe schlich sich ein fremder, harter Ton, den Dicky nicht verstand. Wie sollte er auch, armer Junge!

Später, gerade als man Dicky zu verstehen gegeben hatte, daß eine Ehe nicht nur seine Karriere ruinieren, sondern ihn obendrein seine Stellung kosten würde – man zitierte das Beispiel eines anderen, jungen Burschen, der sich, wie die Redensart lautet, ebenfalls »wie ein Esel benommen hatte« – traf die Nachricht ein, daß Dickys Sohn, sein kleiner, kleiner Sohn, gestorben sei. Dahinter standen vierzig hastig gekritzelte Zeilen einer zornigen Frau, die besagten, daß der Tod hätte vermieden werden können, wenn gewisse kostspielige Dinge ermöglicht worden wären, oder wenn Dicky Mutter und Kind zu sich genommen hätte. Der Brief traf Dicky bis ins Herz; da er aber offiziell zu einem Sohne nicht berechtigt war, durfte er seinen Kummer nicht zeigen.

Wie Dicky sich durch die nächsten vier Monate durchrang und welche Hoffnungen er in seinem Herzen nährte, um sich zur Arbeit zu zwingen, wagt kein Mensch zu sagen. Er kämpfte tapfer weiter, obwohl die Siebenhundert-Rupien-Überfahrt noch immer in weiter Ferne schwamm, und nichts änderte sich an seinem Lebensstil, außer, daß er sich zu einem neuen Kaffeefilter aufschwang. Da war die Last seiner Büro–Arbeit und die Last seiner Rimessen, und das Bewußtsein von seines Jungen Tod, der diesen Jungen vielleicht näher berührte, als es bei einem ausgewachsenen Manne der Fall gewesen wäre; und – härter als alles andere – die Last seiner täglichen Entbehrungen. Grauhaarige Kollegen, die seine Sparsamkeit und seine Gewohnheit, sich alles zu versagen, billigten, gemahnten ihn an den alten, weisen Reim: »Will ein Jüngling es weit bringen in der Kunst, Kunst, Kunst, So fliehe er der Weiber eitle Gunst, Gunst, Gunst.«

Und Dicky, der glaubte, alles durchgemacht zu haben, was ein Mann durchmachen kann, mußte ihnen lachend zustimmen, während die Schlußzeile seines Bankbuches ihm Tag und Nacht im Kopfe herumging.

Und doch sollte er, ehe das Ende kam, noch weiteren Elends innewerden. Es kam ein Brief von der kleinen Frau – die natürliche Folge der anderen Briefe, hätte Dicky es nur gewußt, und der Kehrreim dieses Schreibens lautete: »Durchgegangen ist sie mit ’nem Hübscheren als du!« Er war ein ziemlich merkwürdiges Produkt, ohne Komma und Punkt. Sie dächte gar nicht daran bis in alle Ewigkeit zu warten und das Baby wäre tot und Dicky sei ja nur ein Junge und er würde sie niemals wiedersehen und weshalb hätte er bei der Abfahrt in Gravesend nicht mit dem Taschentuch gewinkt und Gott sei ihr Zeuge daß sie eine schlechte Frau wäre aber Dicky der sich in Indien amüsiere sei noch viel schlechter und der andere Mann bete den Boden unter ihren Füßen an und würde Dicky ihr wohl vergeben, denn sie selber könne ihm nie verzeihen; und weitere Briefe würden sie nicht erreichen.

Statt dem Himmel für seine Freiheit zu danken, lernte Dicky bis ins Kleinste die Gefühle eines gekränkten Gatten kennen – wiederum keineswegs die richtige Erfahrung für einen Jungen seines Alters – denn er sah seine Frau vor sich, wie sie in dem Zimmer für dreißig Shilling in Montpelier Square im Bette geweint hatte, als sein letzter Tag in England anbrach. Worauf er sich in seinem eigenen Bette wälzte und sich die Finger zerbiß. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß sie beide, wenn sie sich jetzt nach zwei Jahren wiederträfen, vielleicht inzwischen ganz neue, andere Menschen geworden wären. Theoretisch hätte er daran denken sollen. So aber verbrachte er die Nacht nach dem Eintreffen des englischen Postschiffes in ziemlichen Schmerzen.

Am nächsten Morgen spürte Dicky Hatt keine Lust zur Arbeit. Er sagte sich ganz logisch, daß er sich die Freuden der Jugend hatte entgehen lassen. Er war müde und hatte sämtliche Nöte des Lebens noch vor seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre kennengelernt. Seine Ehre war beim Teufel – hier rührte sich in ihm der Mann – und jetzt wollte er auch zum Teufel gehen – das war wieder der Junge, der aus ihm sprach. So neigte er den Kopf auf das grüne Wachstischtuch und weinte, ehe er auf seine Stellung und auf alles, was sie ihm bot, verzichtete.

Doch jetzt kam der Lohn für seine Dienste. Man bot ihm drei Tage Bedenkzeit, und der Chef seines Büros sagte nach einigem Hin- und Hertelegraphieren, es sei zwar ein ganz ungewöhnlicher Schritt, aber in Berücksichtigung der außerordentlichen Fähigkeiten, die Mr. Hatt zu dieser und jener Zeit gezeigt hätte, sei er in der Lage, ihm eine ungleich höhere Stellung anzubieten – zu Anfang nur auf Probe, später jedoch, bei natürlichem Verlauf der Dinge, für dauernd. »Und wie hoch ist dieser Posten dotiert?« fragte Dicky. »Mit sechshundertundfünfzig Rupien,« antwortete langsam der Chef, in der festen Erwartung, den jungen Mann vor Dankbarkeit und Freude zusammenbrechen zu sehen.

Jetzt hatte er es also erreicht! Genug für die Siebenhundert-Rupien-Überfahrt, und genug, um seine Frau und den kleinen Sohn zu retten! Dicky brach in brüllendes Gelächter aus – in ein Gelächter, das stärker war als er – ein häßliches, disharmonisches Gelächter, das augenscheinlich kein Ende nehmen wollte. Als er sich schließlich wieder in der Gewalt hatte, sagte er vollkommen ernst: »Ich habe die Arbeit satt. Ich bin ein alter Mann geworden. Es ist Zeit, daß ich mich zurückziehe, und ich werde gehen.«

»Der Junge ist verrückt geworden«, sagte der Chef.

Ich glaube, er hatte recht: Dicky Hatt jedoch ist nie wieder aufgetaucht, um diese Frage zu entscheiden.

Schweine

Schweine

Ich glaube, die Differenz entstand durch ein Pferd mit etwas heimtückischem Charakter, das Pinecoffin an Nafferton weiterverkaufte, und das Nafferton beinahe das Genick gebrochen hätte. Es können auch noch andere Gründe mitgespielt haben, ab er das Pferd war der offizielle Vorwand. Nafferton war sehr aufgebracht, allein Pinecoffin lachte nur und meinte, er hätte ja niemals für des Gauls Gesittung garantiert. Nafferton lachte gleichfalls, erklärte aber, er würde seinen Sturz Pinecoffin schon noch heimzahlen, und wenn er fünf Jahre warten müsse. Nun wird zwar ein Flachländer aus der Skiptoner Gegend zur Not eine Kränkung verzeihen, wenn er mit einem blauen Auge davonkommt, ein Mann aus South-Devonshire jedoch ist ungefähr so weich und nachgiebig wie ein Dartmoorer Sumpf. Man kann schon aus ihren Namen ersehen, daß Nafferton rassenmäßig Pinecoffin gegenüber im Vorteil war. Nafferton war ein merkwürdiger Mensch mit einer etwas grausamen Auffassung von Humor. Er lehrte mich eine neue und ungemein fesselnde Art der Jagd kennen. Er jagte Pinecoffin von Mithankot bis Jagadri und von Gurhaon bis Abbotabad – kreuz und quer durch den Pandschab, eine ziemlich ausgedehnte und stellenweise recht trockene Provinz. Er erklärte, er dächte gar nicht daran, es sich gefallen zu lassen, daß hochgestellte Beamte von der indischen Regierung ihm »einen Satan« in Form eines hundsgemeinen, verrückt gewordenen Bauernpferdes verkauften. Er würde dem Betreffenden das Leben schon sauer machen.

Die meisten Beamten von Pinecoffins Klasse entwickeln, wenn sie ihre erste heiße Jahreszeit in Indien glücklich hinter sich haben, eine Neigung für irgendeine spezielle Tätigkeit. Die jungen Leute mit gesundem Magen hoffen, ihre Namen in großen Lettern an die Grenzpfähle zu schreiben und lassen sich nach gottverlassenen Nestern wie Bannu und Kohat versetzen. Die Magenleidenden dagegen suchen sich in das Sekretariat hinaufzuschwingen, was wiederum für die Galle höchst ungesund ist. Noch andere werden von einer Manie für Distriktsarbeit, Ghuzni-Münzen und persische Poesie befallen. Und andere wieder, die aus einer Agrarfamilie stammen, entdecken, daß der Geruch der Erde nach der Regenzeit ihnen ins Blut geht und daß sie dazu berufen sind, »die Hilfsquellen der Provinz zu erschließen«. Diese Männer sind Enthusiasten. Pinecoffin gehörte ihrer Kategorie an. Er wußte eine Menge Tatsachen, z.B. über die Kosten von Zugochsen, von temporären Brunnenanlagen und von Mohnquetschen, und was alles passiert, wenn man, in der Hoffnung einen ausgenutzten Boden zu düngen, auf dem Felde zu viele Abfälle verbrennt! Pinecoffin stammte wirklich aus einer Landmannsfamilie: das Land forderte in ihm also nur seinen Sohn zurück. Unglücklicherweise – für Pinecoffin sollte es tatsächlich ein Unglück werden – war er aber im Hauptberuf Beamter. Nafferton beobachtete ihn und dachte dabei an das Pferd. Nafferton erklärte: »Jetzt passen Sie mal auf, wie ich den Burschen herumhetze, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht.« »Sie können einem Beamten von Pinecoffins Range niemals zu Leibe rücken,« entgegnete ich. Aber Nafferton antwortete nur, ich hätte die Eigenheiten unserer Provinzialverwaltung nicht begriffen.

Unsere Verwaltung hat in der Tat ihre merkwürdigen Seiten. Sie ist überschäumend liebenswürdig in der Gewährung von Informationen allgemeiner und landwirtschaftlicher Natur und wird jeden, der sie höflich darauf anredet, mit allen möglichen »ökonomischen Statistiken« versorgen. Ein Beispiel! Jemand interessiert sich für die Goldwäscherei an den Sandbänken des Sutlej. Er zieht an dem betreffenden Draht und entdeckt, daß er ein halb Dutzend Departments aus ihrem Schlummer aufgerüttelt hat. Zum Schluß steht er dann plötzlich in brieflicher Verbindung mit einem Mann, sagen wir, in der Telegraphenverwaltung, der früher einmal, als er beim Telegraphenbau in jener Gegend des Reichs beschäftigt war, einige Aufzeichnungen über die Gebräuche der Goldwäscher hinterlassen hat. Dieser ist dann entzückt oder auch nicht entzückt über den Befehl, seine sämtlichen Kenntnisse zu Papier zu bringen und dem Fragenden zur Verfügung zu stellen. Das hängt von seinem Temperament ab. Je mächtiger man ist, um so größer die Informationen, die man erhält, und die Scherereien, die man zu verursachen in der Lage ist.

Nafferton war kein mächtiger Mann; aber er genoß den Ruf, sehr »seriös« zu sein. Es war einmal ein »seriöser« Mann, der beinah – – aber ganz Indien kennt jene Geschichte. Ich weiß eigentlich nicht genau, worin das »Seriössein« in Wahrheit besteht. Eine ganz anständige Imitation läßt sich dadurch erzielen, daß man seine Kleidung vernachlässigt, in einer träumerischen, versonnenen Weise herumlungert, Büroarbeit mit nach Hause nimmt, nachdem man bis sieben Uhr im Büro geblieben ist, und an Sonntagen scharenweise gebildete Inder bei sich empfängt. Das ist die eine Art, »seriös« zu sein.

Nafferton schaute sich also nach einem Haken um, an dem er seine Art Seriosität aufhängen konnte, sowie nach dem Draht, um mit Pinecoffin in Verbindung zu treten. Er fand beides in der Form von Schweinen. Nafferton begann sich ernsthaft für Schweine zu interessieren. Er teilte der Regierung mit, er hätte einen Plan ausgearbeitet, nach dem ein großer Prozentsatz der Britischen Armee in Indien bei starker Kostenersparnis von Schweinefleisch ernährt werden könnte. Dann ließ er durchblicken, Pinecoffin könnte ihm vielleicht »die verschiedenen Auskünfte geben, die zur korrekten Durchführung eines derartigen Projektes erforderlich sind«. Die Regierung schrieb daher auf der Rückseite von Naffertons Brief: »Mr. Pinecoffin wird hiermit instruiert, Mr. Nafferton mit allen, ihm zur Verfügung stehenden Informationen zu versehen.« Regierungen neigen in einer geradezu verhängnisvollen Weise dazu, Schriftstücke mit Bemerkungen zu verzieren, die früher oder später zu Unruhe oder Verwicklungen führen.

Nafferton hatte nicht das leiseste Interesse an Schweinen, aber er wußte, Pinecoffin würde in die Falle stolpern. Pinecoffin war förmlich entzückt, über Schweine zu Rate gezogen zu werden. Das Schwein spielt landwirtschaftlich in Indien ja nicht gerade eine bedeutende Rolle, aber Nafferton machte es Pinecoffin klar, daß man dem abhelfen könnte, und setzte sich mit besagtem jungen Manne direkt in Verbindung.

Vielleicht glaubt man, daß sich aus dem Gegenstand »Schwein« nicht viel herausholen läßt. Das hängt ganz davon ab, wie man zu Werke geht. Da Pinecoffin ein Zivilbeamter war und die Sache von Grund auf zu behandeln gedachte, begann er mit einem Essay über das primitive Schwein, über die Mythologie des Schweines und über das drawidische Exemplar dieser Gattung. Nafferton legte seine Auskunft – siebenundzwanzig Folioseiten lang – zu den Akten – und verlangte jetzt statistische Angaben über das Vorhandensein von Schweinen im Pandschab, und wie die Tiere das heiße Wetter vertrügen. Von diesem Punkte an gebe ich hier lediglich die nackten Umrisse der Affäre – sozusagen die Rüstseile des riesigen Geflechts wieder, in das Nafferton Pinecoffin verstrickte.

Pinecoffin zeichnete eine farbige Karte der Schweinebevölkerung Indiens und sammelte Informationen über die Lebensdauer von Schweinen: a) in den submontanen Gegenden des Himalayas, b) im Rechna Doab. Das bot Veranlassung zu ethnologischen Abschweifungen über Schweinehirten im Allgemeinen und entlockte Pinecoffin ausführliche Tabellen über die Verteilung pro Tausend jener Kaste unter der Bevölkerung des Derajat. Nafferton legte auch dieses Bündel zu den übrigen Akten und setzte Pinecoffin auseinander, die Zahlen, die er haben wollte, bezögen sich auf die Cis-Sutlej Staaten, wo seinen Auskünften zufolge Schweine ganz besonders groß und fett würden und wo er seine Züchterei ins Leben zu rufen beabsichtige. Inzwischen hatte die Regierung ihre Instruktionen an Pinecoffin längst vergessen. Sie gleicht darin den Leuten in dem Gedicht von Keats, die eine gutgeölte Maschinerie zur Menschenschindung betreiben. Aber Pinecoffin hatte gerade erst begonnen, sich für die Schweinejagd zu erwärmen, was Nafferton wohl wußte. Zwar hatte er genug eigene Arbeit zu bewältigen, aber er setzte sich jetzt des nachts hin, um das Thema »Schwein« auf fünfstellige Dezimalzahlen zu reduzieren – alles um der Ehre seiner Behörde willen. Er wollte es nicht auf sich sitzen lassen, in einer so einfachen Sache wie Schweinezucht als Ignorant zu erscheinen.

Die Regierung schickte ihn in einer Sondermission nach Kohat, um eine Untersuchung über die großen, sieben Fuß langen, eisenbeschlagenen Spaten jenes Bezirks anzustellen. Die Bevölkerung hatte zur Abwechslung angefangen, sich mit diesen friedlichen Werkzeugen totzuschlagen, und die Regierung wünschte zu wissen: »ob eine modifizierte Form derartiger landwirtschaftlicher Instrumente nicht versuchs- und vorübergehenderweise unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung eingeführt werden könnte, selbstverständlich ohne in unnötigem und übertriebenem Maße die unter der Bauernschaft herrschenden religiösen Gefühle zu verletzen.«

Dank dieser Spaten und Naffertons Schweinen fühlte sich Pinecoffin ziemlich überlastet.

Nafferton begann jetzt folgendes Thema aufzugreifen: a) die Ernährung des inländischen Schweines vom Standpunkt der Verbesserung seiner Anlage als Fleischformer, b) die Akklimatisation des ausländischen Schweins unter Aufrechterhaltung seiner Charaktermerkmale.« Pinecoffin antwortete erschöpfend, daß das ausländische Schwein in dem inländischen aufgehen müßte und zitierte als Beleg Statistiken aus der Pferdezucht. Diese Nebenfrage mußte von Pinecoffin sehr ausführlich behandelt werden, ehe Nafferton zuzugeben bereit war, daß er sich im Irrtum befände und auf das Hauptthema zurückkam. Als Pinecoffin sich über fleischbildende Substanzen und Fibrine, Glykosen und nitrogene Bestandteile von Mais und Luzerne völlig ausgeschrieben hatte, schnitt Nafferton die Kostenfrage an. Inzwischen war Pinecoffin aus Kohat zurückgerufen worden und hatte sich eine eigene Schweinetheorie gebildet, die er auf fünfunddreißig Folioseiten auseinandersetzte. Nafferton legte sie gewissenhaft zu den übrigen Akten und – verlangte mehr.

Diese Dinge nahmen zehn Monate in Anspruch, und Pinecoffins Interesse an Naffertons künftiger Schweinezucht schien im Augenblick, da er seine eigenen Ansichten formuliert hatte, zu erkalten. Aber Nafferton bombardierte ihn mit Briefen über »die Bedeutung dieses Planes für das Indische Reich im Hinblick auf die Verstaatlichung des Schweinehandels unter gleichzeitiger Berücksichtigung der religiösen Empfindungen der mohammedanischen Bevölkerung Oberindiens.« Er erriet, daß Pinecoffin sich nach seinen knifflichen, tüpfeligen Dezimaldetails zu einer breiten, freihändigen Arbeit würde hingezogen fühlen. Pinecoffin behandelte denn auch diese neueste Entwicklung der Schweinefrage in geradezu überlegener Weise und bewies eindeutig, daß »ein Überkochen der Volksseele nicht zu befürchten sei«. Nafferton bemerkte, die gesammelten Erfahrungen des Zivilbeamtentums wären in der Tat für die Beantwortung derartiger Fragen von unschätzbarem Werte und lockte ihn auf einen Seitenpfad – »die eventuellen Gewinne, die der Regierung aus einem Verkauf von Schweineborsten zufließen dürften«. Nun gibt es eine umfangreiche Literatur über Schweineborsten, ja der Schuh-Bürsten und Pinselhandel kennt mehr Varietäten von Schweineborsten, als man für möglich halten sollte. Leicht verwundert über Naffertons unersättlichen Wissensdurst übersandte ihm Pinecoffin eine einundfünfzig Seiten lange Monographie über »Produkte des Schweines«. Das brachte ihn unter der behutsamen Führung Naffertons direkt auf die Fabriken von Cawnpore, auf den Handel mit Schweinehäuten für das Sattlergewerbe und weitergreifend auf die Gerbereien. Pinecoffin schrieb, Granatapfelsamen wäre das beste Gerbemittel für Schweinshäute und ließ durchblicken – die letzten vierzehn Monate hatten ihn wirklich ein wenig ermüdet – Nafferton möchte seine Schweine »doch lieber erst züchten, ehe er ihnen die Häute gerbe«.

Nafferton kam jetzt auf Punkt zwei seiner fünften Frage zurück. »Wie kann bei dem ausländischen Schwein die gleiche Fleischmenge erzielt werden wie im Abendlande, unter gleichzeitiger Heranzüchtung des außerordentlich charakteristischen Borstenkleides seines orientalischen Verwandten?« Pinecoffin war wie betäubt; er hatte inzwischen vergessen, was er sechzehn Monate vorher geschrieben hatte und fürchtete die erneute Aufrollung des ganzen Fragenkomplexes. Er war bereits zu sehr in dem wirren Knäuel verstrickt, um seinen Rückzug zu bewerkstelligen, daher schrieb er in einem schwachen Moment: »Ziehen Sie meinen ersten Brief zu rate.« Dieser bezog sich auf das drawidische Schwein. In Wahrheit hatte Pinecoffin, da er bei der Frage der Rassetypen abgezweigt war, noch nicht einmal den Akklimatisationskomplex erreicht.

Jetzt erst demaskierte Nafferton seine schwere Batterie! In majestätischer Sprache beschwerte er sich bei der Regierung über »die geringe Unterstützung«, die ihm bei seinem ernsten Versuch, »eine potentiell remunerative Industrie in Gang zu bringen« zuteil würde, sowie über die »Frivolität«, mit der seine Bitten um Information von einem Herrn behandelt würden, »dessen pseudogelehrte Meriten ihn zum mindesten den primären Unterschied zwischen der drawidischen und Berkshire Varietät des Genus Sus gelehrt haben sollten«. Ferner schrieb er: »Habe ich zu verstehen, daß der Brief, auf den der betreffende Herr mich verweist, in Wahrheit seine Ansichten über die Akklimatisation eines wertvollen, wenn auch zugestandenermaßen unsauberen Tieres wiedergibt? In diesem Falle wäre ich zu meinem Bedauern gezwungen, anzunehmen« usw. usw.

In dem Departement für Rüffelerteilung war gerade erst ein neuer Mann an die Spitze getreten. Dem unglücklichen Pinecoffin wurde daher zu verstehen gegeben, die Behörden seien für das Land und nicht das Land für die Behörden da, und er möchte sich gefälligst endlich daran machen, einiges Material über Schweine beizubringen.

In einem Anflug von Geistestrübung antwortete Pinecoffin, er hätte so ziemlich alles, was es über Schweine zu sagen gäbe, bereits gesagt und habe im Gegenteil auf Urlaub Anspruch.

Pinecoffin verschaffte sich eine Abschrift dieses Briefes und schickte sie mitsamt dem Essay über das drawidische Schwein an eine fremde Provinzzeitung, die beides ungekürzt abdruckte. Das Essay war ziemlich prätentiös. Hätte der Zeitungsredakteur jedoch die Stöße von Papier, bedeckt mit Pinecoffins Handschrift, gesehen, die Nafferton auf seinem Schreibtisch aufgestapelt hatte, er hätte sich weniger sarkastisch ausgelassen über »die verschwommene Weitschweifigkeit und den krassen Dünkel modernen, streberischen Beamtentums, und dessen totale Unfähigkeit in der Erfassung wesentlicher, praktischer Gesichtspunkte bei praktischen Fragen«.

Es ist bereits eingangs erklärt worden, daß Pinecoffin einer weichlichen Rasse angehörte. Dieser letzte Schlag erschreckte und erschütterte ihn. Er begriff ihn nicht, aber er fühlte, irgendwie hatte Nafferton ihn schändlich verraten. Er erkannte, daß er sich ohne zwingenden Grund in die Schweinshaut hatte einwickeln lassen und daß er sich andererseits auch nicht vor seiner Regierung zu rechtfertigen vermochte. Außerdem erkundigten sich seine sämtlichen Freunde bei ihm nach seiner »verschwommenen Weitschweifigkeit und seinem krassen Dünkel«! Das machte ihn vollends unglücklich.

So setzte er sich auf den Zug und fuhr zu Nafferton, den er seit Beginn der Schweineaffäre nicht wiedergesehen hatte. Er nahm auch den Ausschnitt aus der Zeitung mit und schimpfte in einer hilflosen Art herum und warf Nafferton allerhand wenig schmeichelhafte Ausdrücke an den Kopf, bis alles in einem matten, wäßrigen Protest von der »Es–ist–wirklich–nicht–nett–von–Ihnen« Sorte erstarb.

Nafferton zeigte außerordentliches Mitgefühl.

»Ich fürchte, ich habe Ihnen wirklich erhebliche Scherereien gemacht, nicht wahr?«

»Scherereien?« jammerte Pinecoffin, »Die Scherereien sind mir noch relativ gleichgültig, obwohl sie wirklich schlimm genug waren; wogegen ich mich sträube, ist dies Hineinzerren der Öffentlichkeit. Das wird mir ja während meiner ganzen Karriere wie eine Klette anhaften. Dabei habe ich wirklich mein möglichstes getan für ihre unersättlichen Schweine. Es ist wirklich nicht nett von Ihnen, bei Gott nicht!«

»Ich weiß nicht,« entgegnete Nafferton, »sind Sie eigentlich schon mal mit einem Pferde hereingelegt worden? Mir ist der Geldverlust ja so ziemlich gleichgültig, obwohl der natürlich an sich schlimm genug war; wogegen ich protestiere ist der Spott, der sich darnach über einen ergießt, besonders seitens des Kerls, der einen hereingelegt hat. Aber ich glaube, jetzt sind wir quitt.«

Pinecoffin fand hierauf keine Antwort, er vermochte nur zu schimpfen. Und Nafferton lächelte ungemein liebenswürdig und lud ihn zu Tisch.

Im Hause Suddhoos

Im Hause Suddhoos

Suddhoos Haus unweit vom Taksali-Tor hat zwei Stockwerke, vier geschnitzte Fenster aus altem braunen Holz und ein flaches Dach. Man erkennt es an den fünf roten Handabdrücken auf der weißen Kalkwand zwischen den oberen Fenstern, ganz in der Stellung der Karo-Fünf. Im unteren Stock wohnen Bhagwan Daß, der Kornhändler, und ein Mann, der sich angeblich seinen Lebensunterhalt mit Stempelschneiden verdient, samt einer Schar von Weibern, Dienern, Freunden und Anhängern. Die beiden oberen Räume hatten früher Janoo und Azizun inne, mit einem kleinen schwarz und braun gefleckten Terrier, den ein Soldat einem Engländer gestohlen und Janoo geschenkt hatte. Heute wohnt nur noch Janoo in den oberen Räumen. Suddhoo schläft jetzt gewöhnlich oben auf dem Dache, wenn er nicht auf der Straße nächtigt. Früher pflegte er in der kalten Zeit nach Peschawar auf Besuch zu seinem Sohne zu gehen, der am Edwardstor mit Raritäten handelt, und dann schlief er unter einem wirklichen Lehmdach. Suddhoo ist mein guter Freund, denn sein Vetter hat einen Sohn, der dank meiner Empfehlung bei einer großen Firma unseres Ortes erster Markthelfer geworden ist. Suddhoo sagt, Gott wird mich eines Tages zum Vizegouverneur machen. So Gott will, wird diese Prophezeiung sich erfüllen. Suddhoo ist sehr, sehr alt, hat weißes Haar und kaum noch einen Zahn. Er hat seinen Verstand überlebt. Er hat fast alles überlebt, nur nicht die Liebe zu seinem Sohn. Janoo und Azizun sind Kashmiris, – sie sind viel auf der Straße – und geben einem seit altersher mehr oder minder ehrenwerten Berufe nach. Später hat Azizun einen Studenten der Medizin aus Nordwestindien geheiratet und führt seither ein höchst achtbares Leben irgendwo in der Nähe von Bareilly. Bhagwan Daß ist ein Wucherer und Fälscher. Er ist sehr reich. Der Mann, der vorgeblich seinen Lebensunterhalt mit Stempelschneiden verdient, heuchelt tiefe Armut. Mehr braucht man von den vier Hauptbewohnern des Hauses Suddhoos nicht zu wissen. Ich bin zwar auch noch da, aber ich bin nur der Chor, der zum Schluß auftritt, um alles zu erklären. Ich werde daher nicht mitgerechnet.

Suddhoo war nicht klug. Der Mann, der angeblich Stempel schnitt, war – denn Bhagwan Daß konnte nur lügen – der Klügste von allen, ausgenommen Janoo. Sie war außerdem schön. Aber das geht uns nichts an.

Suddhoos Sohn in Peschawar bekam Rippenfellentzündung, und der alte Suddhoo war in großer Sorge. Der Stempelschneider hörte von seiner Besorgnis und schlug Kapital daraus. Er stand auf der Höhe seiner Zeit. Er beauftragte einen Freund in Peschawar, ihm täglich die Krankheitsberichte zu telegraphieren. Und damit beginnt die Geschichte.

Der Sohn von Suddhoos Vetter teilte mir eines Abends mit, daß Suddhoo mich zu sprechen wünsche; daß er aber zu alt, zu gebrechlich sei, um zu mir zu kommen, und daß das Haus Suddhoos in alle Ewigkeit geehrt sein würde, wenn ich zu ihm käme. Ich fuhr also hin. Suddhoo hätte einem zukünftigen Vizegouverneur wirklich bei seiner damaligen Wohlhabenheit ein besseres Fuhrwerk schicken können als eine Ekka, die schrecklich stieß und rüttelte, wenn er ihn schon an einem feuchten Aprilabend in die Stadt schleifen mußte. Die Ekka fuhr nicht gerade schnell. Es war tiefe Nacht, als sie der Tür des Grabmales Ranjit Singhs gegenüber nahe am Haupttor der Festung anhielt. Suddhoo erwartete mich und sagte, daß ich dank meiner Leutseligkeit ganz ohne Zweifel Vizegouverneur werden würde, ehe noch mein Haar ergraute. Wir sprachen eine Viertelstunde lang unter dem Sternenhimmel über das Wetter, über meine Gesundheit und über die Weizenernte.

Endlich kam Suddhoo zur Sache. Er erklärte, daß Janoo ihm gesagt hätte, es gäbe eine Regierungsverfügung gegen Zauberei, weil man fürchte, Zauberei könne eines Tages den Tod der Kaiserin von Indien herbeiführen. Ich kannte die Gesetze nicht, aber ich ahnte, daß sich etwas Interessantes begeben würde. Daher sagte ich, daß die Regierung weit davon entfernt sei, die Zauberei zu mißbilligen, daß sie sie im Gegenteil besonders empfehle; die höchsten Staatsbeamten übten sie selber aus. (Wenn der Finanzbericht keine Zauberei ist, dann weiß ich nicht, was überhaupt Zauberei sein soll.) Und dann sagte ich zu seiner Beruhigung, daß ich, falls eine Zauberei im Gange sei, nicht das mindeste dawider hätte; ich würde sie gerne gutheißen und unterstützen, ja sogar darauf achten, daß es »Reine Jadoo« – guter Zauber – bliebe, wohl zu unterscheiden vom bösen Zauber, der den Menschen den Tod brächte. Es dauerte lange, bis Suddhoo zugab, daß er mich gerade darum hergebeten hatte. Ruckweise und mit zitternder Stimme erzählte er mir, daß der Stempelschneider ein durchaus guter Zauberer wäre. Er gäbe ihm tagtäglich Nachricht von seinem kranken Sohne in Peschawar, Nachrichten schneller als Blitze, die immer von den Briefen bestätigt würden. Außerdem hätte er gesagt, daß seinem Sohne große Gefahr drohe, die durch »Guten Zauber« und – natürlich – nur mit Aufwand großer Geldmittel behoben werden könnte. Ich fing an zu verstehen, wie der Hase lief, und sagte Suddhoo, ich verstünde auch ein wenig Zauberei, allerdings nach den Regeln des Westens, und ich wollte mit ihm in sein Haus gehen und achten, daß alles recht und ordnungsgemäß zuginge. Wir zogen zusammen los, und unterwegs berichtete mir Suddhoo, daß er dem Stempelschneider schon ein – zweihundert Rupien bezahlt hätte, und daß der heutige Zauber noch zweihundert Rupien kosten würde. Und das wäre doch billig, sagte er, bei der großen Gefahr, die über seinem Sohne schwebte. Ich glaube nicht, daß er diesen Ausspruch aufrichtig meinte.

Die Lampen vorn am Hause waren alle verhängt, als wir kamen. Aus dem Laden des Stempelschneiders drangen entsetzliche Töne, als stöhne sich jemand die Seele aus dem Leib. Suddhoo zitterte am ganzen Körper und sagte mir, während wir uns die Treppe hinauftasteten, daß der Zauber begonnen hätte. Janoo und Azizun erwarteten uns oben an der Treppe und teilten uns mit, daß die Zauberei in ihren Räumen vor sich gehen würde, weil da mehr Platz wäre. Janoo ist eine Freidenkerin. Sie flüsterte mir zu, der Zauber wäre ein Vorwand, um Suddhoo Geld zu erpressen, und der Stempelschneider würde nach seinem Tode wohl an einen feurigen Ort kommen. Der alte Suddhoo weinte vor Furcht und Schwäche. Er ging im Halbdunkel durch das Zimmer auf und nieder, und wiederholte immer und immer wieder den Namen seines Sohnes. Er fragte Azizun, ob der Stempelschneider den Preis nicht ermäßigen müßte, da er doch sein Hauswirt wäre. Janoo zog mich in die Nische eines der geschnitzten Bogenfenster. Die Fensterläden waren geschlossen, und nur eine winzige Öllampe brannte im Zimmer. Wenn ich mich still verhielt, konnte ich unmöglich bemerkt werden.

Nach einer Weile hörte das Stöhnen unten auf, und wir hörten Schritte auf der Treppe. Es war der Stempelschneider. Er stand vor der Tür still, und der Terrier schlug an. Azizun tastete nach der Kette, und er rief Suddhoo zu, er solle das Licht ausblasen. Völlige Dunkelheit herrschte im Zimmer, bis auf den rötlichen Schein von Janoos und Azizuns glimmenden Wasserpfeifen. Der Stempelschneider trat ein, und ich hörte, wie Suddhoo sich auf den Fußboden niederwarf und stöhnte. Azizun hielt den Atem an, und Janoo erschauderte und trat zurück auf eines der Betten zu. Metall klirrte, und eine blasse, blaugrüne Flamme schoß vom Boden empor. Es wurde gerade hell genug, daß ich in eine Zimmerecke gekauert Azizun mit dem Terrier auf dem Schoß sehen konnte. Janoo saß mit gefalteten Händen vornübergebeugt auf dem Bett. Suddhoo lag bebend mit dem Gesicht auf dem Boden. Und der Stempelschneider – –

Hoffentlich wird mir eine Gestalt wie die des Stempelschneiders nicht noch einmal im Leben zu Gesicht kommen. Er war nackt bis zu den Hüften und trug einen faustdicken Jasminkranz um die Stirn, einen fleischroten Schurz um die Lenden und Stahlringe an den Fußgelenken. Aber all das war nicht das Furchtbare. Sein Gesicht ließ mir das Blut erstarren. Blaugrau war es, die Augen waren verdreht, daß nur noch das Weiße schimmerte; es war das Antlitz eines Dämons, eines Grabgespenstes, es war alles, nur nicht das Gesicht des schlauen, geschmeidigen alten Fuchses, der tagsüber unten an seiner Drehbank saß. Er lag auf dem Leib, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, als hätte man ihn in Fesseln zu Boden geworfen. Kopf und Hals allein waren hochgereckt. Sie standen fast rechtwinklig zum Körper, wie der Kopf einer Kobra, die gerade emporschnellen will. Es war grauenvoll. Mitten im Zimmer stand auf dem nackten Lehmboden ein großes, tiefes Messingbecken, und in seiner Mitte wieder schwamm wie ein Nachtlicht ein blasses, blaugrünes Licht. Dreimal wand sich der Mann auf dem Boden um das Becken. Wie er das tat, weiß ich nicht. Ich sah die Muskeln längs der Wirbelsäule kraus und wieder glatt werden, aber eine andere Bewegung sah ich nicht. Außer den langsam und schwer arbeitenden Rückenmuskeln, die wie Wellen auf und nieder gingen, schien nur noch der Kopf Leben zu haben. Janoos hastige Atemzüge klangen vom Bett her. Azizun hielt sich die Hände vor die Augen, und der alte Suddhoo wischte den hängengebliebenen Staub aus seinem weißen Bart und weinte vor sich hin. Das furchtbarste war, daß das schleichende Wesen geräuschlos herumkroch – völlig geräuschlos. Es dauerte – man bedenke, – zehn Minuten lang, während der Terrier winselte, Azizun zitterte, Janoo keuchte und Suddhoo weinte.

Ich fühlte, wie sich mir das Haar sträubte und mein Herz wie der Kolben einer Maschine hämmerte. Zum Glück verriet sich der Stempelschneider gerade mit seinem kunstvollsten Kniff und gab mir so meine Ruhe wieder. Er blies nämlich nach der dritten unbeschreiblichen Umkreisung des Messingbeckens einen Feuerstrahl durch die Nase. Nun weiß ich aber, wie man Feuer speit – ich kann es auch – und fühlte mich erleichtert. Die ganze Sache war also Schwindel. Weiß der Himmel, was ich alles geglaubt hätte, wenn er sich mit dem Kriechen begnügt hätte, ohne den Versuch, stärkere Wirkungen zu erzielen. Die beiden Mädchen schrien auf vor dem Feuerstrahl. Des Stempelschneiders Kopf schlug mit dem Kinn dumpf auf den Boden, und nun lag sein Leib da mit schlaffen Armen wie ein Leichnam. Fünf Minuten war Ruhe, und die blaugrüne Flamme erstarb. Janoo bückte sich und rückte einen Knöchelring zurecht, während Azizun den Terrier in die Arme nahm und sich der Wand zudrehte. Mechanisch griff Suddhoo nach Janoos Wasserpfeife. Sie schob sie ihm mit dem Fuß zu. Gerade über des Stempelschneiders Körper hingen an der Wand zwei Papprahmen mit den grellen Bildern der Königin und des Prinzen von Wales. Sie blickten herab auf das Schauspiel und ließen es noch possenhafter erscheinen.

Als die Stille unerträglich zu werden begann, drehte sich der Körper, rollte vom Becken zur Wand hin und blieb mit dem Leib nach oben liegen. In dem Becken ging es »Plum«, gerade wie wenn ein Fisch nach einer Fliege schnappt, und das grüne Licht in der Mitte lebte wieder auf.

Ich blickte nach dem Becken hin und sah den verschrumpften, runzeligen Kopf eines Hindukindes mit offenen Augen, offenem Mund und glatt geschorenem Haar im Wasser auf und nieder tauchen. Das Kriechen vorher war nicht so schlimm, weil es nicht so unerwartet kam. Ehe wir ein Wort sagen konnten, hob der Kopf an zu reden.

Selbst der, der Poes Bericht über die Stimme des magnetisierten Sterbenden kennt, wird nicht halb das Grauen nachfühlen können, das die Stimme dieses Kopfes schuf.

Zwischen jedem Wort war eine Pause von ein bis zwei Sekunden, und das helle »Ping-Ping-Ping« glich dem Ton einer Tischglocke. Einige Minuten tönte es fort, als gälte es nur sich selbst, und erst allmählich trat mir der kalte Schweiß wieder zurück. Ich fand die glückliche Lösung. Ich blickte auf den Körper neben der Tür, und sah den Muskel zwischen Hals und Schulter, der mit dem regelrechten Atem eines Menschen nichts zu tun hat, gleichmäßig zucken. Das Ganze war nichts als eine genaue Wiedergabe des ägyptischen Teraphim, von dem man zuweilen liest, und die Stimme ein so geschicktes und erschreckendes Bauchrednerstückchen, wie man es sich nicht besser wünschen kann. Der Kopf schlug immerwährend plätschernd gegen den Rand des Beckens und redete. Er sprach Suddhoo, der wieder winselnd mit dem Gesicht am Boden lag, von der Krankheit seines Sohnes und von ihrem Verlauf bis zum Abend des gleichen Tages. Ich werde es dem Stempelschneider nie vergessen, daß er sich so folgsam an die Telegramme aus Peschawar hielt. Er erzählte, daß Tag und Nacht erfahrene Ärzte über dem Leben des Sohnes wachten, und daß er genesen könnte, wenn der Lohn für den mächtigen Zauberer, dessen Diener der Kopf im Becken sei, verdoppelt würde.

Vom künstlerischen Standpunkt aus lag darin der Fehler. Das Doppelte des bedingten Lohnes fordern, ist lächerlich, wenn man es mit einer Stimme tat, wie sie der auferstandene Lazarus gehabt haben mochte. Janoo, die wirklich eine Frau von männlichem Verstande ist, erkannte das gleichzeitig mit mir. Sie flüsterte verächtlich: »Asli Nahm! Fareib!« Und im selben Augenblick verlosch das Licht im Becken, der Kopf verstummte, und die Tür knarrte in den Angeln. Janoo schlug Licht und zündete die Lampe an. Kopf, Becken und Stempelschneider waren verschwunden. Suddhoo rang die Hände und klagte allen, die ihm zuhörten, daß er nicht noch einmal zweihundert Rupien aufbringen könnte, und wenn auch seine ewige Seligkeit davon abhängen sollte. Azizun hatte förmlich hysterische Anfälle in ihrer Ecke, während Janoo sich gelassen aufs Bett setzte, um zu erörtern, ob das Ganze nicht doch nur Mache – ein »Bunao« – sei.

Ich erklärte ihr, so gut ich konnte, den Zauber des Stempelschneiders. Aber ihre Beweise waren viel einfacher. »Zauber, der stets bezahlt sein will, ist kein echter Zauber«, sagte sie. »Meine Mutter hat immer gesagt, daß auch ein Liebeszauber nur wirksam ist, wenn er als Liebesdienst gegeben wird. Der Stempelschneider ist ein Lügner und ein Teufel. Und wäre ich Bhagwan Daß, dem Kornhändler, nicht zwei goldene Ringe und einen teueren Knöchelring schuldig, dann wollte ich schon Anzeige machen und sorgen, daß er bestraft wird. Aber ich wage es nicht, denn ich muß mein Essen bei Bhagwan Daß kaufen, und der Stempelschneider ist sein Freund und würde es mir vergiften. Schon zehn Tage dauert der närrische Zauber, und er hat Suddhoo jede Nacht viele Rupien gekostet. Bis heute hat der Stempelschneider immer nur schwarze Hennen und Zitronen und alte Zaubersprüche benutzt. Was er heute getan hat, hat er noch nie getan. Azuzin ist eine Närrin; sie wird bald einen Frauenschleier tragen. Suddhoo hat den Verstand und alle Kraft verloren. Sieh, ich hatte gehofft, von Suddhoo viele Rupien zu bekommen, solange er lebte, und noch mehr nach seinem Tode. Aber siehe da, er gibt sein Alles hin an den Sproß eines Teufels und einer Eselin, an diesen Stempelschneider.«

»Warum zog mich Suddhoo denn mit in diese Sache?« warf ich ein. »Ich könnte ja mit dem Stempelschneider reden, und dann müßte er alles zurückerstatten. Das Ganze ist eine Kinderei, eine Schande, ein Unsinn.«

»Suddhoo ist nun einmal ein altes Kind«, sagte Janoo. »Da hat er nun siebzig Jahre oben auf den Dächern gelebt und ist so dumm wie eine junge Ziege. Er hat von Ihnen wissen wollen, ob er auch nicht etwa ein Gebot der Regierung übertrete, deren Brot er vor vielen Jahren gegessen. Er betet den Staub auf den Füßen des Stempelschneiders an, und dieser Nimmersatt hat ihm verboten, den Sohn zu besuchen. Was weiß denn auch Suddhoo von den Gesetzen und von der Blitzpost. Und ich muß mit ansehen, wie er sein Geld tagtäglich an den Lügenhund da unten wegwirft.«

Janoo stampfte mit dem Fuß auf und weinte fast vor Wut. Suddhoo wimmerte im Winkel unter einer Decke, und Azizun versuchte, dem alten Narren die Pfeife in den Mund zu schieben.

*

Heute liegt die Sache folgendermaßen: ich habe mich gedankenlos der Beschuldigung ausgesetzt, dem Stempelschneider dazu verholfen zu haben, Geld unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu erwerben. Und das verbietet Paragraph 420 des Indischen Strafgesetzbuches. Ich bin also nicht ohne Grund hilflos. Ich kann der Polizei keine Anzeige erstatten, denn ich habe keine Zeugen für meine Aussagen. Janoo weigert sich entschieden, und Azizun weilt irgendwo in der Nähe von Bareilly, unauffindbar in dem großen Indien. Ich selbst wage es nicht, selbst Gesetz zu spielen und mit dem Stempelschneider zu reden. Denn ich bin fest überzeugt, bei Suddhoo keinen Glauben zu finden, und außerdem würde dieser Schritt Janoos Vergiftung nach sich ziehen, die ihre Schuld mit Hand und Fuß an den Kornhändler fesselt. Suddhoo ist kindisch. So oft wir uns begegnen, redet er murmelnd über meinen dummen Witz, daß die Regierung die schwarze Kunst eher begünstige als verbiete. Sein Sohn ist jetzt gesund, aber Suddhoo steht noch immer vollständig im Banne des Stempelschneiders, nach dessen Rat er sein Leben einrichtet. Janoo muß tagtäglich zusehen, wie der Stempelschneider das Geld einheimst, das sie Suddhoo abschmeicheln zu können gehofft hatte; und sie wird tagtäglich wütender und verdrossener. Sie wird nie reden, weil sie es nicht wagt. Aber, wenn sie nicht durch irgend etwas abgehalten wird, wird der Stempelschneider, fürchte ich, wohl Mitte Mai an der Cholera sterben, an der Choleraart, die weißes Arsenik zum Erreger hat. Und ich werde zum Mitschuldigen werden an einem Morde im Hause Suddhoos.

Drei Walzer – – und eine Extratour

Drei Walzer – – und eine Extratour

In der Ehe tritt immer eine Reaktion ein, manchmal eine starke, manchmal eine schwache, aber früher oder später kommt sie. Sie muß von ihr und von ihm überwunden werden, wenn sie beide ihr ferneres Leben lang nicht gegen den Strom schwimmen wollen.

Bei den Cusack-Bremmils trat die Reaktion erst im dritten Ehejahre ein. Selbst in der besten Zeit war Bremmil schwer zu fesseln gewesen. Aber, bis das Baby starb, war er doch ein idealer Gatte. Mrs. Bremmil ging in Schwarz, magerte ab und trauerte, als wenn dem Weltall der Boden ausgefallen wäre. Bremmil hätte sie vielleicht trösten sollen. Er versuchte es wohl auch; allein je mehr er tröstete, um so mehr grämte sich Mrs. Bremmil, und um so ungemütlicher fühlte sich folglich Bremmil. Tatsache war es, daß sie beide einer Arznei bedurften. Und das Heilmittel kam. Heute kann Mrs. Bremmil darüber lachen, aber damals erschien ihr die Sache gar nicht lächerlich.

Mrs. Hauksbee erschien nämlich auf der Bildfläche; und wo die hinkam, blieben Unruhe und Aufregung meistens nicht aus. In Simla nannte man sie die »Sturmschwalbe«; allein meines Wissens nach hatte sie sich diesen Beinamen schon fünfmal verdient. Sie war eine kleine, brünette, schlanke, mehr als schlanke Frau mit großen, lebhaften veilchenblauen Augen und den reizendsten Manieren von der Welt. Man konnte ihren Namen bei keinem Nachmittagstee erwähnen, ohne daß nicht jede Frau im Zimmer aufstand und – – nun, nicht gerade Segen auf ihr Haupt herabflehte. Sie war klug, witzig, geistvoll und sprühender als die meisten Frauen, aber von allen Teufeln der Bosheit und des Mutwillens besessen. Sie konnte nett sein, sogar zu ihrem eigenen Geschlecht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bremmil ging seiner Wege nach dem Tode des Babys und nach der allgemeinen Ungemütlichkeit, die dem folgte. Und Mrs. Hauksbee nahm ihn in Beschlag. Sie legte keinen Wert darauf, ihre Eroberungen zu verheimlichen. Sie nahm ihn öffentlich in Beschlag und sah darauf, daß man es sah. Er ritt mit ihr, er ging mit ihr spazieren, er plauderte mit ihr, machte Ausflüge mit ihr und frühstückte mit ihr bei Feliti, bis man die Stirne runzelte und »shocking« rief! Mrs. Bremmil blieb zu Hause, kramte unter den Sachen ihres toten Kindes und weinte über der leeren Wiege. Sie wollte von nichts anderem wissen. Aber schließlich machte ihr doch ein halb Dutzend guter Freundinnen ihre Lage klar, damit ihr ja nicht das Beste daran verloren ginge. Mrs. Bremmil nahm es ruhig hin und bedankte sich für den Liebesdienst. So klug wie Mrs. Hauksbee war sie nicht, aber sie war nicht dumm. Sie behielt alles für sich und sprach auch Bremmil nicht von dem, was sie gehört hatte. Das sollte man sich merken. Reden halten, oder über einen Mann weinen, hat noch nie genützt.

Wenn Bremmil zu Hause war, was selten geschah, war er zärtlicher als gewöhnlich; und dadurch zeigte er seine Karten. Die Zärtlichkeit sollte einerseits sein Gewissen, andererseits Mrs. Bremmil beschwichtigen. Beides mißlang.

Da wurden »Mr. und Mrs. Cusack-Bremmil zum 26. Juli 9½ Uhr nach Peterhoff gebeten. Im Auftrag Ihrer Exzellenzen Lord und Lady Lytton, der diensttuende Adjutant.« In der linken Ecke unten: »Es wird getanzt.«

»Ich kann nicht gehn,« sagte Mrs. Bremmil. »Es ist zu kurz – – die arme kleine Florrie – – Aber das braucht ja dich nicht abzuhalten, Tom.«

Im Augenblick meinte sie, was sie sagte, und Bremmil erwiderte, er wolle schon hingehen, natürlich nur, um die Form zu wahren. Er sagte die Unwahrheit, und Mrs. Bremmil wußte es. Sie ahnte, – – und die Ahnungen einer Frau sind zuverlässiger als eines Mannes Gewißheit, – – daß er von Anfang an hatte gehen wollen, und zwar mit Mrs. Hauksbee. Sie saß und überlegte, und das Ergebnis dieser Überlegung war die Erkenntnis, daß das Andenken eines toten Kindes die Zuneigung eines lebenden Gatten bei weitem nicht aufwiegt, Sie entwarf ihren Plan und setzte ihr Alles darauf. In jener Stunde wurde ihr klar, daß sie Tom Bremmil bis ins Tiefste kannte, und diese Erkenntnis setzte sie in die Tat um.

»Tom,« sagte sie, »am 26. abends bin ich bei Longmores zu Tisch. Willst du nicht lieber im Klub essen?«

Damit ersparte sie Bremmil eine Ausrede, mit der er sich zum Essen mit Mrs. Hauksbee hatte frei machen wollen. Er war ihr dankbar dafür, kam sich aber zugleich kleinlich und schlecht vor. Und das schadete ihm nichts. Bremmil verließ das Haus um fünf Uhr, um auszureiten. Gegen halb sechs kam ein großer lederüberzogener Korb von Phelps für Mrs. Bremmil. Sie war eine Frau, die sich zu kleiden verstand; und sie hatte nicht umsonst eine Woche damit zugebracht, dies Kleid zu entwerfen, es zu schneiden, säumen, versteifen, es bauschen und rauschen machen zu lassen, oder wie die Ausdrücke alle heißen mögen. Es war ein pompöses Kleid, – Halbtrauer natürlich. Ich kann’s nicht beschreiben, aber die »Queen« hätte es eine »Creation« genannt. Es war ein niederschmetterndes, atemberaubendes Kleid. Sie ging nicht gerade mit Mut an die Ausführung ihres Planes. Aber als sie vor dem großen Spiegel stand, mußte sie sich mit Genugtuung gestehen, daß sie nie in ihrem Leben so gut ausgesehen hatte. Sie war eine große Blondine und hatte, wenn sie wollte, eine prachtvolle Haltung.

Nach dem Essen bei Longmores ging sie auf den Ball nicht allzufrüh – und traf in der Tür Bremmil, Mrs. Hauksbee am Arm. Ihr Blut wallte auf, und sie sah einfach herrlich aus, als sich die Herren um ihre Tanzkarte rissen. Sie vergab alle Tänze, bis auf drei, und die ließ sie frei. Mrs. Hauksbee fing von ihr einen Blick auf und wußte, daß er Krieg zwischen ihnen bedeutete, Krieg bis aufs Messer. Sie ging schon etwas benachteiligt in den Kampf, denn sie hatte Bremmil ein ganz klein wenig zu viel herumkommandiert, und er fing gerade an, es lästig zu finden. Überdies war ihm seine Frau nie so reizvoll erschienen. Er staunte sie von der Saalecke aus an, er starrte ihr von den Gängen aus nach, wenn sie mit ihren Tänzern vorbeiging, und je mehr er starrte, um so mehr nahm sie ihn gefangen. Er konnte kaum glauben, daß das dieselbe Frau war, die mit roten Augen und im wollenen Trauerkleide morgens über dem Frühstückstisch weinte.

Mrs. Hauksbee tat ihr Bestes, ihn auf ihrer Seite zu behalten, aber schon nach den nächsten zwei Tänzen ging er zu seiner Frau über und bat sie um einen Tanz.

»Ich fürchte, Sie kommen zu spät, Mister Bremmil,« sagte sie mit schelmisch blitzenden Augen.

Er mußte um einen Tanz betteln und erhielt schließlich als große Gunst den fünften Walzer. Glücklicherweise war der fünfte auf seiner Karte frei.

Sie tanzten zusammen, und durch den Saal ging eine leise Bewegung. Bremmil hatte eine dunkle Ahnung gehabt, daß seine Frau tanzen könne, aber daß sie so göttlich tanze, war ihm neu. Nach dem ersten Walzer erbat er einen zweiten – selbstverständlich als große Gunst, nicht etwa als sein Recht. Und Mrs. Bremmil sagte: »Zeig mir deine Tanzkarte, mein Schatz.« Er zeigte sie ihr, wie ein Schuljunge seinem Lehrer verbotene Süßigkeiten aushändigt. Sie war mit H.’s besät, auch bei der Tischführung stand ein H. – Mrs. Bremmil sagte gar nichts, aber sie lächelte verächtlich und strich mit dem Bleistift Nummer 7 und 9, – zwei H.s, – aus und gab sie ihm mit ihrem Namen, – einem Kosenamen, den nur sie und er gebrauchten, – zurück. Dann drohte sie ihm mit dem Finger und sagte lachend: »Du dummer, dummer Kerl!«

Mrs. Hauksbee hatte das gehört und fühlte, daß sie den Kürzeren gezogen hatte, wie sie später gestand. Bremmil nahm den siebenten und neunten dankbar an. Den siebenten tanzten sie, den neunten versaßen sie in einem der kleinen Zelte. Was Bremmil sagte, und auch was Mrs. Bremmil sagte, geht keinen von uns etwas an.

Als die Musik »The Roast Beef of Old England« zu spielen begann, gingen die beiden auf die Veranda, und Bremmil sah sich nach dem »Dandy« (es war noch vor der Zeit der Rickshaws) seiner Frau um, während sie in der Garderobe war. Mrs. Hauksbee erschien und sagte: »Sie führen mich doch zu Tisch, Mr. Bremmil?« Bremmil wurde rot und sah dumm aus: »Ach – – hm! Ich gebe mit meiner Frau nach Hause, Mrs. Hauksbee. Es muß wohl ein Mißverständnis vorliegen.« Als Mann redete er natürlich so, als wenn Mrs. Hauksbee ganz allein daran schuld wäre.

Mrs. Bremmil kam aus der Garderobe in einem Schwanenfedermantel mit einem duftigen weißen Schal um den Kopf. Sie strahlte, und sie hatte auch guten Grund dazu.

Das Paar verschwand in der Dunkelheit. Bremmil ritt sehr nahe an dem Dandy.

Dann sagte Mrs. Hauksbee zu mir, – sie sah im Lampenlicht etwas welk und abgespannt aus –: »Glauben Sie mir, die dümmste Frau kann einen klugen Mann lenken, aber es muß schon eine sehr kluge Frau sein, die mit einem Narren fertig wird.«

Dann gingen wir zu Tisch.

Seine Ehefrau

Seine Ehefrau

Schreit Mordio auf dem Markt, und wer
Trifft nicht des angsterfüllten Nachbars Blick,
Der fragt: »Bist du der Mann? – Wir hetzten Kain
Vor tausend Jahren durch die Welt;
Das schuf die Furcht der eignen Missetat, die heut
Noch steht.

Vibarts Sittenlehre.

Shakespeare spricht einmal von Würmern, vielleicht auch von Fliegen oder Käfern, die sich krümmen, wenn sie allzu hart getreten werden. Das sicherste ist also, niemals einen Wurm zu treten, nicht einmal den jüngsten Leutnant, der gerade von Hause gekommen ist, dessen Uniformknöpfe kaum aus dem Seidenpapier heraus sind, und dessen Backen noch strotzen vom Saft der heimischen Braten. Hier folgt die Geschichte eines Wurms, der sich krümmte. Der Kürze halber wollen wir Henry Augustin Ramsay Faizanne den Wurm nennen, obwohl er in Wirklichkeit ein äußerst hübscher Junge war. Er hatte noch kein Härchen im Gesicht und dazu die Taille eines jungen Mädchens, als er zum zweiten indischen Jägerregiment kam, wo man ihn weidlich quälte. Die »Jäger« sind ein höchst vornehmes Regiment, und wer gut mit ihnen auskommen will, muß mancherlei verstehen: Banjo spielen, und nicht nur einigermaßen gut reiten, singen oder schauspielern können.

Der Wurm konnte weiter nichts, als vom Pony fallen und mit seinem Gespann Splitter vom Torpfosten stoßen. Aber selbst das wurde mit der Zeit eintönig. Er liebte das Whist nicht, stieß Löcher ins Billard, sang falsch, blieb zu viel für sich allein und schrieb Briefe an seine Mama und Schwestern nach England. Aber diese fünf Eigenschaften sind Laster, die die »Jäger« nicht lieben, und die sie auszurotten bemüht waren. Leutnants verstehen es bekanntlich, ihre jüngeren Kameraden »abzuschleifen«, ohne Widerspruch zu dulden. Es ist gut und heilsam und schadet niemanden, solange der Betreffende den Gleichmut nicht verliert; sonst gibt es Verdruß. Es war einmal ein Mann, – aber das ist eine andere Geschichte.

Die »Jäger« »jagten« den Wurm viel herum, und er nahm alles hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war so liebenswürdig, so eifrig und wurde so nett rot, daß man seine »Erziehung« abbrach und ihn sich selbst überließ. Nur sein Oberleutnant fuhr fort, dem Wurm das Leben sauer zu machen. Der Oberleutnant hatte keine bösen Absichten, aber seine Neckereien waren grob und gingen manchmal zu weit. Er wartete schon zu lange auf seine Kompanie, und das macht den Menschen immer bitter. Außerdem war er verliebt, und das war kein Vorteil.

Eines Tages entlieh er das Gespann des Wurmes für eine Dame, die überhaupt nicht existierte, benutzte es den ganzen Nachmittag für sich und schickte es dann mit einigen Zeilen von der Hand der genannten Dame dem Wurm zurück. Als er an der Kasinotafel die Geschichte zum besten gab, stand der Wurm auf und sagte mit seiner feinen, ruhigen Stimme: »Das war ein sehr netter Streich, aber ich setze meine Monatsgage gegen Ihre erste Monatsgage nach der Beförderung darauf, daß ich Ihnen eines Tages einen Streich spielen werde, den Sie zeitlebens nicht vergessen werden, und das Regiment auch nicht, selbst wenn Sie tot oder nicht mehr da sind.« Der Wurm war nicht im mindesten aufgebracht, und die ganze Tafelrunde brach in ein Freudengeschrei aus. Der Oberleutnant musterte den Wurm von Kopf zu Fuß und von Fuß zu Kopf und sagte: »Abgemacht, Baby!« Der Wurm rief die anderen zu Zeugen seiner Wette an und zog sich dann lächelnd hinter ein Buch zurück.

Es vergingen zwei Monate. Und noch immer erzog der Oberleutnant den Wurm, der beim Nahen der heißen Zeit etwas mehr aus sich heraus ging. Es wurde schon gesagt, daß der Oberleutnant verliebt war. Merkwürdig war nur, daß auch das Mädchen ihn liebte. Und ob auch der Oberst schreckliche Dinge sagte, die Majore schnaubten, die verheirateten Hauptleute wie die Weisheit selber aussahen und die Leutnants spöttelten, – die beiden waren verlobt.

Der Oberleutnant war so froh, seine Kompanie und zu gleicher Zeit das Jawort erhalten zu haben, daß er es vergaß, den Wurm zu treten. Das Mädchen war hübsch und hatte Vermögen. Mit dieser Geschichte aber hatte sie nichts zu tun.

Bei Beginn der heißen Zeit saß eines Abends das ganze Offizierkorps vor dem Kasino, nur der Wurm nicht, der auf sein Zimmer gegangen war, um Briefe nach Hause zu schreiben. Die Kapelle hatte aufgehört zu spielen, aber ins Haus gehen wollte niemand. Die Hauptmannsfrauen waren auch zugegen. Nun kennt die Torheit Verliebter keine Grenzen. Der Oberleutnant hatte lang und breit die Vorzüge seiner Verlobten gepriesen. Die Damen schnurrten behaglich Beifall und die Männer gähnten, als Röcke durch die Nacht rauschten und eine müde, schwache Stimme fragte:

»Wo ist mein Gatte?«

Es liegt mir fern, ein schlechtes Licht auf die Sittenstrenge der »Jäger« fallen lassen zu wollen, aber es ist eine unleugbare Tatsache, daß vier von ihnen wie angeschossen aufsprangen. Und von denen waren drei verheiratet. Wahrscheinlich befürchteten sie nur, daß ihre Frauen ohne ihr Wissen aus England gekommen wären. Der vierte behauptete, er habe nur einer augenblicklichen, Erregung nachgegeben. Das setzte er uns wenigstens später so auseinander.

Die Stimme rief: »Lionel!«

Der Oberleutnant hieß Lionel. Eine Frau trat in den engen Lichtkreis der Kerzen, die auf den kleinen, runden Tischchen standen, streckte ihre Hände gegen das Dunkel aus, das den Oberleutnant umfing, und schluchzte. Wir standen alle auf in dem Gefühl, daß sich etwas ereignen würde, und waren geneigt, das Schlimmste zu glauben. In unserer kleinen, bösen Welt weiß man so wenig vom Leben des Nächsten, – und eigentlich hat ja auch er allein sich darum zu bekümmern, – daß man nicht überrascht ist, wenn ein Krach kommt. Alles konnte bei allen alle Tage zum Vorschein kommen. Vielleicht war der Oberleutnant in seiner Jugend in eine Falle geraten. Männer werden manchmal auf solche Weise kampfunfähig gemacht. Wir wußten nichts, aber erfahren wollten wir es, und die Hauptmannsfrauen waren so eifrig wie wir. Wenn er wirklich in die Falle gegangen war, dann war er zu entschuldigen. Denn die Frau »von Nirgendwo« in verstaubten Schuhen und grauem Reisekleid war sehr schön. Sie hatte schwarzes Haar und große, tränenvolle Augen. Sie war schlank und hochgewachsen; der weiche, schluchzende Ton ihrer Stimme ging zu Herzen. Als der Oberleutnant aufstand, umarmte sie ihn und nannte ihn »mein Liebster« und sagte, sie habe das einsame Leben in England nicht länger ertragen können, seine Briefe seien so kalt und kurz gewesen; sie bliebe sein bis ans Ende aller Tage, und ob er ihr vergeben könnte?

Es klang nicht so ganz wie die Sprache einer Frau von Welt. Sie war zu offenherzig.

Die Sache sah wirklich böse aus. Die Hauptmannsfrauen sahen den Oberleutnant scharf von der Seite an. Das von grauen Bartstoppeln umrahmte Gesicht des Obersten schien unerbittlich wie der Jüngste Tag. Eine Weile sprach niemand.

Dann sagte der Oberst sehr kurz: »Nun, Herr Oberleutnant!« Und wieder schluchzte die Frau. Der Oberleutnant erstickte fast unter den Umarmungen und keuchte: »Es ist eine ganz verdammte Lüge! Nie im Leben habe ich eine Frau gehabt!« »Fluchen Sie nicht!« sagte der Oberst. »Kommen Sie mit ins Haus. Die Sache muß geklärt werden!« Und er seufzte leise, denn er kannte seine Jäger; der Oberst kannte sie.

Wir zogen alle mit ins Vorzimmer und sahen im vollen Lichte erst, wie schön die Frau war. Sie stand mitten unter uns, bald schluchzend und weinend, bald hart und stolz, und hielt dem Oberleutnant wieder die Arme entgegen. Es war der vierte Akt einer Tragödie. Sie erzählte, daß der Oberleutnant sie vor anderthalb Jahren während seines Urlaubes in England geheiratet habe, und sie schien über seine Familie und seine Vergangenheit, über alles besser unterrichtet zu sein als wir. Er wurde bleich und aschfahl und versuchte, ab und zu den Strom ihrer Rede zu durchbrechen. Und wir, die wir ihre Schönheit fühlten und sein Schuldbewußtsein zu fühlen glaubten, hielten ihn für ein Ungeheuer schlimmster Art. Aber leid tat er uns.

Ich werde niemals die Anklage der Frau gegen den Oberleutnant vergessen. Er wird es auch nicht. Sie brach zu unvorbereitet aus dem Dunkel in unser eintöniges Leben ein. Die Hauptmannsfrauen hielten sich zurück, aber ihre flammenden Blicke verrieten, daß sie den Oberleutnant überführt und schuldig gesprochen hatten. Der Oberst schien um fünf Jahre gealtert. Einer der Majore hielt sich die Hand vor die Augen und beobachtete heimlich die Frau. Ein anderer kaute an seinem Schnurrbart und lächelte still vergnügt wie im Theater. Mitten im Kreise bei den Spieltischen schnappte der Terrier des Oberleutnants nach Flöhen. Ich entsinne mich all dessen so scharf, als hätte ich eine Photographie davon in Händen. Ich entsinne mich des entsetzten Blicks des Oberleutnants. Es war eigentlich wie die Szene auf einem Richtplatz, nur noch viel spannender. Die Frau schloß mit den Worten, daß der Oberleutnant auf seiner linken Schulter mit einem doppelten F. M. tätowiert sei. Das wußten wir alle, und unserem ahnungslosen Gemüt schien die ganze Sache damit besiegelt zu sein. Aber da sagte einer der unverheirateten Majore sehr höflich: »Würde Ihr Trauschein nicht zweckdienlicher sein?«

Das empörte die Frau. Sie nannte den Oberleutnant höhnisch einen Schurken und schmähte den Major, den Oberst und die anderen alle. Dann weinte sie wieder, zog ein Papier aus dem Busen und sagte gebieterisch: »Nehmen Sie! Mein Gatte, – mein Ehegatte vor dem Gesetz mag es Ihnen laut vorlesen, wenn er es wagt.«

Atemlose Stille herrschte. Die Männer sahen einander tief in die Augen, während der Oberleutnant wie im Schwindel vortrat und wie benommen das Papier ergriff. Wir starrten uns verwundert fragend an, ob nicht vielleicht die Zukunft auch bei uns ähnliches aufdecken könnte. Des Oberleutnants Stimme war trocken, und als er das Papier überflogen hatte, brach er in ein heiseres Lachen der Erleichterung aus und rief der Frau zu: »Sie alter Halunke!« Aber die Frau war schon zur Tür hinaus. Auf dem Papier stand:

»Hierdurch wird bescheinigt, daß ich, der Wurm, dem Oberleutnant meine Schulden restlos bezahlt habe, und ferner, daß der Oberleutnant mir, nach unserem Übereinkommen vom 23. Februar unter Zeugenschaft des ganzen Kasinos, den Betrag einer monatlichen Hauptmannsgage schuldet, zahlbar in der gesetzlichen Währung des indischen Reiches.«

Sofort begab sich eine Abordnung auf das Zimmer des Wurmes, wo man ihn gerade beim Aufschnüren seines Korsettes fand. Hut, Perücke, Sergekleid usw. lagen auf dem Bett. Er mußte, wie er war, zurück, und die »Jäger« machten einen solchen Freudenlärm, daß die Artilleristen von ihrem Kasino herüberschickten, um anzufragen, ob sie nicht mitlachen dürften. Ich glaube wir alle, ausgenommen Oberst und Oberleutnant, waren ein wenig enttäuscht, daß aus dem Skandal nichts geworden war. Das ist nun einmal menschlich. Über des Wurmes Schauspielkunst gab es nur eine Meinung. Sein Spiel kam einer unsauberen Tragödie so nahe, wie nur ein Scherz ihr irgend nahe kommen kann. Als die Kameraden ihn mit Sofakissen bombardierten, um ausfindig zu machen, warum er ihnen sein starkes Talent verheimlicht habe, sagte er ganz ruhig: »Ihr werdet mich wohl nie danach gefragt haben. Zu Hause habe ich viel mit meinen Schwestern geschauspielert.« Meiner Ansicht nach war die Sache nicht gerade geschmackvoll und auch nicht ungefährlich. Man soll nicht mit dem Feuer spielen, selbst nicht zum Scherz.

Die »Jäger« ernannten den Wurm zum Vorsitzenden ihres dramatischen Vereins. Als der Oberleutnant seine Schuld bezahlte, was er sofort tat, legte der Wurm das Geld in Dekorationen und Kostümen an. Er war ein lieber Wurm, und die »Jäger« sind stolz auf ihn. Die Kehrseite war, daß man ihn die »Frau Oberleutnant« taufte. Und da es jetzt zwei »Frau Oberleutnant« im Regiment gibt, wird es für Fremde leicht verwirrend.

Später werde ich einmal einen ähnlichen Fall erzählen. Aber das war kein Scherz, es war bitterster Ernst.

Der Rekordbrecher

Der Rekordbrecher

Es gibt mehr Methoden, ein Pferd das Rennen nach dem Wettbuch laufen, als es ehrlich um Kopflänge gewinnen zu lassen. Viele Leute vergessen das. Man muß sich klar darüber sein, daß jedes Rennen notwendig eine faule Sache ist, wie alles, was mit Geldverlieren verknüpft ist. Hier in Indien kommt zu seiner faulen Natur noch hinzu, daß es zu zwei Drittel Schwindel ist, der sich nur auf dem Papier gut ausnimmt. Jeder kennt hier jeden zu gut, um mit ihm Geschäfte machen zu können. Wie könnte man in aller Welt auch jemand wegen seiner Rennverluste zwicken und plagen und drängen, wenn man seine Frau liebt und mit ihm am gleichen Ort lebt. Er sagt: »Am kommenden Montag. Heute ist es mir leider unmöglich.« Und man gibt zur Antwort: »Es ist schon gut, mein Lieber,« und schätzt sich glücklich, wenn man aus einer Zweitausend-Rupien-Schuld neunhundert herausziehen kann. Von welcher Seite man auch indische Rennen betrachtet, immer sind sie unmoralisch oder kostspielig, oder beides zugleich. Und das ist das Schlimmste. Wenn jemand Geld braucht, dann soll er es sich leihen oder erbitten. Aber statt dessen nimmt man einen australischen »Larrikin«, ein »Brumby«, das ebensoviel Rasse hat wie sein Reiter, ein paar »Chumars« mit goldbetreßten Mützen, drei oder vier gestutzte Ekkaponys, oder eine Stute von zweifelhafter Herkunft mit einem falschen Schwanz und dem Titel »Araber«, weil sie einen Knoten im Schweif hat, und schwindelt sich so durch die Welt. Rennen führen schneller als sonst etwas zum Wucherer. Wer weder Gewissen noch Gefühl hat, aber etwas von Gangarten versteht, eine zehnjährige Erfahrung mit Pferden und mehrere Tausend Rupien im Monat hat, kann wohl gelegentlich einmal genug gewinnen, um seine Schusterrechnung bezahlen zu können.

Man erinnert sich vielleicht noch an »Shackles«. »Shackles« hatte plumpe Schlappohren wie ein Maultier, einen Rumpf so lang und dünn wie ein Torbalken, war zäh wie Telegraphendraht und überhaupt das wunderlichste Vieh, das je unter einem Sattel gegangen ist. Es hatte keine Brandmarke, nur eine Kerbe im Ohr, denn es gehörte zu jenem Pferdegesindel, das für ein paar Pfund stückweise auf einen Dampfer verfrachtet wird, um die Ladung voll zu machen, und um später außer Form in Kalkutta für 275 Rupien verkauft zu werden. Die Leute, die Geld an seinen Rennen verloren, nannten ihn ein »Brumby«. Aber wenn es je ein Pferd gegeben hatte, das einen Bug hatte wie »Harpoon« und Feuer wie »Gin«, dann war es Shackles. Seine besondere Lieblingsdistanz war zwei Meilen. Shackles hatte sich selbst trainiert, lief selbst und führte sich selbst. Wenn sein Jockei es durch Worte kränkte, blieb es mit einem Ruck stehen und warf den Kerl ab. Es widerstand jedem Geheiß. Zweien, dreien seiner ehemaligen Besitzer war das nicht aufgegangen, und so verloren sie ihr Geld. Schließlich wurde es von jemandem gekauft, der entdeckte, daß, wenn Shackles überhaupt ein Rennen machen sollte, es von ihm nur gewonnen werden konnte, wenn Shackles allein, aber auch ganz allein lief, und der Jockei sich nicht rührte. Dieser Besitzer hatte einen Bereiter mit dem Namen Brunt, einen jungen Burschen aus Perth in Westaustralien. Er brachte also Brunt mit der Longepeitsche das schwerste bei, was ein Jockei lernen kann, still zu sitzen, wieder still zu sitzen und noch einmal still zu sitzen. Nachdem Brunt diese Wahrheit völlig eingegangen war, richtete Shackles wahre Verwüstungen im Lande an. Durch keine Belastung konnte man ihn vor seiner Lieblingsdistanz aufhalten, und sein Ruf verbreitete sich von Ajmir im Süden bis nach Chedputter im Norden. Es gab kein zweites Pferd wie Shackles, so lange man ihm die Rennen auf seine Art machen ließ. Aber zu guter Letzt wurde er doch besiegt. Die Geschichte seiner Niederlage würde selbst Engel weinen machen.

Am unteren Ende der Rennbahn zu Chedputter, gerade am Auslauf der Kurve, führt die Bahn an einer von Ziegelschanzen umschlossenen, trichterförmigen Grube vorbei. Das zweite Trichterende ist kaum sechs Fuß von dem Geländer an der Außenseite entfernt. Nun hat die Rennbahn die erstaunliche Eigentümlichkeit, daß der Trichter, wenn man an einer bestimmten Stelle, etwa eine halbe Meile weit weg auf der Bahn steht und in ganz gewöhnlicher Tonhöhe redet, von den Tönen getroffen wird und wie ein leises Echo seltsam an zu wimmern fängt. Das entdeckte zufällig ein Mann, der eines Morgens mit einem Freunde dort trainierte. Er markierte den Standort, von dem aus man sprechen mußte, mit Ziegelsteinen und behielt seine Weisheit für sich. Jede Eigentümlichkeit einer Rennbahn ist wertvoll, zumal in einem Lande, wo eine einzige Ratte eine ganze Elefantenbrut vernichten kann, und wo die Rennaufseher die Hindernisse so anzulegen wissen, daß sie ihren eigenen Ställen Vorteil bringen. Der Betreffende ließ eine ganz leidliche Landstute laufen, ein großes, weit ausgreifendes Tier mit einem wahren Teufelstemperament und der Gangart eines leicht dahinschwebenden Engels. Sie hatte einen wiegenden, gleitenden Lauf. Die Stute war aus zarter Aufmerksamkeit für Mrs. Reiver »Lady Regula Baddun« oder kurz Regula Baddun genannt worden. Brunt, Shackles Jockei, war ein ganz verständiger Mensch, aber seine Nervenkraft war erschüttert. Er hatte seine Laufbahn bei einem Hindernisrennen in Melbourne begonnen, wo einige Rennaufseher gelyncht zu werden verdienten, und er gehörte zu den Jokkeis, die die furchtbare Metzelei bei dem Rennen um den Maribyrnong-Preis, woran man sich vielleicht noch erinnern wird, überlebt haben. Sprungmauern waren damals die Festungswälle. In das Mauerwerk waren Hartholzbalken eingerammt und rechts und links Flügelmauern, so stark wie die Widerlager an einem Kirchenbau, errichtet. Einmal im Ausgriff mußte ein Pferd springen oder stürzen. Ausbrechen nach der Seite war unmöglich gemacht. Im Maribyrnong-Rennen kamen zwölf Pferde vor der zweiten Mauer ins Geschiebe. »Red Hat«, der führte, fiel diesseits der Mauer und hemmte dadurch »The Gled« samt dem ganzen großen Haufen, der ihm folgte. Der ganze Raum zwischen Flügelmauer und Flügelmauer war ein einziges, ringendes, schreiendes, stoßendes Durcheinander. Vier Jockeis wurden tot herausgebracht, drei waren schwer verletzt, und unter denen befand sich Brunt. Zuweilen erzählte er die Geschichte des Maribyrnong-Rennens. Wenn er schilderte, wie Whalley auf »Red Hat« beim Sturz schrie: »Gott sei mir gnädig! Jetzt ist’s aus!«, wie im nächsten Augenblick der arme Whalley von »Sithee There« und »White Otter« totgequetscht wurde, und wie der Staub ein Höllenknäuel von Menschen und Pferden umhüllte, dann wunderte sich niemand mehr, daß Brunt Hindernisrennen und Australien aufgegeben hatte. Regula Badduns Eigentümer kannte die Geschichte auswendig. Brunt erzählte sie stets mit den gleichen Worten. Bildung besaß er nicht.

Einmal kam Shackles zum Chedputter Herbstrennen, und sein Eigentümer ging herum und zog über die Sportsleute von Chedputter so lange her, bis sie sich gemeinsam an den Ehrenvorsitzenden wandten und sagten: »Lassen Sie ein Handicap laufen, daß Shackles geschlagen und der Hochmut seines Herrn gedemütigt wird.« Die ganze Rennwelt machte mit einer Auslese von Pferden gegen Shackles Front. Es wurden genannt: »Ousel«, der die Meile in 1,53 Min. machen sollte, »Petard«, das Rassepferd, das von einem Kavallerieregiment trainiert war, das sich auf das Training verstand, ferner »Gringalet«, die Zuchtstute der 75er, »Bobolink«, der »Stolz von Peschawar« und viele andere.

Man nannte jenes Rennen das »Rekordbrecher-Handicap«, weil Shackles zum erstenmal geworfen werden sollte. Die Unparteiischen setzten die Gewichte fest, der Rennfonds stiftete 800 Rupien, und die Distanz lautete: für alle Pferde eine Runde. Shackles‘ Herr erklärte: »Sie können das Rennen getrost auf Shackles allein einstellen! So lange er nicht unter Gewichten begraben wird, ist mir alles gleich!« Regula Badduns Herr erklärte: »Ich lasse meine Stute nur Ousel zum Sporn laufen! Regulas Distanz ist 1200 Meter, bei mehr fällt sie ab und macht ein totes Rennen. Ousel wird’s nicht besser gehen, denn sein Jockei versteht nichts von langen Rennen!« Das war eine Lüge, denn Regula war in Dehra zwei Monate lang in Training gewesen, und ihre Chancen waren gut; selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß Shackles eine Ader platzte, oder daß Brunt nicht still saß.

Es wurde hoch gewettet. Allein das »Rekordbrecher-Handicap« ergab acht 1000-Rupien-Wetten, denn die Unparteiischen hatten gut gearbeitet. Der »Pionier« sagte: »Die Gunst des Publikums war geteilt.« Unverblümt heißt das, daß die verschiedenen Parteien auf ihre Pferde versessen waren. Der Ehrenvorsitzende schrie sich bei dem Lärm heiser, der Zigarrenqualm stieg wie Geschützqualm in die Luft, und die Würfel rasselten wie Kleingewehrfeuer.

Zehn Pferde starteten gleichmäßig. Regula Badduns Besitzer trabte auf einem Gaul einer bestimmten Stelle der Bahn zu, wo zwei Ziegelsteine lagen. Er stellte sich mit dem Gesicht nach den Ziegelschanzen am unteren Ende der Bahn auf und wartete.

Der Rennbericht steht im »Pionier«. Nach der ersten Meile ließ Shackles ganz allmählich den großen Haufen hinter sich. Er hielt sich geschickt an die Außenseite und war im Begriff die Kurve zu nehmen, das Gebiß zu fassen und die Länge der Bahn herunterzuhaspeln, ehe die anderen überhaupt merkten, daß er voran war. Brunt hielt sich still und lauschte zufrieden auf das »Trab–Trab–Trab« der Hufe im Rücken. Er wußte, daß Shackles noch ungefähr zwanzigmal ausgreifen würde, um dann tief aufzuatmen und auf das letzte Viertel wie der fliegende Holländer los zu gehen. Als Shackles kürzer griff, um die Kurve zu nehmen und den Ziegelschanzen zur Seite kam, hörte Brunt im Pfeifen des Windes eine wimmernde, klagende Stimme an der Außenseite: »Gott sei mir gnädig! Jetzt ist’s aus!« Während eines einzigen Ausgriffs seines Pferdes sah Brunt den ganzen wogenden Trümmerhaufen des Maribyrnong-Rennens vor sich. Er hob sich im Sattel und schrie gellend auf. Der hastige Ruck stieß Shackles die Hacken in die Flanken, und der Schrei verletzte seine Gefühle. Er konnte nicht sofort still stehen, aber er bog aus und warf fünfzig Meter abseits von der Bahn, sehr ernst und vorsichtig, den vor Schreck gelähmten Brunt wie ein Bündel ab. Indessen lief Regula Kopf an Kopf mit Bobolink die Bahn herauf und gewann mit einer knappen Halslänge. Petard kam als schlechter Dritter. Shackles‘ Herr auf der Tribüne suchte sich einzureden, daß sein Feldstecher nicht in Ordnung sei. Regula Badduns Herr bei den beiden Ziegeln seufzte tief erleichtert auf und galoppierte wieder zur Tribüne. Er hatte am Totalisator durch Wetten 15 000 gewonnen.

Das Handicap brach wirklich den Rekord. Es brach fast alle Freunde Shackles‘ nieder, und seinem Herrn zerbrach es fast das Herz. Er ging zu Brunt, um näheres zu hören. Der Jockei lag noch an der Stelle, wo Shackles ihn abgeworfen hatte, vom Schrecken leichenblaß, und keuchte. Die Schande, das Rennen verloren zu haben, schien er gar nicht zu begreifen. Alles, was er wußte, war, daß Whalley ihn »gerufen« hatte, und daß der Ruf eine »Warnung« sei; und »wenn man ihn in Stücke hiebe, niemals würde er wieder ein Pferd besteigen«. Er hatte ganz den Mut verloren und bat nur, sein Herr möge ihn durchprügeln und dann laufen lassen. Er tauge zu nichts mehr, sagte er. Er bekam seine Entlassung und schlich kreideweiß, mit blauen Lippen und schlotternden Knien zum Sattelplatz. Brunt mußte dort noch manches böse Wort hören, aber er achtete nicht darauf. Er zog sich um, nahm seinen Stock und ging, auch jetzt noch vor Furcht zitternd, seiner Wege, immerfort vor sich hinmurmelnd: »Gott sei mir gnädig! Jetzt ist es aus!« Nach meinem besten Wissen und Gewissen sprach er die Wahrheit. So wurde also der »Rekordbrecher« gerannt und gewonnen. Natürlich wird mir keiner glauben. Dem Gerücht, die Russen hätten Absichten auf Indien, oder den Empfehlungen der Währungskommission schenkt man Glauben. Aber einem Stückchen nüchterner Wirklichkeit hält man nicht Stand.

Jenseits

Jenseits

Was auch immer geschieht, der Mensch soll stets zu seiner Rasse, seinem Volk und seinem Stande halten. Man lasse Weiße bei den Weißen und Schwarze bei den Schwarzen. Was sich dann auch immer ereignen mag, alles wird seinen natürlichen Gang gehen, nichts wird plötzlich und überraschend kommen, nichts wird befremden können.

Dies hier ist die Geschichte eines Mannes, der eigenwillig aus den festen Kreisen seiner wohlanständigen Alltagsgesellschaft heraustrat und hart dafür büßen mußte.

Er wußte zu viel und sah zu viel. Er kümmerte sich zu viel um das Leben der Einheimischen, aber er wird es niemals wieder tun.

Tief im Herzen der Stadt, hinter Jitha Megjis Ställen, liegt die Gasse Amir Naths. Sie stößt auf die graue Mauer eines Hauses, die von einem einzigen Gitterfenster durchbrochen wird. Am Eingang der Gasse steht ein großer Kuhstall, und die beiden Häuser rechts und links haben keine Fenster auf die Gasse. Weder Suchet Singh noch Gaur Chandi sind dafür, daß ihr Weibervolk in die Welt hinaussehen kann. Hätte Durga Charan ihre Ansicht geteilt, dann wäre er heute glücklicher, und die kleine Bisesa könnte ihr Brot jetzt selber kneten. Aus ihrem Zimmer sah man durch das Gitterfenster auf die dunkle Winkelgasse hinaus, in die nie ein Sonnenstrahl drang, und in derem blauen Schlamm sich die Büffel wälzten. Sie war eine Witwe, vielleicht fünfzehn Jahre alt, und bat die Götter Tag und Nacht, ihr einen Liebsten zu schicken. Sie war nie dafür, allein zu leben.

Eines Tages kam nun jener Mann – Trejago war sein Name – auf einem ziellosen Spaziergang in Amir Naths Gasse. Als er glücklich an den Büffeln vorüber war, stolperte er über einen großen Haufen Viehfutter. Und erst dann sah er, daß er sich in einer Sackgasse befand. Vom Gitterfenster her hörte er ein leises Lachen. Es war ein hübsches, liebes Lachen. Da Trejago wußte, daß das alte Buch »Tausend und eine Nacht« immer noch ein guter, praktischer Führer ist, ging er näher ans Fenster und flüsterte die Strophen aus »Har Dyalls Liebeslied«, die mit den Worten beginnen:

»Kann ein Mann aufrecht stehen vor dem Antlitz der wunderbaren Sonne? Oder ein Liebender angesichts der Geliebten?

Wenn meine Füße mich nicht mehr tragen, Herz meines Herzens, trage ich die Schuld, ich, der ich blind bin vom flüchtigen Schimmer deiner Schöne?«

Durchs Fenster klang das leise Klirren einer Armspange, und eine zarte Stimme sagte das Lied weiter von der fünften Strophe ab:

»Wie kann, wie kann, ach, wie kann der Mond der Lotosblume die Liebe gestehen, wenn das Tor des Himmels verschlossen ist, und die Wolken zum Regen sich sammeln?

Man hat mir mein Lieb geraubt und mit Saumtieren gen Norden entführt.

Die Füße, unter die ich mein Herz gelegt, sind schwer in Eisen gekettet.

Rufe den Schützen, daß er den Bogen bereit hält – …«

Die Stimme brach plötzlich ab, und verwundert fragte sich Trejago beim Gehen, wer in aller Welt wohl »Har Dyalls Liebeslied« mit ihm so klug wettgesungen habe.

Als er am nächsten Morgen ins Bureau fuhr, warf ihm eine alte Frau ein Päckchen in den Wagen. Es enthielt die eine Hälfte einer zerbrochenen, gläsernen Spange, eine blutrote Dhakblüte, eine Fingerspitze Bhusa oder Viehfutter und elf Kardamomkörner. Die Sendung sollte ein Brief sein; kein grober, bloßstellender Brief, nur eine unschuldige, geheimnisvolle Liebesepistel.

Wie gesagt, Trejago wußte viel zu viel von all den Dingen. Ein Engländer sollte eigentlich solchen konkreten Brief überhaupt nicht entziffern können. Aber Trejago breitete all die Nichtigkeiten auf dem Deckel seines Schreibpultes aus und begann sie zu enträtseln.

In ganz Indien deutet ein zerbrochenes Glasarmband auf eine Hinduwitwe. Denn wenn ihr Gatte stirbt, werden die Spangen auf ihrem Arm zerbrochen. Trejago verstand also wohl, was das kleine Glasstückchen sagen sollte. Die Dhakblüte kann mancherlei heißen, je nach einer näher bestimmenden Beigabe: »Ich sehne mich« – »komme« – »schreibe« – oder auch »es ist Gefahr«. Ein Körnchen Kardamom allein bedeutet Eifersucht, aber mehrere zerstören die Symbolik und wollen nichts weiter als eine Zahl angeben, die Zeit, oder wenn Weihrauch, Quark oder Safran beiliegt, auch den Ort. Die Botschaft hieß also: »Eine Witwe, – Dhakblüte und Bhusa, – elf Uhr.« Die Fingerspitze Bhusa gab Trejago den Schlüssel. Da diese Briefe sich stets an das Gefühl wenden, fand er, daß die Fingerspitze Bhusa sich auf den Haufen Viehfutter bezog, über den er in Amir Naths Gasse gestolpert war, und daß die Botschaft von dem Wesen hinter dem Gitterfenster stammen müsse, die also eine Witwe war. Also hieß die Botschaft lückenlos: »Eine Witwe in der Gasse, wo der Futterhaufen liegt, wünscht, daß man um elf Uhr kommt.«

Trejago warf lachend den ganzen Kram ins Feuer. Er wußte, daß man im Orient nicht um elf Uhr vormittags Fensterpromenaden macht, und daß die Frauen sich dort nicht eine Woche vorher verabreden. So ging er denn schon in der gleichen Nacht um elf Uhr in Amir Naths Gasse, in einem weiten Umhang, wie ihn Männer ebenso wie Frauen tragen. Kaum hatten die Glocken der Stadt die elfte Stunde geschlagen, als das Stimmchen hinter dem Gitter das Liebeslied Har Dyalls bei der Strophe wieder aufnahm, wo das Mädchen ihn beschwört, zurückzukehren. Das Lied klingt in der Ursprache wundervoll. Eine Übertragung kann das Klagende nicht wiedergeben. Es lautet etwa so:

Ich stehe einsam auf dem Dach, gen Nord
Den Blick gewandt, wo nächtges Feuer loht, –
Die Flammenspuren deines Wegs gen Nord.
Wenn du nicht kommst, Geliebter, kommt der Tod.

Zu meinen Füßen liegt die stille Stadt.
Die Tiere rasten auf des Schlafs Gebot.
Du, weit Entführter, bist auch du so matt?
Wenn du nicht kommst, Geliebter, kommt der Tod.

Das Alter hat des Vaters Weib verroht.
Auf mir liegt seines Hauses ganze Not.
Mein Trank sind Tränen, Kummer ist mein Brot.
Wenn du nicht kommst, Geliebter, kommt der Tod.

Als das Lied verklungen war, trat Trejago naher an das Gitter und flüsterte: »Ich bin da!«

Bisesa war eine Augenweide. – –

An diese Nacht schloß sich manch Seltsames an, und ein Doppelleben begann, so phantastisch, daß Trejago sich heute oftmals fragt, ob nicht alles nur ein Traum gewesen ist. Bisesa oder ihre alte Dienerin, die ihm den Brief zugeworfen, hatte das schwere Gitter aus dem Mauerwerk gelöst, so daß es nach innen gleiten konnte und gerade so viel Raum bot, um einen gewandten Mann durch die rohe, viereckige Öffnung hindurchschlüpfen zu lassen.

Tagsüber durchhastete Trejago seine eintönige Berufsarbeit, oder zog sich besuchsmäßig an, um den Damen des Ortes aufzuwarten. Er mußte oft daran denken, ob sie ihn wohl noch kennen würden, wenn sie von der armen kleinen Bisesa wüßten. Nachts, wenn die Stadt schlief, machte er in dem übelriechenden Mantel seinen heimlichen Gang. An Sitha Megjis Ställen vorbei, bog er rasch in Amir Naths Gasse ein und schlich vorüber an dem ruhenden Vieh und den starren Mauern zu Bisesa. Dann konnte er deutlich die tiefen, regelmäßigen Atemzüge der alten Weiber hören, die vor der Tür des kleinen, kahlen Zimmers schliefen, das Durga Charan seiner Schwestertochter überlassen hatte. Wer oder was Durga Charan war, danach fragte Trejago nie. Und wie es kam, daß er nicht entdeckt und niedergestochen wurde, überlegte er sich erst, als sein Wahn zu Ende war, und Bisesa, – – doch ich will nicht vorgreifen.

Bisesa war Trejagos endlose Wonne. Sie war unwissend wie ein Vogel, und ihre verkehrten Erzählungen von dem Leben der Außenwelt, das bis in ihre Kammer drang, belustigten Trejago fast ebenso wie ihre Versuche, seinen Namen – Christopher – zu stammeln. Schon die erste Silbe war ihr fast zu schwer. Sie machte lächerliche, zarte Bewegungen mit ihren Rosenblütenhänden, als wenn sie den Namen wegwerfen wollte, und kniete dann vor Trejago nieder, um ihn nicht anders als eins von unseren Mädchen zu fragen, ob er sie auch wirklich liebe. Trejago schwor, daß er sie über alles in der Welt liebe. Und das war die Wahrheit!

Einen Monat dauerte die Torheit, dann zwang ihn sein anderes Leben, einer Dame seiner Bekanntschaft besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Tatsache ist, daß so etwas nicht nur von unseresgleichen beobachtet und besprochen wird, sondern ganz genau so von ein paar Hundert Einheimischen. Trejago mußte mit der Dame Spazierengehen, bei der Musik mit ihr plaudern und ein-, zweimal mit ihr ausfahren. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß er damit sein ihm weit lieberes fremdes Leben irgendwie stören könnte. Aber die Neuigkeit flog, geheimnisvoll wie immer, von Mund zu Mund, bis sie der alten Dienerin zu Ohren kam, die sie Bisesa weitergab. Das Kind war so unglücklich, daß es seine Arbeiten vernachlässigte und dafür von Durga Charans Weib geschlagen wurde.

Eine Woche später warf Bisesa Trejago seinen Flirt vor. Sie kannte keine Abstufungen der Liebe und sprach ehrlich mit ihm. Trejago lachte sie aus, und Bisesa stampfte mit ihren kleinen Füßen, Füßen, so klein und zart wie Maßliebchen. Beide hatten sie Platz in einer Männerhand.

Es ist viel geschrieben worden über »orientalische Leidenschaft und Erregbarkeit«; vieles ist übertrieben und von anderen entlehnt, aber ein Körnchen Wahrheit liegt doch darin. Und wenn ein Engländer die Körnchen findet, dann überraschen sie ihn nicht minder, als Leidenschaften in seinem eigenen Leben. Bisesa tobte und wütete und drohte, sich das Leben nehmen zu wollen, wenn Trejago nicht augenblicks die fremde »Memsahib« fallen ließe. Trejago versuchte ihr zu erklären und zu zeigen, daß man solche Dinge im Westen anders verstünde als hier. Bisesa richtete sich starr auf und sagte schlicht:

»Ich kann sie nicht anders verstehen. Ich weiß nur, daß es nicht gut für mich ist, daß du mir lieber geworden bist als mein eigenes Leben, Sahib. Du bist ein Engländer. Ich bin ein schwarzes Mädchen« – sie war lichter als Barrengold – »und die Witwe eines Hindu.«

Dann schluchzte sie auf und sagte: »Aber bei meiner Mutter Seele, ich liebe dich. Und was mir auch widerfahren mag, dir soll kein Leid geschehen.«

Trejago versuchte das Kind zu überzeugen und zu beschwichtigen, aber Bisesa schien maßlos erregt. Sie wollte sich nicht zufriedengeben, bis nicht alle Verbindung zwischen ihnen abgebrochen sei. Er sollte auf der Stelle gehen. Und er ging. Als er sich aus dem Fenster schwang, küßte sie ihn zweimal auf die Stirn. Und er ging gedankenvoll heim.

Eine Woche, drei Wochen gingen hin, ohne ein Zeichen von Bisesa. Trejago fand, das Zerwürfnis habe nun lange genug gedauert und ging nun schon zum fünftenmal in den drei Wochen in Amir Naths Gasse. Er hoffte, daß sein Klopfen am Gitterfenster endlich wieder Antwort finden würde. Er wurde nicht enttäuscht.

Ein schwacher Strahl der Mondsichel fiel auf das Gitterfenster in Amir Naths Gasse. Es wurde bei seinem Klopfen fortgezogen. Aus dem tiefen Dunkel streckte Bisesa ihre Arme ins Mondlicht. Beide Hände waren ihr an den Gelenken abgeschnitten, und die Stümpfe waren schon fast verheilt.

Als Bisesa schluchzend den Kopf zwischen die Arme legte, heulte jemand im Zimmer auf wie ein wildes Tier, und etwas Scharfes – Messer, Schwert oder Speer – flog nach Trejagos Mantel. Das Geschoß verfehlte zwar seinen Oberkörper, aber es verletzte ihm einen Lendenmuskel. Von diesem Tage bis an sein Lebensende hinkte Trejago ein ganz klein wenig. Das Gitter wurde wieder geschlossen. Kein Lebenszeichen drang mehr aus dem Haus. Nur ein Streifen Mondlicht auf der hohen Mauer war zu sehen, sonst lag Amir Naths Gasse in tiefstem Dunkel.

Trejago kann sich nur noch erinnern, daß er wie ein Wahnsinniger zwischen den erbarmungslosen Mauern geschrien und getobt hat, und daß er sich beim Morgengrauen plötzlich nahe am Flusse befand. Er warf seinen Umhang fort und ging barhäuptig nach Hause.

Bis auf den heutigen Tag hat Trejago nicht den Lauf der Tragödie erfahren. Er weiß nicht, ob Bisesa in einem Anfall grundloser Verzweiflung alles gestanden hat, ob ihr Verhältnis entdeckt und sie gefoltert wurde, bis sie gestand, ob Durga Charan seinen Namen kannte, und was aus Bisesa wurde. Jedenfalls war etwas Entsetzliches geschehen; und der Gedanke, was es gewesen sein könnte, kommt Trejago manchmal des Nachts und leistet ihm Gesellschaft bis zum Morgen. Und es ist charakteristisch, daß Trejago nicht einmal erfahren hat, wo die Vorderseite von Durga Charans Haus liegt. Sie kann nach einem gemeinsamen Hof mit anderen Häusern zu liegen, vielleicht auch hinter einem der vielen Tore zu Jitha Megjis Ställen. Trejago weiß es nicht. Er kann Bisesa, die arme kleine Bisesa, nicht wiederfinden. Er hat sie in der Stadt verloren, wo jedes Mannes Haus bewacht wird und so unergründlich ist wie ein Grab. Und das Gitterfenster in Amir Naths Gasse ist zugemauert worden.

Trejago macht regelmäßig seine Besuche und wird zu den vernünftigen Leuten gezählt.

An ihm ist nichts Auffallendes außer einer kleinen Steifheit, die ihm – von einer Überanstrengung beim Reiten – im rechten Bein zurückgeblieben ist. –

Irrungen

Irrungen

Ein Mann, der sich ganz offen sinnlos betrinkt, öfter betrinkt, als er eigentlich dürfte, ist zu heilen, aber hoffnungslos ist der, der sich in der Stille einsamem Trunke ergibt, den man niemals trinken sieht.

Das ist eine Regel, und so muß es auch eine Ausnahme geben, die sie bestätigt; Der Fall Moriarty ist die Ausnahme.

Er war Zivilingenieur, und die Regierung hatte die große Liebenswürdigkeit, ihn in eine entlegene Gegend zu schicken, wo er ganz allein war mit den Einheimischen und einem Haufen Arbeit. In den vier Jahren seiner völligen Einsamkeit arbeitete er tüchtig, aber er verfiel dem Laster des stillen, heimlichen Trunkes. Er kam älter, müder und verbrauchter zurück, als ihn das Lebendig-Begrabensein in der Einöde hätte machen dürfen. Ein bekanntes Wort heißt, daß ein Mann, der über ein Jahr allein im Dschungel haust, für sein ganzes Leben die geistige Gesundheit verliert. Man schrieb Moriartys Wunderlichkeit und Schwermut dem einsamen Leben zu und sagte, er wäre wieder einmal ein Beweis dafür, wie die Regierung die Zukunft ihrer besten Leute vernichte. Er hatte den Grund zu seiner Hochschätzung durch seine Leistungen beim Brückenbau gelegt. Daß er Nacht für Nacht auf dem besten Wege war, seine Hochschätzung mit Kognak, Korn, kleinen Likörproben und solchem Zeug zu untergraben, war ihm klar. Er hatte einen kräftigen Körper und einen widerstandsfähigen Geist, sonst wäre er wie ein krankes Kamel in seiner Gegend zusammengebrochen und gestorben. So ist es schon Besseren vor ihm gegangen.

Die Regierung schickte ihn nach Ablauf seiner Zeit in der Einsiedelei nach Simla. Er ging in der Absicht hin, sich dort um eine gerade freie Stellung zu bewerben. In dieser Saison stand Mrs. Reiver, deren man sich wohl noch erinnert, auf der Höhe ihrer Macht, und viele Männer waren in ihr Joch gespannt. Was über Mrs. Reiver Schlechtes zu sagen war, ist bereits in einer anderen Geschichte gesagt worden. Moriarty war ein großer, breitschulteriger, schöner Mann. Er war sehr still und, wenn er nicht gerade in Gedanken versunken war, ängstlich besorgt, seinem Nächsten zu gefallen. Bei plötzlichen Geräuschen fuhr er zusammen und erschrak, wenn man ihn unerwartet ansprach. Und wenn man ihn bei Tisch trinken sah, dann sah man die Hand mit dem Wasserglas ein klein wenig zittern. Aber alles das schrieb man seiner Nervosität zu. Das stille, beständige »Schluck-Schluck-Schluck, schenk ein und Schluck-Schluck-Schluck, noch mal!«, das im einsamen Zimmer vor sich ging, das wußte niemand. Es ist eigentlich ein Wunder, denn hier in Indien ist auch das privateste Leben Gemeingut.

Moriarty geriet nicht in Mrs. Reivers Kreis, denn der war nicht sein Geschmack, aber in ihre Gewalt. Er sank ihr zu Füßen und erhob sie zu seiner Göttin. Schuld daran war seine Rückkehr aus dem Dschungel in die Großstadt. Er hatte die Fähigkeit verloren, zu sehen und zu wägen, wer und wie ein Mensch war.

Mrs. Reivers Kälte und Härte hielt er für Hoheit und Würde, ihren Mangel an Klugheit und Redegewandtheit für Zurückhaltung und Schüchternheit. Mrs. Reiver und schüchtern! Da sie Niemandes Achtung oder Verehrung wert war, ehrte er sie, aus der Ferne, und begabte sie mit allen Tugenden der Bibel und den meisten aus Shakespeare.

Der große, dunkelhaarige, zerstreute Mann, der schon nervös wurde, wenn ein Pony hinter ihm hertrabte, folgte schmachtend Mrs. Reiver und errötete vor Seligkeit, wenn sie ihm ein oder zwei Worte zuwarf. Seine bewundernde Liebe war streng platonisch. Selbst andere Frauen sahen das ein und gaben das zu. Er ging in Simla wenig aus und hörte daher nichts gegen sein Idol. Und das war gut. Mrs. Reiver schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit, es genügte ihr, ihn in den Reihen ihrer Verehrer zu wissen. Sie ging also hin und wieder mit ihm spazieren, nur um zu zeigen, daß sie Eigentumsrechte an ihm habe. Dabei hat Moriarty sicher allein die Kosten der Unterhaltung tragen müssen, denn Mrs. Reiver hatte einem Manne seines Schlages wenig zu sagen. Das Wenige, was sie sagte, war sicher nicht gewinnbringend. Moriarty glaubte mit vollstem Recht an Mrs. Reivers Einfluß auf ihn, und dieser Glaube veranlaßte seinen festen Entschluß, sein Laster, das nur er allein kannte, abzuschütteln.

Er muß in diesem Kampfe manch merkwürdige Erfahrung gemacht haben, aber er hat nie davon gesprochen. Wirklich trank er zeitweise eine ganze Woche hindurch nichts als Wasser. Wenn ihn dann aber an einem regnerischen Abend niemand zu Tisch gebeten hatte, wenn ein tüchtiges Feuer in seinem Zimmer brannte und alles gemütlich war, dann saß er die ganze Nacht mit weitgreifenden Besserungsplänen und trank Schluck für Schluck, bis er sich schwer trunken auf das Bett legen mußte. Am nächsten Morgen litt er.

Eines Nachts kam der Zusammenbruch. Seine Versuche, »der Freundschaft Mrs. Reivers würdig zu werden«, quälten ihn. Die letzten zehn Tage waren sehr schlimm gewesen, und das Ende vom Liede war, daß die Folgen eines fast dreijährigen, stillen Trunkes in einem einzigen Anfall milden Delirium tremens zum Durchbruch kamen. Der Anfall begann mit Selbstmordgedanken, dann folgten hysterische Krämpfe und Zuckungen und zuletzt wahrhafte Raserei. Während er vor dem Feuer saß, oder im Zimmer auf und nieder schreitend sein Taschentuch in Fetzen riß, offenbarte der arme Moriarty seine innersten Gedanken über Mrs. Reiver. Denn hauptsächlich galt sein Toben ihr und dem Rückfall in sein Laster, wenn er auch in dies Gedankennetz lange Amtsberichte mit verwob. Er redete und redete und redete in einem leisen Flüstertone mit sich selber und fand kein Ende. Er wußte wohl, daß etwas nicht in Ordnung war und versuchte zweimal, sich zusammenzunehmen und mit dem Arzte vernünftig zu beraten. Aber er verlor sofort wieder die Macht über seinen Verstand und fiel wieder in sein Flüstern und in den Bericht seines Kummers zurück. Es ist grauenvoll, einen großen, starken Mann wie ein Kind über Dinge plappern zu hören, die er sonst in der Tiefe seines Herzens verschlossen und begraben hält. Moriarty breitete sein Innerstes vor jedem aus, der zwischen halb elf Uhr nachts und dreiviertel drei Uhr morgens in sein Zimmer kam.

Aus allem, was er sagte, fühlte man den ungeheuren Einfluß Mrs. Reivers und den tiefen Schmerz über seinen Rückfall. Natürlich läßt sich sein Geflüster hier nicht wiedergeben. Aber lehrreich war es, denn es zeigte, wie schwer er in seinem Urteil irrte.

Als die Störung vorüber war, und seine wenigen Bekannten ihm ihre Teilnahme bezeugten, daß ihn der schwere Anfall Dschungelfieber so mitgenommen habe, schwor Moriarty sich einen heiligen Schwur. Bis zum Ende der Saison ging er wieder mit Mrs. Reiver aus und betete sie in seiner stillen, ehrerbietigen Art an wie einen Engel des Himmels. Später verlegte er sich aufs Reiten. Es war kein Gestümper, sondern ein wirklich tüchtiges, schulmäßiges Reiten. Und das war ein gutes Zeichen seiner Besserung. Man konnte sogar in seinem Rücken Türen zuschlagen, ohne daß er entsetzt aufsprang. Auch das war vielversprechend.

Wie er seinen Schwur hielt, und was es ihn anfangs gekostet haben mag, kann niemand ermessen. Aber zweifellos hat er das Schwerste zuwege gebracht, was ein schwerer Trinker nur zuwege bringen kann. Er trank seinen Whisky mit Soda und seinen Wein bei Tisch; aber er trank niemals in der Stille und nie so viel, daß es Macht über ihn gewann.

Einmal erzählte er einem seiner besten Freunde die Geschichte seines großen Kampfes, und wie »der Einfluß einer reinen, engelhaften Frau« ihn gerettet habe. Als der Freund, erstaunt, daß man Mrs. Reiver Gutes nachsagen könnte, auflachte, kostete es ihn Moriartys Freundschaft. Moriarty ist jetzt mit einer Frau verheiratet, die zehntausendmal besser ist als Mrs. Reiver, einer Frau, die glaubt, daß kein Mann auf Erden besser und klüger ist als ihr Gatte. Aber noch auf dem Totenbette wird er beteuern und schwören, daß ihn Mrs. Reiver hier und im Jenseits vom Verderben errettet habe.

Daß sie Moriartys Schwäche gekannt hat, glaubte niemand auch nur für einen Augenblick. Aber keiner zweifelte daran, daß sie dann Moriarty fallen gelassen und geschnitten hätte und daß sie allen ihren Bekannten die große Entdeckung mitgeteilt haben würde.

Moriarty hielt sie für etwas, was sie nie gewesen ist, und rettete sich selbst in diesem Glauben. Und das ist nicht minder gut, als wenn sie in Wirklichkeit all das gewesen wäre, was sie in seiner Einbildung war.

Es fragt sich nur noch, welcher Anteil Mrs. Reiver an Moriartys Rettung zugeschrieben wird, wenn für sie der Tag der Abrechnung kommt.

Ein Bankbetrug

Ein Bankbetrug

Wäre Reggie Burke jetzt in Indien, er würde es mir übelnehmen, daß ich diese Geschichte erzähle; da er aber zur Zeit in Hongkong lebt und sie nicht lesen wird, kann ich es getrost wagen. Er war der Mann, der den großen Betrug bei der Sind und Sialkote-Bank inszenierte. Damals war er Leiter einer Zweigstelle im Innern des Landes, ein Mann von gesunder praktischer Vernunft mit einer großen Erfahrung im einheimischen Kredit- und Versicherungswesen. Ja, er verstand sogar, die Frivolitäten des Alltags mit seiner Arbeit zu vereinen und trotzdem etwas zu leisten. Reggie Burke ritt jedes Tier, das ihm gestattete, aufzusitzen, tanzte so sauber wie er ritt und war bei allen Amüsements der Station unentbehrlich.

Wie er selbst betonte und wie viele Leute zu ihrer ziemlichen Überraschung entdeckten, gab es zwei Burkes, beide »ganz zu ihren Diensten«: von vier bis zehn »Reggie Burke«, zu allen Schandtaten bereit, bei einer Heiß-Wetter Gymkhana angefangen bis zu einem Reitpicknick, und »Mr. Reginald Burke«, Leiter der Zweigstelle der Sind und Sialkote-Bank, zu sprechen von zehn bis vier. Man konnte am Nachmittage mit ihm Polo spielen und ihn unverhohlen seine Meinung äußern hören, wenn einer »kreuzte«, und ihn am nächsten Morgen aufsuchen, um auf eine Fünfhundert-Pfund-Versicherungspolice – bezahlte Prämie achtzig Pfund – eine Zweitausend-Rupienanleihe aufzunehmen. In diesem Falle pflegte er einen zwar zu erkennen, aber ihn selbst wiederzuerkennen, war nicht ganz so einfach.

Die Direktoren der Bank – das Hauptquartier befand sich in Kalkutta und das Wort des Generaldirektors hatte Einfluß auf die Regierung – pflegten ihre Mitarbeiter zu sieben. Sie hatten Reggie gründlichst auf Herz und Nieren geprüft. Sie vertrauten ihm, so weit Bankdirektoren ihren Zweigstellenleitern überhaupt trauen. Man urteile selbst, ob er ihr Vertrauen verdiente.

Reggies Zweigstelle befand sich an einer größeren Station, und Reggie verfügte über die gewöhnlichen Hilfskräfte: einen Buchhalter und einen Kassierer, beide aus England, und eine Horde einheimischer Bankangestellter, nicht zu vergessen die nächtliche Polizeipatrouille. Der größte Teil der Geschäfte – es war ein blühender Distrikt – bestand aus allen möglichen kleineren, einheimischen Wechsel- und Geldtransaktionen. Ein Narr wird niemals diese Art von Geschäften begreifen, und ein kluger Mann, der nicht mit seinem Kundenkreis verkehrt und mehr als nur eine Ahnung von deren Angelegenheiten hat, ist schlimmer dran als ein Narr. Reggie war jung für sein Alter und glattrasiert, mit einem schalkhaften Ausdruck in den Augen und einem Kopf auf den Schultern, den nichts unter vier Liter echten Artillerie-Madeiras zu rühren vermochte.

Eines Tages bemerkte er so nebenbei, anläßlich eines großen Diners, die Direktoren hätten ihm aus England eine naturhistorische Seltenheit aus der Klasse der Buchhalter verfrachtet. Dies traf vollkommen zu. Mr. Silas Riley, Buchhalter, war in der Tat ein außerordentlich seltenes Tier – ein hochaufgeschossener, hagerer, grobknöchiger Mann aus Yorkshire, voll von jener maßlosen Einbildung, wie sie nur in der tüchtigsten Grafschaft Englands gedeiht. Arroganz ist ein mildes Wort, um die geistige Haltung von Mr. S. Riley zu bezeichnen. Er hatte sich nach siebenjähriger Tätigkeit zur Stellung eines Kassierers in einer Huddersfielder Bank hinaufgearbeitet und seine ganzen Erfahrungen in den nördlichen Fabrikbezirken gesammelt. Vielleicht hätte er in die Gegend von Bombay, wo Gewinne von anderthalb Prozent den Menschen schon glücklich machen und das Geld billig ist, besser hineingepaßt. Hier in einer Weizenprovinz Oberindiens war er unbrauchbar, denn hier bedarf ein Mann eines weiten Blicks und eines Funkens von Phantasie, um eine befriedigende Bilanz vorzeigen zu können.

In Geschäften war er von einer erstaunlichen Beschränktheit; da er im Lande fremd war, ahnte er natürlich nicht, daß das Bankwesen in Indien sich von dem in der Heimat gründlich unterscheidet. Wie fast jeder kluge Selfmademann entbehrte seine Natur nicht eines beträchtlichen Maßes von Einfalt; auf irgend eine Weise hatte er sich dank der in die üblichen Höflichkeitsfloskeln gekleideten Bedingungen seines Anstellungsschreibens den Glauben konstruiert, die Direktoren hielten besondere Stücke auf ihn und hätten ihn wegen seiner glänzenden Geistesgaben zu dem Posten auserwählt. Dieser Gedanke wuchs und nahm immer festere Formen an und vermehrte noch seinen natürlichen Fond Yorkshirer Einbildung. Außerdem war seine Gesundheit angegriffen; er litt an einem Lungenleiden und war daher besonders reizbar.

Nach alledem muß man wohl zugeben, daß Reggie triftigen Grund hatte, seinen Buchhalter als eine naturhistorische Seltenheit zu bezeichnen. Die beiden Männer kamen überhaupt nicht miteinander aus. Riley hielt Reggie für einen wilden, hirnverbrannten Dummkopf mit einer Vorliebe für, der Himmel weiß was für Ausschweifungen in gemeinen Lokalen, »Offiziersmessen« genannt; für einen Menschen, der zu dem ernsten und geheiligten Beruf des Bankfachmannes überhaupt nicht taugte. Niemals vermochte er sich mit Reggies jugendlichem Aussehen, mit seinem »Hol-dich-der Teufel« Gebaren abzufinden; und er konnte auch nicht Reggies Freunde verstehen – gutgewachsene, leichtsinnige Burschen von der Armee, die an Sonntagvormittagen zu Frühstücken in der Bank hinübergeritten kamen und schwüle Geschichten erzählten, bis Riley aufstand und das Zimmer verließ. Riley fuhr ohne Unterbrechung fort, Reggie zu zeigen, wie er das Geschäft führen müsse, und Reggie mußte ihn mehr als einmal daran erinnern, daß eine siebenjährige, begrenzte Erfahrung zwischen Huddersfield und Everley einen Mann noch nicht instand setzte, ein Geschäft im Innern Indiens zu leiten. Dann fing Riley an zu schmollen und sich darauf zu berufen, daß er eine Koryphäe der Bank und ein geschätzter Freund der Direktoren sei – und Reggie raufte sich die Haare. Wenn eines Mannes englische Angestellte ihn hierzulande im Stich lassen, so geht es ihm in der Tat schlecht, denn die Fähigkeiten der einheimischen Hilfskräfte sind durchaus begrenzt. Im Winter erkrankte Riley außerdem auf Wochen hinaus an seinem Lungenleiden, wodurch eine vermehrte Arbeitslast sich auf Reggie wälzte. Der jedoch zog das den dauernden Reibungen mit Riley vor.

Einer der reisenden Inspektoren der Bank erfuhr eines Tages von diesen Zusammenbrüchen Rileys und berichtete darüber den Direktoren. Nun war Riley der Bank von einem gewissen Parlamentsmitglied, das sich die Unterstützung von Rileys Herrn Papa zu erringen wünschte, aufgezwungen worden, und dieser wieder hatte seinen Sohn infolge des Lungenleidens in ein wärmeres Klima versetzen wollen. Das Parlamentsmitglied war zwar an der Bank beteiligt, aber einer der Direktoren hatte einen eigenen Anwärter auf Rileys Posten, und da Rileys Vater inzwischen gestorben war, bewog der Direktor den übrigen Vorstand zu der Einsicht, dieser Buchhalter, der über sechs Monate im Jahr krank wäre, müsse einem gesunden Manne weichen. Hätte Riley die wahre Geschichte seiner Anstellung gewußt, er würde sich wahrscheinlich besser benommen haben; da er aber nichts davon ahnte, wechselten seine Krankheitsperioden mit Zeiten ruhloser, hartnäckiger, nörgelnder Einmischung in Reggies Tätigkeit, während derer er Gelegenheit fand, auf hundert verschiedene Arten, wie sie sich dem subordinierten Angestellten immer bieten, der eigenen Eitelkeit zu frönen. Reggie pflegte ihn hinter seinem Rücken mit den überraschendsten, haarsträubendsten Namen zu belegen; direkt jedoch schalt er ihn niemals, denn er meinte: »Riley ist ein so verdammt schwächliches Geschöpf, daß die Hälfte seiner ekelhaften Einbildung seinen Stichen in der Brust entspringt.«

Ende April wurde Riley in der Tat schwer krank. Der Arzt klopfte und trommelte an ihm herum und sagte ihm, er würde sich bald wieder besser fühlen. Dann ging der Arzt zu Reggie und sagte: »Wissen Sie, wie krank Ihr Buchhalter ist?« »Nein,« sagte Reggie – »Je schlimmer, desto besser, der Teufel hol ihn! Er ist ’ne verdammte Plage, solange er sich wohl fühlt. Ich erlaube Ihnen, den Kassenschrank zu rauben, wenn Sie ihm während dieser Hitzeperiode was verschreiben, daß er den Mund hält.«

Aber der Doktor lachte nicht. »Mensch, ich mache wahrhaftig keine Witze. Ich schätze, daß er im Bett noch weitere drei Monate zu leben, sowie ein oder zwei Wochen zum Sterben hat. Bei meiner Ehre und meinem Ruf, eine längere Galgenfrist ist ihm nicht bemessen. Die Schwindsucht hat ihn bis ins Mark zerfressen.«

Reggies Gesicht verwandelte sich auf der Stelle in das von »Mr. Reginald Burke«, und er antwortete: »Was kann ich tun?« »Nichts,« entgegnete der Arzt. »Praktisch gesprochen, ist der Mann bereits tot. Sorgen Sie, daß er Ruhe hat und gute Laune, und reden Sie ihm vor, daß er sich erholen wird. Das ist alles. Ich werde natürlich bis zum Schluß nach ihm sehen.«

Damit entfernte sich der Arzt, und Reggie setzte sich, um die abendliche Post durchzusehen. Der erste Brief war von dem Vorstand und bedeutete ihm, daß Mr. Riley mit monatlicher Kündigung, entsprechend den Bedingungen seines Vertrages, zurückzutreten hätte; zugleich teilte man Reggie mit, daß ein direkter Brief an Riley folgte, und nannte ihm den Namen des neuen Buchhalters, eines Mannes, den Reggie kannte und gut leiden konnte.

Reggie steckte sich eine Manila an und entwarf, noch ehe er ausgeraucht hatte, den Plan zu einem Betrage. Er unterschlug den Brief der Direktoren und ging hinüber zu Riley, der so ungnädig wie immer war und sich über die Art, in der die Bank während seiner Krankheit geleitet werden würde, aufregte. Keinen einzigen Gedanken widmete er der Extraarbeit, mit der Reggie belastet war, sondern verweilte nur bei dem Schaden, der dadurch seiner eigenen Karriere entstünde. Aber Reggie versicherte ihm, alles würde gut gehen, und er, Reggie, wolle sich täglich mit Riley über die Leitung der Bank beraten. Das beruhigte Riley ein wenig; trotzdem ließ er ziemlich deutlich durchblicken, daß er von Reggies Geschäftstüchtigkeit nicht viel hielte. Reggie war ruhig und bescheiden. Dabei lagen Briefe von den Direktoren in seinem Schreibtisch, auf die ein Rothschild hätte stolz sein können.

Die Tage vergingen in dem großen, verdunkelten Hause, und der blaue Brief von der Direktion an Riley wurde von Reggie wegeskamotiert, der allabendlich die Bücher in Rileys Zimmer hinüberschleppte und ihm die laufenden Geschäfte auseinandersetzte, während Riley schimpfte. Reggie tat sein möglichstes, um Riley die Sache mundgerecht zu machen, doch der Buchhalter war überzeugt, die Bank ginge ohne ihn vor die Hunde. Als im Juni die Bettlägerigkeit seine Stimmung zu beeinträchtigen begann, erkundigte er sich, ob die Direktion von seiner Abwesenheit Notiz genommen hätte, und Reggie erklärte, sie hätte einen ungemein mitfühlenden Brief geschrieben und die Hoffnung ausgedrückt, Riley würde seine wertvollen Dienste bald wieder aufnehmen können. Er zeigte dem Kranken sogar den Brief; und Riley bemerkte, die Direktoren hätten an ihn selbst schreiben müssen. Wenige Tage später öffnete Reggie in der Dämmerung des Krankenzimmers Rileys Post und überreichte ihm den Briefbogen – nicht den Umschlag – eines Schreibens der Direktion an Riley. Riley sagte, er ersuche ihn, in Zukunft seine Privatkorrespondenz in Ruhe zu lassen; zumal er ja wüßte, daß er, Riley, so schwach sei, daß er nicht einmal seine eigenen Briefe aufmachen könnte. Reggie entschuldigte sich.

Dann wechselte Rileys Laune, und er hielt Reggie Moralpredigten über seinen lockeren Lebenswandel: seine Pferde und seine üblen Freunde. »Natürlich kann ich Sie jetzt, während ich ans Bett gefesselt bin, nicht auf dem rechten Wege halten, Mr. Burke; wenn ich aber erst wieder gesund bin, hoffe ich tatsächlich, daß Sie meine Worte ein wenig berücksichtigen werden.« Reggie, der Polo, Diners und Tenniseinladungen aufgegeben hatte, um Riley zu pflegen, erklärte daraufhin, er bereue und schob Rileys Kopfkissen zurecht und lauschte ohne das leiseste Zeichen von Ungeduld, während Riley in trockenem, abgerissenem Flüsterton sich ereiferte und ihm widersprach. Und das alles obendrein Ende Juni nach einer schweren Tagesarbeit für zwei!

Als der neue Buchhalter eintraf, setzte Reggie ihm den Sachverhalt auseinander und teilte Riley mit, er hätte Logierbesuch bekommen. Riley meinte, soviel Rücksicht hätte er auch haben können, sich nicht zu einer solchen Zeit mit seinen »zweifelhaften Freunden« zu amüsieren. Die Folge war, daß Reggie den neuen Buchhalter, Carron, veranlaßte, im Klub zu logieren. Carrons Ankunft entlastete Reggie ein wenig; so hatte er Zeit, Rileys Anforderungen zu genügen – zu erklären, zu beschwichtigen, Lügen zu ersinnen, dem armen Kerl immer wieder die Kissen zurechtzuschütteln und schmeichelhafte Briefe aus Kalkutta zu fälschen. Gegen Ende des ersten Monats wünschte Riley, einiges Geld nach Hause an seine Mutter zu schicken. Reggie sandte die Anweisung. Ende des zweiten Monats traf pünktlich, wie immer, Rileys Gehalt ein. Reggie hatte es aus eigener Tasche gezahlt und ihm gleichzeitig im Namen der Direktion einen wunderschönen Brief geschrieben.

Riley war wirklich sehr krank, und die Flamme seines Lebens flackerte unstet. Mitunter war er heiter und zukunftsfroh und schmiedete Pläne, wie er nach Hause fahren und seine Mutter besuchen wolle. Reggie lauschte dem allen geduldig, nach beendeter Bürozeit, und unterstützte es nach Kräften.

Mitunter aber bestand Riley darauf, daß Reggie ihm aus der Bibel und aus düsteren, methodistengleichen Traktätchen vorlas. Alsdann verwies Riley auf die Moral der Schriften, die er so auslegte, daß sie direkt auf seinen Chef zu zielen schien. Und immer und ewig fand er Zeit, Reggie wegen der Bankgeschäfte das Leben sauer zu machen und ihm zu zeigen, wo die Sache faul stünde.

Dieses Krankenzimmerleben und die fortgesetzte Überanstrengung brachten Reggie ziemlich herunter und erschütterten seine Nerven derart, daß sich sein Billardspiel um vierzig Punkte verschlechterte. Aber die Geschäfte der Bank und die Geschäfte des Krankenzimmers mußten durchgehalten werden, ob auch das Thermometer 116 Grad im Schatten anzeigte.

Ende des dritten Monats ging es mit Riley rapide bergab, und er selbst hatte begonnen, sich darüber klar zu werden, daß er schwerkrank sei. Aber die Eitelkeit, die ihn dazu trieb, Reggie zu quälen, hielt ihn auch davon ab, das Schlimmste zu glauben. »Er bedarf irgendeines geistigen Anregungsmittels, wenn er sich hinschleppen soll,« sagte der Arzt. »Sorgen Sie, daß er Interesse am Dasein hat, wenn Ihnen wirklich daran liegt, daß er weiterlebt.« So erhielt Riley entgegen sämtlichen Regeln des Geschäfts und der Finanz eine fünfundzwanzigprozentige Gehaltserhöhung von der Direktion. Das »geistige Anregungsmittel« wirkte wunderbar. Riley war glücklich und heiter und, wie das bei Schwindsüchtigen häufig ist, geistig am frischesten, wenn sein Körper am meisten darniederlag. Er schleppte sich noch einen vollen Monat so hin, bissig, giftig, sich über die Bank aufregend, von der Zukunft sprechend und der Bibel lauschend, während er Reggie seiner Sünden wegen herunterputzte und hin und her überlegte, wann er wohl nach drüben reisen könnte.

Allein eines erbarmungslos heißen Abends Ende September richtete er sich plötzlich keuchend im Bette auf und sagte hastig zu Reggie: »Mr. Burke, ich muß sterben. Ich fühle es aus mir selbst heraus. Meine Brust ist da drinnen ganz ausgehöhlt, es ist ja nichts mehr da, womit ich atmen könnte. Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich nichts getan« – er begann wieder, in den Dialekt seiner Kindheit zu verfallen – »was ich allzusehr zu bereuen hätte. Ich bin Gott sei Dank vor den grobem Formen der Sünde bewahrt worden, und ich rate Ihnen, Mr. Burke …«

Seine Stimme erstarb, und Reggie beugte sich über ihn.

»Schicken Sie mein Gehalt für September an meine Mutter … große Dinge für die Bank getan, wenn ich am Leben … grundfalsche Politik … nicht meine Schuld …«

Dann drehte er sich zur Wand und starb.

Reggie zog das Laken über jenes Dings Gesicht und ging auf die Veranda hinaus, sein letztes »geistiges Anregungsmittel« – einen mitfühlenden, ihr Bedauern über die Krankheit aussprechenden Brief der Direktion – unberührt in seiner Tasche.

»Wäre ich nur zehn Minuten früher gekommen!« dachte Reggie. »Vielleicht wäre es mir gelungen, ihn so aufzumuntern, daß er noch einen Tag länger durchgehalten hätte.«