Im Hause Suddhoos

Im Hause Suddhoos

Suddhoos Haus unweit vom Taksali-Tor hat zwei Stockwerke, vier geschnitzte Fenster aus altem braunen Holz und ein flaches Dach. Man erkennt es an den fünf roten Handabdrücken auf der weißen Kalkwand zwischen den oberen Fenstern, ganz in der Stellung der Karo-Fünf. Im unteren Stock wohnen Bhagwan Daß, der Kornhändler, und ein Mann, der sich angeblich seinen Lebensunterhalt mit Stempelschneiden verdient, samt einer Schar von Weibern, Dienern, Freunden und Anhängern. Die beiden oberen Räume hatten früher Janoo und Azizun inne, mit einem kleinen schwarz und braun gefleckten Terrier, den ein Soldat einem Engländer gestohlen und Janoo geschenkt hatte. Heute wohnt nur noch Janoo in den oberen Räumen. Suddhoo schläft jetzt gewöhnlich oben auf dem Dache, wenn er nicht auf der Straße nächtigt. Früher pflegte er in der kalten Zeit nach Peschawar auf Besuch zu seinem Sohne zu gehen, der am Edwardstor mit Raritäten handelt, und dann schlief er unter einem wirklichen Lehmdach. Suddhoo ist mein guter Freund, denn sein Vetter hat einen Sohn, der dank meiner Empfehlung bei einer großen Firma unseres Ortes erster Markthelfer geworden ist. Suddhoo sagt, Gott wird mich eines Tages zum Vizegouverneur machen. So Gott will, wird diese Prophezeiung sich erfüllen. Suddhoo ist sehr, sehr alt, hat weißes Haar und kaum noch einen Zahn. Er hat seinen Verstand überlebt. Er hat fast alles überlebt, nur nicht die Liebe zu seinem Sohn. Janoo und Azizun sind Kashmiris, – sie sind viel auf der Straße – und geben einem seit altersher mehr oder minder ehrenwerten Berufe nach. Später hat Azizun einen Studenten der Medizin aus Nordwestindien geheiratet und führt seither ein höchst achtbares Leben irgendwo in der Nähe von Bareilly. Bhagwan Daß ist ein Wucherer und Fälscher. Er ist sehr reich. Der Mann, der vorgeblich seinen Lebensunterhalt mit Stempelschneiden verdient, heuchelt tiefe Armut. Mehr braucht man von den vier Hauptbewohnern des Hauses Suddhoos nicht zu wissen. Ich bin zwar auch noch da, aber ich bin nur der Chor, der zum Schluß auftritt, um alles zu erklären. Ich werde daher nicht mitgerechnet.

Suddhoo war nicht klug. Der Mann, der angeblich Stempel schnitt, war – denn Bhagwan Daß konnte nur lügen – der Klügste von allen, ausgenommen Janoo. Sie war außerdem schön. Aber das geht uns nichts an.

Suddhoos Sohn in Peschawar bekam Rippenfellentzündung, und der alte Suddhoo war in großer Sorge. Der Stempelschneider hörte von seiner Besorgnis und schlug Kapital daraus. Er stand auf der Höhe seiner Zeit. Er beauftragte einen Freund in Peschawar, ihm täglich die Krankheitsberichte zu telegraphieren. Und damit beginnt die Geschichte.

Der Sohn von Suddhoos Vetter teilte mir eines Abends mit, daß Suddhoo mich zu sprechen wünsche; daß er aber zu alt, zu gebrechlich sei, um zu mir zu kommen, und daß das Haus Suddhoos in alle Ewigkeit geehrt sein würde, wenn ich zu ihm käme. Ich fuhr also hin. Suddhoo hätte einem zukünftigen Vizegouverneur wirklich bei seiner damaligen Wohlhabenheit ein besseres Fuhrwerk schicken können als eine Ekka, die schrecklich stieß und rüttelte, wenn er ihn schon an einem feuchten Aprilabend in die Stadt schleifen mußte. Die Ekka fuhr nicht gerade schnell. Es war tiefe Nacht, als sie der Tür des Grabmales Ranjit Singhs gegenüber nahe am Haupttor der Festung anhielt. Suddhoo erwartete mich und sagte, daß ich dank meiner Leutseligkeit ganz ohne Zweifel Vizegouverneur werden würde, ehe noch mein Haar ergraute. Wir sprachen eine Viertelstunde lang unter dem Sternenhimmel über das Wetter, über meine Gesundheit und über die Weizenernte.

Endlich kam Suddhoo zur Sache. Er erklärte, daß Janoo ihm gesagt hätte, es gäbe eine Regierungsverfügung gegen Zauberei, weil man fürchte, Zauberei könne eines Tages den Tod der Kaiserin von Indien herbeiführen. Ich kannte die Gesetze nicht, aber ich ahnte, daß sich etwas Interessantes begeben würde. Daher sagte ich, daß die Regierung weit davon entfernt sei, die Zauberei zu mißbilligen, daß sie sie im Gegenteil besonders empfehle; die höchsten Staatsbeamten übten sie selber aus. (Wenn der Finanzbericht keine Zauberei ist, dann weiß ich nicht, was überhaupt Zauberei sein soll.) Und dann sagte ich zu seiner Beruhigung, daß ich, falls eine Zauberei im Gange sei, nicht das mindeste dawider hätte; ich würde sie gerne gutheißen und unterstützen, ja sogar darauf achten, daß es »Reine Jadoo« – guter Zauber – bliebe, wohl zu unterscheiden vom bösen Zauber, der den Menschen den Tod brächte. Es dauerte lange, bis Suddhoo zugab, daß er mich gerade darum hergebeten hatte. Ruckweise und mit zitternder Stimme erzählte er mir, daß der Stempelschneider ein durchaus guter Zauberer wäre. Er gäbe ihm tagtäglich Nachricht von seinem kranken Sohne in Peschawar, Nachrichten schneller als Blitze, die immer von den Briefen bestätigt würden. Außerdem hätte er gesagt, daß seinem Sohne große Gefahr drohe, die durch »Guten Zauber« und – natürlich – nur mit Aufwand großer Geldmittel behoben werden könnte. Ich fing an zu verstehen, wie der Hase lief, und sagte Suddhoo, ich verstünde auch ein wenig Zauberei, allerdings nach den Regeln des Westens, und ich wollte mit ihm in sein Haus gehen und achten, daß alles recht und ordnungsgemäß zuginge. Wir zogen zusammen los, und unterwegs berichtete mir Suddhoo, daß er dem Stempelschneider schon ein – zweihundert Rupien bezahlt hätte, und daß der heutige Zauber noch zweihundert Rupien kosten würde. Und das wäre doch billig, sagte er, bei der großen Gefahr, die über seinem Sohne schwebte. Ich glaube nicht, daß er diesen Ausspruch aufrichtig meinte.

Die Lampen vorn am Hause waren alle verhängt, als wir kamen. Aus dem Laden des Stempelschneiders drangen entsetzliche Töne, als stöhne sich jemand die Seele aus dem Leib. Suddhoo zitterte am ganzen Körper und sagte mir, während wir uns die Treppe hinauftasteten, daß der Zauber begonnen hätte. Janoo und Azizun erwarteten uns oben an der Treppe und teilten uns mit, daß die Zauberei in ihren Räumen vor sich gehen würde, weil da mehr Platz wäre. Janoo ist eine Freidenkerin. Sie flüsterte mir zu, der Zauber wäre ein Vorwand, um Suddhoo Geld zu erpressen, und der Stempelschneider würde nach seinem Tode wohl an einen feurigen Ort kommen. Der alte Suddhoo weinte vor Furcht und Schwäche. Er ging im Halbdunkel durch das Zimmer auf und nieder, und wiederholte immer und immer wieder den Namen seines Sohnes. Er fragte Azizun, ob der Stempelschneider den Preis nicht ermäßigen müßte, da er doch sein Hauswirt wäre. Janoo zog mich in die Nische eines der geschnitzten Bogenfenster. Die Fensterläden waren geschlossen, und nur eine winzige Öllampe brannte im Zimmer. Wenn ich mich still verhielt, konnte ich unmöglich bemerkt werden.

Nach einer Weile hörte das Stöhnen unten auf, und wir hörten Schritte auf der Treppe. Es war der Stempelschneider. Er stand vor der Tür still, und der Terrier schlug an. Azizun tastete nach der Kette, und er rief Suddhoo zu, er solle das Licht ausblasen. Völlige Dunkelheit herrschte im Zimmer, bis auf den rötlichen Schein von Janoos und Azizuns glimmenden Wasserpfeifen. Der Stempelschneider trat ein, und ich hörte, wie Suddhoo sich auf den Fußboden niederwarf und stöhnte. Azizun hielt den Atem an, und Janoo erschauderte und trat zurück auf eines der Betten zu. Metall klirrte, und eine blasse, blaugrüne Flamme schoß vom Boden empor. Es wurde gerade hell genug, daß ich in eine Zimmerecke gekauert Azizun mit dem Terrier auf dem Schoß sehen konnte. Janoo saß mit gefalteten Händen vornübergebeugt auf dem Bett. Suddhoo lag bebend mit dem Gesicht auf dem Boden. Und der Stempelschneider – –

Hoffentlich wird mir eine Gestalt wie die des Stempelschneiders nicht noch einmal im Leben zu Gesicht kommen. Er war nackt bis zu den Hüften und trug einen faustdicken Jasminkranz um die Stirn, einen fleischroten Schurz um die Lenden und Stahlringe an den Fußgelenken. Aber all das war nicht das Furchtbare. Sein Gesicht ließ mir das Blut erstarren. Blaugrau war es, die Augen waren verdreht, daß nur noch das Weiße schimmerte; es war das Antlitz eines Dämons, eines Grabgespenstes, es war alles, nur nicht das Gesicht des schlauen, geschmeidigen alten Fuchses, der tagsüber unten an seiner Drehbank saß. Er lag auf dem Leib, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, als hätte man ihn in Fesseln zu Boden geworfen. Kopf und Hals allein waren hochgereckt. Sie standen fast rechtwinklig zum Körper, wie der Kopf einer Kobra, die gerade emporschnellen will. Es war grauenvoll. Mitten im Zimmer stand auf dem nackten Lehmboden ein großes, tiefes Messingbecken, und in seiner Mitte wieder schwamm wie ein Nachtlicht ein blasses, blaugrünes Licht. Dreimal wand sich der Mann auf dem Boden um das Becken. Wie er das tat, weiß ich nicht. Ich sah die Muskeln längs der Wirbelsäule kraus und wieder glatt werden, aber eine andere Bewegung sah ich nicht. Außer den langsam und schwer arbeitenden Rückenmuskeln, die wie Wellen auf und nieder gingen, schien nur noch der Kopf Leben zu haben. Janoos hastige Atemzüge klangen vom Bett her. Azizun hielt sich die Hände vor die Augen, und der alte Suddhoo wischte den hängengebliebenen Staub aus seinem weißen Bart und weinte vor sich hin. Das furchtbarste war, daß das schleichende Wesen geräuschlos herumkroch – völlig geräuschlos. Es dauerte – man bedenke, – zehn Minuten lang, während der Terrier winselte, Azizun zitterte, Janoo keuchte und Suddhoo weinte.

Ich fühlte, wie sich mir das Haar sträubte und mein Herz wie der Kolben einer Maschine hämmerte. Zum Glück verriet sich der Stempelschneider gerade mit seinem kunstvollsten Kniff und gab mir so meine Ruhe wieder. Er blies nämlich nach der dritten unbeschreiblichen Umkreisung des Messingbeckens einen Feuerstrahl durch die Nase. Nun weiß ich aber, wie man Feuer speit – ich kann es auch – und fühlte mich erleichtert. Die ganze Sache war also Schwindel. Weiß der Himmel, was ich alles geglaubt hätte, wenn er sich mit dem Kriechen begnügt hätte, ohne den Versuch, stärkere Wirkungen zu erzielen. Die beiden Mädchen schrien auf vor dem Feuerstrahl. Des Stempelschneiders Kopf schlug mit dem Kinn dumpf auf den Boden, und nun lag sein Leib da mit schlaffen Armen wie ein Leichnam. Fünf Minuten war Ruhe, und die blaugrüne Flamme erstarb. Janoo bückte sich und rückte einen Knöchelring zurecht, während Azizun den Terrier in die Arme nahm und sich der Wand zudrehte. Mechanisch griff Suddhoo nach Janoos Wasserpfeife. Sie schob sie ihm mit dem Fuß zu. Gerade über des Stempelschneiders Körper hingen an der Wand zwei Papprahmen mit den grellen Bildern der Königin und des Prinzen von Wales. Sie blickten herab auf das Schauspiel und ließen es noch possenhafter erscheinen.

Als die Stille unerträglich zu werden begann, drehte sich der Körper, rollte vom Becken zur Wand hin und blieb mit dem Leib nach oben liegen. In dem Becken ging es »Plum«, gerade wie wenn ein Fisch nach einer Fliege schnappt, und das grüne Licht in der Mitte lebte wieder auf.

Ich blickte nach dem Becken hin und sah den verschrumpften, runzeligen Kopf eines Hindukindes mit offenen Augen, offenem Mund und glatt geschorenem Haar im Wasser auf und nieder tauchen. Das Kriechen vorher war nicht so schlimm, weil es nicht so unerwartet kam. Ehe wir ein Wort sagen konnten, hob der Kopf an zu reden.

Selbst der, der Poes Bericht über die Stimme des magnetisierten Sterbenden kennt, wird nicht halb das Grauen nachfühlen können, das die Stimme dieses Kopfes schuf.

Zwischen jedem Wort war eine Pause von ein bis zwei Sekunden, und das helle »Ping-Ping-Ping« glich dem Ton einer Tischglocke. Einige Minuten tönte es fort, als gälte es nur sich selbst, und erst allmählich trat mir der kalte Schweiß wieder zurück. Ich fand die glückliche Lösung. Ich blickte auf den Körper neben der Tür, und sah den Muskel zwischen Hals und Schulter, der mit dem regelrechten Atem eines Menschen nichts zu tun hat, gleichmäßig zucken. Das Ganze war nichts als eine genaue Wiedergabe des ägyptischen Teraphim, von dem man zuweilen liest, und die Stimme ein so geschicktes und erschreckendes Bauchrednerstückchen, wie man es sich nicht besser wünschen kann. Der Kopf schlug immerwährend plätschernd gegen den Rand des Beckens und redete. Er sprach Suddhoo, der wieder winselnd mit dem Gesicht am Boden lag, von der Krankheit seines Sohnes und von ihrem Verlauf bis zum Abend des gleichen Tages. Ich werde es dem Stempelschneider nie vergessen, daß er sich so folgsam an die Telegramme aus Peschawar hielt. Er erzählte, daß Tag und Nacht erfahrene Ärzte über dem Leben des Sohnes wachten, und daß er genesen könnte, wenn der Lohn für den mächtigen Zauberer, dessen Diener der Kopf im Becken sei, verdoppelt würde.

Vom künstlerischen Standpunkt aus lag darin der Fehler. Das Doppelte des bedingten Lohnes fordern, ist lächerlich, wenn man es mit einer Stimme tat, wie sie der auferstandene Lazarus gehabt haben mochte. Janoo, die wirklich eine Frau von männlichem Verstande ist, erkannte das gleichzeitig mit mir. Sie flüsterte verächtlich: »Asli Nahm! Fareib!« Und im selben Augenblick verlosch das Licht im Becken, der Kopf verstummte, und die Tür knarrte in den Angeln. Janoo schlug Licht und zündete die Lampe an. Kopf, Becken und Stempelschneider waren verschwunden. Suddhoo rang die Hände und klagte allen, die ihm zuhörten, daß er nicht noch einmal zweihundert Rupien aufbringen könnte, und wenn auch seine ewige Seligkeit davon abhängen sollte. Azizun hatte förmlich hysterische Anfälle in ihrer Ecke, während Janoo sich gelassen aufs Bett setzte, um zu erörtern, ob das Ganze nicht doch nur Mache – ein »Bunao« – sei.

Ich erklärte ihr, so gut ich konnte, den Zauber des Stempelschneiders. Aber ihre Beweise waren viel einfacher. »Zauber, der stets bezahlt sein will, ist kein echter Zauber«, sagte sie. »Meine Mutter hat immer gesagt, daß auch ein Liebeszauber nur wirksam ist, wenn er als Liebesdienst gegeben wird. Der Stempelschneider ist ein Lügner und ein Teufel. Und wäre ich Bhagwan Daß, dem Kornhändler, nicht zwei goldene Ringe und einen teueren Knöchelring schuldig, dann wollte ich schon Anzeige machen und sorgen, daß er bestraft wird. Aber ich wage es nicht, denn ich muß mein Essen bei Bhagwan Daß kaufen, und der Stempelschneider ist sein Freund und würde es mir vergiften. Schon zehn Tage dauert der närrische Zauber, und er hat Suddhoo jede Nacht viele Rupien gekostet. Bis heute hat der Stempelschneider immer nur schwarze Hennen und Zitronen und alte Zaubersprüche benutzt. Was er heute getan hat, hat er noch nie getan. Azuzin ist eine Närrin; sie wird bald einen Frauenschleier tragen. Suddhoo hat den Verstand und alle Kraft verloren. Sieh, ich hatte gehofft, von Suddhoo viele Rupien zu bekommen, solange er lebte, und noch mehr nach seinem Tode. Aber siehe da, er gibt sein Alles hin an den Sproß eines Teufels und einer Eselin, an diesen Stempelschneider.«

»Warum zog mich Suddhoo denn mit in diese Sache?« warf ich ein. »Ich könnte ja mit dem Stempelschneider reden, und dann müßte er alles zurückerstatten. Das Ganze ist eine Kinderei, eine Schande, ein Unsinn.«

»Suddhoo ist nun einmal ein altes Kind«, sagte Janoo. »Da hat er nun siebzig Jahre oben auf den Dächern gelebt und ist so dumm wie eine junge Ziege. Er hat von Ihnen wissen wollen, ob er auch nicht etwa ein Gebot der Regierung übertrete, deren Brot er vor vielen Jahren gegessen. Er betet den Staub auf den Füßen des Stempelschneiders an, und dieser Nimmersatt hat ihm verboten, den Sohn zu besuchen. Was weiß denn auch Suddhoo von den Gesetzen und von der Blitzpost. Und ich muß mit ansehen, wie er sein Geld tagtäglich an den Lügenhund da unten wegwirft.«

Janoo stampfte mit dem Fuß auf und weinte fast vor Wut. Suddhoo wimmerte im Winkel unter einer Decke, und Azizun versuchte, dem alten Narren die Pfeife in den Mund zu schieben.

*

Heute liegt die Sache folgendermaßen: ich habe mich gedankenlos der Beschuldigung ausgesetzt, dem Stempelschneider dazu verholfen zu haben, Geld unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu erwerben. Und das verbietet Paragraph 420 des Indischen Strafgesetzbuches. Ich bin also nicht ohne Grund hilflos. Ich kann der Polizei keine Anzeige erstatten, denn ich habe keine Zeugen für meine Aussagen. Janoo weigert sich entschieden, und Azizun weilt irgendwo in der Nähe von Bareilly, unauffindbar in dem großen Indien. Ich selbst wage es nicht, selbst Gesetz zu spielen und mit dem Stempelschneider zu reden. Denn ich bin fest überzeugt, bei Suddhoo keinen Glauben zu finden, und außerdem würde dieser Schritt Janoos Vergiftung nach sich ziehen, die ihre Schuld mit Hand und Fuß an den Kornhändler fesselt. Suddhoo ist kindisch. So oft wir uns begegnen, redet er murmelnd über meinen dummen Witz, daß die Regierung die schwarze Kunst eher begünstige als verbiete. Sein Sohn ist jetzt gesund, aber Suddhoo steht noch immer vollständig im Banne des Stempelschneiders, nach dessen Rat er sein Leben einrichtet. Janoo muß tagtäglich zusehen, wie der Stempelschneider das Geld einheimst, das sie Suddhoo abschmeicheln zu können gehofft hatte; und sie wird tagtäglich wütender und verdrossener. Sie wird nie reden, weil sie es nicht wagt. Aber, wenn sie nicht durch irgend etwas abgehalten wird, wird der Stempelschneider, fürchte ich, wohl Mitte Mai an der Cholera sterben, an der Choleraart, die weißes Arsenik zum Erreger hat. Und ich werde zum Mitschuldigen werden an einem Morde im Hause Suddhoos.

Drei Walzer – – und eine Extratour

Drei Walzer – – und eine Extratour

In der Ehe tritt immer eine Reaktion ein, manchmal eine starke, manchmal eine schwache, aber früher oder später kommt sie. Sie muß von ihr und von ihm überwunden werden, wenn sie beide ihr ferneres Leben lang nicht gegen den Strom schwimmen wollen.

Bei den Cusack-Bremmils trat die Reaktion erst im dritten Ehejahre ein. Selbst in der besten Zeit war Bremmil schwer zu fesseln gewesen. Aber, bis das Baby starb, war er doch ein idealer Gatte. Mrs. Bremmil ging in Schwarz, magerte ab und trauerte, als wenn dem Weltall der Boden ausgefallen wäre. Bremmil hätte sie vielleicht trösten sollen. Er versuchte es wohl auch; allein je mehr er tröstete, um so mehr grämte sich Mrs. Bremmil, und um so ungemütlicher fühlte sich folglich Bremmil. Tatsache war es, daß sie beide einer Arznei bedurften. Und das Heilmittel kam. Heute kann Mrs. Bremmil darüber lachen, aber damals erschien ihr die Sache gar nicht lächerlich.

Mrs. Hauksbee erschien nämlich auf der Bildfläche; und wo die hinkam, blieben Unruhe und Aufregung meistens nicht aus. In Simla nannte man sie die »Sturmschwalbe«; allein meines Wissens nach hatte sie sich diesen Beinamen schon fünfmal verdient. Sie war eine kleine, brünette, schlanke, mehr als schlanke Frau mit großen, lebhaften veilchenblauen Augen und den reizendsten Manieren von der Welt. Man konnte ihren Namen bei keinem Nachmittagstee erwähnen, ohne daß nicht jede Frau im Zimmer aufstand und – – nun, nicht gerade Segen auf ihr Haupt herabflehte. Sie war klug, witzig, geistvoll und sprühender als die meisten Frauen, aber von allen Teufeln der Bosheit und des Mutwillens besessen. Sie konnte nett sein, sogar zu ihrem eigenen Geschlecht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bremmil ging seiner Wege nach dem Tode des Babys und nach der allgemeinen Ungemütlichkeit, die dem folgte. Und Mrs. Hauksbee nahm ihn in Beschlag. Sie legte keinen Wert darauf, ihre Eroberungen zu verheimlichen. Sie nahm ihn öffentlich in Beschlag und sah darauf, daß man es sah. Er ritt mit ihr, er ging mit ihr spazieren, er plauderte mit ihr, machte Ausflüge mit ihr und frühstückte mit ihr bei Feliti, bis man die Stirne runzelte und »shocking« rief! Mrs. Bremmil blieb zu Hause, kramte unter den Sachen ihres toten Kindes und weinte über der leeren Wiege. Sie wollte von nichts anderem wissen. Aber schließlich machte ihr doch ein halb Dutzend guter Freundinnen ihre Lage klar, damit ihr ja nicht das Beste daran verloren ginge. Mrs. Bremmil nahm es ruhig hin und bedankte sich für den Liebesdienst. So klug wie Mrs. Hauksbee war sie nicht, aber sie war nicht dumm. Sie behielt alles für sich und sprach auch Bremmil nicht von dem, was sie gehört hatte. Das sollte man sich merken. Reden halten, oder über einen Mann weinen, hat noch nie genützt.

Wenn Bremmil zu Hause war, was selten geschah, war er zärtlicher als gewöhnlich; und dadurch zeigte er seine Karten. Die Zärtlichkeit sollte einerseits sein Gewissen, andererseits Mrs. Bremmil beschwichtigen. Beides mißlang.

Da wurden »Mr. und Mrs. Cusack-Bremmil zum 26. Juli 9½ Uhr nach Peterhoff gebeten. Im Auftrag Ihrer Exzellenzen Lord und Lady Lytton, der diensttuende Adjutant.« In der linken Ecke unten: »Es wird getanzt.«

»Ich kann nicht gehn,« sagte Mrs. Bremmil. »Es ist zu kurz – – die arme kleine Florrie – – Aber das braucht ja dich nicht abzuhalten, Tom.«

Im Augenblick meinte sie, was sie sagte, und Bremmil erwiderte, er wolle schon hingehen, natürlich nur, um die Form zu wahren. Er sagte die Unwahrheit, und Mrs. Bremmil wußte es. Sie ahnte, – – und die Ahnungen einer Frau sind zuverlässiger als eines Mannes Gewißheit, – – daß er von Anfang an hatte gehen wollen, und zwar mit Mrs. Hauksbee. Sie saß und überlegte, und das Ergebnis dieser Überlegung war die Erkenntnis, daß das Andenken eines toten Kindes die Zuneigung eines lebenden Gatten bei weitem nicht aufwiegt, Sie entwarf ihren Plan und setzte ihr Alles darauf. In jener Stunde wurde ihr klar, daß sie Tom Bremmil bis ins Tiefste kannte, und diese Erkenntnis setzte sie in die Tat um.

»Tom,« sagte sie, »am 26. abends bin ich bei Longmores zu Tisch. Willst du nicht lieber im Klub essen?«

Damit ersparte sie Bremmil eine Ausrede, mit der er sich zum Essen mit Mrs. Hauksbee hatte frei machen wollen. Er war ihr dankbar dafür, kam sich aber zugleich kleinlich und schlecht vor. Und das schadete ihm nichts. Bremmil verließ das Haus um fünf Uhr, um auszureiten. Gegen halb sechs kam ein großer lederüberzogener Korb von Phelps für Mrs. Bremmil. Sie war eine Frau, die sich zu kleiden verstand; und sie hatte nicht umsonst eine Woche damit zugebracht, dies Kleid zu entwerfen, es zu schneiden, säumen, versteifen, es bauschen und rauschen machen zu lassen, oder wie die Ausdrücke alle heißen mögen. Es war ein pompöses Kleid, – Halbtrauer natürlich. Ich kann’s nicht beschreiben, aber die »Queen« hätte es eine »Creation« genannt. Es war ein niederschmetterndes, atemberaubendes Kleid. Sie ging nicht gerade mit Mut an die Ausführung ihres Planes. Aber als sie vor dem großen Spiegel stand, mußte sie sich mit Genugtuung gestehen, daß sie nie in ihrem Leben so gut ausgesehen hatte. Sie war eine große Blondine und hatte, wenn sie wollte, eine prachtvolle Haltung.

Nach dem Essen bei Longmores ging sie auf den Ball nicht allzufrüh – und traf in der Tür Bremmil, Mrs. Hauksbee am Arm. Ihr Blut wallte auf, und sie sah einfach herrlich aus, als sich die Herren um ihre Tanzkarte rissen. Sie vergab alle Tänze, bis auf drei, und die ließ sie frei. Mrs. Hauksbee fing von ihr einen Blick auf und wußte, daß er Krieg zwischen ihnen bedeutete, Krieg bis aufs Messer. Sie ging schon etwas benachteiligt in den Kampf, denn sie hatte Bremmil ein ganz klein wenig zu viel herumkommandiert, und er fing gerade an, es lästig zu finden. Überdies war ihm seine Frau nie so reizvoll erschienen. Er staunte sie von der Saalecke aus an, er starrte ihr von den Gängen aus nach, wenn sie mit ihren Tänzern vorbeiging, und je mehr er starrte, um so mehr nahm sie ihn gefangen. Er konnte kaum glauben, daß das dieselbe Frau war, die mit roten Augen und im wollenen Trauerkleide morgens über dem Frühstückstisch weinte.

Mrs. Hauksbee tat ihr Bestes, ihn auf ihrer Seite zu behalten, aber schon nach den nächsten zwei Tänzen ging er zu seiner Frau über und bat sie um einen Tanz.

»Ich fürchte, Sie kommen zu spät, Mister Bremmil,« sagte sie mit schelmisch blitzenden Augen.

Er mußte um einen Tanz betteln und erhielt schließlich als große Gunst den fünften Walzer. Glücklicherweise war der fünfte auf seiner Karte frei.

Sie tanzten zusammen, und durch den Saal ging eine leise Bewegung. Bremmil hatte eine dunkle Ahnung gehabt, daß seine Frau tanzen könne, aber daß sie so göttlich tanze, war ihm neu. Nach dem ersten Walzer erbat er einen zweiten – selbstverständlich als große Gunst, nicht etwa als sein Recht. Und Mrs. Bremmil sagte: »Zeig mir deine Tanzkarte, mein Schatz.« Er zeigte sie ihr, wie ein Schuljunge seinem Lehrer verbotene Süßigkeiten aushändigt. Sie war mit H.’s besät, auch bei der Tischführung stand ein H. – Mrs. Bremmil sagte gar nichts, aber sie lächelte verächtlich und strich mit dem Bleistift Nummer 7 und 9, – zwei H.s, – aus und gab sie ihm mit ihrem Namen, – einem Kosenamen, den nur sie und er gebrauchten, – zurück. Dann drohte sie ihm mit dem Finger und sagte lachend: »Du dummer, dummer Kerl!«

Mrs. Hauksbee hatte das gehört und fühlte, daß sie den Kürzeren gezogen hatte, wie sie später gestand. Bremmil nahm den siebenten und neunten dankbar an. Den siebenten tanzten sie, den neunten versaßen sie in einem der kleinen Zelte. Was Bremmil sagte, und auch was Mrs. Bremmil sagte, geht keinen von uns etwas an.

Als die Musik »The Roast Beef of Old England« zu spielen begann, gingen die beiden auf die Veranda, und Bremmil sah sich nach dem »Dandy« (es war noch vor der Zeit der Rickshaws) seiner Frau um, während sie in der Garderobe war. Mrs. Hauksbee erschien und sagte: »Sie führen mich doch zu Tisch, Mr. Bremmil?« Bremmil wurde rot und sah dumm aus: »Ach – – hm! Ich gebe mit meiner Frau nach Hause, Mrs. Hauksbee. Es muß wohl ein Mißverständnis vorliegen.« Als Mann redete er natürlich so, als wenn Mrs. Hauksbee ganz allein daran schuld wäre.

Mrs. Bremmil kam aus der Garderobe in einem Schwanenfedermantel mit einem duftigen weißen Schal um den Kopf. Sie strahlte, und sie hatte auch guten Grund dazu.

Das Paar verschwand in der Dunkelheit. Bremmil ritt sehr nahe an dem Dandy.

Dann sagte Mrs. Hauksbee zu mir, – sie sah im Lampenlicht etwas welk und abgespannt aus –: »Glauben Sie mir, die dümmste Frau kann einen klugen Mann lenken, aber es muß schon eine sehr kluge Frau sein, die mit einem Narren fertig wird.«

Dann gingen wir zu Tisch.

Seine Ehefrau

Seine Ehefrau

Schreit Mordio auf dem Markt, und wer
Trifft nicht des angsterfüllten Nachbars Blick,
Der fragt: »Bist du der Mann? – Wir hetzten Kain
Vor tausend Jahren durch die Welt;
Das schuf die Furcht der eignen Missetat, die heut
Noch steht.

Vibarts Sittenlehre.

Shakespeare spricht einmal von Würmern, vielleicht auch von Fliegen oder Käfern, die sich krümmen, wenn sie allzu hart getreten werden. Das sicherste ist also, niemals einen Wurm zu treten, nicht einmal den jüngsten Leutnant, der gerade von Hause gekommen ist, dessen Uniformknöpfe kaum aus dem Seidenpapier heraus sind, und dessen Backen noch strotzen vom Saft der heimischen Braten. Hier folgt die Geschichte eines Wurms, der sich krümmte. Der Kürze halber wollen wir Henry Augustin Ramsay Faizanne den Wurm nennen, obwohl er in Wirklichkeit ein äußerst hübscher Junge war. Er hatte noch kein Härchen im Gesicht und dazu die Taille eines jungen Mädchens, als er zum zweiten indischen Jägerregiment kam, wo man ihn weidlich quälte. Die »Jäger« sind ein höchst vornehmes Regiment, und wer gut mit ihnen auskommen will, muß mancherlei verstehen: Banjo spielen, und nicht nur einigermaßen gut reiten, singen oder schauspielern können.

Der Wurm konnte weiter nichts, als vom Pony fallen und mit seinem Gespann Splitter vom Torpfosten stoßen. Aber selbst das wurde mit der Zeit eintönig. Er liebte das Whist nicht, stieß Löcher ins Billard, sang falsch, blieb zu viel für sich allein und schrieb Briefe an seine Mama und Schwestern nach England. Aber diese fünf Eigenschaften sind Laster, die die »Jäger« nicht lieben, und die sie auszurotten bemüht waren. Leutnants verstehen es bekanntlich, ihre jüngeren Kameraden »abzuschleifen«, ohne Widerspruch zu dulden. Es ist gut und heilsam und schadet niemanden, solange der Betreffende den Gleichmut nicht verliert; sonst gibt es Verdruß. Es war einmal ein Mann, – aber das ist eine andere Geschichte.

Die »Jäger« »jagten« den Wurm viel herum, und er nahm alles hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war so liebenswürdig, so eifrig und wurde so nett rot, daß man seine »Erziehung« abbrach und ihn sich selbst überließ. Nur sein Oberleutnant fuhr fort, dem Wurm das Leben sauer zu machen. Der Oberleutnant hatte keine bösen Absichten, aber seine Neckereien waren grob und gingen manchmal zu weit. Er wartete schon zu lange auf seine Kompanie, und das macht den Menschen immer bitter. Außerdem war er verliebt, und das war kein Vorteil.

Eines Tages entlieh er das Gespann des Wurmes für eine Dame, die überhaupt nicht existierte, benutzte es den ganzen Nachmittag für sich und schickte es dann mit einigen Zeilen von der Hand der genannten Dame dem Wurm zurück. Als er an der Kasinotafel die Geschichte zum besten gab, stand der Wurm auf und sagte mit seiner feinen, ruhigen Stimme: »Das war ein sehr netter Streich, aber ich setze meine Monatsgage gegen Ihre erste Monatsgage nach der Beförderung darauf, daß ich Ihnen eines Tages einen Streich spielen werde, den Sie zeitlebens nicht vergessen werden, und das Regiment auch nicht, selbst wenn Sie tot oder nicht mehr da sind.« Der Wurm war nicht im mindesten aufgebracht, und die ganze Tafelrunde brach in ein Freudengeschrei aus. Der Oberleutnant musterte den Wurm von Kopf zu Fuß und von Fuß zu Kopf und sagte: »Abgemacht, Baby!« Der Wurm rief die anderen zu Zeugen seiner Wette an und zog sich dann lächelnd hinter ein Buch zurück.

Es vergingen zwei Monate. Und noch immer erzog der Oberleutnant den Wurm, der beim Nahen der heißen Zeit etwas mehr aus sich heraus ging. Es wurde schon gesagt, daß der Oberleutnant verliebt war. Merkwürdig war nur, daß auch das Mädchen ihn liebte. Und ob auch der Oberst schreckliche Dinge sagte, die Majore schnaubten, die verheirateten Hauptleute wie die Weisheit selber aussahen und die Leutnants spöttelten, – die beiden waren verlobt.

Der Oberleutnant war so froh, seine Kompanie und zu gleicher Zeit das Jawort erhalten zu haben, daß er es vergaß, den Wurm zu treten. Das Mädchen war hübsch und hatte Vermögen. Mit dieser Geschichte aber hatte sie nichts zu tun.

Bei Beginn der heißen Zeit saß eines Abends das ganze Offizierkorps vor dem Kasino, nur der Wurm nicht, der auf sein Zimmer gegangen war, um Briefe nach Hause zu schreiben. Die Kapelle hatte aufgehört zu spielen, aber ins Haus gehen wollte niemand. Die Hauptmannsfrauen waren auch zugegen. Nun kennt die Torheit Verliebter keine Grenzen. Der Oberleutnant hatte lang und breit die Vorzüge seiner Verlobten gepriesen. Die Damen schnurrten behaglich Beifall und die Männer gähnten, als Röcke durch die Nacht rauschten und eine müde, schwache Stimme fragte:

»Wo ist mein Gatte?«

Es liegt mir fern, ein schlechtes Licht auf die Sittenstrenge der »Jäger« fallen lassen zu wollen, aber es ist eine unleugbare Tatsache, daß vier von ihnen wie angeschossen aufsprangen. Und von denen waren drei verheiratet. Wahrscheinlich befürchteten sie nur, daß ihre Frauen ohne ihr Wissen aus England gekommen wären. Der vierte behauptete, er habe nur einer augenblicklichen, Erregung nachgegeben. Das setzte er uns wenigstens später so auseinander.

Die Stimme rief: »Lionel!«

Der Oberleutnant hieß Lionel. Eine Frau trat in den engen Lichtkreis der Kerzen, die auf den kleinen, runden Tischchen standen, streckte ihre Hände gegen das Dunkel aus, das den Oberleutnant umfing, und schluchzte. Wir standen alle auf in dem Gefühl, daß sich etwas ereignen würde, und waren geneigt, das Schlimmste zu glauben. In unserer kleinen, bösen Welt weiß man so wenig vom Leben des Nächsten, – und eigentlich hat ja auch er allein sich darum zu bekümmern, – daß man nicht überrascht ist, wenn ein Krach kommt. Alles konnte bei allen alle Tage zum Vorschein kommen. Vielleicht war der Oberleutnant in seiner Jugend in eine Falle geraten. Männer werden manchmal auf solche Weise kampfunfähig gemacht. Wir wußten nichts, aber erfahren wollten wir es, und die Hauptmannsfrauen waren so eifrig wie wir. Wenn er wirklich in die Falle gegangen war, dann war er zu entschuldigen. Denn die Frau »von Nirgendwo« in verstaubten Schuhen und grauem Reisekleid war sehr schön. Sie hatte schwarzes Haar und große, tränenvolle Augen. Sie war schlank und hochgewachsen; der weiche, schluchzende Ton ihrer Stimme ging zu Herzen. Als der Oberleutnant aufstand, umarmte sie ihn und nannte ihn »mein Liebster« und sagte, sie habe das einsame Leben in England nicht länger ertragen können, seine Briefe seien so kalt und kurz gewesen; sie bliebe sein bis ans Ende aller Tage, und ob er ihr vergeben könnte?

Es klang nicht so ganz wie die Sprache einer Frau von Welt. Sie war zu offenherzig.

Die Sache sah wirklich böse aus. Die Hauptmannsfrauen sahen den Oberleutnant scharf von der Seite an. Das von grauen Bartstoppeln umrahmte Gesicht des Obersten schien unerbittlich wie der Jüngste Tag. Eine Weile sprach niemand.

Dann sagte der Oberst sehr kurz: »Nun, Herr Oberleutnant!« Und wieder schluchzte die Frau. Der Oberleutnant erstickte fast unter den Umarmungen und keuchte: »Es ist eine ganz verdammte Lüge! Nie im Leben habe ich eine Frau gehabt!« »Fluchen Sie nicht!« sagte der Oberst. »Kommen Sie mit ins Haus. Die Sache muß geklärt werden!« Und er seufzte leise, denn er kannte seine Jäger; der Oberst kannte sie.

Wir zogen alle mit ins Vorzimmer und sahen im vollen Lichte erst, wie schön die Frau war. Sie stand mitten unter uns, bald schluchzend und weinend, bald hart und stolz, und hielt dem Oberleutnant wieder die Arme entgegen. Es war der vierte Akt einer Tragödie. Sie erzählte, daß der Oberleutnant sie vor anderthalb Jahren während seines Urlaubes in England geheiratet habe, und sie schien über seine Familie und seine Vergangenheit, über alles besser unterrichtet zu sein als wir. Er wurde bleich und aschfahl und versuchte, ab und zu den Strom ihrer Rede zu durchbrechen. Und wir, die wir ihre Schönheit fühlten und sein Schuldbewußtsein zu fühlen glaubten, hielten ihn für ein Ungeheuer schlimmster Art. Aber leid tat er uns.

Ich werde niemals die Anklage der Frau gegen den Oberleutnant vergessen. Er wird es auch nicht. Sie brach zu unvorbereitet aus dem Dunkel in unser eintöniges Leben ein. Die Hauptmannsfrauen hielten sich zurück, aber ihre flammenden Blicke verrieten, daß sie den Oberleutnant überführt und schuldig gesprochen hatten. Der Oberst schien um fünf Jahre gealtert. Einer der Majore hielt sich die Hand vor die Augen und beobachtete heimlich die Frau. Ein anderer kaute an seinem Schnurrbart und lächelte still vergnügt wie im Theater. Mitten im Kreise bei den Spieltischen schnappte der Terrier des Oberleutnants nach Flöhen. Ich entsinne mich all dessen so scharf, als hätte ich eine Photographie davon in Händen. Ich entsinne mich des entsetzten Blicks des Oberleutnants. Es war eigentlich wie die Szene auf einem Richtplatz, nur noch viel spannender. Die Frau schloß mit den Worten, daß der Oberleutnant auf seiner linken Schulter mit einem doppelten F. M. tätowiert sei. Das wußten wir alle, und unserem ahnungslosen Gemüt schien die ganze Sache damit besiegelt zu sein. Aber da sagte einer der unverheirateten Majore sehr höflich: »Würde Ihr Trauschein nicht zweckdienlicher sein?«

Das empörte die Frau. Sie nannte den Oberleutnant höhnisch einen Schurken und schmähte den Major, den Oberst und die anderen alle. Dann weinte sie wieder, zog ein Papier aus dem Busen und sagte gebieterisch: »Nehmen Sie! Mein Gatte, – mein Ehegatte vor dem Gesetz mag es Ihnen laut vorlesen, wenn er es wagt.«

Atemlose Stille herrschte. Die Männer sahen einander tief in die Augen, während der Oberleutnant wie im Schwindel vortrat und wie benommen das Papier ergriff. Wir starrten uns verwundert fragend an, ob nicht vielleicht die Zukunft auch bei uns ähnliches aufdecken könnte. Des Oberleutnants Stimme war trocken, und als er das Papier überflogen hatte, brach er in ein heiseres Lachen der Erleichterung aus und rief der Frau zu: »Sie alter Halunke!« Aber die Frau war schon zur Tür hinaus. Auf dem Papier stand:

»Hierdurch wird bescheinigt, daß ich, der Wurm, dem Oberleutnant meine Schulden restlos bezahlt habe, und ferner, daß der Oberleutnant mir, nach unserem Übereinkommen vom 23. Februar unter Zeugenschaft des ganzen Kasinos, den Betrag einer monatlichen Hauptmannsgage schuldet, zahlbar in der gesetzlichen Währung des indischen Reiches.«

Sofort begab sich eine Abordnung auf das Zimmer des Wurmes, wo man ihn gerade beim Aufschnüren seines Korsettes fand. Hut, Perücke, Sergekleid usw. lagen auf dem Bett. Er mußte, wie er war, zurück, und die »Jäger« machten einen solchen Freudenlärm, daß die Artilleristen von ihrem Kasino herüberschickten, um anzufragen, ob sie nicht mitlachen dürften. Ich glaube wir alle, ausgenommen Oberst und Oberleutnant, waren ein wenig enttäuscht, daß aus dem Skandal nichts geworden war. Das ist nun einmal menschlich. Über des Wurmes Schauspielkunst gab es nur eine Meinung. Sein Spiel kam einer unsauberen Tragödie so nahe, wie nur ein Scherz ihr irgend nahe kommen kann. Als die Kameraden ihn mit Sofakissen bombardierten, um ausfindig zu machen, warum er ihnen sein starkes Talent verheimlicht habe, sagte er ganz ruhig: »Ihr werdet mich wohl nie danach gefragt haben. Zu Hause habe ich viel mit meinen Schwestern geschauspielert.« Meiner Ansicht nach war die Sache nicht gerade geschmackvoll und auch nicht ungefährlich. Man soll nicht mit dem Feuer spielen, selbst nicht zum Scherz.

Die »Jäger« ernannten den Wurm zum Vorsitzenden ihres dramatischen Vereins. Als der Oberleutnant seine Schuld bezahlte, was er sofort tat, legte der Wurm das Geld in Dekorationen und Kostümen an. Er war ein lieber Wurm, und die »Jäger« sind stolz auf ihn. Die Kehrseite war, daß man ihn die »Frau Oberleutnant« taufte. Und da es jetzt zwei »Frau Oberleutnant« im Regiment gibt, wird es für Fremde leicht verwirrend.

Später werde ich einmal einen ähnlichen Fall erzählen. Aber das war kein Scherz, es war bitterster Ernst.

Der Rekordbrecher

Der Rekordbrecher

Es gibt mehr Methoden, ein Pferd das Rennen nach dem Wettbuch laufen, als es ehrlich um Kopflänge gewinnen zu lassen. Viele Leute vergessen das. Man muß sich klar darüber sein, daß jedes Rennen notwendig eine faule Sache ist, wie alles, was mit Geldverlieren verknüpft ist. Hier in Indien kommt zu seiner faulen Natur noch hinzu, daß es zu zwei Drittel Schwindel ist, der sich nur auf dem Papier gut ausnimmt. Jeder kennt hier jeden zu gut, um mit ihm Geschäfte machen zu können. Wie könnte man in aller Welt auch jemand wegen seiner Rennverluste zwicken und plagen und drängen, wenn man seine Frau liebt und mit ihm am gleichen Ort lebt. Er sagt: »Am kommenden Montag. Heute ist es mir leider unmöglich.« Und man gibt zur Antwort: »Es ist schon gut, mein Lieber,« und schätzt sich glücklich, wenn man aus einer Zweitausend-Rupien-Schuld neunhundert herausziehen kann. Von welcher Seite man auch indische Rennen betrachtet, immer sind sie unmoralisch oder kostspielig, oder beides zugleich. Und das ist das Schlimmste. Wenn jemand Geld braucht, dann soll er es sich leihen oder erbitten. Aber statt dessen nimmt man einen australischen »Larrikin«, ein »Brumby«, das ebensoviel Rasse hat wie sein Reiter, ein paar »Chumars« mit goldbetreßten Mützen, drei oder vier gestutzte Ekkaponys, oder eine Stute von zweifelhafter Herkunft mit einem falschen Schwanz und dem Titel »Araber«, weil sie einen Knoten im Schweif hat, und schwindelt sich so durch die Welt. Rennen führen schneller als sonst etwas zum Wucherer. Wer weder Gewissen noch Gefühl hat, aber etwas von Gangarten versteht, eine zehnjährige Erfahrung mit Pferden und mehrere Tausend Rupien im Monat hat, kann wohl gelegentlich einmal genug gewinnen, um seine Schusterrechnung bezahlen zu können.

Man erinnert sich vielleicht noch an »Shackles«. »Shackles« hatte plumpe Schlappohren wie ein Maultier, einen Rumpf so lang und dünn wie ein Torbalken, war zäh wie Telegraphendraht und überhaupt das wunderlichste Vieh, das je unter einem Sattel gegangen ist. Es hatte keine Brandmarke, nur eine Kerbe im Ohr, denn es gehörte zu jenem Pferdegesindel, das für ein paar Pfund stückweise auf einen Dampfer verfrachtet wird, um die Ladung voll zu machen, und um später außer Form in Kalkutta für 275 Rupien verkauft zu werden. Die Leute, die Geld an seinen Rennen verloren, nannten ihn ein »Brumby«. Aber wenn es je ein Pferd gegeben hatte, das einen Bug hatte wie »Harpoon« und Feuer wie »Gin«, dann war es Shackles. Seine besondere Lieblingsdistanz war zwei Meilen. Shackles hatte sich selbst trainiert, lief selbst und führte sich selbst. Wenn sein Jockei es durch Worte kränkte, blieb es mit einem Ruck stehen und warf den Kerl ab. Es widerstand jedem Geheiß. Zweien, dreien seiner ehemaligen Besitzer war das nicht aufgegangen, und so verloren sie ihr Geld. Schließlich wurde es von jemandem gekauft, der entdeckte, daß, wenn Shackles überhaupt ein Rennen machen sollte, es von ihm nur gewonnen werden konnte, wenn Shackles allein, aber auch ganz allein lief, und der Jockei sich nicht rührte. Dieser Besitzer hatte einen Bereiter mit dem Namen Brunt, einen jungen Burschen aus Perth in Westaustralien. Er brachte also Brunt mit der Longepeitsche das schwerste bei, was ein Jockei lernen kann, still zu sitzen, wieder still zu sitzen und noch einmal still zu sitzen. Nachdem Brunt diese Wahrheit völlig eingegangen war, richtete Shackles wahre Verwüstungen im Lande an. Durch keine Belastung konnte man ihn vor seiner Lieblingsdistanz aufhalten, und sein Ruf verbreitete sich von Ajmir im Süden bis nach Chedputter im Norden. Es gab kein zweites Pferd wie Shackles, so lange man ihm die Rennen auf seine Art machen ließ. Aber zu guter Letzt wurde er doch besiegt. Die Geschichte seiner Niederlage würde selbst Engel weinen machen.

Am unteren Ende der Rennbahn zu Chedputter, gerade am Auslauf der Kurve, führt die Bahn an einer von Ziegelschanzen umschlossenen, trichterförmigen Grube vorbei. Das zweite Trichterende ist kaum sechs Fuß von dem Geländer an der Außenseite entfernt. Nun hat die Rennbahn die erstaunliche Eigentümlichkeit, daß der Trichter, wenn man an einer bestimmten Stelle, etwa eine halbe Meile weit weg auf der Bahn steht und in ganz gewöhnlicher Tonhöhe redet, von den Tönen getroffen wird und wie ein leises Echo seltsam an zu wimmern fängt. Das entdeckte zufällig ein Mann, der eines Morgens mit einem Freunde dort trainierte. Er markierte den Standort, von dem aus man sprechen mußte, mit Ziegelsteinen und behielt seine Weisheit für sich. Jede Eigentümlichkeit einer Rennbahn ist wertvoll, zumal in einem Lande, wo eine einzige Ratte eine ganze Elefantenbrut vernichten kann, und wo die Rennaufseher die Hindernisse so anzulegen wissen, daß sie ihren eigenen Ställen Vorteil bringen. Der Betreffende ließ eine ganz leidliche Landstute laufen, ein großes, weit ausgreifendes Tier mit einem wahren Teufelstemperament und der Gangart eines leicht dahinschwebenden Engels. Sie hatte einen wiegenden, gleitenden Lauf. Die Stute war aus zarter Aufmerksamkeit für Mrs. Reiver »Lady Regula Baddun« oder kurz Regula Baddun genannt worden. Brunt, Shackles Jockei, war ein ganz verständiger Mensch, aber seine Nervenkraft war erschüttert. Er hatte seine Laufbahn bei einem Hindernisrennen in Melbourne begonnen, wo einige Rennaufseher gelyncht zu werden verdienten, und er gehörte zu den Jokkeis, die die furchtbare Metzelei bei dem Rennen um den Maribyrnong-Preis, woran man sich vielleicht noch erinnern wird, überlebt haben. Sprungmauern waren damals die Festungswälle. In das Mauerwerk waren Hartholzbalken eingerammt und rechts und links Flügelmauern, so stark wie die Widerlager an einem Kirchenbau, errichtet. Einmal im Ausgriff mußte ein Pferd springen oder stürzen. Ausbrechen nach der Seite war unmöglich gemacht. Im Maribyrnong-Rennen kamen zwölf Pferde vor der zweiten Mauer ins Geschiebe. »Red Hat«, der führte, fiel diesseits der Mauer und hemmte dadurch »The Gled« samt dem ganzen großen Haufen, der ihm folgte. Der ganze Raum zwischen Flügelmauer und Flügelmauer war ein einziges, ringendes, schreiendes, stoßendes Durcheinander. Vier Jockeis wurden tot herausgebracht, drei waren schwer verletzt, und unter denen befand sich Brunt. Zuweilen erzählte er die Geschichte des Maribyrnong-Rennens. Wenn er schilderte, wie Whalley auf »Red Hat« beim Sturz schrie: »Gott sei mir gnädig! Jetzt ist’s aus!«, wie im nächsten Augenblick der arme Whalley von »Sithee There« und »White Otter« totgequetscht wurde, und wie der Staub ein Höllenknäuel von Menschen und Pferden umhüllte, dann wunderte sich niemand mehr, daß Brunt Hindernisrennen und Australien aufgegeben hatte. Regula Badduns Eigentümer kannte die Geschichte auswendig. Brunt erzählte sie stets mit den gleichen Worten. Bildung besaß er nicht.

Einmal kam Shackles zum Chedputter Herbstrennen, und sein Eigentümer ging herum und zog über die Sportsleute von Chedputter so lange her, bis sie sich gemeinsam an den Ehrenvorsitzenden wandten und sagten: »Lassen Sie ein Handicap laufen, daß Shackles geschlagen und der Hochmut seines Herrn gedemütigt wird.« Die ganze Rennwelt machte mit einer Auslese von Pferden gegen Shackles Front. Es wurden genannt: »Ousel«, der die Meile in 1,53 Min. machen sollte, »Petard«, das Rassepferd, das von einem Kavallerieregiment trainiert war, das sich auf das Training verstand, ferner »Gringalet«, die Zuchtstute der 75er, »Bobolink«, der »Stolz von Peschawar« und viele andere.

Man nannte jenes Rennen das »Rekordbrecher-Handicap«, weil Shackles zum erstenmal geworfen werden sollte. Die Unparteiischen setzten die Gewichte fest, der Rennfonds stiftete 800 Rupien, und die Distanz lautete: für alle Pferde eine Runde. Shackles‘ Herr erklärte: »Sie können das Rennen getrost auf Shackles allein einstellen! So lange er nicht unter Gewichten begraben wird, ist mir alles gleich!« Regula Badduns Herr erklärte: »Ich lasse meine Stute nur Ousel zum Sporn laufen! Regulas Distanz ist 1200 Meter, bei mehr fällt sie ab und macht ein totes Rennen. Ousel wird’s nicht besser gehen, denn sein Jockei versteht nichts von langen Rennen!« Das war eine Lüge, denn Regula war in Dehra zwei Monate lang in Training gewesen, und ihre Chancen waren gut; selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß Shackles eine Ader platzte, oder daß Brunt nicht still saß.

Es wurde hoch gewettet. Allein das »Rekordbrecher-Handicap« ergab acht 1000-Rupien-Wetten, denn die Unparteiischen hatten gut gearbeitet. Der »Pionier« sagte: »Die Gunst des Publikums war geteilt.« Unverblümt heißt das, daß die verschiedenen Parteien auf ihre Pferde versessen waren. Der Ehrenvorsitzende schrie sich bei dem Lärm heiser, der Zigarrenqualm stieg wie Geschützqualm in die Luft, und die Würfel rasselten wie Kleingewehrfeuer.

Zehn Pferde starteten gleichmäßig. Regula Badduns Besitzer trabte auf einem Gaul einer bestimmten Stelle der Bahn zu, wo zwei Ziegelsteine lagen. Er stellte sich mit dem Gesicht nach den Ziegelschanzen am unteren Ende der Bahn auf und wartete.

Der Rennbericht steht im »Pionier«. Nach der ersten Meile ließ Shackles ganz allmählich den großen Haufen hinter sich. Er hielt sich geschickt an die Außenseite und war im Begriff die Kurve zu nehmen, das Gebiß zu fassen und die Länge der Bahn herunterzuhaspeln, ehe die anderen überhaupt merkten, daß er voran war. Brunt hielt sich still und lauschte zufrieden auf das »Trab–Trab–Trab« der Hufe im Rücken. Er wußte, daß Shackles noch ungefähr zwanzigmal ausgreifen würde, um dann tief aufzuatmen und auf das letzte Viertel wie der fliegende Holländer los zu gehen. Als Shackles kürzer griff, um die Kurve zu nehmen und den Ziegelschanzen zur Seite kam, hörte Brunt im Pfeifen des Windes eine wimmernde, klagende Stimme an der Außenseite: »Gott sei mir gnädig! Jetzt ist’s aus!« Während eines einzigen Ausgriffs seines Pferdes sah Brunt den ganzen wogenden Trümmerhaufen des Maribyrnong-Rennens vor sich. Er hob sich im Sattel und schrie gellend auf. Der hastige Ruck stieß Shackles die Hacken in die Flanken, und der Schrei verletzte seine Gefühle. Er konnte nicht sofort still stehen, aber er bog aus und warf fünfzig Meter abseits von der Bahn, sehr ernst und vorsichtig, den vor Schreck gelähmten Brunt wie ein Bündel ab. Indessen lief Regula Kopf an Kopf mit Bobolink die Bahn herauf und gewann mit einer knappen Halslänge. Petard kam als schlechter Dritter. Shackles‘ Herr auf der Tribüne suchte sich einzureden, daß sein Feldstecher nicht in Ordnung sei. Regula Badduns Herr bei den beiden Ziegeln seufzte tief erleichtert auf und galoppierte wieder zur Tribüne. Er hatte am Totalisator durch Wetten 15 000 gewonnen.

Das Handicap brach wirklich den Rekord. Es brach fast alle Freunde Shackles‘ nieder, und seinem Herrn zerbrach es fast das Herz. Er ging zu Brunt, um näheres zu hören. Der Jockei lag noch an der Stelle, wo Shackles ihn abgeworfen hatte, vom Schrecken leichenblaß, und keuchte. Die Schande, das Rennen verloren zu haben, schien er gar nicht zu begreifen. Alles, was er wußte, war, daß Whalley ihn »gerufen« hatte, und daß der Ruf eine »Warnung« sei; und »wenn man ihn in Stücke hiebe, niemals würde er wieder ein Pferd besteigen«. Er hatte ganz den Mut verloren und bat nur, sein Herr möge ihn durchprügeln und dann laufen lassen. Er tauge zu nichts mehr, sagte er. Er bekam seine Entlassung und schlich kreideweiß, mit blauen Lippen und schlotternden Knien zum Sattelplatz. Brunt mußte dort noch manches böse Wort hören, aber er achtete nicht darauf. Er zog sich um, nahm seinen Stock und ging, auch jetzt noch vor Furcht zitternd, seiner Wege, immerfort vor sich hinmurmelnd: »Gott sei mir gnädig! Jetzt ist es aus!« Nach meinem besten Wissen und Gewissen sprach er die Wahrheit. So wurde also der »Rekordbrecher« gerannt und gewonnen. Natürlich wird mir keiner glauben. Dem Gerücht, die Russen hätten Absichten auf Indien, oder den Empfehlungen der Währungskommission schenkt man Glauben. Aber einem Stückchen nüchterner Wirklichkeit hält man nicht Stand.

Jenseits

Jenseits

Was auch immer geschieht, der Mensch soll stets zu seiner Rasse, seinem Volk und seinem Stande halten. Man lasse Weiße bei den Weißen und Schwarze bei den Schwarzen. Was sich dann auch immer ereignen mag, alles wird seinen natürlichen Gang gehen, nichts wird plötzlich und überraschend kommen, nichts wird befremden können.

Dies hier ist die Geschichte eines Mannes, der eigenwillig aus den festen Kreisen seiner wohlanständigen Alltagsgesellschaft heraustrat und hart dafür büßen mußte.

Er wußte zu viel und sah zu viel. Er kümmerte sich zu viel um das Leben der Einheimischen, aber er wird es niemals wieder tun.

Tief im Herzen der Stadt, hinter Jitha Megjis Ställen, liegt die Gasse Amir Naths. Sie stößt auf die graue Mauer eines Hauses, die von einem einzigen Gitterfenster durchbrochen wird. Am Eingang der Gasse steht ein großer Kuhstall, und die beiden Häuser rechts und links haben keine Fenster auf die Gasse. Weder Suchet Singh noch Gaur Chandi sind dafür, daß ihr Weibervolk in die Welt hinaussehen kann. Hätte Durga Charan ihre Ansicht geteilt, dann wäre er heute glücklicher, und die kleine Bisesa könnte ihr Brot jetzt selber kneten. Aus ihrem Zimmer sah man durch das Gitterfenster auf die dunkle Winkelgasse hinaus, in die nie ein Sonnenstrahl drang, und in derem blauen Schlamm sich die Büffel wälzten. Sie war eine Witwe, vielleicht fünfzehn Jahre alt, und bat die Götter Tag und Nacht, ihr einen Liebsten zu schicken. Sie war nie dafür, allein zu leben.

Eines Tages kam nun jener Mann – Trejago war sein Name – auf einem ziellosen Spaziergang in Amir Naths Gasse. Als er glücklich an den Büffeln vorüber war, stolperte er über einen großen Haufen Viehfutter. Und erst dann sah er, daß er sich in einer Sackgasse befand. Vom Gitterfenster her hörte er ein leises Lachen. Es war ein hübsches, liebes Lachen. Da Trejago wußte, daß das alte Buch »Tausend und eine Nacht« immer noch ein guter, praktischer Führer ist, ging er näher ans Fenster und flüsterte die Strophen aus »Har Dyalls Liebeslied«, die mit den Worten beginnen:

»Kann ein Mann aufrecht stehen vor dem Antlitz der wunderbaren Sonne? Oder ein Liebender angesichts der Geliebten?

Wenn meine Füße mich nicht mehr tragen, Herz meines Herzens, trage ich die Schuld, ich, der ich blind bin vom flüchtigen Schimmer deiner Schöne?«

Durchs Fenster klang das leise Klirren einer Armspange, und eine zarte Stimme sagte das Lied weiter von der fünften Strophe ab:

»Wie kann, wie kann, ach, wie kann der Mond der Lotosblume die Liebe gestehen, wenn das Tor des Himmels verschlossen ist, und die Wolken zum Regen sich sammeln?

Man hat mir mein Lieb geraubt und mit Saumtieren gen Norden entführt.

Die Füße, unter die ich mein Herz gelegt, sind schwer in Eisen gekettet.

Rufe den Schützen, daß er den Bogen bereit hält – …«

Die Stimme brach plötzlich ab, und verwundert fragte sich Trejago beim Gehen, wer in aller Welt wohl »Har Dyalls Liebeslied« mit ihm so klug wettgesungen habe.

Als er am nächsten Morgen ins Bureau fuhr, warf ihm eine alte Frau ein Päckchen in den Wagen. Es enthielt die eine Hälfte einer zerbrochenen, gläsernen Spange, eine blutrote Dhakblüte, eine Fingerspitze Bhusa oder Viehfutter und elf Kardamomkörner. Die Sendung sollte ein Brief sein; kein grober, bloßstellender Brief, nur eine unschuldige, geheimnisvolle Liebesepistel.

Wie gesagt, Trejago wußte viel zu viel von all den Dingen. Ein Engländer sollte eigentlich solchen konkreten Brief überhaupt nicht entziffern können. Aber Trejago breitete all die Nichtigkeiten auf dem Deckel seines Schreibpultes aus und begann sie zu enträtseln.

In ganz Indien deutet ein zerbrochenes Glasarmband auf eine Hinduwitwe. Denn wenn ihr Gatte stirbt, werden die Spangen auf ihrem Arm zerbrochen. Trejago verstand also wohl, was das kleine Glasstückchen sagen sollte. Die Dhakblüte kann mancherlei heißen, je nach einer näher bestimmenden Beigabe: »Ich sehne mich« – »komme« – »schreibe« – oder auch »es ist Gefahr«. Ein Körnchen Kardamom allein bedeutet Eifersucht, aber mehrere zerstören die Symbolik und wollen nichts weiter als eine Zahl angeben, die Zeit, oder wenn Weihrauch, Quark oder Safran beiliegt, auch den Ort. Die Botschaft hieß also: »Eine Witwe, – Dhakblüte und Bhusa, – elf Uhr.« Die Fingerspitze Bhusa gab Trejago den Schlüssel. Da diese Briefe sich stets an das Gefühl wenden, fand er, daß die Fingerspitze Bhusa sich auf den Haufen Viehfutter bezog, über den er in Amir Naths Gasse gestolpert war, und daß die Botschaft von dem Wesen hinter dem Gitterfenster stammen müsse, die also eine Witwe war. Also hieß die Botschaft lückenlos: »Eine Witwe in der Gasse, wo der Futterhaufen liegt, wünscht, daß man um elf Uhr kommt.«

Trejago warf lachend den ganzen Kram ins Feuer. Er wußte, daß man im Orient nicht um elf Uhr vormittags Fensterpromenaden macht, und daß die Frauen sich dort nicht eine Woche vorher verabreden. So ging er denn schon in der gleichen Nacht um elf Uhr in Amir Naths Gasse, in einem weiten Umhang, wie ihn Männer ebenso wie Frauen tragen. Kaum hatten die Glocken der Stadt die elfte Stunde geschlagen, als das Stimmchen hinter dem Gitter das Liebeslied Har Dyalls bei der Strophe wieder aufnahm, wo das Mädchen ihn beschwört, zurückzukehren. Das Lied klingt in der Ursprache wundervoll. Eine Übertragung kann das Klagende nicht wiedergeben. Es lautet etwa so:

Ich stehe einsam auf dem Dach, gen Nord
Den Blick gewandt, wo nächtges Feuer loht, –
Die Flammenspuren deines Wegs gen Nord.
Wenn du nicht kommst, Geliebter, kommt der Tod.

Zu meinen Füßen liegt die stille Stadt.
Die Tiere rasten auf des Schlafs Gebot.
Du, weit Entführter, bist auch du so matt?
Wenn du nicht kommst, Geliebter, kommt der Tod.

Das Alter hat des Vaters Weib verroht.
Auf mir liegt seines Hauses ganze Not.
Mein Trank sind Tränen, Kummer ist mein Brot.
Wenn du nicht kommst, Geliebter, kommt der Tod.

Als das Lied verklungen war, trat Trejago naher an das Gitter und flüsterte: »Ich bin da!«

Bisesa war eine Augenweide. – –

An diese Nacht schloß sich manch Seltsames an, und ein Doppelleben begann, so phantastisch, daß Trejago sich heute oftmals fragt, ob nicht alles nur ein Traum gewesen ist. Bisesa oder ihre alte Dienerin, die ihm den Brief zugeworfen, hatte das schwere Gitter aus dem Mauerwerk gelöst, so daß es nach innen gleiten konnte und gerade so viel Raum bot, um einen gewandten Mann durch die rohe, viereckige Öffnung hindurchschlüpfen zu lassen.

Tagsüber durchhastete Trejago seine eintönige Berufsarbeit, oder zog sich besuchsmäßig an, um den Damen des Ortes aufzuwarten. Er mußte oft daran denken, ob sie ihn wohl noch kennen würden, wenn sie von der armen kleinen Bisesa wüßten. Nachts, wenn die Stadt schlief, machte er in dem übelriechenden Mantel seinen heimlichen Gang. An Sitha Megjis Ställen vorbei, bog er rasch in Amir Naths Gasse ein und schlich vorüber an dem ruhenden Vieh und den starren Mauern zu Bisesa. Dann konnte er deutlich die tiefen, regelmäßigen Atemzüge der alten Weiber hören, die vor der Tür des kleinen, kahlen Zimmers schliefen, das Durga Charan seiner Schwestertochter überlassen hatte. Wer oder was Durga Charan war, danach fragte Trejago nie. Und wie es kam, daß er nicht entdeckt und niedergestochen wurde, überlegte er sich erst, als sein Wahn zu Ende war, und Bisesa, – – doch ich will nicht vorgreifen.

Bisesa war Trejagos endlose Wonne. Sie war unwissend wie ein Vogel, und ihre verkehrten Erzählungen von dem Leben der Außenwelt, das bis in ihre Kammer drang, belustigten Trejago fast ebenso wie ihre Versuche, seinen Namen – Christopher – zu stammeln. Schon die erste Silbe war ihr fast zu schwer. Sie machte lächerliche, zarte Bewegungen mit ihren Rosenblütenhänden, als wenn sie den Namen wegwerfen wollte, und kniete dann vor Trejago nieder, um ihn nicht anders als eins von unseren Mädchen zu fragen, ob er sie auch wirklich liebe. Trejago schwor, daß er sie über alles in der Welt liebe. Und das war die Wahrheit!

Einen Monat dauerte die Torheit, dann zwang ihn sein anderes Leben, einer Dame seiner Bekanntschaft besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Tatsache ist, daß so etwas nicht nur von unseresgleichen beobachtet und besprochen wird, sondern ganz genau so von ein paar Hundert Einheimischen. Trejago mußte mit der Dame Spazierengehen, bei der Musik mit ihr plaudern und ein-, zweimal mit ihr ausfahren. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß er damit sein ihm weit lieberes fremdes Leben irgendwie stören könnte. Aber die Neuigkeit flog, geheimnisvoll wie immer, von Mund zu Mund, bis sie der alten Dienerin zu Ohren kam, die sie Bisesa weitergab. Das Kind war so unglücklich, daß es seine Arbeiten vernachlässigte und dafür von Durga Charans Weib geschlagen wurde.

Eine Woche später warf Bisesa Trejago seinen Flirt vor. Sie kannte keine Abstufungen der Liebe und sprach ehrlich mit ihm. Trejago lachte sie aus, und Bisesa stampfte mit ihren kleinen Füßen, Füßen, so klein und zart wie Maßliebchen. Beide hatten sie Platz in einer Männerhand.

Es ist viel geschrieben worden über »orientalische Leidenschaft und Erregbarkeit«; vieles ist übertrieben und von anderen entlehnt, aber ein Körnchen Wahrheit liegt doch darin. Und wenn ein Engländer die Körnchen findet, dann überraschen sie ihn nicht minder, als Leidenschaften in seinem eigenen Leben. Bisesa tobte und wütete und drohte, sich das Leben nehmen zu wollen, wenn Trejago nicht augenblicks die fremde »Memsahib« fallen ließe. Trejago versuchte ihr zu erklären und zu zeigen, daß man solche Dinge im Westen anders verstünde als hier. Bisesa richtete sich starr auf und sagte schlicht:

»Ich kann sie nicht anders verstehen. Ich weiß nur, daß es nicht gut für mich ist, daß du mir lieber geworden bist als mein eigenes Leben, Sahib. Du bist ein Engländer. Ich bin ein schwarzes Mädchen« – sie war lichter als Barrengold – »und die Witwe eines Hindu.«

Dann schluchzte sie auf und sagte: »Aber bei meiner Mutter Seele, ich liebe dich. Und was mir auch widerfahren mag, dir soll kein Leid geschehen.«

Trejago versuchte das Kind zu überzeugen und zu beschwichtigen, aber Bisesa schien maßlos erregt. Sie wollte sich nicht zufriedengeben, bis nicht alle Verbindung zwischen ihnen abgebrochen sei. Er sollte auf der Stelle gehen. Und er ging. Als er sich aus dem Fenster schwang, küßte sie ihn zweimal auf die Stirn. Und er ging gedankenvoll heim.

Eine Woche, drei Wochen gingen hin, ohne ein Zeichen von Bisesa. Trejago fand, das Zerwürfnis habe nun lange genug gedauert und ging nun schon zum fünftenmal in den drei Wochen in Amir Naths Gasse. Er hoffte, daß sein Klopfen am Gitterfenster endlich wieder Antwort finden würde. Er wurde nicht enttäuscht.

Ein schwacher Strahl der Mondsichel fiel auf das Gitterfenster in Amir Naths Gasse. Es wurde bei seinem Klopfen fortgezogen. Aus dem tiefen Dunkel streckte Bisesa ihre Arme ins Mondlicht. Beide Hände waren ihr an den Gelenken abgeschnitten, und die Stümpfe waren schon fast verheilt.

Als Bisesa schluchzend den Kopf zwischen die Arme legte, heulte jemand im Zimmer auf wie ein wildes Tier, und etwas Scharfes – Messer, Schwert oder Speer – flog nach Trejagos Mantel. Das Geschoß verfehlte zwar seinen Oberkörper, aber es verletzte ihm einen Lendenmuskel. Von diesem Tage bis an sein Lebensende hinkte Trejago ein ganz klein wenig. Das Gitter wurde wieder geschlossen. Kein Lebenszeichen drang mehr aus dem Haus. Nur ein Streifen Mondlicht auf der hohen Mauer war zu sehen, sonst lag Amir Naths Gasse in tiefstem Dunkel.

Trejago kann sich nur noch erinnern, daß er wie ein Wahnsinniger zwischen den erbarmungslosen Mauern geschrien und getobt hat, und daß er sich beim Morgengrauen plötzlich nahe am Flusse befand. Er warf seinen Umhang fort und ging barhäuptig nach Hause.

Bis auf den heutigen Tag hat Trejago nicht den Lauf der Tragödie erfahren. Er weiß nicht, ob Bisesa in einem Anfall grundloser Verzweiflung alles gestanden hat, ob ihr Verhältnis entdeckt und sie gefoltert wurde, bis sie gestand, ob Durga Charan seinen Namen kannte, und was aus Bisesa wurde. Jedenfalls war etwas Entsetzliches geschehen; und der Gedanke, was es gewesen sein könnte, kommt Trejago manchmal des Nachts und leistet ihm Gesellschaft bis zum Morgen. Und es ist charakteristisch, daß Trejago nicht einmal erfahren hat, wo die Vorderseite von Durga Charans Haus liegt. Sie kann nach einem gemeinsamen Hof mit anderen Häusern zu liegen, vielleicht auch hinter einem der vielen Tore zu Jitha Megjis Ställen. Trejago weiß es nicht. Er kann Bisesa, die arme kleine Bisesa, nicht wiederfinden. Er hat sie in der Stadt verloren, wo jedes Mannes Haus bewacht wird und so unergründlich ist wie ein Grab. Und das Gitterfenster in Amir Naths Gasse ist zugemauert worden.

Trejago macht regelmäßig seine Besuche und wird zu den vernünftigen Leuten gezählt.

An ihm ist nichts Auffallendes außer einer kleinen Steifheit, die ihm – von einer Überanstrengung beim Reiten – im rechten Bein zurückgeblieben ist. –

Irrungen

Irrungen

Ein Mann, der sich ganz offen sinnlos betrinkt, öfter betrinkt, als er eigentlich dürfte, ist zu heilen, aber hoffnungslos ist der, der sich in der Stille einsamem Trunke ergibt, den man niemals trinken sieht.

Das ist eine Regel, und so muß es auch eine Ausnahme geben, die sie bestätigt; Der Fall Moriarty ist die Ausnahme.

Er war Zivilingenieur, und die Regierung hatte die große Liebenswürdigkeit, ihn in eine entlegene Gegend zu schicken, wo er ganz allein war mit den Einheimischen und einem Haufen Arbeit. In den vier Jahren seiner völligen Einsamkeit arbeitete er tüchtig, aber er verfiel dem Laster des stillen, heimlichen Trunkes. Er kam älter, müder und verbrauchter zurück, als ihn das Lebendig-Begrabensein in der Einöde hätte machen dürfen. Ein bekanntes Wort heißt, daß ein Mann, der über ein Jahr allein im Dschungel haust, für sein ganzes Leben die geistige Gesundheit verliert. Man schrieb Moriartys Wunderlichkeit und Schwermut dem einsamen Leben zu und sagte, er wäre wieder einmal ein Beweis dafür, wie die Regierung die Zukunft ihrer besten Leute vernichte. Er hatte den Grund zu seiner Hochschätzung durch seine Leistungen beim Brückenbau gelegt. Daß er Nacht für Nacht auf dem besten Wege war, seine Hochschätzung mit Kognak, Korn, kleinen Likörproben und solchem Zeug zu untergraben, war ihm klar. Er hatte einen kräftigen Körper und einen widerstandsfähigen Geist, sonst wäre er wie ein krankes Kamel in seiner Gegend zusammengebrochen und gestorben. So ist es schon Besseren vor ihm gegangen.

Die Regierung schickte ihn nach Ablauf seiner Zeit in der Einsiedelei nach Simla. Er ging in der Absicht hin, sich dort um eine gerade freie Stellung zu bewerben. In dieser Saison stand Mrs. Reiver, deren man sich wohl noch erinnert, auf der Höhe ihrer Macht, und viele Männer waren in ihr Joch gespannt. Was über Mrs. Reiver Schlechtes zu sagen war, ist bereits in einer anderen Geschichte gesagt worden. Moriarty war ein großer, breitschulteriger, schöner Mann. Er war sehr still und, wenn er nicht gerade in Gedanken versunken war, ängstlich besorgt, seinem Nächsten zu gefallen. Bei plötzlichen Geräuschen fuhr er zusammen und erschrak, wenn man ihn unerwartet ansprach. Und wenn man ihn bei Tisch trinken sah, dann sah man die Hand mit dem Wasserglas ein klein wenig zittern. Aber alles das schrieb man seiner Nervosität zu. Das stille, beständige »Schluck-Schluck-Schluck, schenk ein und Schluck-Schluck-Schluck, noch mal!«, das im einsamen Zimmer vor sich ging, das wußte niemand. Es ist eigentlich ein Wunder, denn hier in Indien ist auch das privateste Leben Gemeingut.

Moriarty geriet nicht in Mrs. Reivers Kreis, denn der war nicht sein Geschmack, aber in ihre Gewalt. Er sank ihr zu Füßen und erhob sie zu seiner Göttin. Schuld daran war seine Rückkehr aus dem Dschungel in die Großstadt. Er hatte die Fähigkeit verloren, zu sehen und zu wägen, wer und wie ein Mensch war.

Mrs. Reivers Kälte und Härte hielt er für Hoheit und Würde, ihren Mangel an Klugheit und Redegewandtheit für Zurückhaltung und Schüchternheit. Mrs. Reiver und schüchtern! Da sie Niemandes Achtung oder Verehrung wert war, ehrte er sie, aus der Ferne, und begabte sie mit allen Tugenden der Bibel und den meisten aus Shakespeare.

Der große, dunkelhaarige, zerstreute Mann, der schon nervös wurde, wenn ein Pony hinter ihm hertrabte, folgte schmachtend Mrs. Reiver und errötete vor Seligkeit, wenn sie ihm ein oder zwei Worte zuwarf. Seine bewundernde Liebe war streng platonisch. Selbst andere Frauen sahen das ein und gaben das zu. Er ging in Simla wenig aus und hörte daher nichts gegen sein Idol. Und das war gut. Mrs. Reiver schenkte ihm keine besondere Aufmerksamkeit, es genügte ihr, ihn in den Reihen ihrer Verehrer zu wissen. Sie ging also hin und wieder mit ihm spazieren, nur um zu zeigen, daß sie Eigentumsrechte an ihm habe. Dabei hat Moriarty sicher allein die Kosten der Unterhaltung tragen müssen, denn Mrs. Reiver hatte einem Manne seines Schlages wenig zu sagen. Das Wenige, was sie sagte, war sicher nicht gewinnbringend. Moriarty glaubte mit vollstem Recht an Mrs. Reivers Einfluß auf ihn, und dieser Glaube veranlaßte seinen festen Entschluß, sein Laster, das nur er allein kannte, abzuschütteln.

Er muß in diesem Kampfe manch merkwürdige Erfahrung gemacht haben, aber er hat nie davon gesprochen. Wirklich trank er zeitweise eine ganze Woche hindurch nichts als Wasser. Wenn ihn dann aber an einem regnerischen Abend niemand zu Tisch gebeten hatte, wenn ein tüchtiges Feuer in seinem Zimmer brannte und alles gemütlich war, dann saß er die ganze Nacht mit weitgreifenden Besserungsplänen und trank Schluck für Schluck, bis er sich schwer trunken auf das Bett legen mußte. Am nächsten Morgen litt er.

Eines Nachts kam der Zusammenbruch. Seine Versuche, »der Freundschaft Mrs. Reivers würdig zu werden«, quälten ihn. Die letzten zehn Tage waren sehr schlimm gewesen, und das Ende vom Liede war, daß die Folgen eines fast dreijährigen, stillen Trunkes in einem einzigen Anfall milden Delirium tremens zum Durchbruch kamen. Der Anfall begann mit Selbstmordgedanken, dann folgten hysterische Krämpfe und Zuckungen und zuletzt wahrhafte Raserei. Während er vor dem Feuer saß, oder im Zimmer auf und nieder schreitend sein Taschentuch in Fetzen riß, offenbarte der arme Moriarty seine innersten Gedanken über Mrs. Reiver. Denn hauptsächlich galt sein Toben ihr und dem Rückfall in sein Laster, wenn er auch in dies Gedankennetz lange Amtsberichte mit verwob. Er redete und redete und redete in einem leisen Flüstertone mit sich selber und fand kein Ende. Er wußte wohl, daß etwas nicht in Ordnung war und versuchte zweimal, sich zusammenzunehmen und mit dem Arzte vernünftig zu beraten. Aber er verlor sofort wieder die Macht über seinen Verstand und fiel wieder in sein Flüstern und in den Bericht seines Kummers zurück. Es ist grauenvoll, einen großen, starken Mann wie ein Kind über Dinge plappern zu hören, die er sonst in der Tiefe seines Herzens verschlossen und begraben hält. Moriarty breitete sein Innerstes vor jedem aus, der zwischen halb elf Uhr nachts und dreiviertel drei Uhr morgens in sein Zimmer kam.

Aus allem, was er sagte, fühlte man den ungeheuren Einfluß Mrs. Reivers und den tiefen Schmerz über seinen Rückfall. Natürlich läßt sich sein Geflüster hier nicht wiedergeben. Aber lehrreich war es, denn es zeigte, wie schwer er in seinem Urteil irrte.

Als die Störung vorüber war, und seine wenigen Bekannten ihm ihre Teilnahme bezeugten, daß ihn der schwere Anfall Dschungelfieber so mitgenommen habe, schwor Moriarty sich einen heiligen Schwur. Bis zum Ende der Saison ging er wieder mit Mrs. Reiver aus und betete sie in seiner stillen, ehrerbietigen Art an wie einen Engel des Himmels. Später verlegte er sich aufs Reiten. Es war kein Gestümper, sondern ein wirklich tüchtiges, schulmäßiges Reiten. Und das war ein gutes Zeichen seiner Besserung. Man konnte sogar in seinem Rücken Türen zuschlagen, ohne daß er entsetzt aufsprang. Auch das war vielversprechend.

Wie er seinen Schwur hielt, und was es ihn anfangs gekostet haben mag, kann niemand ermessen. Aber zweifellos hat er das Schwerste zuwege gebracht, was ein schwerer Trinker nur zuwege bringen kann. Er trank seinen Whisky mit Soda und seinen Wein bei Tisch; aber er trank niemals in der Stille und nie so viel, daß es Macht über ihn gewann.

Einmal erzählte er einem seiner besten Freunde die Geschichte seines großen Kampfes, und wie »der Einfluß einer reinen, engelhaften Frau« ihn gerettet habe. Als der Freund, erstaunt, daß man Mrs. Reiver Gutes nachsagen könnte, auflachte, kostete es ihn Moriartys Freundschaft. Moriarty ist jetzt mit einer Frau verheiratet, die zehntausendmal besser ist als Mrs. Reiver, einer Frau, die glaubt, daß kein Mann auf Erden besser und klüger ist als ihr Gatte. Aber noch auf dem Totenbette wird er beteuern und schwören, daß ihn Mrs. Reiver hier und im Jenseits vom Verderben errettet habe.

Daß sie Moriartys Schwäche gekannt hat, glaubte niemand auch nur für einen Augenblick. Aber keiner zweifelte daran, daß sie dann Moriarty fallen gelassen und geschnitten hätte und daß sie allen ihren Bekannten die große Entdeckung mitgeteilt haben würde.

Moriarty hielt sie für etwas, was sie nie gewesen ist, und rettete sich selbst in diesem Glauben. Und das ist nicht minder gut, als wenn sie in Wirklichkeit all das gewesen wäre, was sie in seiner Einbildung war.

Es fragt sich nur noch, welcher Anteil Mrs. Reiver an Moriartys Rettung zugeschrieben wird, wenn für sie der Tag der Abrechnung kommt.

Ein Bankbetrug

Ein Bankbetrug

Wäre Reggie Burke jetzt in Indien, er würde es mir übelnehmen, daß ich diese Geschichte erzähle; da er aber zur Zeit in Hongkong lebt und sie nicht lesen wird, kann ich es getrost wagen. Er war der Mann, der den großen Betrug bei der Sind und Sialkote-Bank inszenierte. Damals war er Leiter einer Zweigstelle im Innern des Landes, ein Mann von gesunder praktischer Vernunft mit einer großen Erfahrung im einheimischen Kredit- und Versicherungswesen. Ja, er verstand sogar, die Frivolitäten des Alltags mit seiner Arbeit zu vereinen und trotzdem etwas zu leisten. Reggie Burke ritt jedes Tier, das ihm gestattete, aufzusitzen, tanzte so sauber wie er ritt und war bei allen Amüsements der Station unentbehrlich.

Wie er selbst betonte und wie viele Leute zu ihrer ziemlichen Überraschung entdeckten, gab es zwei Burkes, beide »ganz zu ihren Diensten«: von vier bis zehn »Reggie Burke«, zu allen Schandtaten bereit, bei einer Heiß-Wetter Gymkhana angefangen bis zu einem Reitpicknick, und »Mr. Reginald Burke«, Leiter der Zweigstelle der Sind und Sialkote-Bank, zu sprechen von zehn bis vier. Man konnte am Nachmittage mit ihm Polo spielen und ihn unverhohlen seine Meinung äußern hören, wenn einer »kreuzte«, und ihn am nächsten Morgen aufsuchen, um auf eine Fünfhundert-Pfund-Versicherungspolice – bezahlte Prämie achtzig Pfund – eine Zweitausend-Rupienanleihe aufzunehmen. In diesem Falle pflegte er einen zwar zu erkennen, aber ihn selbst wiederzuerkennen, war nicht ganz so einfach.

Die Direktoren der Bank – das Hauptquartier befand sich in Kalkutta und das Wort des Generaldirektors hatte Einfluß auf die Regierung – pflegten ihre Mitarbeiter zu sieben. Sie hatten Reggie gründlichst auf Herz und Nieren geprüft. Sie vertrauten ihm, so weit Bankdirektoren ihren Zweigstellenleitern überhaupt trauen. Man urteile selbst, ob er ihr Vertrauen verdiente.

Reggies Zweigstelle befand sich an einer größeren Station, und Reggie verfügte über die gewöhnlichen Hilfskräfte: einen Buchhalter und einen Kassierer, beide aus England, und eine Horde einheimischer Bankangestellter, nicht zu vergessen die nächtliche Polizeipatrouille. Der größte Teil der Geschäfte – es war ein blühender Distrikt – bestand aus allen möglichen kleineren, einheimischen Wechsel- und Geldtransaktionen. Ein Narr wird niemals diese Art von Geschäften begreifen, und ein kluger Mann, der nicht mit seinem Kundenkreis verkehrt und mehr als nur eine Ahnung von deren Angelegenheiten hat, ist schlimmer dran als ein Narr. Reggie war jung für sein Alter und glattrasiert, mit einem schalkhaften Ausdruck in den Augen und einem Kopf auf den Schultern, den nichts unter vier Liter echten Artillerie-Madeiras zu rühren vermochte.

Eines Tages bemerkte er so nebenbei, anläßlich eines großen Diners, die Direktoren hätten ihm aus England eine naturhistorische Seltenheit aus der Klasse der Buchhalter verfrachtet. Dies traf vollkommen zu. Mr. Silas Riley, Buchhalter, war in der Tat ein außerordentlich seltenes Tier – ein hochaufgeschossener, hagerer, grobknöchiger Mann aus Yorkshire, voll von jener maßlosen Einbildung, wie sie nur in der tüchtigsten Grafschaft Englands gedeiht. Arroganz ist ein mildes Wort, um die geistige Haltung von Mr. S. Riley zu bezeichnen. Er hatte sich nach siebenjähriger Tätigkeit zur Stellung eines Kassierers in einer Huddersfielder Bank hinaufgearbeitet und seine ganzen Erfahrungen in den nördlichen Fabrikbezirken gesammelt. Vielleicht hätte er in die Gegend von Bombay, wo Gewinne von anderthalb Prozent den Menschen schon glücklich machen und das Geld billig ist, besser hineingepaßt. Hier in einer Weizenprovinz Oberindiens war er unbrauchbar, denn hier bedarf ein Mann eines weiten Blicks und eines Funkens von Phantasie, um eine befriedigende Bilanz vorzeigen zu können.

In Geschäften war er von einer erstaunlichen Beschränktheit; da er im Lande fremd war, ahnte er natürlich nicht, daß das Bankwesen in Indien sich von dem in der Heimat gründlich unterscheidet. Wie fast jeder kluge Selfmademann entbehrte seine Natur nicht eines beträchtlichen Maßes von Einfalt; auf irgend eine Weise hatte er sich dank der in die üblichen Höflichkeitsfloskeln gekleideten Bedingungen seines Anstellungsschreibens den Glauben konstruiert, die Direktoren hielten besondere Stücke auf ihn und hätten ihn wegen seiner glänzenden Geistesgaben zu dem Posten auserwählt. Dieser Gedanke wuchs und nahm immer festere Formen an und vermehrte noch seinen natürlichen Fond Yorkshirer Einbildung. Außerdem war seine Gesundheit angegriffen; er litt an einem Lungenleiden und war daher besonders reizbar.

Nach alledem muß man wohl zugeben, daß Reggie triftigen Grund hatte, seinen Buchhalter als eine naturhistorische Seltenheit zu bezeichnen. Die beiden Männer kamen überhaupt nicht miteinander aus. Riley hielt Reggie für einen wilden, hirnverbrannten Dummkopf mit einer Vorliebe für, der Himmel weiß was für Ausschweifungen in gemeinen Lokalen, »Offiziersmessen« genannt; für einen Menschen, der zu dem ernsten und geheiligten Beruf des Bankfachmannes überhaupt nicht taugte. Niemals vermochte er sich mit Reggies jugendlichem Aussehen, mit seinem »Hol-dich-der Teufel« Gebaren abzufinden; und er konnte auch nicht Reggies Freunde verstehen – gutgewachsene, leichtsinnige Burschen von der Armee, die an Sonntagvormittagen zu Frühstücken in der Bank hinübergeritten kamen und schwüle Geschichten erzählten, bis Riley aufstand und das Zimmer verließ. Riley fuhr ohne Unterbrechung fort, Reggie zu zeigen, wie er das Geschäft führen müsse, und Reggie mußte ihn mehr als einmal daran erinnern, daß eine siebenjährige, begrenzte Erfahrung zwischen Huddersfield und Everley einen Mann noch nicht instand setzte, ein Geschäft im Innern Indiens zu leiten. Dann fing Riley an zu schmollen und sich darauf zu berufen, daß er eine Koryphäe der Bank und ein geschätzter Freund der Direktoren sei – und Reggie raufte sich die Haare. Wenn eines Mannes englische Angestellte ihn hierzulande im Stich lassen, so geht es ihm in der Tat schlecht, denn die Fähigkeiten der einheimischen Hilfskräfte sind durchaus begrenzt. Im Winter erkrankte Riley außerdem auf Wochen hinaus an seinem Lungenleiden, wodurch eine vermehrte Arbeitslast sich auf Reggie wälzte. Der jedoch zog das den dauernden Reibungen mit Riley vor.

Einer der reisenden Inspektoren der Bank erfuhr eines Tages von diesen Zusammenbrüchen Rileys und berichtete darüber den Direktoren. Nun war Riley der Bank von einem gewissen Parlamentsmitglied, das sich die Unterstützung von Rileys Herrn Papa zu erringen wünschte, aufgezwungen worden, und dieser wieder hatte seinen Sohn infolge des Lungenleidens in ein wärmeres Klima versetzen wollen. Das Parlamentsmitglied war zwar an der Bank beteiligt, aber einer der Direktoren hatte einen eigenen Anwärter auf Rileys Posten, und da Rileys Vater inzwischen gestorben war, bewog der Direktor den übrigen Vorstand zu der Einsicht, dieser Buchhalter, der über sechs Monate im Jahr krank wäre, müsse einem gesunden Manne weichen. Hätte Riley die wahre Geschichte seiner Anstellung gewußt, er würde sich wahrscheinlich besser benommen haben; da er aber nichts davon ahnte, wechselten seine Krankheitsperioden mit Zeiten ruhloser, hartnäckiger, nörgelnder Einmischung in Reggies Tätigkeit, während derer er Gelegenheit fand, auf hundert verschiedene Arten, wie sie sich dem subordinierten Angestellten immer bieten, der eigenen Eitelkeit zu frönen. Reggie pflegte ihn hinter seinem Rücken mit den überraschendsten, haarsträubendsten Namen zu belegen; direkt jedoch schalt er ihn niemals, denn er meinte: »Riley ist ein so verdammt schwächliches Geschöpf, daß die Hälfte seiner ekelhaften Einbildung seinen Stichen in der Brust entspringt.«

Ende April wurde Riley in der Tat schwer krank. Der Arzt klopfte und trommelte an ihm herum und sagte ihm, er würde sich bald wieder besser fühlen. Dann ging der Arzt zu Reggie und sagte: »Wissen Sie, wie krank Ihr Buchhalter ist?« »Nein,« sagte Reggie – »Je schlimmer, desto besser, der Teufel hol ihn! Er ist ’ne verdammte Plage, solange er sich wohl fühlt. Ich erlaube Ihnen, den Kassenschrank zu rauben, wenn Sie ihm während dieser Hitzeperiode was verschreiben, daß er den Mund hält.«

Aber der Doktor lachte nicht. »Mensch, ich mache wahrhaftig keine Witze. Ich schätze, daß er im Bett noch weitere drei Monate zu leben, sowie ein oder zwei Wochen zum Sterben hat. Bei meiner Ehre und meinem Ruf, eine längere Galgenfrist ist ihm nicht bemessen. Die Schwindsucht hat ihn bis ins Mark zerfressen.«

Reggies Gesicht verwandelte sich auf der Stelle in das von »Mr. Reginald Burke«, und er antwortete: »Was kann ich tun?« »Nichts,« entgegnete der Arzt. »Praktisch gesprochen, ist der Mann bereits tot. Sorgen Sie, daß er Ruhe hat und gute Laune, und reden Sie ihm vor, daß er sich erholen wird. Das ist alles. Ich werde natürlich bis zum Schluß nach ihm sehen.«

Damit entfernte sich der Arzt, und Reggie setzte sich, um die abendliche Post durchzusehen. Der erste Brief war von dem Vorstand und bedeutete ihm, daß Mr. Riley mit monatlicher Kündigung, entsprechend den Bedingungen seines Vertrages, zurückzutreten hätte; zugleich teilte man Reggie mit, daß ein direkter Brief an Riley folgte, und nannte ihm den Namen des neuen Buchhalters, eines Mannes, den Reggie kannte und gut leiden konnte.

Reggie steckte sich eine Manila an und entwarf, noch ehe er ausgeraucht hatte, den Plan zu einem Betrage. Er unterschlug den Brief der Direktoren und ging hinüber zu Riley, der so ungnädig wie immer war und sich über die Art, in der die Bank während seiner Krankheit geleitet werden würde, aufregte. Keinen einzigen Gedanken widmete er der Extraarbeit, mit der Reggie belastet war, sondern verweilte nur bei dem Schaden, der dadurch seiner eigenen Karriere entstünde. Aber Reggie versicherte ihm, alles würde gut gehen, und er, Reggie, wolle sich täglich mit Riley über die Leitung der Bank beraten. Das beruhigte Riley ein wenig; trotzdem ließ er ziemlich deutlich durchblicken, daß er von Reggies Geschäftstüchtigkeit nicht viel hielte. Reggie war ruhig und bescheiden. Dabei lagen Briefe von den Direktoren in seinem Schreibtisch, auf die ein Rothschild hätte stolz sein können.

Die Tage vergingen in dem großen, verdunkelten Hause, und der blaue Brief von der Direktion an Riley wurde von Reggie wegeskamotiert, der allabendlich die Bücher in Rileys Zimmer hinüberschleppte und ihm die laufenden Geschäfte auseinandersetzte, während Riley schimpfte. Reggie tat sein möglichstes, um Riley die Sache mundgerecht zu machen, doch der Buchhalter war überzeugt, die Bank ginge ohne ihn vor die Hunde. Als im Juni die Bettlägerigkeit seine Stimmung zu beeinträchtigen begann, erkundigte er sich, ob die Direktion von seiner Abwesenheit Notiz genommen hätte, und Reggie erklärte, sie hätte einen ungemein mitfühlenden Brief geschrieben und die Hoffnung ausgedrückt, Riley würde seine wertvollen Dienste bald wieder aufnehmen können. Er zeigte dem Kranken sogar den Brief; und Riley bemerkte, die Direktoren hätten an ihn selbst schreiben müssen. Wenige Tage später öffnete Reggie in der Dämmerung des Krankenzimmers Rileys Post und überreichte ihm den Briefbogen – nicht den Umschlag – eines Schreibens der Direktion an Riley. Riley sagte, er ersuche ihn, in Zukunft seine Privatkorrespondenz in Ruhe zu lassen; zumal er ja wüßte, daß er, Riley, so schwach sei, daß er nicht einmal seine eigenen Briefe aufmachen könnte. Reggie entschuldigte sich.

Dann wechselte Rileys Laune, und er hielt Reggie Moralpredigten über seinen lockeren Lebenswandel: seine Pferde und seine üblen Freunde. »Natürlich kann ich Sie jetzt, während ich ans Bett gefesselt bin, nicht auf dem rechten Wege halten, Mr. Burke; wenn ich aber erst wieder gesund bin, hoffe ich tatsächlich, daß Sie meine Worte ein wenig berücksichtigen werden.« Reggie, der Polo, Diners und Tenniseinladungen aufgegeben hatte, um Riley zu pflegen, erklärte daraufhin, er bereue und schob Rileys Kopfkissen zurecht und lauschte ohne das leiseste Zeichen von Ungeduld, während Riley in trockenem, abgerissenem Flüsterton sich ereiferte und ihm widersprach. Und das alles obendrein Ende Juni nach einer schweren Tagesarbeit für zwei!

Als der neue Buchhalter eintraf, setzte Reggie ihm den Sachverhalt auseinander und teilte Riley mit, er hätte Logierbesuch bekommen. Riley meinte, soviel Rücksicht hätte er auch haben können, sich nicht zu einer solchen Zeit mit seinen »zweifelhaften Freunden« zu amüsieren. Die Folge war, daß Reggie den neuen Buchhalter, Carron, veranlaßte, im Klub zu logieren. Carrons Ankunft entlastete Reggie ein wenig; so hatte er Zeit, Rileys Anforderungen zu genügen – zu erklären, zu beschwichtigen, Lügen zu ersinnen, dem armen Kerl immer wieder die Kissen zurechtzuschütteln und schmeichelhafte Briefe aus Kalkutta zu fälschen. Gegen Ende des ersten Monats wünschte Riley, einiges Geld nach Hause an seine Mutter zu schicken. Reggie sandte die Anweisung. Ende des zweiten Monats traf pünktlich, wie immer, Rileys Gehalt ein. Reggie hatte es aus eigener Tasche gezahlt und ihm gleichzeitig im Namen der Direktion einen wunderschönen Brief geschrieben.

Riley war wirklich sehr krank, und die Flamme seines Lebens flackerte unstet. Mitunter war er heiter und zukunftsfroh und schmiedete Pläne, wie er nach Hause fahren und seine Mutter besuchen wolle. Reggie lauschte dem allen geduldig, nach beendeter Bürozeit, und unterstützte es nach Kräften.

Mitunter aber bestand Riley darauf, daß Reggie ihm aus der Bibel und aus düsteren, methodistengleichen Traktätchen vorlas. Alsdann verwies Riley auf die Moral der Schriften, die er so auslegte, daß sie direkt auf seinen Chef zu zielen schien. Und immer und ewig fand er Zeit, Reggie wegen der Bankgeschäfte das Leben sauer zu machen und ihm zu zeigen, wo die Sache faul stünde.

Dieses Krankenzimmerleben und die fortgesetzte Überanstrengung brachten Reggie ziemlich herunter und erschütterten seine Nerven derart, daß sich sein Billardspiel um vierzig Punkte verschlechterte. Aber die Geschäfte der Bank und die Geschäfte des Krankenzimmers mußten durchgehalten werden, ob auch das Thermometer 116 Grad im Schatten anzeigte.

Ende des dritten Monats ging es mit Riley rapide bergab, und er selbst hatte begonnen, sich darüber klar zu werden, daß er schwerkrank sei. Aber die Eitelkeit, die ihn dazu trieb, Reggie zu quälen, hielt ihn auch davon ab, das Schlimmste zu glauben. »Er bedarf irgendeines geistigen Anregungsmittels, wenn er sich hinschleppen soll,« sagte der Arzt. »Sorgen Sie, daß er Interesse am Dasein hat, wenn Ihnen wirklich daran liegt, daß er weiterlebt.« So erhielt Riley entgegen sämtlichen Regeln des Geschäfts und der Finanz eine fünfundzwanzigprozentige Gehaltserhöhung von der Direktion. Das »geistige Anregungsmittel« wirkte wunderbar. Riley war glücklich und heiter und, wie das bei Schwindsüchtigen häufig ist, geistig am frischesten, wenn sein Körper am meisten darniederlag. Er schleppte sich noch einen vollen Monat so hin, bissig, giftig, sich über die Bank aufregend, von der Zukunft sprechend und der Bibel lauschend, während er Reggie seiner Sünden wegen herunterputzte und hin und her überlegte, wann er wohl nach drüben reisen könnte.

Allein eines erbarmungslos heißen Abends Ende September richtete er sich plötzlich keuchend im Bette auf und sagte hastig zu Reggie: »Mr. Burke, ich muß sterben. Ich fühle es aus mir selbst heraus. Meine Brust ist da drinnen ganz ausgehöhlt, es ist ja nichts mehr da, womit ich atmen könnte. Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich nichts getan« – er begann wieder, in den Dialekt seiner Kindheit zu verfallen – »was ich allzusehr zu bereuen hätte. Ich bin Gott sei Dank vor den grobem Formen der Sünde bewahrt worden, und ich rate Ihnen, Mr. Burke …«

Seine Stimme erstarb, und Reggie beugte sich über ihn.

»Schicken Sie mein Gehalt für September an meine Mutter … große Dinge für die Bank getan, wenn ich am Leben … grundfalsche Politik … nicht meine Schuld …«

Dann drehte er sich zur Wand und starb.

Reggie zog das Laken über jenes Dings Gesicht und ging auf die Veranda hinaus, sein letztes »geistiges Anregungsmittel« – einen mitfühlenden, ihr Bedauern über die Krankheit aussprechenden Brief der Direktion – unberührt in seiner Tasche.

»Wäre ich nur zehn Minuten früher gekommen!« dachte Reggie. »Vielleicht wäre es mir gelungen, ihn so aufzumuntern, daß er noch einen Tag länger durchgehalten hätte.«

Die Einnahme von Lungtungpen

Die Einnahme von Lungtungpen

Folgende Geschichte erzählte mir mein Freund, der Gemeine Mulvaney, als wir bei einer Schmetterlingsjagd auf der steinernen Brustwehr am Wege nach Dagschai saßen. Er hatte seine eigenen Ansichten über die Armee und darüber, wie Tonpfeifen zu bemalen sind. Er behauptete, mit Rekruten käme man am weitesten, »von wegen ihrer Lammsunschuld«.

»Hören Sie zu,« sagte Mulvaney und streckte sich der Länge nach auf der Mauer in die Sonne: »Ich bin so’n richtiger, alter Regimentsgaul. Für mich ist die Armee das Leben. Ich gehöre zu den paar, die nicht ohne sie sein können. Siebzehn Jahre bin ich dabei; mir sind die Flötentöne ans Herz gewachsen. Hätte ich mir meinen Monatssuff nicht angewöhnt, dann wäre ich heute Mannschaftsoffizier. Dann wäre ich eine schöne Plage für meine Vorgesetzten, ein Schafskopf für meinesgleichen und mir selber zum Ekel. Aber ich bin nun mal, was ich bin, und bleibe der Gemeine Mulvaney ohne Extrazuschuß für gute Führung und mit einem mächtigen Durst. Aber mit Ausnahme von meinem Freunde Bob Bahadur weiß ich noch immer so viel von der Armee wie sonst wer.«

Hier nannte ich einen Namen.

»Zum Henker mit Wolseley! Hier unter uns, vor Ihnen und mir und dem Schmetterlingsnetz gesagt, ist er so einer, der nichts versteht und über alles redet. Mit dem einen Auge schielt er nach dem Hof und mit dem anderen auf sein eigenes gesegnetes Ich. Andauernd hält er sich für Cäsarn und Alexandern in einer Person. Unser Bob, das ist ein anderer Kerl! Mit dem und ein paar Leuten, die noch keine drei Jahre Dienst hinter sich haben, will ich jede Armee von der Erde herunterfegen und meinethalben noch bis in die Hölle hinein. Weiß Gott, das ist mein Ernst! Die Rekruten, die ganz grünen, die noch nicht wissen, was eine Kugel heißt, und die sich auch nicht daran kehrten, wenn sie es wüßten, die machen die beste Arbeit. Da stopft man sie nun mit Rindfleisch voll, bis sie vor lauter Übermut nicht wissen, wohin; und wenn sie dann nichts zu tun kriegen, dann fahren sie sich selber in die Haare. Das können Sie mir schon glauben. Während der Hitze sollten sie auf Brot und Wasser gesetzt werden. Aber dann gibt’s ’ne Meuterei.

Wissen Sie, wie der Gemeine Mulvaney die Stadt Lungtungpen erobert hat? Nein? Das konnte ich mir denken! Der Leutnant hat den Ruhm, aber der Plan kommt von mir. Kurz ehe ich von Birma ins Lazarett kam, stand ich mit vierundzwanzig jungen Kerls unter Leutnant Brazenose. Die Galle ging uns ins Blut, weil wir Räuber fangen sollten und sie nicht kriegten. Mein Lebtag hab‘ ich nicht solch zweibeiniges Hundepack gesehen! Ohne Hinterlader und Dolche würde man sie überhaupt für friedvolle Ackerbürger und nicht für Räuber gehalten haben, und es wäre eine Gemeinheit gewesen, sie niederzuknallen. Wir haben sie gejagt, aber erwischt haben wir höchstens das Fieber und ein paar Elefanten. Zu guter Letzt faßten wir wirklich einen. ›Behandelt ihn zart,‹ sagt unser Leutnant. Na, ich bringe ihn also ein bißchen in den Dschungel und nehme mir den birmesischen Dolmetscher und meinen Ladestock mit. Und dann sage ich zu dem Kerl: ›Mein friedfertiger Freund,‹ sage ich, ›nun setz dich mal auf deine Schinken und sage mal meinem Freund hier, wo deine Freunde sind, wenn sie zu Hause sind.‹ Bei der Gelegenheit laß ich ihn denn mit meinem Ladestock Bekanntschaft schließen, und er fängt auch gleich an zu schnattern. Unser Dolmetscher dolmetscht, und ich helfe der Abteilung für Nachrichtendienst mit meinem Ladestock ein bißchen auf die Sprünge, wenn das Gedächtnis versagen wollte.

Ich höre also, daß es neun Meilen überm Fluß eine Stadt gibt, die nur so gespickt ist mit Dolchen, Bogen, Pfeilen, Räubern, Elefanten und so weiter. ›Na,‹ sage ich, ›jetzt können wir ja die Auskunftsstelle schließen.‹

Am Abend gehe ich also zum Leutnant und berichte. Bis dahin hatte ich nie viel von Leutnant Brazenose gehalten. Er war zu vollgestopft mit Gelehrsamkeit und Theorien, die nichts taugen. ›Eine Stadt, haben Sie gesagt?‹ fragt er. ›Gemäß der theoretischen Kriegsführung müssen wir auf Verstärkung warten.‹ Na, denk ich, dann können wir man gleich unser Grab schaufeln. Denn die nächsten Truppen saßen bis an den Bauch in den Mimbusümpfen. ›Aber,‹ sagt der Leutnant, ›da hier ein besonderer Fall vorliegt, können wir ja eine Ausnahme machen. Heute nacht wollen wir uns dies Lungtungpen doch mal ansehen.‹

Unsere Kerls waren halb verrückt vor Freude, wie ich’s ihnen erzählte. Sie liefen durch das Dickicht wie die Feldhasen. So um Mitternacht kommen wir an den Fluß, den ich, weiß Gott, dem Leutnant zu melden vergessen hatte. Ich war mit vieren voran. Hatte ich ’ne Angst, daß der Leutnant wieder mit seinen Theorien anfangen würde. ›Runter mit den Sachen!‹ ruf ich, ›runter bis aufs Hemd! Schwimmt euerem Ruhm entgegen!‹ ›Ich kann nicht schwimmen,‹ antworten gleich zwei. ›Sollte man das bei Menschen von eurer Bildung für möglich halten?‹ sagte ich. ›Haltet euch an einem Baumstamm fest. Conolly und ich, wir werden euch schon rüber bugsieren, euch Jungfern!‹

Wir holen also einen alten Baumstamm, legen die Flinten und das Zeug obenauf und schieben los. Die Nacht war stockduster, und als wir gerade flott sind, höre ich den Leutnant hinter mir rufen. ›Es ist ja nur ein halbtrockenes Flußbett! ‹ sag ich, ›ich fühle Grund.‹ Und ich fühlte ihn auch, denn ich war kaum vom Ufer fort.

›Ein hübsches, trockenes Flußbett!‹ sagt der Leutnant. ›Vorwärts, du verrückter Kauz! Runter mit den Sachen, Jungens!‹ Ich hörte ihn lachen, und die Leute zogen sich aus und rollten ’nen Baum für die Sachen ins Wasser. Conolly und ich, wir stoßen ab mit unserem Baum, und die anderen kommen hinterher.

Der Fluß waren meilenbreit. Ortheris, der hinten am Baum mithalf, brummte in den Bart, wir wären wohl aus Versehen in die Themse bei Sheerneß geraten. ›Schwimm weiter, dummer Hund,‹ sag ich, ›und laß hier unseren Irriwaddy mit deinen faulen Witzen in Ruh.‹ ›Ruhe, Leute!‹ ruft der Leutnant. So schwimmen wir also im Finsteren drauf los, mit der Brust gegen den Baum, und verlassen uns auf den lieben Gott und aufs Glück der britischen Armee.

Schließlich stoßen wir wieder auf Grund – Sand war’s – und auf einen Mann. Ich trete ihm gerade auf den Rücken, und da kreischt der Kerl los, und fort ist er.

›Jetzt haben wir’s!‹ sagt der Leutnant Brazenose. ›Wo zum Teufel ist denn nun Lungtungpen?‹ So anderthalb Minuten mußten wir warten. Unsere Leute nahmen die Gewehre, einige versuchten auch noch die Degenkoppel umzuschnallen. Wir gingen, müssen Sie wissen, mit aufgepflanzten Bajonetten los. Wir erfuhren, wo Lungtungpen war. Denn wir waren im Dunkeln an die Flußmauern geraten. Die ganze Stadt starrte von Hinterladern und solchem Krimskrams, wie ein gesträubter Katzenbuckel bei Nacht. Alles schoß auf einmal, aber über uns hinweg mitten in den Fluß.

›Gewehr in Ordnung?‹ ruft der Leutnant. ›Zu Befehl,‹ sagt Ortheris. ›Ich hab‘ dem Hund Mulvaney seins. Das hab‘ ich nun für meinen rückständigen Sold, daß mir das lange Stück das Schlüsselbein einschlägt.‹ ›Vorwärts!‹ schreit Brazenose, den Degen in der Faust. ›Stürmt die Stadt! Vorwärts! Und Gott sei unseren armen Seelen gnädig.‹

Unsere Leute brüllten mörderisch und stürmten ins Dunkel, instinktiv auf die Stadt los. Wie das harte Gras sie in die bloßen Beine stach, kriegten sie die blinde Wut und gingen stocksteif drauf los wie lauter Kavalleriereitlehrer. Ich stieß mit dem Gewehrkolben an ein Bambusding. Ich glaubte, es würde nachgeben. Und die anderen stoßen auch drauf los, während der Krimskrams über uns donnerte und blitzte, und das Geschrei hinter der Mauer uns das Trommelfell zerriß. Aber wir waren schon zu nahe, als daß sie uns hätten treffen können.

Schließlich krachte das Ding, was es auch war, zusammen. Und wir alle sechsundzwanzig stolperten splitternackt wie die Neugeborenen in die Stadt Lungtungpen. Zuerst gab es ein großartiges Handgemenge. Ich weiß nicht, ob sie uns, weiß und naß, wie wir waren, für eine neue Sorte Teufel oder Räuber gehalten haben. Gelaufen sind sie jedenfalls, als wenn wir beides gewesen wären. Und wir mit Kolben und Bajonett hinterher, brüllend vor Lachen. Auf den Straßen brannten Fackeln, und ich sah, wie der kleine Ortheris sich jedesmal, wenn er meine Muskete abgeschossen hatte, die Schulter rieb. Und Brazenose schritt mit seinem Degen voran wie Richard der Löwe, nur hatte er keinen Faden am Leibe. Wir fanden ein paar Räuber versteckt unter Elefanten und hatten bis zum Morgen allerhand zu tun.

Dann wurde halt gemacht und wir stellten uns in Reih und Glied. Die Weiber kreischten in den Häusern, und Leutnant Brazenose wurde rosenrot, als die Sonne uns beleuchtete. So ’ne unanständige Parade habe ich nie mitgemacht. Fünfundzwanzig Gemeine und ein Offizier in Frontstellung ohne so viel Zeug am Leibe, daß man ’ne Flöte damit hätte abwischen können. Achte von uns hatten wenigstens Koppel und Patronentasche um, aber die anderen waren nur mit einer Handvoll Patronen, ohne irgend etwas an, losgezogen. Sie waren nackt wie die Venus.

›Es wird von rechts abgezählt!‹ sagt der Leutnant. ›Die Ungeraden treten ab zum Anziehen. Die Geraden zur Patrouille, bis sie von den andern abgelöst werden können!‹ Ich kann Ihnen sagen, eine Stadtpatrouille ohne was an ist ein Erlebnis! Nach zehn Minuten war ich feuerrot, so lachten die Weiber. Weder vorher noch nachher bin ich rot geworden, aber in den zehn Minuten war ich’s am ganzen Kadaver. Ortheris kam nicht mit. Er sagte nur: ›Ihr könnt mich am Sonntag in der Kaserne –‹ warf sich auf die Erde und kugelte sich vor Lachen.

Als wir alle angezogen waren, zählten wir die Toten: fünfundsiebzig von dem Räubervolk ohne die Verwundeten. Wir hatten fünf Elefanten, einhundertsiebzig Hinterlader, zweihundert Dolche und sonst noch ’nen ganzen Haufen Diebsplunder. Von uns war niemand verletzt, – höchstens der Leutnant, und der auch nur von dem Stoß, den sein Schamgefühl abgekriegt hatte.

Der Älteste von Lungtungpen fragte, als er sich ergeben hatte, den Dolmetscher: ›Wenn die Engländer ohne Kleider so kämpfen, wie in aller Welt kämpfen sie dann in Uniform?‹ Ortheris rollte die Augen, knackte mit den Fingern und fing an zu tanzen, um dem Ältesten zu imponieren. Der machte, daß er in sein Haus kam. Wir trugen unsern Leutnant den ganzen Tag lang auf unseren Schultern durch die Stadt, oder spielten mit den kleinen Birmanenkindern; es war eine ganz bildhübsche, kleine, dicke braune Gesellschaft.

Als ich wegen der Dysenterie zurückkommandiert wurde, habe ich zu unserem Leutnant gesagt: ›Herr Leutnant,‹ sag ich, ›Sie haben das Zeug zu einem großen Mann. Aber, wenn Sie’s einem alten Soldaten nicht übelnehmen, Sie sind zu sehr fürs Theoretische.‹ Er gab mir die Hand und sagte: ›Ihnen kann man’s ja doch nicht recht machen, Mulvaney; Sie haben mich nun durch ganz Lungtungpen wie einen Indianerhäuptling ohne Kriegsschmuck tanzen sehen und werfen mir immer noch die Theorie vor?‹ ›Herr Leutnant,‹ sagte ich, denn ich hatte ihn gern, ›ich würde mit Ihnen ganz genau so durch die Hölle tanzen, und die anderen alle mit.‹ Ich fuhr flußabwärts und schickte ihm meinen Segen. Der liehe Gott mag dafür sorgen, daß er ihn trifft, denn er war wirklich ein forscher, aufrechter junger Offizier.

Aber nun zur Pointe! Was ich da erzählt habe, soll zeigen, was die Rekruten wert sind. Oder glauben Sie vielleicht, daß fünfzig alte Soldaten Lungtungpen im Dunkeln genommen hätten? Ich nicht! Die hätten sich vor Fieber und Kälte gefürchtet, vom Schießen noch gar nicht geredet. Zweihundert hätten’s vielleicht getan. Aber die Jungen wissen wenig und kümmern sich um noch weniger. Und wo keine Furcht nicht ist, da ist auch keine Gefahr. Holt euch Junge und füttert sie gut. Dann werden sie bei der Ehre vom großen, kleinen Bob, unter einem ordentlichen Offizier, ohne Sachen, nicht nur mit schwarzem Räuberpack, nee, auch mit ganzen weißen Armeen fertig werden. Lungtungpen haben sie nackend genommen, Sankt Petersburg werden sie in Unterhosen nehmen. Weiß Gott, das täten sie.

Hier ist Ihre Pfeife, Herr. Rauchen Sie nur recht hübsch vorsichtig; ein anständiges Kraut, wenn der Duft vom Kantinentabak erst raus ist. Ich danke Ihnen schön, aber es hat keinen rechten Zweck, wenn Sie mir meinen Beutel mit Ihrem Kraut vollstopfen. Kantinentabak ist ganz wie die Armee; man verdirbt sich daran den Geschmack für was Feineres.«

Bei diesem Ausspruch nahm Mulvaney sein Schmetterlingsnetz und ging zur Kaserne zurück.

Der Bazillentöter

Der Bazillentöter

Es freut die tönerne Götterwelt,
Wenn der ewige Zeus sein Schläfchen hält.
Doch die kleine Gesellschaft hat nicht bedacht,
Daß zu seiner Stunde auch Zeus erwacht.

In der Regel ist es nicht ratsam, sich in einem Lande in Staatsangelegenheiten zu mischen, wo Leute hoch genug bezahlt werden, damit sie sie für uns erledigen. Aber unsere Geschichte bedeutet eine berechtigte Ausnahme.

Bekanntlich erleben wir alle fünf Jahre ein tief einschneidendes Ereignis. Ein neuer Vizekönig zieht ein und bringt mit seinem anderen Gepäck einen Privatsekretär mit, der manchmal der eigentliche Vizekönig ist, manchmal aber auch nicht, ganz wie das Geschick es fügt. Denn das Geschick wacht über dem indischen Reich, weil es so groß und hilflos ist.

Es war einmal ein Vizekönig, der einen unruhigen Geist als Privatsekretär mitbrachte, – einen unbeugsamen Mann mit schmiegsamen Umgangsformen und einer fast krankhaften Arbeitswut. Dieser Sekretär hieß Wonder, – John Fennil Wonder. Der Vizekönig hatte keinen Namen, aber er besaß eine lange Kette Grafschaften und eine ebensolange Ordenskette. Unter guten Freunden pflegte er zu sagen, er wäre die galvanisierte Buggallione des goldenen Staatsschiffes. Und er sah bald träumerisch, bald belustigt Wonder zu, der völlig außerhalb seines Amtskreises liegende Dinge in seine Hand zu bringen suchte. »Und wenn wir erst alle Engel sind,« sagte Se. Exzellenz einmal, »dann wird mein lieber, guter Freund Wonder sicher eine Verschwörung anzetteln, um dem Erzengel Gabriel die Schwanzfedern auszurupfen oder Sankt Peter die Schlüssel zu stehlen. Aber dann werde ich Anzeige erstatten.«

Die Leute murrten über Wonders Übereifer, obwohl doch der Vizekönig sich nicht weiter darüber beklagte. Bei den Staatsräten fing es an, und schließlich stimmte ganz Simla darin überein, daß in dem gegenwärtigen Regime »zu viel Wonder« und »zu wenig Vizekönig« wäre. Wonder führte andauernd Se. Exzellenz im Munde. »Se. Exzellenz hin, Se. Exzellenz her; Se. Exzellenz sind der Meinung« und so fort. Der Vizekönig lächelte darüber, aber er kehrte sich nicht daran. Er meinte, daß seine »guten, alten Räte« den »ehrwürdigen Orient« in Frieden ruhen lassen würden, solange sie sich mit »seinem lieben Freunde Wonder« herumzankten.

»Sicherlich wird sich kein weiser Mann politisch festlegen,« versicherte der Vizekönig. »Denn feste politische Versicherungen sind Sicherstellungen, die sich nur ein Narr von unberechenbaren Eventualitäten abpressen läßt. Ein Narr bin ich nicht, und das andere glaube ich nicht.«

Ich weiß nicht ganz genau, was er damit sagen wollte, wenn er nicht eine Versicherungspolice meinte. Vielleicht war es auch nur ein eigener Ausdruck des Vizekönigs für: »Gewehr in Ruh!«

Nun kam zu dieser Zeit einer von jenen Leuten nach Simla, die im Leben nur eine gute Idee haben. Solche Menschen bringen die Welt vorwärts, aber für den gesellschaftlichen Verkehr sind sie wenig geeignet. Der Betreffende hieß Mellish. Er hatte fünfzehn Jahre auf seinem Besitztum im unteren Bengalien gelebt, wo er die Cholera studiert hatte. Er hielt den Träger der Cholera für einen Bazillus, der sich in unreiner Luft vermehrt und sich in dicken Flocken auf Baumzweigen festsetzt. Und dieser Bazillus konnte seiner Ansicht nach unschädlich gemacht werden durch »Mellishs unübertreffliches Räuchermittel«, – ein schwarzblaues Pulver – »das Ergebnis fünfzehnjähriger wissenschaftlicher Untersuchungen, werter Herr!«

Erfinder sind, scheint’s, alle gleichen Schlages. Sie reden alle mit erhobener Stimme mit Vorliebe über »monopolistische Ausbeutungsversuche«; sie schlagen mit der Faust auf den Tisch und tragen immer versteckt Proben ihrer Erfindungen bei sich.

Mellish behauptete, es bestünde in Simla eine medizinische Clique mit dem Generalarzt an der Spitze, die alle Krankenhausärzte des Reiches in sich begriffe. Ich weiß nicht mehr, wie er es bewies, aber er sprach von »Durchstechereien usw.«, und Mellish wollte das unbeeinflußte Zeugnis des Vizekönigs, »des Statthalters unseres allergnädigsten Kaisers und Königs, werter Herr!« Darum kam Mellish nach Simla mit einem halben Zentner Räucherpulver im Koffer, um dem Vizekönig in einer Audienz die Vorzüge seiner Erfindung darzulegen.

Aber es ist leichter, einen Vizekönig zu Gesicht zu bekommen, als ihn zu sprechen, wenn man nicht gerade ein so bedeutender Mann ist wie Mellishe aus Madras. Er war ein vermögender Mann, so vermögend, daß seine Töchter nicht heirateten, sondern »eheliche Verbindungen eingingen«. Er selber wurde nicht bezahlt, er erhielt »Remunerationen«, und seine Reisen im Lande waren »Informationsreisen«. Sein Geschäft war es, Madras mit einer langen Stange aufzurühren, wie man Karpfen in einem Teiche aufrührt; und die Leute mußten aus ihrer altgewohnten Gemütlichkeit emportauchen, nach Luft schnappen und staunend ausrufen: »Hier steht Aufklärung und Fortschritt. Ist es nicht eine Lust?« Und man setzte Mellishe Denkmäler und baute ihm aus Blumen Ehrenpforten, in der Hoffnung, ihn loszuwerden.

Mellishe kam nach Simla zu einer »Konferenz« mit dem Vizekönig. Das gehörte zu seinen Nebenbeschäftigungen. Der Vizekönig wußte von Mellishe nichts weiter, als daß er einer der »kleinbürgerlichen Götzen« war, die »scheinbar dem geistigen Wohlbehagen Indiens, dem Paradiese des Kleinbürgertums, unumgänglich notwendig sind«. Und der Vizekönig nahm es als gegeben hin, daß Mellishe »alle öffentlichen Einrichtungen in Madras vorgeschlagen, entworfen, begründet und ausgestattet habe«. Das beweist, daß Se. Exzellenz trotz aller Träumerei solche Leute sehr gut kannte.

Mellishes Name war E. Melishe, und Mellishs Name war E. S. Mellish. Beide wohnten im gleichen Hotel, und das Geschick, das über dem Indischen Reich wacht, fügte es, daß Wonder sich versah, und das »e« am Schlusse des Namens wegließ. Der Amtsdiener förderte den Fehler und übergab den Brief Mellish mit dem Räucherpulver. »Sehr verehrter Herr Mellish, würden sie möglicherweise morgen abkommen können und mittags zwei Uhr mit uns speisen? Der Vizekönig wird eine Stunde zu Ihrer Verfügung halten.« Mellish weinte fast vor Glück und Stolz und ritt zur festgesetzten Stunde nach »Peterhoff« mit einer großen Tüte Räucherpulver im Rockschoß. Seine Stunde war gekommen, und es galt sie zu nutzen. – Mellishe hatte die »Konferenz« so verdächtig bedeutsam gemacht, daß Wonder für ihn ein Frühstück im engsten Kreise veranstaltete, ohne Adjutanten, ohne Wonder, mit dem Vizekönig allein. Und der Vizekönig klagte, er fürchte sich, mit einem so selbstherrlichen Menschen wie Mellishe aus Madras zwanglos allein sein zu müssen.

Aber der Gast langweilte den Vizekönig gar nicht. Im Gegenteil, er belustigte ihn. Mellish war ängstlich erregt und besorgt, möglichst bald auf sein Räucherpulver zukommen. Er redete hin und her, bis das Essen zu Ende war, und Se. Exzellenz ihn aufforderte, zu rauchen. Mellish gefiel dem Vizekönig, weil er nicht fachsimpelte.

Sobald die Zigarren brannten, sprach Mellish frei von der Leber weg. Er fing mit seiner Choleratheorie an, beleuchtete seine »fünfzehnjährige wissenschaftliche Arbeit«, die Machinationen der Simlaer Ärzteclique und die Vorzüglichkeit seines Räuchermittels. Der Vizekönig sah ihn mit halbgeschlossenen Lidern an und dachte: »Das scheint mir wohl doch nicht der Richtige zu sein. Aber ein originelles Huhn ist er.«

Mellishs Haar sträubte sich vor Erregung, und er stotterte. Er wühlte in seinen Rockschößen, und ehe sich’s der Vizekönig versah, hatte er eine Handvoll Pulver in den großen silbernen Aschenbecher geschüttet.

»Ich b–b–b–bitte Sie, sich selbst zu überzeugen, werter Herr!« rief Mellish. »Exzellenz haben die Güte aus eigener Anschauung zu urteilen. Völlig unfehlbar, mein Wort darauf!«

Er tauchte seine glimmende Zigarre in das Pulver; und es begann zu dampfen wie ein Vulkan. Schwere, fettige, kupferfarbene Rauchringe stiegen auf, und im Handumdrehen füllte sich das Zimmer mit einem beißenden, widerlichen Geruch, einem Gestank, der einem gewaltsam die Kehle zuschnürte. Das Pulver sprühte und zischte und schoß blaugrüne Funken, und der Qualm stieg auf, bis man weder sehen, noch hören, noch atmen konnte. Aber Mellish war daran gewöhnt.

»Salpetersaurer Strontian,« schrie er. »Baryt, Knochenmehl usw. Tausend Kubikfuß Rauch auf einen Kubikzoll! Nicht ein Bazillus kann leben bleiben, nicht einer, Exzellenz!«

Aber Se. Exzellenz war geflüchtet und stand hustend auf dem Treppenabsatz, während es in ganz »Peterhoff« wie in einem Bienenkorb zu surren begann. – Die roten Ulanen stürzten herbei und der Oberamtsdiener, der Englisch spricht, und die Leibtrabanten, und die Damen liefen die Treppen hinab und riefen: »Feuer!« Denn der Rauch zog durch das ganze Gebäude, schwelte durch die Fenster, schwoll auf die Veranden, und kräuselte und säuselte über dem Park. Niemand konnte das Zimmer, wo Mellish über sein Räucherpulver Vortrag hielt, betreten, bis das unbeschreibliche Zeug ausgebrannt war.

Dann stürzte ein Adjutant, der sich das Ehrenkreuz verdienen wollte, durch die Rauchwolken und schleifte Mellish in die Vorhalle. Den Vizekönig hatte sein Lachen völlig entkräftet. Erschöpft winkte er Mellish zu, der eine frische Tüte hin und her schwenkte.

»Großartig! Großartig!« stöhnte Se. Exzellenz. »Nicht ein Bazillus kann leben bleiben. Sie haben ganz recht. Ich kann’s beschwören. Ein glänzender Erfolg!«

Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Und Wonder, der den wahren Mellishe wutschnaubend auf der Promenade getroffen hatte, trat ein und war ungemein entrüstet über die Szene. Aber der Vizekönig war begeistert, denn jetzt war er sicher, daß Wonder sehr bald werde gehen müssen. Mellish mit dem Räucherpulver war auch sehr befriedigt, denn jetzt war die Simlaer Ärzteclique bankerott.

*

Wenige Leute können eine Geschichte so gut erzählen wie Se. Exzellenz, wenn er Lust dazu hatte. Und seine Erzählung von »meines lieben, guten Wonders Freund mit dem Räucherpulver« machte in Simla die Runde. Und frivole Leute elendeten Wonder mit ihren Bemerkungen.

Aber Se. Exzellenz erzählte die Geschichte einmal zu viel, – zu viel für Wonder, und zwar mit Absicht. Es war bei einem Picknick. Wonder saß hinter dem Vizekönig.

»Und einen Augenblick war ich wirklich der Meinung,« schloß Se. Exzellenz, »daß mein lieber, guter Wonder einen Meuchelmörder gedungen hatte, um sich den Weg zum Thron zu bahnen.«

Alle lachten. Aber es war ein leiser Unterton in der Stimme des Vizekönigs. Und Wonder verstand ihn. Er fand, daß seine Gesundheit nachließe, und der Vizekönig willigte in seinen Abschied. Er schilderte ihn in den leuchtendsten Farben, um ihn in den maßgebenden Kreisen zu fördern.

»Es war lediglich meine Schuld,« sagte Se. Exzellenz später mit vielsagendem Blinzeln. »Meine Unbeständigkeit muß einer so starken Natur von jeher zuwider gewesen sein.«

Entführt

Entführt

Wir sind hochstehende und aufgeklärte Menschen, und darum empört uns das Verheiraten von Kindern, dessen Folgen hin und wieder recht eigenartig sind. Aber nichtsdestoweniger ist die Sitte der Hindus, – die ja schließlich auch europäische Sitte, uralte Sitte ist, – Ehen ohne Rücksicht auf die Zuneigung der Heiratenden zu schließen, durchaus wohlbegründet. Wer auch nur einen Augenblick darüber nachsinnt, muß das einsehen, vorausgesetzt, daß er nicht an Wahlverwandtschaften glaubt. Dann sollte er meine Geschichte lieber ungelesen lassen. Wie kann ein Mann, der nie verheiratet war, dem man nicht zumuten würde, unter Pferden auf den ersten Blick ein einigermaßen fehlerfreies herauszufinden, wie kann solch ein Mann, dessen glühende Phantasie nur Bilder häuslichen Glückes schaut, sich an die Wahl eines Weibes wagen! Er kann weder klar sehen, noch denken, trotz aller Versuche. Und wenn ein Mädchen ihren Träumen folgt, trifft sie auf die gleichen Hindernisse. Aber wenn reife, verheiratete, besonnene Leute zwei junge Menschen zusammengeben, dann tun sie es wohlüberlegt und bedenken die Zukunft. Und das Paar wird glücklich sein bis an sein Lebensende. Das weiß ein jeder.

Eigentlich müßte die Regierung ein Tribunal für Eheschließungen einrichten mit den nötigen Beamten, einem Geschworenengerichte würdiger Frauen, einem älteren Geistlichen und einem »zur abschreckenden Warnung« im Gerichtshofe an einen Baumstamm gefesselten Paare, das aus Liebe geheiratet hatte und unglücklich ist. Alle Ehen müßten durch diese Abteilung vermittelt werden, die ja dem Unterrichtsministerium unterstellt werden könnte. Eine Übertretung müßte die gleiche Strafe finden wie ein Grundstücksverkauf ohne Stempelvertrag. Aber die Regierung nimmt nun einmal keine Vorschläge an. Sie gibt vor, zu beschäftigt zu sein. Dennoch will ich meine Auffassung niederschreiben und ein Beispiel geben, das meine Theorie beleuchtet.

Es war einmal ein tüchtiger junger Mann – ein ausgezeichneter Beamter. Er hatte eine aussichtsreiche Laufbahn vor sich und die höchsten Orden als erreichbares Ziel. Alle seine Vorgesetzten lobten ihn, denn er wußte zur rechten Zeit Zunge und Feder ruhen zu lassen. Heute gibt es in Indien nur elf Leute, die diese geheime Kunst besitzen, und alle sind, mit einer Ausnahme, zu hohen Ehren und Gehältern gelangt.

Der tüchtige junge Mann war still und verschlossen und viel zu alt für seine Jahre. Und das zieht stets seine Strafe nach sich. Hätte irgendein Unterbeamter, ein Plantagengehilfe oder sonst wer, der sein Leben unbekümmert um den nächsten Tag genießt, das getan, was er nur zu tun versucht hat, niemand hätte sich darum gekümmert. Aber als Peythroppe, der schätzenswerte, tugendsame, sparsame, stille, fleißige, junge Peythroppe zu Fall kam, da ging durch fünf Dienstabteilungen eine nachhaltige Erschütterung.

Und das kam so. Er lernte Miß Castries kennen. Der Name hieß ursprünglich D’Castries, aber die Familie hatte das »D« aus politischen Gründen fallen lassen. Er verliebte sich mit noch größerer Energie, als er bei seiner Arbeit bewies. Ich muß betonen, daß auch nicht der leiseste Hauch, – nicht der Schatten eines Hauches Miß Castries Ruf trübte. Sie war ohne Fehl und sehr schön, – sie war, wie harmlose Leute in England sagen würden, ein spanischer Typus. Sie hatte volles, blauschwarzes Haar bis tief auf die Stirne herab, große blaue Augen und Brauen, geradlinig und schwarz wie der Rand eines Extrablattes, das den Tod eines großen Mannes meldet. Aber – aber – aber. Sie war ein sehr liebes Mädchen und sehr fromm, aber aus manchem Grunde ganz unmöglich. Ganz gewiß! Alle guten Mütter wissen, was das heißt: »Unmöglich«. Es war offensichtlich unsinnig von Peythroppe, sie heiraten zu wollen. Der kleine opalfarbene Onyxrand ihrer Fingernägel sagte das so deutlich, als wenn es öffentlich gedruckt worden wäre. Außerdem bedeutete eine Heirat mit Miß Castries eine Verschwägerung mit vielen anderen Castries, mit dem Mannschaftsoffizier Castries, ihrem Vater, mit Mrs. Eulalia Castries, ihrer Mutter, und allen weiteren Zweigen der Castriesschen Familie mit Monatseinkommen von 175 bis 470 Rupien, samt deren Frauen und Anverwandten.

Peythroppe hätte es weniger gekostet, wenn er einen Regierungskommissar mit einer Hundepeitsche geprügelt oder die Akten des Deputiertenbureaus verbrannt hätte, als jetzt, da er eine Verbindung mit den Castries eingehen wollte. All das hätte ihn in seiner Laufhahn weniger gehindert, selbst unter einer Regierung, die nie vergißt und nie verzeiht. Das sah jeder ein, nur Peythroppe nicht. Jawohl, er wollte Miß Castries heiraten, er war mündig und er hatte sein gutes Einkommen, – und wehe dem Hause, das Mrs. Virginia Saulez Peythroppe nicht mit der dem Range ihres Gatten zukommenden Achtung aufnehmen würde. So lautete Peythroppes Ultimatum, und alle Vorstellungen brachten ihn zur Wut.

So plötzliche Geistesstörungen befallen gerade die klarsten Köpfe. Es war einmal ein Fall, – aber von dem werde ich später einmal erzählen. Der Wahn ist nur zu erklären, wenn man die Auffassung, daß Ehen im Himmel geschlossen werden, gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Peythroppe brannte darauf, sich am Anfange seiner Laufbahn einen Mühlstein um den Hals zu binden. Und alle Erörterungen blieben fruchtlos. Er wollte Miß Castries heiraten. Die Sache wäre seine Sache. Er bäte höflichst, Ratschläge bei sich zu behalten. Einen Menschen in solchem Zustande bestärken Worte nur noch. Wie könnte er auch einsehen, daß eine Heirat hier draußen nicht seine Sache, sondern Sache der Regierung ist, der er dient?

Man erinnert sich wohl Mrs. Hauksbees, der bewundernswertesten Frau Indiens. Sie hat Pluffles von Mrs. Reiver befreit, sie hat Tarrion eine Stelle im Auswärtigen Amt verschafft und ist in offener Feldschlacht von Mrs. Cusack-Bremmil geschlagen worden. Sie hörte von Peythroppes bejammernswerter Lage, und ihrem Kopfe entsprang der Plan zu seiner Rettung. Sie besaß die Klugheit der Schlange, die logische Kraft des Mannes, die Furchtlosigkeit des Kindes und den dreifach hellen Blick des Weibes. Nie, – nein, gewiß nie, – solange wie noch eine Tonga den Solonberg hinabkarriolt, solange wie noch verliebte Paare hinter Summer-Hill spazieren reiten, wird wieder solch Genie wie Mrs. Hauksbee erstehen. Sie wohnte der Beratung dreier Männer über den Fall Peythroppe bei, und sie stand auf, zog die Lasche ihrer Reitgerte durch die Zähne und redete. –

*

Drei Wochen später aß Peythroppe mit den Dreien zusammen und las, als die offizielle Zeitung hereingebracht wurde, unter den amtlichen Nachrichten zu seinem Erstaunen, daß er vier Wochen beurlaubt sei. Man frage nicht mich, wie das zuwege kam. Ich bin felsenfest überzeugt, daß die ganze große indische Regierung sich auf den Kopf stellen würde, wenn Mrs. Hauksbee den Befehl dazu erteilte. Die Drei hatten auch jeder einen Monat Urlaub; Peythroppe warf die Zeitung hin und fluchte. Da hörte man vom Hofe her das weiche »Trapp – Trapp« von Kamelen, – Diebskamelen, Bikaneerzucht, die nicht beim Niederknien und Aufstehen gurgelt und heult.

Was darauf geschehen ist, weiß ich nicht. Aber soviel ist sicher: Peythroppe verschwand, verflog wie Rauch. Im Hause der Drei war der »Faulenzer« in Stücke zersplittert, und in einem der Schlafzimmer fehlte ein Bett.

Mrs. Hauksbee erzählte, Peythroppe sei mit den Dreien nach Rajputana auf Jagd. Wir mußten ihr glauben.

Am Ende des Monats stand in der Zeitung, daß Peythroppes Urlaub um zwanzig Tage verlängert sei. Man wütete und jammerte im Hause der Castries. Der festgesetzte Hochzeitstag erschien, aber der Bräutigam kam und kam nicht, und alle die D’Silvas, Pereiras und Duckets erhoben laut ihre Stimmen und höhnten den Mannschaftsoffizier Castries, daß er sich so schändlich hätte betrügen lassen. Mrs. Hauksbee ging zur Trauung und war sehr erstaunt, als Peythroppe nicht erschien. Nach sieben Wochen kamen Peythroppe und die Drei aus Rajputana. Peythroppe war sehr mitgenommen, sehr blaß und verschlossener denn je.

Einer der Drei hatte eine Schmarre über der Nase – vom Rückschlag des Gewehres. Zwölfkalibrige stoßen manchmal sonderbar.

Dann kam der Mannschaftsoffizier Castries, den es nach dem Blute seines treulosen, einstigen Schwiegersohnes dürstete. Er sagte Manches, – Gemeines, »Unmögliches«, was den groben, rohen »Gemeinen« unter dem »Offizier« verriet. Ich glaube, Peythroppes Augen öffneten sich. Jedenfalls hörte er ihn ruhig mit an und faßte sich dann kurz. Mannschaftsoffizier Castries forderte noch einen Schnaps, ehe er ging, um zu sterben, – oder – eine Klage wegen Bruch des Eheversprechens einzureichen.

Miß Castries war ein sehr liebes Mädchen. Sie erklärte, sie wolle keinen Prozeß. Wenn sie auch keine »Dame« sei, sagte sie, so sei sie doch gebildet genug, um zu wissen, daß »Damen« ihre gebrochenen Herzen nicht der Öffentlichkeit preisgeben. Und da sie ihre Eltern beherrschte, blieb es dabei. Später heiratete sie einen sehr ehrenwerten, ganz gebildeten Mann. Er reiste für eine unternehmungslustige Firma in Kalkutta und war, wie ein guter Gatte sein soll.

Peythroppe kam wieder zur Vernunft. Er leistete viel und war geachtet von allen, die ihn kannten. Eines Tages wird auch er heiraten. Aber er wird sich ein liebes, feines, kleines Jungfräulein zur Frau nehmen, die nicht ohne Geld und Verbindungen und dazu auch hoffähig ist, wie jeder weise Mann tun sollte. Und er wird ihr nie im Leben erzählen, was während seines siebenwöchentlichen Jagdausfluges in Rajputana geschehen ist.

Aber man denke daran, wie viele Mühe und Kosten, – denn Kamelmieten sind hoch, und die Bikaneertiere wollen wie Menschen gehalten werden, – wieviel gespart worden wäre, wenn es eine zweckmäßig geleitete Eheschließungsabteilung unter Aufsicht des Kulturministers in enger Verbindung mit dem Vizekönig gegeben hätte. –