Entführt

Entführt

Wir sind hochstehende und aufgeklärte Menschen, und darum empört uns das Verheiraten von Kindern, dessen Folgen hin und wieder recht eigenartig sind. Aber nichtsdestoweniger ist die Sitte der Hindus, – die ja schließlich auch europäische Sitte, uralte Sitte ist, – Ehen ohne Rücksicht auf die Zuneigung der Heiratenden zu schließen, durchaus wohlbegründet. Wer auch nur einen Augenblick darüber nachsinnt, muß das einsehen, vorausgesetzt, daß er nicht an Wahlverwandtschaften glaubt. Dann sollte er meine Geschichte lieber ungelesen lassen. Wie kann ein Mann, der nie verheiratet war, dem man nicht zumuten würde, unter Pferden auf den ersten Blick ein einigermaßen fehlerfreies herauszufinden, wie kann solch ein Mann, dessen glühende Phantasie nur Bilder häuslichen Glückes schaut, sich an die Wahl eines Weibes wagen! Er kann weder klar sehen, noch denken, trotz aller Versuche. Und wenn ein Mädchen ihren Träumen folgt, trifft sie auf die gleichen Hindernisse. Aber wenn reife, verheiratete, besonnene Leute zwei junge Menschen zusammengeben, dann tun sie es wohlüberlegt und bedenken die Zukunft. Und das Paar wird glücklich sein bis an sein Lebensende. Das weiß ein jeder.

Eigentlich müßte die Regierung ein Tribunal für Eheschließungen einrichten mit den nötigen Beamten, einem Geschworenengerichte würdiger Frauen, einem älteren Geistlichen und einem »zur abschreckenden Warnung« im Gerichtshofe an einen Baumstamm gefesselten Paare, das aus Liebe geheiratet hatte und unglücklich ist. Alle Ehen müßten durch diese Abteilung vermittelt werden, die ja dem Unterrichtsministerium unterstellt werden könnte. Eine Übertretung müßte die gleiche Strafe finden wie ein Grundstücksverkauf ohne Stempelvertrag. Aber die Regierung nimmt nun einmal keine Vorschläge an. Sie gibt vor, zu beschäftigt zu sein. Dennoch will ich meine Auffassung niederschreiben und ein Beispiel geben, das meine Theorie beleuchtet.

Es war einmal ein tüchtiger junger Mann – ein ausgezeichneter Beamter. Er hatte eine aussichtsreiche Laufbahn vor sich und die höchsten Orden als erreichbares Ziel. Alle seine Vorgesetzten lobten ihn, denn er wußte zur rechten Zeit Zunge und Feder ruhen zu lassen. Heute gibt es in Indien nur elf Leute, die diese geheime Kunst besitzen, und alle sind, mit einer Ausnahme, zu hohen Ehren und Gehältern gelangt.

Der tüchtige junge Mann war still und verschlossen und viel zu alt für seine Jahre. Und das zieht stets seine Strafe nach sich. Hätte irgendein Unterbeamter, ein Plantagengehilfe oder sonst wer, der sein Leben unbekümmert um den nächsten Tag genießt, das getan, was er nur zu tun versucht hat, niemand hätte sich darum gekümmert. Aber als Peythroppe, der schätzenswerte, tugendsame, sparsame, stille, fleißige, junge Peythroppe zu Fall kam, da ging durch fünf Dienstabteilungen eine nachhaltige Erschütterung.

Und das kam so. Er lernte Miß Castries kennen. Der Name hieß ursprünglich D’Castries, aber die Familie hatte das »D« aus politischen Gründen fallen lassen. Er verliebte sich mit noch größerer Energie, als er bei seiner Arbeit bewies. Ich muß betonen, daß auch nicht der leiseste Hauch, – nicht der Schatten eines Hauches Miß Castries Ruf trübte. Sie war ohne Fehl und sehr schön, – sie war, wie harmlose Leute in England sagen würden, ein spanischer Typus. Sie hatte volles, blauschwarzes Haar bis tief auf die Stirne herab, große blaue Augen und Brauen, geradlinig und schwarz wie der Rand eines Extrablattes, das den Tod eines großen Mannes meldet. Aber – aber – aber. Sie war ein sehr liebes Mädchen und sehr fromm, aber aus manchem Grunde ganz unmöglich. Ganz gewiß! Alle guten Mütter wissen, was das heißt: »Unmöglich«. Es war offensichtlich unsinnig von Peythroppe, sie heiraten zu wollen. Der kleine opalfarbene Onyxrand ihrer Fingernägel sagte das so deutlich, als wenn es öffentlich gedruckt worden wäre. Außerdem bedeutete eine Heirat mit Miß Castries eine Verschwägerung mit vielen anderen Castries, mit dem Mannschaftsoffizier Castries, ihrem Vater, mit Mrs. Eulalia Castries, ihrer Mutter, und allen weiteren Zweigen der Castriesschen Familie mit Monatseinkommen von 175 bis 470 Rupien, samt deren Frauen und Anverwandten.

Peythroppe hätte es weniger gekostet, wenn er einen Regierungskommissar mit einer Hundepeitsche geprügelt oder die Akten des Deputiertenbureaus verbrannt hätte, als jetzt, da er eine Verbindung mit den Castries eingehen wollte. All das hätte ihn in seiner Laufhahn weniger gehindert, selbst unter einer Regierung, die nie vergißt und nie verzeiht. Das sah jeder ein, nur Peythroppe nicht. Jawohl, er wollte Miß Castries heiraten, er war mündig und er hatte sein gutes Einkommen, – und wehe dem Hause, das Mrs. Virginia Saulez Peythroppe nicht mit der dem Range ihres Gatten zukommenden Achtung aufnehmen würde. So lautete Peythroppes Ultimatum, und alle Vorstellungen brachten ihn zur Wut.

So plötzliche Geistesstörungen befallen gerade die klarsten Köpfe. Es war einmal ein Fall, – aber von dem werde ich später einmal erzählen. Der Wahn ist nur zu erklären, wenn man die Auffassung, daß Ehen im Himmel geschlossen werden, gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Peythroppe brannte darauf, sich am Anfange seiner Laufbahn einen Mühlstein um den Hals zu binden. Und alle Erörterungen blieben fruchtlos. Er wollte Miß Castries heiraten. Die Sache wäre seine Sache. Er bäte höflichst, Ratschläge bei sich zu behalten. Einen Menschen in solchem Zustande bestärken Worte nur noch. Wie könnte er auch einsehen, daß eine Heirat hier draußen nicht seine Sache, sondern Sache der Regierung ist, der er dient?

Man erinnert sich wohl Mrs. Hauksbees, der bewundernswertesten Frau Indiens. Sie hat Pluffles von Mrs. Reiver befreit, sie hat Tarrion eine Stelle im Auswärtigen Amt verschafft und ist in offener Feldschlacht von Mrs. Cusack-Bremmil geschlagen worden. Sie hörte von Peythroppes bejammernswerter Lage, und ihrem Kopfe entsprang der Plan zu seiner Rettung. Sie besaß die Klugheit der Schlange, die logische Kraft des Mannes, die Furchtlosigkeit des Kindes und den dreifach hellen Blick des Weibes. Nie, – nein, gewiß nie, – solange wie noch eine Tonga den Solonberg hinabkarriolt, solange wie noch verliebte Paare hinter Summer-Hill spazieren reiten, wird wieder solch Genie wie Mrs. Hauksbee erstehen. Sie wohnte der Beratung dreier Männer über den Fall Peythroppe bei, und sie stand auf, zog die Lasche ihrer Reitgerte durch die Zähne und redete. –

*

Drei Wochen später aß Peythroppe mit den Dreien zusammen und las, als die offizielle Zeitung hereingebracht wurde, unter den amtlichen Nachrichten zu seinem Erstaunen, daß er vier Wochen beurlaubt sei. Man frage nicht mich, wie das zuwege kam. Ich bin felsenfest überzeugt, daß die ganze große indische Regierung sich auf den Kopf stellen würde, wenn Mrs. Hauksbee den Befehl dazu erteilte. Die Drei hatten auch jeder einen Monat Urlaub; Peythroppe warf die Zeitung hin und fluchte. Da hörte man vom Hofe her das weiche »Trapp – Trapp« von Kamelen, – Diebskamelen, Bikaneerzucht, die nicht beim Niederknien und Aufstehen gurgelt und heult.

Was darauf geschehen ist, weiß ich nicht. Aber soviel ist sicher: Peythroppe verschwand, verflog wie Rauch. Im Hause der Drei war der »Faulenzer« in Stücke zersplittert, und in einem der Schlafzimmer fehlte ein Bett.

Mrs. Hauksbee erzählte, Peythroppe sei mit den Dreien nach Rajputana auf Jagd. Wir mußten ihr glauben.

Am Ende des Monats stand in der Zeitung, daß Peythroppes Urlaub um zwanzig Tage verlängert sei. Man wütete und jammerte im Hause der Castries. Der festgesetzte Hochzeitstag erschien, aber der Bräutigam kam und kam nicht, und alle die D’Silvas, Pereiras und Duckets erhoben laut ihre Stimmen und höhnten den Mannschaftsoffizier Castries, daß er sich so schändlich hätte betrügen lassen. Mrs. Hauksbee ging zur Trauung und war sehr erstaunt, als Peythroppe nicht erschien. Nach sieben Wochen kamen Peythroppe und die Drei aus Rajputana. Peythroppe war sehr mitgenommen, sehr blaß und verschlossener denn je.

Einer der Drei hatte eine Schmarre über der Nase – vom Rückschlag des Gewehres. Zwölfkalibrige stoßen manchmal sonderbar.

Dann kam der Mannschaftsoffizier Castries, den es nach dem Blute seines treulosen, einstigen Schwiegersohnes dürstete. Er sagte Manches, – Gemeines, »Unmögliches«, was den groben, rohen »Gemeinen« unter dem »Offizier« verriet. Ich glaube, Peythroppes Augen öffneten sich. Jedenfalls hörte er ihn ruhig mit an und faßte sich dann kurz. Mannschaftsoffizier Castries forderte noch einen Schnaps, ehe er ging, um zu sterben, – oder – eine Klage wegen Bruch des Eheversprechens einzureichen.

Miß Castries war ein sehr liebes Mädchen. Sie erklärte, sie wolle keinen Prozeß. Wenn sie auch keine »Dame« sei, sagte sie, so sei sie doch gebildet genug, um zu wissen, daß »Damen« ihre gebrochenen Herzen nicht der Öffentlichkeit preisgeben. Und da sie ihre Eltern beherrschte, blieb es dabei. Später heiratete sie einen sehr ehrenwerten, ganz gebildeten Mann. Er reiste für eine unternehmungslustige Firma in Kalkutta und war, wie ein guter Gatte sein soll.

Peythroppe kam wieder zur Vernunft. Er leistete viel und war geachtet von allen, die ihn kannten. Eines Tages wird auch er heiraten. Aber er wird sich ein liebes, feines, kleines Jungfräulein zur Frau nehmen, die nicht ohne Geld und Verbindungen und dazu auch hoffähig ist, wie jeder weise Mann tun sollte. Und er wird ihr nie im Leben erzählen, was während seines siebenwöchentlichen Jagdausfluges in Rajputana geschehen ist.

Aber man denke daran, wie viele Mühe und Kosten, – denn Kamelmieten sind hoch, und die Bikaneertiere wollen wie Menschen gehalten werden, – wieviel gespart worden wäre, wenn es eine zweckmäßig geleitete Eheschließungsabteilung unter Aufsicht des Kulturministers in enger Verbindung mit dem Vizekönig gegeben hätte. –

Die Verhaftung des Leutnants Golightly

Die Verhaftung des Leutnants Golightly

Wenn Golightly auf irgend etwas stolz war, dann war es darauf, offiziersmäßig und elegant auszusehen. Er behauptete, er kleide sich der Armee zuliebe mit so peinlicher Sorgfalt; aber wer ihn sehr gut kannte, wußte, daß er es seiner Eitelkeit zuliebe tat. Es war nichts auszusetzen an Golightly, nicht das geringste. Er wußte, was ein gutes Pferd war und konnte mehr als reiten. Er spielte ganz erträglich Billard und war ein guter Partner am Whisttisch. Jeder hatte ihn gern, und niemand hätte sich träumen lassen, ihn einmal mit Handschellen als Deserteur auf einem Bahnsteig zu sehen. Und doch geschah dieses traurige Wunder.

Nach Ablauf seines Urlaubs kam er von Dalhousie herab, – zu Pferde. Er hatte seinen Urlaub ausgedehnt, so weit es irgend ging, und hatte Eile. In Dalhousie war es schon recht warm gewesen, und da er wußte, was er in der Ebene zu erwarten hatte, ritt er in einem neuen, eng anliegenden Khakianzug in zartem Olivgrün, trug einen pfauenblauen Schlips, weißen Kragen und einen schneeweißen Tropenhelm. Er war stolz darauf, selbst auf scharfem Ritte elegant auszusehen. Und er sah in der Tat elegant aus. Aber er war bei seinem Aufbruch so in sein Äußeres vertieft gewesen, daß er ganz vergessen hatte, sich mehr als Kleingeld einzustecken. Seine Banknoten hatte er im Hotel gelassen. Seine Leute waren vorausgeritten, um ihn rechtzeitig in Pathankote mit frischen Sachen erwarten zu können. Er nannte das »in offener Marschordnung« reisen. Und er war stolz auf sein Organisationstalent.

Zweiundzwanzig Meilen hinter Dalhousie setzte der Regen ein. Es war kein leichter Gebirgsschauer, sondern ein richtiger leichter Passatregen. Golightly hastete vorwärts und wünschte sich in Besitz seines Regenschirmes. Der Staub auf den Wegen wurde zu Schlamm, und das Pony bespritzte sich über und über und auch Golightlys Khakigamaschen. Aber er ritt unentwegt weiter und suchte sich einzureden, daß die Regenkühle höchst angenehm sei.

Das nächste Pony war schon zu Anfang störrisch, und da Golightlys Hände vom Regen schlüpfrig unsicher waren, warf ihn das Pony an einer Wegbiegung ab. Erlief dem Tier nach, fing es wieder ein und ritt munter drauf los. Der Sturz hatte weder seinen Anzug noch seine Stimmung verschönt. Er hatte einen Sporn verloren, aber dafür brauchte er den anderen um so fleißiger. Auf dieser Etappe hatte das Pony mehr Bewegung, als ihm lieb war, und Golightly war trotz Regen in Schweiß gebadet. Nach einer weiteren qualvollen halben Stunde versank die Welt vor Golightlys Augen in einem dickflüssigen Brei. Der Regen hatte den Kopf seines riesigen, schneeweißen Tropenhelmes in einen übelduftenden Teig verwandelt, und er saß ihm auf dem Kopfe wie ein halboffener Pilz. Dazu lief das grüne Futter aus.

Golightly sagte etwas, das man nicht wiederzugeben braucht. Er riß ein Stück von der Krempe, daß die Augen wieder frei wurden und trottete weiter. Hinten klatschte ihm die Krempe gegen den Nacken, und an den Seiten gegen die Ohren. Aber Ledergurt und Futter hielten den Helm gerade noch so weit zusammen, daß er nicht völlig zerfloß.

Allmählich taute aus dem Helmbrei und dem grünen Futter ein Schleim, der sich nach allen Richtungen über Golightly ergoß, mit besonderer Vorliebe über Nacken und Brust. Auch die Khakifarbe lief aus, – sie war empörend unecht. Teilweise war Golightly braun, stellenweise violett; hier waren ockergelbe Ringe, dort rostbraune Streifen und schmutzigweiße Flecken, je nach der eigentümlichen Zusammensetzung der Farbstoffe. Als er sein Taschentuch herauszog, um sich das Gesicht trocken zu wischen, mischte sich das Grün des Helmfutters mit dem Blau seines Schlipses, das bis auf den Hals durchgesickert war. Die Wirkung war verblüffend.

In der Nähe von Dhar hörte der Regen auf, die Abendsonne brach durch und trocknete Golightly ein wenig; zugleich wurden auch die Farben fixiert. Drei Meilen vor Pathankote wurde das letzte Pony stocklahm, und Golightly mußte zu Fuß gehen. Er drang bis Pathankote vor, wo er seine Leute zu finden hoffte. Er ahnte noch nicht, daß sein indischer Kammerdiener sich unterwegs betrunken hatte und sich am kommenden Tage mit einer »Fußverrenkung« entschuldigen würde. In Pathankote konnte er seine Leute nicht auffinden. Seine Stiefel waren hart und kotig. Der ganze Mensch starrte von Schmutz. Und das Blau des Schlipses war nicht minder ausgelaufen als der Khaki. Er riß ihn sich mitsamt dem Kragen herunter und warf ihn fort. Darauf bemerkte er etwas über Dienstboten im allgemeinen und bemühte sich um ein Glas Whisky und Soda. Er zahlte für das Getränk acht Annas und entdeckte bei dieser Gelegenheit, daß er außerdem nur noch sechs Annas in der Tasche hatte, – und das hieß in seiner Lage, – völlig mittellos sein.

Er ging zum Stationsvorsteher, um mit ihm wegen einer Fahrkarte erster Klasse nach Khasak, seiner Garnison, zu verhandeln. Der Schalterbeamte sagte etwas zum Stationsvorsteher, der Stationsvorsteher etwas zum Telegraphisten, und alle drei starrten Golightly interessiert an. Sie forderten ihn auf, eine halbe Stunde zu warten, unterdessen wollten sie nach Umritsar um Ermächtigung telegraphieren. So mußte er denn warten. Vier Polizisten kamen und gruppierten sich malerisch um ihn. Als er sie gerade bitten wollte, sich zu entfernen, erschien der Stationsvorsteher wieder und sagte, er würde dem »Sahib« eine Fahrkarte aushändigen, wenn der »Sahib« so freundlich sein wollte, in den Schalterraum zu kommen. Golightly ging mit, und ehe er zur Besinnung kam, hatte er an jedem Arm und an jedem Bein einen Polizisten, während der Stationsvorsteher sich bemühte, ihm einen Postbeutel über den Kopf zu stülpen.

Es gab eine tüchtige Balgerei durch den ganzen Schalterraum; Golightly fiel gegen einen Tisch und holte sich eine sehr unangenehme Wunde am Auge. Aber die Polizisten waren in der Übermacht und legten ihm mit Hilfe des Stationsvorstehers starke Handschellen an. Als der Postbeutel wieder entfernt war, sagte er ihnen die Meinung, und der Oberpolizist bemerkte: »Ohne Zweifel haben wir hier den englischen Soldaten vor uns, den wir suchen. Höret nur sein Fluchen!« Golightly fragte den Stationsvorsteher, was zum X und was zum U denn das bedeuten solle. Der Stationsvorsteher setzte ihm auseinander, er sei der »Gemeine John Binkle vom – Regiment,« fünf Fuß neun Zoll hoch, blond, graue Augen, verwahrlostes Äußere, Merkmale: keine besonderen,« der vor vierzehn Tagen desertiert sei. Golightly versuchte eine umständliche Erklärung zu geben, aber je mehr er erklärte, um so weniger Glauben fand er beim Stationsvorsteher. Der behauptete, ein Leutnant könne unmöglich so wüst aussehen, und er habe den Befehl, seinen Gefangenen unter genügender Bedeckung nach Umritsar zu schicken. Golightly fühlte sich nicht nur der Nässe wegen unbehaglich, und seine Reden sind selbst im Auszug nicht zur Veröffentlichung geeignet. Die vier Polizisten eskortierten ihn in einem Kupee dritter Klasse nach Umritsar, und er brachte die vierstündige Fahrt damit hin, so fließend zu schimpfen, wie es ihm seine Kenntnis der Landessprache irgend erlaubte.

Auf dem Bahnsteig in Umritsar schob man ihn in die Arme eines Unteroffiziers und zweier Leute aus dem – Regiment. Golightly richtete sich auf und versuchte die Sache auf die leichte Achsel zu nehmen. Aber ihm war in seinen Handschellen mit vier Polizisten im Rücken und der gerinnenden Wunde im Gesicht gar nicht leicht zumute. Und der Unteroffizier war auch nicht zum Spaßen aufgelegt. »Es ist ein ganz lächerliches Versehen, Leute!«, weiter kam Golightly nicht. Denn der Unteroffizier befahl ihm, »das Maul zu halten und mitzukommen.« Aber Golightly wollte nicht mit, er wollte da bleiben und die Sache aufklären. Und er machte es in der Tat ausgezeichnet, bis der Unteroffizier ihn mit den Worten unterbrach: »Sie wollen ein Offizier sein? Von denen sind Sie einer, die uns Schande machen. Ein großartiger Offizier sind Sie. Ihr Regiment kennen wir. Die Katzen gehen bei Nacht den Geschwindschritt, den Sie marschieren. Ein Schandfleck sind Sie fürs ganze Heer!«

Golightly hielt an sich und begann seine Erklärungen von neuem. Man bugsierte ihn aus dem Regen ins Wartezimmer und riet ihm, sich nicht noch lächerlicher zu machen. Man wollte ihn in die Festung nach Govindghar bringen; und solches »Gebracht werden« ist ebensowenig ehrenvoll wie eine Fahrt im »Grünen Wagen«.

Wut, Frösteln, Mißverständnisse, Handschellen und Schmerz von der Kopfwunde machten Golightly fast hysterisch. Er gab sich wirklich die größte Mühe, das auszudrücken, was seine Seele bedrückte! Als er sich schließlich heiser geschrien hatte, sagte einer der Leute: »Ich habe schon manchen Kerl in Ketten fluchen hören, aber an unseren ›Offizier‹ hier kommt keiner ran.« Sie ärgerten sich gar nicht über ihn, sie bewunderten ihn eher. Im Wartezimmer gab es Bier, und sie boten Golightly etwas an, weil er so »dammich gut« geflucht hätte. Sie baten ihn, er möchte doch von den Herumtreibereien des Gemeinen Binkle etwas zum besten geben. Das brachte Golightly in die äußerste Wut. Wenn er bei Besinnung geblieben wäre, dann hätte er ruhig die Ankunft des Offiziers abgewartet. Aber so versuchte er zu entweichen.

Allein der Kolben eines Martinigewehres im Kreuz tut gehörig weh. Und eine aufgeweichte, mürbe Khakijacke zerreißt, wenn zwei Männer den Kragen packen.

Golightly erhob sich vom Boden, elend und schwindlig. Sein Hemd war über der Brust und fast über dem ganzen Rücken zerfetzt. Er ergab sich seinem Schicksal. Und in diesem Augenblick traf der Zug von Lahore ein mit einem von Golightlys Majoren.

Der Bericht des Majors lautete wörtlich:

»Aus dem Warteraum dritter Klasse drang ein Lärm wie von einer Rauferei. Ich ging hinein und sah den verrissensten Strolch, der mir je in meinem Leben vor Augen gekommen ist. Seine Stiefel und Hosen waren über und über mit Schmutz und Bierflecken bedeckt. Auf dem Kopf trug er etwas wie einen schmutziggrauen Komposthaufen. Die Fetzen hingen ihm über die zerschrammten Schultern. Das Hemd saß nur noch zur Hälfte an seinem Körper, und er forderte die Wache gerade auf, sich doch den Namen am unteren Zipfel anzusehen. Da er das Hemd gerade über den Kopf zog, konnte ich zuerst nicht sehen, wer es war. Aber ich war überzeugt, daß es ein Mann im ersten Stadium des Delirium tremens war, so fluchte er, während er an seinen Lumpen zerrte. Und dann drehte er sich um, und es war, – eine pastetengroße Beule über dem Auge, eine grünliche Bemalung des Gesichts und violette Streifen am Hals abgerechnet, – Golightly. Er war hocherfreut, mich zu sehen,« schloß der Major, »und sprach die Hoffnung aus, daß ich dem Kasino gegenüber schweigen würde. Ich habe es auch getan, aber Sie können jetzt reden, wenn Sie wollen, denn jetzt ist Golightly wieder in England.«

Golightly brachte den größten Teil des Sommers mit dem Versuche hin, den Unteroffizier und die beiden Soldaten vor das Kriegsgericht zu bringen, weil sie einen »Offizier und Gentleman« verhaftet hätten. Sie bedauerten den Irrtum natürlich unendlich. Aber die Geschichte fand ihren Weg in die Kantine und von dort aus in die ganze Provinz. –

Der Wendepunkt

Der Wendepunkt

Schädel häufte er zu Ballen,
Dreißigtausend hochgetürmten,
Seinem Mädchen zu gefallen,
Wo des Oxis Wasser stürmten.
Grimmig sprach Attula Khan:
»Liebe schuf dies Nichts zum Mann!«

Oattars Geschichte.

Wenn man Empfängen, Hoffestlichkeiten und Privatbällen den Rücken kehrt, wenn man Menschen und Dinge, die man in seinem zivilisierten Leben kennengelernt hat, weit hinter sich läßt, kommt man zuletzt an die Grenzen, wo kein Tropfen weißen Blutes mehr pulsiert und der volle Strom des schwarzen an zu fluten fängt. Es ist leichter, sich unerwartet mit einer jüngst geadelten Herzogin zu unterhalten als mit den Menschen jenes Grenzgebietes, ohne ihre Sitten oder ihre Gefühle tief zu verletzen. Schwarzes und weißes Wesen mischt sich dort auf sonderbare Weise. Manchmal verrät sich das Weiße in Ausbrüchen ungestümen kindischen Stolzes, – eines verschrobenen Rassenstolzes –, und manchmal das Schwarze in noch ungestümerer Selbsterniedrigung und Demut, halbheidnischen Gebräuchen und einem seltsamen, unerforschlichen Trieb zum Verbrechen. Eines Tages wird dies Grenzvolk, das ohne Frage tiefer steht als die Schicht, aus der Derozio, der Nachahmer Byrons, hervorgegangen ist, auch seinen Schilderer oder Dichter hervorbringen. Und dann werden auch wir erst erfahren, wie es wirklich lebt und fühlt. Vorläufig kann kein Bericht Wahrheit oder auch nur größere Wahrscheinlichkeit vermitteln.

Miß Vezzis kam von jenseits der Grenze. Sie sollte bis zur Ankunft einer englischen Kinderwärterin die Kinder einer Dame beaufsichtigen. Die Dame sagte, Miß Vezzis wäre ein schlechtes, schmutziges und unzuverlässiges Kindermädchen. Sie kam nie auf den Gedanken, daß Miß Vezzis ein eigenes Leben zu führen und eigene Sorgen zu tragen hatte, und das gerade diese Dinge für Miß Vezzis in aller Welt das Wichtigste waren. Sehr wenige Dienstherrinnen erkennen diesen Standpunkt an. Miß Vezzis war schwarz wie Pech und für unseren Geschmack abschreckend häßlich. Sie trug Kleider aus bedrucktem Kattun und ausgetretene Schuhe. Wenn sie die Laune verlor, schalt sie mit den Kindern in dem Dialekt der Grenzsprache, einem Mischmasch aus Englisch, Portugiesisch und Hindustanisch. Sie war nicht anziehend, nicht reizvoll, aber sie hatte ihren Stolz und liebte es, sich »Miß« Vezzis nennen zu lassen.

Jeden Sonntag putzte sie sich wunderschön heraus und besuchte ihre Mama, die den größten Teil ihres Lebens auf einem alten Korbsessel in einem schmierigen Morgenrock aus Tussurseide versaß. Sie lebte in einem kaninchenbauartigen Hause, das voll war von lauter Vezzis, Pereiras, Ribieras, Lisboas, Gonsalvas und einer stets wechselnden Gesellschaft von Bummlern. Überall roch es nach Speiseresten, Knoblauch und abgestandenem Weihrauch; alte Kleider lagen herum, Unterröcke hingen statt Vorhängen an den Wänden, und alles war voll von leeren Flaschen, zinnernen Kruzifixen, vertrockneten Immortellen, jungen, herrenlosen Hunden, Gipsfiguren der heiligen Jungfrau und alten Hutkrempen.

Miß Vezzis erhielt für ihre Tätigkeit als Kindermädchen zwanzig Rupien im Monat und zankte sich allwöchentlich mit der Mama über ihren Zuschuß zum Haushalt. Wenn sie sich ausgestritten hatten, kletterte Michele D’Cruze gemächlich über die niedrige Lehmmauer, um Miß Vezzis im Stil der Grenzleute, – mit allerlei Förmlichkeiten, – den Hof zu machen. Michele war ein armes, kümmerliches Gewächs, ganz schwarz, aber er hatte seinen Stolz. Nicht um alles in der Welt hätte er sich mit einer Wasserpfeife im Munde sehen lassen; er blickte auf die Einheimischen herab, wie es nur ein Mann, der sieben Achtel von ihrem Blute in seinen eigenen Adern hat, tun wird. Die Familie der Vezzis hatte auch ihren Stolz. Sie führte ihren Ursprung auf einen mythischen Schienenleger zurück, der auf der Sone-Brücke gearbeitet hatte, als die ersten Eisenbahnen nach Indien kamen, und sie hielten sehr auf ihre englische Abstammung. Michele war Telegraphist mit 35 Rupien Monatsgehalt. Die Tatsache, daß er Regierungsbeamter war, stimmte Miß Vezzis milde gegen die Unzulänglichkeit seiner Ahnen.

Nach einer sehr peinlichen Legende, – der Schneider, Dom Anna hatte sie von Poonani mitgebracht, – hatte nämlich einst ein schwarzer Jude aus Cochinchina in die Familie D’Cruze hineingeheiratet. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, daß ein Onkel von Mrs. D’Cruze noch heute in einem südindischen Klub irgendwelche niederen Küchendienste verrichtete. Er schickte Mrs. D’Cruze zwar allmonatlich 7 Rupien 8 Anna, aber sie litt trotzalledem schwer unter dieser Schändung der Familie.

Nichtsdestoweniger überwand sich Mrs. Vezzis nach Verlauf einiger Sonntage soweit, diesen Makel zu übersehen und ihre Einwilligung in Miß Vezzis‘ Heirat mit Michele zu geben, allerdings unter der Bedingung, daß Michele mindestens 50 Rupien monatlich zur Gründung eines Hausstandes aufzuweisen habe. Diese bewundernswerte Vorsicht muß wohl ein letztes Erbteil vom Yorkshirer Blut des mythischen Schienenlegers gewesen sein. Denn jenseits der Grenze setzen die Leute ihren Stolz darein, zu heiraten, wann sie wollen, und nicht, wenn sie es können.

Angesichts der Beförderungsaussichten Micheles hätte Mrs. Vezzis ebensogut fordern können, er solle mit dem Mond in der Tasche wiederkommen. Aber er war sehr verliebt in Miß Vezzis, und das gab ihm den Mut, auszuharren. Eines Sonntags begleitete er Miß Vezzis zur Messe, und als sie dann Arm in Arm durch den heißen, dumpfigen Staub wieder nach Hause gingen, schwor er ihr bei den verschiedensten Heiligen, deren Namen uns hier nichts angehen, daß er nimmermehr von Miß Vezzis lassen werde. Und sie schwor bei ihrer Ehre und der ihrer Heiligen – die Eidesformel war etwas sonderbar: »In nomine Sanctissimae« (Gott weiß den Namen der Heiligen) und so weiter, daß auch sie nie von ihm lassen wolle. Der Schwur endigte mit einem Kuß auf Micheles Stirn, linke Backe und Mund.

In der nächsten Woche wurde Michele versetzt. Und Miß Vezzis‘ Tränen flossen auf den Fensterrahmen eines Coupés dritter Klasse, als er auf dem Bahnhof Abschied nahm.

Auf den Karten mit den Telegraphenlinien Indiens findet man eine lange Strecke an der Küste, von Backergunge bis Madras. Michele ging nach Tibasu, einer kleinen Telegraphennebenstelle im ersten Drittel dieser Linie, um Depeschen von Berhampur nach Chikakola weiterzugeben. Außerdem konnte er nach dem Dienst an Miß Vezzis und die Möglichkeit denken, einmal 50 Rupien im Monat zu verdienen. Das Tosen des bengalischen Meers und einen bengalischen Schreiber hatte er zur Gesellschaft, sonst nichts. Er schrieb verliebte Briefe an Miß Vezzis, deren Kuverts er innen mit Kreuzen beklebte.

Als er fast drei Wochen in Tibasu war, kam er an den Wendepunkt seines Lebens.

Man darf nie vergessen, daß die Einheimischen so wenig wie Kinder verstehen, was Autorität heißt, und was es bedeutet, sie zu verletzen. Und darum müssen sie stets und ständig die äußeren Zeichen unserer Autorität sichtbar vor Augen haben. Tibasu war ein gottverlassenes kleines Nest, in dem eigentlich nur ein paar Orissa-Mohammedaner wohnten. Denen kam nun der Gedanke, ganz für sich einen kleinen Aufstand in Szene zu setzen, da sie bereits längere Zeit nichts vom »Sahib« Steuereinnehmer gehört hatten und den indischen Richter gründlichst mißachteten. Aber die Hindus stellten sich ihnen entgegen und schlugen ihnen die Köpfe blutig, bis sie Gefallen an der Zügellosigkeit fanden. Und Hindus und Mohammedaner machten nun beide eine völlig planlose »Revolution«, nur um zu sehen, wie weit sie es treiben könnten. Sie plünderten sich gegenseitig die Läden und beglichen die Konten ihres persönlichen Grolles auf ihre Art. Es war ein unangenehmer kleiner Aufruhr, der aber nicht wert war, in der Zeitung erwähnt zu werden.

Michele arbeitete gerade in seinem Dienstraum, als er jenen Lärm hörte, den man im ganzen Lehen nicht wieder vergißt, jenes »Ah-Yah« einer aufgebrachten Volksmenge. (Wenn dieser Lärm drei Töne tiefer wird und sich in ein dumpf dröhnendes »Uh« verwandelt, geht, wer es hört, am besten seiner Wege, zumal wenn er allein ist.) Der einheimische Polizeiaufseher stürzte zu Michele hinein und meldete, daß die Stadt in Aufruhr sei, und daß man das Telegraphenamt stürmen wolle. Der Schreier setzte seine Mütze auf und verschwand in aller Ruhe durchs Fenster. Der Polizeiaufseher folgte trotz seiner Angst dem alten Rasseinstinkt, der auch den winzigsten Tropfen weißen Blutes noch anerkennt, und fragte: »Was befiehlt der Sahib? –«

Dieses »Sahib« war für Michele entscheidend. In all seiner entsetzlichen Angst fühlte er, der Mann mit dem Juden aus Cochinchma und dem knechtischen Onkel im Stammbaum, dennoch, daß er der einzige Vertreter englischer Autorität am Orte war. Er dachte an Miß Vezzis und die fünfzig Rupien und tat, was die Lage der Dinge forderte. Es gab sieben einheimische Polizisten in Tibasu und vier altmodische, nicht einmal gezogene Musketen. Alle sieben waren bleich vor Furcht, aber doch noch zu leiten. Michele schloß den Telegraphenapparat ab und schritt an der Spitze seiner Armee dem Gesindel entgegen. Als die schreiende Bande um die Ecke bog, legte er an und feuerte, und gleichzeitig, instinktiv, schossen auch seine Leute.

Der ganze Haufen, – bis ins Mark feige Hunde, – heulte auf und rannte, davon; ein Toter und ein Sterbender waren geblieben, Michele war in Angstschweiß gebadet, aber er unterdrückte seine Schwäche und ging in den Ort hinunter an dem Haus vorbei, in dem sich der Richter verbarrikadiert hatte. Die Straßen waren menschenleer. Tibasu war noch verängstigter als Michele. Er war dem Pack zur rechten Zeit entgegengetreten.

Er ging zum Telegraphenamt zurück und rief Chikakola nm Hilfe an. Noch ehe die Antwort kam, erschienen die Altesten von Tibasu als Abordnung. Sie erklärten, daß der Richter Micheles Handlungsweise für »verfassungswidrig« halte, und versuchten ihn einzuschüchtern. Aber das Herz Michele D’Cruzes war weiß und stark, denn er liebte Miß Vezzis, das Kindermädchen, und hatte zum erstenmal »Verantwortlichkeit« und »Erfolg« gekostet. Und das ist ein berauschender Trank, der schon mehr Menschen zu Schanden gemacht hat als Branntwein. Michele gab zur Antwort, der Richter möge sagen, was er wolle; er, der Telegraphist, sei die englische Regierung in Tibasu, solange bis der Hilfssteuereinnehmer ankomme, und er werde die Ältesten des Ortes für weitere Unruhen verantwortlich machen. Sie sagten gesenkten Hauptes: »Übe Gnade« oder etwas Gleichbedeutendes und gingen in großer Furcht wieder fort. Und einer beschuldigte den anderen, den Aufruhr angezettelt zu haben.

Michele machte die ganze Nacht mit seinen sieben Polizisten die Runde und ging bei Morgengrauen dem Hilfssteuereinnehmer entgegen, der herangeritten kam, um Tibasu zu unterwerfen. Aber in Gegenwart des jungen Engländers fühlte sich Michele immer mehr in seine angeborene Natur zurückfallen. Sein Bericht von dem Aufstand in Tibasu endete mit einem krampfhaften Tränenausbruch aus Kummer, einen Menschen getötet zu haben, aus Scham, sich nicht mehr so erhaben fühlen zu können wie während der Nacht, und aus kindischem Zorn, daß seine Zunge der Schilderung seiner großen Taten nicht gewachsen war. Es war der Tropfen weißen Blutes, der in Micheles Adern ohne sein Wissen wieder versiegte.

Aber der Engländer verstand. Nachdem er die Tibasuner verwiesen und mit dem Richter geredet hatte, bis dieser wohllöbliche Beamte grün und gelb wurde, nahm er sich Zeit zu einem offiziellen Bericht über Micheles Führung. Dieses Schreiben kam ins richtige Fahrwasser und brachte den Erfolg, daß Michele von neuem versetzt wurde mit dem fürstlichen Gehalt von 66 Rupien im Monat.

Er wurde unter allem herkömmlichem Pomp mit Miß Vezzis getraut, und heute krabbeln bereits verschiedene kleine D’Cruze auf den Veranden des Haupttelegraphenamtes herum.

Aber wenn man Michele auch das Einkommen des ganzen Bezirks verspräche, er könnte doch nie und nimmer zum zweiten Male, was er in Tibasu für Miß Vezzis, das Kindermädchen, gekonnt hatte.

Und das beweist, daß in sieben Fällen von neun eine Frau dahintersteckt, wenn ein Mann etwas leistet, was in keinem Verhältnis zu seinem Gehalt steht.

Nur ein Sonnenstich kann Ausnahmen davon schaffen.

Uhren

Was in den Büchern des Bramahnen steht,
steht auch in seinem Herzen.
Ich hab‘ wie du es nicht gewußt, daß so viel
Böses in der Welt.

Im Anfang war die ganze Geschichte eigentlich nur ein Scherz, aber sie ist jetzt weit genug gediehen und wird allmählich ernst.

Leutnant Platte war arm und trug deshalb seine Waterbury-Uhr an einem einfachen Lederriemen.

Der Oberst hatte auch eine Waterbury-Uhr und trug als Kette den Maulriemen eines Zaumzeuges. Maulriemen sind die besten Uhrketten. Sie sind stark und kurz. Nun ist zwischen einem Maulriemen und einem gewöhnlichen Lederriemen kein großer Unterschied; und zwischen zwei Waterbury-Uhren überhaupt keiner. Der Uhrriemen des Obersten war in der ganzen Garnison bekannt. Der Oberst war kein großer Reiter, aber er wollte die Leute gern glauben machen, daß er es früher gewesen war, und entwarf phantastische Geschichten von dem Jagdzaumzeug, dem dieser besondere Maulriemen zugehört hatte. Im übrigen war er peinlich gewissenhaft.

Platte und der Oberst zogen sich im Klub um. Beide hatten Verabredungen, hatten sich verspätet und waren in großer Eile. Das war ihr Kismet. Beide Uhren lagen auf der Spiegelkonsole; die Riemen hingen herab. Das war ihre Unvorsichtigkeit. Platte war zuerst fertig, ergriff eine Uhr, sah in den Spiegel, rückte seinen Schlips zurecht und eilte fort. Vierzig Sekunden später tat der Oberst ganz dasselbe. Jeder hatte des anderen Uhr.

Wer hat noch nicht bemerkt, daß fromme Leute meist auch äußerst argwöhnisch sind? Sie scheinen, – selbstverständlich nur der Frömmigkeit halber, – mehr vom Laster zu wissen als die wahrhaft Verderbten. Vielleicht waren sie vor ihrer Einkehr auch besonders schlimm. – Jedenfalls überragt ein gewisser Schlag guter Menschen alle anderen in der Fähigkeit, Böses zu wittern und auch im Unschuldigsten das Schlimmste zu sehen. Der Oberst und seine Frau gehörten zu diesem Schlag. Aber die Frau Oberst war die schlimmere von beiden. Sie machte den Klatsch der Garnison, sie unterhielt sich sogar mit ihrer indischen Jungfer. Das sagt alles. Die Frau Oberst hatte die Laplacesche Ehe auseinander gebracht. Die Frau Oberst machte der Verlobung Ferris-Haughtrey ein Ende. Die Frau Oberst brachte den jungen Buxton so weit, daß er seine Frau im ersten Jahre ihrer Ehe in der heißen Stadt zurückhielt. Infolgedessen starb die kleine Mrs. Buxton und das Baby mit ihr. Solange noch ein Regiment im Lande steht, wird man sich all dieser Dinge und der Frau Oberst erinnern.

Aber nun zurück zum Obersten und Platte. Vom Ankleidezimmer aus ging jeder seiner Wege. Der Oberst aß mit zwei Geistlichen zusammen, und Platte ging zu einem Herrenessen mit nachfolgendem Whist.

Man merke sich, wie leicht unheilvolle Verwicklungen entstehen. Hätte Plattes Sais der Stute nicht die neuen Geschirrpolster aufgelegt, dann hätten sich die Scharnierbänder nicht durch das mürbe Leder und die alten Polster in den Widerrist der Stute durchgedrückt, als sie morgens um zwei Uhr heimtrabte. Die Stute hätte sich nicht gebäumt, wäre nicht ausgebrochen, in den Graben gestürzt, hätte den Wagen nicht umgekippt und Platte im Bogen über die Aloehecke auf Mrs. Larkyns wohlgepflegten Rasen geworfen, und diese Geschichte wäre nie geschrieben worden. Aber die Stute hat all dies nun einmal getan. Und während Platte sich wie ein angeschossener Hase auf dem Rasen überschlug, flog Uhr samt Riemen aus seiner Westentasche, wie der Degen eines Infanteriemajors beim feu de joie aus der Scheide, und rollte im Mondlicht weiter, bis sie unter einem Fenster liegen blieb.

Platte stopfte sein Taschentuch unter das Polster, richtete den Wagen auf und fuhr nach Hause.

Man merke sich das Spiel des Kismet! Dergleichen geschieht nur einmal alle hundert Jahre. Gegen Ende seines Essens mit den beiden Geistlichen knöpfte der Oberst seine Weste auf und beugte sich über den Tisch, um einige Missionsberichte durchzusehen. Der Uhrkettenhalter schlüpfte durch das Knopfloch, und die Uhr, Plattes Uhr, glitt in aller Stille auf den Teppich, wo der Wirt sie am nächsten Morgen fand und aufhob.

Der Oberst wollte heim zum Weibe seiner Seele, aber der Kutscher war betrunken und verlor den Weg. So kam der Oberst erst zu einer unpassenden Stunde nach Hause, und seine Entschuldigungen wurden nicht anerkannt. Wäre die Frau Oberst nicht ein so ungewöhnliches »Gefäß des Zornes, zur Vernichtung ausersehen« gewesen, dann hätte sie gewußt, daß die Gründe eines Mannes, der absichtlich lange ausbleibt, immer stichhaltig und gut gewählt sind. Die Dürftigkeit an des Obersten Erklärung war ein Beweis für ihre Wahrheit.

Man merke sich wieder das Spielen des Kismet! Die Uhr des Obersten, die so plötzlich mit Platte auf Mrs. Larkyns Rasen fiel, wählte sich ihren Platz gerade unter Mrs. Larkyns Fenster, die sie am nächsten Morgen fand, wiedererkannte und zu sich nahm. Sie hatte in der Nacht so um zwei Uhr Plattes Wagen umstürzen und ihn selbst auf die Stute fluchen hören. Sie kannte Platte und hatte ihn gern. Am selben Tage noch zeigte sie ihm die Uhr und erfuhr die ganze Geschichte. Er neigte den Kopf, blinzelte und sagte: »Pfui, wie empörend! Unerhört von dem alten Herrn! Bei seinen religiösen Ansichten obendrein! Ich würde die Uhr an die Frau Oberst schicken und um Aufklärung bitten!«

Mrs. Larkyn dachte an, die Laplaces, die sie gekannt hatte, als Laplace und seine Frau noch aneinander glaubten, und erwiderte: »Das werde ich tun. Ich glaube, es wird ihr ganz heilsam sein. Aber verstehen Sie, wir dürfen ihr niemals die Wahrheit gestehen.«

Platte war in dem Glauben, daß sich seine Uhr in dem Besitze des Obersten befände, und überzeugt, daß die Rücksendung von Uhr und Maulriemen mit ein paar liebenswürdigen Zeilen von Mrs. Larkyn nur eine vorübergehende Störung erregen würde. Mrs. Larkyn wußte es besser. Sie wußte, daß jeder Tropfen Gift im Herzen der Frau Oberst guten Boden fand.

Das Paket und ein Briefchen mit einigen Bemerkungen über die Besuchszeit des Obersten wurden der Frau Oberst hinübergeschickt, die sich darauf weinend auf ihr Zimmer begab und mit sich zu Rate ging.

Wenn die Frau Oberst eine Frau in der Welt mit heiliger Inbrunst haßte, dann war es Mrs. Larkyn. Mrs. Larkyn war eine frivole Dame und nannte die Frau Oberst eine »alte Katze«. Die Frau Oberst behauptete, eine gewisse Person in der Offenbarung Johannis erinnere auffallend an Mrs. Larkyn. Sie nannte auch noch andere biblische Namen aus dem Alten Testament. (Die Frau Oberst war übrigens die einzige, die etwas gegen Mrs. Larkyn sagte bzw. wagte. Alle anderen nahmen sie als ein amüsantes, ehrliches Persönchen.) Wenn also der Oberst zu so gottloser Stunde unter dem Fenster dieses »Weibsbildes« Uhren hatte fallen lassen, so war das verbunden mit der Tatsache seiner späten Heimkehr in der bewußten Nacht, so war das – – –

Bei dieser Stelle erhob sie sich und suchte ihren Mann auf. Er leugnete alles, nur nicht sein Eigentumsrecht an der Uhr. Sie beschwor ihn, bei seiner Seelen Seligkeit die Wahrheit zu sagen. Er leugnete abermals und fluchte. Ein eisiges Schweigen herrschte während einer Pause von fünf tiefen Atemzügen.

Die Rede, die darauf folgte, geht uns nichts an. Sie war aufgebaut auf weiblicher und ehelicher Eifersucht, auf das Bewußtsein ihres verblühten Alters, auf tiefem Argwohn, der aus dem Texte stammt, der da sagt, daß selbst die Herzen der Säuglinge böse sind von Jugend auf; aufgebaut auf giftigem Haß gegen Mrs. Larkyn und auf die Grundsätze des Glaubens, in dem die Frau Oberst erzogen war.

Und zu allem tickte die verruchte Waterbury-Uhr in ihrer dürren, zitternden Hand. In dieser Stunde, glaube ich, fühlte die Frau Oberst ein Teil von dem nimmermüden Argwohn, den sie dem alten Laplace eingegeben hatte, ein wenig von dem Jammer der armen kleinen Miß Haughtree, und etwas von dem Kummer, der an Buxtons Herzen nagte, als er seine Frau vor seinen Augen sterben sah. Der Oberst versuchte stammelnd zu erklären. Aber er erinnerte sich, daß seine Uhr verschwunden gewesen war, und das Geheimnis wurde noch dunkler. Die Frau Oberst predigte und betete abwechselnd, bis sie müde war. Dann ging sie, um auf Mittel zu sinnen, wie sie das »verstockte Herz ihres Gatten demütigen könne«. In unserer Sprache nennt sich das »zwiebeln«.

Völlig durchdrungen von der Lehre über die Erbsünde, konnte und konnte sie ihm nicht gegen den Schein glauben. – Sie wußte zu viel und verstieg sich zu den wildesten Schlußfolgerungen.

Aber es geschah ihr recht. Es verdarb ihr Leben, wie sie das Leben der Laplace verdorben hatte. Sie verlor das Vertrauen zum Oberst, denn er hatte, – und hierin lag das Bekenntnis ihres Argwohns, – vielleicht, so folgerte sie, schon viele Male gesündigt, ehe die gütige Vorsehung an der Hand eines so unwürdigen Werkzeuges wie Mrs. Larkyn seine Schuld aufgedeckt hatte. Er war ein gemeiner, böser, grauköpfiger Wüstling. Das mag wohl als ein gar zu plötzlicher Umschlag in der Gesinnung einer so lange verheirateten Frau erscheinen. Aber es ist eine altehrwürdige Tatsache, daß Mann oder Frau, denen es zur Gewohnheit und zum Vergnügen geworden ist, von gleichgültigen Menschen Böses zu denken und zu sagen, schließlich auch ihren Liebsten und Allernächsten das Schlechteste zutrauen. Man könnte auch meinen, daß der Fall mit der Uhr zu klein und zu unbedeutend sei, um ein solches Mißverständnis herbeiführen zu können. Aber es ist eine zweite uralte Wahrheit, daß die größten Unfälle im Leben, ganz wie bei einem Rennen, sich vor kleinen Gräben und niedrigen Hürden ereignen. In ähnlicher Weise zermürben sich Frauen, die in einem anderen Jahrhundert, unter anderen Lebensbedingungen zu einer Jungfrau von Orleans geworden wären, an den kleinlichsten Haushaltssorgen. Aber das ist eine andre Geschichte.

Ihr Glaube machte die Frau Oberst nur noch elender, weil er so hartnäckig an der Schlechtigkeit der Menschen festhielt. Und in der Erinnerung ihrer eigenen Taten mußte es Freude machen, ihr Unglück und ihre Vertuschungsversuche vor der Garnison, die keinen Pfifferling wert waren, mitzusehen. Aber die Garnison wußte alles und lachte unbarmherzig, denn man hatte die Geschichte der Uhr mit vielen dramatischen Gesten von Mrs. Larkyns Lippen gehört.

Ein- oder zweimal sagte Platte zu Mrs. Larkyn, weil er sah, daß der Oberst sich nicht reinwaschen konnte: »Die Sache ist nun weit genug gegangen. Ich denke doch, wir sagen jetzt der Frau Oberst, wie es gekommen ist.« Aber Mrs. Larkyn preßte kopfschüttelnd ihre Lippen fest aufeinander und erklärte, die Frau Oberst müsse ihre Strafe tragen, so gut sie könnte. Mrs. Larkyn war wirklich eine frivole Frau, und niemand hätte ihr so tiefen Haß zugetraut. Darum tat Platte auch nichts, und das Schweigen des Obersten ließ ihn allmählich glauben, daß er in der Tat in jener Nacht doch irgendwie »über die Schnur gehauen« hatte, und sich deshalb für das geringere Vergehen, außerhalb der Besuchszeit in fremder Leute Hof eingedrungen zu sein, verurteilen ließ. Platte vergaß nach einer Weile die Uhrengeschichte und ging mit seinem Regiment ins Innere des Landes. Mrs. Larkyn kehrte nach England zurück, als ihres Mannes Dienstzeit in Indien abgelaufen war. Sie hat die Geschichte nie vergessen.

Aber Platte hatte schon recht, als er sagte, der Scherz wäre zu weit gegangen. Der Argwohn und seine Tragödie, – von der wir Außenstehenden nichts ahnen und nichts wissen wollen, – quälen die Frau Oberst langsam zu Tode, und verbittern ihm das Leben. Sollte einer von ihnen diese Erzählung lesen, dann mag er überzeugt sein, daß sie ein ziemlich wahrheitsgetreuer Bericht des Falles ist. Vielleicht ist dann alles vergeben und vergessen.

Shakespeare spricht einmal von dem Vergnügen, zu sehen, wie ein Ingenieur von seiner eigenen Batterie zerrissen wird. Das beweist, daß Dichter nicht von Dingen reden sollen, die sie nicht verstehen. Es hätte ihm jeder sagen können, daß Geniekorps und Artillerie zwei ganz verschiedene Dienstzweige sind. Aber wenn man den Ausspruch verbessert und statt Ingenieur Kanonier sagt, dann ist die Moral nicht minder weise. –

Uhren

Uhren

Was in den Büchern des Bramahnen steht,
steht auch in seinem Herzen.
Ich hab‘ wie du es nicht gewußt, daß so viel
Böses in der Welt.

Der Andere

Der Andere

Wenn die Erde erkrankt und der Himmel ergraut,
Wenn feuchter Dunst durch die Wälder taut,
Dann reitet sein Geist, damit er die Braut
Im herbstlichen Regen noch einmal schaut. –

Alte Ballade.

Vor langer Zeit, in den siebziger Jahren, als es in Simla noch keine öffentlichen Gebäude gab und die Jakko-Promenade noch als Plan in dem Fache eines Schuppens, dem Büro für Öffentliche Arbeiten, schlummerte, wurde Miß Gaurey von ihren Eltern mit Oberst Schreiderling verheiratet. Er war sicherlich nicht viel mehr als fünfunddreißig Jahre älter als sie; und da er monatlich kaum zweihundert Rupien ausgab und dazu noch Privatvermögen besaß, war er in der Tat wohlhabend. Er war aus guter Familie, litt bei kaltem Wetter an Lungenbeschwerden und kämpfte in der heißen Zeit unaufhörlich mit Schlaganfällen. Aber sterben tat er an keinem von beiden.

Wohlgemerkt, ich mache Schreiderling keine Vorwürfe. Er war nach seiner Ansicht ein guter Ehemann; er verlor nur die Laune, wenn er sich pflegen lassen mußte. Und das war ungefähr siebzehn Tage jeden Monat. In Geldsachen war er gegen seine Frau beinahe großzügig, und das bedeutete für ihn eine Überwindung. Und doch war Mrs. Schreiderling nicht glücklich. Man hatte sie noch diesseits der Zwanzig, als sie ihr ganzes armes, kleines Herz einem anderen geschenkt hatte, verheiratet. Sein Name ist mir entfallen. Ich will ihn einfach den »Anderen« nennen. Er hatte weder Geld noch Aussichten und war nicht einmal hübsch. Er stand, meiner Erinnerung nach, bei der Intendantur oder beim Transportkommando. Aber trotzalledem liebte sie ihn sehr. Zwischen den beiden bestand irgendein Versprechen, als Schreiderling vor Mrs. Gaurey erschien und um die Tochter anhielt. Das andere Versprechen löste sich unter Mrs. Gaureys Tränen; denn sie beherrschte ihren Haushalt durch Tränen über die Mißachtung ihrer Autorität und den Mangel an Ehrfurcht vor ihrem Alter. Die Tochter war ihrer Mutter nicht ähnlich. Sie weinte nicht, nicht einmal bei der Trauung.

Der Andere trug seinen Verlust in aller Ruhe. Er ließ sich in die schlimmste Garnison, die er finden konnte, versetzen. Vielleicht tröstete ihn das Klima. Er litt an Wechselfieber, und das lenkte ihn möglicherweise von seinen anderen Leiden ab.

Auch sein Herz krankte, – in zwiefachem Sinne. Eine Herzklappe war angegriffen, und das Fieber machte die Sache nur schlimmer. Das zeigte sich später.

Viele Monate gingen ins Land, und Mrs. Schreiderling fing an zu kränkeln. Sie verging nicht vor Gram wie Leute in den Romanen, aber sie schien sich alle Krankheitsformen der Garnison, vom gewöhnlichen Fieber aufwärts, zuziehen zu müssen. Schon in ihrer Blüte war sie nicht sonderlich hübsch gewesen, aber die Krankheit machte sie häßlich. Schreiderling sagte das ganz offen. Es war sein Stolz, stets frei heraus zu sagen, was er dachte.

Als sie aufhörte hübsch zu sein, überließ er sie sich selbst und ging seine alten Junggesellengänge. Sie pflegte, den grauen Reithut fast im Nacken, auf einem unglaublich scheußlichen Sattel, hilflos verlassen die Simlaer Promenade auf und ab zu traben. Schreiderlings Großzügigkeit reichte nicht über den Pferdekauf hinaus. Jeder Sattel, meinte er, wäre gut genug für eine so nervöse Frau wie Mrs. Schreiderling. Man bat sie nie um einen Tanz, weil sie nicht gut tanzen konnte; sie war ja so langweilig und uninteressiert, daß sich in ihrem Vorzimmer nur selten eine Visitenkarte fand. Schreiderling sagte, er hätte sie nie geheiratet, wenn er geahnt hätte, daß sie während der Ehe solche Vogelscheuche werden würde. Es war sein Stolz, stets frei heraus zu sagen, was er dachte.

Einmal ließ er sie im August in Simla zurück und ging zu seinem Regiment. Da lebte sie ein wenig auf, aber ihr früheres Äußere gewann sie nicht wieder. Im Klub hörte ich, daß der Andere schwer krank sei und in der leisen Hoffnung auf Genesung nach Simla komme. Fieber und Herzschwäche hatten ihn an den Rand des Grabes gebracht. Sie wußte das, und sie wußte auch, – was mir natürlich gleichgültig war, wann er kommen wollte. Vermutlich hatte er es ihr geschrieben. Sie hatten einander seit einem Monat vor der Hochzeit nicht mehr gesehen. Hier beginnt der unangenehmere Teil der Geschichte.

Ein später Besuch hielt mich eines Abends bis zur Dämmerstunde im Hotel Dowdell fest. Den ganzen Nachmittag war Mrs. Schreiderling die Promenade hin und her geeilt. Auf dem Fahrweg überholte mich eine Tonga. Mein Pony, des langen Stehens müde, fiel in Galopp. Auf der Straße gerade beim Tonga-Halteplatz wartete Mrs. Schreiderling, vom Regen durchnäßt. Da mich das nichts anging, ritt ich bergan, hörte sie aber im gleichen Augenblick aufschreien. Ich wandte sofort um und sah im Lampenlicht des Halteplatzes Mrs. Schreiderling in der Nässe neben dem Rücksitz der eben angelangten Tonga knien. Sie schrie entsetzlich und fiel, als ich näher kam, mit dem Gesicht vornüber in den Straßenschmutz.

Auf dem Rücksitze saß starr und steif, die eine Hand an der Verdeckstütze, Hut und Bart vor Nässe triefend, der Andere, – tot. Das Stoßen und Rütteln während der sechzig Meilen langen Fahrt bergauf war wohl zu viel für sein Herz gewesen. Der Tongakutscher sagte: »Der Sahib starb zwei Haltestellen nach Solon. Ich habe ihn mit einem Strick festgebunden, damit er mir nicht unterwegs herausfiel. So sind wir hierher gekommen. Gibt mir der Sahib ein Backschisch? Der da,« – er deutete auf den Anderen, – »wollte mir eine Rupie geben.«

Der Andere saß grinsend da, als mache ihm seine spaßhafte Ankunft Vergnügen und Mrs. Schreiderling stöhnte im Straßenschmutz. Außer uns vieren war niemand am Halteplatz, und es goß in Strömen. Das erste war, Mrs. Schreiderling nach Hause zu bringen, das zweite, zu verhindern, daß ihr Name in diese Angelegenheit hineingezogen würde. Den Tongakutscher schickte ich mit fünf Rupien auf die Suche nach einer Rickshaw für Mrs. Schreiderling. Er sollte dem Tongapost-Schreiber über den Anderen Bericht erstatten, und der Schreiber sollte weiter veranlassen, was ihm gut schien.

Wir trugen Mrs. Schreiderling aus dem Regen und warteten unter dem Schuppendach dreiviertel Stunde auf die Rickshaw. Der Andere blieb, wo er war. Mrs. Schreiderling tat alles eher als weinen, was ihr doch am meisten geholfen hätte. Sie versuchte zu schreien, als sie wieder zur Besinnung kam, und begann für die Seele des Anderen zu beten.

Wäre sie nicht so unschuldig gewesen, wie der Tag hell ist, dann hätte sie auch für ihre eigene Seele gebetet. Ich erwartete es, aber sie tat es nicht. Dann versuchte ich, ihr das Reitkleid etwas vom Schmutze zu säubern. Endlich kam die Rickshaw, und ich brachte sie fort, nicht ohne Gewalt. Es war von Anfang bis zu Ende eine schreckliche Geschichte, aber der schrecklichste Augenblick kam, als sich die Rickshaw zwischen Mauer und Tonga hindurchzwängen mußte, und sie im Lampenschein die graue, magere Hand sah, die die Verdeckstange umklammert hielt. –

Wir brachten sie nach Hause, als alle Welt gerade zu einem Ball auf den vizeköniglichen Landsitz, – Peterhoff war es damals, – hinausfuhr. Der Arzt erfuhr nur, daß sie vom Pferd gefallen sei, und daß ich sie hinter Jakko aufgenommen habe. Er fand, daß ich wirklich großes Lob verdiene für die rasche Beschaffung ärztlicher Hilfe. Sie starb nicht. Männer vom Schlage Schreiderlings heiraten stets Frauen, die nicht so leicht sterben. Sie leben und werden häßlich.

Sie sprach keinem Menschen von ihrem Zusammentreffen mit dem Anderen, dem einzigen seit ihrer Verheiratung. Und auch als Erkältung und Husten, die Folgen jenes Abends, ihr erlaubten, wieder auszugehen, gab sie mir weder durch Worte noch durch Zeichen je zu erkennen, daß sie von unserer Begegnung am Tonga-Halteplatze wußte. Vielleicht hat sie sich wirklich nicht mehr daran erinnert.

Sie trabte wieder wie früher auf ihrem unglaublich schlechten Sattel die Promenade auf und ab und sah aus, als erwarte sie jeden Augenblick jemand um die nächste Straßenecke biegen zu sehen. Zwei Jahre später ging sie nach England und starb, – ich glaube in Bournemouth.

Wenn Schreiderling im Kasino weinselig wurde, dann sprach er von »meiner armen, geliebten Frau«. Er war stolz darauf, stets gerade heraus zu sagen, was er dachte, der Oberst Schreiderling. –

Folgen

Folgen

Rosenkreuzer Gaukelspiel
War des Morgenlandes Ziel.
Die auf solche Lehren schwören,
Kannst du am Jaktala hören.
Suchst du Paracelsus Fluren,
Folge Floods, des Suchers Spuren,
Der da spricht: ich laß dich ahnen,
Aller Sonnen Sonnenbahnen, –
Laß dir, folgst du meinen Kreisen,
Lunens Apogäa weisen.

Es gibt in Simla Anstellungen auf ein Jahr, Anstellungen auf zwei und auf fünf Jahre, und es gibt oder es gab wenigstens früher dauernde Anstellungen, wo man sein Leben lang in Simla bleiben konnte und guter Gesundheit und guten Einkommens sicher war. Natürlich durfte man in der kalten Jahreszeit aus Simla fort, denn dann ist es dort recht langweilig.

Tarrion kam, der Himmel weiß woher, – irgendwo weit, weit her, aus einer gottverlassenen Gegend Mittelindiens, wo man schon Pachmari für ein Sanatorium hält, und, wie ich glaube, noch mit einem Ochsengespann ausfährt. Er stand bei einem Regiment, aber seine Sehnsucht war, loszukommen und bis in alle Ewigkeit in Simla leben zu können. Er hatte keine besonderen Schwächen außer für gute Pferde und nette Gesellschaft. Er glaubte, überall etwas leisten zu können; und das ist ein herrlicher Glaube, wenn man felsenfest davon überzeugt ist. Er war vielseitig, sah gut aus und machte sich seiner Umgebung stets angenehm, – sogar in Mittelindien.

So kam er nach Simla. Da er klug und unterhaltend war, fühlte er sich immer mehr zu Mrs. Hauksbee hingezogen, die alles vertrug, nur keine Dummheit. Einmal leistete er ihr einen großen Dienst. Sie hatte sich mit dem diensttuenden Adjutanten verzankt und war deshalb von ihm aus Wut, wohlberechnet, statt zum großen Fest am 26. nur zu dem kleinen Ball am 6. geladen worden. Sie wollte das Fest sehr gern mitmachen, konnte es aber nicht, bis nicht Tarrion ihr das Datum auf der Einladungskarte änderte. Es war eine sehr geschickte kleine Fälschung. Als nun Mrs. Hauksbee dem Adjutanten ihre Karte zeigte und spöttelte, daß er seine Rachezüge nicht geschickter mache, glaubte er wirklich, sich versehen zu haben. Er sah ein, daß es zwecklos sei, gegen Mrs. Hauksbee Krieg zu führen, was sehr weise war. Sie war Tarrion dankbar und fragte ihn, was sie für ihn tun könne. Er antwortete offen: »Ich bin ein Kriegsmann und passe auf Beute. In Simla habe ich keinen Zoll breit Boden. Wer eine Anstellung zu vergeben hat, kennt mich nicht; und ich brauche gerade eine gute, dauerhafte, einträgliche Stellung. Ich glaube, Sie können alles erreichen, was Sie wollen. Helfen Sie mir!« Mrs. Hauksbee besann sich einen Augenblick und zog die Lasche ihrer Reitgerte durch die Zähne, was sie immer tat, wenn sie nachdachte. Dann blitzten ihre Augen, und sie sagte: »Ich will es tun!« und gab ihm ihre Hand darauf. Tarrion hatte vollstes Vertrauen zu dieser großen Frau und grübelte nicht weiter nach, es sei denn, daß er überlegte, welcher Art wohl seine Anstellung sein würde.

Mrs. Hauksbee fing an auszurechnen, um welchen Preis sie die Spitzen der Behörden und Staatsräte ihrer Bekanntschaft für ihren Plan gewinnen könnte, und je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr lachte sie. Denn sie war mit ganzer Seele bei der Sache, und sie machte ihr Spaß. Dann ging sie die Stadtverwaltung durch, bei der es ausgezeichnete Stellen gibt. Aber zuletzt hielt sie es doch für das beste, Tarrion in dem diplomatischen Dienst des Landes unterzubringen, obwohl Tarrion ihr dazu eigentlich zu gut war. Ihre Pläne, wie sie ihren Zweck zu erreichen gedachte, tun nichts zur Sache. Das Glück oder der Zufall spielten ihr den Erfolg in die Hände, und sie brauchte nur den Dingen ihren Lauf und sich die Ehre zuschreiben zu lassen.

Alle Vizekönige sind zu Beginn ihrer Tätigkeit schrullenhaft besorgt um die »Wahrung diplomatischer Geheimnisse«. Im Laufe der Zeit gewöhnen sie es sich wieder ab. Aber sie werden hier ohne Ausnahme von dieser Krankheit befallen, weil ihnen das Land zu fremd ist. Der damalige Vizekönig litt in hohem Maße daran. (Es ist schon lange her, noch ehe Lord Gufferin aus Kanada und Lord Ripon aus dem Schoß der englischen Kirche Vizekönige waren.) Infolgedessen hatten alle Leute, die nicht daran gewöhnt waren, diplomatische Geheimnisse mit sich herumzutragen, unglückliche Gesichter. Und der Vizekönig war stolz darauf, seiner Beamtenschaft einen Begriff von Verschwiegenheit beigebracht zu haben.

Nun hat aber die hohe Regierung die leichtsinnige Gewohnheit, ihre geheimsten Pläne dem Stempelpapier anzuvertrauen. Auf diesen Bogen werden alle möglichen Dinge behandelt: von der Zahlung von zweihundert Rupien an einen im Geheimdienst verwandten Eingeborenen bis zu Verweisen an »Vakils« und »Motamids« einheimischer Staaten und Schreiben an einheimische Fürsten, denen anbefohlen wird, Ordnung zu halten, keine Frauen zu stehlen oder Übeltäter mit gestoßenem roten Pfeffer vollzupfropfen, und ähnliche Dinge mehr. Selbstverständlich sollen derartige Extravaganzen nicht an die Öffentlichkeit kommen, denn offiziell fehlen einheimische Fürsten nie, und offiziell sind ihre Staaten nicht minder gut verwaltet als die unsrigen. Ebenso eignen sich außerordentliche Zuschüsse an gewisse fragwürdige Persönlichkeiten nicht gerade zur Bekanntgabe in den Zeitungen, wenn sie auch manchmal eine interessante Lektüre bieten. Wenn die hohe Regierung in Simla ist, werden auch dort diese Schreiben verfertigt und in Aktenmappen oder durch die Post den Adressaten zugestellt. Dem damaligen Vizekönig war seine Theorie ebenso wichtig wie die Praxis. Er war daher der Ansicht, daß ein wohlwollender Despotismus wie der unsrige selbst Kleinigkeiten wie die Anstellung eines Unterbeamten nicht vorzeitig in die Öffentlichkeit dringen lassen dürfe. Er hatte stets ungewöhnlich starke Grundsätze.

Eine Reihe sehr wichtiger Akten war damals in Vorbereitung. Sie sollten von einem Ende Simlas zum anderen von Hand zu Hand weitergegeben werden. Sie steckten nicht in einem amtlichen Umschlag, sondern in einem großen, viereckigen mattrosa Kuvert. Das Manuskript bestand aus dünnem, weichem Papier. Die Adresse lautete: »An die Hauptkanzlei usw. usw.« Nun ist zwischen einem verschnörkelten »An die Hauptkanzlei usw. usw.« und zwischen einem »An Mrs. Hauksbee« kein allzu großer Unterschied, zumal wenn die Adresse in einer schlechten Handschrift geschrieben ist. Der Amtsdiener war nicht dümmer, als Amtsdiener gewöhnlich sind. Er hatte nur vergessen, wo dies höchst unamtlich aussehende Kuvert abzugeben war und bat darum den ersten besten Engländer, der gerade in großer Eile nach Annandale ritt, ihm die Adresse vorzulesen. Der Engländer warf nur einen flüchtigen Bück darauf, sagte: »Mrs. Hauksbee« und eilte weiter.

Ebenso machte es der Amtsdiener, denn der Brief war der letzte in seiner Mappe, und er wollte rasch mit seiner Arbeit fertig werden. Da er keine Unterschrift brauchte, steckte er den Brief Mrs. Hauksbees Diener in die Hand und ging gemütlich rauchend mit einem Freunde weiter. – Mrs. Hauksbee erwartete gerade Schnittmuster aus dünnem Papier von einer Freundin. Wie sie die große viereckige Sendung erhielt, rief sie: »Ach, das rührende Geschöpf!«, schnitt das Kuvert mit einem Papiermesser auf, und die Manuskriptblätter fielen zu Boden.

Mrs. Hauksbee las. Wie gesagt, die Akten waren nicht gerade unwichtig. Mehr braucht man nicht zu wissen. Sie bezogen sich auf einen gewissen Briefwechsel, auf zwei Verfügungen, einen entscheidenden Befehl an einen einheimischen Häuptling und auf ein halb Schock andere Dinge. Mrs. Hauksbee rang beim Lesen nach Luft. Denn der erste flüchtige Blick in die kahle Maschinerie der großen indischen. Regierung, wenn sie aller Umhüllungen, ihres Firnisses, ihrer Farbe und ihres Räderschutzes entkleidet ist, macht selbst auf den dümmsten Menschen einen tiefen Eindruck. Und Mrs. Hauksbee war eine kluge Frau. Zuerst war sie erschrocken; es war ihr zumute, als hatte sie plötzlich das Ende eines Blitzes gepackt, ohne zu wissen, was sie mit ihm anfangen solle. Am Rande der Papiere standen Bemerkungen und Monogramme. Einige davon waren noch gefährlicher als der Inhalt selbst. Die Monogramme bezeichneten Leute, die heute im Grabe ruhen, die aber zu ihrer Zeit große Männer gewesen waren. Mrs. Hauksbee las weiter und überlegte dabei in aller Ruhe. Allmählich wurde sie des Wertes ihres Fundes inne und sann auf die bestmögliche Art, ihn auszunutzen. Da sprach Tarrion vor. Sie und er lasen die Papiere gemeinsam durch. Tarrion, der nicht ahnte, wie sie dazu gekommen war, schwor, Mrs. Hauksbee sei die größte Frau von der Welt. Und ich glaube, das ist wahr, oder wenigstens fast wahr.

»Der gerade Weg ist immer der beste,« sagte Tarrion nach anderthalbstündiger Durchsicht und Beratung. »Wenn ich recht bedenke, wäre eigentlich der Informationsdienst für mich das Rechte. Entweder das oder das Auswärtige Amt. Ich werde jetzt die hohen Götter in ihren eigenen Tempeln belagern.« Er suchte keinen kleinen Mann auf, auch keinen kleinen großen Mann, auch nicht die schwache Spitze einer starken Behörde, sondern er ging zu dem größten und gewaltigsten Mann der ganzen Regierung und erklärte, er wolle in Simla eine Stellung mit gutem Gehalt haben. Diese ausgesuchte Unverschämtheit belustigte den Gewaltigen, und da er im Augenblick nicht beschäftigt war, hörte er die Vorschläge des dreisten Tarrion mit an. »Sie haben vermutlich doch noch besondere Fähigkeiten, außer Ihrem Selbstbewußtsein, zur Begründung Ihrer Ansprüche?« fragte der Gewaltige. »Diese Entscheidung bleibt Ihnen überlassen,« sagte Tarrion. Und nun begann er, da er ein gutes Gedächtnis hatte, einige der wichtigeren Punkte aus den Akten anzuführen, langsam, einen nach dem anderen, ganz wie man Chlorodyne in ein Glas tropfen läßt. Als er zu dem entscheidenden Befehl kam, – und es war wirklich ein entscheidender Befehl, – wurde der Gewaltige unruhig. Tarrion schloß mit den Worten: »Und ich bin doch der Ansicht, daß solch eine eingehende Kenntnis wenigstens ebensosehr zu einer Anstellung im, – sagen wir, – Auswärtigen Amte befähigt, wie die Tatsache, der Neffe einer hohen Offiziersfrau zu sein.«

Das traf den Gewaltigen tief. Denn er wußte, daß die letzte Anstellung im Auswärtigen Amt auf böseste Protektion hin erfolgt war.

»Ich werde sehen, was sich machen läßt,« sagte er.

»Vielen Dank,« sagte Tarrion. Er ging fort, und der Gewaltige auch, um nachzusehen, wo er eine Stelle einrichten könne.

*

Es folgte eine Pause von elf Tagen, während der es donnerte und blitzte. Viele Telegramme flogen hin und her. Die Anstellung war nicht sonderlich bedeutend. Sie brachte nur 500–600 Rupien monatlich. Aber man müßte, wie der Vizekönig sagt, an dem Prinzip der »Wahrung diplomatischer Geheimnisse festhalten«, und es wäre doch wahrscheinlich lohnend, einen jungen Menschen mit so guten Informationen zu versetzen. Und somit versetzte man ihn. Man hat ihn aber doch wohl im Verdacht gehabt, daß er seine Informationen nicht nur seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten, wie er behauptete, zu verdanken hatte. – Ein gut Teil dieser Geschichte, wie das Nachspiel wegen des fehlenden Kuverts, muß man sich selbst ergänzen, denn aus gewissen Gründen kann es nicht niedergeschrieben werden. Wer die Verhältnisse »Oben« nicht kennt, wird behaupten, es sei ein Unding.

Der Vizekönig sagte, als ihm Tarrion vorgestellt wurde: »Das ist also der junge Mann, der die indische Regierung im Sturm nahm! Merken Sie es sich, so etwas gelingt nur einmal.« Er muß also doch irgend etwas gewußt haben.

Tarrion sagte, als seine Anstellung bekanntgegeben wurde: »Wäre Mrs. Hauksbee zwanzig Jahre jünger und ich ihr Mann, dann wäre ich in fünfzehn Jahren Vizekönig von Indien.«

Mrs. Hauksbee sagte, als er ihr fast mit Tränen in den Augen dankte, zu ihm: »Ich habe es Ihnen ja vorausgesagt,« und zu sich selbst: »Was sind die Männer doch für Narren!«

Lispeth

Lispeth

Sie war die Tochter Sonoos aus den Bergen und Jadehs, seines Weibes. Eines Tages mißriet ihnen der Mais, und zwei Bären hausten die Nacht über in ihrem einzigen Mohnfeld oben über dem Sutlej-Tale nach Kotgarh zu; darum wurden sie Christen zur nächsten Erntezeit und brachten die Kleine ins Missionshaus zur Taufe. Der Kotgarh-Geistliche gab ihr den Namen Elisabeth, den man »Lispeth« spricht in den Bergen, bei den Pahari.

Später kam die Cholera ins Kotgarh-Tal und raffte Sonoo und Jadeh dahin, und Lispeth wurde bei der Frau des Geistlichen von Kotgarh halb Dienerin, halb Gesellschafterin. Das geschah nach der Zeit der Herrenhuter Missionare, aber damals, als Kotgarh seinen Namen »Herrin der nördlichen Berge« noch nicht ganz vergessen hatte.

Ob das Christentum Lispeth förderte, oder ob unter allen Umständen die Götter ihres Volks das gleiche für sie getan hätten, das weiß ich nicht; jedenfalls wurde sie sehr schön. Wenn ein Mädchen der Berge schön wird, ist es wert, daß man fünfzig Meilen über schlechte Wege wandert, um sie zu sehen. Lispeth hatte ein griechisches Gesicht, – ein Gesicht, wie man es oft malt, und selten sieht. Sie sah aus wie blasses Elfenbein und war außerordentlich groß für ihre Rasse. Dazu hatte sie Augen, die wunderbar waren; und wäre sie nicht in dem abscheulichen Kattun der Missionskleider einhergegangen, sie hätte dem, der ihr unerwartet am Berge begegnete, als das Urbild der auf die todbringende Jagd ausziehenden römischen Diana erscheinen müssen.

Lispeth nahm das Christentum leicht an und ließ es auch nicht, als sie zum Weibe reifte, wie es manches Mädchen in den Bergen tut. Ihre Landsleute haßten sie, weil sie eine Memsahib geworden war, wie sie sagten, und sich täglich wusch; und die Frau des Geistlichen wußte nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. Eigentlich kann man von einer stolzen Göttin, die fast sechs Fuß mißt, nicht verlangen, Teller und Schüsseln zu waschen. Darum spielte sie mit den Kindern des Geistlichen, nahm teil am Unterricht der Sonntagsschule, las alle Bücher im Hause und wurde schöner und schöner, wie die Prinzessinnen im Märchen. Die Frau des Geistlichen meinte zwar, das Mädchen müsse nach Simla in Dienst gehen, als Kindermädchen oder als sonst etwas »Besseres«. Aber Lispeth wollte es nicht. Sie fühlte sich glücklich, wo sie war.

Kamen Reisende – nicht oft in jenen Jahren – nach Kotgarh, schloß sich Lispeth in ihr Zimmer ein, aus Furcht, man könne sie nach Simla, oder sonst wohin in die weite Welt mitnehmen.

Eines Tages, als sie einige Monate über siebzehn Jahr alt war, machte Lispeth einen Spaziergang. Sie machte es nicht wie die englischen Damen, die anderthalb Meilen zu Fuß gehen und den Rückweg fahren; sie legte zwanzig, dreißig Meilen zurück auf ihren »kleinen Nachmittagspromenaden«, kreuz und quer zwischen Kotgarh und Narkunda. Diesmal kam sie bei tiefer Dämmerung heim und machte den halsbrecherischen Abstieg nach Kotgarh mit etwas Schwerem im Arme. Die Frau des Geistlichen war im Wohnzimmer eingenickt, als Lispeth schweratmend und ganz erschöpft von ihrer Last eintrat. Lispeth legte sie aufs Sofa nieder und sagte schlicht: »Dies hier ist mein Mann. Ich fand ihn auf der Straße nach Bagi. Er hat sich verletzt. Wir wollen ihn pflegen, und wenn er gesund ist, soll Ihr Mann uns trauen.«

Es war das erstemal, daß Lispeth ihre Auffassung der Ehe kundgab, und die Frau des Geistlichen schrie vor Entsetzen. Allein zunächst mußte sie sich um den Mann auf dem Sofa kümmern. Er war ein junger Engländer; ein spitzer Gegenstand hatte ihm den Kopf bis zum Knochen aufgeschlagen Lispeth sagte, sie hätte ihn unten am Khud gefunden und hierhergebracht. Er atmete unregelmäßig und war bewußtlos.

Er wurde zu Bett gebracht und von dem Geistlichen, der etwas von Medizin verstand, verbunden; Lispeth wartete vor der Tür, für den Fall, daß sie sich nützlich machen könne. Sie setzte dem Geistlichen auseinander, daß das der Mann sei, den sie heiraten wolle, und der Geistliche und seine Frau kanzelten sie hart ab wegen ihres unpassenden Benehmens. Lispeth hörte still zu und wiederholte ihren Vorsatz. Es gehört ein gut Stück Christentum dazu, die unzivilisierten Instinkte des Ostens, wie die Liebe auf den ersten Blick, zu tilgen. Lispeth hatte den Mann gefunden, den sie anbetete, und sie sah nicht ein, warum sie ihre Wahl verschweigen sollte. Sie dachte auch nicht daran, sich fortschicken zu lassen. Sie wollte diesen Engländer pflegen, bis er wohl genug war, sie zu heiraten. Das war ihr harmloser, kleiner Feldzugsplan.

Nach vierzehntägigem leichten Wundfieber kam der Engländer zu vollem Bewußtsein und dankte dem Geistlichen, seiner Frau und Lispeth – besonders Lispeth – für ihre Güte. Er bereise den Osten, sagte er – von »Globetrottern« sprach man nicht in jenen Tagen, wo die junge P.&O. Linie noch klein war, – und sei von Dehra Dun gekommen, um in den Bergen von Simla Pflanzen und Schmetterlinge zu sammeln. In Simla kenne ihn daher niemand. Er glaube, er sei an der Felswand abgestürzt, als er an einem faulen Baumstamm nach einem Farn gegriffen; seine Kulis müßten wohl mit seinem Gepäck durchgegangen sein. Er wolle nach Simla zurück, sobald er sich etwas kräftiger fühle. Das Bergsteigen habe er satt.

Seine Abreise beeilte er nicht gerade, und nur langsam kam er wieder zu Kräften. Lispeth ließ sich weder von dem Geistlichen noch von seiner Frau bereden; darum sprach diese mit dem Engländer und erzählte ihm, wie es um Lispeths Herz stand. Er lachte herzlich und fand die Sache sehr niedlich und romantisch, das reinste Himalaya-Idyll. Da er sich aber in der Heimat verlobt habe, würde hier wohl nichts passieren. Selbstredend würde er vorsichtig sein. Und er war es. Trotzdem fand er es sehr angenehm mit Lispeth zu plaudern, mit Lispeth spazieren zu gehen, ihr allerlei Liebes zu sagen, ihr Kosenamen zu geben und sich langsam zu erholen. Ihm bedeutete das alles gar nichts, Lispeth die ganze Welt. Sie war glücklich in diesen beiden Wochen, denn sie hatte den Mann gefunden, den sie lieben konnte.

Als Kind der Wildnis gab sie sich keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Und dem Engländer machte das Spaß. Als er aufbrach, ging Lispeth mit ihm den Berg hinauf bis nach Narkunda, sehr, sehr unruhig und unglücklich. Die Frau des Geistlichen, als gute Christin abgeneigt gegen alles, was irgendwie Aufsehen oder gar Skandal erregen konnte mit Lispeth konnte sie gar nicht fertig werden – hatte dem Engländer geraten, er solle Lispeth sagen, daß er wiederkommen werde, um sie zu heiraten. »Sie ist das reinste Kind, wissen Sie, und, ich fürchte, im Grunde ihrer Seele eine Heidin,« sagte die Frau des Geistlichen. Darum versprach der Engländer auf dem zwölf Meilen langen Bergwege, den Arm um ihre Taille gelegt, daß er wiederkommen und sie heiraten werde; und Lispeth ließ es ihn immer wieder versichern. Sie weinte auf der Narkunda-Höhe, bis sie ihn auf dem Mutiana-Steig aus den Augen verlor.

Dann trocknete sie ihre Tränen, ging zurück nach Kotgarh und sagte zu der Frau des Geistlichen: »Er kommt wieder und heiratet mich. Er ist nur zu seinen Landsleuten gegangen, um es ihnen zu sagen.« Und die Frau tröstete Lispeth und sagte: »Er kommt wieder.« Als der zweite Monat zu Ende ging, wurde Lispeth ungeduldig und erfuhr, daß der Engländer übers Meer nach England gereist sei. Sie wußte, wo England lag, weil es in ihrer kleinen geographischen Schulfibel stand. Aber sie hatte natürlich keinen Begriff vom Meer, da die Berge ihre Heimat waren. Im Hause hatte man eine alte zusammensetzbare Weltkarte. Lispeth hatte damit gespielt, als sie Kind war. – Nun holte sie sie wieder hervor, setzte sie an den Abenden zusammen, weinte für sich und suchte sich vorzustellen, wo ihr Engländer sei. Da sie weder von Entfernungen noch von Dampfern einen Begriff hatte, waren ihre Vorstellungen einigermaßen falsch. Es hätte auch nicht das geringste ausgemacht, wenn sie völlig richtig gewesen wären. Denn der Engländer dachte nicht daran, wiederzukommen und ein Mädchen der Berge zu heiraten. Er hatte sie und ihre Welt schon ganz vergessen, als er in Assam Schmetterlinge jagte. Später schrieb er ein Buch über den Osten, aber Lispeths Name stand nicht darin.

Als der dritte Monat zu Ende ging, pilgerte Lispeth täglich nach Narkunda, um zu sehen, ob nicht ihr Engländer des Weges käme. Das gab ihr Trost, und die Frau des Geistlichen, die sie glücklicher fand, glaubte, daß sie ihre »barbarische und höchst unzarte Laune« überwunden habe. Bald darauf vermochten diese Gänge Lispeth nicht mehr zu trösten, und ihre Stimmung verschlimmerte sich sehr. Folglich hielt die Frau des Geistlichen die Zeit jetzt für geeignet, sie den wahren Stand der Dinge wissen zu lassen, – daß der Engländer ihr nur sein Wort gegeben hätte, um sie zu beruhigen, daß er keinerlei Absichten gehabt hätte, und daß es »nicht recht und nicht schicklich« für Lispeth sei, an eine Heirat mit einem Engländer zu denken, der aus feinerem Ton geknetet sei, und der sich überdies einem Mädchen seines Volkes versprochen habe. Lispeth erklärte, das wäre ja unmöglich, denn er hätte ihr doch gesagt, daß er sie liebe, und sie – die Frau des Geistlichen – hätte doch auch mit eigenem Mund bestätigt, daß er wiederkäme.

»Wie kann denn das nicht wahr sein, was Sie und er gesagt haben?« fragte Lispeth.

»Es war nur eine Ausflucht, um dich ruhig zu machen, Kind,« sagte die Frau des Geistlichen.

»Dann haben Sie mich also belogen,« sagte Lispeth, »Sie und er?«

Die Frau des Geistlichen senkte den Kopf und erwiderte nichts. Auch Lispeth schwieg ein Weilchen; dann ging sie ins Tal hinab und kam in der Tracht des Berglandes zurück, schandbar schmutzig, aber ohne Nasen- und Ohrringe. Sie hatte ihr Haar mit schwarzem Zwirn in einen langen Zopf geflochten, wie ihn die Weiber in den Bergen tragen.

»Ich will zu meinem Volk zurück,« sagte sie. »Lispeth habt ihr getötet. Nur der alten Jadeh Tochter ist übrig geblieben, die Tochter eines Pahari, die Dienerin der Tarka Devi. Ihr Engländer seid Lügner, alle miteinander.«

Ehe sich die Frau des Geistlichen von dem Schreck über Lispeths Umkehr zu den Göttern ihrer Mutter erholt hatte, war das Mädchen auf und davon; und sie kam nie wieder.

Sie schloß sich mit solcher Leidenschaft ihrem unsauberen Volk an, als wolle sie einholen, was das Leben, von dem sie schied, ihr schuldig geblieben war; nach kurzer Zeit heiratete sie einen Holzhauer, der sie nach Pahari-Weise schlug, und ihre Schönheit welkte bald.

»Es gibt keinen Maßstab für die Tollheiten der Heiden,« sagte die Frau des Geistlichen, »und ich glaube, daß Lispeth im Grunde ihrer Seele immer eine Ungläubige gewesen ist.« Wenn man bedenkt, daß Lispeth in dem reifen Alter von fünf Wochen in die Kirche aufgenommen war, macht dieser Ausspruch der Frau des Geistlichen keine Ehre.

Lispeth war eine sehr alte Frau, als sie starb. Des Englischen war sie stets mächtig, und wenn sie betrunken genug war, konnte man sie bisweilen dazu bewegen, die Geschichte ihrer ersten Liebe zu erzählen.

Dann war es schwer zu begreifen, daß das runzelige Wesen mit dem verschwommenen Blick, das einem rußigen Lumpenbündel so ähnlich sah, einstmals die »Lispeth aus dem Kotgarher Missionshaus« gewesen war.

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Tarvin hatte in den nächsten acht Tagen viel zu lernen, und nachdem er sein Anpassungsvermögen zuerst äußerlich durch einen schneeweißen Leinenanzug bewiesen hatte, begann die Einweihung in ein völlig neues System von Manieren, Gebräuchen und Anschauungen. Nicht alles, was er zu beachten lernte, sagte ihm zu, aber er hatte seinen Zweck fest im Auge und wußte, warum er sich fügte, auch ließ er seine neue Lebensweisheit keinen Tag ungenützt, sondern verwendete sie gleich dazu, sich dem einzigen Mann vorstellen zu lassen, von dem er mit Sicherheit wußte, daß er den Gegenstand seiner Sehnsucht mit Augen gesehen hatte. Estes war gerne bereit, ihn beim Maharadscha einzuführen, und so ritten sie denn eines Morgens den steilen Felsabhang hinauf, worauf der selbst aus dem Felsen gehauene Palast stand.

Durch einen breiten, dunkeln Thorweg gelangte man in einen mit Marmor gepflasterten Hof, wo der Maharadscha in Begleitung eines einzigen zerlumpten und zerschlissenen Dieners einen Foxterrier besichtigte, der in der Sonne ausgestreckt auf den Fliesen lag.

Tarvin, der sich über Könige im allgemeinen nur sehr mangelhafte Vorstellungen machen konnte, hätte von einem solchen, der seine Rechnungen nicht bezahlte, immerhin eine gewisse Würde und billigerweise ein zurückhaltendes Benehmen erwartet; auf die Schlampigkeit eines Herrschers im Hausrock, der sich, von dem ihm sonst durch die Gegenwart des englischen Statthalters auferlegten Zwang befreit, behaglich gehen ließ, war er dagegen ebensowenig gefaßt gewesen, als auf die malerische Mischung von Schmutz und Schmuck an diesem Hofe. Dieser braune Maharadscha mit dem buschigen Bart, der einen mit Gold gesprenkelten Schlafrock aus grünem Sammet trug, schien entschieden ein liebenswürdiger Despot zu sein, dem es sichtlich das größte Vergnügen machte, einen Mann kennen zu lernen, der nichts mit der englischen Regierung zu schaffen hatte und das Wort Geld nicht in den Mund nahm.

Die ganz unverhältnismäßige Zierlichkeit der Hände und Füße des hochgewachsenen Beherrschers von Gokral Sitarun verriet jedem Eingeweihten, daß er das älteste Blut von Radschputana in seinen Adern hatte. Seine Vorfahren hatten blutig gekämpft und waren weit geritten mit Schwertgriffen und Steigbügeln, die man in England für Kinderspielzeug angesehen haben würde! Sein Gesicht war fleckig und aufgedunsen, die trüben Augen starrten schläfrig aus tiefen faltigen Höhlen. Tarvin, der gewöhnt war, seinen Landsleuten ihr Wollen und Denken vom Gesicht abzulesen, konnte in diesen Augen weder Furcht noch Willen entdecken, sie drückten nur eine unsägliche schlaffe Müdigkeit und Ueberdruß aus. Es war, als ob man in einen erloschenen Vulkan geblickt hätte, einen Vulkan der in geläufigem Englisch rumpelte.

Tarvin hatte sowohl wirkliches Verständnis für Hunde, als den heißen Wunsch, sich dem Staatsoberhaupt angenehm zu machen. Als König kam ihm dieser Mann ja etwas gefälscht vor, aber als Nebenmensch, Hundefreund und Herr des Naulahka war er ihm ein Bruder, und mehr als das, der Bruder einer Geliebten! Er unterhielt sich demnach unbefangen und redselig und erreichte dadurch sein Ziel.

»Kommen Sie wieder,« sagte der Maharadscha, und die matten Augen leuchteten wirklich, als der Missionar seinen Gast etwas befremdet entführte. »Kommen Sie heute abend nach Tisch wieder! Sie stammen aus einem ganz neuen Land?«

Spät am Abend, berauscht vom Opiumtrank, ohne den ein Radschpute weder sprechen noch denken kann, lehrte Seine Majestät diesen unehrerbietigen Fremdling, der ihm von weißen Männern jenseits des Wassers köstliche Geschichten erzählte, das Königsspiel Pachisi. Sie spielten es bis tief in die Nacht hinein in dem marmorgepflasterten Hof, und Tarvin hörte hinter den grünen Fensterläden, die rings um den Hof liefen, Frauenstimmen flüstern und seidene Gewänder rauschen. Ohne den Kopf zu drehen, sah er, daß der ganze Palast Augen hatte.

Andern Tags traf er den Fürsten in der ersten Morgenfrühe mitten in der Hauptstraße seiner Stadt, der Heimkehr eines wilden Ebers gewärtig. Die Jagdgesetze von Gokral Sitarun galten auch für die Straßen befestigter Städte, und das Wildschwein konnte bei Nacht unbehelligt in den engen Gäßchen seine Nahrung suchen. Der erwartete Eber kam richtig und wurde aus einer Entfernung von hundert Schritten durch Seiner Majestät neue englische Jagdflinte niedergestreckt. Es war ein sehr anständiger Schuß, und Tarvin kargte nicht mit Beifall für den Schützen. Hatte Seine Majestät je eine Münze im Flug durchschießen sehen? Die gelangweilten Augen funkelten vor kindlicher Lust, und Tarvin warf einen amerikanischen Vierteldollar in die Luft, den seine Revolverkugel richtig im Niederfallen durchbohrte. Der Fürst bat ihn, das Kunststück zu wiederholen, aber Tarvin, der seinen Ruf nicht unnütz aufs Spiel setzen wollte, erklärte höflich, zuvor möge einer von den Hofleuten es ihm nachthun.

Der König hatte die größte Lust, es selbst zu versuchen, und Tarvin warf ihm die Münze. Die Kugel zischte ungemütlich nah an Tarvins Ohr vorbei, aber der Vierteldollar, den dieser artig aus dem Gras aufhob, war richtig durchlocht! Dem Maharadscha war ein Loch, das Tarvin hineingeschossen hatte, ebenso lieb, als das seiner eigenen Kugel, und dieser hütete sich, ihm die angenehme Täuschung zu rauben.

Am Tag darauf hatte sich die Sonne fürstlicher Huld plötzlich verdunkelt, ja, es trat völlige Sonnenfinsternis ein und Tarvin erfuhr erst durch die sehr mißvergnügten Handlungsreisenden im Dâk Bungalow, daß Sitabhai wieder einmal in königlichem Zorn zu rasen geruhe. Auf diese Nachricht hin verfügte sich Tarvin samt seiner ungeheuren Fähigkeit, Menschen im Sturm zu gewinnen, zu Oberst Nolan und brachte den verdrießlichen weißhaarigen Herrn durch seine Schilderung der fürstlichen Schießübungen zum Lachen, wie er seit seinen Leutnantstagen nicht mehr gelacht hatte. Tarvin teilte dann das zweite Frühstück mit ihm und erhielt im Lauf des Nachmittags volle Klarheit darüber, was die englische Regierung im Staat Gokral Sitarun eigentlich bezweckte. Das indische Kaiserreich wollte das Land heben; da der Maharadscha indes nichts für Kulturfortschritte ausgeben wollte, ging es damit sehr langsam. Was Oberst Nolan über die innere Palastpolitik äußerte – natürlich mit der seiner Stellung zukommenden Vorsicht – war genau das Gegenteil von dem, was der Missionar gesagt hatte, und wich andererseits auch gänzlich vom Klatsch der Handlungsreisenden ab.

Gegen Abend sandte der Maharadscha einen berittenen Boten an Tarvin, denn das Gewitter in den königlichen Gemächern hatte ausgetobt, und ihn verlangte nach dem großen weißen Mann, der Münzen in der Luft durchschießen, Geschichten erzählen und Pachisi spielen konnte. An diesem Abend kam aber noch andres als Pachisi aufs Tapet: Seine Majestät war in rührsamer Stimmung und vertraute Tarvin in einer langen, ausführlichen Unterredung seine persönlichen Nöte und die des Staats an, wobei ihm die Verhältnisse zum zweitenmal in ganz anderm Licht gezeigt wurden. Am Schluß kam dann eine etwas unzusammenhängende Anrufung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, von dessen unumschränkter Macht und weitreichendem Einfluß ihm Tarvin, dessen Patriotismus in diesem Augenblick sich auf die ganze Nation erstreckte, der Topaz angehörte, eine hohe Vorstellung beigebracht hatte. Immerhin hielt Tarvin die Stunde noch nicht für gekommen, Unterhandlungen wegen des Naulakha anzuknüpfen – der Maharadscha würde jetzt vielleicht sein halbes Königreich verschenkt und sich morgen an den Statthalter gewendet haben!

Der nächste und noch mancher folgende Tag brachte ganze Karawanen in allen Regenbogenfarben prangender Orientalen in das Rasthaus, wo Tarvin sich noch immer aufhielt. Jeder einzelne davon war Minister irgend eines Hofes, sah mit tiefer Verachtung auf die geduldig harrenden Geschäftsleute herab, verfehlte aber nicht, sich Tarvin ehrerbietig zu nähern. Von jedem einzelnen wurde er in geläufigem, etwas geziertem Englisch eindringlich gewarnt, doch ja niemand zu trauen, als eben ihm; jede dieser vertraulichen Unterredungen schloß mit: »An mir haben Sie einen wahren Freund, Sahib,« und jeder bezichtigte seine Kollegen dem Fremden gegenüber der verbrecherischen oder wenigstens übelwollenden Anschläge gegen die Regierung, die er vermutlich selbst im Schild führte.

Tarvin konnte sich nur teilweise zusammenreimen, was all das zu bedeuten hatte. Mit dem Maharadscha Pachisi zu spielen, dünkte ihm gar kein so außerordentlicher Vorzug, und die gewundenen Gedankengänge orientalischer Diplomaten waren für ihn dunkel. Ebenso unverständlich war Tarvin diesen Herrn Gesandten! Vollständig selbstbewußt, vollständig furchtlos und, soweit sie die Sache überblicken konnten, ganz uneigennützig war dieser Fremdling an ihrem Horizont aufgetaucht, um so triftigere Gründe hatten sie ihrer Lebensanschauung nach, in ihm einen wohlverkleideten Regierungsvertreter zu vermuten, der Pläne ausführen sollte, die in undurchdringliches Geheimnis gehüllt waren. Daß er eine wahrhaft barbarische Unwissenheit verriet in allem, was die innere indische Politik anging, bestärkte sie nur in ihrem Verdacht. Daß er den Maharadscha insgeheim besuchte, stundenlang mit ihm allein war und für den Augenblick des Königs Ohr besaß, genügte ihnen.

Diese feierlichen, glattzüngigen, geheimnisvollen Gäste wurden Tarvin bald zum Ueberdruß, ja sie erfüllten ihn mit Widerwillen und er hielt sich dafür an den Handlungsreisenden schadlos, denen er Anteilscheine seiner Land- und Bodenverbesserungsgesellschaft aufhängte. Dem Gelbseidenen, als seinem ersten Bekannten und Berater in diesem wunderlichen Land, vergönnte er sogar ein paar Aktien seiner Lieblingsmine »Die zögernde Ader«. Es waren die Tage vor der Goldernte im Unteren Bengalen, und man hatte damals noch Vertrauen in die amerikanischen Minen.

Derartige Geschäfte versetzten ihn in Gedanken in die Heimatsluft von Topaz und erweckten eine brennende Sehnsucht nach Nachricht von den Freunden daheim, von denen er sich völlig abgeschnitten hatte durch das Geheimnis, worein er sein Unternehmen hüllte. Er wollte ja den hohen Einsatz allein wagen, der Gewinn dagegen sollte allen zu gute kommen. Aber alle Rupien in seiner Tasche würde er freudig hingegeben haben für eine einzige Nummer des Topazer Tagblatts, ja sogar für einen Blick in die Zeitung von Denver! Was mochte in seinen Minen vor sich gehen – in der »Mollie K.«, die in Pacht betrieben wurde, der »Mascot«, über der ein Rechtsstreit schwebte, in der »Zögernden Ader«, wo man bei seiner Abreife eben im Begriff gewesen war, neue reiche Adern zu erschließen, und wie stand es um seine Rechte auf die »Garfield«. die Fibby Winks bestritt? Was war aus den Minen seiner Freunde, ihren Viehweiden und ihrem sonstigen Handel seither geworden? Was aus Colorado und den Vereinigten Staaten insgesamt? Er war ja so ganz auf dem Trockenen mit Nachrichten, daß man in Washington das Silber gesetzlich abgeschafft, die Republik in eine Monarchie verwandelt haben könnte, ohne daß er etwas davon erfahren hätte!

Sein einziges Heilmittel gegen die Pein dieser heimmärtsschweifenden Gedanken war ein Besuch im Missionshaus, ein Gespräch über Bangor und den Staat Maine. In dem Haus war ihm wohl, schon weil er wußte, daß jeder Tag das kleine Mädchen dort hinführen konnte, das im Aug‘ zu behalten er um die halbe Erdkugel gereist war. Im leuchtenden Glanz eines gelben und violetten Sonnenaufgangs wurde er am zehnten Tag nach seiner Ankunft durch eine schrille Kinderstimme aus dem Schlaf geweckt, die von der Veranda her erklang und ungesäumt den »neuen Engländer« zu sprechen verlangte. Der Maharadscha Kunwar, der voraussichtliche Thronerbe von Gokral Sitarun, ein bleichschnäbeliges Knäblein von neun Jahren, hatte seinem Miniaturhofstaat, den er ganz gesondert von dem des Vaters besaß, Befehl erteilt, seine leichte Halbchaise einzuspannen und ihn zum Dak Bungalow zu befördern.

Wie sein welker Vater lechzte auch dieses Kind nach Unterhaltung, und die Frauen im Palast hatten ihm erzählt, daß der Maharadscha immer herzlich lache, wenn der »neue Engländer« bei ihm sei. Der Maharadscha Kunwar sprach noch viel besser englisch als sein Vater, auch französisch war ihm geläufig und es gelüstete ihn, mit diesen Fertigkeiten vor einem Publikum zu glänzen, dessen Bewunderung er noch nicht befohlen hatte.

Tarvin gehorchte der Stimme, weil es eben eine Kinderstimme war, sah aber, als er heraustrat, zuerst einen scheinbar leeren Wagen, den zehn riesengroße Soldaten beschützend umgaben.

»Wie geht es Ihnen? Comment vous portez-vous? Ich bin der Prinz dieses Landes, ich bin der Maharadscha Kunmar, später werde ich der König sein. Wollen Sie nicht mit mir spazieren fahren?«

So klang das Stimmchen hinter dem Halbverdeck hervor, und nun streckte sich Tarvin auch ein schmales Händchen im Halbhandschuh zum Gruß entgegen. Diese Halbhandschuhe waren aus gröbster Wolle gestrickt, mit einem grünen Streifen ums Handgelenk, das übrige Kind aber war von oben bis unten in steifen, goldstrotzenden Brokat gekleidet und trug auf seinem Turban eine sechs Zoll lange Agraffe von Diamanten, während ihm eine Schnur von Smaragden bis auf die Augenbrauen fiel. Unter diesem glitzernden Schmuck schauten ein paar Onyxaugen hervor, die, so stolz sie blickten, doch von einer einsamen, traurigen Kindheit erzählten.

Tarvin setzte sich gehorsam auf den leeren Platz neben dem Prinzen. Es begann ihm fraglich zu werden, ob ihn überhaupt noch etwas in Erstaunen setzen könne.

»Wir wollen über den Rennplatz nach der Eisenbahnstraße fahren,« sagte der Knabe und setzte, die kleine Hand leicht auf Tarvins Arm legend, hinzu: »Wer sind Sie?«

»Nur ein Mensch, mein Söhnchen.« Das Gesicht unter dem Turban sah merkwürdig alt aus, denn die zur Herrschaft Geborenen, die nie einen versagten Wunsch kennen gelernt haben, altern unter der versengenden indischen Sonne noch schneller, als andre Kinder des Ostens, die auch schon selbstbewußte Männer sind, wenn sie erst schüchterne Knaben sein sollten.

»Man sagt, Sie seien hierher gekommen, um unser Land anzusehen?«

»So ist’s auch,« erwiderte Tarvin.

»Wenn ich einmal König bin, lasse ich niemand in mein Land herein, nicht einmal den Vizekönig!«

»Das berührt mich wenig,« bemerkte Taruin lachend.

»Sie dürfen kommen,« milderte der Knabe sein künftiges Verbot, »wenn Sie mich zum Lachen bringen. Erzählen Sie mir jetzt etwas Lustiges!«

»Soll ich, kleiner Mann? Nun, es war einmal – ja wenn ich nur müßte, was die Kinder in diesem Land zum Lachen bringt! Ich habe noch keines lachen sehen! Wie« – Tarvin stieß einen langgezogenen Pfiff aus – »was ist denn das da unten, mein Junge?«

Eine kleine Staubwolke war in weiter Entfernung von der Straße aufgestiegen. Sie wurde durch rasch und leicht hinwirbelnde Räder erregt, konnte also nicht von dem offiziellen Verkehrsmittel des Büffelkarrens herrühren. »Deshalb bin ich da herausgefahren,« erklärte ihm der Maharadscha Kunwar. »Sie wird mich gesund machen, sagt mein Vater, der Maharadscha. Ich bin nämlich nicht gesund.«

»Soor Singh,« wandte er sich in der heimischen Mundart an den Diener auf dem Hinteren Wagentritt, »wie heißt man das, wenn ich das Bewußtsein verliere? Ich weiß das englische Wort nicht mehr.«

»Sohn des Himmels, ich weiß es auch nicht,« versetzte der Diener, sich über ihn beugend.

»Jetzt fällt mir’s wieder ein,« rief das Kind plötzlich. »Frau Estes hat mir gesagt, es seien Krämpfe – was sind Krämpfe?«

Tarvin legte seine Hand zärtlich auf des Knaben Schulter, aber sein Blick hing unverwandt an der wachsenden Staubwolle.

»Was es auch sein mag, mein Kind, hoffen wir, daß »sie« dich davon heilt. Aber wer ist »sie« denn?«

»Den Namen weiß ich nicht, aber mein Vater sagt, sie werde mich gesund machen, darum hat er ihr auch einen Wagen entgegengeschickt.«

Eine scheinbar leere Halbchaise wich zur Seite aus, als der wackelige Postwagen, dessen Lenker einem buckeligen Klapphorn schmetternde Klänge entlockte, naher kam.

»Jedenfalls besser als ein Büffelkarren,« brummte Tarvin vor sich hin, wahrend er im Wagen aufstand, weil sein Herz zum Zerspringen klopfte.

»Weißt du denn nicht, wer sie ist, mein Sohn?« fragte er abermals.

»Sie wird uns geschickt,« versetzte der Maharadscha Kunwar.

»Und sie heißt Käte,« sagte Tarvin mit heiserer Stimme. »Merk dir den Namen wohl! Käte,« flüsterte er noch einmal stillvergnügt vor sich hin.

Der Knabe winkte seinem Gefolge, und die Berittenen teilten sich, um mit all dem Brimborium irregulärer Kavallerie zu beiden Seiten der Landstraße Aufstellung zu nehmen. Der Postwagen hielt und Käte, in zerknüllten, bestaubten Kleidern, von den Stößen des Wagens verschobener Frisur, mit von Hitze und Schlaflosigkeit geröteten Wangen zog den Vorhang ihres sänftenartig gebauten Wagens beiseite und trat, von der Sonne geblendet, heraus. Die von der endlosen Fahrt steif gewordenen Glieder würden ihr den Dienst versagt haben, aber Tarvin sprang aus seinem Wagen und fing sie in seinen Armen auf, ohne alle Rücksicht auf die feierlichen Berittenen und auf das Kind in Goldbrokat mit den stillen Augen, das laut und heftig: »Käte! Käte!« rief.

»Fahr nur allein nach Hause, mein Junge,« rief er dem Thronfolger zu. »Nun – Käte?«

Aber Käte hatte zum Willkomm nichts als Thränen und ein atemlos gestammeltes: »Du! Du! Du!«

  1. Die Radschputen, Sanskrit Nadschaputra, Königssöhne bedeutend, sind ein arischer Volksstamm, der sich von der altindischen Kriegerkaste abzustammen rühmt. Anm. d. Uebers.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Aufs neue standen Thränen in Kätes Augen, als sie vor dem Spiegel in Frau Estes‘ sorgsam für sie bereiteten Gastzimmer ihre Haare bürstete, dieses Mal Thränen des Aergers. Sie hatte ja schon öfter die Erfahrung gemacht, daß die Welt uns nichts für sie thun lassen will und daß ihr die Menschen mißliebig sind, die sie aus ihrer trägen Zufriedenheit aufrütteln möchten. Aber bei der Landung in Bombay hatte sie doch das Gefühl gehabt, daß jetzt alle Hemmnisse und Abhaltungen hinter ihr lägen: vor sich aber erblickte sie nur die naturgemäßen und zuträglichen Mühen ernster Arbeit. Und jetzt war Nick hier!

Die ganze Reise von Topaz her hatte sie in gehobener Stimmung zurückgelegt. Sie war vom Stapel gegangen, dieses Glück machte sie beinahe schwindeln, wie den Knaben der erste Vorgeschmack vom Leben des Mannes. Endlich war sie frei, niemand konnte ihr Einhalt gebieten. Nichts stand mehr zwischen ihr und der Erfüllung ihres Gelübdes, nur noch eine kurze Wartezeit, und sie konnte die Hand ausstrecken und ihre Arbeit in Angriff nehmen. Wenige Tage und Nächte noch, und sie stand Aug in Auge dem Leid gegenüber, das nach ihr geschrieen hatte über Länder und Meere. In ihren Träumen sah sie flehend gerungene Hände, die sich zu ihr erhoben, fieberglühende Finger, die sich um die ihrigen klammerten. Der stetige Gang des Schiffs war ihrer Sehnsucht zu langsam, sie zählte fast die Drehungen der Schraube. Im Vorderteil des Schiffs stand sie mit windzerzaustem Haar: mit hungrigen Blicken nach Indien ausspähend, eilte ihr Herz dem Schiff voraus, den Gesuchten entgegen: ihr persönliches Leben schien sich von ihr abzulösen und eilig, eilig über die Wellen dahinzugleiten, bis es die Elenden erreicht hatte und sich ihnen hingab. Als sie den Fuß aufs Land setzte, kam ein Augenblick des Umschlags, des Zauderns. Jetzt war sie ihrer Arbeit nahe – aber war sie ihr auch bestimmt? Diese alte Bangigkeit, die von Anfang an neben allem Planen und Handeln hergeschlichen war, warf sie jetzt mit dem festen Entschluß hinter sich, von Stund an alles Grübeln zu lassen. Soviel Arbeit, als der Himmel sie verrichten ließ, war ihr bestimmt, und sie ging mit einem neuen, starken, demütigen Aufopferungsdrang vorwärts, der sie über sich selbst hinaushob und stützte.

In dieser Stimmung hatte sie vor den Mauern von Rhatore den Wagenschlag geöffnet – um in Tarvins Arme zu sinken!

Sie war ja nicht ungerecht gegen ihn, sie würdigte die Herzensgute wohl, die ihn übers Meer getrieben hatte, aber ach – es wäre ihr so viel lieber gewesen, wenn er nicht gekommen wäre! Das Bewußtsein, daß ein Mann, dem sie nichts zuliebe thun konnte, mit ganzem Herzen an ihr hing, war eine schwere Last, auch wenn vierzehntausend Meilen zwischen ihr und diesem Mann lagen, blieb er aber an ihrer Seite in Indien, so wurde es zu einer niederdrückenden Bürde, die ihr die Kraft benahm, andern ernstlich zu helfen. Die Liebe erschien ihr ja in diesem Augenblick wirklich nicht als das Wichtigste im Leben, die Barmherzigkeit stand ihr weit darüber, aber gleichgültig konnte ihr deshalb Nicks Jammer doch nicht sein, sie konnte ihn nicht von sich abschütteln, nicht ihre Haare flechten, ohne daran zu denken! An dem Morgen, wo sie in ihr neues Leben eintreten wollte, das allen, die ihr erreichbar sein würden, Hilfe bedeuten wollte, dachte sie an Nikolas Tarvin!

Und weil sie voraussah, daß sie immerfort an ihn denken werde, wünschte sie ihn weit weg. Er war der Schaulustige, der in der Kirche umhergeht und die Knieenden im Gebet stört, er war der andre Gedanke, der sich in die eigenen einschleicht. Seine Person verkörperte ihr das Leben, das sie hinter sich gelassen, von dem sie sich abgewendet hatte, ja, weit schlimmer, er stellte ihr ein Leiden vor Augen, das sie nicht heilen wollte und konnte. Vom Gespenst einer zuwartenden Liebe verfolgt, verrichtet man keine großen Thaten, mit geteilter Seele hat noch kein Eroberer Städte bezwungen. Was sie zu vollbringen glühte, brauchte ihre ganze Kraft, ihre ganze Seele, eine Teilung selbst mit Nick war unmöglich. Und doch war es gut von ihm, herüber zu kommen, es lag sein ganzes Wesen darin. Sie wußte, daß selbstsüchtige Hoffnung allein ihn nicht getrieben hatte, es war, wie er sagte – er konnte nicht mehr schlafen aus Angst um sie. Seine Sorge um sie, das war selbstlose, echte Güte.

Frau Estes hatte Tarvin auf heute zum Frühstück eingeladen gehabt, als Käte noch nicht in Sicht gewesen war, und er war nicht der Mann, darum eine Einladung im letzten Augenblick abzusagen. So saß er ihr denn an ihrem ersten Morgen in Indien am Frühstückstisch gegenüber und lächelte ihr zu, daß sie ihn wider Willen freundlich ansehen mußte. Trotz einer schlaflosen Nacht sah sie ungemein frisch und hübsch aus in dem weißen Waschkleid, womit sie den verstaubten Reiseanzug vertauscht hatte, und als Frau Estes nach der Mahlzeit ihren Haushalt beschickte und der Hausherr in seine innerhalb der Stadt gelegene Missionsschule gegangen war, setzten sich die beiden Gäste allein auf die Veranda und Tarvin sprach sich bewundernd über das kühle weiße Kleid aus, eine Toilette, die im Westen Amerikas selten gesehen wird. Allein Käte that seiner Artigkeit Einhalt.

»Nick,« begann sie, ihm gerade in die Augen sehend, »willst du mir etwas zuliebe thun?«

Tarvin sah ihren Ernst und versuchte den Angriff mit Humor abzuschlagen, aber sie ließ ihn nicht dazu kommen.

»Nein, Nick, nicht so,« schnitt sie ihm das Wort ab. »Es ist etwas, woran mir sehr viel liegt. Willst du es mir zuliebe thun?«

»Als ob ich nicht alles für dich thäte!« rief er ernst.

»Ich weiß doch nicht, ob gerade dieses! Aber du mußt es thun.«

»Was ist’s denn?«

»Fortgehen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Du mußt gehen.«

»Höre mich an, Käte,« begann er, beide Hände in die tiefen Taschen seines weißen Rocks vergrabend. »Ich kann nicht gehen. Du hast noch keine Ahnung davon, wo du hingekommen bist – richte dasselbe Verlangen heute in acht Tagen wieder an mich. Nachgeben werde ich dir auch dann nicht, aber wenigstens will ich dann den Fall mit dir durchsprechen.«

»Ich weiß jetzt schon, was in Betracht kommt,« entgegnete sie, »aber ich will leisten und vollbringen, was mich hierher führt, und wenn du da bist, kann ich’s nicht. Du verstehst ganz gut, wie ich’s meine, Nick, und weißt, daß es genau so ist, wie ich dir sage. Daran ändert niemand etwas.«

»Doch, ich kann’s ändern, indem ich mein Betragen danach einrichte – ich will sehr artig sein!«

»Du brauchst mir gar nicht zu sagen, daß du das willst, ich weiß es! Aber all deine Güte ändert nicht, daß du mich hemmst. Glaube mir das, Nick, und geh fort. Nicht, weil ich dich nicht gern um mich hätte, das weißt du ja …«

»Oho!« warf Nick lächelnd hin.

»Ach, stelle dich doch nicht, als ob du mich falsch verständest,« rief Käte, ohne daß der Ernst von ihren Zügen gewichen wäre.

»Nein, ich verstehe dich wohl, aber wenn ich mich gut halte, bin ich dir nicht im Wege. Das weiß ich und du wirst es einsehen,« fügte er sanft hinzu. »Eine greuliche Reise, nicht wahr?«

»Du hattest mir versprochen, sie nicht zu machen!«

»Habe sie auch nicht gemacht,« behauptete Tarvin lächelnd, indem er ihr die Hängematte zurecht machte und sich einen von den tiefen, rohrgeflochtenen Verandastühlen holte. Er legte sich hinein, kreuzte die Beine und stülpte den weißen Korkhelm, zu dem er sich bequemt hatte, auf sein Knie. »Ich nahm eigens die andre Route.«

»Wieso?« fragte Käte, mit einiger Vorsicht in die Hängematte sinkend.

»Ueber San Francisco und Yokohama – du hattest mir ja verboten, dir zu folgen.«

»Nick!« Die eine Silbe enthielt wunderbarerweise alle Anklage und Mißbilligung, alle Neigung und Verzweiflung, womit die geringste und größte seiner Vermessenheiten sie erfüllte.

Tarvin fand ausnahmsweise keine Entgegnung auf diesen inhaltschweren Laut und Käte konnte die Pause nützen, um sich zu vergewissern, daß seine Gegenwart ihr ein Greuel sei, und hatte Zeit, die Aufwallung von Stolz zu bekämpfen, die ihr einflüstern wollte, es sei doch schön, so aus Liebe um die Welt herum verfolgt zu werden, und die heimliche Bewunderung einer solchen Hingebung zu unterdrücken. Sie hatte vor allem Zeit, sich des Gefühls von Einsamkeit und Verlassenheit zu schämen, das sich wie eine Wolke aus dieser endlosen Wüste auf sie herwälzte und ihr die schützende Nähe des Mannes, den sie daheim, im andern Leben gekannt hatte, lieh und erwünscht zu machen drohte. Das empfand sie als das Schlimmste und eine wirkliche Schande.

»Du hast doch nicht im Ernst erwartet,« sagte Tarvin jetzt, »daß ich daheim bleiben und dich allein deinen Weg suchen lassen werde in diesem alten Sandhaufen, wo einem alles Mögliche zustoßen kann? Wenn ich dich allein hätte ankommen lassen in diesem Gokral Sitarun, dich kleines, verlassenes Ding, das wäre doch eine frostige Geschichte gewesen? Wie frostig, das weiß ich erst, seit ich hier bin und gesehen habe, was für eine Gegend das ist!« »Warum sagtest du mir nicht, daß du hierher kommen werdest?«

»Bei unserm letzten Zusammensein hast du nicht sonderlich viel Teilnahme für mein Thun und Lassen verraten!«

»Nick!! Ich wollte dich nicht hier haben und ich mußte doch her.«

»Und jetzt bist du ja da! Hoffentlich gefällt dir’s,« bemerkte er spitzig. »Ist es wirklich so schlimm, Nick?« fragte sie. »Nicht, als ob mich das im geringsten erschreckte …«

»Schlimm! Erinnerst du dich an Mastodon?«

Mastodon war eine jener Städte des Westens, die ihre Zukunft hinter sich haben, eine vollständig aufgegebene, verlassene Stadt ohne einen einzigen Bewohner.

»Nimm Mastodons Oede und Leadvilles Ruchlosigkeit – die Ruchlosigkeit im ersten Jahr des Entstehens – dann hast du etwa einen Begriff von den Zuständen hier, einen schwachen freilich, denn es ist um neun Zehntel schlimmer.«

Tarvin entwarf nun ein Bild der Verhältnisse der Vergangenheit, Politik und Gesellschaft von Gokral Sitarun, das von seinem persönlichen Standpunkt aus aufgenommen war, und er ging dabei mit dem toten, erstarrten Osten ins Gericht, wie nur das Lebensgefühl des werdenden amerikanischen Westens ins Gericht gehen konnte. Sein Thema erfüllte und erregte ihn; er war glücklich, zu jemand sprechen zu können, der seinen Standpunkt Wenigstens begriff, wenn auch nicht vollständig teilte. Der Ton, den er anschlug, lud Käte ein, doch auch ein wenig mit ihm zu lachen, und sie lachte aus Gefälligkeit, aber nur ein klein wenig, dann bemerkte sie, daß ihr diese Zustände mehr traurig als belustigend vorkämen.

Darin gab er ihr ja vollkommen recht, fügte aber hinzu, daß er nur lache, um nicht weinen zu müssen. Er sagte, es gehe ihm auf die Nerven, die Trägheit, Starrheit, Leblosigkeit dieses reichen, stark bevölkerten Landes nur mitanzusehen, eines Landes, das von Rechts wegen blühen und gedeihen müßte, eines Volkes, das Handel treiben, Erfindungen machen, sich rühren könnte, neue Städte gründen, die alten erhalten und für die Neuzeit brauchbar machen, Schienen legen, Unternehmungen beginnen sollte, daß es eine Art hätte.

»Sie haben Hilfsquellen genug,« versicherte er, »sie können sich gar nicht darauf hinausreden, das Land sei arm. Das Land ist recht! Versetze die Einwohnerschaft einer rührigen Stadt in Colorado nach Rhatore, gib ein gutes Lokalblatt heraus, organisiere eine Handelskammer, teile der Welt mit, was hier los ist und du wirst in sechs Monaten einen Aufschwung erleben, daß dem indischen Kaiserreich Hören und Sehen vergeht! Aber was kann man mit diesen Leuten hier anfangen? Sie sind tot, sind Mumien, hölzerne Götzenbilder! In diesem ganzen Gokral Sitarun ist nicht genug echte altmodische Energie, Umtriebigkeit, nicht genug Schwung und Regsamkeit, um einen Milchwagen in Bewegung zu setzen!«

»Ja, ja,« murmelte Käte mit leuchtenden Augen vor sich hin, »deshalb bin ich ja gekommen.«

»Wieso? Du?«

»Weil sie nicht sind wie wir,« versetzte sie, ihm ein verklärtes Gesicht zukehrend. »Wenn sie klug und gewandt und weise wären, wozu hätten sie uns nötig? Weil sie thörichte, dumpfe, hilflose Geschöpfe sind, deshalb brauchen sie uns, deshalb« – sie atmete tief auf – »thut es wohl, hier zu sein.«

»Es thut wohl, dich hier zu haben, soviel ist richtig,« bemerkte Tarvin.

Sie schreckte zusammen.

»Bitte, bitte, Nick, komm mir nicht mit solchen Reden!«

»Wie du befiehlst,« brummte er mißgestimmt.

»Du mußt mich recht verstehen, Nick,« sagte sie ernst, aber nicht unfreundlich. »Ich gehöre solchen Dingen nicht mehr an, nicht einmal die Möglichkeit davon darf mich streifen! Betrachte mich wie eine, die den Schleier genommen hat, betrachte mich als Klosterschwester, die jedem Glück bis auf das Glück ihrer Arbeit auf ewig entsagt hat!«

»Hm – erlaubst du, daß ich rauche?« Sie nickte, und er steckte seine Zigarre in Brand.

»Freut mich, daß ich hier bin, der Zeremonie wegen.«

»Was für eine Zeremonie meinst du?«

»Nun, ich kann ja zusehen, wenn du den Schleier nimmst. Du wirst es aber nicht thun.«

»Und warum nicht?«

Er brummte etwas Unverständliches und blies Rauchringe in die Luft, dann blickte er auf.

»Weil ich sehr triftige Gründe habe, daran zu zweifeln. Ich kenne dich, ich kenne Rhatore und ich kenne …«

»Was noch? Wen noch?«

»Mich,« versetzte er.

Sie legte ihre Hände im Schoß zusammen.

»Nick,« sagte sie, sich aus der Hängematte beugend, »du weißt, daß ich dich gern habe, viel zu gern, um dich auch fernerhin denken zu lassen – du sprachst davon, du könntest nicht mehr schlafen. Meinst du denn, ich könne schlafen, wenn ich immerfort denken muß, du liegest wach vor Schmerz und Enttäuschung, die ich nicht lindern kann, außer indem ich dich bitte, fortzugehen! Und darum bitte ich dich von ganzem Herzen!«

Tarvin sog nachdenklich an seiner Zigarre.

»Mein liebes Kind,« sagte er nach eine Weile, »ich fürchte mich nicht.«

Sie wandte sich ab und blickte seufzend auf die endlose Wüste hinaus.

»Ich wollte, du wüßtest was Furcht ist!« sagte sie mutlos.

»Furcht ist ein Gefühl, das der Gesetzgeber nicht kennen darf,« versetzte er im Rednerton.

Sie fuhr rasch herum und sah ihn an.

»Gesetzgeber! O Nick, bist du …«

»Gewählt? Ja, ich bedaure, dir es sagen zu müssen, mit einer Mehrheit von 1518 Stimmen« – damit reichte er ihr das Telegramm.

»Mein armer Papa!«

»Nun, ich weiß nicht …«

»Ach! Ich gratuliere dir natürlich von Herzen!«

»Danke schön.«

»Aber ich zweifle, ob es das Richtige für dich ist.«

»Ja, daran zweifle ich auch! Wenn ich die ganze Sitzungsperiode hier zubringe, werden meine Wähler bei meiner Rückkehr wahrscheinlich nicht in der Laune sein, meine politische Laufbahn sehr zu fördern!«

»Um so mehr Grund …«

»Nicht wie du meinst! Um so mehr Grund, die Hauptsache in Ordnung zu bringen, sage ich dir. In der Politik kann ich jederzeit festen Fuß fassen, aber bei dir festen Fuß zu fassen, Käte, dazu ist nur jetzt die Zeit, jetzt und hier

Er stand auf und beugte sich über sie.

»Meinst du, ich könne das auf später aufschieben, Käte? Nein, von einem Tag zum andern will ich mich ja gedulden, will es frohen Mutes thun, und du sollst nichts mehr davon hören, bis du bereit bist. Du hast mich ja gern, Käte, ich weiß es, und ich – nun ich habe dich sehr lieb, und wenn sich zwei Menschen lieb haben, so endet die Geschichte wie sie enden muß. Jetzt adieu« – er reichte ihr die Hand – »morgen hole ich dich ab und führe dich in die Stadt!«

Käte sah der entschwindenden Gestalt lange nach, dann zog sie sich ins Haus zurück, und ein Plauderstündchen mit Frau Estes, wobei wesentlich von den Kindern in Bangor die Rede war, half ihr zu einer verständigeren, gesünderen Anschauung der Lage, die durch Tarvins Anwesenheit nun einmal gegeben war. Sie sah, daß er entschlossen war, zu bleiben, und wenn sie den Ort nicht verlassen wollte, mußte sie den rechten Weg finden, diese Thatsache mit ihren Plänen zu vereinigen. Seine Hartnäckigkeit erschwerte ein Unternehmen, das sie sich so wie so nicht leicht gedacht hatte, und weil sie gewöhnt war, unverbrüchlich an sein Wort zu glauben, war sie auch im stande, sich auf sein Versprechen »des Artigseins« zu verlassen. Faßte man den Begriff ein wenig weit, so bedeutete es für Tarvin wirklich viel, am Ende das Höchste, was sie fordern konnte.

Alles reiflich überlegt, blieb ihr ja immer noch die Möglichkeit zu fliehen, aber sie fühlte zu ihrer Schande, daß eine furchtbare Anwandlung von Heimweh sie am nächsten Morgen zu ihm hinzog und ihr seine heitere Gegenwart sehr willkommen erscheinen ließ. Frau Estes war ja die Güte selbst, die beiden Frauen hatten sich sofort zu einander hingezogen gefühlt und herzliche Freundschaft geschlossen, aber ein Gesicht aus der alten Heimat war doch noch etwas andres, und vielleicht war ihr gerade Nicks Gesicht besonders viel wert. Jedenfalls lehnte sie die von ihm vorgeschlagene Führung durch die Stadt keineswegs ab.

Tarvin brachte bei diesem Gang den Vorsprung von zehn Tagen, den er in der Bekanntschaft mit Rhatore hatte, gehörig zur Geltung; er warf sich ganz zum Führer auf, zeigte ihr die Gebäude und die Aussicht und gab die aus zweiter Hand gewonnene Einsicht in die Verhältnisse mit einer Sicherheit von sich, um die ihn mancher im Dienst ergraute englische Beamte hätte beneiden können. Die Fragen der indischen Politik trug er auf dem Herzen, als ob ihm die Losung aller Schwierigkeiten auferlegt wäre – war er denn nicht Mitglied eines gesetzgebenden Körpers und als solches in allen Dingen zuständig? Die rastlose und praktische Neugierde, womit er allem zu Leib ging, was ihm neu war, hatte ihm in diesen zehn Tagen wirklich viel Belehrung über Rhatore und Gokral Sitarun eingetragen und setzte ihn jetzt in die Lage, dieser Käte, die noch so ganz Neuling war, alle Wunder und Geheimnisse der winkeligen Gäßchen zu erklären, auf deren dickem Sand die Fußtritte von Menschen wie Kamelen nur gedämpft erklangen. Bei der fürstlichen Menagerie ausgehungerter Tiger hielten sie sich länger auf, auch verweilten sie vor den Käfigen der zwei zahmen Jagdleoparden, die Kappen trugen wie die Falken und gähnend und scharrend auf ihren Lagerstätten am Hauptthor der Stadt ruhten. Und er zeigte ihr auch die gewichtige Thüre des großen Stadtthors, die, zum Schutz gegen Angriffe des lebendigen Sturmbocks, des Elefanten, mit fußlangen Stacheln gespickt war. Dann führte er sie durch die lange Reihe dunkler Kauflädchen, der Bazars, die sich in zerfallenen Palästen eingenistet haben, deren Erbauer längst vergessen sind. Sie besuchten die zerstreut liegenden Baracken, wo sie ins Gewimmel phantastisch herausgeputzter Soldaten gerieten, die ihre Markteinkäufe am Flintenlauf baumeln ließen, und das Mausoleum der Beherrscher von Gokral Sitarun im Schatten des großen Tempels, wo die Kinder der Sonne und des Monds ihre Andacht verrichten, und wo der glattpolierte schwarze Stier über den quadratischen Platz hinüberstarrte nach dem billigen Bronzedenkmal von Oberst Nolans Amtsvorgänger, einem herausfordernd energischen und herausfordernd häßlichen Herrn aus Yorkshire. Schließlich sahen sie sich außerhalb der Mauern die geräuschvolle Karawanserai vor dem Thor der drei Gottheiten an, von wo die Kamele mit ihrer glitzernden Last von Steinsalz den Weg zur Eisenbahn antraten und wo bei Tag und Nacht in Mäntel gehüllte Reiter mit Kinnbändern einkehrten, deren Sprache kein Mensch verstehen konnte und die mit Gott weiß welcher Geschwindigkeit von jenseits der weißen Hügel von Jensulmir einherjagten.

Unterwegs erkundigte sich Tarvin auch angelegentlich nach Topaz. Wie sie es verlassen habe? Wie die liebe alte Stadt aussehe? Käte erinnerte ihn daran, daß sie ja schon drei Tage nach ihm abgereist sei.

»Drei Tage! Drei Tage sind eine lange Zeit im Leben einer wachsenden Stadt!« rief Tarvin.

»Ich habe keine Veränderungen bemerkt in diesen drei Tagen,« sagte Käte lächelnd.

»Keine? Peters hatte doch gesagt, er wolle gerade am Tag nach meiner Abreise die Grabarbeiten für sein Backsteingasthaus in der G.-straße anfangen lassen, und Parsons erwartete eine neue Dynamomaschine für das städtische Elektrizitätswerk. In der Massachusettsstraße wollte man mit dem Nivellieren beginnen und auf meinem Grundstück von dreiundzwanzig Morgen sollte gerade an dem Tag der erste Baum gepflanzt werden. Kearney wollte ein neues Schaufenster von Spiegelglas in seinem Droguengeschäft einsetzen, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn die neuen Briefladen, die Maxim in Meridan bestellt hatte, auch noch vor deiner Abreise angekommen wären – ist dir nichts aufgefallen?«

Käte schüttelte den Kopf.

»Ich hatte in den Tagen an andres zu denken, Nick.«

»Hm – ich hätt’s gern gewußt! Aber es ist ja einerlei – es ist wohl zu viel verlangt von einem Mädchen, daß sie neben ihren eigenen Angelegenheiten die Verbesserungen der Stadt im Auge behalten solle,« setzte er entschuldigend hinzu. »Frauen sind nun einmal nicht so geschaffen – ich habe gleichzeitig einen Wahlkampf und verschiedene Geschäfte und noch etwas ganz andres im Kopf und im Herzen haben müssen …«

Er lächelte Käte pfiffig an und sie drohte ihm mit dem Finger.

»Ja so, ein verbotener Gesprächsgegenstand! Gut, gut, ich will ganz gewiß artig sein! Aber wenn einer gewollt hätte, daß ich etwas nicht merke, der hätte früh aufstehen müssen! Was haben denn deine Eltern gesagt, als es nun ernst wurde, Käte?«

»O bitte, sprich mir nicht davon!«

»Wie du befiehlst.«

»Wenn ich manchmal bei Nacht plötzlich aufwache und an die Mutter denken muß, das ist furchtbar. … Ich glaube fast, ich hätte zu allerletzt noch fahnenflüchtig werden können, wenn jemand das rechte – oder auch das unrechte Wort gesprochen hätte, so war mir’s zu Mut, als ich in den Zug stieg und ihnen das letzte Lebewohl zuwinkte!«

»Ich Narr! Warum war ich nicht da!« stöhnte Tarvin.

»Du hättest das Wort nicht sprechen können, Nick,« versetzte sie ruhig.

»Aber dein Vater, willst du sagen. Ja, wenn er zufällig ein andrer wäre, würde er’s gekonnt und gethan haben! Wenn ich daran denke, möchte ich …«

»Sag nichts gegen meinen Vater!« rief sie mit zitternden Lippen.

»O mein liebes Kind!« murmelte er, sich mühsam beherrschend. »Das wollte ich ja nicht … sag mir, über wen ich losziehen soll … irgend jemand muß ich verwünschen, dann will ich Ruhe geben!«

»Nick!!«

»Nun, ich bin eben kein Holzblock,« brummte er.

»Nein, nur ein sehr, sehr thörichter Mann!«

Tarvin lächelte.

»Nun bist du’s, die schimpft!« bemerkte er.

Um auf etwas andres zu kommen, erkundigte sich Käte nach dem Maharadscha Kunwar, und Tarvin schilderte ihr das seltsame Kerlchen und meinte, es wäre gut bestellt, wenn die übrige Gesellschaft in Rhatore nicht schlechter wäre.

»Du solltest Sitabhai sehen!«

Er erzählte ihr dann ausführlich vom Maharadscha und den Leuten im Palast, mit denen sie ja in Berührung kommen mußte. Sie besprachen die seltsame Mischung von Lebensüberdruß und Kindlichkeit in diesem Volk, die auch Käte schon beobachtet hatte, und sprachen über die Ursprünglichkeit seiner Neigungen, die Einfalt seiner Anschauungen – einfältig und einheitlich wie der ganze Orient.

»Sie sind nicht, was wir gebildet nennen. Von Ibsen wissen sie rein nichts und aus Tolstoi machen sie sich so wenig als aus sauren Aepfeln,« bemerkte Tarvin, der nicht umsonst in Topaz seine drei Zeitungen am Tag gelesen hatte. »Wenn sie die moderne Frau wirklich zu Gesicht bekämen und begreifen könnten, ich glaube sie wäre ihres Lebens keine Stunde mehr sicher! Aber sie haben doch auch ganz richtige Ideen, ausgezeichnete, altmodische Grundsätze, ungefähr dieselben, die mir auf meiner Mutter Knieen im fernen Staat Maine eingeimpft wurden. Meine Mutter glaubte nämlich an die Ehe, mußt du missen, und darin stimme ich mit ihr überein und zugleich mit den altmodischen Indern. Diese ehrwürdige, hausbackene, wurmstichige Einrichtung, dieser überwundene Standpunkt steht hier noch in hohem Ansehen.«

»Habe ich je gesagt, daß ich Nora recht gebe, Nick?« rief Käte, seinem Gedankengang im Sprung folgend.

»So? Nun, dann hast du ja auch wenigstens einen Punkt mit dem indischen Reich gemein. Das ›Puppenheim‹ würde in diesem gesegneten, altväterischen Land einfach abgelehnt werden, es fände keinen Raum.«

»Aber alle deine Ansichten teile ich darum doch nicht,« fühlte sie sich gedrungen hinzuzusetzen.

»Von einer weiß ich das sehr genau,« versetzte er mit einem pfiffigen Lächeln. »Gerade zu der will ich dich aber bekehren!«

Käte blieb mitten in der Straße stehen.

»Und ich hatte dir vertraut, Nick!« sagte sie vorwurfsvoll.

Tarvin blieb auch stehen und sah ihr wehmütig in die anklagenden Augen.

»O Gott!« seufzte er. »Ich hatte mir auch mehr zugetraut, aber ich muß eben immer daran denken. Was kannst du auch andres von mir erwarten? Aber ich will dir etwas sagen, Käte, dies soll das letzte Mal gewesen sein – endgültig, unwiderruflich. Ich schließe ab damit – von heute an bin ich ein bekehrter Sünder. Nicht mehr daran zu denken, gelobe ich dir nicht, und weiter fühlen muß ich, ob ich will oder nicht. Aber ich will schweigen – meine Hand darauf.«

Damit reichte er ihr die Hand und Käte faßte sie. Dann gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Tarvin in trübseligem Ton fragte: »Heckler hast du wohl unmittelbar vor der Abreise nicht mehr gesehen, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dachte mir’s. Du und er, ihr wart ja nie dicke Freunde.«

»Soviel ich weiß, nahm man an, du seiest nach San Francisco gefahren, um persönlich mit einigen Direktoren der Central-Colorado-California-Linie zu verhandeln. Man nahm das an, weil der Schaffner deines Zugs die Nachricht verbreitete, du seiest nach Alaska gereist, und daran wollte niemand glauben; was die Wahrheitsliebe betrifft, scheinst du keinen guten Leumund in Topaz zu haben, Nick, das thut mir sehr leid!«

»Mir auch, mir auch, Käte!« rief Tarvin mit Ueberzeugung. »Aber wenn man mir alles glaubte, wie sollte ich’s dann fertig bringen, den Leuten etwas weis zu machen? Ich wollte, daß sie mich in San Francisco vermuten sollten, für ihre Interessen thätig. Wenn ich aber das durch den Schaffner hätte ausstreuen lassen, so würde man vor Abend behauptet haben, ich kaufe in Chile Land auf! Dabei fällt mir ein – wenn du nach Hause schreibst, so erwähne, bitte, nicht, daß ich hier bin. Vielleicht bringen sie’s auch heraus – nach den Gesetzen des Widerspruchs, aber ich will ihnen keinen Anhaltspunkt geben.«

»Du kannst ruhig sein, ich erwähne es gewiß nicht,« versicherte Käte, die dabei sehr rot wurde.

Gleich nachher kam sie wieder auf ihre Mutter zu sprechen. In der heißen Sehnsucht nach der Heimat, die inmitten der fremdartigen Welt, die Tarvin ihr zeigte, aufs neue in ihr aufstieg, schnitt ihr der Gedanke an die Mutter, die einsam und sehnsüchtig, geduldig auf ein Wort von ihr wartete, durchs Herz wie in der Stunde der Trennung. Die Erinnerung war ihr in diesem Augenblick so schmerzlich, daß sie nicht schweigend damit fertig wurde, aber als Tarvin dann fragte, warum sie denn fortgegangen sei, wenn sie so empfinde, versetzte sie mit dem Mut ihrer guten Stunden: »Warum zieht der Mann in den Krieg?«

In den nächsten Tagen sah Käte nicht viel von Tarvin. Frau Estes führte sie im Palast ein, und da gab es genug des Neuen, um Herz und Gedanken auszufüllen. Beklommen tastete sie in einem Reich umher, wo ewiges Zwielicht herrscht, suchte ihren Weg in den Irrgärten von Gängen, Treppen, Höfen, Geheimthüren, wo verschleierte Frauen an ihr vorüberstreiften, sie anstarrten und hinter ihrem Rücken über sie lachten, oder mit kindischer Neugier ihr Kleid, ihren Hut, ihre Handschuhe befühlten. Sie verzweifelte daran, sich jemals auch nur im kleinsten Teil dieses ungeheuren Bienenstocks zurechtzufinden, in dem Dämmerlicht die blassen Gesichter der Frauen unterscheiden zu lernen, die sie durch lange Reihen leerer Zimmer führten, wo der Wind allein unter dem glitzernden Deckenschmuck seufzte, und hinauf in schwebende Gärten, zweihundert Fuß über der Stadt, und doch noch neidisch von hohen Mauern eingefaßt, und aus der strahlenden Helle der flachen Dächer über nicht enden wollende Treppen hinab in stille unterirdische Gemächer, die man aus Furcht vor der Hitze sechzig Fuß tief in den Felsen gehauen hatte. Und auf Schritt und Tritt Frauen und Kinder und abermals Kinder und Frauen! Man schätzte die Einwohnerschaft des Palastes auf viertausend lebende Seelen: wie viele tot und begraben darin lagen, wußte kein Mensch zu sagen.

Viele von den Frauen – wie viele, das hätte sie nicht sagen können – weigerten sich, durch Gerede und Gerüchte verhetzt, unbedingt, Kätes Hilfeleistungen anzunehmen. Sie seien nicht krank, erklärten sie, und die Berührung der weißen Frau sei befleckend. Andre vertrauten ihr die Kinder an und baten sie, den schwächlichen, im Dunkel aufgewachsenen Pflänzchen Farbe und Frische zu verschaffen, und glutäugige Mädchen stürzten aus der Dämmerung auf sie los mit leidenschaftlichen Klagen, die sie nicht verstand, nicht zu verstehen wagte. Von den Wänden der kleinen Stübchen starrten ihr häßliche anstößige Bilder entgegen und unzüchtige Götter grinsten sie aus schauerigen Nischen über den Thüren höhnisch an. Die heiße Luft, Küchen- und Weihrauchdüfte, die unbeschreibliche Ausdünstung der dicht zusammengepferchten Menschheit benahmen ihr oft den Atem, aber was sie zu hören bekam und erraten lernte, war widerlicher als alle mit den Sinnen wahrnehmbaren Greuel. Es war entschieden etwas ganz andres um den heldenmütigen Entschluß, dem im Geist geschauten Elend indischer Frauen ihr Mitgefühl, ihr Leben zu weihen, und der unbeschreiblichen Wirklichkeit in der Abgeschlossenheit der Frauengemächer von Rhatore gegenüberzutreten.

Tarvin erforschte mittlerweile das Land nach einem selbst ersonnenen System. Es beruhte auf Ausnutzung der Möglichkeiten nach Maßstab ihrer Bedeutung – alles, was er unternahm, stand in ursächlichem, wenn auch nicht immer erkennbarem Zusammenhang mit seinem Zweck und Ziel, dem Naulahka.

In den fürstlichen Gärten, wo unzählige, nur selten bezahlte Gärtner mit Wasserschläuchen und Gießkannen gegen die zerstörende Gewalt der Hitze ankämpften, konnte er ungehemmt aus und ein gehen. Er hatte auch freien Zutritt zum Leibstall des Maharadscha, wo achthundert Pferde allnächtlich auf der Streu lagen, und konnte zusehen, wenn sie am Morgen zu je vierhundert in einer Staubwolke zur Morgenarbeit ausrückten. Die äußeren Palasthöfe standen ihm uneingeschränkt offen, er konnte der Toilette der Elefanten beiwohnen, wenn der Maharadscha einen Staatsumzug hielt, konnte mit der Wache plaudern und lachen und sich an drachenköpfigen, schlangenhalsigen Geschützen erbauen, die von eingeborenen Kunsthandwerkern erfunden waren, denen hier im fernen Osten die Mitrailleuse gedämmert haben mußte. Aber in das Gebiet, wo Käte weilte, durfte er keinen Fuß setzen. Er wußte, baß ihr Leben in Rhatore so sicher war wie in Topaz, aber als sie zum erstenmal, zuversichtlich und ohne Zaudern hinter dem teppichverhangenen Eingang zum Frauenpalast verschwand, fuhr seine Hand unwillkürlich nach dem Griff seines Revolvers.

Der Maharadscha war ein guter Kamerad und ein vortrefflicher Pachisispieler, aber als Tarvin ihm eine halbe Stunde nach jenem Verschwinden gegenüber saß, überlegte er sich doch, daß er des Maharadscha Leben keiner Versicherungsgesellschaft empfehlen möchte, falls seiner Liebe etwas zu Leid geschähe in dem geheimnisvollen Reich, aus dem außer Flüstern und Rascheln kein Laut in die Außenwelt drang. Als Käte späterhin wieder heraustrat, wobei der Maharadscha Kunwar an ihrem Arm hing, war ihr Gesicht blaß und verzerrt, in ihren Augen funkelten Thränen der Entrüstung. Sie war sehend geworden.

Tarvin eilte an ihre Seite, aber sie wies ihn mit der herrischen Gebärde von sich, die allen Frauen in tiefer Erregung zu Gebot steht, und flüchtete sich zu Frau Estes.

Es war ihm, als ob er mit rauher Hand aus ihrem Leben hinausgedrängt worden wäre, und der Maharadscha Kunwar traf ihn am Abend, wie er mit großen Schritten auf der Veranda des Rasthauses hin und her ging, beinah bereuend, daß er den Maharadscha, den eigentlichen Urheber jenes Schreckensausdrucks in Kätes Augen, nicht niedergeschossen hatte. Mit einem tiefen Atemzug dankte er seinem Schöpfer dafür, daß er hier war, um sie zu bewachen, zu verteidigen, im Notfall mit Gewalt fortzubringen. Ihn schauderte, wenn er sich Käte hier allein vorstellte, einzig auf Frau Estes‘ Beistand aus der Ferne angewiesen.

»Ich habe etwas für Käte gebracht,« sagte der Prinz vorsichtig aus dem Wagen steigend, denn er hielt einen Pack, der seine beiden Arme ausfüllte. »Komm mit mir zu ihr!«

Nichts Schlimmes ahnend, fuhr Tarvin mit seinem kleinen Freund zum Missionshaus.

»Alle Leute in meinem Palast sagen, daß sie deine Käte sei,« bemerkte er unterwegs.

»Freut mich, daß die Herrschaften das gemerkt haben!« brummte Tarvin ingrimmig in sich hinein.

»Was hast du denn da?« fragte er den Knaben laut, indem er die Hand auf den folglich gehüteten Pack legte.

»Das ist von meiner Mutter, der Königin. Das ist die wirkliche Königin, weißt du, ich bin ja der Prinz. Ich muß auch etwas bestellen.«

Nach Kinderart begann er, seinen Auftrag leise vor sich hin zu flüstern, um ihn ja nicht zu vergessen.

Käte saß auf der Veranda, als der Wagen anfuhr, und ihr trauriges Gesicht hellte sich beim Anblick des Knaben ein wenig auf.

»Die Wache soll nicht in den Garten treten – auf der Straße warten!«

Wagen und Gefolge zogen sich auf diesen Befehl zurück. Der Maharadscha Kunwar streckte Käte das Paket hin, ohne Tarvins Hand dabei loszulassen.

»Es ist von meiner Mutter,« begann er. »Du hast sie ja gesehen. Dieser Mann kann bleiben: er ist« – er suchte ein wenig nach dem Ausdruck – »von Deinem Herzen, nicht wahr? Deine Rede ist seine Rede?«

Käte errötete, aber sie machte keinen Versuch, das Kind zu widerlegen – was hätte sie auch sagen können?

»Und das soll ich dir sagen, zuerst vor allem, bis du es ganz verstehest.«

Das Kind strich sich die baumelnden Smaragden aus der Stirne, richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und sprach zögernd, die ihm eingeprägten Worte aus der heimischen Mundart ins Englische übertragend: »Meine Mutter die Königin – die wirkliche Königin – sagt: ›Drei Monate habe ich daran gearbeitet. Es ist für dich, weil ich dein Angesicht gesehen habe. Was ich gemacht, kann wieder zertrennt werden, und einer Zigeunerin Hände zerstören alles. Bei den Göttern beschwöre ich dich, achte darauf, daß eine Zigeunerin nicht zerstört, was ich gemacht habe, denn mein Leib und meine Seele wohnen darin. Bewahre und schütze mein Werk, das von mir kommt – ein Gewand, daran ich neun Jahre gewebt habe!‹ – Ich kann besser englisch als meine Mutter,« setzte der Knabe im Alltagston hinzu.

Käte öffnete das Paket und entfaltete ein ungeschickt gestricktes Umschlagtuch von grober schwarzer Wolle mit gelben Streifen und schreiend roten Fransen – mit solchen Handarbeiten füllten in Gokral Sitarun Königinnen ihre müßigen Stunden aus.

»Das ist alles,« sagte der Maharadscha Kunwar, ohne sich indes zum Gehen anzuschicken.

Käte drehte die armselige Gabe hin und her und fand keine Worte; die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Der Knabe, der Tarvins Hand noch keinen Augenblick losgelassen hatte, fing plötzlich an, die Botschaft feierlich Wort für Wort zu wiederholen, und seine schmale Hand krampfte sich dabei förmlich um Tarvins Finger.

»Sag deiner Mutter, daß ich ihr sehr dankbar sei,« erwiderte Käte verwirrt und befangen mit unsicherer Stimme.

»Das war die rechte Antwort nicht,« sagte der Knabe mit einem hilfesuchenden Blick auf seinen hochgewachsenen Freund, den neuen Engländer.

Das müßige Geschwätz der Handlungsreisenden auf der Veranda des Rasthauses kam Tarvin in den Sinn, und einen Schritt vortretend, legte er die Hand auf Kätes Schulter und flüsterte dicht an ihrem Ohr: »Begreifst du nicht, was sie meint? Des Knaben Leben – das Gewand, woran sie neun Jahre gewebt hat!«

»Aber was kann ich thun?« stöhnte Käte in tiefster Seele erschrocken.

»Ihn bewachen, ihn ohne Aufhören bewachen! Du begreifst doch sonst so rasch – Sitabhai trachtet ihm nach dem Leben. Du sollst sorgen, daß sie ihm kein Leid anthut.«

Jetzt dämmerte Käte einiges Verständnis – der erste Tag in dem grauenvollen Palast hatte ihr Möglichkeiten genug gezeigt, warum nicht auch die eines Kindermords? Sie hatte schon einen Begriff bekommen von dem Haß zwischen kinderlosen Frauen und den Müttern von Königen! Bewegungslos stand der Maharadscha Kunwar; die Juwelen an seiner Kleidung funkelten im Zwielicht.

»Soll ich’s noch einmal sagen?« fragte er.

»Nein, nein, nein, Kind! O nein!« schrie Käte förmlich auf, indem sie auf den Knieen zu ihm hinrutschte und die kleine Gestalt in überwallendem zärtlichem Mitleid an ihre Brust preßte.

»O Nick, was sollen wir beginnen in diesem gräßlichen Land?« rief sie, in Thränen ausbrechend.

»Ach!« sagte der Knabe vollständig unbewegt. »Wenn ich dich weinen sehe, soll ich gehen!«

Mit heller Stimme nach seiner Leibwache und dem Wagen rufend, ging er die Stufen hinunter. Das häßliche wollene Tuch blieb am Boden liegen.

Schluchzend saß Käte in der jäh hereingebrochenen Dunkelheit. Weder Estes noch seine Frau waren in der Nähe. Das kleine Wörtchen »wir«, das sie in ihrem Jammer ausgestoßen hatte, war für Tarvin eine beseligende Offenbarung gewesen. Er beugte sich über sie und umschlang sie mit seinen Armen; Käte stieß ihn nicht zurück.

»Wir werden’s miteinander durchkämpfen, mein kleines Mädchen!« flüsterte er, ihr bebendes Köpfchen an seiner Schulter bettend.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

»Lieber Freund! Das war nicht recht von Dir; Du hast mir das Leben nur noch schwerer gemacht. Ich weiß, daß ich schwach war; das Kind hatte mich zu sehr erschüttert. Aber ich will vollbringen, was mich hergetrieben hat, und Du sollst mich stärken dabei, nicht hindern, Nick. Bitte, komm in den nächsten Tagen nicht. Ich brauche alles, was ich bin oder zu sein hoffe zu der Arbeit, die vor mir liegt. Ich glaube wirklich gutes wirken zu können, bitte, laß mich’s thun! Käte.«

Dieses Briefchen, das Tarvin am folgenden Morgen erhielt, las er wieder und wieder durch, jedesmal einen neuen Sinn in den schlichten Worten entdeckend. All seine Mutmaßungen konnten aber schließlich doch die Erkenntnis nicht beseitigen, daß Käte, trotz eines Augenblicks der Schwäche, entschlossen war, ihren Pfad zu wandeln. Gegen ihre sanfte Hartnäckigkeit richtete er immer noch nichts aus, und es war ratsam, nicht einmal den Versuch zu wagen. Plauderstündchen auf der Veranda und Schildwache stehen auf ihrem Weg zum Palast waren ja ganz angenehme Beschäftigung, aber im Grund war er doch nicht in Rhatore, um Käte seiner Liebe zu versichern! Topaz, dem die andre Hälfte seines Herzens gehörte, hatte dieses Geheimnis längst vernommen und – Topaz hoffte und harrte auf das Erscheinen der drei C. wie er auf Kätes Erscheinen harrte und hoffte! Sein Mädchen war unglücklich, überreizt, verzagt, aber da er ja Gott sei Dank zur Stelle war, um sie vor ernstlichem Mißgeschick zu bewahren, konnte er sie für den Augenblick getrost Frau Estes‘ Fürsorge und Mitgefühl anvertrauen. Etwas Gutes mußte sie ja schon gewirkt haben in dem ängstlich bewachten Gebiet der Frauen, denn die Mutter des Maharadscha Kunwar vertraute ihr des einzigen Sohnes Leib und Leben an (wer hätte auch umhin können, Käte zu lieben, Käte zu vertrauen?) was aber hatte er seines Teils für Topaz geleistet? Mit dem Maharadscha Pachisi gespielt, das war alles! Die aufgehende Morgensonne warf den Schatten des Rasthauses langgestreckt vor seine Füße. Die Handlungsreisenden kamen einer nach dem andern aus ihren Zellen gekrochen, richteten den ersten Blick auf den mauerumgürteten Koloß Rhatore und sprachen ihren Fluch darüber aus. Tarvin bestieg sein Roß, von dem noch viel zu sagen sein wird, und ritt im Schritt nach der Stadt hinauf, um dem Maharadscha eine Aufwartung zu machen. Er war es, durch den er, wenn überhaupt, in Besitz des Naulahka gelangen mußte. Darum hatte er den Mann sorgfältig beobachtet, die Verhältnisse scharfsinnig erwogen und glaubte nun einen brauchbaren Plan ersonnen zu haben, sich des Maharadscha zu versichern. Ob dieser Plan ihm zum Naulahka verhalf oder nicht, jedenfalls würde er ihm das Vorrecht sichern, in Rhatore zu bleiben. Daß diese Vergünstigung gefährdet war, hatten ihm mehrere Winke von Oberst Nolan begreiflich gemacht und Tarvin hatte erkannt, daß er für seine Anwesenheit einen praktischen, wie auch einleuchtenden Vorwand erfinden müsse, und wenn er den ganzen Staat danach durchsuchen müßte. Um bleiben zu können, mußte er irgend etwas Besonderes ausführen. Was er jetzt vorhatte, war eigenartig genug und sollte ihm in erster Linie das Naulahka eintragen und dann – wenn er überhaupt der Mann war, für den er sich hielt, Käte!

Schon in der Nähe des Thores sah er Käte zu Pferd in Begleitung von Frau Estes den Garten des Missionshauses verlassen.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Kind, ich werde dich nicht belästigen,« sagte er lächelnd vor sich hin, indem er sein Pferd zurückhielt und der Staubwolke nachsah, die von den Pferdehufen aufstieg, »aber wissen möchte ich, was du in solcher Gottesfrühe vorhast.«

Das Elend innerhalb der Palastmauern, das Käte in solchen Jammer versetzt hatte, bildete ja nur einen Teil der selbstgewählten Aufgabe. Wenn im Schatten des Throns solch verzweiflungsvolle Zustände möglich waren, was mochte erst das gemeine Volk auszustehen haben? Käte war jetzt auf dem Weg zum Krankenhaus.

»Es ist nur ein Arzt da für die ganze Anstalt,« teilte ihr Frau Estes unterwegs mit, »und der ist ein Eingeborener, also selbstverständlich ein Müßiggänger.«

»Wie kann ein Mensch hier müßiggehen?« rief Käte, als die unter dem Thorbogen aufgespeicherte Hitze den Durchreitenden um die Schläfen strich.

»In Rhatore lernt jeder träge werden, und zwar rasch,« bemerkte Frau Estes mit einem leisen Seufzer; sie mochte an ihres Mannes hochfliegende Pläne und Hoffnungen und seine jetzige milde Gleichgültigkeit denken.

Käte saß im Sattel, wie nur Westamerikanerinnen, die Reiten und Gehen zugleich lernen, im Sattel sitzen, und ihre wohlgebildete schlanke Gestalt kam dabei zu voller Geltung. Der entschlossene Mut, der aus ihren Augen leuchtete, verlieh ihrem Gesicht eine eigenartige vergeistigte Schönheit; das Bewußtsein, ihrem Ziel so nahe zu sein, den Zweck zweijähriger Arbeit, Kämpfe und Träume erreicht zu haben, färbte ihre Wangen höher. Bei einer Biegung der Hauptstraße lag plötzlich eine Flucht von roten Sandsteinstufen vor ihnen, die zu einem dreistöckigen weißen Sandsteingebäude führten und worauf viele Menschen wartend umherstanden und hockten. Ueber dem Haupteingang des Hauses stand »Allgemeines Krankenhaus«, die Buchstaben waren aber so müde, daß sie sich aneinander lehnen mußten und zu beiden Seiten der Thüre schlaff herunterhingen.

Als Käte die wartende Schar von Weibern überblickte, die in hell- und dunkelrote, indigo und himmelblaue, safrangelbe, rosen- und türkisfarbige rohe Seide gekleidet waren, kam ihr wieder einmal alles unwirklich vor, wie eine Scene aus einem Fabelland. Fast jede der Frauen hatte ein Kind bei sich, das sie in ein Tuch gebunden auf der Hüfte trug, und als Käte vor den Stufen ihr Pferd anhielt, wurde ein allgemeines Wehklagen laut. Die Frauen umdrängten sie, griffen nach dem Steigbügel, nach ihrem Fuß und reichten ihr die Kinder in den Sattel. Eins davon nahm sie und wiegte es zärtlich in ihren Armen. Das kleine Ding war ganz verkohlt vom Fieber.

»Seien Sie vorsichtig,« sagte Frau Estes. »Im Hügelland herrschen die Blattern, und diese Leute haben ja keinen Begriff von Vorsichtsmaßregeln!«

Käte, die den Klagen der Weiber lauschte, gab keine Antwort. Jetzt trat ein stattlicher, weißbärtiger Eingeborener in einem braunen Schlafrock von Kamelhaaren und gelben Lederstiefeln aus dem Hause, trieb die Weiber auseinander und verbeugte sich tief und feierlich vor Käte.

»Sie seien die neue Doktordame?« fragte er. »Spital ganz bereit für Besichtigung … gebt Raum für das Fräulein Sahib!« herrschte er in der heimatlichen Mundart die Weiber an, die Käte noch dichter umringten, als sie vom Pferde stieg. Frau Estes blieb im Sattel und sah sich die Scene von der Höhe an.

Ein ungewöhnlich großes Weib aus der Wüste mit goldgelber Haut und scharlachroten Lippen riß ihr Tuch vom Gesicht, faßte Käte am Handgelenk und machte Miene, sie unter lautem, heftigem Geschrei in einer unverständlichen Sprache mit Gewalt wegzuzerren. Angst und Verzweiflung sprachen indes so verständlich aus ihren Augen, daß Käte widerstandslos folgte. Die Menge teilte sich, und sie gewahrte nun seitwärts von den Stufen ein auf den Knieen liegendes Kamel und auf seinem Rücken einen zum Skelett abgemagerten Mann, der vor sich hinsprach und zwecklos an dem mit Nägeln beschlagenen Sattel zerrte und riß. Die Frau richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf und warf sich dann ohne ein Wort zu Boden, Kätes Knie leidenschaftlich umklammernd. Mit zuckenden Lippen beugte sich Käte nieder, um die Unglückliche aufzurichten, der Doktor aber rief ihr über die Köpfe der Umstehenden weg mit vergnügter Stimme zu: »Hat nichts zu sagen! Hat unheilbaren Wahnsinn, ihr Mann. Bringt ihn immer her!«

»Ja und geschieht denn nichts für ihn?« rief Käte, sich empört umwendend.

»Was kann denn geschehen? Will ihn ja nicht dalassen zur Behandlung, sonst würde ich ihm Zugpflaster setzen!«

»Zugpflaster!« wiederholte Käte entsetzt, indem sie die beiden Hände der Frau ergriff und sie fest in den ihrigen hielt. »Sagen Sie ihr, daß der Mann hier bleiben muß,« befahl sie dem nähergetretenen Doktor.

Er übertrug den Bescheid in die Mundart der Leute. Das Weib atmete tief auf und starrte mit hochgezogenen Brauen in Kätes Gesicht wohl eine halbe Minute lang. Dann führte sie Kätes Hand an die Stirn des Mannes, verhüllte ihr Gesicht und setzte sich in den Staub der Landstraße.

Ganz benommen von solchen Aeußerungen der fremden Volksseele sah Käte die Frau an, dann wallte das Mitleid, das keinen Unterschied der Rassen kennt, heiß in ihr auf und sie beugte sich über die hockende Gestalt und küßte die Stirn der Verzweifelten.

»Man trage den Mann hinauf,« befahl sie mit einer sprechenden Gebärde, und der Kranke wurde sofort aufgehoben, die Stufen hinauf und in das Spital getragen, wobei das Weib hinterdreinschlich wie ein treuer Hund. Einmal wandte sie sich um und sagte ein paar Worte zu den andern, die darüber teils zu weinen, teils zu lachen anfingen.

»Sie sagt,« übersetzte der Doktor mit Schmunzeln, »wer Ihnen ein Haar krümme, den wolle sie totschlagen, und Ihrem Sohn wolle sie die Brust reichen!«

Käte trat zu Frau Estes, die jetzt weiterritt, um höher oben in der Stadt eine Besorgung zu machen, dann folgte sie dem Doktor die Stufen hinauf.

»Sie wollen also unser Spital besichtigen?« fragte er. »Lassen mich erst vorstellen. Ich bin Lalla Dhunpat Raj, approbierter Arzt, studiert im Duff College. Erster Eingeborener meiner Provinz, der Examen gemacht hat. Vor zwanzig Jahren war es.«

Käte sah ihn verwundert an.

»Und wo waren Sie seither?« fragte sie.

»Eine Zeit in meines Vaters Haus, dann Gehilfe in Apotheke in Britisch-Indien, dann haben Hoheit mir gnädigst Stellung verliehen, die jetzt habe.«

Käte zog die Augbrauen in die Höhe: das war also ihr Kollege und sein Lebenslauf! Schweigend traten sie nebeneinander in das Gebäude: Käte hielt ihr Reitkleid auf, um dem massenhaft angesammelten Schmutz des Fußbodens zu entgehen.

In dem mit Unrat erfüllten Mittelhof des Gebäudes standen sechs elende, von Stricken und Bindfäden zusammengehaltene Pritschen von zweifelhafter Sauberkeit und in jeder davon lag ein Mann in weißem Hemd stöhnend, sich herumwerfend und schwatzend. Von der andern Seite kam eine Frau, die eine ranzig riechende süße Speise brachte und vergeblich versuchte, einen von den Männern zum Genuß dieser leckern Schüssel zu bewegen. Im blendenden Sonnenlicht, das durch die kreisrunde Oeffnung der unbedachten Kuppel fiel, stand ein junger, beinah ganz nackter Mann, der die Hände am Hinterkopf verschränkt hielt und unmittelbar in die Sonne starrte. Jetzt stimmte er einen Gesang an, brach aber gleich wieder ab und lief von Bett zu Bett, jedem Kranken für Käte unverständliche Worte zurufend. Dann stellte er sich wieder auf seinen Posten in den Sonnenkreis und fuhr in seinem Gesang fort.

»Auch unheilbar Wahnsinn,« erklärte der Doktor seiner Begleiterin. »Viele Zugpflaster gesetzt, stark geschröpft, will gar nicht mehr fort von hier. Ist ganz harmlos, außer wenn sein Opium nicht bekommt!«

»Sie werden doch Ihren Kranken nicht gestatten, Opium zu essen?« rief Käte.

»Natürlich gestatten ich! Würden sonst sterben, wie die Fliegen. Alle Leute in Radschputana Opiumesser von klein auf.«

»Und Sie selbst?« fragte Käte entsetzt.

»Früher nicht gethan, nicht eh‘ ich hier kam, aber jetzt…« Er zog eine vom langen Gebrauch abgeschliffene Zinndose aus der Tasche und entnahm ihr Kätes Schätzung nach eine ganze handvoll Opiumpillen. Die Verzweiflung umbrandete sie förmlich und schlug über ihr zusammen.

»Zeigen Sie mir die Frauenabteilung,« sagte sie mutlos.

»O, Frauen sind oben, unten, ringsum,« erwiderte der Doktor aufs Geratewohl.

»Und die Wöchnerinnen?« fragte sie.

»Wo es eben Platz gibt.«

»Wer besorgt die Entbindungen und wartet sie?«

»Mögen mich nicht leiden; kommt sehr geschickte Frau, Hebamme, von auswärts; kommt hierher.«

»Ist sie geschult, richtig ausgebildet?«

»Hat großen Ruf in ihrem Dorf, halten viel von ihr,« versetzte der Doktor. »Ist jetzt hier, wenn sehen wollen.«

»Wo ist sie?« fragte Käte.

Dhunpat Raj, der allmählich in eine etwas unbehagliche Stimmung geraten war, beeilte sich, seinen Gast eine enge, dunkle Treppe hinaufzuführen bis zu einer Thüre, aus der ihnen der Weheruf erwachenden Lebens entgegen drang. Käte riß die Thüre mit Ungestüm auf. Es war dies die richtige Abteilung für Wöchnerinnen, und die Wärterin bestreute eben die aus Thon und Kuhmist geformten Bilder zweier Gottheiten mit Ringelblumenknospen. Alle Fenster waren fest geschlossen, jede Mauerritze, durch die ein Luftzug hätte eindringen können, zugestopft, in einer Zimmerecke loderte das »Geburtsfeuer«, dessen Qualm und Rauch der eintretenden Käte entgegenschlug.

Was zwischen ihr und der in ihrem Dorf so hochgeschätzten klugen Frau vorfiel, hat niemand je erfahren. Die neue »Doktordame« blieb über eine halbe Stunde in dem Zimmer, die kluge Frau aber verließ es lange vor ihr, und zwar leise vor sich hinkichernd und mit zerzausten Haaren.

Nach der Bekanntschaft mit diesem Raum war Käte auf alles gefaßt, sogar auf die Beschaffenheit der Arzneimittel in der Apotheke, wo der Mörser niemals gereinigt und alle Arzneien anders gemacht wurden, als je ein Arzt sie aufschreiben würde; meist nahm man die doppelte Dosis. Mut- und hoffnungslos ließ sie sich von einem ungesäuberten, ungelüfteten, moderigen, dunkeln Zimmer zum andern führen. Die Kranken durften ihre Freunde zu jeder Zeit und in jeder Anzahl empfangen und alle Speisen und Getränke zu sich nehmen, die mißverstandene Güte ihnen anbot. Trat der Tod ein, so standen die Trauernden um die wackelige Bettstelle her und erhoben ein Klagegeheul, dann trug man den splitternackten Leichnam unter Jubelrufen der Geisteskranken zwischen allen Kranken über den Hof und in die Stadt hinein – was für Ansteckungsstoffe man ihr zutrug, das focht niemand an.

Auch während der Krankheit wurde an Absonderung ansteckender Fälle nicht gedacht. An den Augen operierte Kinder spielten leichtherzig mit ihren Besuchen zwischen den Betten der Diphtheritiskranken. Nur in einem Punkt war dieser Doktor stark, in diesem aber auch sehr; er behandelte nämlich mit großem Erfolg das offenbar sehr häufige Uebel, das er als »Lendenbiß« ins Tagebuch eintrug. Die Holzhauer und Hausierhändler, die genötigt waren, einsame Straßen des Staats Gokral Sitarun zu wandeln, wurden nicht selten von Tigern angefallen, und in diesen Fällen griff der Doktor, der ganzen englischen Pharmakopöe den Abschied gebend, auf uralte »lokale« Volksmittel zurück, die gerade in dieser Gegend in Ansehen standen, und wirkte damit Wunder. Nichtsdestoweniger war es nötig, ihm begreiflich zu machen, daß hinfort nur ein Wille im Staatsspital galt, und daß Fräulein Käte Sheriffs Befehle unweigerlich und pünktlich ausgeführt werden mußten.

Der Umstand, daß Käte auch die Frauen im Palast in Behandlung hatte, hielt Dhunpat Raj ab, Einsprache dagegen zu erheben, auch hatte er während seiner Amtszeit schon manche Reformbestrebungen und Anläufe zu neuer Organisation durchgemacht und durch seine Unthätigkeit und Glattzüngigkeit lahmgelegt, so daß er hoffen durfte, auch mit dieser Wendung zum Besseren fertig zu werden! Er bückte und beugte sich, gab Käte in allen Stücken recht, nahm ihre Vorwürfe gelassen hin und wiederholte nur immer sein entschuldigendes Wort: »Spital erhält vom Staat nur hundertfünfzig Rupien im Monat – wie soll man um dieses Geld Mittel kommen lassen, den langen Weg von Kalkutta?«

»Diese Bestellung bezahle ich,« erklärte ihm Käte, die auf dem Pult des als Amtsstube benützten Badezimmers ein Verzeichnis der unentbehrlichsten Droguen und Verbandmittel aufsetzte, »und was ich sonst für nötig halte, werde ich auch auf meine Kosten anschaffen,«

»Aber Bestellungen gehen offiziell durch mich?« schlug Dhunpat Raj, den Kopf auf die Seite legend, vor.

Da Käte keine überflüssigen Schwierigkeiten machen und haben wollte, that sie ihm hierin den Willen. Angesichts dieser Elenden, die unbehütet und ungepflegt, ganz der Gnade dieses Menschen preisgegeben, in den dumpfigen Stuben lagen, konnte man nicht über äußere Vorteile rechten.

»Jawohl, das versteht sich,« sagte sie daher entschieden, und als der Doktor den Umfang und Geldwert ihrer Bestellung überschlug, fand er, daß er sich unter solchen Umständen viel gefallen lassen könne.

Nach dreistündigem Aufenthalt verließ Käte das Haus, vor Müdigkeit, Hunger und Herzweh dem Umsinken nahe.