Ad acta zu legen

Ad acta zu legen

»Sag, graut schon der Tag, senkt der Abend sich nieder,
Du, die ich begehre, die meiner begehrt?
Oh, laß es Nacht sein in Deinem Gemache,
Oh, laß mich, ja, laß – – –«

Hier stürzte er über ein Kamelfüllen, das in dem Serai schlief, in dem die Pferdehändler und die tüchtigsten Gauner Zentralasiens wohnen; und da er ungewöhnlich betrunken und die Nacht sehr dunkel war, vermochte er erst aufzustehen, als ich ihm half. Das war der Anfang meiner Bekanntschaft mit McIntosh Jellaludin. Wenn ein Strolch im Trunke das »Lied des Begehrens« singt, lohnt es sich, seinen Umgang zu pflegen. Er kletterte von dem Rücken des Kamels und sagte ziemlich schwerfällig: »Ich bin nicht mehr so ganz klar – aber ein kurzes Bad in Loggerhead wird die Sache schon in Ordnung bringen; und sagen Sie mal – haben Sie schon mit Symonds über der Stute Fesseln gesprochen?«

Nun lag Loggerhead sechs Tausend lange, lange Meilen fern, hart an der mesopotamischen Grenze, wo das Fischen verboten und Wilddieberei unmöglich ist, und Charley Symonds Stallungen lagen eine weitere halbe Meile entfernt, jenseits der Koppeln. Es war seltsam, hier in einer warmen Mainacht unter den Pferden und Kamelen der Sultan-Karavanserei die alten Namen wiederzuhören. Aber jetzt schien der Mann sich auf sich selbst zu besinnen und war im gleichen Augenblick verhältnismäßig nüchtern. Er lehnte sich gegen das Kamel und wies auf einen Winkel des Serai, in dem eine Lampe brannte:

»Da drüben wohne ich,« sagte er, »und ich wäre Ihnen außerordentlich zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Güte hätten, meinen etwas meuterisch veranlagten Füßen dorthin zu verhelfen; heute bin ich ganz ungewöhnlich voll – einfach – einfach phänomenal besoffen. Mit Ausnahme meines Kopfes. ›Mein Hirn empört sich gegen‹ – wie heißt es doch? Aber mein Kopf schwimmt über – nein, wälzt sich auf dem Misthaufen und kontrolliert die Dünste.«

Ich lotste ihn durch die Reihen angekoppelter Pferde, und auf den Stufen der Veranda vor den Gängen der Eingeborenenquartiere erlitt er einen Kollaps.

»Danke – tausend Dank! Oh Mond und kleine, kleine Sterne! Daß ein Mann sich so schamlos betrinken kann … Dazu an infamem Fusel. Ovid trank im Exil keinen schlechteren. Besseren. Eisgekühlt. Und ich hatte leider kein Eis. Gute Nacht. Ich würde Sie meiner Frau vorstellen, wäre ich nüchtern, oder das Weib zivilisiert.«

Eine Inderin trat aus dem Dunkel des Zimmers und begann den Mann mit Schimpfworten zu überhäufen; ich entfernte mich daher. Er war der interessanteste Strolch, den kennen zu lernen ich seit langem das Glück gehabt hatte, und wurde später einer meiner Freunde. Er war entsetzlich durch Alkohol mitgenommen, ein großer, gutgewachsener, blonder Mensch, der eher nach fünfzig als nach fünfunddreißig aussah, was, wie er mir sagte, sein richtiges Alter wäre. Wenn ein Mann in Indien zu sinken beginnt und nicht so bald wie möglich von seinen Freunden nach Hause geschickt wird, sinkt er vom Standpunkt der bürgerlichen Moral aus wirklich sehr tief. Und hat er erst, wie McIntosh, seinen Glauben gewechselt, so ist er rettungslos verloren.

In den meisten Großstädten wissen die Einheimischen von zwei, drei »Sahibs« – gewöhnlich der unteren Klassen – zu erzählen, die Hindus oder Mohammedaner geworden sind, aber man erhält nicht häufig Gelegenheit, sie kennen zu lernen. Wie McIntosh selbst bemerkte: »Wenn ich um meines Magens willen meine Religion wechsle, suche ich damit weder ein Märtyrer christlicher Missionare zu werden, noch lege ich besonderen Wert auf stadtbekannte Popularität.«

Am Anfang unserer Bekanntschaft erteilte mir Mclntosh eine Warnung. »Vergessen Sie bitte das eine nicht: ich bin kein Objekt der Nächstenliebe. Ich brauche weder Ihr Geld, noch Ihr Essen, noch Ihre abgetragenen Kleider. Ich bin jenes seltene Tier: ein sich selbst ernährender Säufer. Wenn Sie es wünschen, werde ich mit Ihnen rauchen, da der Tabak der Bazare, das will ich gerne zugeben, meinem Gaumen nicht zusagt, und ich werde mir alle Bücher borgen, auf die Sie keinen besonderen Wert legen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich sie gegen Flaschen niederträchtigen, einheimischen Fusels eintauschen werde. Als Revanche sollen Sie die geringe Gastfreundschaft genießen, die mein Haus zu bieten vermag. Hier ist ein Feldbett, auf dem zwei Personen sitzen können, und es ist immerhin möglich, daß sich von Zeit zu Zeit in jener Schüssel etwas Eßbares findet. Alkohol dagegen ist, leider, jederzeit vorhanden: so heiße ich Sie in meinem bescheidenen Heim willkommen.«

Ich wurde in die Familie McIntosh aufgenommen – ich und mein guter Tabak – sonst nichts. Unglücklicherweise kann man aber einen Strolch im Serai nicht hei Tage besuchen. Pferdekaufende Bekannte würden nur geringes Verständnis dafür haben. Folglich war ich gezwungen, meine Visiten auf die Zeit nach Dunkelwerden zu beschränken. McIntosh lachte darüber und sagte: »Sie haben vollkommen recht. Als ich noch eine Stellung in der Gesellschaft einnahm – ein wenig höher als die Ihrige – hätte ich genau so gehandelt. Großer Gott! Ich war einmal« – er sprach, als hätte er das Kommando eines Regiments verloren – »Oxforder Student!« (Hier war die Erklärung für jene Bemerkung über Charley Symonds Gestüt.)

»Sie,« fuhr McIntosh langsam fort, »haben nicht diesen Vorteil genossen; aber Sie besitzen, Ihrem Aussehen nach zu schließen, auch nicht meine Neigung für starke Getränke. Alles in Allem, schätze ich, hatten Sie von uns beiden das größere Glück. Obwohl ich davon noch nicht überzeugt bin. Sie sind – verzeihen Sie diese Bemerkung in einem Augenblick, da ich Ihren vorzüglichen Tabak rauche – Sie sind zum Beispiel in gewissen Dingen ein krasser Ignorant.«

Wir saßen zusammen auf dem Rand seines Bettes – Stühle besaß er nicht – und beobachteten die Pferde, die zur nächtlichen Tränke geführt wurden, während das Eingeborenenweib das Essen kochte. Im Allgemeinen liebe ich es nicht, von Vagabunden gönnerhafte Lehren zu empfangen, aber ich war im Augenblick sein Gast, wenn er auch nur Eigentümer eines arg zerrissenen Alpaka-Rockes sowie eines Paares grober, sackleinerner Hosen war. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fügte kritisch hinzu: »Alles in Allem bezweifle ich doch, ob Sie der Glücklichere sind. Ich gedenke dabei nicht Ihrer außerordentlich beschränkten humanistischen Bildung sowie Ihrer himmelschreiend mangelhaften mathematischen Kenntnisse, sondern Ihrer peinlichen Ignoranz in bezug auf Dinge, die sich unmittelbar unter Ihren Augen vollziehen. Dinge wie das da zum Beispiel.«

Er deutete auf eine Frau, die an einem Brunnen in der Mitte des Serais einen Samowar reinigte. Sie schnellte das Wasser in regelmäßig abgemessenen, rhythmischen Bewegungen aus dem Wasserhahn.

»Es gibt verschiedene Arten, einen Samowar zu reinigen. Wüßten Sie nun, weshalb sie ihre Arbeit auf diese besondere Art verrichtet, dann verstünden Sie auch den Sinn der Worte des spanischen Mönchs:

›Ich, ein Bild der Drei-in-Eins,
Trinke Saft der Goldorangen,
Nippe drei Mal und durchkreuze
Arianer, die in einem
Zug das Naß hinunterspülen‹

sowie zahlreiche andere Dinge, die Ihnen bis heute verschlossen sind. Aber ich sehe, Frau McIntosh hat das Essen fertig zubereitet. Kommen Sie und lassen Sie uns speisen nach der Sitte der Leute dieses Landes – von denen Sie, nebenbei bemerkt, nichts wissen.«

Die Inderin tauchte gleichzeitig mit uns ihre Hand in den Napf. Das war ungehörig. Eine Frau hat stets zu warten, bis der Gatte gegessen hat. McIntosh Jellaludin entschuldigte sich und meinte:

»Das ist noch so ein europäisches Vorurteil, das ich nicht habe überwinden können; außerdem liebt sie mich. Weshalb, habe ich nie begriffen. Drei Jahre sind es her, daß ich in Jullundu mit ihr zusammenzog, und sie ist seitdem bei mir geblieben. Ich halte sie sogar für anständig und weiß, daß sie eine geschickte Köchin ist.«

Mit diesen Worten strich er ihr über den Scheitel, und sie stieß ein leises, befriedigtes Gurren aus. Sie war keineswegs hübsch anzusehen.

McIntosh hat mir nie verraten, welche Stellung er vor seinem Sturz einnahm. Er war, wenn nüchtern, ein Mann von umfangreichem Wissen und ein Gentleman. Im Rausch traf das Erstere mehr auf ihn zu. Er war gewohnt, sich etwa ein Mal die Woche für zwei volle Tage zu betrinken. Bei diesen Gelegenheiten pflegte ihn die Inderin, während er in allen Zungen der Welt mit Ausnahme seiner Muttersprache delirierte. Ja, eines Tages begann er »Atlanta in Calydon« aufzusagen und rezitierte es von Anfang bis zu Ende, indem er mit einem Pfosten aus seiner Bettstatt den Takt dazu schlug. Meist jedoch tobte er auf Griechisch oder Deutsch. Dieses Mannes Gedächtnis war ein förmlicher Lumpensack nutzlosen Wissens. Ein anderes Mal, als ihm langsam das Bewußtsein zurück kam, erklärte er mir, er sei das einzige, vernunftbegabte Wesen in dem Inferno, in das er hinabsteige – ein Virgil unter den Schatten – und daß er mir zum Dank für meinen Tabak, ehe er stürbe, Stoff zu einem neuen Inferno geben wollte, das mich zu einem größeren Dichter als Dante machen würde. Dann schlief er auf einer Pferdedecke ein und erwachte vollkommen klar.

»Mensch,« sagte er, »wenn man erst die tiefsten Grade der Erniedrigung erreicht hat, verlieren nebensächliche Ereignisse, die Euch auf einer höheren Lebensstufe noch ärgern, restlos an Bedeutung. Gestern Nacht war meine Seele bei den Göttern, aber ich zweifle keinen Augenblick, daß mein bestialischer Körper sich hier unten im Unflat wälzte.«

»Sie waren viehisch betrunken, wenn Sie das meinen,« entgegnete ich.

»Ich war in der Tat betrunken – schweinisch betrunken. Ich, der ich der Sohn eines Mannes bin – der Sie nichts angeht – der Sohn einer Alma Mater, deren Butterkammer Sie noch nicht einmal gesehen haben. Ich war schweinisch betrunken. Aber bedenken Sie nur, wie wenig ich darunter leide. Im Grunde genommen macht es mir gar nichts, ja weniger als nichts aus. Wie furchtbar wäre dagegen die Strafe, die ich in einem höheren Leben erdulden müßte, wie bitter die Reue! Glauben Sie mir, mein Freund mit der vernachlässigten Erziehung, das Höchste ist nicht anders als das Tiefste – immer vorausgesetzt, daß man den letzten Grad annimmt.«

Er drehte sich auf seinem Deckenlager um, griff sich mit beiden Fäusten an die Schläfen und fuhr fort:

»Bei der Seele, die ich verloren, und dem Gewissen, das ich ertötet habe: ich sage Ihnen, daß ich nichts mehr empfinden kann! Ich gleiche darin den Göttern: ich erkenne zwar das Gute wie das Böse, bleibe aber von Beidem unberührt. Ist das nun beneidenswert oder nicht?«

Wenn ein Mensch in diesem Maße die Warnung eines morgendlichen Katzenjammers eingebüßt hat, so muß es in Wahrheit schlecht um ihn stehen. Ich antwortete daher, das Bild McIntoshs auf der Pferdedecke mit dem wirr in das Gesicht hängenden Haar und den weißblauen Lippen vor Augen, daß ich diese Gefühllosigkeit nicht für gut hielte.

»Um Himmels willen, sagen Sie das nicht! Ich erkläre Ihnen, sie ist gut und im höchsten Grade beneidenswert. Denken Sie nur an meine Kompensationen!«

»Haben Sie deren wirklich so viele, McIntosh?«

»Selbstverständlich; Ihre Versuche, sarkastisch zu sein, typische Waffen eines kultivierten Menschen, sind allzu plump. Erstens einmal habe ich mein Wissen: meine humanistische Bildung – ein wenig getrübt vielleicht durch unmäßiges Trinken – (wobei mir einfällt, ich habe gestern Nacht, ehe meine Seele bei den Göttern weilte, Ihren mir so liebenswürdig geliehenen Pickeringschen Horaz verkauft. Ditta Mull, der Kleinhändler, hat ihn. Er gab mir acht Annas dafür, das Buch kann aber für eine Rupie wieder eingelöst werden) aber, immerhin – der Ihrigen ist sie weit überlegen. Zweitens: die unverbrüchliche Zuneigung von Frau McIntosh, beste aller Frauen. Drittens: ein Monument, unverwüstlicher als Erz, das ich in den sieben Jahren meiner Degradation errichtet habe.«

Hier hielt er inne und kroch durch das Zimmer, nach einem Trunk Wasser. Er war schon recht zittrig und schwerkrank.

Verschiedene Male kam er wieder auf diesen ›Schatz‹ – auf irgendeine in seinem Besitze befindliche Kostbarkeit zu sprechen – ich hielt die Sache jedoch für ein Wahngebilde seiner Trinkerphantasie. Er war so arm und so stolz wie nur möglich. Sein Benehmen war keineswegs liebenswürdig, aber er kannte die Eingeborenen, unter denen er sieben Jahre seines Lebens verbracht hatte, so gründlich, daß der Verkehr mit ihm sich wirklich lohnte. Er pflegte sogar über Strickland zu lachen, den er als einen Ignoranten bezeichnete – »in westlichen wie östlichen Dingen ein Ignorant«. Er rühmte sich erstens: seiner Eigenschaft als Oxfordmann von erlesensten Talenten – eine Angabe, die ebensogut auf Wahrheit wie auf Unwahrheit beruhen konnte – ich vermochte sie keiner Hinsicht zu kontrollieren; zweitens: der Tatsache, »daß seine Hand auf dem Puls des Eingeborenenlebens ruhe«.

Letzteres war wirklich wahr. Als Oxforder Akademiker kam er mir ein wenig snobistisch vor: er protzte ständig mit seiner Bildung. Als mohammedanischer Fakir – als McIntosh Jellaludin dagegen – konnte ich mir keinen wertvolleren Menschen denken. Er rauchte mehrere Pfund meines Tabaks und lehrte mich etliche Unzen kostbaren Wissens; niemals jedoch wollte er das geringste Geschenk annehmen, auch nicht, als das kalte Wetter kam und ihm unter den elenden, dünnen Alpaka-Rock mit Eisesfingern an die Brust griff. Er wurde sogar sehr böse und erklärte, ich hätte ihn beleidigt, und er dächte gar nicht daran, ins Krankenhaus zu gehen. Er hätte zwar wie ein Vieh gelebt, aber sterben wollte er als Mensch.

Tatsächlich starb er auch an Lungenentzündung. In seiner Todesnacht schickte er mir ein schmutziges, kleines Billett mit der Bitte, herüberzukommen und ihm beim Sterben zu helfen.

Die Inderin saß weinend neben seinem Bette. McIntosh, in ein dünnes Baumwolltuch gehüllt, war zu schwach, um wütend zu werden, als ich ihn mit einem Pelzmantel zudeckte. Geistig war er jedoch vollkommen rege, und seine Augen flammten. Nachdem er den Arzt in meiner Begleitung derart beschimpft hatte, daß der alte Herr empört wieder abzog, fluchte er eine Weile auf mich und beruhigte sich dann schließlich.

Darauf befahl er seiner Frau, aus einem Loch in der Wand »das Buch« zu holen. Sie schleppte ein großes, in einem alten Unterrock eingewickeltes Bündel alter, kunterbunter Papiere herbei, die eng mit kleiner, zierlicher Schrift bedeckt waren. McIntosh fuhr mit der Hand liebevoll durch den alten Plunder.

»Das hier,« sagte er, »ist mein Werk – das Buch McIntosh Jellaludins, in dem zu lesen ist, was er sah und was ihm und vielen anderen zustieß; gleichzeitig ist es eine Darstellung des Lebens, der Sünden und des Todes von Mutter Maturin. Was Mirza Murad Ali Begs Buch bedeutet, verglichen mit allen anderen Büchern über das Leben der Eingeborenen, das bedeutet mein Werk, verglichen mit dem von Mirza Murad Ali Beg!«

Das ist, wie jeder Kenner von Mirza Murad Ali Begs Buch zugeben wird, eine kühne Behauptung. Die Papiere sahen nicht gerade kostbar aus, aber McIntosh überreichte sie mir, als wären sie lauter Banknoten. Dann fügte er langsam hinzu:

»Trotz der zahlreichen Mängel Ihrer Erziehung haben Sie anständig an mir gehandelt. Ich werde Ihren Tabak erwähnen, wenn ich zu den Göttern eingehe. Ich bin Ihnen wegen vieler Freundlichkeiten zu großem Danke verpflichtet. Ich hasse jedoch Verpflichtungen. Aus diesem Grunde vermache ich Ihnen ein Monument dauernder als Erz – mein eigenes Buch – roh und unvollkommen in manchen Teilen, doch ach – selten und einzigartig in anderen. Ich bin gespannt, ob Sie es verstehen werden. Es ist eine Ehrengabe, größer als – – Pah, ich phantasiere wieder! Sie werden es natürlich entsetzlich verstümmeln. Sie als Philister werden die Edelsteine, die Sie ›Lateinische Zitate‹ nennen, ausmerzen und den Stil zerstückeln, bis er in Ihren eigenen, ungehobelten Jargon hineinpaßt; aber Sie werden das Ganze doch nicht umbringen können. Ich vermache es Ihnen. Ethel … da, wieder geht mir mein Gehirn durch! Frau McIntosh, Du bist Zeugin, daß ich diesem Sahib hier alle meine Papiere übergebe. Sie würden dir nichts nützen, Herz meines Herzens; und Ihnen mache ich es zur Pflicht« – hier wandte er sich wieder an mich – »mein Buch in seiner jetzigen Gestalt nicht untergehen zu lassen. Sonst ist es bedingungslos Ihr Eigentum – die Geschichte McIntosh Jellaludins, die gar nicht die Geschichte McIntosh Jellaludins, sondern eines weit größeren Mannes und einer weit, weit größeren Frau ist! Hören Sie mich an! Ich bin weder wahnsinnig noch betrunken! Jenes Buch wird Sie berühmt machen.«

Ich sagte »Danke«, als die Inderin mir das Bündel in die Arme legte.

»Mein einziges Kind,« meinte McIntosh mit einem Lächeln. Es ging jetzt rasch bergab, aber er fuhr fort zu reden, solange er noch Atem hatte. Ich wartete auf das Ende; ich wußte, in neun Fällen von zehn verlangt ein Sterbender nach seiner Mutter. McIntosh drehte sich auf die Seite und sagte:

»Erzählen Sie, wie es in Ihren Besitz gelangte. Zwar wird Ihnen niemand glauben, aber mein Name wird wenigstens weiterleben. Ich weiß, Sie werden es brutal behandeln. Ein Teil muß ja auch kassiert werden: die Menschen sind eine Herde Narren, prüder Narren obendrein. Ich stand einst in ihren Diensten. Aber gehen Sie bei ihren Verstümmelungen behutsam vor, recht behutsam. Es ist ein großes Werk und ich habe mit sieben Jahren der Verdammnis dafür bezahlt.«

Zehn, zwölf Atemzüge lang schwieg er, dann begann er auf Griechisch eine Art Gebet zu murmeln. Die Inderin weinte bitterlich. Endlich richtete er sich auf seinem Lager auf und sagte laut und langsam: »Nicht schuldig, mein Herr und Gott!«

Dann sank er zurück, und Bewußtlosigkeit hielt ihn umfangen bis zu seinem Tode. Das Eingeborenenweib lief hinaus in das Serai zu den Pferden, heulte und schlug sich auf die Brüste; sie hatte ihn geliebt.

Vielleicht liegt in dem letzten Ausspruch McIntoshs der Schlüssel dessen, was er im Leben durchmachte; wie dem auch sei, mit Ausnahme des dicken Bündels Papiere fand sich nichts in seiner Wohnung, um zu verraten, wer und was er gewesen war.

Die Papiere befanden sich in hoffnungsloser Unordnung.

Strickland half mir, sie sortieren und meinte, der Verfasser sei entweder ein phänomenaler Lügner oder eine einzigartige Persönlichkeit. Er glaubte mehr an das Erstere. Eines Tages wird sich jeder vielleicht ein Urteil darüber bilden können. Die Papiere bedurften einer gründlichen Expurgation. Sie wimmelten, besonders an den Kapiteleingängen, von allem möglichen griechischen Unsinn, der inzwischen aber gestrichen wurde.

Sollte das Zeugs jemals veröffentlicht werden, so wird irgendein Leser sich vielleicht dieser Geschichte erinnern, die als Schutzmaßnahme geschrieben wurde, um zu beweisen, daß McIntosh Jellaludin und nicht ich das Buch von Mutter Maturin verfaßt hat.

Ich möchte nicht, daß sich das Märchen von des Riesen Kleid in meinem Falle bewahrheitet.

Im Joch

Im Joch

Auf dem Gravesender Hafenboot, das von dem nach Bombay bestimmten Dampfer der P&O.-Linie zurückkehrte, um den Anschluß an den Londoner Zug nicht zu versäumen, waren viele, die weinten. Aber niemand weinte so heftig und unverhohlen wie Miß Agnes Laiter. Sie hatte Grund zu weinen, denn der Mann, den sie einzig liebte und, – wie sie sagte, – stets einzig lieben würde, ging nach Indien. Und Indien, das weiß jeder, gehört zu gleichen Teilen dem Dschungel, Tigern, giftigen Schlangen, der Cholera und den indischen Soldaten.

Phil Garron lehnte sich im Regen über Bord und fühlte sich auch sehr unglücklich. Aber er weinte nicht. Man schickte ihn auf eine Teeplantage. Was das bedeutete, war ihm nicht im geringsten klar, er glaubte nur, daß er auf stolzem Roß über Plantagenhöhen reiten würde, um dafür ein fürstliches Gehalt zu beziehen. Deshalb war er seinem Onkel, der ihm diese Stellung verschafft hatte, sehr dankbar. Er wollte jetzt im Ernst sein träges, nutz- und zielloses Leben ändern, jährlich einen großen Teil seines großartigen Gehaltes zurücklegen, in sehr kurzer Zeit wieder heimkehren und Agnes Laiter heiraten. Phil Garron hatte drei Jahre lang seinen Freunden auf der Tasche gelegen, und da er nichts zu tun gehabt hatte, sich natürlich verliebt. Er war ein netter Mensch, aber nicht gerade stark in seinen Ansichten, Meinungen und Grundsätzen. Und wenn er auch nie zu Fall gekommen war, freuten sich seine Freunde doch, als er Abschied nahm, um sich in die geheimnisvolle Teegegend bei Darjiling zu begeben. Sie sagten: »Gott befohlen, lieber Junge. Laß dich hier so bald nicht wieder sehen.« Oder sie gaben es ihm wenigstens zu verstehen.

Bei der Ausfahrt war er erfüllt von dem großen Vorsatz, zu beweisen, daß er hundertmal besser sei, als man von ihm geglaubt hatte. Er wollte wie ein Pferd arbeiten und Agnes Laiter im Triumph heimführen. Es war viel Gutes an ihm, auch abgesehen von seinem guten Äußern. Sein einziger Fehler war eine Schwäche, eine ganz, ganz kleine, wirklich ganz kleine Schwäche. Er sparte so wenig, wie eine Morgenzeitung an Papier spart. Und doch konnte man nirgends auf etwas hinweisen, von dem man hätte sagen können: »Hier ist Phil Garron verschwenderisch oder leichtsinnig gewesen.« Und ebenso vermochte man in seinem Charakter keine bestimmten Untugenden zu entdecken. Aber er war »unerfreulich« und so schmiegsam wie Ton.

Agnes Laiter ging zu Hause ihren Pflichten nach, mit roten Augen, – denn ihre Familie war gegen die Verlobung, – während Phil nach Darjiling fuhr. Seine Mutter sagte zu ihren Freunden: »nach einem Hafen am bengalischen Meerbusen«. Phil war an Bord recht beliebt, hatte viele Bekanntschaften und eine ganz anständige Weinrechnung und schrieb von jedem Hafen aus unendlich lange Briefe an Agnes Laiter. Er begann seine Tätigkeit auf der Plantage, irgendwo zwischen Darjiling und Kangra, und obwohl Gehalt, Pferd und Arbeit nicht ganz seinen Vorstellungen entsprachen, kam er ganz gut vorwärts und bildete sich auf seine Ausdauer unnötig viel ein.

Als er sich mit der Zeit an das Joch der Arbeit und ihre starre Regelmäßigkeit gewöhnt hatte, verlor sich das Bild Agnes Laiters aus seinem Gedächtnis. Nur in Mußestunden, die nicht häufig waren, kam es ihm zurück. Er könnte sie vierzehn Tage lang ganz vergessen, bis er sich wie ein Schuljunge, der seine Aufgaben nicht gemacht hat, mit einem Ruck ihrer erinnerte. Sie vergaß Phil nicht, denn sie gehörte zu denen, die nie vergessen. Es erschien nur ein anderer, – ein wirklich begehrenswerter junger Mann, – im Haus von Mrs. Laiter. Die Möglichkeit einer Heirat mit Phil lag in unverminderter Ferne, und seine Briefe waren so unbefriedigend, und ein häuslicher Druck wurde auf das Mädchen ausgeübt, und der junge Mann war wirklich begehrenswert, was sein Einkommen betraf, und so war das Ende vom Lied, daß Agnes ihn heiratete und einen stürmischen Brief an Phil in die Wüste von Darjiling sandte. Sie schrieb, daß sie in ihrem Leben keine glückliche Stunde mehr haben würde. Und diese Prophezeiung bewahrheitete sich.

Phil empfing den Brief und fühlte sich schlecht behandelt. Das geschah zwei Jahre nach seiner Abreise. Und jetzt dachte er wieder dauernd an Agnes Laiter. Er betrachtete ihr Bild und warf sich in die Brust in dem Glauben, daß er der treueste Liebhaber der Weltgeschichte gewesen sei. Er wärmte sich an der Glut der Überzeugung, daß er wahrhaft schlecht behandelt würde. Dann setzte er sich hin und schrieb einen letzten Brief, eine höchst rührselige Predigtepistel im Stil des »Vereint bis in den Tod. Amen!« Er setzte auseinander, daß er in alle Ewigkeit treu bleiben würde, daß alle Frauen gleich wären, daß er sein gebrochenes Herz verbergen wolle usw., aber wenn im Lauf der Zeit usw. usw., er könne warten usw. usw., Rückkehr zur alten Liebe usw. usw., und das alles auf acht eng beschriebenen Seiten. Vom künstlerischen Standpunkt aus war es eine saubere Arbeit; aber ein gemeiner Philister, der Phils wahre Gefühle kannte, – nicht die, zu denen er sich beim Schreiben aufschwang, – hätte in dem Brief das durch und durch kleinliche und selbstische Werk eines durch und durch kleinlichen, selbstischen und schwachen Menschen erkannt. Aber auch dies Urteil wäre nicht ganz gerecht gewesen. Phil zahlte das Porto und fühlte jedes Wort, das er geschrieben, wenigstens zweieinhalb Tage lang. Es war das letzte Aufflackern, ehe die Flamme erlosch.

Das Schreiben machte Agnes Laiter sehr unglücklich. Sie schloß es weinend in ihren Schreibtisch und wurde zum Besten ihrer Familie Frau Soundso. Und das ist auch die Pflicht jeder christlichen Jungfrau.

Phil ging seiner Wege und gedachte seines Briefes nur noch so, wie ein Künstler an eine fein nuancierte Skizze denkt. Sein Wandel war nicht schlecht, aber auch nicht gut, bis er Dunmaya, der Tochter eines ehemaligen Radschput-Majors der englisch-indischen Armee, begegnete.

Das Mädchen hatte einen Tropfen fremden Blutes in den Adern. Dieser Tropfen stammte aus den Bergen, und sie gehörte deshalb nicht zu einer hohen Kaste. Wo Phil sie kennen lernte, oder wie er von ihr erfuhr, gehört nicht zur Sache. Sie war ein gutes Mädchen und schön; in ihrer Art sehr klug und schlau, aber selbstverständlich auch etwas herb. Man darf nicht vergessen, daß Phil sehr behaglich lebte, sich keinen kleinen Genuß mißgönnte, keinen Heller zurücklegte, seine englische Korrespondenz aufgab und das Land, in dem er lebte, allmählich als seine Heimat zu betrachten anfing. Viele Männer gehen diesen Weg und werden unbrauchbar. Das Klima seines Ortes war gut, und es schien wirklich nichts zu geben, um dessentwillen er hätte wieder nach Hause gehen sollen.

Er tat, was mancher Pflanzer schon vor ihm getan hatte: er entschloß sich, ein Mädchen aus den Bergen zu heiraten und einen Hausstand zu gründen. Er war damals siebenundzwanzig Jahre alt und hatte noch ein langes Leben vor sich, aber nicht die nötige Energie. Also heiratete er Dunmaya nach dem Brauch der englischen Kirche. Einige Pflanzer sagten, er sei ein Narr, und manch andere wieder, er sei ein weiser Mann. Dunmaya war ein durchaus ehrlicher Mensch und sah trotz ihrer Hochachtung vor den Engländern ziemlich klar die Schwächen ihres Mannes. Sie lenkte ihn mit Vorsicht und unterschied sich nach kaum einem Jahre in Kleidung und Haltung fast nicht mehr von einer Engländerin. (Es ist erstaunlich, daß ein Hindu aus den Bergen trotz lebenslänglicher Schulung immer doch ein Hindu bleibt, während eine Hindufrau in sechs Monaten sich die meisten Lebensgewohnheiten ihrer englischen Schwestern zu eigen macht. Es war einmal eine Kulifrau. Aber das ist eine andere Geschichte.) Dunmaya kleidete sich mit Vorliebe in Schwarz und Gelb, und es stand ihr gut. Inzwischen lag der Brief in Agnes‘ Schreibtisch. Sie dachte dann und wann an den armen, entschlossenen Phil, der unter den Schlangen und Tigern von Darjiling schwer arbeiten mußte, und an seine immer noch vergebliche Hoffnung, daß sie einmal zu ihm zurückkehren würde. Ihr Mann war zehn Phils wert, nur war sein Herz rheumatisch. Drei Jahre nach ihrer Heirat, nachdem er in Nizza und Algier vergebens Heilung gesucht hatte, ging er nach Bombay, wo er starb. Agnes war frei. Da sie eine fromme Frau war, sah sie in seinem Tode und dem Ort seines Todes den ausgesprochenen Willen der Vorsehung. Und als sie sich etwas von dem Schlag erholt hatte, zog sie Phils Brief hervor. Sie las ihn von neuem mit den usw., den langen Gedankenstrichen und den kurzen Gedankenstrichen und küßte ihn wieder und wieder. Niemand kannte sie in Bombay. Sie hatte das große Einkommen ihres Mannes, und Phil konnte nicht weit sein. Es war nicht recht und vielleicht unpassend, aber sie beschloß wie eine Romanheldin, ihren alten Geliebten aufzusuchen, ihm Hand und Vermögen anzutragen und den Rest ihres Lebens mit ihm irgendwo, fern von fühllosen Seelen zu verbringen. Zwei Monate saß sie einsam in Watsons Hotel und malte sich ihren Plan aus. Und es entstand ein hübsches Bild. Dann machte sie sich auf die Suche von Phil Garron, Angestellten einer Teeplantage mit einem mehr als gewöhnlich unaussprechlichen Namen.

Sie fand ihn. Ihr Suchen hatte einen Monat gedauert. Denn die Plantage lag gar nicht im Darjiling-Distrikt, sondern mehr nach Kangra zu. Phil hatte sich sehr wenig verändert, und Dunmaya war sehr nett zu ihr.

Die größte Sünde und Schande an der ganzen Geschichte aber ist, daß Phil, der wirklich kaum einer Erinnerung wert war, von Dunmaya geliebt wurde und noch geliebt wird. Und daß Agnes, deren ganzes Leben er vernichtet hatte, ihn noch heißer liebt.

Und noch schlimmer als all das ist es, daß Dunmaya jetzt aus ihm einen anständigen Menschen macht, und daß ihr Einfluß ihn zuguterletzt vor der ewigen Verdammnis bewahren wird.

Offenbar ist das durchaus ungerecht.

Zwielicht

Zwielicht

Kein Mann wird wohl je die volle Wahrheit dieser Geschichte erfahren. Frauen werden sie sich vielleicht zuflüstern, wenn sie nach Bällen ihr Haar für die Nacht ordnen und ihre Opferlisten miteinander vergleichen. Ein Mann darf solcher Tätigkeit natürlich nicht beiwohnen, und so kann denn diese Geschichte nur ganz oberflächlich, – unscharf – erzählt werden.

Man soll eine Schwester nie der Schwester gegenüber loben in der Hoffnung, daß die Schmeicheleien das rechte Ohr doch noch erreichen und so für später Wege ebnen. Denn zuallererst sind Schwestern Frauen und dann erst Schwestern. Und man findet schließlich, daß man sich geschadet hat.

Wußte Saumarez das wohl, als er sich entschloß, um die ältere Miß Copleigh zu werben? Saumarez war ein merkwürdiger Mensch. In den Augen der Männer hatte er wenig Vorzüge, aber er war beliebt bei Frauen und besaß genug Dünkel, den Rat des Vizekönigs damit versorgen zu können. Vielleicht wäre auch noch etwas für den Stab des Oberstkommandierenden übriggeblieben. Er stand im Zivildienst. Sehr viele Frauen interessierten sich für Saumarez, vielleicht nur darum, weil sein Benehmen ihnen gegenüber verletzend war. Ein Pony wird den, der es im Anfang seiner Bekanntschaft über die Schnauze schlägt, nicht gerade lieben, aber es wird in der Folge ein tiefes Interesse für alle seine Schritte hegen. Die ältere Miß Copleigh war nett, rundlich, hübsch und liebenswürdig. Die jüngere war weniger hübsch, und, nach Männern zu urteilen, die den eben erwähnten Wink mißachteten, eher abweisend als fesselnd. Beide Mädchen hatten eigentlich die gleiche Figur und in Stimme und Aussehen eine starke Ähnlichkeit, wenn auch niemand nur einen Augenblick im Zweifel sein konnte, welche die Nettere von beiden war.

Saumarez faßte seinen Entschluß, die Ältere zu heiraten, als sie kaum von Behar gekommen waren. Wenigstens glaubten wir alle, daß er es beabsichtige, was auf dasselbe herauskommt. Sie war zweiundzwanzig, und er dreiunddreißig, mit Gehalt und Nebeneinnahmen von monatlich vierzehnhundert Rupien. Die Partie, wie wir sie uns dachten, war also in jeder Hinsicht günstig. Saumarez heißt er, und summarisch ist er, wie jemand einmal von ihm gesagt hat. Nach dem Entwurf seiner Resolution bildete er einen Sonderausschuß, in dem er allein beriet und beschloß, die rechte Stunde abzuwarten. Die Copleighschen Mädchen gingen »paarweise auf die Jagd«, wie wir uns in unserer nicht gerade liebenswürdigen Art ausdrückten. Wir wollten damit sagen, daß man die eine nie ohne die andere zu fassen bekam. Es waren sehr zärtliche Schwestern, aber ihre gegenseitige Anhänglichkeit konnte bisweilen lästig werden. Saumarez hielt sich geschickt zwischen beiden, und nur er selbst hätte sagen können, nach welcher Seite sein Herz neigte, wenn es auch jeder zu erraten glaubte. Er ritt und tanzte viel mit ihnen, aber es gelang ihm doch nie, die eine für ein Weilchen von der andern zu trennen.

Unter Frauen hieß es, daß die beiden Mädchen aus tiefem Mißtrauen gegeneinander so fest zusammenhielten, jede in der Furcht, die andere könne ihr einen Vorsprung abgewinnen. Aber das geht einen Mann nichts an. Saumarez sprach weder dafür noch dagegen. Er war so geschäftsmäßig aufmerksam, wie es ihm seine Arbeit und sein Polospielen irgend erlaubten. Zweifellos hatten beide Mädchen ihn gern.

Als sich die heiße Jahreszeit näherte und Saumarez sich noch immer nicht erklärt hatte, behaupteten die Frauen, daß den Mädchen die Sorge aus den Augen sähe. Sie machten einen abgespannten, bekümmerten und reizbaren Eindruck. Männer sind in diesen Dingen völlig blind, es sei denn, daß sie ihrer Anlage nach mehr Weibliches als Männliches haben. In diesem Fall ist es belanglos, was sie denken und sagen. Ich behaupte, die heißen Apriltage nahmen den Copleighschen Mädchen die Farbe. Man hätte sie zeitiger in die Berge schicken müssen. Niemand, weder Mann noch Frau, ist ein Engel, wenn die Hitze kommt. Die jüngere Schwester wurde bitter, um nicht zu sagen zynisch, und die Liebenswürdigkeit der Älteren wurde fadenscheinig. Sie war allzu erzwungen.

Der Ort, wo sich dies zutrug, war nicht gerade klein, lag aber nicht an der Bahn und war vernachlässigt. Es gab keine Gärten, keine Musik und keine Vergnügungen, die der Rede wert gewesen wären. Man brauchte fast einen Tag, um nach Lahore zum Ball zu fahren. Die Leute waren für jede kleine Unterhaltung dankbar.

Ungefähr Anfang Mai, als es sehr heiß war, kurz vor dem »Auszug« der letzten zwanzig Leute in die Berge, veranstaltete Saumarez ein Mondschein-Picknick zu Pferde. Es sollte bei einem alten, sechs Meilen entfernten Grabmal nahe am Flußbett stattfinden. Man verließ den Ort wie die Arche Noah. Des Staubes wegen mußte man paarweise in viertelstündigem Abstand reiten. Es waren zusammen sechs Paare, die Anstandsdamen mit eingerechnet. Mondschein-Picknicks sind am Ende der Saison, ehe die jungen Mädchen alle in die Berge gehen, von Nutzen. Sie führen Verständigungen herbei und sollten darum von Ballmüttern begünstigt werden, besonders von denen, deren Schützlinge im Reitkleid am vorteilhaftesten aussehen. Ich kannte einmal einen Fall, – aber das ist eine andere Geschichte. Wir nannten dies Picknick das »große Verlobungs-Picknick«, weil wir alle wußten, daß Saumarez der älteren Miß Copleigh einen Antrag machen würde. Und außer dieser Sache gab es noch eine andere, die möglicherweise auch ihren glücklichen Abschluß finden konnte. Die Luft in der Gesellschaft war gewitterschwül und verlangte nach einer Entladung.

Wir trafen uns um zehn Uhr auf dem Exerzierplatz. Die Nacht war entsetzlich heiß. Die Pferde kamen schon beim Schritt in Schweiß. Aber es war doch noch besser als das Stillsitzenmüssen in unseren dunklen Häusern. Beim Aufbruch im Vollmond waren wir vier Paare; eine Gruppe zu dritt, Saumarez mit den Copleighschen Mädchen, und ich. Während ich hinterdrein ritt, überlegte ich mir, mit wem Saumarez wohl nach Hause reiten würde. Alle waren glücklich und zufrieden, aber jeder fühlte die herannahenden Ereignisse. Wir ritten langsam, und es wurde fast Mitternacht, ehe wir das alte Grabmal erreichten. Wir wollten ihm gegenüber in dem verwüsteten Garten an der Zisternenruine essen und trinken. Ich kam etwas später als die andern und sah, ehe ich den Garten betrat, am nördlichen Horizont einen leichten, schwarzbraunen Wolkenstreifen. Allein mir hätte es wohl niemand gedankt, wenn ich ein so gut eingefädeltes Vergnügen wie dies Picknick verdorben hätte. Was hat denn auch schließlich ein Sandsturm mehr oder weniger zu bedeuten? Wir sammelten uns an der Zisterne. Einer hatte ein Banjo, – ein höchst gefühlvolles Instrument, – mitgebracht. Drei oder vier von uns sangen. Man lächle nicht darüber. Unsere Vergnügungen in den entlegenen Orten sind spärlich. Wir plauderten in Gruppen oder alle miteinander, lagen unter den Bäumen, warteten auf das Abendessen und ließen sonnverbrannte Rosen uns ihre Blätter zu Füßen streuen. Das Essen war herrlich, so gut auf Eis gekühlt, wie man es sich nur wünschen kann, und wir ließen uns Zeit.

Ich hatte gefühlt, wie die Luft heißer und heißer wurde, aber die anderen schienen es erst zu merken, als der Mond plötzlich verlosch und ein brennendheißer Wind die Orangenbäume peitschte, daß sie aufrauschten wie das Meer. Ehe wir wußten, wie uns geschah, war der Sandsturm über uns, und alles eine einzige brausende, wirbelnde Finsternis. Der Eßtisch wurde buchstäblich in die Zisterne hinabgeblasen. Wir hatten Furcht, in der Nähe des alten Grabbaus zu bleiben, weil der Sturm ihn hätte umstürzen können. Darum tasteten wir uns zu den Orangenbäumen, wo die Pferde angebunden waren, um zu warten bis der Sturm sich gelegt hätte. Dann verlor sich auch der letzte Lichtschimmer, und man konnte nicht die Hand vor den Augen sehen. Die Luft war schwer von Staub und Sand aus dem Flußbett, der in Stiefel und Taschen drang, uns den Nacken hinabrieselte und Brauen und Bart bedeckte. Es war einer der schlimmsten Sandstürme des ganzen Jahres. Wir standen eng zusammengedrängt dicht bei den zitternden Pferden; der Donner krachte über uns, und die Blitze schossen wie Wasserstrahlen aus einem Schlauch nach allen Richtungen. Solange die Pferde sich nicht losrissen, war keine Gefahr. Ich stand geduckt mit dem Rücken gegen den Wind, mit der Hand vorm Mund und hörte, wie die Bäume sich peitschten. Erst als es blitzte, konnte ich sehen, wer bei mir stand, und entdeckte Saumarez mit der älteren Miß Copleigh dicht neben mir, und vor mir mein Pferd. Die ältere Miß Copleigh erkannte ich an ihrem Hutschleier, den die jüngere nicht trug. Die ganze Elektrizität der Luft war mir in die Glieder gefahren, und ich zitterte und zuckte von Kopf bis zu Fuß, ganz wie ein Maishalm vorm Regen. Es war ein herrlicher Sturm. Der Wind schien die Erde emporzuheben und in großen Klumpen vor sich her zu schleudern, und aus dem Boden quoll eine Glut wie am Tage des Jüngsten Gerichtes. Nach der ersten halben Stunde besänftigte sich der Sturm ein wenig, und ich hörte dicht vor meinem Ohr eine leise Stimme, – wie die Stimme einer vom Wind getriebenen, verlorenen Seele, – still verzweifelt vor sich hin sagen: »Ach, mein Gott, mein Gott.« Dann taumelte die jüngere Miß Copleigh mir in die Arme und rief: »Wo ist mein Pferd! Ich will nach Hause, ich muß nach Hause! Bringen Sie mich nach Hause!«

Ich glaubte, Blitzen und Finsternis ängstigten sie, und darum sagte ich ihr, es sei keine Gefahr, und sie müsse warten, bis der Sturm vorüber sei. Aber sie antwortete nur: »Nein, darum nicht! Darum nicht! Ich muß nach Hause! Bitte, bringen Sie mich doch von hier fort!«

Ich sagte ihr wieder, sie dürfe nicht gehen, ehe es hell sei; dann fühlte ich nur noch, wie sie mich im Vorübergehen streifte. Es war zu dunkel, um sehen zu können, wohin sie ging. Im nächsten Augenblick zerriß ein gewaltiger Blitz den ganzen Himmel, als wäre das Ende der Welt gekommen, und alle Frauen schrien auf.

Unmittelbar darauf fühlte ich die Hand eines Mannes auf meiner Schulter und hörte Saumarez mir etwas ins Ohr brüllen. Das Rauschen der Bäume und das Heulen des Windes ließen mich seine Worte nicht gleich verstehen, aber schließlich hörte ich ihn sagen: »Ich habe um die Falsche angehalten! Was soll ich tun?« Einen Grund, mich ins Vertrauen zu ziehen, hatte Saumarez nicht. Ich war nie sein Freund und bin es auch jetzt nicht. Aber ich glaube, keiner von uns beiden war in jenem Augenblick bei Besinnung. Er zitterte vor Aufregung, und ich fühlte mich so seltsam erregt, als liefe mir ein elektrischer Strom durch alle Glieder. Da mir nichts Besseres einfiel, sagte ich: »Sie Narr, wie können Sie auch in einem Sandsturm anhalten!« Aber ich sah ein, daß das den Fehler nicht gut machte. Dann schrie er: »Wo ist Edith, Edith Copleigh?« Edith war die jüngere Schwester. Ich antwortete überrascht: »Was wollen Sie denn von der?« Es ist kaum zu glauben, aber während der folgenden zwei Minuten schrien wir uns an wie Wahnsinnige. Er beteuerte, daß er von jeher um die jüngere Schwester habe anhalten wollen, und ich erklärte ihm, bis ich heiser war, daß er sich geirrt haben müsse. Auch das ist dadurch zu erklären, daß wir beide nicht bei Besinnung waren. Das Ganze erschien mir wie ein böser Traum, vom Stampfen der Pferde in der Dunkelheit bis zu Saumarez‘ Wort, daß er von Anfang an nur Edith Copleigh geliebt habe. Er umklammerte noch immer meine Schulter und flehte mich an, ich solle ihm sagen, wo Edith Copleigh sei, als der Sturm wieder aussetzte, eine Helle eintrat, und wir die Sandwolke in die Ebene vor uns hinauswirbeln sahen. Da wußten wir, daß das Schlimmste vorüber war. Der Mond stand tief; es herrschte ein mattes Zwielicht, wie es eine Stunde vor der wirklichen Morgendämmerung einzutreten pflegt. Aber der Schimmer war nur ganz schwach, und die schwarzbraune Wolke brüllte dahin wie ein Stier. Ich dachte daran, wo wohl Edith Copleigh wäre, und während ich noch nachdachte, sah ich dreierlei zugleich: einmal Maud Copleighs lächelndes Gesicht aus der Dunkelheit auftauchen und sich Saumarez nähern, der neben mir stand. Sie flüsterte: »George« und hängte sich ihm in den Arm, der meine Schulter nicht gepackt hielt. Und ich sah auf ihrem Gesicht jenen Ausdruck, der nur ein-, zweimal im Leben einer Frau erscheint, wenn sie vollkommen glücklich ist, wenn der Himmel im strahlenden Glanz voller Geigen hängt, und wenn ihr die ganze Welt in lichte Wolken zerfließt, weil sie liebt und wieder geliebt wird. Und zugleich sah ich Saumarez‘ Gesicht, wie er Maud Copleighs Stimme hörte, und sah außerdem ein graues Leinenkleid fünfzig Schritt weit von den Orangenbäumen sich aufs Pferd heben.

Es muß wohl die Folge meiner Überreizung gewesen sein, daß ich mich so schnell in Dinge mischte, die mich nichts angingen. Saumarez wollte dem Kleide nach, aber ich drängte ihn zurück und sagte: »Sie bleiben hier. Klären Sie die Geschichte auf. Ich werde sie zurückholen.« Und ich stürzte zu meinem Pferde. Mich beherrschte die völlig unnötige Vorstellung, daß alles ordnungsgemäß und schicklich vor sich gehen, und daß vor allem Saumarez erst den glücklichen Ausdruck Maud Copleighs auslöschen müsse. Wahrend ich meinem Pferd das Zaumzeug überwarf, dachte ich daran, wie er das wohl zuwege bringen würde.

Ich galoppierte hinter Edith Copleigh her und nahm mir vor, sie unter irgendeinem Vorwand gemächlich zurückzubringen. Aber sobald sie mich bemerkte, ließ sie ihr Pferd in noch schärferen Galopp fallen, und ich sah mich zu einer ernstlichen Verfolgung genötigt. Sie rief mir drei- oder viermal zurück: »Lassen Sie mich! Ich will nach Hause! Lassen Sie doch!« Aber meine Pflicht war, erst mit ihr zu unterhandeln, wenn ich sie eingeholt hatte. Der Ritt stimmte gut zu dem ganzen wüsten Traum. Der Boden war sehr schlecht, und von Zeit zu Zeit jagten wir durch wirbelnde, würgende Staubgespenster, Nachzügler des flüchtigen Sturmes. Es wehte ein brennend heißer Wind, der einen üblen Geruch wie aus dumpfigen Ziegelöfen mit sich führte. Und durch das Zwielicht zwischen den Staubgespenstern auf der weiten, öden Ebene schimmerte das graue Reitkleid auf dem grauen Pferde. Sie hielt anfangs auf die Stadt zu. Dann wendete sie nach dem Flusse und ritt durch ein Lager verbrannten Dschungelgrases, über das man nicht einmal hätte Schweine treiben mögen. Bei kühler Überlegung wäre es mir nicht im Traum eingefallen, nachts über solches Land zu reiten. Aber beim Zucken der Blitze und bei dem Höllengeruch schien es ganz richtig und natürlich. Ich ritt und schrie, und sie beugte sich vornüber und peitschte ihr Pferd vorwärts. Und der Sturm hielt Nachernte, packte uns und stieß uns vorwärts wie Fetzen Papier.

Ich weiß nicht, wie weit wir ritten; aber das Stampfen der Pferdehufe, das Brüllen des Sturmes, die Jagd des matten, blutigroten Mondes durch gelbe Nebel schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Ich war buchstäblich in Schweiß gebadet, vom Helm bis zu den Gamaschen, als der Graue vor mir strauchelte, wieder auf die Beine kam und stocklahm stillstand. Auch mein Tier war völlig erschöpft. Edith Copleigh war in einem traurigen Zustand, ohne Hut, von Staub überzogen, und weinte bitterlich. »Können Sie mich nicht in Ruhe lassen?« sagte sie. »Ich wollte doch nur nach Hause! Lassen Sie mich doch, bitte!«

»Miß Copleigh, Sie müssen mit mir zurück. Saumarez hat Ihnen etwas zu sagen.«

Ich hatte mich höchst einfältig ausgedrückt, aber ich kannte Miß Copleigh kaum und konnte ihr nicht in ein paar Worten sagen, was mir Saumarez gesagt hatte, wenn ich auch zum Schaden meines Pferdes Vorsehung spielen sollte. Saumarez würde es selbst besser können, glaubte ich. Alle ihre Vorwände, daß sie müde sei und nach Hause müsse, fielen zusammen. Ihr Schluchzen warf sie im Sattel hin und her; ihr schwarzes Haar flatterte im Wind. Ich wiederhole nicht, was sie gesagt hat, denn sie war völlig fassungslos.

Das war also die gefühllose Miß Copleigh! Und da stand ich, ihr fast wildfremd, und suchte ihr klarzumachen, daß Saumarez sie liebe und sie zurückkommen müsse, um es ihn selbst sagen zu hören. Ich glaube, es gelang mir, sie zu verständigen, denn sie riß den Grauen zusammen und ließ ihn, so gut es ging, den Weg zum Grabbau zurückhinken. Und der Sturm donnerte vorwärts nach Umballa. Die ersten großen lauen Regentropfen fielen. Ich erfuhr, daß sie dicht neben Saumarez gestanden habe, als er sich ihrer Schwester erklärte, und daß sie heimgewollt habe, um sich in Ruhe, – wie es sich für ein englisches Mädchen schickt, – auszuweinen. Sie betupfte im Weiterreiten unablässig ihre Augen mit dem Taschentuch und plapperte mir, um sich in ihrer Erregung zu erleichtern, alles vor. Es war vollständig unnatürlich und schien doch in jenem Augenblick ganz selbstverständlich. Die ganze Welt bestand nur aus den beiden Copleighschen Mädchen, Saumarez und mir. Wir waren alle eingeschlossen von Blitzen und Finsternis, und die Leitung dieser irregeleiteten Welt lag in meiner Hand.

Als wir in der düsteren Totenstille nach dem Sturme zum Grabbau zurückkamen, brach die Dämmerung an. Noch war niemand gegangen. Alle warteten auf unsere Rückkehr, Saumarez vor allem. Er war blaß und verhärmt. Als Miß Copleigh und ich heranhinkten, kam er uns entgegen, hob sie vom Pferde und küßte sie vor der ganzen Gesellschaft. Es war wie auf dem Theater, und diese Ähnlichkeit wurde noch erhöht, als die verstaubten, gespensterhaften Männer und Frauen unter den Orangenbäumen wie im Theater Beifall klatschten zu Saumarez‘ Wahl. Nie in meinem Leben habe ich etwas so wenig Englisches erlebt.

Schließlich sagte Saumarez, wir müßten nach Hause, oder der ganze Ort würde uns suchen kommen, und »ob ich wohl so freundlich sein wollte, mit Maud Copleigh heimzureiten?« »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte ich.

So bildeten wir denn sechs Paare und zogen nach Hause, immer zwei und zwei. Saumarez ging neben Edith Copleigh her, die sein Pferd ritt.

Die Luft war wieder rein, und ganz allmählich, als die Sonne aufging, fühlte ich, daß wir uns in ganz gewöhnliche Männer und Frauen zurückverwandelten, und daß das »große Verlobungs-Picknick« eigentlich etwas ganz Fremdartiges, Unirdisches gewesen war, etwas, was sich nie wieder ereignen würde. Es war mit dem Sandsturm, dem elektrischen Summen der Luft verschwunden.

Ich war müde und zerschlagen und schämte mich eigentlich, als ich nach Hause kam und nach einem Bad ins Bett ging.

Es gibt noch eine andere Lesart dieser Geschichte, die von Frauen stammt. Aber die wird wohl niemals niedergeschrieben werden, – – es sei denn, daß Maud Copleigh einmal Lust dazu verspürt.

Pluffles‘ Befreiung

Pluffles‘ Befreiung

Mrs. Hauksbee war manchmal auch ihrem eigenen Geschlecht gegenüber nett. Das soll diese Geschichte beweisen. Man glaube davon ganz soviel, wie man mag.

Pluffles war Leutnant bei den »Unaussprechlichen.« Er war sehr grün, selbst für einen Leutnant sehr grün. Er war grün über und über, wie ein Kanarienvogel, der noch nicht flügge ist. Das schlimmste aber bei der Sache war, daß er dreimal soviel Geld hatte, als ihm gut tat; denn Pluffles‘ Papa war ein reicher Mann und Pluffles sein einziger Sohn. Mama Pluffles vergötterte ihn. Sie war nur etwas weniger grün als Pluffles und glaubte ihm alles, was er sagte.

Pluffles‘ schwache Seite war, nie zu glauben, was andere Leute sagten. Er zog es vor, »sich auf sein eigenes Urteil zu verlassen«, wie er es nannte. Aber er hatte im Leben gerade so wenig ein gutes Urteil, wie beim Reiten guten Sitz und sichere Hand. Infolgedessen kam er mehr als einmal in Verlegenheiten. Die größte Dummheit jedoch, die er je zustande gebracht hat, beging er in Simla – vor einigen Jahren, als er vierundzwanzig war.

Er fing damit an, sich wie üblich auf sein eigenes Urteil zu verlassen, und die Folge davon war, daß er nach kurzer Zeit mit Händen und Füßen an den Rädern von Mrs. Reivers Rickshaw hing.

An der ganzen Mrs. Reiver war nichts Gutes mit Ausnahme ihrer Toiletten. Sie taugte gar nichts, von ihrem Haar, das seinen Lebenslauf auf dem Kopf einer Bretagnerin begonnen hatte, bis zu ihren Stiefelhacken, die fast sechseinhalb Zentimeter hoch waren. Sie war nicht so offen mutwillig wie Mrs. Hauksbee; sie war berechnend boshaft.

Es gab ihretwegen niemals einen Skandal; dazu war sie nicht großzügig genug. Sie war die Ausnahme, die die Regel bestätigt, daß die Engländerinnen in Indien ebenso nett sind, wie ihre Schwestern in der Heimat. Sie brachte ihr Leben mit diesem Beweise zu.

Mrs. Hauksbee und sie haßten sich inbrünstig, Sie haßten sich viel zu sehr, um öffentlich aneinander zu geraten; aber was sie von einander erzählten, war überraschend, um nicht zu sagen – originell. Mrs. Hauksbee war ohne Falschheit, genau wie ihre Vorderzähne, und sie wäre eine Frau für Frauen gewesen, wenn sie nicht ihre mutwilligen Neigungen gehabt hätte. An Mrs. Reiver war nichts echt als ihre Selbstsucht. Und so fiel der arme kleine Pluffles gleich am Anfang der Saison ihr zur Beute. Sie hatte es auf ihn abgesehen, und Pluffles war nicht der Mann, ihr zu widerstehen. Er verließ sich auch hier auf sein eigenes richtiges Urteil und wurde gerichtet.

Ich habe erlebt, wie Hayes ein bockiges Pferd zuritt, ich habe einen Tonga-Kutscher ein widerspenstiges Pony bändigen und einen strengen Wärter einen aufsässigen Hund für die Jagd zurichten sehen, aber Pluffles Dressur übertraf alles. Er lernte apportieren wie ein Hund, und auch wie ein Hund auf Mrs. Reivers Zuruf warten, Er lernte Verabredungen einhalten, die Mrs. Reiver nicht im geringsten einzuhalten gesonnen war. Er lernte sich für einen Tanz im voraus bedanken, den Mrs. Reiver nie mit ihm zu tanzen gedachte. Er lernte, fünfviertel Stunde an der Windseite des »Elysium« fröstelnd warten, bis Mrs. Reiver sich entschloß, auszureiten. Er lernte, in einem dünnen Gesellschaftsanzug im strömenden Regen eine Rickshaw suchen, um dann neben ihr herzulaufen. Er lernte, was es heißt, wie ein Kuli angeredet und wie ein Küchenjunge herumgeschickt zu werden. Alles das lernte er und noch manches dazu. Und er zahlte für seinen Unterricht.

Vielleicht hatte er die dunkle Vorstellung, daß alles das vornehm und imponierend sei, daß es ihm bei den Männern eine »Stellung« gebe, und daß man doch eigentlich nicht anders könne. Es fühlte sich niemand verpflichtet, Pluffles vor seiner Torheit zu warnen. In jenem Winter ging es zu flott zu, als daß man sich noch hätte darum kümmern können; und außerdem ist es immer ein undankbares Geschäft, sich in andrer Leute Dummheiten einzumischen. Pluffles‘ Oberst hätte ihn, sobald er gehört hatte, wie die Dinge lagen, zum Regiment zurückkommandieren sollen. Aber Pluffles hatte sich während seines letzten Urlaubs in England verlobt, und nichts verabscheute der Oberst mehr als einen verheirateten Leutnant. Als er von Pluffles‘ »Dressur« hörte, lachte er in sich hinein und meinte, es wäre für den Jungen eine ganz gute Schule. Es war aber durchaus keine gute Schule für ihn. Sie verführte ihn, über seine Verhältnisse zu leben, die nicht schlecht waren. Vor allem aber machte diese »Erziehung« aus dem Durchschnittsjungen einen Mann übelster Art. Er geriet in schlechte Gesellschaft, und über seine kleinen Rechnungen bei Hamilton mußte man staunen.

Da nahm Mrs. Hauksbee sich der Sache an. Sie spielte ihr Spiel allein, denn sie wußte, was die Leute von ihr sagen würden, und sie spielte es für ein Mädchen, das sie noch nie gesehen hatte. Pluffles‘ Braut wollte im Oktober unter der Obhut einer Tante nach Indien kommen, um Pluffles zu heiraten.

Anfang August hielt es Mrs. Hauksbee für die rechte Zeit, einzuschreiten. Ein geübter Reiter weiß im voraus ganz genau, was sein Pferd im nächsten Augenblick tut. Ebenso weiß eine Frau von Mrs. Hauksbees Erfahrung sehr wohl, was ein junger Mensch unter gewissen Verhältnissen tut, zumal wenn er in eine Frau von Mrs. Reivers Schlag vernarrt ist. Sie sagte sich, daß der kleine Pluffles früher oder später seine Verlobung um nichts und wieder nichts lösen würde, einfach nur Mrs. Reiver zu Gefallen, die ihrerseits Pluffles solange sich im Dienst und zu Füßen halten würde, wie es ihr der Mühe wert schien. Sie erklärte, daß sie sich auf solche Erscheinungen verstünde. Und in der Tat, wenn sie es nicht konnte, wer konnte es dann!

Sie zog aus, um Pluffles aus dem Feuer der feindlichen Geschütze herauszuschlagen; genau wie Mrs. Cusack-Bremmil unter Mrs. Hauksbees Augen Bremmil erobert hatte.

Diese besondere Fehde dauerte sieben Wochen, – wir nannten sie den siebenwöchigen Krieg, – und man rang auf beiden Seiten um jeden Zoll breit Boden. Ein ausführlicher Bericht davon würde einen Band füllen und dennoch unvollständig sein. Wer solche Dinge kennt, kann sich die Einzelheiten selbst ausmalen. Es war ein großartiger Kampf, – solange Jakko steht, wird es keinen zweiten geben, – und Pluffles war der Siegespreis. Man sprach schändlich über Mrs. Hauksbee, denn man wußte nicht, um was sie spielte. Mrs. Reiver focht zum Teil, weil Pluffles ihr nützlich war, hauptsächlich aber, weil sie Mrs. Hauksbee haßte, und weil es eine Kraftprobe zwischen beiden galt. Was Pluffles sich dabei dachte, wußte niemand. Selbst in seiner besten Zeit hatte Pluffles nicht viele Gedanken, und auf die wenigen, die ihm kamen, war er unheimlich stolz. Mrs. Hauksbee sagte sich: »Den Jungen muß ich mir einfangen, und das einzige Mittel dazu ist gute Behandlung.«

Darum behandelte sie ihn, solange der Ausgang des Kampfes zweifelhaft war, als Mann von Welt und Erfahrung. Pluffles fiel nach und nach von seiner Lehnsherrin ab und ging schließlich zum Feinde über, der ihn besser würdigte. Er wurde nie mehr auf Ausschau nach Rickshaws gesandt, noch wurden ihm Tänze versprochen, die nie getanzt wurden, noch wurde die Schwächung seines Geldbeutels fortgesetzt. Mrs. Hauksbee hielt ihn an der Trense, und nach der Führung unter Mrs. Reivers Hand wußte er den Wechsel zu schätzen.

Mrs. Reivers hatte es ihm abgewöhnt, von sich selber zu reden und ihn statt dessen von ihren eigenen Vorzügen sprechen lassen. Mrs. Hauksbee tat das Gegenteil und gewann dadurch sein Vertrauen, so daß er sogar seine Verlobung in der Heimat erwähnte. Er sprach davon in einem überlegenen Ton als von einer »jugendlichen Torheit.« Das geschah, als er eines Nachmittags bei ihr zum Tee war und sie lustig und bezaubernd zu unterhalten glaubte. Mrs. Hauksbee hatte eine ältere Generation seines Schlages knospen, blühen und schließlich als wohlgenährte Hauptleute und dickbäuchige Majors verfallen sehen.

Nach mäßiger Schätzung konnte Mrs. Hauksbee gegen dreiundzwanzig verschiedene Rollen spielen. Einige Männer behaupteten, noch mehr.

Sie fing jetzt an, mit Pluffles wie eine Mutter zu reden, als lägen zwischen ihnen nicht fünfzehn sondern dreißig Jahre. Sie sprach mit einer tiefen, zitternden Stimme, die etwas Besänftigendes hatte, obgleich ihre Worte alles eher als besänftigend waren. Sie machte ihn auf die grenzenlose Torheit, um nicht zu sagen Niedrigkeit seiner Handlungsweise und auf die Kleinlichkeit seiner Anschauungen aufmerksam. Er stammelte etwas wie »sich als Mann von Welt auf sein eigenes Urteil verlassen können,« und das bahnte ihr den Weg für das, was sie ihm noch zu sagen hatte. Von jeder anderen Frau hätten Pluffles die Worte vernichtet; aber der weiche, girrende Ton, den Mrs. Hauksbee annahm, stimmte ihn mild und reuig, als wäre er in einer Art höherem Gottesdienst gewesen. Allmählich zog sie ganz sanft und zart aus Pluffles den Dünkel, wie man die Stäbe aus einem Regenschirm zieht, ehe man ihn neu bezieht. Sie sagte ihm, was sie von seinem Urteil und seiner Weltkenntnis hielt, und daß ihn seine Darbietungen vor den andern lächerlich gemacht hätten, und daß er jetzt auch mit ihr herumliebeln würde, wenn sie es ihm nur gestattete. Sie versicherte ihm, daß eine Heirat aus ihm erst etwas Rechtes machen würde, und entwarf ein hübsches kleines Bild, – ganz ins Rosenrote schillernd, – von der zukünftigen Mrs. Pluffles, und wie sie sich ihr Leben lang auf »Urteil und Weltkenntnis« eines Gatten, der sich nichts vorzuwerfen hatte, werde stützen können. Sie allein weiß, wie sie diese beiden Behauptungen verband. Pluffles fiel der Widerspruch jedenfalls nicht auf.

Es war eine vollendete kleine Predigt, – viel besser als sie irgendein Pastor hätte halten können, – die mit einem rührenden Hinweis auf Mama und Papa Pluffles schloß, zugleich mit dem weisen Rat, mit seiner jungen Frau doch nach England zurückzugehen.

Darauf schickte sie Pluffles spazieren, damit er sich über ihre Worte klar würde. Pluffles schneuzte sich und verließ sie aufrechten Ganges. Mrs. Hauksbee lachte.

Was Pluffles in Sachen seiner Verlobung beabsichtigt hatte, wußte allein Mrs. Reiver, und die schwieg sich zeitlebens aus. Wahrscheinlich hätte sie den Bruch als Huldigung vor ihr nicht ungern geschehen sehen.

Pluffles erfreute sich in den nächsten Tagen manchen Gespräches mit Mrs. Hauksbee. Sie hatten alle den gleichen Zweck, ihm auf den Pfad der Tugend zu helfen.

Mrs. Hauksbee wollte ihn bis zuletzt unter ihren Fittichen halten. Darum mißbilligte sie auch seinen Plan, nach Bombay zur Trauung zu fahren. »Der Himmel weiß, was ihm geschehen könnte,« sagte sie. »Pluffles steht unter dem Fluche Reubens, und darum ist Indien nicht der rechte Ort für ihn.«

Zuguterletzt kam die Braut mit ihrer Tante, und Pluffles der seine Verhältnisse einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, wobei ihm Mrs. Hauksbee ebenfalls half, konnte heiraten.

Mrs. Hauksbee atmete erleichtert auf, als die beiden »Ja« gesprochen waren, und ging ihrer Wege.

Pluffles folgte ihrem Rat und zog in die Heimat. Er quittierte den Dienst und züchtet jetzt irgendwo zu Hause hinter grüngestrichenen Zäunen bunte Kühe. Vermutlich ist er darin sehr urteilsfähig. Hier in Indien wäre er gescheitert.

Wenn daher jemand etwas ungewöhnlich Häßliches von Mrs. Hauksbee sagt, erzähle man ihm die Geschichte von Pluffles‘ Befreiung.

Amors Pfeile

Amors Pfeile

Sumpf, dessen Kühle einst Büffel umdrängt,
Versiegt von der Glut jetzt, verdorrt und zersprengt;
Baumstumpf, den salzige Gräser umschlingen;
Pfad, den die Hügel der Ratten umringen;
Heimliche Höhle am flüchtigen Fluß;
Aloe sticht dich in Flanken und Fuß.
Spring, wenn du’s wagst, auf ein Roß vor der Zeit;
Weich lieber aus, – gehe weit, geh weiter,
Horche, da vorn ruft der beste Reiter:
Kinder, zur Seite! Noch weiter! Ganz weit! –

Die Peora Jagd.

Es war einmal in Simla ein sehr hübsches Mädchen, die Tochter eines armen aber ehrlichen Kreisrichters. Sie war ein gutes Kind, aber sie kannte nun einmal ihre Macht und nutzte sie. Die Mama war um die Zukunft ihrer Tochter besorgt, wie es jede gute Mama sein sollte.

Wenn ein Junggeselle Regierungskommissar ist und das Recht besitzt, an seinem Rock Orden wie zierlichste Zuckerbäckerarbeit in Gold und Emaille zu tragen und zudem noch außer vor einem Mitglied des Staatsrates, einem Vizegouverneur oder Vizekönig vor jedermann den Vortritt hat, dann ist er wert, geheiratet zu werden. Wenigstens behaupten die Damen das. Nun gab es damals in Simla einen Regierungskommissar, der all das, was ich eben erwähnt habe, hatte, trug und war. Er war ein unansehnlicher Mann, ja ein häßlicher Mann, mit zwei Ausnahmen der häßlichste in Asien. Er hatte ein Gesicht, von dem man träumte, und das man hernach auf einen Pfeifenkopf zu schnitzen in Versuchung kommen könnte. Sein Name war Saggott, – Barr-Saggott, – Antonius Barr Saggott, und daran schlossen sich sechserlei Titel. Als Beamter war er einer der tüchtigsten Leute in der indischen Regierung, im geselligen Verkehr glich er einem freundlich lächelnden Gorilla.

Als er Miß Beighton seine Aufmerksamkeit zuwandte, hat meiner Ansicht nach Mrs. Beighton vor Wonne geweint und der Vorsehung für das Glück ihrer alten Tage gedankt.

Mr. Beighton schwieg dazu. Er war ein gutmütiger Mann.

Nun ist solch Kommissar sehr reich. Sein Gehalt übersteigt die kühnsten Träume; es ist so ungeheuer groß, daß er es sich leisten kann, so zu sparen und zu knausern, daß er darin selbst einem Mitglied des Staatsrats den Rang streitig machen würde. Die meisten Kommissare sind knickerig, aber Barr-Saggott war eine Ausnahme. Er war ein verschwenderischer Wirt, ritt die besten Pferde, gab Bälle; er war überhaupt eine Macht im Lande und trat entsprechend auf.

Man darf dabei nicht vergessen, daß meine Erzählung sich in einer fast prähistorischen Ära der britisch-indischen Geschichte zugetragen hat. Mancher erinnert sich vielleicht noch der Jahre, wo das Lawn-Tennis noch im Schoß der Zeiten ruhte und alles Krocket spielte. Aber vordem gab es in der Tat eine Zeit, wo selbst das Krocket noch nicht erfunden war, und wo das Bogenschießen, – 1844 in England zu neuem Leben erweckt, – eine ebenso große Seuche war wie heute das Lawn-Tennis. Damals sprach man wissenschaftlich von »Zielen«, »Lockern«, »Scheiben«, von »56 Pfund« – und von »Eibenbogen«, wie man heute von »Rückschlag«, »Smashen«, »Netzspiel« oder von »16 Unzen-Rackets« redet.

Miß Beighton schoß göttlich, über Damendistanz, – das heißt mehr als sechzig Meter, – und war unter den Damen von Skala der anerkannt beste Schütze. Die Herren nannten sie nur die »Diana von Tara-Devi«.

Barr-Saggott machte ihr den Hof, und das Herz ihrer Mutter jauchzte, wie gesagt, und lobsingete. Kitty Beigthon nahm die Sache ruhiger. Es wahr ihr nicht unangenehm, von einem Kommissar mit vielen Titeln ausgezeichnet zu werden und die Herzen anderer Mädchen mit Eifersucht erfüllen zu können. Aber es war nicht zu leugnen: Barr-Saggott war unmenschlich häßlich, und all seine Verschönerungsversuche machten ihn nur noch grotesker. Man hatte ihn nicht umsonst den »Langur«, – den grauen Affen, – getauft. Kitty war es ganz angenehm, ihn zu ihren Füßen zu haben, aber angenehmer war es ihr doch, ihm aus dem Wege zu gehen und mit dem leichtfüßigen Cubbon, dem Dragoner aus Umballa, der ein hübsches Gesicht aber keine Aussichten hatte, spazieren zu reiten. Kitty hatte Cubbon mehr als gern, und er machte gar kein Hehl daraus, daß er bis über die Ohren in sie verliebt war, denn er war ein ehrlicher Mensch. So floh denn Kitty von Zeit zu Zeit vor dem würdevollen Werben Barr-Saggotts in die Gesellschaft des jungen Cubbon. Ihre Mutter schalt sie darum. »Aber Mutter,« sagte sie, »Mr. Saggott ist ja so ein, – ja wirklich, – so, so entsetzlich häßlich!«

»Mein liebes Kind,« sagte Mrs. Beighton salbungsvoll, »wir sind alle nicht anders, als uns die allmächtige Vorsehung geschaffen hat. Außerdem wirst du selbst vor deiner Mutter den Vortritt haben. Denke daran und sei vernünftig!«

Kitty warf ihren Kopf in den Nacken und sagte allerlei Unehrerbietiges über »Vortritte«, Kommissare und die Ehe überhaupt. Mr. Beighton kratzte sich den Kopf, denn er war ein gutmütiger Mann.

Als Barr-Saggott gegen Ende der Saison die Zeit für gekommen hielt, entwickelte er einen Plan, der seinen administrativen Fähigkeiten alle Ehre machte. Er veranstaltete einen Bogen-Wettkampf für Damen und setzte ein besonders kostbares, diamantenbesetztes Armband als Preis aus. Er entwarf die Bedingungen sehr geschickt, und jedermann merkte, daß das Armband ein Geschenk für Miß Beighton sein sollte, und daß mit seiner Annahme Kommissar Barr-Saggotts Herz und Hand verknüpft war. Die Bedingungen lauteten auf eine »St. Leonhardsrunde«, – 36 Schüsse auf 60 Meter Distanz, – nach den Regeln des Toxophilita-Klubs zu Simla.

Ganz Simla war geladen. Prachtvolle Teetische standen unter den Zedern von Annandale, wo jetzt die Tribüne steht, und in einsamer Pracht funkelte das Diamantenarmband auf blauem Samt im Sonnenschein. Miß Beighton drängte sich fast zu sehr zum Wettbewerb. An dem bewußten Nachmittage ritt ganz Simla nach Annandale, um bei dem allerdings umgekehrten Urteil des Paris dabei zu sein. Kitty ritt mit dem jungen Cubbon, der offensichtlich unruhig war. An dem, was folgte, trug er keine Schuld. Kitty war blaß und erregt und betrachtete das Armband sehr lange. Barr-Saggott war mit großer Pracht gekleidet, noch erregter als Kitty und häßlicher denn je.

Mrs. Beighton lächelte herablassend, wie es der Schwiegermutter eines wohllöblichen Regierungskommissars zukam, und das Schießen begann. Alles stand in einem Halbkreis, als die Damen eine nach der anderen vortraten.

Es gibt nichts Langweiligeres als ein Bogenschießen. Man schoß und schoß und hörte auch noch nicht auf zu schießen, als die Sonne aus dem Tale schwand und ein leiser Abendwind durch die Zedern spielte. Man wollte Miß Beighton schießen und gewinnen sehen. Cubbon stand an dem einen Ende des Halbkreises und Barr-Saggott am anderen. Miß Beighton war die letzte auf der Liste. Die Leistungen waren schwach gewesen und das Armband plus Kommissar Barr-Saggott ihr so gut wie sicher.

Der Kommissar spannte ihr den Bogen mit höchsteigener Hand. Sie trat vor, warf einen Blick auf das Armband, und ihr erster Pfeil traf aufs Haar die Mitte »Gold«. Das zählte neun Punkte.

Der junge Cubbon am linken Flügel erblaßte, und sein böser Geist gab Barr-Saggott ein zu lächeln. Aber wenn Barr-Saggott lächelte, wurden Pferde scheu. Und Kitty sah sein Lächeln. Sie blickte zur Linken, nickte kaum merklich Cubbon zu und schoß weiter.

Ich wollte, ich könnte die folgende Szene beschreiben. Sie war ganz außergewöhnlich und unerhört. Miß Kitty schoß ihre Pfeile äußerst bedächtig, so daß jeder sehen konnte, was sie tat. Sie war ein vollendeter Schütze, und ihr 46 Pfund-Bogen war auf sie geeicht. Viermal hintereinander nagelte sie ihre Pfeile in die hölzernen Füße der Scheibe und einmal gerade auf den obersten Rand. Alle Damen sahen einander an. Dann machte sie einige Phantasieschüsse ins Weiße, die je als ein Punkt gerechnet wurden. Fünfmal schoß sie so. Es war ein herrliches Schießen. Aber Barr-Saggott, nach dessen Absicht sie ins »Gold« treffen sollte, um das Armband zu gewinnen, wurde bläßlich grün wie zartes Wassergras. Darauf zielte sie zweimal über die Scheibe hinaus, dann zweimal links vorbei, immer mit der gleichen bedächtigen Vorsicht. Und ein kühles Schweigen senkte sich auf die Gesellschaft, während Mrs. Beighton ihr Taschentuch hervorzog. Schließlich schoß Kitty in den Boden, unmittelbar vor der Scheibe, und zersplitterte einige Pfeile und traf darauf das »Rote« (sieben Punkte), nur um zu zeigen, was sie konnte, wenn sie wollte. Und sie schloß ihre erstaunliche Leistung wieder mit einigen willkürlichen Schüssen in die Scheibenfüße. Hier ist die Zahl ihrer Punkte, wie sie notiert worden sind:

Miß Beighton.

Gold rot blau schwarz weiß Treffer Summe
1 1 0 0 5 7 21

Barr-Saggott sah aus, als wären die letzten Pfeile in seine Beine statt in die Scheibenfüße gegangen, und die tiefe Stille wurde von dem triumphierend schrillen Ruf eines stumpfnasigen, sommersprossigen, halbwüchsigen Mädchens unterbrochen: »Dann habe ich ja gewonnen!«

Mrs. Beighton rang nach Fassung, so gut sie konnte, aber sie weinte doch vor allen Leuten. Ihre gute Erziehung half ihr nichts bei dieser Enttäuschung. Kitty spannte ihren Bogen mit einem boshaften Ruck ab und ging auf ihren Platz zurück, während Barr-Saggott sich zu stellen suchte, als wenn es ihm ein Vergnügen sei, das Armband um das derbe, rote Handgelenk der Stumpfnase zu legen. Es war eine peinliche, höchst peinliche Szene. Alle verabschiedeten sich gleichzeitig und überließen Kitty dem Segen ihrer Mama.

Aber Cubbon begleitete sie statt ihrer nach Hause, – und das andere ist nicht wert gedruckt zu werden.

Die drei Musketiere

Die drei Musketiere

Mulvaney, Ortheris und Learoyd sind Gemeine in der zweiten Kompanie eines Linienregimentes und meine persönlichen Freunde. Sicher weiß ich es nicht, aber ich glaube, die drei zusammen sind die schlimmsten Leute im Regiment, wenn es lustige Spitzbübereien gilt.

Sie erzählten mir, als wir neulich in Umballa im Wartesaal saßen, folgende Geschichte. Ich stiftete das nötige Bier, und die Geschichte war schon sechs Liter wert.

Wer kennt Lord Benira Trig nicht! Er ist erstens Herzog oder Graf oder sonst etwas »Zivilistisches«, zweitens ein Peer und drittens ein Globetrotter. In allen drei Eigenschaften verdient er, wie Ortheris sagt, »noch lange keine Achtung«. Er ist ziemlich drei Monate hier gewesen, um für ein Buch über »Unsere Impedimenta in Indien« Material zu sammeln. Ein Kosak im Frack hätte nicht ungelegener kommen können.

Sein Hauptfehler war es, daß er überall die Garnisonen zur Musterung ausrücken ließ, denn er war, glaube ich, ein ganz Radikaler. Nach der Parade pflegte er mit dem Oberstkommandierenden zu tafeln und sich vor dem ganzen Offizierstisch ihm gegenüber in beleidigender Weise über den Zustand der Truppen zu äußern. Das war nun einmal so Beniras Art.

Einmal jedoch hat er die Sache übertrieben. Er kam an einem Dienstag ins Quartier von Helanthami. Am Mittwoch wollte er in den Basaren Einkäufe machen und »äußerte den Wunsch«, am Donnerstag die Truppen zu besichtigen. An – einem Donnerstag! Am Ruhetag! Da er ein Lord war, konnte der Kommandant ihm seinen Wunsch nicht gut abschlagen. Die Leutnants hielten im Kasino eine Protestversammlung und überhäuften den Oberst mit Kosenamen.

»Aber, was die wahre Demonstration war, die haben wir in der Kaserne gemacht,« sagte Mulvaney, »wir drei nicht zuletzt.«

Mulvaney schwang sich aufs Büfett, machte sich’s beim Bier bequem und fuhr fort: »Als es am meisten krachte, und die ganze zweite Kompanie diesen Kerl, den Trig, auf dem Übungsplatz um die Ecke bringen wollte, da hält hier der Learoyd seinen Helm hin und sagt: was hast du noch gesagt?«

»Gesagt hab‘ ich,« ergänzte Learoyd, »Geld her! Wir wollen sammeln, Kinder. Ich wette, daß die Parade abgesagt wird, und wenn sie’s nicht wird, dann sollt ihr euer Geld wieder haben. Weiter habe ich nichts gesagt, aber die Kompanie weiß, was es heißt, wenn ich was sage. Als ein hübsches Stück Geld beisammen war, ging ich weg. Ich mußte mir die Geschichte überlegen. Mulvaney und Ortheris gingen mit.«

»Was ausgefressen wird, wird auch zu dritt ausgefressen!« erklärte Mulvaney.

Ortheris unterbrach ihn: »Lesen Sie die Zeitung?«

»Manchmal«, sagte ich.

»Na, wir lesen sie, und wir haben so einen richtigen Überfall in Szene gesetzt, so ’ne richtige, na sagen wir, – Verführung.«

»Ent–führung, du Stadtfrack!« sagte Mulvaney.

»Ent– oder Verführung, das ist doch ganz schnuppe. Die Hauptsache ist, daß wir Mister Benira aus dem Wege haben wollten. Der sollte am Donnerstag was Besseres zu tun kriegen als Parade halten. Ich sagte, wir wollen mal sehen, ob das Geschäft nicht noch was abwirft.«

»Kriegsrat haben wir gehalten, wie wir bei der Artilleriekaserne vorbei sind«, fuhr Mulvaney fort. »Ich war der Vorsitzende, Learoyd Finanzminister, und hier der Kleine –« »Der reinste Bismarck! Wenn’s geglückt ist, ist’s mein Verdienst.«

»Ach, das Stück von ’nem Menschen, der Benira, hat sich ganz alleine reingelegt«, sagte Mulvaney. »Weiß Gott, wir hatten nicht die blasse Ahnung, wie wir’s andrehen sollten. Er machte Besorgungen im Basar, zu Fuß Gott sei Dank. Es war schon schummrig, und wir, wir paßten auf, wie das Männchen in die Läden rein und wieder raus huppte. Geredet hat er, aber verstanden hat ihn keiner. Und dann schiebt er so mit seinen Paketen und seinem spitzen kleinen Bauch zu uns ran und sagt so recht großartig: »Na, liebe Kinder, habt ihr nicht den Wagen vom Herrn Oberst gesehen?« »Wagen«, sagte Learoyd. »Wagen gibt’s hier nicht, hier haben wir bloß Ekkas.« »Was ist denn das?« fragte da Trig. Learoyd zeigt ihm nun eine in der Straße, und Trig meinte: »Wie prachtvoll orientalisch. Ich werde in einer Ekka fahren.« Na, nu wußt‘ ich, daß es der Regimentsheilige gut mit uns meinte. Ich kriege also ’ne Ekka zu fassen und sage zu dem Satan von Kutscher: »Du, schwarzes Vieh, hier kommt gleich ein Sahib für deine Ekka. Er will mal rasch zu den Padsahi-Sümpfen! (Sie waren bloß zwanzig Meilen weit weg.) Er will Schnepfen schießen, verstehst du? Fahr zu, als wenn’s in die Hölle geht, verstanden? Reden brauchst du nicht mit dem Sahib. Der versteht dich doch nicht! Wenn er was brüllt, dann brüll du nur Hüh! Erst fährst du mir vorsichtig, nachher haust du drauf los, was das Zeug hält. Je mehr du haust, um so zufriedener ist der Sahib, verstehst du? Da hast du ’ne Rupie von mir.«

Der Kutscher hatte gemerkt, daß irgend was los war. Er grinste und sagte: ich fahren verflucht schnell! – Was ich für Angst hatte, daß der Wagen käme, ehe ich unsern süßen, kleinen Benira mit Gottes Hilfe bugsiert hatte. Er packte sein Dreckzeug in die Ekka und kugelte nach wie’n Meerschweinchen. Meinen Sie, er hätte uns ein Glas Bier geben lassen? Dafür, daß wir ihm den Weg gezeigt hatten? Na, sage ich zu den andern, der ist weg, nach den Sümpfen.«

Und nun erzählte Ortheris weiter.

»In dem Moment kommt gerade der kleine Bhuldoo, was der Junge von einem der Sais bei der Artillerie ist. In London war er ein großartiger Zeitungsjunge geworden, denn scharf ist er und nie zu faul. Natürlich hatte er gesehen, wie wir Mister Benira aufgepackt hatten. ›Was haben Sie denn da eben gemacht, Sahibs?‹ sagt er. Learoyd nimmt ihn beim Ohr und sagt:

›Gesagt hab ich,‹ fuhr Learoyd fort, ›junger Mann, der Mann da will am Donnerstag die Kanonen raus haben, Donnerstag, verstehst du? Dann mußt du auch ran! Also nimm dir ein Pony und hau drauf los, und fahr‘ den Kerl in die Sümpfe. Mach, daß du hinter der Ekka herkommst und sag dem Kutscher, daß du fahren willst. Der Sahib kann kein Indisch, er ist ein bißchen – verstehst du? Karr‘ die Ekka in den Sumpf, laß den Sahib sitzen, und mach, daß du nach Haus kommst. Hier hast du ’ne Rupie.‹«

Das nächste sagten Mulvaney und Ortheris abwechselnd. Man möge den Sprecher selbst herausfinden.

»Das war so ein richtiger kleiner Teufel, der Bhuldoo, und er zwinkert mit den Augen und sagt kaum was und ist fort. – Wir wollen doch mal sehen, ob man da nicht noch Geld rausschlagen kann, sage ich. – Na, und ich möchte erst mal wissen, wie die Sache abläuft. – Also gehen wir doch raus nach den Sümpfen und retten den Kleinen vor dem mörderischen Bhuldoo! – Natürlich, wie auf dem Theater. – Also sind wir im Laufschritt raus zu den Sümpfen. Aber da hören wir schon ein Getrappel hinter uns, und da war’s, weiß Gott, der kleine Bhuldoo mit ’ner ganzen Räuberbande, drei Stück, die – na, so ein bißchen echt mußte die Sache doch aussehen, – haste was kannste drauf los ritten. Und wir rannten, und die rannten, und wir platzten fast vor Lachen. Da kamen wir an den Sumpf und hörten dumpfe Klagetöne durch die Abendlüfte säuseln.« (Ortheris machte das Bier poetisch.) Das Duett begann von neuem. Mulvaney hob an.

»Wir hörten den Räuber Bhuldoo den Kutscher anschreien, einen von den jungen Teufelskerlen mit einem Knüppel auf das Ekkaverdeck schlagen und Benira Trig Mord und Totschlag brüllen. – Bhuldoo reißt den Kutscher vom Bock, packt die Zügel und fährt wie verrückt in den Sumpf. Der Kutscher kommt nun zu uns ran und sagt: ›Der Sahib ist halb tot vor Angst. Was ist denn das für eine Teufelssache?‹« – »Nur Ruhe,« sagen wir, »nimm hier das Pony und komm mit uns. Der Sahib ist angefallen, und nun müssen wir ihn befreien.« »Angefallen?« sagte der Kutscher, »Unsinn, das ist doch Bhuldoo.« »Zum Henker mit Bhuldoo,« geben wir zur Antwort, »es ist ein verdammter, wilder Heide aus dem Gebirge. Achte sind’s, die den Sahib angefallen haben, verstehst du! Merk dir’s, hier hast da ’ne Rupie dafür.« – Und da sehen wir auch schon die Ekka umkippen und ins Wasser platschen, und hören den Benira um Vergebung seiner Sünden flehen. Und Bhuldoo und seine Freunde sind auch im Wasser und prügeln sich.«

Hier zogen sich die drei Musketiere hinter ihre Biergläser zurück.

»Nun, und was geschah nun?« fragte ich.

»Ja, was nun geschah?« antwortete Mulvaney und wischte sich den Mund. »Sollen vielleicht drei so tapfere Soldatenkerle wie wir den Stolz des Herrenhauses überfallen und ersaufen lassen? Niemals. Wir stellten uns also in Reih und Glied und machten Sturm auf den Feind. Zehn Minuten lang, das sage ich Ihnen, konnten wir unser eigenes Wort nicht verstehen. Das Getrommel auf dem Verdeck und Benira und die Bande radauten um die Wette. Die Stöcke pfiffen nur so rum um die Ekka. Ortheris paukte mit seinen Fäusten aufs Verdeck und Learoyd schrie: ›Nehmt euch bloß vor ihren Messern in acht.‹ Und ich schlug rechts und links um mich und trieb ganze Regimenter Heidenvolk nur so in die Flucht. Kreuz Maria und Joseph, es war ärger als Ahmid Kheyl und Maywind zusammen. Nach einer Weile flieht Bhuldoo und die ganze Gesellschaft. Haben Sie schon einmal einen richtig lebendigen Lord seine Adligkeit einen halben Meter tief im Sumpfwasser verstecken sehen? Weiß Gott, er sah aus wie so’n bibbernder Wasserschlauch. Na, und es dauerte auch ganz hübsch lange, bis wir unserm Freund Benira klar gemacht hatten, daß er noch lebte. Aber noch länger hat’s gedauert, bis wir die Ekka aus dem Dreck kriegten. Und schließlich kam auch der Kutscher wieder ran und schwor, er hätte mitgeholfen, den Feind zu vertreiben. Benira war vor Angst ganz krank. Wir brachten ihn ganz gemütlich ins Quartier zurück, damit die Nässe recht hübsch durchsickern konnte. Und sie ist gesickert! Dem Regimentsheiligen alle Ehre, sie hat dem Lord Benira das Mark aus den Knochen gesogen.«

Da sagte Ortheris langsam mit unermeßlichem Stolz: »Er sagt zu uns: ›Ihr seid meine edlen Retter,‹ sagt er. ›Stolz kann die englische Armee auf euch sein,‹ sagt er. Und dann beschreibt er uns die furchtbare Räuberbande, die ihn angefallen hat. Vierzig Mann wären es gewesen, sagt er, die Übermacht hätte ihn überwältigt. Na, das stimmt. Aber nicht einen Augenblick hätte er seine Geistesgegenwart verloren, sagt er. Und das stimmt auch. Dem Kutscher gab er fünf Rupien für seinen edlen Beistand. Und nach uns würde er sehen, wenn er mit dem Obersten gesprochen hätte. Denn’s Regiment kann auf uns stolz sein, sagt er.«

»Na, wir drei,« sagte Mulvaney mit engelreinem Lächeln, »wir drei haben schon mehr als einmal Bob Bahadurs ganz be-son-de-re Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Aber er ist wirklich ein anständiger kleiner Herr, unser Oberst Bob. Ortheris, mein Sohn, nun fahr‘ du fort!«

»Wir bringen ihn also zum Oberst ins Haus, elend genug, und laufen rüber in die Kaserne und sagen, daß wir Benira vom blutigen Tode errettet hätten, und daß Donnerstag wahrscheinlich keine Parade wäre. – Na, und zehn Minuten drauf kommen drei Briefe, für jeden von uns einer. Weiß Gott, der alte Schafskopp schickt uns jedem ein Goldstück. Am Donnerstag lag er im Krankenhaus, um sich von seinem blutigen Zusammenstoß mit der Heidenbande zu erholen. Und die ganze zweite Kompanie soff sich auf sein Wohl unter’n Tisch. Aber der Oberst sagte, als er von unsrer Tapferkeit hörte: ›Irgendwo ist hier doch ’ne Spitzbüberei im Gang gewesen,‹ sagt er, ›ich kann man bloß euch drei nicht überführen.‹«

»Meine spezielle Ansicht ist,« sagte Mulvaney, kletterte vom Büfett herunter und drehte sein Glas um, »sie würden uns auch nicht überführt haben, wenn sie’s gekonnt hätten. Denn Parade am Donnerstag verstößt erstens gegen die Natur, zweitens gegen’s Reglement und nicht zuletzt gegen Terence Mulvaney seinen Willen.«

»Schön, mein Sohn,« sagte Learoyd, »aber, junger Mann, was wollen Sie denn mit dem Notizbuch?«

»Laß ihn nur,« sagte Mulvaney, »nächsten Monat um die Zeit sind wir schon auf dem Schiff; der Herr will uns ja bloß unsterblich machen. Aber behalten Sie’s bei sich, bis wir meinem Freunde Bob Bahadur aus der Schußweite sind.«

Und ich bin Mulvaney gehorsam gewesen.

Miss Youghals »Sais«

Miss Youghals »Sais«

Hier und da hört man die Behauptung, es gäbe in Indien keine Romantik. Aber hier und da irrt man sich. Unser Leben hat so viel Romantik, wie uns gut tut. Manchmal auch mehr.

Strickland war bei der Polizei. Die Leute verstanden ihn nicht. Darum sagten sie, er sei ein Mann von zweifelhaftem Charakter, und wichen ihm aus. Strickland hatte sich das selbst zu verdanken. Er hatte das sonderbare Prinzip, daß ein Polizeibeamter in Indien die Einheimischen ebensogut kennen müsse wie die Einheimischen sich selbst. Nun gibt es aber zur Zeit in ganz Oberindien nur einen einzigen Menschen, der sich nach Belieben für einen Mohammedaner oder Hindu, für einen einheimischen Schuhflicker oder Fakir ausgeben kann. Und der ist geachtet und gefürchtet bei den Leuten von Ghor Kathri bis zum Jamma Musjid. Von ihm glaubt man, daß er sich unsichtbar machen kann, und .daß er Gewalt hat über alle Teufel. – Aber was hat ihm das schließlich bei der Regierung genützt? Nicht das geringste. Er ist darum nicht Vizekönig geworden, und sein Name blieb England unbekannt.

Strickland war so töricht, sich diesen Mann zum Vorbild zu wählen. Treu seinem Prinzip stöberte er in lauter anrüchigen Gegenden herum, die zu erforschen sich kein anständiger Mensch herabgelassen hätte, – in allen schmutzigen Winkeln, und Ecken. Er bildete sich sieben Jahre lang in dieser eigentümlichen Weise aus, aber die Leute wußten es nicht zu würdigen. Er suchte unablässig Geheimnisse der Einheimischen auszuspionieren, was natürlich jeder vernünftige Mensch für Unsinn hielt. Während seines Urlaubs wurde er einmal in Allahabad in die »Sat Bhai« aufgenommen. Er kannte das Eidechsen-Lied der »Sansis« und den Halli-Hukk-Tanz, einen religiösen Cancan von etwas aufregender Natur. Wer weiß, wann, wie und wo der Halli-Hukk-Tanz getanzt wird, kann stolz darauf sein, denn dann kennt er mehr als die äußere Schale der Verhältnisse. Strickland war nicht stolz, obwohl er einmal in Jagadhri beim Bemalen des Totenstieres – für jedes englische Auge ein Geheimnis – geholfen hatte, obwohl er die Diebessprache der »Changars« beherrschte, obwohl er einmal einen abgefeimten Pferdedieb bei Attok ganz allein gefangen hatte und ein andermal sogar auf der Kanzel einer Grenzmoschee gestanden und den Gottesdienst ganz wie ein »Mullah« abgehalten hatte.

Die Krone seiner Leistungen war sein elftägiger Aufenthalt als Fakir in den Gärten von »Baba Atal« in Amritsar, bei dein er die Spuren der großen Nasiban-Mordaffäre auffand. Aber die Leute sagten ja ganz richtig: »Warum in aller Welt bleibt Strickland nicht ruhig in seinem Bureau sitzen; kann er nicht einfach seine Berichte schreiben, neue Beamte einführen und sich still halten, statt immer nur die Unfähigkeiten seiner Vorgesetzten aufzudecken?« Aus diesem Grunde half ihm selbst die Nasiban-Sache nicht vorwärts. Und darum kehrte er, als sich sein erster Zorn gelegt hatte, wieder zu seiner seltsamen Gewohnheit zurück, das Leben der Einheimischen zu erforschen. Übrigens, wenn jemand erst einmal an solch absonderlichem Vergnügen Geschmack gefunden hat, wird er es sein Leben lang nicht wieder aufgeben. Nichts in der Welt hat stärkere Reize; selbst die Liebe nicht. Wenn andere Leute auf zehn Tage in die Berge gehen, nahm Strickland Urlaub für die »Jagd«, wie er es nannte. Er verkleidete sich, wie es ihm gerade gut schien, mischte sich unter das braune Volk und war für eine Weile verschwunden. Er war ein stiller, brünetter junger Mensch, schlank und schwarzäugig, und, wenn er bei der Sache war, ein sehr interessanter Gesellschafter. Es lohnte sich, Strickland über die Entwicklung des Volkes, wie er sie auffaßte, reden zu hören. Die Einheimischen haßten ihn, aber sie fürchteten ihn auch. Er wußte zu viel.

Als Youghals an den Ort kamen, verliebte sich Strickland ernstlich, – wie er alles tat, – in Miß Youghal. Und sie verliebte sich nach einem Weilchen in ihn, weil er ihr ein Rätsel war. Da sprach Strickland mit ihren Eltern. Aber Mrs. Youghal erklärte, daß sie ihre Tochter nicht in den Verwaltungszweig, der am schlechtesten im ganzen Reiche bezahlt würde, hineinheiraten lasse. Und der alte Youghal erklärte mit genau so vielen Worten, daß er zu Stricklands Tun und Treiben kein Vertrauen habe, und daß er ihm verbunden wäre, wenn er allen mündlichen und schriftlichen Verkehr mit seiner Tochter aufgäbe. »Gut«, sagte Strickland, denn er wollte seiner Liebsten das Leben nicht zur Last machen. Er ließ die Sache nach einer langen Unterredung mit Miß Youghal ganz fallen.

Im April zogen Youghals nach Simla.

Im Juli nahm Strickland drei Monate Urlaub, »dringender Privatangelegenheiten halber.« Er schloß sein Haus zu, wenn auch um alles in der Welt, kein Einheimischer »Estreekin Sahibs« Hab und Gut wissentlich angetastet hätte, und reiste zu einem Freunde, einem alten Färber, nach Tarn Taran. Seitdem war jede Spur von ihm verloren, bis mir eines Tages auf der Promenade in Simla ein »Sais« die folgenden wunderlichen Zeilen übergab:

Verehrter alter Freund,

händigen Sie bitte dem Überbringer eine Kiste Zigarren – am liebsten Super Nr. 1 – aus. Die frischesten erhalten Sie im Klub. Meine Schulden zahle ich, sobald ich wieder da bin. Augenblicklich stehe ich außerhalb der »Welt«.

Ihr
E. Strickland.

 

Ich ließ zwei Kisten kommen und übergab sie mit den besten Grüßen dem Sais. Und der Sais war Strickland selbst gewesen. Er hatte beim alten Youghal Dienst genommen und besorgte Miß Yougals Araber. Der Ärmste sehnte sich nach englischem Tabak und wußte auf jeden Fall, daß ich schweigen würde, bis alles erledigt wäre.

Mit der Zeit fing Mrs. Youghal, die in ihrer Bedienung aufging, an, überall wo sie verkehrte, von ihrem Muster-Sais zusprechen, dem es nie zu viel war, frühmorgens aufzustehen, um Blumen für den Frühstückstisch zu pflücken, der die Pferdehufe wichste, – wirklich wichste, – ganz wie ein Kutscher in London. Miß Youghals Araber sah entzückend aus; er war das reine Wunder. Strickland, – Dulloo meine ich, – entlohnte das reizende Lob, das ihm Miß Youghal beim Ausreiten spendete. Ihre Eltern freuten sich, daß sie ihre törichte Neigung für den jungen Strickland so ganz vergessen hatte, und nannten sie ein gutes, liebes Kind.

Strickland beteuert, daß diese zwei Monate Dienst für ihn die härteste geistige Schulung bedeutet haben, die er je durchgemacht. Daß die Frau eines anderen Sais sich in ihn verliebte und ihn mit Arsenik vergiften wollte, weil er nichts von ihr wissen wollte, ist noch nebensächlich. Aber er mußte sich auch zur Ruhe zwingen, wenn Miß Youghal mit einem anderen ausritt, der mit ihr flirtete, und mußte hinter ihnen herlaufen, ihnen die Decke nachtragen und jedes Wort mit anhören. Auch mußte er guter Laune bleiben, wenn ihn ein Polizist auf der Benmore-Terrasse schalt, besonders einmal, als ihn ein junger »Naik«, den er selber aus dem Dorfe Isser Jang ausgehoben hatte, anschrie, oder wenn ihn gar ein junger Unterbeamter »Sau« nannte, weil er ihm nicht rasch genug aus dem Wege ging.

Aber das Leben bot ihm auch Entschädigungen. Er gewann einen tiefen Einblick in die Schliche und Spitzbübereien der »Sais«; Einblicke, tief genug, wie er sagte, um die halbe »Chamar«-Bevölkerung Ostindiens ins Gefängnis bringen zu können, wenn er im Dienst gewesen wäre. Er wurde Meister im Knöchelspiel, das alle Sänftenträger und Pferdeknechte spielen, wenn sie vor dem Regierungsgebäude oder nachts vorm Gaiety-Theater warten müssen. Er lernte Tabak rauchen, der dreiviertel aus Kuhdünger bestand, und studierte die Weisheiten des Graukopfes, der die Sais vor dem Regierungsgebäude beaufsichtigte. Und dessen Worte waren wertvoll. Er sah manches, was ihm Spaß machte; und er gibt sein Ehrenwort darauf, daß niemand Simla wirklich würdigen kann, der es nicht vom Standpunkt eines Sais aus gesehen hat. Und er meint auch, daß sein Schädel, wenn er alles Geschaute veröffentlichen würde, nicht nur an einer Stelle eingeschlagen werden würde.

Stricklands Schilderung seiner Qualen, wenn er in feuchten Nächten vor der »Benmore-Terrasse« trotz Pferdedecke das Licht sah und die Musik hörte, während der Walzer ihm in den Beinen juckte, ist wirklich nicht langweilig.

Strickland wird demnächst ein Buch über seine kleinen Erlebnisse schreiben. Das Buch wird wert sein, gekauft, oder gar noch mehr: beschlagnahmt zu werden.

So diente er treu wie Jakob um Rahel. Sein Urlaub war fast zu Ende, als die Explosion erfolgte. Er hatte sich wirklich mit bestem Willen bei allen Courschneidereien beherrscht, aber schließlich ging es über seine Kraft. Ein hervorragender, alter General ritt mit Miß Youghal aus und begann jenen so verletzenden Backfischflirt, den Frauen schwer abweisen können, und der den Zuhörer rasend macht. Miß Youghal zitterte vor Furcht, weil ihr Sais das alles hörte. Strickland-Dulloo ertrug es, solange er es aushielt. Aber dann ergriff er die Zügel des Generals und forderte ihn in fließendem Englisch auf, abzusitzen, um sich über die Felswand hinabwerfen zu lassen. Einen Augenblick später weinte Miß Youghal, und Strickland sah ein, daß er sich endgültig verraten habe – daß alles aus sei.

Den General rührte fast der Schlag, als Miß Youghal ihm die Geschichte der Vermummung und der von ihren Eltern mißbilligten Verlobung vorschluchzte. Strickland war wütend über sich selbst, und noch wütender über den General, weil er ihn gezwungen hatte, seine Karten aufzudecken. Er sagte nichts, hielt den Kopf des Pferdes und nahm sich vor, den General zur einzigen Genugtuung wenigstens durchzuprügeln. Als der General die Geschichte gründlich erfaßt hatte und wußte, wer Strickland war, begann er zu prusten und zu schnaufen und fiel fast aus dem Sattel vor Lachen. Strickland verdiene das Viktoriakreuz, sagte er, schon allein darum, weil er es über sich gebracht hätte, wie ein Sais in eine Pferdedecke zu kriechen. Dann schalt er sich selbst, und schwur, daß er Prügel verdiene, wenn er auch zu alt sei, sie von Strickland zu empfangen. Und dann beglückwünschte er Miß Youghal zu ihrem Verlobten. Das Anstößige bei der Sache kam ihm gar nicht in den Sinn, denn er war ein netter alter Herr, der nur eine Schwäche fürs Flirten hatte. Er lachte noch einmal auf und schalt den alten Youghal einen Narren. Da ließ Strickland den Kopf des Pferdes los und schlug dem General vor, ihnen zu helfen, wenn er so dächte. Strickland kannte des alten Youghal Schwäche für Leute in hohen Stellungen, mit Titeln und Orden. »Es ist ja beinahe ein Fastnachtsschwank,« sagte der General. »Aber bei Gott, ich helfe, und wenn auch nur, um meiner verdienten Tracht Prügel zu entgehen. Jetzt gehen Sie nur erst nach Hause, teurer Sais-Polizeibeamter, und machen Sie sich wieder menschlich. Ich werde inzwischen einen Angriff auf Mr. Youghal versuchen. Und Sie, Miß Youghal, darf ich wohl bitten, nach Hause zu reiten und sich zu gedulden.«

Fünf Minuten später gab es im Klub ein wildes Hallo. Ein Sais mit Pferdedecke und Halfter ging umher und bat alle Leute, die er kannte: »Um Himmelswillen, leihen Sie mir anständige Sachen!« Da man ihn nicht gleich erkannte, gab es ein paar eigenartige Szenen, ehe sich Strickland ein heißes Bad mit Soda verschaffte, und ehe er von dem Einen ein Hemd, von Jenem einen Kragen, von einem Dritten ein paar Hosen usw. erhielt. Er galoppierte mit der halben Klubgarderobe an seinem Leibe auf dem Pony eines wildfremden Menschen nach dem Hause des alten Youghal. Der General, »angetan mit Purpur und köstlichem Linnen«, war vor ihm gekommen. Was er gesagt hatte, erfuhr Strickland nie. Aber Youghal empfing Strickland ziemlich höflich. Und Mrs. Youghal, gerührt von der Treue des verwandelten Dulloo, war fast gütig. Der General strahlte und frohlockte. Miß Youghal kam herein, und ehe der alte Youghal wußte, wie ihm geschah, hatte man ihm seinen väterlichen Segen abgerungen und Strickland war mit Miß Youghal zur Post, um nach seinen Sachen zu telegraphieren. Die letzte Verwicklung kam, als ihn ein wildfremder Mensch auf der Promenade ansprach und das gestohlene Pony forderte.

So wurden schließlich Strickland und Miß Youghal getraut, aber unter der strengen Verpflichtung, daß Strickland seine alten Gewohnheiten fallen lassen und sich an seinen Dienst halten sollte, der lohnender sei und schließlich doch nach Simla führe. Strickland liebte seine Frau damals viel zu sehr, um sein Wort nicht zu halten. Aber es war eine schwere Prüfung für ihn, denn die Straßen und Basare und ihr Leben waren für ihn voll geheimer Bedeutung. Sie riefen Strickland, zu ihnen zurückzukehren und seine alten Entdeckungsfahrten wieder aufzunehmen.

Vielleicht erzähle ich noch einmal, wie er sein Versprechen brach, um einem Freunde zu helfen. Aber das ist lange her, und heute ist er fast unbrauchbar für das, was er eine »Jagd« nannte. Er verlernt allmählich die Sprache des Volkes, das Kauderwelsch der Bettler, ihre Zeichen und Winke, und den Lauf geheimer Strömungen, die man nie auslernt, wenn man sie meistern will.

Aber er schreibt ausgezeichnete Regierungsberichte.

Das Tor der hundert Leiden

Das Tor der hundert Leiden

»So ich für einen Groschen den Himmel gewinnen kann,
willst du es mir mißgönnen?«

Sprichwort der Opiumraucher.

Das Folgende ist keine Arbeit von mir. Mein Freund, Gabral Misquitta, der Mischling, erzählte mir das Ganze zwischen Monduntergang und Morgen, sechs Wochen vor seinem Tode; und ich brachte es nach seinem Diktat zu Papier, während er meine Fragen beantwortete. Etwa so:

Es liegt zwischen der Kupferschmiedgasse und dem Viertel der Pfeifenstiel Verkäufer, noch keine hundert Meter im Vogelflug von der Wasir Khan Moschee. Soviel kann ich jedem verraten, aber ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß keiner das Tor finden wird, mag er noch so überzeugt sein, die Stadt zu kennen. Hundertmal kann man durch die nämliche Gasse gehen, ohne das Tor zu finden. Wir nannten die Gasse »die Gasse des schwarzen Rauchs«, aber der einheimische Name lautet natürlich ganz anders. Ein beladener Esel wäre außerstande, zwischen ihren Mauern hindurchzukommen; ja, an einem Punkt, kurz vor »Dem Tor«, zwingt; eine vorspringende Hausfront die Leute, sich seitwärts durchzuzwängen.

In Wirklichkeit ist es gar kein Tor. Es ist ein Haus. Der alte Fung-Tsching war sein erster Besitzer – fünf Jahre sind es her. Er war ein Schuhmacher aus Kalkutta. Sie sagen, er hätte dort in der Trunkenheit seine Frau ermordet. Das ist auch der Grund, weshalb er auf den Bazar-Rum verzichtete und sich statt dessen dem schwarzen Rauch ergab. Später zog er nach dem Norden und eröffnete »Das Tor« als Stätte, wo man in Ruhe seinen Rauch trinken konnte. Sie müssen wissen, es war ein »Pukka« – ein anständiges Opiumhaus, und keine von den dumpfen, stickigen Höhlen, wie man sie überall in der Stadt findet. Ja, der Alte verstand sein Geschäft gründlich und war für einen Chinesen ungewöhnlich sauber. Er war einäugig – ein kleines Kerlchen, noch keine fünf Fuß hoch, und hatte beide Mittelfinger verloren. Trotzdem habe ich noch niemanden getroffen, der ihm an Geschicklichkeit beim Drehen der schwarzen Pillen gleich kam. Er schien außerdem gegen den Rauch vollkommen unempfindlich. Was er tagaus tagein darinnen leistete, grenzte ans Wunderbare. Ich bin nun schon fünf Jahre dabei und kann auch meinen Teil vertragen; aber in dieser Hinsicht war ich neben Fung-Tsching ein Kind. Trotzdem war der Alte scharf auf sein Geld aus: das habe ich an ihm nie verstanden. Er soll vor seinem Tode noch ziemlich viel zusammengerafft haben, aber jetzt hat alles sein Neffe, und der Alte ist, nur um begraben zu werden, nach China zurückgelangt.

Er hielt den großen Raum im Oberstock, wo seine besten Kunden sich versammelten, so blank wie eine Stecknadel. In der einen Ecke stand Fung-Tschings Götze – fast ebenso häßlich wie Fung-Tsching selbst – und unter seiner Nase wurden Tag und Nacht Räucherspäne abgebrannt; aber man roch sie nicht, wenn die Pfeifen ordentlich im Gange waren. Gegenüber von dem Götzen stand Fung-Tschings Sarg. Er hatte einen hübschen Teil seiner Ersparnisse auf diesen Sarg verwandt und immer, wenn sich ein neuer Kunde im »Tor« meldete, wurde er zuerst dem Sarg vorgestellt. Der war aus schwarzem Lack mit roten und goldenen Inschriften, und es hieß, Fung-Tsching hätte ihn die ganze weite Reise aus China mitgebracht. Ich weiß zwar nicht, ob das stimmt, aber das eine ist sicher: wenn ich als erster am Platz war, breitete ich meine Matte direkt unterhalb des Sarges aus. Es war ein stiller Winkel, wissen Sie, und durch das Fenster kam hin und wieder von der Gasse her ein kleiner Luftzug. Außer den Matten gab es in dem Raum kein Mobiliar – nur den Sarg und den alten Götzen, über und über grün und blau und purpurfarben vor lauter Alter und Lack.

Fung-Tsching hat uns niemals verraten, weshalb er das Haus »Das Tor der hundert Leiden« nannte. (Er war der einzige Chinese, den ich je gekannt habe, der sich übelklingender, phantastischer Namen bediente. Die meisten klingen sonst sehr blumenreich.) Davon können Sie sich in Kalkutta überzeugen. Wir kamen ganz von selbst dahinter. Nichts packt einen so, wenn man ein Weißer ist, wie der schwarze Rauch. Die Gelben sind darin anders. Opium hat auf sie fast gar keine Wirkung; aber Weiße und Schwarze nimmt es ziemlich mit. Natürlich gibt es überall Menschen, die es im Anfang nicht stärker spüren als zum Beispiel den Tabak. Sie dösen nur so’n bißchen vor sich hin, wie wenn man von selbst einschläft, und sind am nächsten Morgen fast arbeitsfähig. Ich war nämlich auch einer von der Sorte, als ich mit dem Zeugs anfing, aber nun bin ich schon fünf Jahre ununterbrochen dabei – und jetzt ist es ganz anders geworden. Hatte so ’ne alte Erbtante, unten in der Agraer Gegend, die mir da bei ihrem Tode ’ne Kleinigkeit hinterließ. So rund sechzig Rupien im Monat – fest. Sechzig ist nicht viel. Kann mich noch auf ’ne Zeit besinnen – es scheint mir ’ne Ewigkeit her – da verdiente ich dreihundert im Monat und noch Nebeneinnahmen – damals, als ich die großen Holzlieferungen in Kalkutta hatte.

Ich blieb nicht lange bei der Arbeit. Der schwarze Rauch gestattet nicht, daß man sich viel mit anderen Dingen beschäftigt, und obgleich er auf mich, verglichen mit den meisten Menschen, nur wenig Wirkung hat, könnte ich doch nicht einen Tag arbeiten, und wenn es um mein Leben ginge! Und schließlich komme ich ja auch mit sechzig Rupien aus. Als der alte Fung-Tsching noch lebte, gab er mir ungefähr die Hälfte der Summe für meinen Unterhalt (ich esse nur sehr wenig) und behielt den Rest für sich. Jederzeit, Tag und Nacht, konnte ich »das Tor« aufsuchen und, wann ich wollte, dort rauchen und schlafen, und das Übrige war mir ja gleichgültig. Ich weiß, der Alte hat ein hübsches Stückchen Geld dabei verdient; aber das war mir ganz gleich; außerdem lief ja immer wieder Geld ein – regelmäßig, jeden Monat.

Wir waren unser zehn, als »das Tor« eröffnet wurde. Ich – und zwei Eingeborenengentlemen von irgendeinem Amt in Anarkulli; aber sie bekamen später den Abschied und konnten nicht mehr bezahlen (niemand, der tagsüber arbeiten muß, kann es bei dem schwarzen Rauch, ohne Unterbrechung, aushalten); ein Chinese, der Fung-Tschings Neffe war; ein Weib aus den Bazaren, die irgendwo ’ne Menge Geld liegen hatte; ein englischer Bummler – Mac Soundso hieß er, den genauen Namen habe ich vergessen – der große Mengen rauchte, aber niemals etwas zu bezahlen schien (es hieß, er habe einmal, bei irgendeinem Prozeß in Kalkutta, wo er als Anwalt tätig war, Fung-Tsching das Leben gerettet); ein anderer Eurasier, wie ich, aus Madras gebürtig; eine Halbeuropäerin und ein paar Männer, die behaupteten, aus dem Norden zu stammen. Ich glaube, es waren Perser oder Afghanen oder so etwas. Heute sind nur noch fünf von uns am Leben, aber wir fünf kommen ganz regelmäßig. Ich weiß nicht, was aus den indischen Beamten geworden ist; das Weib aus den Bazaren starb nach einem halben Jahr des schwarzen Rauches, und Fung-Tsching behielt, glaube ich, ihre Fuß- und Armspangen und den Nasenring für sich. Genau weiß ich es aber nicht. Der Engländer trank außerdem noch und gab die Sache schließlich auf. Einer der Perser wurde vor langer, langer Zeit eines Nachts bei einem Straßenkampf neben dem großen Brunnen in der Nähe der Moschee getötet, und die Polizei schüttete den Brunnen zu, weil er die Luft verpestete. Da fanden sie den Perser auf dem Grunde – tot. Wie Sie sehen, sind also nur noch der Chinese, die Halbeuropäerin, die wir die Memsahib nennen (sie lebte früher mit Fung-Tsching zusammen), der andere Eurasier, der eine Perser und ich selbst übrig geblieben. Die Memsahib sieht jetzt sehr alt aus. Ich glaube, sie war noch eine junge Frau, als »das Tor« eröffnet wurde; aber was das anbetrifft, so sind wir alle alt – Hunderte und Hunderte von Jahren alt. Es ist sehr schwer, die Jahre zu zählen, wenn man im »Tor« lebt, und außerdem ist mir die Zeit ganz gleich. Ich beziehe jeden Monat sechzig Rupien. Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch durch die Holzlieferungen in Kalkutta meine dreihundertundfünfzig Rupien und Nebeneinnahmen verdiente, hatte ich auch so eine Art Frau. Jetzt ist sie aber gestorben. Die Leute sagen: daß ich mich an den schwarzen Rauch gewöhnte, wäre ihr Tod gewesen. Vielleicht stimmt das auch, aber das ist so lange her, daß es schon ganz gleich ist. Die erste Zeit, als ich das »Tor« besuchte, tat mir die Sache manchmal noch leid; aber das ist nun alles längst vorbei; ich beziehe jeden Monat meine sechzig Rupien, ganz regelmäßig, und bin vollkommen glücklich. Nicht gerade berauschend glücklich, aber immer ruhig und friedlich und zufrieden.

Wie ich dazu gekommen bin? Ich probierte es ein paar mal zu Hause, nur um es kennenzulernen. Niemals sehr viel auf einmal, aber ich glaube, das war in der Zeit, als meine Frau starb. Wie dem auch sei, ich fand mich eines Tages in dieser Stadt wieder und machte dann die Bekanntschaft von Fung-Tsching. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam; aber er erzählte mir von »dem Tor«, und ich gewöhnte es mir an, dorthin zu gehen, und seitdem bin ich, ich weiß nicht wie, hängen geblieben. Aber vergessen Sie nicht, zu Fung-Tschings Lebzeiten war »das Tor« ein anständiges Haus, wo man sich sehr wohl fühlen konnte, ganz anders als die Höhlen, in denen die Nigger verkehren. Nein; es war dort sauber und ruhig und nicht überfüllt. Natürlich gab es außer uns zehn und dem Wirt noch andere Kunden; aber wir hatten stets eine eigene Matte mit einem wattierten, wollenen Kopfstück, das ganz mit schwarzen und roten Drachen bedeckt war, genau wie in der Ecke der Sarg.

Nach der dritten Pfeife fingen die Drachen an, sich zu bewegen und miteinander zu kämpfen. Ich habe sie beobachtet, nächtelang, wieder und immer wieder. Ich maß meinen Rauch an ihnen; jetzt braucht es schon ein Dutzend Pfeifen, um sie lebendig zu machen. Außerdem sind sie jetzt alle schmutzig und zerrissen, wie die Matten, seitdem der alte Fung-Tsching nicht mehr lebt. Er starb vor wenigen Jahren und hinterließ mir die Pfeife, die ich jetzt immer rauche – eine silberne, mit allerlei tollem Getier, das sich um den Rauchbehälter unterhalb des Pfännchens windet. Vordem benutzte ich, glaube ich, eine große Bambuspfeife mit einem sehr kleinen, kupfernen Pfännchen und einem Mundstück aus grünem Nephrit. Sie war etwas dicker als ein Bambusspazierstock und schmeckte sehr, sehr süß. Der Bambus schien den ganzen Rauch aufzusaugen. Silber tut das nicht; ich muß die silberne jetzt von Zeit zu Zeit reinigen, das macht natürlich viel Arbeit, aber ich rauche sie trotzdem, um des Alten willen. Er muß ja ganz anständig an mir verdient haben, aber er hat mir stets saubere Matten und Kissen gegeben, sowie das beste Zeugs, was zu haben war.

Als er starb, übernahm sein Neffe, Tsin-ling, »das Tor«; er nannte es den »Tempel des dreifachen Besitzes« aber wir Alten sprechen immer noch von den »Hundert Leiden«. Der Neffe führt die Sache auf sehr schäbige Art, und ich glaube, die Memsahib muß ihm helfen. Sie lebt bei ihm, wie früher bei dem Alten. Die beiden lassen Gott weiß was für Pack herein, selbst Nigger und dergleichen, und der schwarze Rauch ist nicht mehr so gut wie früher. Ich habe wiederholt verbrannte Kleie in meiner Pfeife gefunden. Der Alte wäre gestorben, wenn das zu seiner Zeit passiert wäre. Außerdem wird das Zimmer jetzt nie mehr gereinigt, und sämtliche Matten sind zerfetzt und an den Ecken ausgefranst. Der Sarg ist fort – nach China zurückgebracht worden – mitsamt dem Alten und zwei Unzen Rauchs, die man ihm hineinlegte, falls er unterwegs welchen brauchen sollte.

Unter des Hausgötzens Nase werden auch nicht mehr so viele Späne abgebrannt wie früher; und das ist bestimmt ein böses Zeichen, darauf schwöre ich. Er ist inzwischen ganz braun geworden, und niemand kümmert sich mehr um ihn. Daran ist, wie ich weiß, nur die Memsahib schuld, denn als Tsing-ling einmal Goldpapier vor ihm verbrennen wollte, sagte sie, das sei nur Geldverschwendung, und wenn er ständig vor ihm einen Span langsam verkohlen ließe, würde der Götze den Unterschied nicht merken. Jetzt haben wir Späne, die mit ’ner Menge Leim beschmiert sind; sie brennen zwar ’ne halbe Stunde länger, stinken aber dafür. Und dazu noch der Geruch von dem Zimmer selbst! Bei so einer Führung kann kein Geschäft gedeihen! Dem Götzen gefällt es auch nicht. Das sehe ich ganz genau. Spät in der Nacht nimmt er mitunter alle möglichen Farben an – blau und grün und rot – genau wie in der Zeit, als Fung-Tsching noch lebte; aber jetzt rollt er die Augen und stampft mit den Füßen wie ein richtiger Teufel.

Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich nicht wegbleibe und in Ruhe für mich rauche – in einem Privatzimmer des Bazars. Wahrscheinlich jedoch würde mich Tsin-ling umbringen – er bezieht jetzt meine sechzig Rupien – außerdem würde es schreckliche Umstände machen und ich liebe »das Tor« wirklich sehr. Äußerlich ist es ja ziemlich unansehnlich, beileibe nicht was es zu des Alten Zeiten war, aber ich könnte es doch nicht verlassen. Ich habe so manchen da ein- und ausgehen sehen. Und viele habe ich hier auf den Matten sterben sehen, so daß ich jetzt selber Angst hätte, da draußen zu endigen. Manche Dinge habe ich hier erlebt, die die meisten Menschen recht seltsam anmuten würden, und doch gibt es nichts Seltsames, wenn man den schwarzen Rauch trinkt, außer dem schwarzen Rauch selbst. Und wenn es das gäbe, wäre es ja auch ganz gleich. Fung-Tsching hielt sehr auf gutes Publikum und ließ niemanden herein, der beim Sterben irgendwelche Scherereien machte – tobsüchtig wurde und dergleichen mehr. Aber sein Neffe ist nicht halb so vorsichtig. Er erzählt jedem, der ihm über den Weg läuft, daß er ein »erstklassiges Etablissement« besäße. Macht nicht den leisesten Versuch, die Leute ruhig und unauffällig in sein Haus zu ziehen und es ihnen dann gemütlich zu machen. Deshalb ist »das Tor« jetzt auch ein klein wenig bekannter geworden – bei den Schwarzen natürlich. Der Neffe wagt nicht, einen Weißen oder eine Mischhaut hierherzuziehen. Uns drei muß er natürlich behalten – mich und die Memsahib und den anderen Eurasier. Wir sind Stammgäste. Aber er würde uns keinen Pfeifenkopf Kredit geben – nicht um die Welt!

Eines Tages hoffe ich, hier im »Tor« zu sterben. Der Perser und der Mann aus Madras sind schon arg zitterig geworden. Sie haben jetzt einen Jungen, um ihnen die Pfeifen anzuzünden. Ich tue das immer noch selbst. Wahrscheinlich werden sie noch vor mir zur Tür herausgetragen werden. Ich glaube aber nicht, daß ich die Memsahib oder Tsin-ling überlebe. Frauen halten den schwarzen Rauch länger aus als Männer, und Tsin-ling hat einen guten Teil von des Alten Blut in den Adern, trotzdem er das billige Zeugs raucht. Das Weib aus den Bazaren wußte zwei Tage vorher, daß ihre Zeit gekommen war; sie starb auf einer sauberen Matte mit einem hübschen, wattierten Kissen unter dem Kopf, und der Alte hing ihre Pfeife über dem Hausgötzen auf. Er hing sehr an ihr, so viel ich weiß. Aber das hinderte ihn nicht, ihre Spangen an sich zu nehmen.

Ich möchte sterben, wie das Weib gestorben ist – auf einer sauberen, kühlen Matte mit einer Pfeife voll anständigen Zeugs zwischen den Lippen. Wenn ich fühle, daß ich soweit bin, werde ich Tsin-ling darum bitten; er kann dafür meine sechzig Rupien weiterbeziehen, solange er will, ganz regelmäßig. Dann werde ich mich still und behaglich ausstrecken und die schwarzen und roten Drachen bei ihrem letzten, großen Kampf beobachten; und dann …

Nun, es ist ja ganz gleich. Alles ist mir so ziemlich gleich – wenn nur Tsin-ling nicht Kleie unter den schwarzen Rauch mischte.

Der Wahnsinn des Gemeinen Ortheris

Der Wahnsinn des Gemeinen Ortheris

Meine Freunde Mulvaney und Ortheris hatten sich auf einen eintägigen Jagdausflug begeben. Learoyd lag noch im Lazarett, wo er sich von einem Fieber, das er sich in Birma zugezogen hatte, erholen sollte. Mulvaney und Ortheris sandten auch mir eine Aufforderung und waren aufrichtig gekränkt, als ich außer mir selbst noch Bier – fast genügend Bier, um den Durst zweier Linieninfanteristen zu löschen – mitbrachte.

»Von wegen dem Bier haben wir Sie doch nich ingeladen, Herr,« meinte Mulvaney verstimmt, »sondern nur von wegen der Freude an Ihrer Gesellschaft.«

Ortheris kam mir zu Hilfe. »Na, ’s wird ihm nischt schaden, wenn er ’n bischen was zu saufen bei sich hat. Un‘ wir sin‘ auch nich‘ gerade Fürsten- und Grafensöhne. Wir sin‘ nur ’n paar gemeine Tommys, Du mißvergnügter Irländer, Du; also auf Ihr ganz Spezielles!«

Wir jagten den ganzen Vormittag und erlegten zwei Pariaköter, vier grüne, brütende Papageienweibchen, eine Gabelweihe, eine Schlange, eine Sumpfschildkröte und acht Krähen. Der Wildbestand war wirklich reichhaltig. Dann ließen wir uns am Flußufer zum Frühstück nieder – »bei Zadder und Kommisbrot« – wie Mulvaney sagte, und schossen in den Zwischenpausen, in denen wir nicht beschäftigt waren, das Essen mit unserem einzigen Taschenmesser zu zerlegen, auf gänzlich unweidmännische Art nach Krokodilen. Danach tranken wir das ganze Bier, warfen die Flaschen ins Wasser und benutzten sie als Zielscheibe. Zuletzt lockerten wir unsere Gürtel und streckten uns zum Rauchen in dem warmen Sande aus. Wir waren zu faul, um die Jagd fortzusetzen.

Da stieß Ortheris, der, die Brust auf die Fäuste gestützt, auf dem Bauche lag, plötzlich einen tiefen Seufzer aus. Dann fluchte er leise den blauen Himmel an.

»Was soll ’n das heißen?« forschte Mulvaney. »Haste noch nich genug gesoffen?«

»London, Tottenham Court Road un‘ ’n Mädel, an das ich gerade denken mußte. Was hat das ganze Militär überhaupt für ’n Sinn?«

»Ortheris, mein Sohn,« entgegnete Mulvaney hastig, »ich glaube viel eher, es is‘ nach all dem Bier was in Deinem Bauch nich‘ ganz in Ordnung. Ich kenne das an mir, wenn mir die Leber so ’n bißchen einrostet.«

Langsam, ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Ortheris fort: – »Ich bin ’n Tommy – ein verdammter, hundestehlender Tommy, mit ’nem Achtannasold un‘ ’ner Nummer statt ’nem anständigen Namen. Was bin ich denn schon groß? Wenn ich nun zuhause geblieben wäre, hätt ich das Mädel da heiraten un‘ ’nen kleinen Laden auf der Hammersmither Landstraße aufmachen können. ›S. Ortheris, Konservator und Ausstopfer‹, mit ’nem ausgestopften Fuchs im Schaufenster, wie sie ’s in Haylesbury Dairies haben, un‘ ’nem kleinen Kasten blauer und gelber Glasaugen. Un‘ ich hätte dann ’nen kleines Frauchen, das immerzu ›Kundschaft‹ ruft, wenn die Ladenglocke bimmelt. Aber so bin ich nur ’n Tommy – ’n verdammter, gottverlassener, biersaufender Tommy. ›Gewehr bei Fuß – Gewehr über! Rührt Euch! – Achtung! Rechtsum – linksum – ohne Tritt marsch! Das Ganze – halt! Gewehr bei Fuß – Gewehr über! Ladet das Gewehr!‹ Das is‘ noch mal mein Ende.« Er zitierte Bruchstücke aus dem militärischen Begräbnisreglement.

»Maul gehalten!« brüllte Mulvaney. »Haste erst mal so oft in die Luft gefeuert wie ich, über ’nen bessern Kerl weg als de selber bist, dann wirste Dich über das Reglement da nich‘ mehr lustig machen. Das is ja schlimmer als im Quartier ’nen Trauermarsch pfeifen. Wo Du obendrein den ganzen Bauch voll Bier hast un‘ die Sonne so hübsch kühl is. Ich muß mich für Dich schämen. Du bist ja nich‘ besser als so ’n hergelaufener Schwarzer – Du mit Deinem Begräbniskommando un‘ Deinen Glasaugen. Können Sie ’s ihm nich‘ verbieten, Herr?«

Was sollte ich machen? Konnte ich Ortheris auf bisher unbekannte Freuden seines Daseins hinweisen? Ich war weder der Regimentsgeistliche noch Ortheris spezieller Vorgesetzter; er hatte also ein Recht zu reden, wie ihm ums Herz war.

»Lassen Sie ihn in Ruh, Mulvaney,« sagte ich. »Es ist nur das Bier.«

»Nee – ’s is nich‘ das Bier,« widersprach Mulvaney. »Ich weiß, was jetzt kommt. Von Zeit zu Zeit packt ’s ihn so – ’s is arg – wirklich arg – ich kann den Jungen gut leiden.«

Tatsächlich – Mulvaney schien sich unnötig aufzuregen, aber ich wußte ja, er wachte über Ortheris wie ein Vater.

»Laß mich nur, laß mich mein Herz ausschütten,« fügte Ortheris träumerisch hinzu. »Willste ’nem armen Papageien das Schreien verbieten, Mulvaney, wenn es heiß is un‘ der Käfig ihm seine armen, kleinen rosa Zehen verbrennt?«

»Rosa Zehen! Willste damit sagen, daß Du unter John Bull’s Militärsocken rosa Zehen hast? Du verpimpelte« – Mulvaney raffte alle Kraft für eine ungeheuerliche Beschimpfung zusammen – »versimpelte Schulmamsell, Du! Rosa Zehen! Wieviel echtes Bertoner Bier mit der Marke drauf hat das verrückte Baby eigentlich gesoffen?«

»’S is gar nich‘ das Bertoner,« erwiderte Ortheris. »’S is ein bittereres Bier als das. ‚S iss das Heimweh!«

»Nun hör einer das an! Wo er in den nächsten vier Monaten mit der »Serapis« zurücktransportiert werden soll!«

»Was frag ich ’n schon danach? Mir is doch alles eins! Weißte denn, ob ich nich Bammel habe, abzuschrammen, eh ich meine Papiere bekomme?« Und er hub von neuem an, im Singsang das Begräbnisreglement zu rezitieren.

Diese Seite von Ortheris Charakter war mir vollständig neu, aber Mulvaney schien sie offensichtlich schon zu kennen und ihr ernsthafte Bedeutung beizumessen. Während Ortheris, Kopf in den Händen begraben, weiterlallte, flüsterte Mulvaney mir zu:

»’s packt ihn immer, wenn die Säuglinge, die sie heutzutage zu Unteroffizieren machen, ihn ganz besonders gezwiebelt haben. Weil se nischt Besseres anzufangen wissen. Ich kann ’s nich verstehn.«

»Na, was schadet es denn? Lassen Sie ihn sich doch aussprechen.«

Jetzt stimmte Ortheris die Parodie auf ein bekanntes Soldatenlied an, die nur von Krieg, Totschlag und Moritaten handelte. Er starrte dabei über den Fluß, und sein Gesicht war mir ganz fremd geworden. Mulvaney packte mich am Ellbogen, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen.

»Schaden? Und ob es schadet! ’s is so ’ne Art Anfall. Ich kenn ’s. ’s wird noch die ganze Nacht so weitergehen, un‘ mitten drin wird er aufstehen un‘ im Schrank nach seinen Sachen suchen. Un‘ dann kommt er zu mir un‘ sagt: ›Ich geh jetzt nach Bombay. Antworte morgen beim Appell für mich.‹ Un‘ dann hauen wir beide uns, wie wir ’s schon öfters getan haben – er, um wegzukommen, un‘ ich, um ihn zu halten – un‘ so werden wir beide wegen Unruhe in der Kaserne aufgeschrieben. Ich hab ihn mit dem Riemen verhauen un‘ hab ihm eins über ’n Detz gegeben, un‘ ich hab ihm gut zugeredet – aber alles nützt nischt, wenn er den Anfall hat. Er is ’n guter Junge, wie ’s bald keinen zweiten gibt, wenn er klar is. Aber ich weiß, was heute nacht in der Kaserne alles passieren wird. Der liebe Gott verhüte, daß er mir nich abschrammt, wenn ich aufstehe, um ihm eins über ’n Detz zu geben. Egal muß ich daran denken, Tag und Nacht.«

Das rückte die Sache in ein weit weniger harmloses Licht und bot für Mulvaneys Besorgnis eine völlig ausreichende Erklärung. Im Augenblick schien er Ortheris durch allerlei Überredungskünste seinem Anfall entreißen zu wollen, denn er brüllte nach der Böschung hinüber, auf der Ortheris ausgestreckt lag:

»Paß emal auf, Du mit den ›armen, rosa Zehen‹ un‘ den Glasaugen. Biste nu‘ des nachts hinter mir her über den Irriwaddy geschwommen, wie ’s sich für ’nen braven Kerl schickt, oder haste Dich unter ’s Bett verkrochen, wie damals bei Ahmid Kheyl?«

Das war eine grobe Beleidigung und eine ausgesprochene Lüge, aber Mulvaney wollte seinen Freund jetzt schon zu Handgreiflichkeiten treiben. Allein Ortheris schien in eine Art Trance versunken. Langsam und ohne Zeichen von Arger antwortete er in dem gleichen Singsang, in dem er das Begräbnisreglement zitiert hatte:

»Ich bin des nachts über den Irriwaddy geschwommen, wie Du genau weißt, um ganz nackt un‘ ohne Furcht die Stadt Lungtungpen zu nehmen. Un‘ wo ich bei Ahmid Kheyl gesteckt habe, weißt Du auch ganz genau, und vier verdammte Afghanen wissen ’s obendrein. Aber da gab ’s auch was zu tun; da dachte ich nich‘ an ’s Sterben. Aber jetzt will ich nach Hause zurück – nach Hause, nach Hause. Nee, ich hab nich Heimweh nach meiner Mama, weil mich nämlich mein Onkel erzogen hat, aber ich hab Heimweh nach London – Heimweh nach den Gerüchen un‘ nach all den Ansichten un‘ nach dem Gestank von der ollen Stadt: nach den Apfelsinenschalen un‘ nach dem Asphalt un‘ nach den Gaslaternen, wenn man über die Vauxhall-Brücke geht. Heimweh nach der Eisenbahn un‘ nach ’nem Ausflug nach Box-Hill, mit ’ner neuen Pfeife im Maul un‘ ’nem Mädel auf ‚m Schoß. Danach hab ich Heimweh un‘ nach den Lichtern auf der »Strand«, wo man jeden Menschen kennt, un‘ wo der Schutzmann, der einen aufschreibt, ’n alter Freund is, der einen schon oft ungeschrieben hat, als man noch ’n kleiner Stöppke war un‘ zwischen dem Tempel un‘ dem Triumphbogen übernachten wollte. Wo ’s kein verdammtes Wacheschieben un‘ kein Knöppeputzen un‘ keinen Khaki gibt, wo einen niemand nischt zu sagen hat un‘ man sein Mädel Sonntags ausführen kann, um zuzusehen, wie die Rettungsgesellschaft ihre Übungen macht un‘ aus ‚m Serpentine-Fluß im Park die toten Leichen rauszieht. Das alles hab ich nun aufgegeben, um hier draußen ›der Witwe‹ 1 zu dienen, wo ’s keine Weiber un‘ nischt Anständiges zu trinken un‘ gar nischt zu sehen gibt, nee un‘ auch nischt zu tun un‘ zu reden un‘ zu denken un‘ zu fühlen. Gott im Himmel, Stanley Ortheris, Du bist ’n größerer Esel als das ganze Regiment un‘ Mulvaney zusammengekoppelt! Zuhause da sitzt nun ›die Witwe‹ mit ’ner goldenen Krone auf ’n Kopp, un‘ hier sitze ich, Stanley Ortheris, der Witwe ihr Eigentum, un‘ ’nen verdammter, ausgemachter Esel!«

Diesen letzten Satz sprach er mit gesteigerter Betonung und schloß ihn mit einem sechsfachen anglo-indischen Fluch. Mulvaney antwortete nichts, sah mich aber an, als erwarte er von mir, daß ich Ortheris getrübten Verstand in Ordnung brächte.

Da erinnerte ich mich, in Rawal Pindi einen Mann gesehen zu haben, der, obwohl halb wahnsinnig vom Trunk, durch eine große Blamage ernüchtert wurde. Einige Regimenter werden vielleicht wissen, was ich damit meine. Ich hoffte, Ortheris auf die gleiche Manier zur Vernunft zu bringen, obwohl er durchaus nüchtern war. Ich sagte also:

»Was hat es für einen Sinn, den Kopf hängen zu lassen und auf die ›Witwe‹ zu schimpfen?«

»Das tu ich ja gar nicht!« protestierte Ortheris. »So wahr mir Gott helfe, ich hab kein Wort gegen sie gesagt un‘ werd auch nie ’n Wort sagen – nee, un‘ wenn ich jetzt auf der Stelle desertiere.«

Hier war meine Chance! »Na, es klang aber ganz so! Was nützt überhaupt die ganze Aufschneiderei? Würden Sie wirklich durchgehen, wenn Sie die Möglichkeit hätten?«

»Stellen Sie mich doch auf die Probe!« rief Ortheris, aufspringend wie von der Tarantel gestochen.

Mulvaney sprang gleichfalls auf. »Was haben Sie vor?«

»Ortheris nach Bombay oder Karachi weiterzuhelfen. Sie können ja melden, er hätte sich vor dem Mittagessen von Ihnen getrennt und sein Gewehr hier auf der Böschung zurückgelassen.«

»Das soll ich melden – ich?« wiederholte Mulvaney langsam. »Schön. Wenn der Ortheris jetzt desertieren will un‘ Sie, Herr, der Sie sein un‘ mein Freund sin‘, ihm dabei helfen, so werde ich, Terence Mulvaney, auf meinen Eid hin, den ich noch nie gebrochen habe, melden, was Sie von mir verlangen. Aber – –« hier schritt er auf Ortheris zu und hielt ihm den Kolben seines Jagdgewehrs unter die Nase – »aber, Gott steht Deinen Fäusten bei, Stanley Ortheris, wenn Du mir je wieder über den Weg läufst!«

»Mir is jetzt alles wurscht!« erklärte Ortheris. »Ich hab das Hundeleben satt. Gebt mir nur mal ’ne Schangse! Macht mit mir keine Menkenkens. Laß mich los, sag ich Dir!«

»Ziehen Sie die Kleider aus und nehmen Sie meine dafür,« sagte ich, »dann werde ich Ihnen sagen, was Sie zu tun haben.«

Ich hoffte, diese Lächerlichkeit würde Ortheris aufhalten; aber er hatte seine Kommißstiefel weggeschleudert und seinen Waffenrock ausgezogen, fast ehe ich meinen Kragen abgeknöpft hatte. Mulvaney packte mich am Arm:

»Jetzt hat ’n der Anfall; der Anfall hat ’n immer noch tüchtig! Bei meiner Ehre un‘ Seligkeit, wir werden mitschuldig an ’ner Desertion! Sie haben Recht, Herr, ’s wird nur achtundzwanzig oder auch sechsundfünfzig Tage kosten, aber denken Sie nur an die Schande – an die schwarze Schande für ihn un‘ für mich!« In meinem Leben habe ich Mulvaney nicht so aufgeregt gesehen.

Ortheris dagegen war vollkommen ruhig und sagte nur kurz, sowie der Kleidertausch bewerkstelligt war und ich als Linieninfanterist in die Welt schaute: »So, nun weiter. Was jetzt? Is es Ihr Ernst? Was muß ich nun tun, um aus dieser Hölle hier rauszukommen?«

Ich sagte ihm, wenn er ein paar Stunden hier am Flußufer auf mich warten wollte, würde ich zur Stadt reiten und mit hundert Rupien zurückkehren. Mit dieser Summe in der Tasche könnte er bis zu der nächsten, etwa fünf Meilen entfernten Station der Zweigeisenbahnlinie marschieren und dort ein Billett erster Klasse nach Karachi lösen. Da das Regiment wußte, daß er bei seinem Ausflug kein Geld mitgehabt hatte, würde es nicht sofort an die Hafenstädte telegraphieren, sondern erst einmal in den Eingeborenendörfern am Fluß nach ihm suchen. Außerdem würde es keinem Menschen einfallen, in dem Insassen eines Coupes erster Klasse einen Deserteur zu vermuten. In Karachi sollte er sich dann weiße Anzüge besorgen und sich, wenn möglich, auf einem Frachtdampfer einschiffen.

Hier unterbrach er mich. Wenn ich ihm bis Karachi weiterhülfe, wolle er sich schon alleine durchschlagen. Darauf befahl ich ihm, hier auf mich zu warten, bis es dunkel genug wäre, um unbemerkt in meinem neuen Aufputz zur Stadt zu reiten. Nun hat Gott in seiner Weisheit das Herz des britischen Soldaten, der oft ein ungehobelter Rowdie ist, so weich wie das Herz eines kleinen Kindes erschaffen, auf daß er seinen Vorgesetzten vertraue und ihnen in allen unerfreulichen und bedenklichen Lagen anhänge. Zu einem »Zivilisten« faßt er nicht so rasch Vertrauen, aber tut er es dennoch, so traut er ihm rückhaltslos wie ein treuer Hund. Ich hatte obendrein seit über drei Jahren, mit Unterbrechungen, die Ehre der Freundschaft des Gemeinen Ortheris genossen, und wir hatten als Mann zu Mann aneinander gehandelt. Folglich hielt er alle meine Worte für Wahrheit und nicht für leichtfertig und im Scherz gesprochen.

Mulvaney und ich ließen ihn daher in dem hohen Ufergrase zurück und schritten, uns ebenfalls nach Möglichkeit an das hohe Gras haltend, auf mein Pferd zu. Das Hemd scheuerte dabei ganz scheußlich.

Wir warteten fast zwei Stunden auf die Dämmerung, da mit ich in ihrem Schutz wegreiten konnte. Währenddessen unterhielten wir uns flüsternd über Ortheris und spannten unser beider Gehör an, um jedes Geräusch aus der Richtung des Ortes, wo wir ihn gelassen hatten, aufzufangen. Aber nichts rührte sich, außer dem Winde in dem Federgrase.

»Ich hab ihn auf ’n Detz geschlagen,« bemerkte Mulvaney inbrünstig, »wieder un‘ immer wieder. Ich hab ’n mit meinem Riemen hier fast dot geprügelt, un‘ doch kann ich ihm die Anfälle da nich‘ austreiben. Beileibe nich‘! Dabei is er nich‘ verrückt, sondern von Haus aus ganz gescheit un‘ vernünftig. Was is es nur eigentlich? Is es seine Erziehung, die nischt taugt, oder seine Bildung, die er nie gehabt hat? Sie glauben doch über alles Bescheid zu wissen, also geben Sie mir mal ’ne Antwort.«

Aber ich fand keine. Ich fragte mich die ganze Zeit, wie lange Ortheris da unten an der Uferböschung wohl aushalten würde, und ob er mich wirklich zwingen würde, ihm beim Desertieren zu helfen, wie ich es ihm versprochen hatte.

Gerade als die Dämmerung dichter zu werden begann und ich mit schwerem, schwerem Herzen mein Pferd satteln wollte, hörten wir aus der Richtung des Flusses wildes Geschrei.

Die Teufel hatten die Seele des Gemeinen Stanley Ortheris, Nr. 22639, II. Kompanie, freigegeben. Die Einsamkeit, die Dämmerung und das Warten hatten sie, meinen Erwartungen entsprechend, vertrieben. Wir machten uns im Geschwindschritt auf den Weg nach dem Fluß und fanden Ortheris wild durch das Gras irrend. Seinen – ich meine, meinen Rock hatte er weggeworfen. Er schrie nach uns wie ein Wahnsinniger.

Als wir ihn erreichten, sahen wir, daß er vor Schweiß troff und wie ein erschrecktes Tier an allen Gliedern zitterte. Wir hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Er beklagte sich, daß er in Zivilkleidern stäke und wollte sich meinen Anzug vom Leibe reißen. Ich befahl ihm, sich zu entkleiden, und wir vollzogen so rasch wie möglich diesen zweiten Tausch.

Das Scheuern seines eigenen grauen Militärhemdes und das Quietschen seiner Stiefel brachten ihn anscheinend wieder zu sich. Er fuhr mit der Hand über die Augen und fragte:

»Was war nur mit mir los? Ich bin nich‘ verrückt, ich hab auch keinen Sonnenstich – un‘ ich hab da geschimpft – un‘ hab mich benommen – –«

»Wie Du Dich benommen hast?« wiederholte Mulvaney. »Schande haste Dir selbst gemacht – aber das war ja ganz egal. Nee, Schande haste auch über die zweite Kompanie gebracht – un‘ was das Allerschlimmste is – über mich! Wo ich erst ’n Kerl aus Dir gemacht habe – aus Dir dreckigem, fischgrätigem, winselnden kleinen Rekruten. Zu dem Du heute wieder geworden bist – Stanley Ortheris!«

Eine ganze Weile sprach Ortheris kein Wort. Dann schnallte er seinen Riemen los, der über und über mit Abzeichen der Regimenter bedeckt war, mit denen sein eigenes in Garnison gelegen hatte, und überreichte ihn Mulvaney.

»Ich bin zu schwach, um Dich zu verdreschen, Mulvaney,« sagte er, »aber Du hast mich schon öfters verhauen. Heute kannste mich mit dem Ding da kaputt schlagen, wennde Lust dazu hast.«

»Lassen Sie mich mal ’n Wortchen mit ihm reden, Herr,« sagte Mulvaney.

Ich verabschiedete mich, und auf dem Heimweg dachte ich ziemlich lange nach, im besonderen über Ortheris und im allgemeinen über meinen Freund, den Infanteristen Tommy Atkins, den ich liebe.

Aber ich vermochte zu keinem Schluß zu gelangen.

  1. Bezeichnung für die verstorbene Königin Victoria.

Die Geschichte von Muhammad Din

Die Geschichte von Muhammad Din

»Wer ist glücklich zu preisen unter den Menschen? Er,
der daheim in seinem eigenen Hause kleine Kinder sieht
hüpfen, fallen und lärmen und aus dem Staube Kronen sich
erbauen.«

Munichandra.

Der Poloball war alt, zerschrammt, verbeult und voller Kerben. Er lag auf dem Kaminsims zwischen den Pfeilenstielen, die Imam Din, der Speisenträger, für mich reinigte.

»Braucht der Himmelsgeborene diesen Ball?« fragte Imam Din ehrerbietig.

Der Himmelsgeborene legte keinen besonderen Wert darauf; aber was konnte der Poloball einem Khitmatgar nützen?

»Mit Euer Gnaden Erlaubnis, ich besitze einen kleinen Sohn. Er hat diesen Ball gesehen und wünscht damit zu spielen. Ich begehre ihn nicht für mich.«

Keinem Menschen wäre es auch nur im Traume eingefallen, den wohlbeleibten Imam Din zu beschuldigen, mit Polobällen spielen zu wollen. Er trug das schäbige Ding auf die Veranda hinaus und es folgte ein Orkan entzückter kleiner Schreie, ein Trippeln kleiner Füße und das Poch-Poch-Poch des auf dem Boden rollenden Balles. Augenscheinlich hatte der kleine Sohn vor der Tür gewartet, um sich seinen Schatz zu sichern. Aber wie hatte er es nur fertiggebracht, den Poloball zu entdecken?

Als ich am folgenden Tage eine halbe Stunde früher als gewöhnlich aus dem Bureau heimkehrte, bemerkte ich im Speisezimmer eine kleine Gestalt – eine winzige, rundliche Gestalt in einem lächerlich kurzen Hemdchen, das ihr vielleicht halbwegs über den prallen Bauch reichte. Der Kleine wanderte, Finger im Mund und leise vor sich hinsummend, im Zimmer umher und besah sich die Bilder. Zweifellos war dies der »kleine Sohn«.

Natürlich hatte er in meinem Zimmer nichts zu suchen; er war jedoch so gründlich in seine Entdeckungen vertieft, daß er mich, der ich auf der Schwelle stehengeblieben war, nicht bemerkte. Ich betrat das Zimmer und hätte ihn um ein Haar in einen Krampfanfall versetzt. Atemlos vor Schreck ließ er sich auf den Boden fallen. Er riß die Augen und dann den Mund auf. Ich wußte, was nun kommen würde, und floh, verfolgt von einem langgezogenen, trockenen Geheul, das die Dienstbotenquartiere viel rascher erreichte als irgendein Befehl meinerseits es je getan hatte. Zehn Sekunden später stand Imam Din im Speisezimmer. Dann ertönte verzweifeltes Schluchzen, und ich kehrte zurück und erblickte Imam Din, wie er dem kleinen Sünder eine Strafpredigt hielt, der seinerseits sein Hemd ausgiebig als Taschentuch benutzte.

»Dieser Junge«, meinte Imam Din strafend, »ist ein Taugenichts – ein großer Taugenichts. Ohne Zweifel wird er für sein Benehmen ins Gefängnis – in die Khana – kommen.« Erneutes Gebrüll von seiten des reuigen Sünders, und eine umständliche Entschuldigung an mich von Imam Din.

»Sage dem Kleinen,« erwiderte ich, »daß der Sahib nicht böse ist, und nimm ihn fort.« Imam Din vermittelte dem Verbrecher, der sich inzwischen sein Hemd strickähnlich um den Hals gewunden hatte, meine Verzeihung und das Gebrüll dämpfte sich zum Schluchzen. Die beiden bewegten sich zur Tür. »Sein Name«, erklärte Imam Din, als wäre der Name ein Teil des Verbrechens, »ist Muhammad Din, und er ist ein Taugenichts.« Nun, da die unmittelbare Gefahr von ihm abgewendet war, drehte sich Muhammad Din in seines Vaters Armen um und meinte ernsthaft: »Es ist wahr, daß mein Name Muhammad Din ist, Tahib, aber ich bin kein Taugenichts. Ich bin ein Mann!«

Von jenem Tage datiert meine Bekanntschaft mit Muhammad Din. Niemals wieder betrat er mein Eßzimmer, doch auf dem neutralen Boden des Grundstückes pflegten wir uns mit großer Feierlichkeit zu begrüßen, obwohl unsere Unterhaltung sich von ihm aus auf »Talaam, Tahib« und meinerseits auf »Salaam, Muhammad Din« beschränkte. Täglich tauchten bei meiner Rückkehr aus dem Geschäft aus dem Schatten des mit Schlingpflanzen bedeckten Gitterwerks, wo sie sich verborgen gehalten hatten, das weiße Hemdchen und der dicke kleine Körper auf, und täglich parierte ich mein Pferd, damit unsere Begrüßung auch mit der nötigen Bedachtsamkeit und mit geziemender Würde erfolge.

Niemals hatte Muhammad Din einen Spielgefährten. Er pflegte in seine eigenen geheimnisvollen Angelegenheiten vertieft durch das Grundstück zu trotten, hin und her zwischen den Rizinusbüschen. Eines Tages stieß ich an einer entlegenen Stelle des Gartens auf eine seiner Arbeiten. Er hatte den Poloball halb im Staube vergraben und um ihn im Kreise sechs welke, alte Maßliebchen gesteckt. Außerhalb dieses Kreises wiederum war aus Stückchen roten Ziegels, die mit Porzellanscherben wechselten, ein rohes Viereck gezogen, das Ganze von einem kleinen Staubwall umgrenzt. Der Bhisti oder Wasserträger vom Brunnen legte ein gutes Wort für den kleinen Architekten ein und meinte, es sei ja nur das Spiel eines kleinen Kindes und verschandele meinen Garten doch kaum.

Der Himmel weiß, daß ich weder damals noch später die Absicht hatte, des Kindes Werk zu zerstören; allein noch am gleichen Abend führte mich ein Spaziergang unversehens gradenwegs dorthin, so daß ich, noch ehe ich es recht wußte, Maßliebchen, Staubwall und die Bruchstücke eines ehemaligen Seifennapfes zertreten und in ein hoffnungsloses, unrettbares Chaos verwandelt hatte. Am nächsten Morgen entdeckte ich Muhammad Din, wie er über der Trümmerstätte, die ich geschaffen hatte, leise in sich hineinweinte. Irgend jemand hatte ihm in roher Weise erklärt, der Sahib sei sehr böse auf ihn, daß er ihm seinen Garten ruiniere, und dann unter Flüchen des Kindes kostbaren Plunder in alle vier Wände zerstreut. Muhammad Din arbeitete eine ganze Stunde lang, um auch die kleinste Spur des Staubwalls und der Töpferscherben zu beseitigen und das Gesicht, mit dem er mir bei meiner Rückkehr aus dem Bureau sein »Talaam Tahib« wünschte, war tränennaß und zerknirscht. Eine in aller Eile angestellte Untersuchung endigte damit, daß Imam Din Muhammad Din zu verstehen gab, daß es ihm durch meine ganz außerordentliche Gnade gestattet sei, nach Belieben weiterzuspielen. Worauf das Kind wieder Mut faßte und sich daranmachte, den Grundriß eines Gebäudes aufzuzeichnen, das die Maßliebchen-Poloball-Schöpfung in den Schatten stellen sollte.

Einige Monate lang verfolgte dieses rundliche kleine Original auch weiterhin seine anspruchslose Bahn im Staube und unter den Rizinussträuchern; immer wieder die prunkvollsten Paläste bauend aus verdorrten, weggeworfenen Blumen, aus runden, vom Wasser geglätteten Kieseln, aus kleinen Glasscherben und aus Federn, die er – vermutlich meinen Hühnern ausgerupft hatte – – immer allein, unablässig vor sich her summend.

Einmal wurde eine besonders lustig gefärbte Muschel dicht neben seiner jüngsten Schöpfung fallen gelassen, und ich erwartete, daß Muhammad Din damit ein mehr als gewöhnlich prächtiges Bauwerk aufführen würde. Ich hatte mich auch nicht getäuscht. Fast eine ganze Stunde sann er tief nach und sein Summen schwoll zu einem Triumphlied an. Dann begann er in den Staub zu zeichnen. Diesmal würde es entschieden ein ganz besonders wunderbarer Palast werden, denn der Grundriß maß der Länge nach nicht weniger als zwei Meter und einen Meter in der Breite. Doch der Palast sollte nie vollendet werden.

Am folgenden Tage stand kein Muhammad Din am Eingang zur Auffahrt, und kein »Talaam, Tahib« grüßte mich bei meiner Rückkehr. Ich war an den Willkomm so gewöhnt, daß dieser Wegfall mich beunruhigte. Am nächsten Tage erzählte mir Imam Din, das Kind litte an leichtem Fieber und brauche Chinin. Es erhielt das Chinin und einen englischen Arzt obendrein.

»Die Bälger haben alle keine Widerstandskraft,« meinte der Arzt, als er Imam Dins Wohnung verließ.

Eine Woche später begegnete ich, obwohl ich viel darum gegeben hätte, ihm aus dem Wege gehen zu können, Imam Din auf dem Wege zum mohammedanischen Friedhof, begleitet von einem Freund, und er trug auf seinen Armen, eingehüllt in ein weißes Tuch, alles was übriggeblieben war von dem kleinen Muhammad Din.