Zwielicht

Zwielicht

Kein Mann wird wohl je die volle Wahrheit dieser Geschichte erfahren. Frauen werden sie sich vielleicht zuflüstern, wenn sie nach Bällen ihr Haar für die Nacht ordnen und ihre Opferlisten miteinander vergleichen. Ein Mann darf solcher Tätigkeit natürlich nicht beiwohnen, und so kann denn diese Geschichte nur ganz oberflächlich, – unscharf – erzählt werden.

Man soll eine Schwester nie der Schwester gegenüber loben in der Hoffnung, daß die Schmeicheleien das rechte Ohr doch noch erreichen und so für später Wege ebnen. Denn zuallererst sind Schwestern Frauen und dann erst Schwestern. Und man findet schließlich, daß man sich geschadet hat.

Wußte Saumarez das wohl, als er sich entschloß, um die ältere Miß Copleigh zu werben? Saumarez war ein merkwürdiger Mensch. In den Augen der Männer hatte er wenig Vorzüge, aber er war beliebt bei Frauen und besaß genug Dünkel, den Rat des Vizekönigs damit versorgen zu können. Vielleicht wäre auch noch etwas für den Stab des Oberstkommandierenden übriggeblieben. Er stand im Zivildienst. Sehr viele Frauen interessierten sich für Saumarez, vielleicht nur darum, weil sein Benehmen ihnen gegenüber verletzend war. Ein Pony wird den, der es im Anfang seiner Bekanntschaft über die Schnauze schlägt, nicht gerade lieben, aber es wird in der Folge ein tiefes Interesse für alle seine Schritte hegen. Die ältere Miß Copleigh war nett, rundlich, hübsch und liebenswürdig. Die jüngere war weniger hübsch, und, nach Männern zu urteilen, die den eben erwähnten Wink mißachteten, eher abweisend als fesselnd. Beide Mädchen hatten eigentlich die gleiche Figur und in Stimme und Aussehen eine starke Ähnlichkeit, wenn auch niemand nur einen Augenblick im Zweifel sein konnte, welche die Nettere von beiden war.

Saumarez faßte seinen Entschluß, die Ältere zu heiraten, als sie kaum von Behar gekommen waren. Wenigstens glaubten wir alle, daß er es beabsichtige, was auf dasselbe herauskommt. Sie war zweiundzwanzig, und er dreiunddreißig, mit Gehalt und Nebeneinnahmen von monatlich vierzehnhundert Rupien. Die Partie, wie wir sie uns dachten, war also in jeder Hinsicht günstig. Saumarez heißt er, und summarisch ist er, wie jemand einmal von ihm gesagt hat. Nach dem Entwurf seiner Resolution bildete er einen Sonderausschuß, in dem er allein beriet und beschloß, die rechte Stunde abzuwarten. Die Copleighschen Mädchen gingen »paarweise auf die Jagd«, wie wir uns in unserer nicht gerade liebenswürdigen Art ausdrückten. Wir wollten damit sagen, daß man die eine nie ohne die andere zu fassen bekam. Es waren sehr zärtliche Schwestern, aber ihre gegenseitige Anhänglichkeit konnte bisweilen lästig werden. Saumarez hielt sich geschickt zwischen beiden, und nur er selbst hätte sagen können, nach welcher Seite sein Herz neigte, wenn es auch jeder zu erraten glaubte. Er ritt und tanzte viel mit ihnen, aber es gelang ihm doch nie, die eine für ein Weilchen von der andern zu trennen.

Unter Frauen hieß es, daß die beiden Mädchen aus tiefem Mißtrauen gegeneinander so fest zusammenhielten, jede in der Furcht, die andere könne ihr einen Vorsprung abgewinnen. Aber das geht einen Mann nichts an. Saumarez sprach weder dafür noch dagegen. Er war so geschäftsmäßig aufmerksam, wie es ihm seine Arbeit und sein Polospielen irgend erlaubten. Zweifellos hatten beide Mädchen ihn gern.

Als sich die heiße Jahreszeit näherte und Saumarez sich noch immer nicht erklärt hatte, behaupteten die Frauen, daß den Mädchen die Sorge aus den Augen sähe. Sie machten einen abgespannten, bekümmerten und reizbaren Eindruck. Männer sind in diesen Dingen völlig blind, es sei denn, daß sie ihrer Anlage nach mehr Weibliches als Männliches haben. In diesem Fall ist es belanglos, was sie denken und sagen. Ich behaupte, die heißen Apriltage nahmen den Copleighschen Mädchen die Farbe. Man hätte sie zeitiger in die Berge schicken müssen. Niemand, weder Mann noch Frau, ist ein Engel, wenn die Hitze kommt. Die jüngere Schwester wurde bitter, um nicht zu sagen zynisch, und die Liebenswürdigkeit der Älteren wurde fadenscheinig. Sie war allzu erzwungen.

Der Ort, wo sich dies zutrug, war nicht gerade klein, lag aber nicht an der Bahn und war vernachlässigt. Es gab keine Gärten, keine Musik und keine Vergnügungen, die der Rede wert gewesen wären. Man brauchte fast einen Tag, um nach Lahore zum Ball zu fahren. Die Leute waren für jede kleine Unterhaltung dankbar.

Ungefähr Anfang Mai, als es sehr heiß war, kurz vor dem »Auszug« der letzten zwanzig Leute in die Berge, veranstaltete Saumarez ein Mondschein-Picknick zu Pferde. Es sollte bei einem alten, sechs Meilen entfernten Grabmal nahe am Flußbett stattfinden. Man verließ den Ort wie die Arche Noah. Des Staubes wegen mußte man paarweise in viertelstündigem Abstand reiten. Es waren zusammen sechs Paare, die Anstandsdamen mit eingerechnet. Mondschein-Picknicks sind am Ende der Saison, ehe die jungen Mädchen alle in die Berge gehen, von Nutzen. Sie führen Verständigungen herbei und sollten darum von Ballmüttern begünstigt werden, besonders von denen, deren Schützlinge im Reitkleid am vorteilhaftesten aussehen. Ich kannte einmal einen Fall, – aber das ist eine andere Geschichte. Wir nannten dies Picknick das »große Verlobungs-Picknick«, weil wir alle wußten, daß Saumarez der älteren Miß Copleigh einen Antrag machen würde. Und außer dieser Sache gab es noch eine andere, die möglicherweise auch ihren glücklichen Abschluß finden konnte. Die Luft in der Gesellschaft war gewitterschwül und verlangte nach einer Entladung.

Wir trafen uns um zehn Uhr auf dem Exerzierplatz. Die Nacht war entsetzlich heiß. Die Pferde kamen schon beim Schritt in Schweiß. Aber es war doch noch besser als das Stillsitzenmüssen in unseren dunklen Häusern. Beim Aufbruch im Vollmond waren wir vier Paare; eine Gruppe zu dritt, Saumarez mit den Copleighschen Mädchen, und ich. Während ich hinterdrein ritt, überlegte ich mir, mit wem Saumarez wohl nach Hause reiten würde. Alle waren glücklich und zufrieden, aber jeder fühlte die herannahenden Ereignisse. Wir ritten langsam, und es wurde fast Mitternacht, ehe wir das alte Grabmal erreichten. Wir wollten ihm gegenüber in dem verwüsteten Garten an der Zisternenruine essen und trinken. Ich kam etwas später als die andern und sah, ehe ich den Garten betrat, am nördlichen Horizont einen leichten, schwarzbraunen Wolkenstreifen. Allein mir hätte es wohl niemand gedankt, wenn ich ein so gut eingefädeltes Vergnügen wie dies Picknick verdorben hätte. Was hat denn auch schließlich ein Sandsturm mehr oder weniger zu bedeuten? Wir sammelten uns an der Zisterne. Einer hatte ein Banjo, – ein höchst gefühlvolles Instrument, – mitgebracht. Drei oder vier von uns sangen. Man lächle nicht darüber. Unsere Vergnügungen in den entlegenen Orten sind spärlich. Wir plauderten in Gruppen oder alle miteinander, lagen unter den Bäumen, warteten auf das Abendessen und ließen sonnverbrannte Rosen uns ihre Blätter zu Füßen streuen. Das Essen war herrlich, so gut auf Eis gekühlt, wie man es sich nur wünschen kann, und wir ließen uns Zeit.

Ich hatte gefühlt, wie die Luft heißer und heißer wurde, aber die anderen schienen es erst zu merken, als der Mond plötzlich verlosch und ein brennendheißer Wind die Orangenbäume peitschte, daß sie aufrauschten wie das Meer. Ehe wir wußten, wie uns geschah, war der Sandsturm über uns, und alles eine einzige brausende, wirbelnde Finsternis. Der Eßtisch wurde buchstäblich in die Zisterne hinabgeblasen. Wir hatten Furcht, in der Nähe des alten Grabbaus zu bleiben, weil der Sturm ihn hätte umstürzen können. Darum tasteten wir uns zu den Orangenbäumen, wo die Pferde angebunden waren, um zu warten bis der Sturm sich gelegt hätte. Dann verlor sich auch der letzte Lichtschimmer, und man konnte nicht die Hand vor den Augen sehen. Die Luft war schwer von Staub und Sand aus dem Flußbett, der in Stiefel und Taschen drang, uns den Nacken hinabrieselte und Brauen und Bart bedeckte. Es war einer der schlimmsten Sandstürme des ganzen Jahres. Wir standen eng zusammengedrängt dicht bei den zitternden Pferden; der Donner krachte über uns, und die Blitze schossen wie Wasserstrahlen aus einem Schlauch nach allen Richtungen. Solange die Pferde sich nicht losrissen, war keine Gefahr. Ich stand geduckt mit dem Rücken gegen den Wind, mit der Hand vorm Mund und hörte, wie die Bäume sich peitschten. Erst als es blitzte, konnte ich sehen, wer bei mir stand, und entdeckte Saumarez mit der älteren Miß Copleigh dicht neben mir, und vor mir mein Pferd. Die ältere Miß Copleigh erkannte ich an ihrem Hutschleier, den die jüngere nicht trug. Die ganze Elektrizität der Luft war mir in die Glieder gefahren, und ich zitterte und zuckte von Kopf bis zu Fuß, ganz wie ein Maishalm vorm Regen. Es war ein herrlicher Sturm. Der Wind schien die Erde emporzuheben und in großen Klumpen vor sich her zu schleudern, und aus dem Boden quoll eine Glut wie am Tage des Jüngsten Gerichtes. Nach der ersten halben Stunde besänftigte sich der Sturm ein wenig, und ich hörte dicht vor meinem Ohr eine leise Stimme, – wie die Stimme einer vom Wind getriebenen, verlorenen Seele, – still verzweifelt vor sich hin sagen: »Ach, mein Gott, mein Gott.« Dann taumelte die jüngere Miß Copleigh mir in die Arme und rief: »Wo ist mein Pferd! Ich will nach Hause, ich muß nach Hause! Bringen Sie mich nach Hause!«

Ich glaubte, Blitzen und Finsternis ängstigten sie, und darum sagte ich ihr, es sei keine Gefahr, und sie müsse warten, bis der Sturm vorüber sei. Aber sie antwortete nur: »Nein, darum nicht! Darum nicht! Ich muß nach Hause! Bitte, bringen Sie mich doch von hier fort!«

Ich sagte ihr wieder, sie dürfe nicht gehen, ehe es hell sei; dann fühlte ich nur noch, wie sie mich im Vorübergehen streifte. Es war zu dunkel, um sehen zu können, wohin sie ging. Im nächsten Augenblick zerriß ein gewaltiger Blitz den ganzen Himmel, als wäre das Ende der Welt gekommen, und alle Frauen schrien auf.

Unmittelbar darauf fühlte ich die Hand eines Mannes auf meiner Schulter und hörte Saumarez mir etwas ins Ohr brüllen. Das Rauschen der Bäume und das Heulen des Windes ließen mich seine Worte nicht gleich verstehen, aber schließlich hörte ich ihn sagen: »Ich habe um die Falsche angehalten! Was soll ich tun?« Einen Grund, mich ins Vertrauen zu ziehen, hatte Saumarez nicht. Ich war nie sein Freund und bin es auch jetzt nicht. Aber ich glaube, keiner von uns beiden war in jenem Augenblick bei Besinnung. Er zitterte vor Aufregung, und ich fühlte mich so seltsam erregt, als liefe mir ein elektrischer Strom durch alle Glieder. Da mir nichts Besseres einfiel, sagte ich: »Sie Narr, wie können Sie auch in einem Sandsturm anhalten!« Aber ich sah ein, daß das den Fehler nicht gut machte. Dann schrie er: »Wo ist Edith, Edith Copleigh?« Edith war die jüngere Schwester. Ich antwortete überrascht: »Was wollen Sie denn von der?« Es ist kaum zu glauben, aber während der folgenden zwei Minuten schrien wir uns an wie Wahnsinnige. Er beteuerte, daß er von jeher um die jüngere Schwester habe anhalten wollen, und ich erklärte ihm, bis ich heiser war, daß er sich geirrt haben müsse. Auch das ist dadurch zu erklären, daß wir beide nicht bei Besinnung waren. Das Ganze erschien mir wie ein böser Traum, vom Stampfen der Pferde in der Dunkelheit bis zu Saumarez‘ Wort, daß er von Anfang an nur Edith Copleigh geliebt habe. Er umklammerte noch immer meine Schulter und flehte mich an, ich solle ihm sagen, wo Edith Copleigh sei, als der Sturm wieder aussetzte, eine Helle eintrat, und wir die Sandwolke in die Ebene vor uns hinauswirbeln sahen. Da wußten wir, daß das Schlimmste vorüber war. Der Mond stand tief; es herrschte ein mattes Zwielicht, wie es eine Stunde vor der wirklichen Morgendämmerung einzutreten pflegt. Aber der Schimmer war nur ganz schwach, und die schwarzbraune Wolke brüllte dahin wie ein Stier. Ich dachte daran, wo wohl Edith Copleigh wäre, und während ich noch nachdachte, sah ich dreierlei zugleich: einmal Maud Copleighs lächelndes Gesicht aus der Dunkelheit auftauchen und sich Saumarez nähern, der neben mir stand. Sie flüsterte: »George« und hängte sich ihm in den Arm, der meine Schulter nicht gepackt hielt. Und ich sah auf ihrem Gesicht jenen Ausdruck, der nur ein-, zweimal im Leben einer Frau erscheint, wenn sie vollkommen glücklich ist, wenn der Himmel im strahlenden Glanz voller Geigen hängt, und wenn ihr die ganze Welt in lichte Wolken zerfließt, weil sie liebt und wieder geliebt wird. Und zugleich sah ich Saumarez‘ Gesicht, wie er Maud Copleighs Stimme hörte, und sah außerdem ein graues Leinenkleid fünfzig Schritt weit von den Orangenbäumen sich aufs Pferd heben.

Es muß wohl die Folge meiner Überreizung gewesen sein, daß ich mich so schnell in Dinge mischte, die mich nichts angingen. Saumarez wollte dem Kleide nach, aber ich drängte ihn zurück und sagte: »Sie bleiben hier. Klären Sie die Geschichte auf. Ich werde sie zurückholen.« Und ich stürzte zu meinem Pferde. Mich beherrschte die völlig unnötige Vorstellung, daß alles ordnungsgemäß und schicklich vor sich gehen, und daß vor allem Saumarez erst den glücklichen Ausdruck Maud Copleighs auslöschen müsse. Wahrend ich meinem Pferd das Zaumzeug überwarf, dachte ich daran, wie er das wohl zuwege bringen würde.

Ich galoppierte hinter Edith Copleigh her und nahm mir vor, sie unter irgendeinem Vorwand gemächlich zurückzubringen. Aber sobald sie mich bemerkte, ließ sie ihr Pferd in noch schärferen Galopp fallen, und ich sah mich zu einer ernstlichen Verfolgung genötigt. Sie rief mir drei- oder viermal zurück: »Lassen Sie mich! Ich will nach Hause! Lassen Sie doch!« Aber meine Pflicht war, erst mit ihr zu unterhandeln, wenn ich sie eingeholt hatte. Der Ritt stimmte gut zu dem ganzen wüsten Traum. Der Boden war sehr schlecht, und von Zeit zu Zeit jagten wir durch wirbelnde, würgende Staubgespenster, Nachzügler des flüchtigen Sturmes. Es wehte ein brennend heißer Wind, der einen üblen Geruch wie aus dumpfigen Ziegelöfen mit sich führte. Und durch das Zwielicht zwischen den Staubgespenstern auf der weiten, öden Ebene schimmerte das graue Reitkleid auf dem grauen Pferde. Sie hielt anfangs auf die Stadt zu. Dann wendete sie nach dem Flusse und ritt durch ein Lager verbrannten Dschungelgrases, über das man nicht einmal hätte Schweine treiben mögen. Bei kühler Überlegung wäre es mir nicht im Traum eingefallen, nachts über solches Land zu reiten. Aber beim Zucken der Blitze und bei dem Höllengeruch schien es ganz richtig und natürlich. Ich ritt und schrie, und sie beugte sich vornüber und peitschte ihr Pferd vorwärts. Und der Sturm hielt Nachernte, packte uns und stieß uns vorwärts wie Fetzen Papier.

Ich weiß nicht, wie weit wir ritten; aber das Stampfen der Pferdehufe, das Brüllen des Sturmes, die Jagd des matten, blutigroten Mondes durch gelbe Nebel schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Ich war buchstäblich in Schweiß gebadet, vom Helm bis zu den Gamaschen, als der Graue vor mir strauchelte, wieder auf die Beine kam und stocklahm stillstand. Auch mein Tier war völlig erschöpft. Edith Copleigh war in einem traurigen Zustand, ohne Hut, von Staub überzogen, und weinte bitterlich. »Können Sie mich nicht in Ruhe lassen?« sagte sie. »Ich wollte doch nur nach Hause! Lassen Sie mich doch, bitte!«

»Miß Copleigh, Sie müssen mit mir zurück. Saumarez hat Ihnen etwas zu sagen.«

Ich hatte mich höchst einfältig ausgedrückt, aber ich kannte Miß Copleigh kaum und konnte ihr nicht in ein paar Worten sagen, was mir Saumarez gesagt hatte, wenn ich auch zum Schaden meines Pferdes Vorsehung spielen sollte. Saumarez würde es selbst besser können, glaubte ich. Alle ihre Vorwände, daß sie müde sei und nach Hause müsse, fielen zusammen. Ihr Schluchzen warf sie im Sattel hin und her; ihr schwarzes Haar flatterte im Wind. Ich wiederhole nicht, was sie gesagt hat, denn sie war völlig fassungslos.

Das war also die gefühllose Miß Copleigh! Und da stand ich, ihr fast wildfremd, und suchte ihr klarzumachen, daß Saumarez sie liebe und sie zurückkommen müsse, um es ihn selbst sagen zu hören. Ich glaube, es gelang mir, sie zu verständigen, denn sie riß den Grauen zusammen und ließ ihn, so gut es ging, den Weg zum Grabbau zurückhinken. Und der Sturm donnerte vorwärts nach Umballa. Die ersten großen lauen Regentropfen fielen. Ich erfuhr, daß sie dicht neben Saumarez gestanden habe, als er sich ihrer Schwester erklärte, und daß sie heimgewollt habe, um sich in Ruhe, – wie es sich für ein englisches Mädchen schickt, – auszuweinen. Sie betupfte im Weiterreiten unablässig ihre Augen mit dem Taschentuch und plapperte mir, um sich in ihrer Erregung zu erleichtern, alles vor. Es war vollständig unnatürlich und schien doch in jenem Augenblick ganz selbstverständlich. Die ganze Welt bestand nur aus den beiden Copleighschen Mädchen, Saumarez und mir. Wir waren alle eingeschlossen von Blitzen und Finsternis, und die Leitung dieser irregeleiteten Welt lag in meiner Hand.

Als wir in der düsteren Totenstille nach dem Sturme zum Grabbau zurückkamen, brach die Dämmerung an. Noch war niemand gegangen. Alle warteten auf unsere Rückkehr, Saumarez vor allem. Er war blaß und verhärmt. Als Miß Copleigh und ich heranhinkten, kam er uns entgegen, hob sie vom Pferde und küßte sie vor der ganzen Gesellschaft. Es war wie auf dem Theater, und diese Ähnlichkeit wurde noch erhöht, als die verstaubten, gespensterhaften Männer und Frauen unter den Orangenbäumen wie im Theater Beifall klatschten zu Saumarez‘ Wahl. Nie in meinem Leben habe ich etwas so wenig Englisches erlebt.

Schließlich sagte Saumarez, wir müßten nach Hause, oder der ganze Ort würde uns suchen kommen, und »ob ich wohl so freundlich sein wollte, mit Maud Copleigh heimzureiten?« »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte ich.

So bildeten wir denn sechs Paare und zogen nach Hause, immer zwei und zwei. Saumarez ging neben Edith Copleigh her, die sein Pferd ritt.

Die Luft war wieder rein, und ganz allmählich, als die Sonne aufging, fühlte ich, daß wir uns in ganz gewöhnliche Männer und Frauen zurückverwandelten, und daß das »große Verlobungs-Picknick« eigentlich etwas ganz Fremdartiges, Unirdisches gewesen war, etwas, was sich nie wieder ereignen würde. Es war mit dem Sandsturm, dem elektrischen Summen der Luft verschwunden.

Ich war müde und zerschlagen und schämte mich eigentlich, als ich nach Hause kam und nach einem Bad ins Bett ging.

Es gibt noch eine andere Lesart dieser Geschichte, die von Frauen stammt. Aber die wird wohl niemals niedergeschrieben werden, – – es sei denn, daß Maud Copleigh einmal Lust dazu verspürt.

Pluffles‘ Befreiung

Pluffles‘ Befreiung

Mrs. Hauksbee war manchmal auch ihrem eigenen Geschlecht gegenüber nett. Das soll diese Geschichte beweisen. Man glaube davon ganz soviel, wie man mag.

Pluffles war Leutnant bei den »Unaussprechlichen.« Er war sehr grün, selbst für einen Leutnant sehr grün. Er war grün über und über, wie ein Kanarienvogel, der noch nicht flügge ist. Das schlimmste aber bei der Sache war, daß er dreimal soviel Geld hatte, als ihm gut tat; denn Pluffles‘ Papa war ein reicher Mann und Pluffles sein einziger Sohn. Mama Pluffles vergötterte ihn. Sie war nur etwas weniger grün als Pluffles und glaubte ihm alles, was er sagte.

Pluffles‘ schwache Seite war, nie zu glauben, was andere Leute sagten. Er zog es vor, »sich auf sein eigenes Urteil zu verlassen«, wie er es nannte. Aber er hatte im Leben gerade so wenig ein gutes Urteil, wie beim Reiten guten Sitz und sichere Hand. Infolgedessen kam er mehr als einmal in Verlegenheiten. Die größte Dummheit jedoch, die er je zustande gebracht hat, beging er in Simla – vor einigen Jahren, als er vierundzwanzig war.

Er fing damit an, sich wie üblich auf sein eigenes Urteil zu verlassen, und die Folge davon war, daß er nach kurzer Zeit mit Händen und Füßen an den Rädern von Mrs. Reivers Rickshaw hing.

An der ganzen Mrs. Reiver war nichts Gutes mit Ausnahme ihrer Toiletten. Sie taugte gar nichts, von ihrem Haar, das seinen Lebenslauf auf dem Kopf einer Bretagnerin begonnen hatte, bis zu ihren Stiefelhacken, die fast sechseinhalb Zentimeter hoch waren. Sie war nicht so offen mutwillig wie Mrs. Hauksbee; sie war berechnend boshaft.

Es gab ihretwegen niemals einen Skandal; dazu war sie nicht großzügig genug. Sie war die Ausnahme, die die Regel bestätigt, daß die Engländerinnen in Indien ebenso nett sind, wie ihre Schwestern in der Heimat. Sie brachte ihr Leben mit diesem Beweise zu.

Mrs. Hauksbee und sie haßten sich inbrünstig, Sie haßten sich viel zu sehr, um öffentlich aneinander zu geraten; aber was sie von einander erzählten, war überraschend, um nicht zu sagen – originell. Mrs. Hauksbee war ohne Falschheit, genau wie ihre Vorderzähne, und sie wäre eine Frau für Frauen gewesen, wenn sie nicht ihre mutwilligen Neigungen gehabt hätte. An Mrs. Reiver war nichts echt als ihre Selbstsucht. Und so fiel der arme kleine Pluffles gleich am Anfang der Saison ihr zur Beute. Sie hatte es auf ihn abgesehen, und Pluffles war nicht der Mann, ihr zu widerstehen. Er verließ sich auch hier auf sein eigenes richtiges Urteil und wurde gerichtet.

Ich habe erlebt, wie Hayes ein bockiges Pferd zuritt, ich habe einen Tonga-Kutscher ein widerspenstiges Pony bändigen und einen strengen Wärter einen aufsässigen Hund für die Jagd zurichten sehen, aber Pluffles Dressur übertraf alles. Er lernte apportieren wie ein Hund, und auch wie ein Hund auf Mrs. Reivers Zuruf warten, Er lernte Verabredungen einhalten, die Mrs. Reiver nicht im geringsten einzuhalten gesonnen war. Er lernte sich für einen Tanz im voraus bedanken, den Mrs. Reiver nie mit ihm zu tanzen gedachte. Er lernte, fünfviertel Stunde an der Windseite des »Elysium« fröstelnd warten, bis Mrs. Reiver sich entschloß, auszureiten. Er lernte, in einem dünnen Gesellschaftsanzug im strömenden Regen eine Rickshaw suchen, um dann neben ihr herzulaufen. Er lernte, was es heißt, wie ein Kuli angeredet und wie ein Küchenjunge herumgeschickt zu werden. Alles das lernte er und noch manches dazu. Und er zahlte für seinen Unterricht.

Vielleicht hatte er die dunkle Vorstellung, daß alles das vornehm und imponierend sei, daß es ihm bei den Männern eine »Stellung« gebe, und daß man doch eigentlich nicht anders könne. Es fühlte sich niemand verpflichtet, Pluffles vor seiner Torheit zu warnen. In jenem Winter ging es zu flott zu, als daß man sich noch hätte darum kümmern können; und außerdem ist es immer ein undankbares Geschäft, sich in andrer Leute Dummheiten einzumischen. Pluffles‘ Oberst hätte ihn, sobald er gehört hatte, wie die Dinge lagen, zum Regiment zurückkommandieren sollen. Aber Pluffles hatte sich während seines letzten Urlaubs in England verlobt, und nichts verabscheute der Oberst mehr als einen verheirateten Leutnant. Als er von Pluffles‘ »Dressur« hörte, lachte er in sich hinein und meinte, es wäre für den Jungen eine ganz gute Schule. Es war aber durchaus keine gute Schule für ihn. Sie verführte ihn, über seine Verhältnisse zu leben, die nicht schlecht waren. Vor allem aber machte diese »Erziehung« aus dem Durchschnittsjungen einen Mann übelster Art. Er geriet in schlechte Gesellschaft, und über seine kleinen Rechnungen bei Hamilton mußte man staunen.

Da nahm Mrs. Hauksbee sich der Sache an. Sie spielte ihr Spiel allein, denn sie wußte, was die Leute von ihr sagen würden, und sie spielte es für ein Mädchen, das sie noch nie gesehen hatte. Pluffles‘ Braut wollte im Oktober unter der Obhut einer Tante nach Indien kommen, um Pluffles zu heiraten.

Anfang August hielt es Mrs. Hauksbee für die rechte Zeit, einzuschreiten. Ein geübter Reiter weiß im voraus ganz genau, was sein Pferd im nächsten Augenblick tut. Ebenso weiß eine Frau von Mrs. Hauksbees Erfahrung sehr wohl, was ein junger Mensch unter gewissen Verhältnissen tut, zumal wenn er in eine Frau von Mrs. Reivers Schlag vernarrt ist. Sie sagte sich, daß der kleine Pluffles früher oder später seine Verlobung um nichts und wieder nichts lösen würde, einfach nur Mrs. Reiver zu Gefallen, die ihrerseits Pluffles solange sich im Dienst und zu Füßen halten würde, wie es ihr der Mühe wert schien. Sie erklärte, daß sie sich auf solche Erscheinungen verstünde. Und in der Tat, wenn sie es nicht konnte, wer konnte es dann!

Sie zog aus, um Pluffles aus dem Feuer der feindlichen Geschütze herauszuschlagen; genau wie Mrs. Cusack-Bremmil unter Mrs. Hauksbees Augen Bremmil erobert hatte.

Diese besondere Fehde dauerte sieben Wochen, – wir nannten sie den siebenwöchigen Krieg, – und man rang auf beiden Seiten um jeden Zoll breit Boden. Ein ausführlicher Bericht davon würde einen Band füllen und dennoch unvollständig sein. Wer solche Dinge kennt, kann sich die Einzelheiten selbst ausmalen. Es war ein großartiger Kampf, – solange Jakko steht, wird es keinen zweiten geben, – und Pluffles war der Siegespreis. Man sprach schändlich über Mrs. Hauksbee, denn man wußte nicht, um was sie spielte. Mrs. Reiver focht zum Teil, weil Pluffles ihr nützlich war, hauptsächlich aber, weil sie Mrs. Hauksbee haßte, und weil es eine Kraftprobe zwischen beiden galt. Was Pluffles sich dabei dachte, wußte niemand. Selbst in seiner besten Zeit hatte Pluffles nicht viele Gedanken, und auf die wenigen, die ihm kamen, war er unheimlich stolz. Mrs. Hauksbee sagte sich: »Den Jungen muß ich mir einfangen, und das einzige Mittel dazu ist gute Behandlung.«

Darum behandelte sie ihn, solange der Ausgang des Kampfes zweifelhaft war, als Mann von Welt und Erfahrung. Pluffles fiel nach und nach von seiner Lehnsherrin ab und ging schließlich zum Feinde über, der ihn besser würdigte. Er wurde nie mehr auf Ausschau nach Rickshaws gesandt, noch wurden ihm Tänze versprochen, die nie getanzt wurden, noch wurde die Schwächung seines Geldbeutels fortgesetzt. Mrs. Hauksbee hielt ihn an der Trense, und nach der Führung unter Mrs. Reivers Hand wußte er den Wechsel zu schätzen.

Mrs. Reivers hatte es ihm abgewöhnt, von sich selber zu reden und ihn statt dessen von ihren eigenen Vorzügen sprechen lassen. Mrs. Hauksbee tat das Gegenteil und gewann dadurch sein Vertrauen, so daß er sogar seine Verlobung in der Heimat erwähnte. Er sprach davon in einem überlegenen Ton als von einer »jugendlichen Torheit.« Das geschah, als er eines Nachmittags bei ihr zum Tee war und sie lustig und bezaubernd zu unterhalten glaubte. Mrs. Hauksbee hatte eine ältere Generation seines Schlages knospen, blühen und schließlich als wohlgenährte Hauptleute und dickbäuchige Majors verfallen sehen.

Nach mäßiger Schätzung konnte Mrs. Hauksbee gegen dreiundzwanzig verschiedene Rollen spielen. Einige Männer behaupteten, noch mehr.

Sie fing jetzt an, mit Pluffles wie eine Mutter zu reden, als lägen zwischen ihnen nicht fünfzehn sondern dreißig Jahre. Sie sprach mit einer tiefen, zitternden Stimme, die etwas Besänftigendes hatte, obgleich ihre Worte alles eher als besänftigend waren. Sie machte ihn auf die grenzenlose Torheit, um nicht zu sagen Niedrigkeit seiner Handlungsweise und auf die Kleinlichkeit seiner Anschauungen aufmerksam. Er stammelte etwas wie »sich als Mann von Welt auf sein eigenes Urteil verlassen können,« und das bahnte ihr den Weg für das, was sie ihm noch zu sagen hatte. Von jeder anderen Frau hätten Pluffles die Worte vernichtet; aber der weiche, girrende Ton, den Mrs. Hauksbee annahm, stimmte ihn mild und reuig, als wäre er in einer Art höherem Gottesdienst gewesen. Allmählich zog sie ganz sanft und zart aus Pluffles den Dünkel, wie man die Stäbe aus einem Regenschirm zieht, ehe man ihn neu bezieht. Sie sagte ihm, was sie von seinem Urteil und seiner Weltkenntnis hielt, und daß ihn seine Darbietungen vor den andern lächerlich gemacht hätten, und daß er jetzt auch mit ihr herumliebeln würde, wenn sie es ihm nur gestattete. Sie versicherte ihm, daß eine Heirat aus ihm erst etwas Rechtes machen würde, und entwarf ein hübsches kleines Bild, – ganz ins Rosenrote schillernd, – von der zukünftigen Mrs. Pluffles, und wie sie sich ihr Leben lang auf »Urteil und Weltkenntnis« eines Gatten, der sich nichts vorzuwerfen hatte, werde stützen können. Sie allein weiß, wie sie diese beiden Behauptungen verband. Pluffles fiel der Widerspruch jedenfalls nicht auf.

Es war eine vollendete kleine Predigt, – viel besser als sie irgendein Pastor hätte halten können, – die mit einem rührenden Hinweis auf Mama und Papa Pluffles schloß, zugleich mit dem weisen Rat, mit seiner jungen Frau doch nach England zurückzugehen.

Darauf schickte sie Pluffles spazieren, damit er sich über ihre Worte klar würde. Pluffles schneuzte sich und verließ sie aufrechten Ganges. Mrs. Hauksbee lachte.

Was Pluffles in Sachen seiner Verlobung beabsichtigt hatte, wußte allein Mrs. Reiver, und die schwieg sich zeitlebens aus. Wahrscheinlich hätte sie den Bruch als Huldigung vor ihr nicht ungern geschehen sehen.

Pluffles erfreute sich in den nächsten Tagen manchen Gespräches mit Mrs. Hauksbee. Sie hatten alle den gleichen Zweck, ihm auf den Pfad der Tugend zu helfen.

Mrs. Hauksbee wollte ihn bis zuletzt unter ihren Fittichen halten. Darum mißbilligte sie auch seinen Plan, nach Bombay zur Trauung zu fahren. »Der Himmel weiß, was ihm geschehen könnte,« sagte sie. »Pluffles steht unter dem Fluche Reubens, und darum ist Indien nicht der rechte Ort für ihn.«

Zuguterletzt kam die Braut mit ihrer Tante, und Pluffles der seine Verhältnisse einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, wobei ihm Mrs. Hauksbee ebenfalls half, konnte heiraten.

Mrs. Hauksbee atmete erleichtert auf, als die beiden »Ja« gesprochen waren, und ging ihrer Wege.

Pluffles folgte ihrem Rat und zog in die Heimat. Er quittierte den Dienst und züchtet jetzt irgendwo zu Hause hinter grüngestrichenen Zäunen bunte Kühe. Vermutlich ist er darin sehr urteilsfähig. Hier in Indien wäre er gescheitert.

Wenn daher jemand etwas ungewöhnlich Häßliches von Mrs. Hauksbee sagt, erzähle man ihm die Geschichte von Pluffles‘ Befreiung.

Amors Pfeile

Amors Pfeile

Sumpf, dessen Kühle einst Büffel umdrängt,
Versiegt von der Glut jetzt, verdorrt und zersprengt;
Baumstumpf, den salzige Gräser umschlingen;
Pfad, den die Hügel der Ratten umringen;
Heimliche Höhle am flüchtigen Fluß;
Aloe sticht dich in Flanken und Fuß.
Spring, wenn du’s wagst, auf ein Roß vor der Zeit;
Weich lieber aus, – gehe weit, geh weiter,
Horche, da vorn ruft der beste Reiter:
Kinder, zur Seite! Noch weiter! Ganz weit! –

Die Peora Jagd.

Es war einmal in Simla ein sehr hübsches Mädchen, die Tochter eines armen aber ehrlichen Kreisrichters. Sie war ein gutes Kind, aber sie kannte nun einmal ihre Macht und nutzte sie. Die Mama war um die Zukunft ihrer Tochter besorgt, wie es jede gute Mama sein sollte.

Wenn ein Junggeselle Regierungskommissar ist und das Recht besitzt, an seinem Rock Orden wie zierlichste Zuckerbäckerarbeit in Gold und Emaille zu tragen und zudem noch außer vor einem Mitglied des Staatsrates, einem Vizegouverneur oder Vizekönig vor jedermann den Vortritt hat, dann ist er wert, geheiratet zu werden. Wenigstens behaupten die Damen das. Nun gab es damals in Simla einen Regierungskommissar, der all das, was ich eben erwähnt habe, hatte, trug und war. Er war ein unansehnlicher Mann, ja ein häßlicher Mann, mit zwei Ausnahmen der häßlichste in Asien. Er hatte ein Gesicht, von dem man träumte, und das man hernach auf einen Pfeifenkopf zu schnitzen in Versuchung kommen könnte. Sein Name war Saggott, – Barr-Saggott, – Antonius Barr Saggott, und daran schlossen sich sechserlei Titel. Als Beamter war er einer der tüchtigsten Leute in der indischen Regierung, im geselligen Verkehr glich er einem freundlich lächelnden Gorilla.

Als er Miß Beighton seine Aufmerksamkeit zuwandte, hat meiner Ansicht nach Mrs. Beighton vor Wonne geweint und der Vorsehung für das Glück ihrer alten Tage gedankt.

Mr. Beighton schwieg dazu. Er war ein gutmütiger Mann.

Nun ist solch Kommissar sehr reich. Sein Gehalt übersteigt die kühnsten Träume; es ist so ungeheuer groß, daß er es sich leisten kann, so zu sparen und zu knausern, daß er darin selbst einem Mitglied des Staatsrats den Rang streitig machen würde. Die meisten Kommissare sind knickerig, aber Barr-Saggott war eine Ausnahme. Er war ein verschwenderischer Wirt, ritt die besten Pferde, gab Bälle; er war überhaupt eine Macht im Lande und trat entsprechend auf.

Man darf dabei nicht vergessen, daß meine Erzählung sich in einer fast prähistorischen Ära der britisch-indischen Geschichte zugetragen hat. Mancher erinnert sich vielleicht noch der Jahre, wo das Lawn-Tennis noch im Schoß der Zeiten ruhte und alles Krocket spielte. Aber vordem gab es in der Tat eine Zeit, wo selbst das Krocket noch nicht erfunden war, und wo das Bogenschießen, – 1844 in England zu neuem Leben erweckt, – eine ebenso große Seuche war wie heute das Lawn-Tennis. Damals sprach man wissenschaftlich von »Zielen«, »Lockern«, »Scheiben«, von »56 Pfund« – und von »Eibenbogen«, wie man heute von »Rückschlag«, »Smashen«, »Netzspiel« oder von »16 Unzen-Rackets« redet.

Miß Beighton schoß göttlich, über Damendistanz, – das heißt mehr als sechzig Meter, – und war unter den Damen von Skala der anerkannt beste Schütze. Die Herren nannten sie nur die »Diana von Tara-Devi«.

Barr-Saggott machte ihr den Hof, und das Herz ihrer Mutter jauchzte, wie gesagt, und lobsingete. Kitty Beigthon nahm die Sache ruhiger. Es wahr ihr nicht unangenehm, von einem Kommissar mit vielen Titeln ausgezeichnet zu werden und die Herzen anderer Mädchen mit Eifersucht erfüllen zu können. Aber es war nicht zu leugnen: Barr-Saggott war unmenschlich häßlich, und all seine Verschönerungsversuche machten ihn nur noch grotesker. Man hatte ihn nicht umsonst den »Langur«, – den grauen Affen, – getauft. Kitty war es ganz angenehm, ihn zu ihren Füßen zu haben, aber angenehmer war es ihr doch, ihm aus dem Wege zu gehen und mit dem leichtfüßigen Cubbon, dem Dragoner aus Umballa, der ein hübsches Gesicht aber keine Aussichten hatte, spazieren zu reiten. Kitty hatte Cubbon mehr als gern, und er machte gar kein Hehl daraus, daß er bis über die Ohren in sie verliebt war, denn er war ein ehrlicher Mensch. So floh denn Kitty von Zeit zu Zeit vor dem würdevollen Werben Barr-Saggotts in die Gesellschaft des jungen Cubbon. Ihre Mutter schalt sie darum. »Aber Mutter,« sagte sie, »Mr. Saggott ist ja so ein, – ja wirklich, – so, so entsetzlich häßlich!«

»Mein liebes Kind,« sagte Mrs. Beighton salbungsvoll, »wir sind alle nicht anders, als uns die allmächtige Vorsehung geschaffen hat. Außerdem wirst du selbst vor deiner Mutter den Vortritt haben. Denke daran und sei vernünftig!«

Kitty warf ihren Kopf in den Nacken und sagte allerlei Unehrerbietiges über »Vortritte«, Kommissare und die Ehe überhaupt. Mr. Beighton kratzte sich den Kopf, denn er war ein gutmütiger Mann.

Als Barr-Saggott gegen Ende der Saison die Zeit für gekommen hielt, entwickelte er einen Plan, der seinen administrativen Fähigkeiten alle Ehre machte. Er veranstaltete einen Bogen-Wettkampf für Damen und setzte ein besonders kostbares, diamantenbesetztes Armband als Preis aus. Er entwarf die Bedingungen sehr geschickt, und jedermann merkte, daß das Armband ein Geschenk für Miß Beighton sein sollte, und daß mit seiner Annahme Kommissar Barr-Saggotts Herz und Hand verknüpft war. Die Bedingungen lauteten auf eine »St. Leonhardsrunde«, – 36 Schüsse auf 60 Meter Distanz, – nach den Regeln des Toxophilita-Klubs zu Simla.

Ganz Simla war geladen. Prachtvolle Teetische standen unter den Zedern von Annandale, wo jetzt die Tribüne steht, und in einsamer Pracht funkelte das Diamantenarmband auf blauem Samt im Sonnenschein. Miß Beighton drängte sich fast zu sehr zum Wettbewerb. An dem bewußten Nachmittage ritt ganz Simla nach Annandale, um bei dem allerdings umgekehrten Urteil des Paris dabei zu sein. Kitty ritt mit dem jungen Cubbon, der offensichtlich unruhig war. An dem, was folgte, trug er keine Schuld. Kitty war blaß und erregt und betrachtete das Armband sehr lange. Barr-Saggott war mit großer Pracht gekleidet, noch erregter als Kitty und häßlicher denn je.

Mrs. Beighton lächelte herablassend, wie es der Schwiegermutter eines wohllöblichen Regierungskommissars zukam, und das Schießen begann. Alles stand in einem Halbkreis, als die Damen eine nach der anderen vortraten.

Es gibt nichts Langweiligeres als ein Bogenschießen. Man schoß und schoß und hörte auch noch nicht auf zu schießen, als die Sonne aus dem Tale schwand und ein leiser Abendwind durch die Zedern spielte. Man wollte Miß Beighton schießen und gewinnen sehen. Cubbon stand an dem einen Ende des Halbkreises und Barr-Saggott am anderen. Miß Beighton war die letzte auf der Liste. Die Leistungen waren schwach gewesen und das Armband plus Kommissar Barr-Saggott ihr so gut wie sicher.

Der Kommissar spannte ihr den Bogen mit höchsteigener Hand. Sie trat vor, warf einen Blick auf das Armband, und ihr erster Pfeil traf aufs Haar die Mitte »Gold«. Das zählte neun Punkte.

Der junge Cubbon am linken Flügel erblaßte, und sein böser Geist gab Barr-Saggott ein zu lächeln. Aber wenn Barr-Saggott lächelte, wurden Pferde scheu. Und Kitty sah sein Lächeln. Sie blickte zur Linken, nickte kaum merklich Cubbon zu und schoß weiter.

Ich wollte, ich könnte die folgende Szene beschreiben. Sie war ganz außergewöhnlich und unerhört. Miß Kitty schoß ihre Pfeile äußerst bedächtig, so daß jeder sehen konnte, was sie tat. Sie war ein vollendeter Schütze, und ihr 46 Pfund-Bogen war auf sie geeicht. Viermal hintereinander nagelte sie ihre Pfeile in die hölzernen Füße der Scheibe und einmal gerade auf den obersten Rand. Alle Damen sahen einander an. Dann machte sie einige Phantasieschüsse ins Weiße, die je als ein Punkt gerechnet wurden. Fünfmal schoß sie so. Es war ein herrliches Schießen. Aber Barr-Saggott, nach dessen Absicht sie ins »Gold« treffen sollte, um das Armband zu gewinnen, wurde bläßlich grün wie zartes Wassergras. Darauf zielte sie zweimal über die Scheibe hinaus, dann zweimal links vorbei, immer mit der gleichen bedächtigen Vorsicht. Und ein kühles Schweigen senkte sich auf die Gesellschaft, während Mrs. Beighton ihr Taschentuch hervorzog. Schließlich schoß Kitty in den Boden, unmittelbar vor der Scheibe, und zersplitterte einige Pfeile und traf darauf das »Rote« (sieben Punkte), nur um zu zeigen, was sie konnte, wenn sie wollte. Und sie schloß ihre erstaunliche Leistung wieder mit einigen willkürlichen Schüssen in die Scheibenfüße. Hier ist die Zahl ihrer Punkte, wie sie notiert worden sind:

Miß Beighton.

Gold rot blau schwarz weiß Treffer Summe
1 1 0 0 5 7 21

Barr-Saggott sah aus, als wären die letzten Pfeile in seine Beine statt in die Scheibenfüße gegangen, und die tiefe Stille wurde von dem triumphierend schrillen Ruf eines stumpfnasigen, sommersprossigen, halbwüchsigen Mädchens unterbrochen: »Dann habe ich ja gewonnen!«

Mrs. Beighton rang nach Fassung, so gut sie konnte, aber sie weinte doch vor allen Leuten. Ihre gute Erziehung half ihr nichts bei dieser Enttäuschung. Kitty spannte ihren Bogen mit einem boshaften Ruck ab und ging auf ihren Platz zurück, während Barr-Saggott sich zu stellen suchte, als wenn es ihm ein Vergnügen sei, das Armband um das derbe, rote Handgelenk der Stumpfnase zu legen. Es war eine peinliche, höchst peinliche Szene. Alle verabschiedeten sich gleichzeitig und überließen Kitty dem Segen ihrer Mama.

Aber Cubbon begleitete sie statt ihrer nach Hause, – und das andere ist nicht wert gedruckt zu werden.

Die drei Musketiere

Die drei Musketiere

Mulvaney, Ortheris und Learoyd sind Gemeine in der zweiten Kompanie eines Linienregimentes und meine persönlichen Freunde. Sicher weiß ich es nicht, aber ich glaube, die drei zusammen sind die schlimmsten Leute im Regiment, wenn es lustige Spitzbübereien gilt.

Sie erzählten mir, als wir neulich in Umballa im Wartesaal saßen, folgende Geschichte. Ich stiftete das nötige Bier, und die Geschichte war schon sechs Liter wert.

Wer kennt Lord Benira Trig nicht! Er ist erstens Herzog oder Graf oder sonst etwas »Zivilistisches«, zweitens ein Peer und drittens ein Globetrotter. In allen drei Eigenschaften verdient er, wie Ortheris sagt, »noch lange keine Achtung«. Er ist ziemlich drei Monate hier gewesen, um für ein Buch über »Unsere Impedimenta in Indien« Material zu sammeln. Ein Kosak im Frack hätte nicht ungelegener kommen können.

Sein Hauptfehler war es, daß er überall die Garnisonen zur Musterung ausrücken ließ, denn er war, glaube ich, ein ganz Radikaler. Nach der Parade pflegte er mit dem Oberstkommandierenden zu tafeln und sich vor dem ganzen Offizierstisch ihm gegenüber in beleidigender Weise über den Zustand der Truppen zu äußern. Das war nun einmal so Beniras Art.

Einmal jedoch hat er die Sache übertrieben. Er kam an einem Dienstag ins Quartier von Helanthami. Am Mittwoch wollte er in den Basaren Einkäufe machen und »äußerte den Wunsch«, am Donnerstag die Truppen zu besichtigen. An – einem Donnerstag! Am Ruhetag! Da er ein Lord war, konnte der Kommandant ihm seinen Wunsch nicht gut abschlagen. Die Leutnants hielten im Kasino eine Protestversammlung und überhäuften den Oberst mit Kosenamen.

»Aber, was die wahre Demonstration war, die haben wir in der Kaserne gemacht,« sagte Mulvaney, »wir drei nicht zuletzt.«

Mulvaney schwang sich aufs Büfett, machte sich’s beim Bier bequem und fuhr fort: »Als es am meisten krachte, und die ganze zweite Kompanie diesen Kerl, den Trig, auf dem Übungsplatz um die Ecke bringen wollte, da hält hier der Learoyd seinen Helm hin und sagt: was hast du noch gesagt?«

»Gesagt hab‘ ich,« ergänzte Learoyd, »Geld her! Wir wollen sammeln, Kinder. Ich wette, daß die Parade abgesagt wird, und wenn sie’s nicht wird, dann sollt ihr euer Geld wieder haben. Weiter habe ich nichts gesagt, aber die Kompanie weiß, was es heißt, wenn ich was sage. Als ein hübsches Stück Geld beisammen war, ging ich weg. Ich mußte mir die Geschichte überlegen. Mulvaney und Ortheris gingen mit.«

»Was ausgefressen wird, wird auch zu dritt ausgefressen!« erklärte Mulvaney.

Ortheris unterbrach ihn: »Lesen Sie die Zeitung?«

»Manchmal«, sagte ich.

»Na, wir lesen sie, und wir haben so einen richtigen Überfall in Szene gesetzt, so ’ne richtige, na sagen wir, – Verführung.«

»Ent–führung, du Stadtfrack!« sagte Mulvaney.

»Ent– oder Verführung, das ist doch ganz schnuppe. Die Hauptsache ist, daß wir Mister Benira aus dem Wege haben wollten. Der sollte am Donnerstag was Besseres zu tun kriegen als Parade halten. Ich sagte, wir wollen mal sehen, ob das Geschäft nicht noch was abwirft.«

»Kriegsrat haben wir gehalten, wie wir bei der Artilleriekaserne vorbei sind«, fuhr Mulvaney fort. »Ich war der Vorsitzende, Learoyd Finanzminister, und hier der Kleine –« »Der reinste Bismarck! Wenn’s geglückt ist, ist’s mein Verdienst.«

»Ach, das Stück von ’nem Menschen, der Benira, hat sich ganz alleine reingelegt«, sagte Mulvaney. »Weiß Gott, wir hatten nicht die blasse Ahnung, wie wir’s andrehen sollten. Er machte Besorgungen im Basar, zu Fuß Gott sei Dank. Es war schon schummrig, und wir, wir paßten auf, wie das Männchen in die Läden rein und wieder raus huppte. Geredet hat er, aber verstanden hat ihn keiner. Und dann schiebt er so mit seinen Paketen und seinem spitzen kleinen Bauch zu uns ran und sagt so recht großartig: »Na, liebe Kinder, habt ihr nicht den Wagen vom Herrn Oberst gesehen?« »Wagen«, sagte Learoyd. »Wagen gibt’s hier nicht, hier haben wir bloß Ekkas.« »Was ist denn das?« fragte da Trig. Learoyd zeigt ihm nun eine in der Straße, und Trig meinte: »Wie prachtvoll orientalisch. Ich werde in einer Ekka fahren.« Na, nu wußt‘ ich, daß es der Regimentsheilige gut mit uns meinte. Ich kriege also ’ne Ekka zu fassen und sage zu dem Satan von Kutscher: »Du, schwarzes Vieh, hier kommt gleich ein Sahib für deine Ekka. Er will mal rasch zu den Padsahi-Sümpfen! (Sie waren bloß zwanzig Meilen weit weg.) Er will Schnepfen schießen, verstehst du? Fahr zu, als wenn’s in die Hölle geht, verstanden? Reden brauchst du nicht mit dem Sahib. Der versteht dich doch nicht! Wenn er was brüllt, dann brüll du nur Hüh! Erst fährst du mir vorsichtig, nachher haust du drauf los, was das Zeug hält. Je mehr du haust, um so zufriedener ist der Sahib, verstehst du? Da hast du ’ne Rupie von mir.«

Der Kutscher hatte gemerkt, daß irgend was los war. Er grinste und sagte: ich fahren verflucht schnell! – Was ich für Angst hatte, daß der Wagen käme, ehe ich unsern süßen, kleinen Benira mit Gottes Hilfe bugsiert hatte. Er packte sein Dreckzeug in die Ekka und kugelte nach wie’n Meerschweinchen. Meinen Sie, er hätte uns ein Glas Bier geben lassen? Dafür, daß wir ihm den Weg gezeigt hatten? Na, sage ich zu den andern, der ist weg, nach den Sümpfen.«

Und nun erzählte Ortheris weiter.

»In dem Moment kommt gerade der kleine Bhuldoo, was der Junge von einem der Sais bei der Artillerie ist. In London war er ein großartiger Zeitungsjunge geworden, denn scharf ist er und nie zu faul. Natürlich hatte er gesehen, wie wir Mister Benira aufgepackt hatten. ›Was haben Sie denn da eben gemacht, Sahibs?‹ sagt er. Learoyd nimmt ihn beim Ohr und sagt:

›Gesagt hab ich,‹ fuhr Learoyd fort, ›junger Mann, der Mann da will am Donnerstag die Kanonen raus haben, Donnerstag, verstehst du? Dann mußt du auch ran! Also nimm dir ein Pony und hau drauf los, und fahr‘ den Kerl in die Sümpfe. Mach, daß du hinter der Ekka herkommst und sag dem Kutscher, daß du fahren willst. Der Sahib kann kein Indisch, er ist ein bißchen – verstehst du? Karr‘ die Ekka in den Sumpf, laß den Sahib sitzen, und mach, daß du nach Haus kommst. Hier hast du ’ne Rupie.‹«

Das nächste sagten Mulvaney und Ortheris abwechselnd. Man möge den Sprecher selbst herausfinden.

»Das war so ein richtiger kleiner Teufel, der Bhuldoo, und er zwinkert mit den Augen und sagt kaum was und ist fort. – Wir wollen doch mal sehen, ob man da nicht noch Geld rausschlagen kann, sage ich. – Na, und ich möchte erst mal wissen, wie die Sache abläuft. – Also gehen wir doch raus nach den Sümpfen und retten den Kleinen vor dem mörderischen Bhuldoo! – Natürlich, wie auf dem Theater. – Also sind wir im Laufschritt raus zu den Sümpfen. Aber da hören wir schon ein Getrappel hinter uns, und da war’s, weiß Gott, der kleine Bhuldoo mit ’ner ganzen Räuberbande, drei Stück, die – na, so ein bißchen echt mußte die Sache doch aussehen, – haste was kannste drauf los ritten. Und wir rannten, und die rannten, und wir platzten fast vor Lachen. Da kamen wir an den Sumpf und hörten dumpfe Klagetöne durch die Abendlüfte säuseln.« (Ortheris machte das Bier poetisch.) Das Duett begann von neuem. Mulvaney hob an.

»Wir hörten den Räuber Bhuldoo den Kutscher anschreien, einen von den jungen Teufelskerlen mit einem Knüppel auf das Ekkaverdeck schlagen und Benira Trig Mord und Totschlag brüllen. – Bhuldoo reißt den Kutscher vom Bock, packt die Zügel und fährt wie verrückt in den Sumpf. Der Kutscher kommt nun zu uns ran und sagt: ›Der Sahib ist halb tot vor Angst. Was ist denn das für eine Teufelssache?‹« – »Nur Ruhe,« sagen wir, »nimm hier das Pony und komm mit uns. Der Sahib ist angefallen, und nun müssen wir ihn befreien.« »Angefallen?« sagte der Kutscher, »Unsinn, das ist doch Bhuldoo.« »Zum Henker mit Bhuldoo,« geben wir zur Antwort, »es ist ein verdammter, wilder Heide aus dem Gebirge. Achte sind’s, die den Sahib angefallen haben, verstehst du! Merk dir’s, hier hast da ’ne Rupie dafür.« – Und da sehen wir auch schon die Ekka umkippen und ins Wasser platschen, und hören den Benira um Vergebung seiner Sünden flehen. Und Bhuldoo und seine Freunde sind auch im Wasser und prügeln sich.«

Hier zogen sich die drei Musketiere hinter ihre Biergläser zurück.

»Nun, und was geschah nun?« fragte ich.

»Ja, was nun geschah?« antwortete Mulvaney und wischte sich den Mund. »Sollen vielleicht drei so tapfere Soldatenkerle wie wir den Stolz des Herrenhauses überfallen und ersaufen lassen? Niemals. Wir stellten uns also in Reih und Glied und machten Sturm auf den Feind. Zehn Minuten lang, das sage ich Ihnen, konnten wir unser eigenes Wort nicht verstehen. Das Getrommel auf dem Verdeck und Benira und die Bande radauten um die Wette. Die Stöcke pfiffen nur so rum um die Ekka. Ortheris paukte mit seinen Fäusten aufs Verdeck und Learoyd schrie: ›Nehmt euch bloß vor ihren Messern in acht.‹ Und ich schlug rechts und links um mich und trieb ganze Regimenter Heidenvolk nur so in die Flucht. Kreuz Maria und Joseph, es war ärger als Ahmid Kheyl und Maywind zusammen. Nach einer Weile flieht Bhuldoo und die ganze Gesellschaft. Haben Sie schon einmal einen richtig lebendigen Lord seine Adligkeit einen halben Meter tief im Sumpfwasser verstecken sehen? Weiß Gott, er sah aus wie so’n bibbernder Wasserschlauch. Na, und es dauerte auch ganz hübsch lange, bis wir unserm Freund Benira klar gemacht hatten, daß er noch lebte. Aber noch länger hat’s gedauert, bis wir die Ekka aus dem Dreck kriegten. Und schließlich kam auch der Kutscher wieder ran und schwor, er hätte mitgeholfen, den Feind zu vertreiben. Benira war vor Angst ganz krank. Wir brachten ihn ganz gemütlich ins Quartier zurück, damit die Nässe recht hübsch durchsickern konnte. Und sie ist gesickert! Dem Regimentsheiligen alle Ehre, sie hat dem Lord Benira das Mark aus den Knochen gesogen.«

Da sagte Ortheris langsam mit unermeßlichem Stolz: »Er sagt zu uns: ›Ihr seid meine edlen Retter,‹ sagt er. ›Stolz kann die englische Armee auf euch sein,‹ sagt er. Und dann beschreibt er uns die furchtbare Räuberbande, die ihn angefallen hat. Vierzig Mann wären es gewesen, sagt er, die Übermacht hätte ihn überwältigt. Na, das stimmt. Aber nicht einen Augenblick hätte er seine Geistesgegenwart verloren, sagt er. Und das stimmt auch. Dem Kutscher gab er fünf Rupien für seinen edlen Beistand. Und nach uns würde er sehen, wenn er mit dem Obersten gesprochen hätte. Denn’s Regiment kann auf uns stolz sein, sagt er.«

»Na, wir drei,« sagte Mulvaney mit engelreinem Lächeln, »wir drei haben schon mehr als einmal Bob Bahadurs ganz be-son-de-re Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Aber er ist wirklich ein anständiger kleiner Herr, unser Oberst Bob. Ortheris, mein Sohn, nun fahr‘ du fort!«

»Wir bringen ihn also zum Oberst ins Haus, elend genug, und laufen rüber in die Kaserne und sagen, daß wir Benira vom blutigen Tode errettet hätten, und daß Donnerstag wahrscheinlich keine Parade wäre. – Na, und zehn Minuten drauf kommen drei Briefe, für jeden von uns einer. Weiß Gott, der alte Schafskopp schickt uns jedem ein Goldstück. Am Donnerstag lag er im Krankenhaus, um sich von seinem blutigen Zusammenstoß mit der Heidenbande zu erholen. Und die ganze zweite Kompanie soff sich auf sein Wohl unter’n Tisch. Aber der Oberst sagte, als er von unsrer Tapferkeit hörte: ›Irgendwo ist hier doch ’ne Spitzbüberei im Gang gewesen,‹ sagt er, ›ich kann man bloß euch drei nicht überführen.‹«

»Meine spezielle Ansicht ist,« sagte Mulvaney, kletterte vom Büfett herunter und drehte sein Glas um, »sie würden uns auch nicht überführt haben, wenn sie’s gekonnt hätten. Denn Parade am Donnerstag verstößt erstens gegen die Natur, zweitens gegen’s Reglement und nicht zuletzt gegen Terence Mulvaney seinen Willen.«

»Schön, mein Sohn,« sagte Learoyd, »aber, junger Mann, was wollen Sie denn mit dem Notizbuch?«

»Laß ihn nur,« sagte Mulvaney, »nächsten Monat um die Zeit sind wir schon auf dem Schiff; der Herr will uns ja bloß unsterblich machen. Aber behalten Sie’s bei sich, bis wir meinem Freunde Bob Bahadur aus der Schußweite sind.«

Und ich bin Mulvaney gehorsam gewesen.

Das Tor der hundert Leiden

Das Tor der hundert Leiden

»So ich für einen Groschen den Himmel gewinnen kann,
willst du es mir mißgönnen?«

Sprichwort der Opiumraucher.

Das Folgende ist keine Arbeit von mir. Mein Freund, Gabral Misquitta, der Mischling, erzählte mir das Ganze zwischen Monduntergang und Morgen, sechs Wochen vor seinem Tode; und ich brachte es nach seinem Diktat zu Papier, während er meine Fragen beantwortete. Etwa so:

Es liegt zwischen der Kupferschmiedgasse und dem Viertel der Pfeifenstiel Verkäufer, noch keine hundert Meter im Vogelflug von der Wasir Khan Moschee. Soviel kann ich jedem verraten, aber ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß keiner das Tor finden wird, mag er noch so überzeugt sein, die Stadt zu kennen. Hundertmal kann man durch die nämliche Gasse gehen, ohne das Tor zu finden. Wir nannten die Gasse »die Gasse des schwarzen Rauchs«, aber der einheimische Name lautet natürlich ganz anders. Ein beladener Esel wäre außerstande, zwischen ihren Mauern hindurchzukommen; ja, an einem Punkt, kurz vor »Dem Tor«, zwingt; eine vorspringende Hausfront die Leute, sich seitwärts durchzuzwängen.

In Wirklichkeit ist es gar kein Tor. Es ist ein Haus. Der alte Fung-Tsching war sein erster Besitzer – fünf Jahre sind es her. Er war ein Schuhmacher aus Kalkutta. Sie sagen, er hätte dort in der Trunkenheit seine Frau ermordet. Das ist auch der Grund, weshalb er auf den Bazar-Rum verzichtete und sich statt dessen dem schwarzen Rauch ergab. Später zog er nach dem Norden und eröffnete »Das Tor« als Stätte, wo man in Ruhe seinen Rauch trinken konnte. Sie müssen wissen, es war ein »Pukka« – ein anständiges Opiumhaus, und keine von den dumpfen, stickigen Höhlen, wie man sie überall in der Stadt findet. Ja, der Alte verstand sein Geschäft gründlich und war für einen Chinesen ungewöhnlich sauber. Er war einäugig – ein kleines Kerlchen, noch keine fünf Fuß hoch, und hatte beide Mittelfinger verloren. Trotzdem habe ich noch niemanden getroffen, der ihm an Geschicklichkeit beim Drehen der schwarzen Pillen gleich kam. Er schien außerdem gegen den Rauch vollkommen unempfindlich. Was er tagaus tagein darinnen leistete, grenzte ans Wunderbare. Ich bin nun schon fünf Jahre dabei und kann auch meinen Teil vertragen; aber in dieser Hinsicht war ich neben Fung-Tsching ein Kind. Trotzdem war der Alte scharf auf sein Geld aus: das habe ich an ihm nie verstanden. Er soll vor seinem Tode noch ziemlich viel zusammengerafft haben, aber jetzt hat alles sein Neffe, und der Alte ist, nur um begraben zu werden, nach China zurückgelangt.

Er hielt den großen Raum im Oberstock, wo seine besten Kunden sich versammelten, so blank wie eine Stecknadel. In der einen Ecke stand Fung-Tschings Götze – fast ebenso häßlich wie Fung-Tsching selbst – und unter seiner Nase wurden Tag und Nacht Räucherspäne abgebrannt; aber man roch sie nicht, wenn die Pfeifen ordentlich im Gange waren. Gegenüber von dem Götzen stand Fung-Tschings Sarg. Er hatte einen hübschen Teil seiner Ersparnisse auf diesen Sarg verwandt und immer, wenn sich ein neuer Kunde im »Tor« meldete, wurde er zuerst dem Sarg vorgestellt. Der war aus schwarzem Lack mit roten und goldenen Inschriften, und es hieß, Fung-Tsching hätte ihn die ganze weite Reise aus China mitgebracht. Ich weiß zwar nicht, ob das stimmt, aber das eine ist sicher: wenn ich als erster am Platz war, breitete ich meine Matte direkt unterhalb des Sarges aus. Es war ein stiller Winkel, wissen Sie, und durch das Fenster kam hin und wieder von der Gasse her ein kleiner Luftzug. Außer den Matten gab es in dem Raum kein Mobiliar – nur den Sarg und den alten Götzen, über und über grün und blau und purpurfarben vor lauter Alter und Lack.

Fung-Tsching hat uns niemals verraten, weshalb er das Haus »Das Tor der hundert Leiden« nannte. (Er war der einzige Chinese, den ich je gekannt habe, der sich übelklingender, phantastischer Namen bediente. Die meisten klingen sonst sehr blumenreich.) Davon können Sie sich in Kalkutta überzeugen. Wir kamen ganz von selbst dahinter. Nichts packt einen so, wenn man ein Weißer ist, wie der schwarze Rauch. Die Gelben sind darin anders. Opium hat auf sie fast gar keine Wirkung; aber Weiße und Schwarze nimmt es ziemlich mit. Natürlich gibt es überall Menschen, die es im Anfang nicht stärker spüren als zum Beispiel den Tabak. Sie dösen nur so’n bißchen vor sich hin, wie wenn man von selbst einschläft, und sind am nächsten Morgen fast arbeitsfähig. Ich war nämlich auch einer von der Sorte, als ich mit dem Zeugs anfing, aber nun bin ich schon fünf Jahre ununterbrochen dabei – und jetzt ist es ganz anders geworden. Hatte so ’ne alte Erbtante, unten in der Agraer Gegend, die mir da bei ihrem Tode ’ne Kleinigkeit hinterließ. So rund sechzig Rupien im Monat – fest. Sechzig ist nicht viel. Kann mich noch auf ’ne Zeit besinnen – es scheint mir ’ne Ewigkeit her – da verdiente ich dreihundert im Monat und noch Nebeneinnahmen – damals, als ich die großen Holzlieferungen in Kalkutta hatte.

Ich blieb nicht lange bei der Arbeit. Der schwarze Rauch gestattet nicht, daß man sich viel mit anderen Dingen beschäftigt, und obgleich er auf mich, verglichen mit den meisten Menschen, nur wenig Wirkung hat, könnte ich doch nicht einen Tag arbeiten, und wenn es um mein Leben ginge! Und schließlich komme ich ja auch mit sechzig Rupien aus. Als der alte Fung-Tsching noch lebte, gab er mir ungefähr die Hälfte der Summe für meinen Unterhalt (ich esse nur sehr wenig) und behielt den Rest für sich. Jederzeit, Tag und Nacht, konnte ich »das Tor« aufsuchen und, wann ich wollte, dort rauchen und schlafen, und das Übrige war mir ja gleichgültig. Ich weiß, der Alte hat ein hübsches Stückchen Geld dabei verdient; aber das war mir ganz gleich; außerdem lief ja immer wieder Geld ein – regelmäßig, jeden Monat.

Wir waren unser zehn, als »das Tor« eröffnet wurde. Ich – und zwei Eingeborenengentlemen von irgendeinem Amt in Anarkulli; aber sie bekamen später den Abschied und konnten nicht mehr bezahlen (niemand, der tagsüber arbeiten muß, kann es bei dem schwarzen Rauch, ohne Unterbrechung, aushalten); ein Chinese, der Fung-Tschings Neffe war; ein Weib aus den Bazaren, die irgendwo ’ne Menge Geld liegen hatte; ein englischer Bummler – Mac Soundso hieß er, den genauen Namen habe ich vergessen – der große Mengen rauchte, aber niemals etwas zu bezahlen schien (es hieß, er habe einmal, bei irgendeinem Prozeß in Kalkutta, wo er als Anwalt tätig war, Fung-Tsching das Leben gerettet); ein anderer Eurasier, wie ich, aus Madras gebürtig; eine Halbeuropäerin und ein paar Männer, die behaupteten, aus dem Norden zu stammen. Ich glaube, es waren Perser oder Afghanen oder so etwas. Heute sind nur noch fünf von uns am Leben, aber wir fünf kommen ganz regelmäßig. Ich weiß nicht, was aus den indischen Beamten geworden ist; das Weib aus den Bazaren starb nach einem halben Jahr des schwarzen Rauches, und Fung-Tsching behielt, glaube ich, ihre Fuß- und Armspangen und den Nasenring für sich. Genau weiß ich es aber nicht. Der Engländer trank außerdem noch und gab die Sache schließlich auf. Einer der Perser wurde vor langer, langer Zeit eines Nachts bei einem Straßenkampf neben dem großen Brunnen in der Nähe der Moschee getötet, und die Polizei schüttete den Brunnen zu, weil er die Luft verpestete. Da fanden sie den Perser auf dem Grunde – tot. Wie Sie sehen, sind also nur noch der Chinese, die Halbeuropäerin, die wir die Memsahib nennen (sie lebte früher mit Fung-Tsching zusammen), der andere Eurasier, der eine Perser und ich selbst übrig geblieben. Die Memsahib sieht jetzt sehr alt aus. Ich glaube, sie war noch eine junge Frau, als »das Tor« eröffnet wurde; aber was das anbetrifft, so sind wir alle alt – Hunderte und Hunderte von Jahren alt. Es ist sehr schwer, die Jahre zu zählen, wenn man im »Tor« lebt, und außerdem ist mir die Zeit ganz gleich. Ich beziehe jeden Monat sechzig Rupien. Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch durch die Holzlieferungen in Kalkutta meine dreihundertundfünfzig Rupien und Nebeneinnahmen verdiente, hatte ich auch so eine Art Frau. Jetzt ist sie aber gestorben. Die Leute sagen: daß ich mich an den schwarzen Rauch gewöhnte, wäre ihr Tod gewesen. Vielleicht stimmt das auch, aber das ist so lange her, daß es schon ganz gleich ist. Die erste Zeit, als ich das »Tor« besuchte, tat mir die Sache manchmal noch leid; aber das ist nun alles längst vorbei; ich beziehe jeden Monat meine sechzig Rupien, ganz regelmäßig, und bin vollkommen glücklich. Nicht gerade berauschend glücklich, aber immer ruhig und friedlich und zufrieden.

Wie ich dazu gekommen bin? Ich probierte es ein paar mal zu Hause, nur um es kennenzulernen. Niemals sehr viel auf einmal, aber ich glaube, das war in der Zeit, als meine Frau starb. Wie dem auch sei, ich fand mich eines Tages in dieser Stadt wieder und machte dann die Bekanntschaft von Fung-Tsching. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam; aber er erzählte mir von »dem Tor«, und ich gewöhnte es mir an, dorthin zu gehen, und seitdem bin ich, ich weiß nicht wie, hängen geblieben. Aber vergessen Sie nicht, zu Fung-Tschings Lebzeiten war »das Tor« ein anständiges Haus, wo man sich sehr wohl fühlen konnte, ganz anders als die Höhlen, in denen die Nigger verkehren. Nein; es war dort sauber und ruhig und nicht überfüllt. Natürlich gab es außer uns zehn und dem Wirt noch andere Kunden; aber wir hatten stets eine eigene Matte mit einem wattierten, wollenen Kopfstück, das ganz mit schwarzen und roten Drachen bedeckt war, genau wie in der Ecke der Sarg.

Nach der dritten Pfeife fingen die Drachen an, sich zu bewegen und miteinander zu kämpfen. Ich habe sie beobachtet, nächtelang, wieder und immer wieder. Ich maß meinen Rauch an ihnen; jetzt braucht es schon ein Dutzend Pfeifen, um sie lebendig zu machen. Außerdem sind sie jetzt alle schmutzig und zerrissen, wie die Matten, seitdem der alte Fung-Tsching nicht mehr lebt. Er starb vor wenigen Jahren und hinterließ mir die Pfeife, die ich jetzt immer rauche – eine silberne, mit allerlei tollem Getier, das sich um den Rauchbehälter unterhalb des Pfännchens windet. Vordem benutzte ich, glaube ich, eine große Bambuspfeife mit einem sehr kleinen, kupfernen Pfännchen und einem Mundstück aus grünem Nephrit. Sie war etwas dicker als ein Bambusspazierstock und schmeckte sehr, sehr süß. Der Bambus schien den ganzen Rauch aufzusaugen. Silber tut das nicht; ich muß die silberne jetzt von Zeit zu Zeit reinigen, das macht natürlich viel Arbeit, aber ich rauche sie trotzdem, um des Alten willen. Er muß ja ganz anständig an mir verdient haben, aber er hat mir stets saubere Matten und Kissen gegeben, sowie das beste Zeugs, was zu haben war.

Als er starb, übernahm sein Neffe, Tsin-ling, »das Tor«; er nannte es den »Tempel des dreifachen Besitzes« aber wir Alten sprechen immer noch von den »Hundert Leiden«. Der Neffe führt die Sache auf sehr schäbige Art, und ich glaube, die Memsahib muß ihm helfen. Sie lebt bei ihm, wie früher bei dem Alten. Die beiden lassen Gott weiß was für Pack herein, selbst Nigger und dergleichen, und der schwarze Rauch ist nicht mehr so gut wie früher. Ich habe wiederholt verbrannte Kleie in meiner Pfeife gefunden. Der Alte wäre gestorben, wenn das zu seiner Zeit passiert wäre. Außerdem wird das Zimmer jetzt nie mehr gereinigt, und sämtliche Matten sind zerfetzt und an den Ecken ausgefranst. Der Sarg ist fort – nach China zurückgebracht worden – mitsamt dem Alten und zwei Unzen Rauchs, die man ihm hineinlegte, falls er unterwegs welchen brauchen sollte.

Unter des Hausgötzens Nase werden auch nicht mehr so viele Späne abgebrannt wie früher; und das ist bestimmt ein böses Zeichen, darauf schwöre ich. Er ist inzwischen ganz braun geworden, und niemand kümmert sich mehr um ihn. Daran ist, wie ich weiß, nur die Memsahib schuld, denn als Tsing-ling einmal Goldpapier vor ihm verbrennen wollte, sagte sie, das sei nur Geldverschwendung, und wenn er ständig vor ihm einen Span langsam verkohlen ließe, würde der Götze den Unterschied nicht merken. Jetzt haben wir Späne, die mit ’ner Menge Leim beschmiert sind; sie brennen zwar ’ne halbe Stunde länger, stinken aber dafür. Und dazu noch der Geruch von dem Zimmer selbst! Bei so einer Führung kann kein Geschäft gedeihen! Dem Götzen gefällt es auch nicht. Das sehe ich ganz genau. Spät in der Nacht nimmt er mitunter alle möglichen Farben an – blau und grün und rot – genau wie in der Zeit, als Fung-Tsching noch lebte; aber jetzt rollt er die Augen und stampft mit den Füßen wie ein richtiger Teufel.

Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich nicht wegbleibe und in Ruhe für mich rauche – in einem Privatzimmer des Bazars. Wahrscheinlich jedoch würde mich Tsin-ling umbringen – er bezieht jetzt meine sechzig Rupien – außerdem würde es schreckliche Umstände machen und ich liebe »das Tor« wirklich sehr. Äußerlich ist es ja ziemlich unansehnlich, beileibe nicht was es zu des Alten Zeiten war, aber ich könnte es doch nicht verlassen. Ich habe so manchen da ein- und ausgehen sehen. Und viele habe ich hier auf den Matten sterben sehen, so daß ich jetzt selber Angst hätte, da draußen zu endigen. Manche Dinge habe ich hier erlebt, die die meisten Menschen recht seltsam anmuten würden, und doch gibt es nichts Seltsames, wenn man den schwarzen Rauch trinkt, außer dem schwarzen Rauch selbst. Und wenn es das gäbe, wäre es ja auch ganz gleich. Fung-Tsching hielt sehr auf gutes Publikum und ließ niemanden herein, der beim Sterben irgendwelche Scherereien machte – tobsüchtig wurde und dergleichen mehr. Aber sein Neffe ist nicht halb so vorsichtig. Er erzählt jedem, der ihm über den Weg läuft, daß er ein »erstklassiges Etablissement« besäße. Macht nicht den leisesten Versuch, die Leute ruhig und unauffällig in sein Haus zu ziehen und es ihnen dann gemütlich zu machen. Deshalb ist »das Tor« jetzt auch ein klein wenig bekannter geworden – bei den Schwarzen natürlich. Der Neffe wagt nicht, einen Weißen oder eine Mischhaut hierherzuziehen. Uns drei muß er natürlich behalten – mich und die Memsahib und den anderen Eurasier. Wir sind Stammgäste. Aber er würde uns keinen Pfeifenkopf Kredit geben – nicht um die Welt!

Eines Tages hoffe ich, hier im »Tor« zu sterben. Der Perser und der Mann aus Madras sind schon arg zitterig geworden. Sie haben jetzt einen Jungen, um ihnen die Pfeifen anzuzünden. Ich tue das immer noch selbst. Wahrscheinlich werden sie noch vor mir zur Tür herausgetragen werden. Ich glaube aber nicht, daß ich die Memsahib oder Tsin-ling überlebe. Frauen halten den schwarzen Rauch länger aus als Männer, und Tsin-ling hat einen guten Teil von des Alten Blut in den Adern, trotzdem er das billige Zeugs raucht. Das Weib aus den Bazaren wußte zwei Tage vorher, daß ihre Zeit gekommen war; sie starb auf einer sauberen Matte mit einem hübschen, wattierten Kissen unter dem Kopf, und der Alte hing ihre Pfeife über dem Hausgötzen auf. Er hing sehr an ihr, so viel ich weiß. Aber das hinderte ihn nicht, ihre Spangen an sich zu nehmen.

Ich möchte sterben, wie das Weib gestorben ist – auf einer sauberen, kühlen Matte mit einer Pfeife voll anständigen Zeugs zwischen den Lippen. Wenn ich fühle, daß ich soweit bin, werde ich Tsin-ling darum bitten; er kann dafür meine sechzig Rupien weiterbeziehen, solange er will, ganz regelmäßig. Dann werde ich mich still und behaglich ausstrecken und die schwarzen und roten Drachen bei ihrem letzten, großen Kampf beobachten; und dann …

Nun, es ist ja ganz gleich. Alles ist mir so ziemlich gleich – wenn nur Tsin-ling nicht Kleie unter den schwarzen Rauch mischte.

Der Wahnsinn des Gemeinen Ortheris

Der Wahnsinn des Gemeinen Ortheris

Meine Freunde Mulvaney und Ortheris hatten sich auf einen eintägigen Jagdausflug begeben. Learoyd lag noch im Lazarett, wo er sich von einem Fieber, das er sich in Birma zugezogen hatte, erholen sollte. Mulvaney und Ortheris sandten auch mir eine Aufforderung und waren aufrichtig gekränkt, als ich außer mir selbst noch Bier – fast genügend Bier, um den Durst zweier Linieninfanteristen zu löschen – mitbrachte.

»Von wegen dem Bier haben wir Sie doch nich ingeladen, Herr,« meinte Mulvaney verstimmt, »sondern nur von wegen der Freude an Ihrer Gesellschaft.«

Ortheris kam mir zu Hilfe. »Na, ’s wird ihm nischt schaden, wenn er ’n bischen was zu saufen bei sich hat. Un‘ wir sin‘ auch nich‘ gerade Fürsten- und Grafensöhne. Wir sin‘ nur ’n paar gemeine Tommys, Du mißvergnügter Irländer, Du; also auf Ihr ganz Spezielles!«

Wir jagten den ganzen Vormittag und erlegten zwei Pariaköter, vier grüne, brütende Papageienweibchen, eine Gabelweihe, eine Schlange, eine Sumpfschildkröte und acht Krähen. Der Wildbestand war wirklich reichhaltig. Dann ließen wir uns am Flußufer zum Frühstück nieder – »bei Zadder und Kommisbrot« – wie Mulvaney sagte, und schossen in den Zwischenpausen, in denen wir nicht beschäftigt waren, das Essen mit unserem einzigen Taschenmesser zu zerlegen, auf gänzlich unweidmännische Art nach Krokodilen. Danach tranken wir das ganze Bier, warfen die Flaschen ins Wasser und benutzten sie als Zielscheibe. Zuletzt lockerten wir unsere Gürtel und streckten uns zum Rauchen in dem warmen Sande aus. Wir waren zu faul, um die Jagd fortzusetzen.

Da stieß Ortheris, der, die Brust auf die Fäuste gestützt, auf dem Bauche lag, plötzlich einen tiefen Seufzer aus. Dann fluchte er leise den blauen Himmel an.

»Was soll ’n das heißen?« forschte Mulvaney. »Haste noch nich genug gesoffen?«

»London, Tottenham Court Road un‘ ’n Mädel, an das ich gerade denken mußte. Was hat das ganze Militär überhaupt für ’n Sinn?«

»Ortheris, mein Sohn,« entgegnete Mulvaney hastig, »ich glaube viel eher, es is‘ nach all dem Bier was in Deinem Bauch nich‘ ganz in Ordnung. Ich kenne das an mir, wenn mir die Leber so ’n bißchen einrostet.«

Langsam, ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Ortheris fort: – »Ich bin ’n Tommy – ein verdammter, hundestehlender Tommy, mit ’nem Achtannasold un‘ ’ner Nummer statt ’nem anständigen Namen. Was bin ich denn schon groß? Wenn ich nun zuhause geblieben wäre, hätt ich das Mädel da heiraten un‘ ’nen kleinen Laden auf der Hammersmither Landstraße aufmachen können. ›S. Ortheris, Konservator und Ausstopfer‹, mit ’nem ausgestopften Fuchs im Schaufenster, wie sie ’s in Haylesbury Dairies haben, un‘ ’nem kleinen Kasten blauer und gelber Glasaugen. Un‘ ich hätte dann ’nen kleines Frauchen, das immerzu ›Kundschaft‹ ruft, wenn die Ladenglocke bimmelt. Aber so bin ich nur ’n Tommy – ’n verdammter, gottverlassener, biersaufender Tommy. ›Gewehr bei Fuß – Gewehr über! Rührt Euch! – Achtung! Rechtsum – linksum – ohne Tritt marsch! Das Ganze – halt! Gewehr bei Fuß – Gewehr über! Ladet das Gewehr!‹ Das is‘ noch mal mein Ende.« Er zitierte Bruchstücke aus dem militärischen Begräbnisreglement.

»Maul gehalten!« brüllte Mulvaney. »Haste erst mal so oft in die Luft gefeuert wie ich, über ’nen bessern Kerl weg als de selber bist, dann wirste Dich über das Reglement da nich‘ mehr lustig machen. Das is ja schlimmer als im Quartier ’nen Trauermarsch pfeifen. Wo Du obendrein den ganzen Bauch voll Bier hast un‘ die Sonne so hübsch kühl is. Ich muß mich für Dich schämen. Du bist ja nich‘ besser als so ’n hergelaufener Schwarzer – Du mit Deinem Begräbniskommando un‘ Deinen Glasaugen. Können Sie ’s ihm nich‘ verbieten, Herr?«

Was sollte ich machen? Konnte ich Ortheris auf bisher unbekannte Freuden seines Daseins hinweisen? Ich war weder der Regimentsgeistliche noch Ortheris spezieller Vorgesetzter; er hatte also ein Recht zu reden, wie ihm ums Herz war.

»Lassen Sie ihn in Ruh, Mulvaney,« sagte ich. »Es ist nur das Bier.«

»Nee – ’s is nich‘ das Bier,« widersprach Mulvaney. »Ich weiß, was jetzt kommt. Von Zeit zu Zeit packt ’s ihn so – ’s is arg – wirklich arg – ich kann den Jungen gut leiden.«

Tatsächlich – Mulvaney schien sich unnötig aufzuregen, aber ich wußte ja, er wachte über Ortheris wie ein Vater.

»Laß mich nur, laß mich mein Herz ausschütten,« fügte Ortheris träumerisch hinzu. »Willste ’nem armen Papageien das Schreien verbieten, Mulvaney, wenn es heiß is un‘ der Käfig ihm seine armen, kleinen rosa Zehen verbrennt?«

»Rosa Zehen! Willste damit sagen, daß Du unter John Bull’s Militärsocken rosa Zehen hast? Du verpimpelte« – Mulvaney raffte alle Kraft für eine ungeheuerliche Beschimpfung zusammen – »versimpelte Schulmamsell, Du! Rosa Zehen! Wieviel echtes Bertoner Bier mit der Marke drauf hat das verrückte Baby eigentlich gesoffen?«

»’S is gar nich‘ das Bertoner,« erwiderte Ortheris. »’S is ein bittereres Bier als das. ‚S iss das Heimweh!«

»Nun hör einer das an! Wo er in den nächsten vier Monaten mit der »Serapis« zurücktransportiert werden soll!«

»Was frag ich ’n schon danach? Mir is doch alles eins! Weißte denn, ob ich nich Bammel habe, abzuschrammen, eh ich meine Papiere bekomme?« Und er hub von neuem an, im Singsang das Begräbnisreglement zu rezitieren.

Diese Seite von Ortheris Charakter war mir vollständig neu, aber Mulvaney schien sie offensichtlich schon zu kennen und ihr ernsthafte Bedeutung beizumessen. Während Ortheris, Kopf in den Händen begraben, weiterlallte, flüsterte Mulvaney mir zu:

»’s packt ihn immer, wenn die Säuglinge, die sie heutzutage zu Unteroffizieren machen, ihn ganz besonders gezwiebelt haben. Weil se nischt Besseres anzufangen wissen. Ich kann ’s nich verstehn.«

»Na, was schadet es denn? Lassen Sie ihn sich doch aussprechen.«

Jetzt stimmte Ortheris die Parodie auf ein bekanntes Soldatenlied an, die nur von Krieg, Totschlag und Moritaten handelte. Er starrte dabei über den Fluß, und sein Gesicht war mir ganz fremd geworden. Mulvaney packte mich am Ellbogen, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen.

»Schaden? Und ob es schadet! ’s is so ’ne Art Anfall. Ich kenn ’s. ’s wird noch die ganze Nacht so weitergehen, un‘ mitten drin wird er aufstehen un‘ im Schrank nach seinen Sachen suchen. Un‘ dann kommt er zu mir un‘ sagt: ›Ich geh jetzt nach Bombay. Antworte morgen beim Appell für mich.‹ Un‘ dann hauen wir beide uns, wie wir ’s schon öfters getan haben – er, um wegzukommen, un‘ ich, um ihn zu halten – un‘ so werden wir beide wegen Unruhe in der Kaserne aufgeschrieben. Ich hab ihn mit dem Riemen verhauen un‘ hab ihm eins über ’n Detz gegeben, un‘ ich hab ihm gut zugeredet – aber alles nützt nischt, wenn er den Anfall hat. Er is ’n guter Junge, wie ’s bald keinen zweiten gibt, wenn er klar is. Aber ich weiß, was heute nacht in der Kaserne alles passieren wird. Der liebe Gott verhüte, daß er mir nich abschrammt, wenn ich aufstehe, um ihm eins über ’n Detz zu geben. Egal muß ich daran denken, Tag und Nacht.«

Das rückte die Sache in ein weit weniger harmloses Licht und bot für Mulvaneys Besorgnis eine völlig ausreichende Erklärung. Im Augenblick schien er Ortheris durch allerlei Überredungskünste seinem Anfall entreißen zu wollen, denn er brüllte nach der Böschung hinüber, auf der Ortheris ausgestreckt lag:

»Paß emal auf, Du mit den ›armen, rosa Zehen‹ un‘ den Glasaugen. Biste nu‘ des nachts hinter mir her über den Irriwaddy geschwommen, wie ’s sich für ’nen braven Kerl schickt, oder haste Dich unter ’s Bett verkrochen, wie damals bei Ahmid Kheyl?«

Das war eine grobe Beleidigung und eine ausgesprochene Lüge, aber Mulvaney wollte seinen Freund jetzt schon zu Handgreiflichkeiten treiben. Allein Ortheris schien in eine Art Trance versunken. Langsam und ohne Zeichen von Arger antwortete er in dem gleichen Singsang, in dem er das Begräbnisreglement zitiert hatte:

»Ich bin des nachts über den Irriwaddy geschwommen, wie Du genau weißt, um ganz nackt un‘ ohne Furcht die Stadt Lungtungpen zu nehmen. Un‘ wo ich bei Ahmid Kheyl gesteckt habe, weißt Du auch ganz genau, und vier verdammte Afghanen wissen ’s obendrein. Aber da gab ’s auch was zu tun; da dachte ich nich‘ an ’s Sterben. Aber jetzt will ich nach Hause zurück – nach Hause, nach Hause. Nee, ich hab nich Heimweh nach meiner Mama, weil mich nämlich mein Onkel erzogen hat, aber ich hab Heimweh nach London – Heimweh nach den Gerüchen un‘ nach all den Ansichten un‘ nach dem Gestank von der ollen Stadt: nach den Apfelsinenschalen un‘ nach dem Asphalt un‘ nach den Gaslaternen, wenn man über die Vauxhall-Brücke geht. Heimweh nach der Eisenbahn un‘ nach ’nem Ausflug nach Box-Hill, mit ’ner neuen Pfeife im Maul un‘ ’nem Mädel auf ‚m Schoß. Danach hab ich Heimweh un‘ nach den Lichtern auf der »Strand«, wo man jeden Menschen kennt, un‘ wo der Schutzmann, der einen aufschreibt, ’n alter Freund is, der einen schon oft ungeschrieben hat, als man noch ’n kleiner Stöppke war un‘ zwischen dem Tempel un‘ dem Triumphbogen übernachten wollte. Wo ’s kein verdammtes Wacheschieben un‘ kein Knöppeputzen un‘ keinen Khaki gibt, wo einen niemand nischt zu sagen hat un‘ man sein Mädel Sonntags ausführen kann, um zuzusehen, wie die Rettungsgesellschaft ihre Übungen macht un‘ aus ‚m Serpentine-Fluß im Park die toten Leichen rauszieht. Das alles hab ich nun aufgegeben, um hier draußen ›der Witwe‹ 1 zu dienen, wo ’s keine Weiber un‘ nischt Anständiges zu trinken un‘ gar nischt zu sehen gibt, nee un‘ auch nischt zu tun un‘ zu reden un‘ zu denken un‘ zu fühlen. Gott im Himmel, Stanley Ortheris, Du bist ’n größerer Esel als das ganze Regiment un‘ Mulvaney zusammengekoppelt! Zuhause da sitzt nun ›die Witwe‹ mit ’ner goldenen Krone auf ’n Kopp, un‘ hier sitze ich, Stanley Ortheris, der Witwe ihr Eigentum, un‘ ’nen verdammter, ausgemachter Esel!«

Diesen letzten Satz sprach er mit gesteigerter Betonung und schloß ihn mit einem sechsfachen anglo-indischen Fluch. Mulvaney antwortete nichts, sah mich aber an, als erwarte er von mir, daß ich Ortheris getrübten Verstand in Ordnung brächte.

Da erinnerte ich mich, in Rawal Pindi einen Mann gesehen zu haben, der, obwohl halb wahnsinnig vom Trunk, durch eine große Blamage ernüchtert wurde. Einige Regimenter werden vielleicht wissen, was ich damit meine. Ich hoffte, Ortheris auf die gleiche Manier zur Vernunft zu bringen, obwohl er durchaus nüchtern war. Ich sagte also:

»Was hat es für einen Sinn, den Kopf hängen zu lassen und auf die ›Witwe‹ zu schimpfen?«

»Das tu ich ja gar nicht!« protestierte Ortheris. »So wahr mir Gott helfe, ich hab kein Wort gegen sie gesagt un‘ werd auch nie ’n Wort sagen – nee, un‘ wenn ich jetzt auf der Stelle desertiere.«

Hier war meine Chance! »Na, es klang aber ganz so! Was nützt überhaupt die ganze Aufschneiderei? Würden Sie wirklich durchgehen, wenn Sie die Möglichkeit hätten?«

»Stellen Sie mich doch auf die Probe!« rief Ortheris, aufspringend wie von der Tarantel gestochen.

Mulvaney sprang gleichfalls auf. »Was haben Sie vor?«

»Ortheris nach Bombay oder Karachi weiterzuhelfen. Sie können ja melden, er hätte sich vor dem Mittagessen von Ihnen getrennt und sein Gewehr hier auf der Böschung zurückgelassen.«

»Das soll ich melden – ich?« wiederholte Mulvaney langsam. »Schön. Wenn der Ortheris jetzt desertieren will un‘ Sie, Herr, der Sie sein un‘ mein Freund sin‘, ihm dabei helfen, so werde ich, Terence Mulvaney, auf meinen Eid hin, den ich noch nie gebrochen habe, melden, was Sie von mir verlangen. Aber – –« hier schritt er auf Ortheris zu und hielt ihm den Kolben seines Jagdgewehrs unter die Nase – »aber, Gott steht Deinen Fäusten bei, Stanley Ortheris, wenn Du mir je wieder über den Weg läufst!«

»Mir is jetzt alles wurscht!« erklärte Ortheris. »Ich hab das Hundeleben satt. Gebt mir nur mal ’ne Schangse! Macht mit mir keine Menkenkens. Laß mich los, sag ich Dir!«

»Ziehen Sie die Kleider aus und nehmen Sie meine dafür,« sagte ich, »dann werde ich Ihnen sagen, was Sie zu tun haben.«

Ich hoffte, diese Lächerlichkeit würde Ortheris aufhalten; aber er hatte seine Kommißstiefel weggeschleudert und seinen Waffenrock ausgezogen, fast ehe ich meinen Kragen abgeknöpft hatte. Mulvaney packte mich am Arm:

»Jetzt hat ’n der Anfall; der Anfall hat ’n immer noch tüchtig! Bei meiner Ehre un‘ Seligkeit, wir werden mitschuldig an ’ner Desertion! Sie haben Recht, Herr, ’s wird nur achtundzwanzig oder auch sechsundfünfzig Tage kosten, aber denken Sie nur an die Schande – an die schwarze Schande für ihn un‘ für mich!« In meinem Leben habe ich Mulvaney nicht so aufgeregt gesehen.

Ortheris dagegen war vollkommen ruhig und sagte nur kurz, sowie der Kleidertausch bewerkstelligt war und ich als Linieninfanterist in die Welt schaute: »So, nun weiter. Was jetzt? Is es Ihr Ernst? Was muß ich nun tun, um aus dieser Hölle hier rauszukommen?«

Ich sagte ihm, wenn er ein paar Stunden hier am Flußufer auf mich warten wollte, würde ich zur Stadt reiten und mit hundert Rupien zurückkehren. Mit dieser Summe in der Tasche könnte er bis zu der nächsten, etwa fünf Meilen entfernten Station der Zweigeisenbahnlinie marschieren und dort ein Billett erster Klasse nach Karachi lösen. Da das Regiment wußte, daß er bei seinem Ausflug kein Geld mitgehabt hatte, würde es nicht sofort an die Hafenstädte telegraphieren, sondern erst einmal in den Eingeborenendörfern am Fluß nach ihm suchen. Außerdem würde es keinem Menschen einfallen, in dem Insassen eines Coupes erster Klasse einen Deserteur zu vermuten. In Karachi sollte er sich dann weiße Anzüge besorgen und sich, wenn möglich, auf einem Frachtdampfer einschiffen.

Hier unterbrach er mich. Wenn ich ihm bis Karachi weiterhülfe, wolle er sich schon alleine durchschlagen. Darauf befahl ich ihm, hier auf mich zu warten, bis es dunkel genug wäre, um unbemerkt in meinem neuen Aufputz zur Stadt zu reiten. Nun hat Gott in seiner Weisheit das Herz des britischen Soldaten, der oft ein ungehobelter Rowdie ist, so weich wie das Herz eines kleinen Kindes erschaffen, auf daß er seinen Vorgesetzten vertraue und ihnen in allen unerfreulichen und bedenklichen Lagen anhänge. Zu einem »Zivilisten« faßt er nicht so rasch Vertrauen, aber tut er es dennoch, so traut er ihm rückhaltslos wie ein treuer Hund. Ich hatte obendrein seit über drei Jahren, mit Unterbrechungen, die Ehre der Freundschaft des Gemeinen Ortheris genossen, und wir hatten als Mann zu Mann aneinander gehandelt. Folglich hielt er alle meine Worte für Wahrheit und nicht für leichtfertig und im Scherz gesprochen.

Mulvaney und ich ließen ihn daher in dem hohen Ufergrase zurück und schritten, uns ebenfalls nach Möglichkeit an das hohe Gras haltend, auf mein Pferd zu. Das Hemd scheuerte dabei ganz scheußlich.

Wir warteten fast zwei Stunden auf die Dämmerung, da mit ich in ihrem Schutz wegreiten konnte. Währenddessen unterhielten wir uns flüsternd über Ortheris und spannten unser beider Gehör an, um jedes Geräusch aus der Richtung des Ortes, wo wir ihn gelassen hatten, aufzufangen. Aber nichts rührte sich, außer dem Winde in dem Federgrase.

»Ich hab ihn auf ’n Detz geschlagen,« bemerkte Mulvaney inbrünstig, »wieder un‘ immer wieder. Ich hab ’n mit meinem Riemen hier fast dot geprügelt, un‘ doch kann ich ihm die Anfälle da nich‘ austreiben. Beileibe nich‘! Dabei is er nich‘ verrückt, sondern von Haus aus ganz gescheit un‘ vernünftig. Was is es nur eigentlich? Is es seine Erziehung, die nischt taugt, oder seine Bildung, die er nie gehabt hat? Sie glauben doch über alles Bescheid zu wissen, also geben Sie mir mal ’ne Antwort.«

Aber ich fand keine. Ich fragte mich die ganze Zeit, wie lange Ortheris da unten an der Uferböschung wohl aushalten würde, und ob er mich wirklich zwingen würde, ihm beim Desertieren zu helfen, wie ich es ihm versprochen hatte.

Gerade als die Dämmerung dichter zu werden begann und ich mit schwerem, schwerem Herzen mein Pferd satteln wollte, hörten wir aus der Richtung des Flusses wildes Geschrei.

Die Teufel hatten die Seele des Gemeinen Stanley Ortheris, Nr. 22639, II. Kompanie, freigegeben. Die Einsamkeit, die Dämmerung und das Warten hatten sie, meinen Erwartungen entsprechend, vertrieben. Wir machten uns im Geschwindschritt auf den Weg nach dem Fluß und fanden Ortheris wild durch das Gras irrend. Seinen – ich meine, meinen Rock hatte er weggeworfen. Er schrie nach uns wie ein Wahnsinniger.

Als wir ihn erreichten, sahen wir, daß er vor Schweiß troff und wie ein erschrecktes Tier an allen Gliedern zitterte. Wir hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Er beklagte sich, daß er in Zivilkleidern stäke und wollte sich meinen Anzug vom Leibe reißen. Ich befahl ihm, sich zu entkleiden, und wir vollzogen so rasch wie möglich diesen zweiten Tausch.

Das Scheuern seines eigenen grauen Militärhemdes und das Quietschen seiner Stiefel brachten ihn anscheinend wieder zu sich. Er fuhr mit der Hand über die Augen und fragte:

»Was war nur mit mir los? Ich bin nich‘ verrückt, ich hab auch keinen Sonnenstich – un‘ ich hab da geschimpft – un‘ hab mich benommen – –«

»Wie Du Dich benommen hast?« wiederholte Mulvaney. »Schande haste Dir selbst gemacht – aber das war ja ganz egal. Nee, Schande haste auch über die zweite Kompanie gebracht – un‘ was das Allerschlimmste is – über mich! Wo ich erst ’n Kerl aus Dir gemacht habe – aus Dir dreckigem, fischgrätigem, winselnden kleinen Rekruten. Zu dem Du heute wieder geworden bist – Stanley Ortheris!«

Eine ganze Weile sprach Ortheris kein Wort. Dann schnallte er seinen Riemen los, der über und über mit Abzeichen der Regimenter bedeckt war, mit denen sein eigenes in Garnison gelegen hatte, und überreichte ihn Mulvaney.

»Ich bin zu schwach, um Dich zu verdreschen, Mulvaney,« sagte er, »aber Du hast mich schon öfters verhauen. Heute kannste mich mit dem Ding da kaputt schlagen, wennde Lust dazu hast.«

»Lassen Sie mich mal ’n Wortchen mit ihm reden, Herr,« sagte Mulvaney.

Ich verabschiedete mich, und auf dem Heimweg dachte ich ziemlich lange nach, im besonderen über Ortheris und im allgemeinen über meinen Freund, den Infanteristen Tommy Atkins, den ich liebe.

Aber ich vermochte zu keinem Schluß zu gelangen.

  1. Bezeichnung für die verstorbene Königin Victoria.

Die Geschichte von Muhammad Din

Die Geschichte von Muhammad Din

»Wer ist glücklich zu preisen unter den Menschen? Er,
der daheim in seinem eigenen Hause kleine Kinder sieht
hüpfen, fallen und lärmen und aus dem Staube Kronen sich
erbauen.«

Munichandra.

Der Poloball war alt, zerschrammt, verbeult und voller Kerben. Er lag auf dem Kaminsims zwischen den Pfeilenstielen, die Imam Din, der Speisenträger, für mich reinigte.

»Braucht der Himmelsgeborene diesen Ball?« fragte Imam Din ehrerbietig.

Der Himmelsgeborene legte keinen besonderen Wert darauf; aber was konnte der Poloball einem Khitmatgar nützen?

»Mit Euer Gnaden Erlaubnis, ich besitze einen kleinen Sohn. Er hat diesen Ball gesehen und wünscht damit zu spielen. Ich begehre ihn nicht für mich.«

Keinem Menschen wäre es auch nur im Traume eingefallen, den wohlbeleibten Imam Din zu beschuldigen, mit Polobällen spielen zu wollen. Er trug das schäbige Ding auf die Veranda hinaus und es folgte ein Orkan entzückter kleiner Schreie, ein Trippeln kleiner Füße und das Poch-Poch-Poch des auf dem Boden rollenden Balles. Augenscheinlich hatte der kleine Sohn vor der Tür gewartet, um sich seinen Schatz zu sichern. Aber wie hatte er es nur fertiggebracht, den Poloball zu entdecken?

Als ich am folgenden Tage eine halbe Stunde früher als gewöhnlich aus dem Bureau heimkehrte, bemerkte ich im Speisezimmer eine kleine Gestalt – eine winzige, rundliche Gestalt in einem lächerlich kurzen Hemdchen, das ihr vielleicht halbwegs über den prallen Bauch reichte. Der Kleine wanderte, Finger im Mund und leise vor sich hinsummend, im Zimmer umher und besah sich die Bilder. Zweifellos war dies der »kleine Sohn«.

Natürlich hatte er in meinem Zimmer nichts zu suchen; er war jedoch so gründlich in seine Entdeckungen vertieft, daß er mich, der ich auf der Schwelle stehengeblieben war, nicht bemerkte. Ich betrat das Zimmer und hätte ihn um ein Haar in einen Krampfanfall versetzt. Atemlos vor Schreck ließ er sich auf den Boden fallen. Er riß die Augen und dann den Mund auf. Ich wußte, was nun kommen würde, und floh, verfolgt von einem langgezogenen, trockenen Geheul, das die Dienstbotenquartiere viel rascher erreichte als irgendein Befehl meinerseits es je getan hatte. Zehn Sekunden später stand Imam Din im Speisezimmer. Dann ertönte verzweifeltes Schluchzen, und ich kehrte zurück und erblickte Imam Din, wie er dem kleinen Sünder eine Strafpredigt hielt, der seinerseits sein Hemd ausgiebig als Taschentuch benutzte.

»Dieser Junge«, meinte Imam Din strafend, »ist ein Taugenichts – ein großer Taugenichts. Ohne Zweifel wird er für sein Benehmen ins Gefängnis – in die Khana – kommen.« Erneutes Gebrüll von seiten des reuigen Sünders, und eine umständliche Entschuldigung an mich von Imam Din.

»Sage dem Kleinen,« erwiderte ich, »daß der Sahib nicht böse ist, und nimm ihn fort.« Imam Din vermittelte dem Verbrecher, der sich inzwischen sein Hemd strickähnlich um den Hals gewunden hatte, meine Verzeihung und das Gebrüll dämpfte sich zum Schluchzen. Die beiden bewegten sich zur Tür. »Sein Name«, erklärte Imam Din, als wäre der Name ein Teil des Verbrechens, »ist Muhammad Din, und er ist ein Taugenichts.« Nun, da die unmittelbare Gefahr von ihm abgewendet war, drehte sich Muhammad Din in seines Vaters Armen um und meinte ernsthaft: »Es ist wahr, daß mein Name Muhammad Din ist, Tahib, aber ich bin kein Taugenichts. Ich bin ein Mann!«

Von jenem Tage datiert meine Bekanntschaft mit Muhammad Din. Niemals wieder betrat er mein Eßzimmer, doch auf dem neutralen Boden des Grundstückes pflegten wir uns mit großer Feierlichkeit zu begrüßen, obwohl unsere Unterhaltung sich von ihm aus auf »Talaam, Tahib« und meinerseits auf »Salaam, Muhammad Din« beschränkte. Täglich tauchten bei meiner Rückkehr aus dem Geschäft aus dem Schatten des mit Schlingpflanzen bedeckten Gitterwerks, wo sie sich verborgen gehalten hatten, das weiße Hemdchen und der dicke kleine Körper auf, und täglich parierte ich mein Pferd, damit unsere Begrüßung auch mit der nötigen Bedachtsamkeit und mit geziemender Würde erfolge.

Niemals hatte Muhammad Din einen Spielgefährten. Er pflegte in seine eigenen geheimnisvollen Angelegenheiten vertieft durch das Grundstück zu trotten, hin und her zwischen den Rizinusbüschen. Eines Tages stieß ich an einer entlegenen Stelle des Gartens auf eine seiner Arbeiten. Er hatte den Poloball halb im Staube vergraben und um ihn im Kreise sechs welke, alte Maßliebchen gesteckt. Außerhalb dieses Kreises wiederum war aus Stückchen roten Ziegels, die mit Porzellanscherben wechselten, ein rohes Viereck gezogen, das Ganze von einem kleinen Staubwall umgrenzt. Der Bhisti oder Wasserträger vom Brunnen legte ein gutes Wort für den kleinen Architekten ein und meinte, es sei ja nur das Spiel eines kleinen Kindes und verschandele meinen Garten doch kaum.

Der Himmel weiß, daß ich weder damals noch später die Absicht hatte, des Kindes Werk zu zerstören; allein noch am gleichen Abend führte mich ein Spaziergang unversehens gradenwegs dorthin, so daß ich, noch ehe ich es recht wußte, Maßliebchen, Staubwall und die Bruchstücke eines ehemaligen Seifennapfes zertreten und in ein hoffnungsloses, unrettbares Chaos verwandelt hatte. Am nächsten Morgen entdeckte ich Muhammad Din, wie er über der Trümmerstätte, die ich geschaffen hatte, leise in sich hineinweinte. Irgend jemand hatte ihm in roher Weise erklärt, der Sahib sei sehr böse auf ihn, daß er ihm seinen Garten ruiniere, und dann unter Flüchen des Kindes kostbaren Plunder in alle vier Wände zerstreut. Muhammad Din arbeitete eine ganze Stunde lang, um auch die kleinste Spur des Staubwalls und der Töpferscherben zu beseitigen und das Gesicht, mit dem er mir bei meiner Rückkehr aus dem Bureau sein »Talaam Tahib« wünschte, war tränennaß und zerknirscht. Eine in aller Eile angestellte Untersuchung endigte damit, daß Imam Din Muhammad Din zu verstehen gab, daß es ihm durch meine ganz außerordentliche Gnade gestattet sei, nach Belieben weiterzuspielen. Worauf das Kind wieder Mut faßte und sich daranmachte, den Grundriß eines Gebäudes aufzuzeichnen, das die Maßliebchen-Poloball-Schöpfung in den Schatten stellen sollte.

Einige Monate lang verfolgte dieses rundliche kleine Original auch weiterhin seine anspruchslose Bahn im Staube und unter den Rizinussträuchern; immer wieder die prunkvollsten Paläste bauend aus verdorrten, weggeworfenen Blumen, aus runden, vom Wasser geglätteten Kieseln, aus kleinen Glasscherben und aus Federn, die er – vermutlich meinen Hühnern ausgerupft hatte – – immer allein, unablässig vor sich her summend.

Einmal wurde eine besonders lustig gefärbte Muschel dicht neben seiner jüngsten Schöpfung fallen gelassen, und ich erwartete, daß Muhammad Din damit ein mehr als gewöhnlich prächtiges Bauwerk aufführen würde. Ich hatte mich auch nicht getäuscht. Fast eine ganze Stunde sann er tief nach und sein Summen schwoll zu einem Triumphlied an. Dann begann er in den Staub zu zeichnen. Diesmal würde es entschieden ein ganz besonders wunderbarer Palast werden, denn der Grundriß maß der Länge nach nicht weniger als zwei Meter und einen Meter in der Breite. Doch der Palast sollte nie vollendet werden.

Am folgenden Tage stand kein Muhammad Din am Eingang zur Auffahrt, und kein »Talaam, Tahib« grüßte mich bei meiner Rückkehr. Ich war an den Willkomm so gewöhnt, daß dieser Wegfall mich beunruhigte. Am nächsten Tage erzählte mir Imam Din, das Kind litte an leichtem Fieber und brauche Chinin. Es erhielt das Chinin und einen englischen Arzt obendrein.

»Die Bälger haben alle keine Widerstandskraft,« meinte der Arzt, als er Imam Dins Wohnung verließ.

Eine Woche später begegnete ich, obwohl ich viel darum gegeben hätte, ihm aus dem Wege gehen zu können, Imam Din auf dem Wege zum mohammedanischen Friedhof, begleitet von einem Freund, und er trug auf seinen Armen, eingehüllt in ein weißes Tuch, alles was übriggeblieben war von dem kleinen Muhammad Din.

Auf Grund einer Ähnlichkeit

Auf Grund einer Ähnlichkeit

»Ist dein Spiegel zerbrochen, so blicke in stilles Wasser,
aber hüte dich, hineinzufallen.«

Indisches Sprichwort.

Nach einer glücklichen Liebe ist so ziemlich das Unbequemste, das ein junger Mann zu Beginn seiner Laufbahn mit sich herumschleppen kann, eine Liebe, die nicht erwidert wird. Er kommt sich dabei wichtig und businesslike vor, wird blase und zynisch und kann jedesmal, wenn er mit der Leber nicht ganz in Ordnung ist oder an Mangel an Bewegung leidet, um seine verlorene Geliebte trauern und sich auf eine zarte, dämmrige Weise sehr glücklich fühlen.

Hannasydes Liebesaffäre war für ihn eine wahre Gottesgabe. Die Sache war nun schon vier Jahre alt und das Mädchen hatte ihn längst vergessen. Sie hatte inzwischen geheiratet und kämpfte mit zahlreichen eigenen Sorgen. Damals hatte sie Hannasyde erklärt: obwohl sie ihn nie anders als mit den Augen einer Schwester betrachten könnte, nähme sie doch ein anhaltendes, lebhaftes Interesse an seinem Wohlergehen. Diese überraschend neuartige und originelle Bemerkung gab Hannasyde für die Dauer zweier Jahre Stoff zum Denken, und seine Eitelkeit füllte die übrigen vierundzwanzig Monate aus. Hannasyde war jedoch ein ganz anderer Kerl als Phil Garron, trotzdem er mit diesem unverdienten Glückspilz Einiges gemein hatte.

Er hegte und pflegte also jene unglückliche Liebe, wie Männer eine gut eingerauchte Pfeife hegen und pflegen um der Behaglichkeit willen, und weil sie ihm durch den Gebrauch teuer geworden war. Sie brachte ihn glücklich über die erste Simlaer Saison hinweg. Hannasyde war keine Beauté. Außerdem hatte er etwas ungeschliffene Manieren und eine gewisse rauhe Art, einer Dame auf ’s Pferd zu helfen, die ihm in den Augen des schönen Geschlechts keinen besonderen Reiz verliehen. Daran wäre selbst dann nichts zu ändern gewesen, wenn er sich um weibliche Gunst bemüht hätte, was er nicht tat. Eine ganze Weile behielt er sein verwundetes Herz für sich.

Dann traf ihn das Unglück. Jeder, der schon in Simla gewesen ist, kennt den Abhang, der sich vom Telegraphenamt nach dem Bureau für öffentliche Arbeiten hinzieht. Hannasyde schlenderte eines Septembermorgens in der Besuchszeit diesen Abhang hinauf, als eine Rickshaw eilig den Berg hinunterrollte, und in der Rickshaw saß das leibhaftige Ebenbild des Mädchens, deretwegen er so glücklich unglücklich war. Hannasyde lehnte sich gegen die Brüstung und rang nach Luft. Er wollte den Berg wieder hinunterlaufen, der Rickshaw nach, aber das war unmöglich; also schritt er weiter, während der größere Teil seines Blutes ihm in den Schläfen hämmerte. »Sie« war, wie er später ausfindig machte, die Frau eines Mannes aus Dindigul oder Coinbatore oder sonst irgendeinem gottverlassenen Nest und war um ihrer Gesundheit willen schon früh im Jahre nach Simla gekommen. Nach Schluß der Saison wollte sie nach Dindigul, oder wie das Nest hieß, zurück und würde aller Wahrscheinlichkeit nach im Leben nicht wieder nach Simla kommen, denn ihr nächster Kurort in den Bergen war Ooctacamund. Noch in der gleichen Nacht ging Hannasyde, aufgewühlt und zuckend unter der Gewalt seiner zu neuem Leben angefachten Gefühle, eine geschlagene Stunde mit sich zu Rate. Er entschied sich für das Folgende; und man selbst mag entscheiden, wieviel bei diesem Beschluß echter Anhänglichkeit für seine alte Liebe und wieviel einer ganz natürlichen Neigung, auszugehen und sich zu amüsieren, entsprang. Mrs. Landys-Haggert würde nach aller menschlichen Voraussicht niemals wieder seinen Weg kreuzen. Es war also ganz gleich, wie er sich benahm. Sie ähnelte in einer ans Wunderbare grenzenden Weise dem Mädchen, das »ein tiefes, anhaltendes Interesse« nahm, und wie die Formel sonst noch lautete. Alles in allem würde es äußerst angenehm sein, Bekanntschaft mit Mrs. Landys-Haggert zu schließen und sich auf kurze, nur sehr kurze Zeit hin einzureden, daß er wieder einmal mit Alice Chisane zusammen wäre. Jeder ist in irgendeinem Punkte mehr oder weniger verrückt. Hannasydes besondere Monomanie war seine alte Liebe zu Alice Chisane.

Er machte es sich daher zur Aufgabe, Mrs. Haggert vorgestellt zu werden – mit Erfolg. Ebenfalls machte er es sich zur Aufgabe, so viel von seiner Zeit wie nur irgendmöglich mit dieser Dame zu verbringen. Einem Manne, der es wirklich ernst meint, bietet Simla eine überraschende Fülle von Möglichkeiten für Tête-à-têtes. Es gibt dort Gartenfeste, Tennispartien und Picknicks, Frühstücke in Annandale, Wettschießen, Diners und Bälle, nicht zu sprechen von Spazierritten und -gängen, die ja private Angelegenheiten sind. Hannasyde hatte sich mit dem festen Vorsatz, Ähnlichkeiten zu entdecken, ans Werk gemacht und endete damit, mehr zu finden als er gehofft hatte. Er wollte sich täuschen, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, getäuscht zu werden, und er täuschte sich überaus gründlich. Nicht nur waren Gesicht und Figur von Mrs. Landys-Haggert Gesicht und Figur von Alice Chisane, nein, auch die Stimme und die tieferen Töne waren genau die gleichen; ebenso die Redewendungen und kleinen Manierismen in Gang oder Gebärde, die jede Frau hat: sie waren identisch, absolut identisch. Die Kopfhaltung war die gleiche; der müde Ausdruck in den Augen nach einem langen Spaziergang war der gleiche; und einmal – Wunder über Wunder – summte Mrs. Haggert, während Hannasyde im Nebenzimmer auf sie wartete, um sie zu einem Spazierritt abzuholen, Ton für Ton ein altes Lied, genau so wie Alice es Hannasyde einmal in der Dämmerung eines englischen Salons vorgesummt hatte, mit genau dem gleichen, vollen Tremolo in der zweiten Zeile. An der Frau selbst – an ihrer Seele war nicht die geringste Ähnlichkeit zu entdecken; Alice und sie waren von verschiedenem Guß. Trotzdem wollte Hannasyde diese aufreizende, verwirrende Ähnlichkeit in Gesicht, Stimme und Wesen erforschen, sehen und hegen. Er war versessen darauf, so und nicht anders einen Narren aus sich zu machen, und er wurde in keiner Hinsicht enttäuscht.

Offene und unverhohlene Verehrung, einerlei von welchem Manne, ist jeder Frau, einerlei wie sie beschaffen ist, angenehm; da Mrs. Landys-Haggert aber eine Frau von Welt war, wußte sie nicht, was sie von Hannasydes Bewunderung halten sollte.

Keine Mühe schien ihm zu groß – im gewöhnlichen Leben war er ein Egoist – um ihre Wünsche zu erfüllen, ja, wenn möglich, ihnen zuvorzukommen. Jeder ihrer Befehle war ihm Gesetz. Kein Zweifel, er genoß ihre Gesellschaft, solange sie mit ihm über Banalitäten schwatzte. Sobald sie jedoch ihre persönlichen Anschauungen und Klagen – gesellschaftliche kleine Reibereien, die in Simla die Würze des Lebens ausmachen – vorbrachte, war er weder angenehm berührt noch interessiert. Es lag ihm nicht das geringste daran, näheres von Mrs. Landys-Haggert oder ihren vergangenen Erlebnissen zu erfahren – sie hatte fast die ganze Welt bereist und verstand, geistreich zu plaudern – er wollte nur das Ebenbild von Alice Chisane vor Augen und Ohren haben. Alles, was ihn darüber hinaus an eine fremde Persönlichkeit gemahnte, irritierte ihn, und er machte aus seinen Gefühlen kein Hehl.

Eines Abends sagte ihm Mrs. Landys-Haggert vor dem Postgebäude ohne jede vorherige Warnung kurz und bündig ihre Meinung. »Mr. Hannasyde,« sagte sie, »wollen Sie mir bitte gütigst erklären, weshalb Sie sich zu meinem speziellen Cavalier servante ernannt haben? Ich verstehe es nicht; aber ich bin aus irgendeinem Grunde fest überzeugt, daß ich selbst Ihnen vollkommen gleichgültig bin.« Übrigens erscheint das als eine Bestätigung der Theorie, daß kein Mann einer Frau etwas vorlügen kann, ohne entdeckt zu werden. Hannasyde wurde überrumpelt. Seine Stellung war zu keiner Zeit eine sehr feste gewesen, weil er in einem fort nur an sich selbst dachte, und ehe er so recht wußte, was er tat, platzte er mit der deplacierten Antwort heraus: »Das sind Sie mir auch wirklich.«

Das Sonderbare an der Situation und diese Antwort zwangen Mrs. Landys-Haggert zum Lachen. Und jetzt kam die ganze Geschichte heraus, und am Schluß von Hannasydes lichtvoller Erklärung bemerkte Mrs. Haggert mit einem kaum hörbaren Anflug von Verachtung in der Stimme: »Also ich soll Ihnen als Puppe dienen, die Sie mit den Lumpen ihrer alten und brüchigen Liebe bekleiden?«

Hannasyde war sich nicht im klaren, welche Antwort jetzt die richtige war, er erging sich daher in undeutlichen und allgemeinen Lobpreisungen von Alice Chisane, und das war auch nicht gerade befriedigend. Nun ist aber ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß Mrs. Haggert auch nicht den Schatten eines wärmeren Gefühls für Hannasyde hegte. Aber … aber keine Frau liebt es, für eine andere, statt um ihrer selbst willen umworben zu werden – besonders wenn die Betreffende eine etwas abgestandene Göttin älteren Jahrgangs ist.

Hannasyde vermochte indes nicht einzusehen, daß er einen ganz besonderen Narren aus sich gemacht hatte. Er freute sich vielmehr, in der Wüstenei von Simla eine mitfühlende Seele getroffen zu haben.

Als die Saison zu Ende war, kehrte Hannasyde nach seinem Wohnort und Mrs. Haggert an den ihrigen zurück. »Es war eigentlich so, wie wenn man einem Gespenst den Hof macht,« sagte sich Hannasyde, »und vollkommen ohne Belang; jetzt werde ich mich an die Arbeit machen.« Allein er ertappte sich dabei, daß er in einem fort an das Haggert-Chisane-Gespenst denken mußte, ohne sich darüber klar werden zu können, ob die Haggert- oder die Chisane-Mischung an diesem reizenden Gespenst überwog.

*

Die Klarheit kam ihm einen Monat später.

Eine besonders charakteristische Eigenschaft dieses Landes ist die Art, in der eine herzlose Regierung ihre Beamten von einem Ende des Reiches nach dem anderen schickt. Niemals kann man überzeugt sein, daß man einen Freund oder Feind endgültig losgeworden ist, bis nicht der oder die Betreffende stirbt. Ich kenne einen Fall – – aber das ist eine andere Geschichte.

Haggerts Abteilung beorderte ihn innerhalb von zwei Tagen von Dindigul nach der Grenze, und er ging – von Dindigul nach seiner neuen Station – und setzte bei jeder Etappe aus seiner eigenen Tasche Geld zu. Seine Frau ließ er unterwegs in Luknow bei Freunden zurück, um an einem großen Ball auf der Chutter Munzil teilzunehmen und ihm nachzureisen, sobald er das neue Haus ein wenig wohnlich gemacht hätte. Luknow war auch Hannasydes Station, und Mrs. Haggert blieb eine Woche dort. Hannasyde ging, um sie vom Bahnhof abzuholen, und als der Zug hereinbrauste, wußte er plötzlich, an welche er den ganzen vergangenen Monat hatte denken müssen. Gleichzeitig ging ihm die Unklugheit seines Verhaltens auf. Die Luknower Woche, in der sie sich auf zwei Bällen trafen und eine unbegrenzte Anzahl Spazierritte machten, war für den Fall entscheidend; Hannasyde merkte plötzlich, daß er in Gedanken ständig folgenden Kreis durchlief: Er bete Alice Chisane an – zum mindesten hatte er sie einmal angebetet. Und er bewundere Mrs. Landys-Haggert, weil sie Alice Chisane gleiche, obwohl sie zehntausendmal reizender sei. Dabei »gehöre« Alice Chisane einem anderen, und Mrs. Landys-Haggert ebenfalls – (obendrein war sie eine gute, anständige Frau). Daher sei er, Hannasyde – – hier gab er sich verschiedene nicht gerade schmeichelhafte Namen und wünschte, er wäre gleich zu Anfang klüger gewesen.

Ob Mrs. Landys-Haggert ahnte, was in seiner Seele vorging, weiß nur sie allein. Er schien, ganz abgesehen von der Chisane-Ähnlichkeit plötzlich ein rückhaltloses Interesse an allem zu nehmen, was sie selbst betraf, und er sagte ein oder zwei Dinge, die Alice Chisane, wenn sie noch mit ihm verlobt gewesen wäre, selbst auf Grund der Ähnlichkeit nicht hätte verzeihen können. Aber Mrs. Haggert tat, als höre sie diese Bemerkungen nicht und setzte Hannasyde ausgiebig auseinander, was für ein Herzenstrost und eine Erquickung sie ihm dank ihrer seltsamen Ähnlichkeit mit seiner alten Liebe gewesen wäre. Und Hannasyde stöhnte beim Reiten in sich hinein und sagte: »Da haben Sie wirklich recht.« Dann beschäftigte er sich mit Vorbereitungen für ihre Abreise nach der Grenze und fühlte sich dabei ganz ungewöhnlich klein und unglücklich.

Es kam der letzte Tag ihres Aufenthaltes in Luknow und Hannasyde brachte sie zum Bahnhof. Sie war sehr dankbar für seine Güte und für all die Mühe, die er sich ihretwegen gemacht hatte und lächelte freundlich und voller Mitgefühl, wie jemand, der sich des Alice-Chisane Grundes dieser Güte vollauf bewußt ist. Und Hannasyde schalt die Kulis, die das Gepäck trugen, und schob die Leute auf dem Bahnsteig beiseite und flehte innerlich zum Himmel, daß das Dach einstürzen und ihn erschlagen möchte.

Als der Zug sich langsam in Bewegung setzte, lehnte sich Mrs. Landys-Haggert zum Fenster hinaus, um Hannasyde Lebewohl zu sagen: – »Übrigens fällt mir da ein, Mr. Hannasyde, ich reise ja im Frühjahr nach England; vielleicht sehen wir uns dann auf der Durchreise. Also sage ich nur auf Wiedersehen.«

Hannasyde schüttelte ihr die Hand und erwiderte sehr ernst und in tiefster Verehrung: – »Ich hoffe zu Gott, daß ich Ihr Gesicht nie wieder sehen werde!«

Und Mrs. Haggert verstand ihn.

Wressley vom Auswärtigen Amt

Wressley vom Auswärtigen Amt

Einer der Flüche unseres Lebens hier draußen ist – im malerischen Sinne gesprochen – der völlige Mangel an Atmosphäre. Es gibt bei uns keine nennenswerten Halbtöne. Die Menschen heben sich alle kraß und roh gegen den Horizont ab; es gibt nichts, das einen versöhnlichen Schimmer über sie würfe, nichts, gegen das man sie messen könnte. Sie verrichten ihre Arbeit und fangen allmählich an zu glauben, daß es außer ihrer Arbeit nichts gibt, ja, daß nichts über die Arbeit geht und daß sie selbst der Mittelpunkt sind, um den sich die ganze Verwaltung dreht. Hier ein Beispiel! Ein eurasischer Schreiber war an einer Kasse angestellt, um Formulare auszufüllen. Er bemerkte zu mir: »Wissen Sie, was passieren würde, wenn ich auf diesem Bogen eine einzige Zeile hinzufügte oder wegließe?« Und im Tone eines Verschwörers fügte er hinzu: »Sämtliche Zahlungen des Schatzamtes im ganzen weiten Umkreis des Gouvernements würden in Unordnung geraten! Stellen Sie sich das einmal vor!«

Hätten die Menschen nicht diese Illusion von der alles überragenden Wichtigkeit ihrer eigenen speziellen Arbeit, ich glaube, sie setzten sich eines schönen Tages hin und machten ihrem Leben ein Ende. Aber ihre Schwäche ist mitunter lästig, besonders wenn der Zuhörer sich darüber klar ist, daß er an genau dem gleichen Fehler leidet.

Selbst das Indische Sekretariat glaubt, daß es Gutes tut, wenn es einen überarbeiteten Beamten von der Exekutive auffordert, in einem Distrikt von fünftausend Quadratmeilen eine statistische Erhebung über den Kornwurm anzustellen.

Es war einmal ein Mann vom Auswärtigen Amt – ein Mann, der in seinem Dienste bereits die mittleren Lebensjahre erreicht hatte, und von dem respektlose junge Unterbeamten behaupteten, er könne Aitchisons »Verträge und Sunnuden« nachts im Schlafe von hinten nach vorne auswendig aufsagen. Was er mit seinem aufgespeicherten Wissen tat, wußte allein der Staatssekretär, und der spürte begreiflicherweise keinerlei Neigung, darüber etwas verlauten zu lassen. Dieses Mannes Name lautete Wressley, und es war seinerzeit zu einer stehenden Redensart geworden, zu behaupten, daß Wressley über die Staaten von Mittelindien besser Bescheid wüßte, als sonst irgendeine lebende Seele auf Erden. Wer das nicht erklärte, galt für einen Mann von beschränktem Verstände.

Heutzutage ist der Mann, der behauptet, das wirre Gewebe zwischenstammlicher Beziehungen jenseits der Grenze zu kennen, ein nützlicheres Individuum, aber zu Wressleys Zeit wurde viel Aufmerksamkeit auf die mittelindischen Staaten verwandt. Sie wurden als »Foci« und »Faktoren« bezeichnet, kurz, erhielten alle möglichen und unmöglichen Namen.

Und hier machte sich der Fluch anglo-indischen Lebens heftig fühlbar. Wenn Wressley seine Stimme erhob und über diese und jene Erbfolge von diesem und jenem Throne sprach, schwieg das ganze Auswärtige Amt, und die Departementchefs wiederholten nur die letzten zwei, drei Worte Wressleys und setzten ihr »Ja, ja« darunter in dem erhabenen Gefühl, daß sie »das Reich in seinen schweren politischen Entscheidungen« unterstützten. So ist es aber in fast allen großen Betrieben: ein oder zwei Leute verrichten die Arbeit, während die anderen daneben sitzen und reden, bis der Ordenssegen sich über sie ergießt.

Wressley war der aktive Teilhaber der Firma »Auswärtiges Amt«, und um ihn bei der Stange zu halten, wenn er Spuren der Ermüdung zeigte, verhätschelten ihn seine Vorgesetzten und rieben es ihm unter die Nase, was er für ein Prachtkerl sei. In Wahrheit hatte er einen Sporn gar nicht nötig, denn er war ein zäher Bursche; was er jedoch an Lob erhielt, bestätigte ihn in der Meinung, daß es auf der Welt niemanden gäbe, so absolut und zwingend unentbehrlich für den Bestand des Indischen Reiches wie Wressley vom Auswärtigen Amt. Er arbeitete damals unter einem Vizekönig, der genau wußte, wann es an der Zeit war, einen widerspenstigen großen Mann zu »streicheln« und einen im Joch schwitzenden müden, kleinen zu ermutigen; folglich arbeiteten seine sämtlichen Gespanne glatt und reibungslos. Wressley gab er die oben geschilderte Meinung von sich selbst, und sogar zähe Burschen werden mitunter von den Lobpreisungen eines Vizekönigs ein wenig aus ihrer Bahn geworfen. Es war einmal ein Mann – – – aber das ist eine andere Geschichte.

Ganz Indien kannte Wressleys Name und Amt – beide standen sogar in Thacker und Spinks Auskunftsbuch verzeichnet – aber was er als Mensch war, was er eigentlich tat und welches seine besonderen Meriten waren – das wußten und darum kümmerten sich noch keine fünfzig Seelen. Seine Arbeit füllte sein Leben aus und er fand keine Zeit, Bekanntschaften zu pflegen, ausgenommen die von toten Rajput-Häuptlingen mit einem »Ahir« Fleck auf ihrem Wappenschild. Wressley hätte einen vorzüglichen Clerk im Heroldsamt abgegeben, hätte er nicht im bengalischen Zivildienst gestanden.

Eines Tages – zwischen zwei Gängen auf’s Amt – traf Wressley ein großes Unglück; es traf und überwältigte ihn, warf ihn wie einen kleinen Schuljungen einfach über den Haufen, so daß er keuchend und nach Luft ringend auf dem Kampfplatz zurückblieb. Ohne jeden Grund und entgegen den Gesetzen der Vorsicht verliebte er sich auf den ersten Blick in ein frivoles, goldhaariges Mädchen, das auf einem langbeinigen, grobknochigen Wallach mit einer blausamtenen Jockeimütze tief in die Stirn geschoben die Simlaer Hauptstraße auf und ab zu jagen pflegte. Sie hieß Venner – Tillie Venner – und war reizend. Sie eroberte Wressleys Herz im kurzen Galopp, und Wressley entdeckte, daß es nicht gut sei, daß der Mensch allein bleibe; selbst wenn er die Hälfte der Akten des Auswärtigen Amts in seinen Schränken liegen hat.

Dann lachte ganz Simla, denn Wressley als Verliebter bot einen lächerlichen Anblick. Er tat sein Möglichstes, um das Mädchen für sich – das heißt für seine Arbeit – zu interessieren – und auch sie gab sich, nach Weiberart, die größte Mühe, Interesse zu zeigen für das, was sie hinter seinem Rücken als »Mr. Wressleys Wajahs« bezeichnete: sie hatte eine sehr hübsche Art zu lispeln. Sie verstand auch nicht das Geringste von alledem, heuchelte aber Verständnis. Männer haben auch schon vor Wressleys Zeit auf jenen bloßen Schein hin geheiratet.

Jedoch die Vorsehung wachte über Wressley. Er war ganz betroffen von Miß Venners Intelligenz. Er wäre noch betroffener gewesen, hätte er gehört, wie sie privatim und im Vertrauen seine Besuche schilderte. Er hatte eine sonderbare Auffassung von der Art, wie man um Mädchen wirbt. Er meinte, ein Mann sollte ihnen das Beste, was er in seinem Leben geleistet hätte, ehrfurchtsvoll zu Füßen legen. Ich glaube, Ruskin schreibt irgendwo dasselbe; im gewöhnlichen Leben jedoch sind ein paar Küsse wirksamer und weniger zeitraubend.

Etwa einen Monat nachdem er sein Herz an Miß Venner verloren hatte – die Folge war, daß er seine Arbeit elend vernachlässigte – kam Wressley der erste Gedanke zu seinem »Eingeborenenregime in Mittelindien« und erfüllte ihn mit Freude. So, wie er den Plan des Buches entwarf, mußte es ein großes Buch werden – sein Lebenswerk – ein wirklich umfassendes Werk über einen ungemein, fesselnden Gegenstand, geschrieben auf Grund all der mühsam erworbenen Spezialkenntnisse Wressleys vom Auswärtigen Amt rein Geschenk für eine Kaiserin.

Miß Venner sagte er, er beabsichtige Urlaub zu nehmen und hoffe, ihr bei seiner Rückkehr ein ihrer würdiges Geschenk mitbringen zu können. Würde sie wohl bereit sein, solange zu warten? Natürlich war sie bereit! Wressley bezog ein Gehalt von eintausendsiebenhundert Rupien im Monat. Dafür wartete sie, wenn nötig, ein Jahr. Ihre Mama half ihr sogar dabei.

Also nahm Wressley Urlaub auf ein Jahr sowie sämtliche verfügbaren Dokumente – es war ungefähr eine Wagenladung voll – und zog, seinen Kopf heiß von großen Gedanken, nach Mittelindien. Er begann sein Werk in dem Lande, von dem er schrieb. Eine allzu ausgedehnte Amtstätigkeit hatte ihn zu einem kalten Arbeiter gemacht; und er hatte wohl geahnt, daß er für seine Palette der lebendigen Macht des Lokalkolorits bedurfte. Ein gefährlicher Farbstoff für die Versuche eines Amateurs!

Der Himmel allein weiß, wie der Mann arbeitete! Er sammelte seine Rajahs, analysierte seine Rajahs und verfolgte sie samt ihren Gattinnen und Konkubinen bis in prähistorische Zeiten und noch weiter zurück. Er datierte und konterdatierte, pedigrierte und pedigrierte noch einmal, eruierte und kritisierte, inferierte, notierte, kombinierte, selektrierte, sortierte und klassifizierte zehn Stunden am Tage. Und weil dieser neue und unverhoffte Glanz der Liebe ihn umspielte, verwandelte er jenes tote Gebein und die unsaubere Geschichte vergangener Missetaten in etwas, über das man nach Wressleys Willen lachen oder weinen mußte. Sein Herz und seine Seele lebten in seiner Feder und flößen in die Tinte über. Für die Dauer von zweihundertunddreißig Tagen und Nächten war er ein Wesen mit Mitgefühl, Einsicht, Humor und Stil, und sein Buch wurde ein Buch. Ihm standen seine ungeheuren Spezialkenntnisse zur Verfügung, aber der Geist, der aus ihm atmete, der menschlich verstehende Funke, die Poesie und die Gewalt der Rede waren über jede Spezialkenntnis erhaben. Ich zweifle indes, ob er der Gabe, die ihm gewährt war, wirklich inne wurde; so ist es immerhin möglich, daß er seines Glücksgefühls zum Teil verlustig ging. Er arbeitete ja für Tillie Venner, nicht für sich selbst. Männer leisten nicht selten ihre beste Arbeit blind,»um eines anderen Menschen willen.

Außerdem kann man – eine Bemerkung, die nichts mit dieser Geschichte zu tun hat – überall in Indien, wo jeder jeden kennt, Männer beobachten, die unter dem Banne einer Frau aus Reih und Glied hinaus auf Einzelposten getrieben werden. Taugt der Betreffende was, so wird er, einmal in Bewegung gesetzt, weitermarschieren; aber der Durchschnittsmensch kehrt, sobald die Frau an seinen Erfolgen als Tribut ihrer Macht das Interesse verloren hat, in Reih und Glied zurück.

Wressley brachte das erste Exemplar seines Buches nach Simla mit und überreichte es errötend und stotternd Miß Venner. Sie las einen kleinen Teil daraus. Ihre Kritik gebe ich verbatim wieder: »Ach ja, Ihr Buch! Es handelt ja nur von jenen scheußlichen Wajahs! Ich habe es nicht verstanden.«

*

Wressley vom Auswärtigen Amt war erledigt, zerbrochen ich übertreibe nicht – durch dieses eine frivole, dumme kleine Mädchen. Er vermochte nur noch zu stammeln: »Aber – aber es ist mein magnum opus! Mein Lebenswerk!« Miß Venner wußte nicht, was er mit magnum opus sagen wollte, aber sie wußte, daß Hauptmann Kerrington bei der letzten Ghymkhana drei Rennen gewonnen hatte. Wressley ersuchte sie, hinfort nicht mehr auf ihn zu warten. So viel Verstand war ihm noch geblieben.

Dann kam die Reaktion auf eine einjährige Überanstrengung, und Wressley kehrte in das Auswärtige Amt und zu seinen »Wajahs« zurück, ein kompilierender, Exzerpte machender, Berichte schreibender Tagelöhner, der schon mit dreihundert Rupien im Monat überbezahlt gewesen wäre. Er ließ es bei Miß Venners Kritik bewenden; das beweist, daß die Inspiration seines Buches, eine rein vorübergehende war und mit ihm selbst nichts zu tun hatte. Trotzdem hatte er kein Recht, fünf Bücherkisten voll des besten Werkes über indische Geschichte, das je geschrieben wurde, die er mit ungeheuren Kosten den ganzen Weg von Bombay hatte kommen lassen, unterwegs in irgendeinem kleinen Gebirgssee zu versenken.

Als er wenige Jahre später kurz vor seinem Rücktritt seinen Haushalt auflöste, sah ich mir seine Bibliothek durch und stieß dabei auf das einzige noch existierende Exemplar seines »Eingeborenenregimes in Mittelindien« – das Exemplar, das Miß Venner nicht hatte verstehen können. Ich las es, auf seinen Koffern sitzend, die ganze Nacht hindurch und bot ihm an, dafür zu zahlen, was er haben wollte. Er durchflog, über meine Schulter gebeugt, ein paar Seiten und sagte dann müde:

»Wie zum Teufel bin ich dazu gekommen, einmal so was Anständiges zu schreiben?«

Und zu mir gewandt fügte er hinzu:

»Nehmen Sie ’s und behalten Sie ’s. Schreiben Sie eine Ihrer Penny-Geschichten über seine Entstehung. Vielleicht – vielleicht – war der ganze Fall überhaupt nur bestimmt, diesem Zwecke zu dienen.«

Und das schien mir, der ich wußte, was Wressley vom Auswärtigen Amt einmal gewesen war, so ziemlich das Bitterste, das ich je einen Mann über sein eigenes Werk habe sagen hören.

Eine mündliche Botschaft

Eine mündliche Botschaft

Diese Geschichte mag von denen erklärt werden, die wissen, aus welchem Stoff die menschliche Seele ist und wo die Grenze des Möglichen liegt. Ich habe lang genug in diesem Lande gelebt, um zu wissen, daß man nichts weiß, und kann daher nur berichten, was sich ereignete.

Dumoise war unser Zivilarzt in Meridki; wir nannten ihn »die Maus«, weil er klein, rundlich und still war. Er war ein guter Arzt und kam mit jedem gut aus, sogar mit dem stellvertretenden Regierungskommissar, der die Manieren eines Schifferknechts und den Takt eines Regimentsgauls besaß. Dumoise heiratete ein Mädchen, so rund und still wie er selbst. Sie war eine Miß Hillardyce, die Tochter von »Squash« Hillardyce, der aus Versehen seines Chefs Tochter zur Frau erhielt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Flitterwochen dauern in Indien nur selten länger als acht Tage, indes steht es jedem jungen Paare frei, sie auf zwei, drei Jahre auszudehnen. Indien ist für Eheleute, die ganz ineinander aufgehen, ein ideales Land. Niemand hindert sie, allein für sich, ohne Verkehr, zu leben – wie »die Mäuse« das taten. Dieses stille, kleine Pärchen zog sich nach der Hochzeit vor der Welt zurück und war sehr glücklich. Zwar sahen sie sich gezwungen, gelegentlich einmal eine Gesellschaft zu geben, aber sie schlössen sich niemandem an, und die Station ging ihre eigenen Wege und vergaß die beiden ganz; nur von Zeit zu Zeit bemerkte jemand so nebenbei: »die Maus« wäre ein vorzüglicher Kerl, aber ein wenig langweilig. Um die Wahrheit zu sagen, ein Zivilarzt, der sich mit jedem verträgt, ist eine Seltenheit und wird als solche entsprechend gewürdigt. Jedoch nur wenige Menschen können es sich leisten, Robinson Crusoe zu spielen – am wenigsten in Indien, wo wir Europäer spärlich sind und ganz besonders von der Hilfsbereitschaft anderer abhängen. Dumoise tat unrecht, sich ein Jahr lang vor der Welt zu verschließen, und er entdeckte seinen Fehler, als mitten in der kalten Jahreszeit auf der Station eine Typhusepidemie ausbrach, an der auch seine Frau erkrankte. Dumoise war ein scheues, zurückhaltendes Kerlchen, und fünf Tage vergingen in Untätigkeit, ehe er erkannte, daß seine Frau an etwas Schlimmerem als einfachem Fieber ausbrannte, und drei weitere Tage verstrichen, bevor er es wagte, Mrs. Shute, die Frau des Ingenieurs, aufzusuchen und ihr schüchtern seine Not zu gestehen. Fast jeder Haushalt in Indien weiß, daß die Ärzte dort dem Typhus gegenüber machtlos sind. Der Kampf muß in solchen Fällen zwischen der Pflegerin und dem Tode ausgefochten werden, Minute für Minute, Grad für Grad. Mrs. Shute hätte Dumoise »wegen seiner verbrecherischen Saumseligkeit« auch fast geohrfeigt und machte sich unverzüglich auf den Weg, das arme Ding zu pflegen. In jenem Winter hatten wir in unserer Station verschiedene Typhusfälle, und da die durchschnittliche Sterbeziffer ungefähr fünf zu eins beträgt, waren wir überzeugt, jemanden unter uns verlieren zu müssen. Aber wir taten alle unser Möglichstes. Die Frauen wachten bei den Frauen, und die Männer machten sich ans Werk und pflegten die Junggesellen, die daniederlagen. Sechsundfünfzig Tage lang rangen wir mit jenen Fällen und brachten sie im Triumph durch das Tal der Schatten. Und gerade, als wir glaubten, nun wäre die Sache endlich vorbei und einen kleinen Ball geben wollten, um den Sieg zu feiern, bekam die kleine Mrs. Dumoise einen Rückfall und starb innerhalb einer Woche, und die Station ging statt dessen zu ihrem Begräbnis. Dumoise brach am Grabe vollständig zusammen und mußte schließlich weggeführt werden.

Nach dem Tode verkroch sich Dumoise in sein Haus und verweigerte jeden Trost. Er ging zwar nach wie vor gewissenhaft seinen Pflichten nach, aber wir alle hatten das Empfinden, daß er unbedingt Urlaub nehmen müsse, und seine Kollegen vom Dienst gaben ihm das auch zu verstehen. Dumoise bedankte sich sehr für ihren freundlichen Vorschlag – er war in jenen Tagen für alles dankbar – und ging auf eine Wandertour nach Chini. Chini liegt einige zwanzig Tagesmärsche von Simla entfernt im Herzen der Berge, und die dortige Szenerie ist sehr wohltuend für Menschen in innerlicher Not. Man wandert durch große, schweigende Deodarwälder am Fuße von großen, schweigenden Felsklippen und über große schweigende Almen, wogend und schwellend wie ein Frauenbusen, und der Regen, der auf die Deodare niederfällt, sagt: »Still, still, still.« So wurde der kleine Dumoise nach Chini expediert, um in Begleitung einer großen Plattenkamera und eines Jagdgewehrs seinen Kummer niederzukämpfen. Außerdem nahm er noch einen völlig überflüssigen Träger mit, weil der Bursche seiner Frau Lieblingsdiener gewesen war. Er war zwar ein Faulpelz und ein Dieb, aber Dumoise traute ihm rückhaltslos.

Auf dem Rückwege von Chini machte Dumoise einen Abstecher nach Bagi durch die Waldschläge am Ausläufer des Mount Huttoo. Einige Menschen, die schon mehr als ein wenig in der Welt herumgekommen sind, behaupten, der Weg von Kotegarh nach Bagi sei einer der schönsten dieser Erde. Er führt durch dunkle, nasse Wälder und gipfelt ganz plötzlich in einem öden, kargen Berghang mit schwarzen Klippen. Der Bagi Dak-Bungalow ist gegen alle Stürme ungeschützt und bitter kalt. Nur wenige Menschen kommen nach Bagi; vielleicht war das der Grund, weshalb Demoise dort hinging. Er machte um sieben Uhr abends Rast, und sein Träger eilte den Berg hinunter ins Dorf, um für den nächsten Tagesmarsch Kulis zu engagieren. Die Sonne war bereits untergegangen und die Nachtwinde begannen zwischen den Felsen zu singen und zu summen. Dumoise lehnte sich gegen das Verandageländer und wartete auf die Rückkehr seines Trägers. Der Mann war kaum verschwunden, da kehrte er auch schon in solcher Hast zurück, daß Dumoise glaubte, ein Bär wäre ihm über den Weg gelaufen. Der Bursche jagte, so rasch er nur konnte, den Berg hinauf.

Aber kein Bär war da, um dieses Entsetzen zu erklären. Der Mann stürzte auf die Veranda und fiel der Länge nach hin, das Gesicht aschgrau, während Blut ihm aus der Nase strömte. Dann stieß er gurgelnd hervor: »Ich habe die Memsahib gesehen! Ich habe die Memsahib gesehen!

»Wo?« fragte Dumoise.

»Dort unten auf dem Weg zum Dorfe. Sie trug ein blaues Kleid und lüftete den Schleier ihres Hutes und sagte: ›Ram Dass, überbringe dem Sahib meine Salaams und melde ihm, daß ich ihn nächsten Monat in Nuddea treffen werde.‹ Dann lief ich, weil ich mich fürchtete.«

Was Dumoise darauf sagte oder tat, weiß ich nicht. Ram Dass erklärt, er hätte nichts geantwortet, sondern sei die ganze kalte Nacht auf der Veranda auf und ab geschritten, wartend, daß die Memsahib den Berg hinauf zu ihm komme, und hätte wie ein Wahnsinniger die Arme in das Dunkel hinausgestreckt. Aber keine Memsahib kam, und am folgenden Tage ging Dumoise weiter nach Simla, stündlich den Träger einem neuen Kreuzverhör unterwerfend.

Ram Dass vermochte nur zu wiederholen, er hätte Mrs. Dumoise getroffen, und sie hätte ihren Schleier gelüftet und ihm die Botschaft aufgetragen, die er getreulich ausgerichtet hätte. An dieser Darstellung hielt Ram Dass fest. Er wußte nicht, wo Nuddea lag und besaß auch keine Freunde in Nuddea und wäre, selbst wenn man seinen Lohn verdoppelt hätte, unter keinen Umständen nach Nuddea gegangen.

Nuddea liegt in Bengalien, und ein im Pandschab angestellter Arzt hat nicht das Geringste mit Nuddea zu schaffen. Die Reise von dort nach Meridki mißt über zwölfhundert Meilen.

Dumoise marschierte ohne weiteren Aufenthalt bis Simla durch und kehrte von dort nach Meridki zurück, um den Kollegen abzulösen, der ihn während seiner Tour vertreten hatte. Es galt noch ein paar Rechnungen auszugleichen und einige Anweisungen des Generalarztes zu notieren, kurz, die Übernahme dauerte einen ganzen Tag. Am Abend erzählte Dumoise seinem Locum tenens – einem alten Freunde aus seiner Junggesellenzeit – was sich in Bagi ereignet hatte, und der Freund erklärte, Ram Dass hätte, wenn er schon einmal mit dergleichen Dingen anfange, doch ebensogut Tuticorin vorschlagen können.

Im gleichen Augenblick erschien der Telegraphenbote mit einem Telegramm aus Simla, in dem Dumoise angewiesen wurde, gar nicht erst die Station in Meridki zu übernehmen, sondern sofort in besonderer Mission nach Nuddea weiterzureisen. In Nuddea war eine häßliche Choleraepidemie ausgebrochen, und die bengalische Regierung hatte sich, wie immer, in Ermangelung der erforderlichen Anzahl Ärzte, eine Kraft aus dem Pandschab geborgt.

Dumoise warf das Telegramm über den Tisch weg dem anderen hin und fragte: »Nun?«

Der andere sagte gar nichts. Was sollte er schließlich auch sagen?

Dann fiel ihm ein, daß Dumoise ja auf dem Wege nach Bagi Simla hatte passieren müssen, und daß ihm dort vielleicht etwas von der bevorstehenden Versetzung zu Ohren gekommen wäre.

Er versuchte, die Frage und den dahinter stehenden Verdacht zu formulieren, aber Dumoise fiel ihm ins Wort: »Hätte ich das gewollt: ich wäre gar nicht erst aus Chini zurückgekehrt. Ich befand mich dort auf einer Jagdexpedition. Ich wünsche im Gegenteil weiterzuleben, da ich noch allerhand zu leisten habe … obwohl mir das andere ebenso lieb ist.«

Der Kollege neigte den Kopf und half Dumoise in der Abenddämmerung die eben erst geöffneten Koffer packen. Da trat Ram Dass mit der Lampe ein.

»Wohin reisen der Sahib?« fragte er.

»Nach Nuddea,« antwortete Dumoise leise.

Ram Dass umklammerte Dumoises Knie und Stiefel und flehte ihn an, nicht zu gehen. Ram Dass weinte und heulte, bis er aus dem Zimmer gewiesen werden mußte. Dann packte er seine Habseligkeiten zusammen und kehrte noch einmal zurück, um seinen Herrn um ein Zeugnis zu bitten. Er wollte nicht mit nach Nuddea, um dort seinen Sahib sterben zu sehen und vielleicht selbst sterben zu müssen.

So zahlte Dumoise ihm seinen Lohn und reiste allein nach Nuddea, nachdem der andere Arzt von ihm wie von einem zum Tode Verurteilten Abschied genommen hatte.

Elf Tage später gesellte sich Dumoise zu seiner Memsahib, und die bengalische Regierung mußte sich einen neuen Arzt borgen, um die Epidemie in Nuddea zu bekämpfen. Der erste lag tot in dem Chooadanga Dak-Bungalow.