Miss Youghals »Sais«

Miss Youghals »Sais«

Hier und da hört man die Behauptung, es gäbe in Indien keine Romantik. Aber hier und da irrt man sich. Unser Leben hat so viel Romantik, wie uns gut tut. Manchmal auch mehr.

Strickland war bei der Polizei. Die Leute verstanden ihn nicht. Darum sagten sie, er sei ein Mann von zweifelhaftem Charakter, und wichen ihm aus. Strickland hatte sich das selbst zu verdanken. Er hatte das sonderbare Prinzip, daß ein Polizeibeamter in Indien die Einheimischen ebensogut kennen müsse wie die Einheimischen sich selbst. Nun gibt es aber zur Zeit in ganz Oberindien nur einen einzigen Menschen, der sich nach Belieben für einen Mohammedaner oder Hindu, für einen einheimischen Schuhflicker oder Fakir ausgeben kann. Und der ist geachtet und gefürchtet bei den Leuten von Ghor Kathri bis zum Jamma Musjid. Von ihm glaubt man, daß er sich unsichtbar machen kann, und .daß er Gewalt hat über alle Teufel. – Aber was hat ihm das schließlich bei der Regierung genützt? Nicht das geringste. Er ist darum nicht Vizekönig geworden, und sein Name blieb England unbekannt.

Strickland war so töricht, sich diesen Mann zum Vorbild zu wählen. Treu seinem Prinzip stöberte er in lauter anrüchigen Gegenden herum, die zu erforschen sich kein anständiger Mensch herabgelassen hätte, – in allen schmutzigen Winkeln, und Ecken. Er bildete sich sieben Jahre lang in dieser eigentümlichen Weise aus, aber die Leute wußten es nicht zu würdigen. Er suchte unablässig Geheimnisse der Einheimischen auszuspionieren, was natürlich jeder vernünftige Mensch für Unsinn hielt. Während seines Urlaubs wurde er einmal in Allahabad in die »Sat Bhai« aufgenommen. Er kannte das Eidechsen-Lied der »Sansis« und den Halli-Hukk-Tanz, einen religiösen Cancan von etwas aufregender Natur. Wer weiß, wann, wie und wo der Halli-Hukk-Tanz getanzt wird, kann stolz darauf sein, denn dann kennt er mehr als die äußere Schale der Verhältnisse. Strickland war nicht stolz, obwohl er einmal in Jagadhri beim Bemalen des Totenstieres – für jedes englische Auge ein Geheimnis – geholfen hatte, obwohl er die Diebessprache der »Changars« beherrschte, obwohl er einmal einen abgefeimten Pferdedieb bei Attok ganz allein gefangen hatte und ein andermal sogar auf der Kanzel einer Grenzmoschee gestanden und den Gottesdienst ganz wie ein »Mullah« abgehalten hatte.

Die Krone seiner Leistungen war sein elftägiger Aufenthalt als Fakir in den Gärten von »Baba Atal« in Amritsar, bei dein er die Spuren der großen Nasiban-Mordaffäre auffand. Aber die Leute sagten ja ganz richtig: »Warum in aller Welt bleibt Strickland nicht ruhig in seinem Bureau sitzen; kann er nicht einfach seine Berichte schreiben, neue Beamte einführen und sich still halten, statt immer nur die Unfähigkeiten seiner Vorgesetzten aufzudecken?« Aus diesem Grunde half ihm selbst die Nasiban-Sache nicht vorwärts. Und darum kehrte er, als sich sein erster Zorn gelegt hatte, wieder zu seiner seltsamen Gewohnheit zurück, das Leben der Einheimischen zu erforschen. Übrigens, wenn jemand erst einmal an solch absonderlichem Vergnügen Geschmack gefunden hat, wird er es sein Leben lang nicht wieder aufgeben. Nichts in der Welt hat stärkere Reize; selbst die Liebe nicht. Wenn andere Leute auf zehn Tage in die Berge gehen, nahm Strickland Urlaub für die »Jagd«, wie er es nannte. Er verkleidete sich, wie es ihm gerade gut schien, mischte sich unter das braune Volk und war für eine Weile verschwunden. Er war ein stiller, brünetter junger Mensch, schlank und schwarzäugig, und, wenn er bei der Sache war, ein sehr interessanter Gesellschafter. Es lohnte sich, Strickland über die Entwicklung des Volkes, wie er sie auffaßte, reden zu hören. Die Einheimischen haßten ihn, aber sie fürchteten ihn auch. Er wußte zu viel.

Als Youghals an den Ort kamen, verliebte sich Strickland ernstlich, – wie er alles tat, – in Miß Youghal. Und sie verliebte sich nach einem Weilchen in ihn, weil er ihr ein Rätsel war. Da sprach Strickland mit ihren Eltern. Aber Mrs. Youghal erklärte, daß sie ihre Tochter nicht in den Verwaltungszweig, der am schlechtesten im ganzen Reiche bezahlt würde, hineinheiraten lasse. Und der alte Youghal erklärte mit genau so vielen Worten, daß er zu Stricklands Tun und Treiben kein Vertrauen habe, und daß er ihm verbunden wäre, wenn er allen mündlichen und schriftlichen Verkehr mit seiner Tochter aufgäbe. »Gut«, sagte Strickland, denn er wollte seiner Liebsten das Leben nicht zur Last machen. Er ließ die Sache nach einer langen Unterredung mit Miß Youghal ganz fallen.

Im April zogen Youghals nach Simla.

Im Juli nahm Strickland drei Monate Urlaub, »dringender Privatangelegenheiten halber.« Er schloß sein Haus zu, wenn auch um alles in der Welt, kein Einheimischer »Estreekin Sahibs« Hab und Gut wissentlich angetastet hätte, und reiste zu einem Freunde, einem alten Färber, nach Tarn Taran. Seitdem war jede Spur von ihm verloren, bis mir eines Tages auf der Promenade in Simla ein »Sais« die folgenden wunderlichen Zeilen übergab:

Verehrter alter Freund,

händigen Sie bitte dem Überbringer eine Kiste Zigarren – am liebsten Super Nr. 1 – aus. Die frischesten erhalten Sie im Klub. Meine Schulden zahle ich, sobald ich wieder da bin. Augenblicklich stehe ich außerhalb der »Welt«.

Ihr
E. Strickland.

 

Ich ließ zwei Kisten kommen und übergab sie mit den besten Grüßen dem Sais. Und der Sais war Strickland selbst gewesen. Er hatte beim alten Youghal Dienst genommen und besorgte Miß Yougals Araber. Der Ärmste sehnte sich nach englischem Tabak und wußte auf jeden Fall, daß ich schweigen würde, bis alles erledigt wäre.

Mit der Zeit fing Mrs. Youghal, die in ihrer Bedienung aufging, an, überall wo sie verkehrte, von ihrem Muster-Sais zusprechen, dem es nie zu viel war, frühmorgens aufzustehen, um Blumen für den Frühstückstisch zu pflücken, der die Pferdehufe wichste, – wirklich wichste, – ganz wie ein Kutscher in London. Miß Youghals Araber sah entzückend aus; er war das reine Wunder. Strickland, – Dulloo meine ich, – entlohnte das reizende Lob, das ihm Miß Youghal beim Ausreiten spendete. Ihre Eltern freuten sich, daß sie ihre törichte Neigung für den jungen Strickland so ganz vergessen hatte, und nannten sie ein gutes, liebes Kind.

Strickland beteuert, daß diese zwei Monate Dienst für ihn die härteste geistige Schulung bedeutet haben, die er je durchgemacht. Daß die Frau eines anderen Sais sich in ihn verliebte und ihn mit Arsenik vergiften wollte, weil er nichts von ihr wissen wollte, ist noch nebensächlich. Aber er mußte sich auch zur Ruhe zwingen, wenn Miß Youghal mit einem anderen ausritt, der mit ihr flirtete, und mußte hinter ihnen herlaufen, ihnen die Decke nachtragen und jedes Wort mit anhören. Auch mußte er guter Laune bleiben, wenn ihn ein Polizist auf der Benmore-Terrasse schalt, besonders einmal, als ihn ein junger »Naik«, den er selber aus dem Dorfe Isser Jang ausgehoben hatte, anschrie, oder wenn ihn gar ein junger Unterbeamter »Sau« nannte, weil er ihm nicht rasch genug aus dem Wege ging.

Aber das Leben bot ihm auch Entschädigungen. Er gewann einen tiefen Einblick in die Schliche und Spitzbübereien der »Sais«; Einblicke, tief genug, wie er sagte, um die halbe »Chamar«-Bevölkerung Ostindiens ins Gefängnis bringen zu können, wenn er im Dienst gewesen wäre. Er wurde Meister im Knöchelspiel, das alle Sänftenträger und Pferdeknechte spielen, wenn sie vor dem Regierungsgebäude oder nachts vorm Gaiety-Theater warten müssen. Er lernte Tabak rauchen, der dreiviertel aus Kuhdünger bestand, und studierte die Weisheiten des Graukopfes, der die Sais vor dem Regierungsgebäude beaufsichtigte. Und dessen Worte waren wertvoll. Er sah manches, was ihm Spaß machte; und er gibt sein Ehrenwort darauf, daß niemand Simla wirklich würdigen kann, der es nicht vom Standpunkt eines Sais aus gesehen hat. Und er meint auch, daß sein Schädel, wenn er alles Geschaute veröffentlichen würde, nicht nur an einer Stelle eingeschlagen werden würde.

Stricklands Schilderung seiner Qualen, wenn er in feuchten Nächten vor der »Benmore-Terrasse« trotz Pferdedecke das Licht sah und die Musik hörte, während der Walzer ihm in den Beinen juckte, ist wirklich nicht langweilig.

Strickland wird demnächst ein Buch über seine kleinen Erlebnisse schreiben. Das Buch wird wert sein, gekauft, oder gar noch mehr: beschlagnahmt zu werden.

So diente er treu wie Jakob um Rahel. Sein Urlaub war fast zu Ende, als die Explosion erfolgte. Er hatte sich wirklich mit bestem Willen bei allen Courschneidereien beherrscht, aber schließlich ging es über seine Kraft. Ein hervorragender, alter General ritt mit Miß Youghal aus und begann jenen so verletzenden Backfischflirt, den Frauen schwer abweisen können, und der den Zuhörer rasend macht. Miß Youghal zitterte vor Furcht, weil ihr Sais das alles hörte. Strickland-Dulloo ertrug es, solange er es aushielt. Aber dann ergriff er die Zügel des Generals und forderte ihn in fließendem Englisch auf, abzusitzen, um sich über die Felswand hinabwerfen zu lassen. Einen Augenblick später weinte Miß Youghal, und Strickland sah ein, daß er sich endgültig verraten habe – daß alles aus sei.

Den General rührte fast der Schlag, als Miß Youghal ihm die Geschichte der Vermummung und der von ihren Eltern mißbilligten Verlobung vorschluchzte. Strickland war wütend über sich selbst, und noch wütender über den General, weil er ihn gezwungen hatte, seine Karten aufzudecken. Er sagte nichts, hielt den Kopf des Pferdes und nahm sich vor, den General zur einzigen Genugtuung wenigstens durchzuprügeln. Als der General die Geschichte gründlich erfaßt hatte und wußte, wer Strickland war, begann er zu prusten und zu schnaufen und fiel fast aus dem Sattel vor Lachen. Strickland verdiene das Viktoriakreuz, sagte er, schon allein darum, weil er es über sich gebracht hätte, wie ein Sais in eine Pferdedecke zu kriechen. Dann schalt er sich selbst, und schwur, daß er Prügel verdiene, wenn er auch zu alt sei, sie von Strickland zu empfangen. Und dann beglückwünschte er Miß Youghal zu ihrem Verlobten. Das Anstößige bei der Sache kam ihm gar nicht in den Sinn, denn er war ein netter alter Herr, der nur eine Schwäche fürs Flirten hatte. Er lachte noch einmal auf und schalt den alten Youghal einen Narren. Da ließ Strickland den Kopf des Pferdes los und schlug dem General vor, ihnen zu helfen, wenn er so dächte. Strickland kannte des alten Youghal Schwäche für Leute in hohen Stellungen, mit Titeln und Orden. »Es ist ja beinahe ein Fastnachtsschwank,« sagte der General. »Aber bei Gott, ich helfe, und wenn auch nur, um meiner verdienten Tracht Prügel zu entgehen. Jetzt gehen Sie nur erst nach Hause, teurer Sais-Polizeibeamter, und machen Sie sich wieder menschlich. Ich werde inzwischen einen Angriff auf Mr. Youghal versuchen. Und Sie, Miß Youghal, darf ich wohl bitten, nach Hause zu reiten und sich zu gedulden.«

Fünf Minuten später gab es im Klub ein wildes Hallo. Ein Sais mit Pferdedecke und Halfter ging umher und bat alle Leute, die er kannte: »Um Himmelswillen, leihen Sie mir anständige Sachen!« Da man ihn nicht gleich erkannte, gab es ein paar eigenartige Szenen, ehe sich Strickland ein heißes Bad mit Soda verschaffte, und ehe er von dem Einen ein Hemd, von Jenem einen Kragen, von einem Dritten ein paar Hosen usw. erhielt. Er galoppierte mit der halben Klubgarderobe an seinem Leibe auf dem Pony eines wildfremden Menschen nach dem Hause des alten Youghal. Der General, »angetan mit Purpur und köstlichem Linnen«, war vor ihm gekommen. Was er gesagt hatte, erfuhr Strickland nie. Aber Youghal empfing Strickland ziemlich höflich. Und Mrs. Youghal, gerührt von der Treue des verwandelten Dulloo, war fast gütig. Der General strahlte und frohlockte. Miß Youghal kam herein, und ehe der alte Youghal wußte, wie ihm geschah, hatte man ihm seinen väterlichen Segen abgerungen und Strickland war mit Miß Youghal zur Post, um nach seinen Sachen zu telegraphieren. Die letzte Verwicklung kam, als ihn ein wildfremder Mensch auf der Promenade ansprach und das gestohlene Pony forderte.

So wurden schließlich Strickland und Miß Youghal getraut, aber unter der strengen Verpflichtung, daß Strickland seine alten Gewohnheiten fallen lassen und sich an seinen Dienst halten sollte, der lohnender sei und schließlich doch nach Simla führe. Strickland liebte seine Frau damals viel zu sehr, um sein Wort nicht zu halten. Aber es war eine schwere Prüfung für ihn, denn die Straßen und Basare und ihr Leben waren für ihn voll geheimer Bedeutung. Sie riefen Strickland, zu ihnen zurückzukehren und seine alten Entdeckungsfahrten wieder aufzunehmen.

Vielleicht erzähle ich noch einmal, wie er sein Versprechen brach, um einem Freunde zu helfen. Aber das ist lange her, und heute ist er fast unbrauchbar für das, was er eine »Jagd« nannte. Er verlernt allmählich die Sprache des Volkes, das Kauderwelsch der Bettler, ihre Zeichen und Winke, und den Lauf geheimer Strömungen, die man nie auslernt, wenn man sie meistern will.

Aber er schreibt ausgezeichnete Regierungsberichte.

Ad acta zu legen

Ad acta zu legen

»Sag, graut schon der Tag, senkt der Abend sich nieder,
Du, die ich begehre, die meiner begehrt?
Oh, laß es Nacht sein in Deinem Gemache,
Oh, laß mich, ja, laß – – –«

Hier stürzte er über ein Kamelfüllen, das in dem Serai schlief, in dem die Pferdehändler und die tüchtigsten Gauner Zentralasiens wohnen; und da er ungewöhnlich betrunken und die Nacht sehr dunkel war, vermochte er erst aufzustehen, als ich ihm half. Das war der Anfang meiner Bekanntschaft mit McIntosh Jellaludin. Wenn ein Strolch im Trunke das »Lied des Begehrens« singt, lohnt es sich, seinen Umgang zu pflegen. Er kletterte von dem Rücken des Kamels und sagte ziemlich schwerfällig: »Ich bin nicht mehr so ganz klar – aber ein kurzes Bad in Loggerhead wird die Sache schon in Ordnung bringen; und sagen Sie mal – haben Sie schon mit Symonds über der Stute Fesseln gesprochen?«

Nun lag Loggerhead sechs Tausend lange, lange Meilen fern, hart an der mesopotamischen Grenze, wo das Fischen verboten und Wilddieberei unmöglich ist, und Charley Symonds Stallungen lagen eine weitere halbe Meile entfernt, jenseits der Koppeln. Es war seltsam, hier in einer warmen Mainacht unter den Pferden und Kamelen der Sultan-Karavanserei die alten Namen wiederzuhören. Aber jetzt schien der Mann sich auf sich selbst zu besinnen und war im gleichen Augenblick verhältnismäßig nüchtern. Er lehnte sich gegen das Kamel und wies auf einen Winkel des Serai, in dem eine Lampe brannte:

»Da drüben wohne ich,« sagte er, »und ich wäre Ihnen außerordentlich zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Güte hätten, meinen etwas meuterisch veranlagten Füßen dorthin zu verhelfen; heute bin ich ganz ungewöhnlich voll – einfach – einfach phänomenal besoffen. Mit Ausnahme meines Kopfes. ›Mein Hirn empört sich gegen‹ – wie heißt es doch? Aber mein Kopf schwimmt über – nein, wälzt sich auf dem Misthaufen und kontrolliert die Dünste.«

Ich lotste ihn durch die Reihen angekoppelter Pferde, und auf den Stufen der Veranda vor den Gängen der Eingeborenenquartiere erlitt er einen Kollaps.

»Danke – tausend Dank! Oh Mond und kleine, kleine Sterne! Daß ein Mann sich so schamlos betrinken kann … Dazu an infamem Fusel. Ovid trank im Exil keinen schlechteren. Besseren. Eisgekühlt. Und ich hatte leider kein Eis. Gute Nacht. Ich würde Sie meiner Frau vorstellen, wäre ich nüchtern, oder das Weib zivilisiert.«

Eine Inderin trat aus dem Dunkel des Zimmers und begann den Mann mit Schimpfworten zu überhäufen; ich entfernte mich daher. Er war der interessanteste Strolch, den kennen zu lernen ich seit langem das Glück gehabt hatte, und wurde später einer meiner Freunde. Er war entsetzlich durch Alkohol mitgenommen, ein großer, gutgewachsener, blonder Mensch, der eher nach fünfzig als nach fünfunddreißig aussah, was, wie er mir sagte, sein richtiges Alter wäre. Wenn ein Mann in Indien zu sinken beginnt und nicht so bald wie möglich von seinen Freunden nach Hause geschickt wird, sinkt er vom Standpunkt der bürgerlichen Moral aus wirklich sehr tief. Und hat er erst, wie McIntosh, seinen Glauben gewechselt, so ist er rettungslos verloren.

In den meisten Großstädten wissen die Einheimischen von zwei, drei »Sahibs« – gewöhnlich der unteren Klassen – zu erzählen, die Hindus oder Mohammedaner geworden sind, aber man erhält nicht häufig Gelegenheit, sie kennen zu lernen. Wie McIntosh selbst bemerkte: »Wenn ich um meines Magens willen meine Religion wechsle, suche ich damit weder ein Märtyrer christlicher Missionare zu werden, noch lege ich besonderen Wert auf stadtbekannte Popularität.«

Am Anfang unserer Bekanntschaft erteilte mir Mclntosh eine Warnung. »Vergessen Sie bitte das eine nicht: ich bin kein Objekt der Nächstenliebe. Ich brauche weder Ihr Geld, noch Ihr Essen, noch Ihre abgetragenen Kleider. Ich bin jenes seltene Tier: ein sich selbst ernährender Säufer. Wenn Sie es wünschen, werde ich mit Ihnen rauchen, da der Tabak der Bazare, das will ich gerne zugeben, meinem Gaumen nicht zusagt, und ich werde mir alle Bücher borgen, auf die Sie keinen besonderen Wert legen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich sie gegen Flaschen niederträchtigen, einheimischen Fusels eintauschen werde. Als Revanche sollen Sie die geringe Gastfreundschaft genießen, die mein Haus zu bieten vermag. Hier ist ein Feldbett, auf dem zwei Personen sitzen können, und es ist immerhin möglich, daß sich von Zeit zu Zeit in jener Schüssel etwas Eßbares findet. Alkohol dagegen ist, leider, jederzeit vorhanden: so heiße ich Sie in meinem bescheidenen Heim willkommen.«

Ich wurde in die Familie McIntosh aufgenommen – ich und mein guter Tabak – sonst nichts. Unglücklicherweise kann man aber einen Strolch im Serai nicht hei Tage besuchen. Pferdekaufende Bekannte würden nur geringes Verständnis dafür haben. Folglich war ich gezwungen, meine Visiten auf die Zeit nach Dunkelwerden zu beschränken. McIntosh lachte darüber und sagte: »Sie haben vollkommen recht. Als ich noch eine Stellung in der Gesellschaft einnahm – ein wenig höher als die Ihrige – hätte ich genau so gehandelt. Großer Gott! Ich war einmal« – er sprach, als hätte er das Kommando eines Regiments verloren – »Oxforder Student!« (Hier war die Erklärung für jene Bemerkung über Charley Symonds Gestüt.)

»Sie,« fuhr McIntosh langsam fort, »haben nicht diesen Vorteil genossen; aber Sie besitzen, Ihrem Aussehen nach zu schließen, auch nicht meine Neigung für starke Getränke. Alles in Allem, schätze ich, hatten Sie von uns beiden das größere Glück. Obwohl ich davon noch nicht überzeugt bin. Sie sind – verzeihen Sie diese Bemerkung in einem Augenblick, da ich Ihren vorzüglichen Tabak rauche – Sie sind zum Beispiel in gewissen Dingen ein krasser Ignorant.«

Wir saßen zusammen auf dem Rand seines Bettes – Stühle besaß er nicht – und beobachteten die Pferde, die zur nächtlichen Tränke geführt wurden, während das Eingeborenenweib das Essen kochte. Im Allgemeinen liebe ich es nicht, von Vagabunden gönnerhafte Lehren zu empfangen, aber ich war im Augenblick sein Gast, wenn er auch nur Eigentümer eines arg zerrissenen Alpaka-Rockes sowie eines Paares grober, sackleinerner Hosen war. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fügte kritisch hinzu: »Alles in Allem bezweifle ich doch, ob Sie der Glücklichere sind. Ich gedenke dabei nicht Ihrer außerordentlich beschränkten humanistischen Bildung sowie Ihrer himmelschreiend mangelhaften mathematischen Kenntnisse, sondern Ihrer peinlichen Ignoranz in bezug auf Dinge, die sich unmittelbar unter Ihren Augen vollziehen. Dinge wie das da zum Beispiel.«

Er deutete auf eine Frau, die an einem Brunnen in der Mitte des Serais einen Samowar reinigte. Sie schnellte das Wasser in regelmäßig abgemessenen, rhythmischen Bewegungen aus dem Wasserhahn.

»Es gibt verschiedene Arten, einen Samowar zu reinigen. Wüßten Sie nun, weshalb sie ihre Arbeit auf diese besondere Art verrichtet, dann verstünden Sie auch den Sinn der Worte des spanischen Mönchs:

›Ich, ein Bild der Drei-in-Eins,
Trinke Saft der Goldorangen,
Nippe drei Mal und durchkreuze
Arianer, die in einem
Zug das Naß hinunterspülen‹

sowie zahlreiche andere Dinge, die Ihnen bis heute verschlossen sind. Aber ich sehe, Frau McIntosh hat das Essen fertig zubereitet. Kommen Sie und lassen Sie uns speisen nach der Sitte der Leute dieses Landes – von denen Sie, nebenbei bemerkt, nichts wissen.«

Die Inderin tauchte gleichzeitig mit uns ihre Hand in den Napf. Das war ungehörig. Eine Frau hat stets zu warten, bis der Gatte gegessen hat. McIntosh Jellaludin entschuldigte sich und meinte:

»Das ist noch so ein europäisches Vorurteil, das ich nicht habe überwinden können; außerdem liebt sie mich. Weshalb, habe ich nie begriffen. Drei Jahre sind es her, daß ich in Jullundu mit ihr zusammenzog, und sie ist seitdem bei mir geblieben. Ich halte sie sogar für anständig und weiß, daß sie eine geschickte Köchin ist.«

Mit diesen Worten strich er ihr über den Scheitel, und sie stieß ein leises, befriedigtes Gurren aus. Sie war keineswegs hübsch anzusehen.

McIntosh hat mir nie verraten, welche Stellung er vor seinem Sturz einnahm. Er war, wenn nüchtern, ein Mann von umfangreichem Wissen und ein Gentleman. Im Rausch traf das Erstere mehr auf ihn zu. Er war gewohnt, sich etwa ein Mal die Woche für zwei volle Tage zu betrinken. Bei diesen Gelegenheiten pflegte ihn die Inderin, während er in allen Zungen der Welt mit Ausnahme seiner Muttersprache delirierte. Ja, eines Tages begann er »Atlanta in Calydon« aufzusagen und rezitierte es von Anfang bis zu Ende, indem er mit einem Pfosten aus seiner Bettstatt den Takt dazu schlug. Meist jedoch tobte er auf Griechisch oder Deutsch. Dieses Mannes Gedächtnis war ein förmlicher Lumpensack nutzlosen Wissens. Ein anderes Mal, als ihm langsam das Bewußtsein zurück kam, erklärte er mir, er sei das einzige, vernunftbegabte Wesen in dem Inferno, in das er hinabsteige – ein Virgil unter den Schatten – und daß er mir zum Dank für meinen Tabak, ehe er stürbe, Stoff zu einem neuen Inferno geben wollte, das mich zu einem größeren Dichter als Dante machen würde. Dann schlief er auf einer Pferdedecke ein und erwachte vollkommen klar.

»Mensch,« sagte er, »wenn man erst die tiefsten Grade der Erniedrigung erreicht hat, verlieren nebensächliche Ereignisse, die Euch auf einer höheren Lebensstufe noch ärgern, restlos an Bedeutung. Gestern Nacht war meine Seele bei den Göttern, aber ich zweifle keinen Augenblick, daß mein bestialischer Körper sich hier unten im Unflat wälzte.«

»Sie waren viehisch betrunken, wenn Sie das meinen,« entgegnete ich.

»Ich war in der Tat betrunken – schweinisch betrunken. Ich, der ich der Sohn eines Mannes bin – der Sie nichts angeht – der Sohn einer Alma Mater, deren Butterkammer Sie noch nicht einmal gesehen haben. Ich war schweinisch betrunken. Aber bedenken Sie nur, wie wenig ich darunter leide. Im Grunde genommen macht es mir gar nichts, ja weniger als nichts aus. Wie furchtbar wäre dagegen die Strafe, die ich in einem höheren Leben erdulden müßte, wie bitter die Reue! Glauben Sie mir, mein Freund mit der vernachlässigten Erziehung, das Höchste ist nicht anders als das Tiefste – immer vorausgesetzt, daß man den letzten Grad annimmt.«

Er drehte sich auf seinem Deckenlager um, griff sich mit beiden Fäusten an die Schläfen und fuhr fort:

»Bei der Seele, die ich verloren, und dem Gewissen, das ich ertötet habe: ich sage Ihnen, daß ich nichts mehr empfinden kann! Ich gleiche darin den Göttern: ich erkenne zwar das Gute wie das Böse, bleibe aber von Beidem unberührt. Ist das nun beneidenswert oder nicht?«

Wenn ein Mensch in diesem Maße die Warnung eines morgendlichen Katzenjammers eingebüßt hat, so muß es in Wahrheit schlecht um ihn stehen. Ich antwortete daher, das Bild McIntoshs auf der Pferdedecke mit dem wirr in das Gesicht hängenden Haar und den weißblauen Lippen vor Augen, daß ich diese Gefühllosigkeit nicht für gut hielte.

»Um Himmels willen, sagen Sie das nicht! Ich erkläre Ihnen, sie ist gut und im höchsten Grade beneidenswert. Denken Sie nur an meine Kompensationen!«

»Haben Sie deren wirklich so viele, McIntosh?«

»Selbstverständlich; Ihre Versuche, sarkastisch zu sein, typische Waffen eines kultivierten Menschen, sind allzu plump. Erstens einmal habe ich mein Wissen: meine humanistische Bildung – ein wenig getrübt vielleicht durch unmäßiges Trinken – (wobei mir einfällt, ich habe gestern Nacht, ehe meine Seele bei den Göttern weilte, Ihren mir so liebenswürdig geliehenen Pickeringschen Horaz verkauft. Ditta Mull, der Kleinhändler, hat ihn. Er gab mir acht Annas dafür, das Buch kann aber für eine Rupie wieder eingelöst werden) aber, immerhin – der Ihrigen ist sie weit überlegen. Zweitens: die unverbrüchliche Zuneigung von Frau McIntosh, beste aller Frauen. Drittens: ein Monument, unverwüstlicher als Erz, das ich in den sieben Jahren meiner Degradation errichtet habe.«

Hier hielt er inne und kroch durch das Zimmer, nach einem Trunk Wasser. Er war schon recht zittrig und schwerkrank.

Verschiedene Male kam er wieder auf diesen ›Schatz‹ – auf irgendeine in seinem Besitze befindliche Kostbarkeit zu sprechen – ich hielt die Sache jedoch für ein Wahngebilde seiner Trinkerphantasie. Er war so arm und so stolz wie nur möglich. Sein Benehmen war keineswegs liebenswürdig, aber er kannte die Eingeborenen, unter denen er sieben Jahre seines Lebens verbracht hatte, so gründlich, daß der Verkehr mit ihm sich wirklich lohnte. Er pflegte sogar über Strickland zu lachen, den er als einen Ignoranten bezeichnete – »in westlichen wie östlichen Dingen ein Ignorant«. Er rühmte sich erstens: seiner Eigenschaft als Oxfordmann von erlesensten Talenten – eine Angabe, die ebensogut auf Wahrheit wie auf Unwahrheit beruhen konnte – ich vermochte sie keiner Hinsicht zu kontrollieren; zweitens: der Tatsache, »daß seine Hand auf dem Puls des Eingeborenenlebens ruhe«.

Letzteres war wirklich wahr. Als Oxforder Akademiker kam er mir ein wenig snobistisch vor: er protzte ständig mit seiner Bildung. Als mohammedanischer Fakir – als McIntosh Jellaludin dagegen – konnte ich mir keinen wertvolleren Menschen denken. Er rauchte mehrere Pfund meines Tabaks und lehrte mich etliche Unzen kostbaren Wissens; niemals jedoch wollte er das geringste Geschenk annehmen, auch nicht, als das kalte Wetter kam und ihm unter den elenden, dünnen Alpaka-Rock mit Eisesfingern an die Brust griff. Er wurde sogar sehr böse und erklärte, ich hätte ihn beleidigt, und er dächte gar nicht daran, ins Krankenhaus zu gehen. Er hätte zwar wie ein Vieh gelebt, aber sterben wollte er als Mensch.

Tatsächlich starb er auch an Lungenentzündung. In seiner Todesnacht schickte er mir ein schmutziges, kleines Billett mit der Bitte, herüberzukommen und ihm beim Sterben zu helfen.

Die Inderin saß weinend neben seinem Bette. McIntosh, in ein dünnes Baumwolltuch gehüllt, war zu schwach, um wütend zu werden, als ich ihn mit einem Pelzmantel zudeckte. Geistig war er jedoch vollkommen rege, und seine Augen flammten. Nachdem er den Arzt in meiner Begleitung derart beschimpft hatte, daß der alte Herr empört wieder abzog, fluchte er eine Weile auf mich und beruhigte sich dann schließlich.

Darauf befahl er seiner Frau, aus einem Loch in der Wand »das Buch« zu holen. Sie schleppte ein großes, in einem alten Unterrock eingewickeltes Bündel alter, kunterbunter Papiere herbei, die eng mit kleiner, zierlicher Schrift bedeckt waren. McIntosh fuhr mit der Hand liebevoll durch den alten Plunder.

»Das hier,« sagte er, »ist mein Werk – das Buch McIntosh Jellaludins, in dem zu lesen ist, was er sah und was ihm und vielen anderen zustieß; gleichzeitig ist es eine Darstellung des Lebens, der Sünden und des Todes von Mutter Maturin. Was Mirza Murad Ali Begs Buch bedeutet, verglichen mit allen anderen Büchern über das Leben der Eingeborenen, das bedeutet mein Werk, verglichen mit dem von Mirza Murad Ali Beg!«

Das ist, wie jeder Kenner von Mirza Murad Ali Begs Buch zugeben wird, eine kühne Behauptung. Die Papiere sahen nicht gerade kostbar aus, aber McIntosh überreichte sie mir, als wären sie lauter Banknoten. Dann fügte er langsam hinzu:

»Trotz der zahlreichen Mängel Ihrer Erziehung haben Sie anständig an mir gehandelt. Ich werde Ihren Tabak erwähnen, wenn ich zu den Göttern eingehe. Ich bin Ihnen wegen vieler Freundlichkeiten zu großem Danke verpflichtet. Ich hasse jedoch Verpflichtungen. Aus diesem Grunde vermache ich Ihnen ein Monument dauernder als Erz – mein eigenes Buch – roh und unvollkommen in manchen Teilen, doch ach – selten und einzigartig in anderen. Ich bin gespannt, ob Sie es verstehen werden. Es ist eine Ehrengabe, größer als – – Pah, ich phantasiere wieder! Sie werden es natürlich entsetzlich verstümmeln. Sie als Philister werden die Edelsteine, die Sie ›Lateinische Zitate‹ nennen, ausmerzen und den Stil zerstückeln, bis er in Ihren eigenen, ungehobelten Jargon hineinpaßt; aber Sie werden das Ganze doch nicht umbringen können. Ich vermache es Ihnen. Ethel … da, wieder geht mir mein Gehirn durch! Frau McIntosh, Du bist Zeugin, daß ich diesem Sahib hier alle meine Papiere übergebe. Sie würden dir nichts nützen, Herz meines Herzens; und Ihnen mache ich es zur Pflicht« – hier wandte er sich wieder an mich – »mein Buch in seiner jetzigen Gestalt nicht untergehen zu lassen. Sonst ist es bedingungslos Ihr Eigentum – die Geschichte McIntosh Jellaludins, die gar nicht die Geschichte McIntosh Jellaludins, sondern eines weit größeren Mannes und einer weit, weit größeren Frau ist! Hören Sie mich an! Ich bin weder wahnsinnig noch betrunken! Jenes Buch wird Sie berühmt machen.«

Ich sagte »Danke«, als die Inderin mir das Bündel in die Arme legte.

»Mein einziges Kind,« meinte McIntosh mit einem Lächeln. Es ging jetzt rasch bergab, aber er fuhr fort zu reden, solange er noch Atem hatte. Ich wartete auf das Ende; ich wußte, in neun Fällen von zehn verlangt ein Sterbender nach seiner Mutter. McIntosh drehte sich auf die Seite und sagte:

»Erzählen Sie, wie es in Ihren Besitz gelangte. Zwar wird Ihnen niemand glauben, aber mein Name wird wenigstens weiterleben. Ich weiß, Sie werden es brutal behandeln. Ein Teil muß ja auch kassiert werden: die Menschen sind eine Herde Narren, prüder Narren obendrein. Ich stand einst in ihren Diensten. Aber gehen Sie bei ihren Verstümmelungen behutsam vor, recht behutsam. Es ist ein großes Werk und ich habe mit sieben Jahren der Verdammnis dafür bezahlt.«

Zehn, zwölf Atemzüge lang schwieg er, dann begann er auf Griechisch eine Art Gebet zu murmeln. Die Inderin weinte bitterlich. Endlich richtete er sich auf seinem Lager auf und sagte laut und langsam: »Nicht schuldig, mein Herr und Gott!«

Dann sank er zurück, und Bewußtlosigkeit hielt ihn umfangen bis zu seinem Tode. Das Eingeborenenweib lief hinaus in das Serai zu den Pferden, heulte und schlug sich auf die Brüste; sie hatte ihn geliebt.

Vielleicht liegt in dem letzten Ausspruch McIntoshs der Schlüssel dessen, was er im Leben durchmachte; wie dem auch sei, mit Ausnahme des dicken Bündels Papiere fand sich nichts in seiner Wohnung, um zu verraten, wer und was er gewesen war.

Die Papiere befanden sich in hoffnungsloser Unordnung.

Strickland half mir, sie sortieren und meinte, der Verfasser sei entweder ein phänomenaler Lügner oder eine einzigartige Persönlichkeit. Er glaubte mehr an das Erstere. Eines Tages wird sich jeder vielleicht ein Urteil darüber bilden können. Die Papiere bedurften einer gründlichen Expurgation. Sie wimmelten, besonders an den Kapiteleingängen, von allem möglichen griechischen Unsinn, der inzwischen aber gestrichen wurde.

Sollte das Zeugs jemals veröffentlicht werden, so wird irgendein Leser sich vielleicht dieser Geschichte erinnern, die als Schutzmaßnahme geschrieben wurde, um zu beweisen, daß McIntosh Jellaludin und nicht ich das Buch von Mutter Maturin verfaßt hat.

Ich möchte nicht, daß sich das Märchen von des Riesen Kleid in meinem Falle bewahrheitet.

Im Joch

Im Joch

Auf dem Gravesender Hafenboot, das von dem nach Bombay bestimmten Dampfer der P&O.-Linie zurückkehrte, um den Anschluß an den Londoner Zug nicht zu versäumen, waren viele, die weinten. Aber niemand weinte so heftig und unverhohlen wie Miß Agnes Laiter. Sie hatte Grund zu weinen, denn der Mann, den sie einzig liebte und, – wie sie sagte, – stets einzig lieben würde, ging nach Indien. Und Indien, das weiß jeder, gehört zu gleichen Teilen dem Dschungel, Tigern, giftigen Schlangen, der Cholera und den indischen Soldaten.

Phil Garron lehnte sich im Regen über Bord und fühlte sich auch sehr unglücklich. Aber er weinte nicht. Man schickte ihn auf eine Teeplantage. Was das bedeutete, war ihm nicht im geringsten klar, er glaubte nur, daß er auf stolzem Roß über Plantagenhöhen reiten würde, um dafür ein fürstliches Gehalt zu beziehen. Deshalb war er seinem Onkel, der ihm diese Stellung verschafft hatte, sehr dankbar. Er wollte jetzt im Ernst sein träges, nutz- und zielloses Leben ändern, jährlich einen großen Teil seines großartigen Gehaltes zurücklegen, in sehr kurzer Zeit wieder heimkehren und Agnes Laiter heiraten. Phil Garron hatte drei Jahre lang seinen Freunden auf der Tasche gelegen, und da er nichts zu tun gehabt hatte, sich natürlich verliebt. Er war ein netter Mensch, aber nicht gerade stark in seinen Ansichten, Meinungen und Grundsätzen. Und wenn er auch nie zu Fall gekommen war, freuten sich seine Freunde doch, als er Abschied nahm, um sich in die geheimnisvolle Teegegend bei Darjiling zu begeben. Sie sagten: »Gott befohlen, lieber Junge. Laß dich hier so bald nicht wieder sehen.« Oder sie gaben es ihm wenigstens zu verstehen.

Bei der Ausfahrt war er erfüllt von dem großen Vorsatz, zu beweisen, daß er hundertmal besser sei, als man von ihm geglaubt hatte. Er wollte wie ein Pferd arbeiten und Agnes Laiter im Triumph heimführen. Es war viel Gutes an ihm, auch abgesehen von seinem guten Äußern. Sein einziger Fehler war eine Schwäche, eine ganz, ganz kleine, wirklich ganz kleine Schwäche. Er sparte so wenig, wie eine Morgenzeitung an Papier spart. Und doch konnte man nirgends auf etwas hinweisen, von dem man hätte sagen können: »Hier ist Phil Garron verschwenderisch oder leichtsinnig gewesen.« Und ebenso vermochte man in seinem Charakter keine bestimmten Untugenden zu entdecken. Aber er war »unerfreulich« und so schmiegsam wie Ton.

Agnes Laiter ging zu Hause ihren Pflichten nach, mit roten Augen, – denn ihre Familie war gegen die Verlobung, – während Phil nach Darjiling fuhr. Seine Mutter sagte zu ihren Freunden: »nach einem Hafen am bengalischen Meerbusen«. Phil war an Bord recht beliebt, hatte viele Bekanntschaften und eine ganz anständige Weinrechnung und schrieb von jedem Hafen aus unendlich lange Briefe an Agnes Laiter. Er begann seine Tätigkeit auf der Plantage, irgendwo zwischen Darjiling und Kangra, und obwohl Gehalt, Pferd und Arbeit nicht ganz seinen Vorstellungen entsprachen, kam er ganz gut vorwärts und bildete sich auf seine Ausdauer unnötig viel ein.

Als er sich mit der Zeit an das Joch der Arbeit und ihre starre Regelmäßigkeit gewöhnt hatte, verlor sich das Bild Agnes Laiters aus seinem Gedächtnis. Nur in Mußestunden, die nicht häufig waren, kam es ihm zurück. Er könnte sie vierzehn Tage lang ganz vergessen, bis er sich wie ein Schuljunge, der seine Aufgaben nicht gemacht hat, mit einem Ruck ihrer erinnerte. Sie vergaß Phil nicht, denn sie gehörte zu denen, die nie vergessen. Es erschien nur ein anderer, – ein wirklich begehrenswerter junger Mann, – im Haus von Mrs. Laiter. Die Möglichkeit einer Heirat mit Phil lag in unverminderter Ferne, und seine Briefe waren so unbefriedigend, und ein häuslicher Druck wurde auf das Mädchen ausgeübt, und der junge Mann war wirklich begehrenswert, was sein Einkommen betraf, und so war das Ende vom Lied, daß Agnes ihn heiratete und einen stürmischen Brief an Phil in die Wüste von Darjiling sandte. Sie schrieb, daß sie in ihrem Leben keine glückliche Stunde mehr haben würde. Und diese Prophezeiung bewahrheitete sich.

Phil empfing den Brief und fühlte sich schlecht behandelt. Das geschah zwei Jahre nach seiner Abreise. Und jetzt dachte er wieder dauernd an Agnes Laiter. Er betrachtete ihr Bild und warf sich in die Brust in dem Glauben, daß er der treueste Liebhaber der Weltgeschichte gewesen sei. Er wärmte sich an der Glut der Überzeugung, daß er wahrhaft schlecht behandelt würde. Dann setzte er sich hin und schrieb einen letzten Brief, eine höchst rührselige Predigtepistel im Stil des »Vereint bis in den Tod. Amen!« Er setzte auseinander, daß er in alle Ewigkeit treu bleiben würde, daß alle Frauen gleich wären, daß er sein gebrochenes Herz verbergen wolle usw., aber wenn im Lauf der Zeit usw. usw., er könne warten usw. usw., Rückkehr zur alten Liebe usw. usw., und das alles auf acht eng beschriebenen Seiten. Vom künstlerischen Standpunkt aus war es eine saubere Arbeit; aber ein gemeiner Philister, der Phils wahre Gefühle kannte, – nicht die, zu denen er sich beim Schreiben aufschwang, – hätte in dem Brief das durch und durch kleinliche und selbstische Werk eines durch und durch kleinlichen, selbstischen und schwachen Menschen erkannt. Aber auch dies Urteil wäre nicht ganz gerecht gewesen. Phil zahlte das Porto und fühlte jedes Wort, das er geschrieben, wenigstens zweieinhalb Tage lang. Es war das letzte Aufflackern, ehe die Flamme erlosch.

Das Schreiben machte Agnes Laiter sehr unglücklich. Sie schloß es weinend in ihren Schreibtisch und wurde zum Besten ihrer Familie Frau Soundso. Und das ist auch die Pflicht jeder christlichen Jungfrau.

Phil ging seiner Wege und gedachte seines Briefes nur noch so, wie ein Künstler an eine fein nuancierte Skizze denkt. Sein Wandel war nicht schlecht, aber auch nicht gut, bis er Dunmaya, der Tochter eines ehemaligen Radschput-Majors der englisch-indischen Armee, begegnete.

Das Mädchen hatte einen Tropfen fremden Blutes in den Adern. Dieser Tropfen stammte aus den Bergen, und sie gehörte deshalb nicht zu einer hohen Kaste. Wo Phil sie kennen lernte, oder wie er von ihr erfuhr, gehört nicht zur Sache. Sie war ein gutes Mädchen und schön; in ihrer Art sehr klug und schlau, aber selbstverständlich auch etwas herb. Man darf nicht vergessen, daß Phil sehr behaglich lebte, sich keinen kleinen Genuß mißgönnte, keinen Heller zurücklegte, seine englische Korrespondenz aufgab und das Land, in dem er lebte, allmählich als seine Heimat zu betrachten anfing. Viele Männer gehen diesen Weg und werden unbrauchbar. Das Klima seines Ortes war gut, und es schien wirklich nichts zu geben, um dessentwillen er hätte wieder nach Hause gehen sollen.

Er tat, was mancher Pflanzer schon vor ihm getan hatte: er entschloß sich, ein Mädchen aus den Bergen zu heiraten und einen Hausstand zu gründen. Er war damals siebenundzwanzig Jahre alt und hatte noch ein langes Leben vor sich, aber nicht die nötige Energie. Also heiratete er Dunmaya nach dem Brauch der englischen Kirche. Einige Pflanzer sagten, er sei ein Narr, und manch andere wieder, er sei ein weiser Mann. Dunmaya war ein durchaus ehrlicher Mensch und sah trotz ihrer Hochachtung vor den Engländern ziemlich klar die Schwächen ihres Mannes. Sie lenkte ihn mit Vorsicht und unterschied sich nach kaum einem Jahre in Kleidung und Haltung fast nicht mehr von einer Engländerin. (Es ist erstaunlich, daß ein Hindu aus den Bergen trotz lebenslänglicher Schulung immer doch ein Hindu bleibt, während eine Hindufrau in sechs Monaten sich die meisten Lebensgewohnheiten ihrer englischen Schwestern zu eigen macht. Es war einmal eine Kulifrau. Aber das ist eine andere Geschichte.) Dunmaya kleidete sich mit Vorliebe in Schwarz und Gelb, und es stand ihr gut. Inzwischen lag der Brief in Agnes‘ Schreibtisch. Sie dachte dann und wann an den armen, entschlossenen Phil, der unter den Schlangen und Tigern von Darjiling schwer arbeiten mußte, und an seine immer noch vergebliche Hoffnung, daß sie einmal zu ihm zurückkehren würde. Ihr Mann war zehn Phils wert, nur war sein Herz rheumatisch. Drei Jahre nach ihrer Heirat, nachdem er in Nizza und Algier vergebens Heilung gesucht hatte, ging er nach Bombay, wo er starb. Agnes war frei. Da sie eine fromme Frau war, sah sie in seinem Tode und dem Ort seines Todes den ausgesprochenen Willen der Vorsehung. Und als sie sich etwas von dem Schlag erholt hatte, zog sie Phils Brief hervor. Sie las ihn von neuem mit den usw., den langen Gedankenstrichen und den kurzen Gedankenstrichen und küßte ihn wieder und wieder. Niemand kannte sie in Bombay. Sie hatte das große Einkommen ihres Mannes, und Phil konnte nicht weit sein. Es war nicht recht und vielleicht unpassend, aber sie beschloß wie eine Romanheldin, ihren alten Geliebten aufzusuchen, ihm Hand und Vermögen anzutragen und den Rest ihres Lebens mit ihm irgendwo, fern von fühllosen Seelen zu verbringen. Zwei Monate saß sie einsam in Watsons Hotel und malte sich ihren Plan aus. Und es entstand ein hübsches Bild. Dann machte sie sich auf die Suche von Phil Garron, Angestellten einer Teeplantage mit einem mehr als gewöhnlich unaussprechlichen Namen.

Sie fand ihn. Ihr Suchen hatte einen Monat gedauert. Denn die Plantage lag gar nicht im Darjiling-Distrikt, sondern mehr nach Kangra zu. Phil hatte sich sehr wenig verändert, und Dunmaya war sehr nett zu ihr.

Die größte Sünde und Schande an der ganzen Geschichte aber ist, daß Phil, der wirklich kaum einer Erinnerung wert war, von Dunmaya geliebt wurde und noch geliebt wird. Und daß Agnes, deren ganzes Leben er vernichtet hatte, ihn noch heißer liebt.

Und noch schlimmer als all das ist es, daß Dunmaya jetzt aus ihm einen anständigen Menschen macht, und daß ihr Einfluß ihn zuguterletzt vor der ewigen Verdammnis bewahren wird.

Offenbar ist das durchaus ungerecht.

Zwielicht

Zwielicht

Kein Mann wird wohl je die volle Wahrheit dieser Geschichte erfahren. Frauen werden sie sich vielleicht zuflüstern, wenn sie nach Bällen ihr Haar für die Nacht ordnen und ihre Opferlisten miteinander vergleichen. Ein Mann darf solcher Tätigkeit natürlich nicht beiwohnen, und so kann denn diese Geschichte nur ganz oberflächlich, – unscharf – erzählt werden.

Man soll eine Schwester nie der Schwester gegenüber loben in der Hoffnung, daß die Schmeicheleien das rechte Ohr doch noch erreichen und so für später Wege ebnen. Denn zuallererst sind Schwestern Frauen und dann erst Schwestern. Und man findet schließlich, daß man sich geschadet hat.

Wußte Saumarez das wohl, als er sich entschloß, um die ältere Miß Copleigh zu werben? Saumarez war ein merkwürdiger Mensch. In den Augen der Männer hatte er wenig Vorzüge, aber er war beliebt bei Frauen und besaß genug Dünkel, den Rat des Vizekönigs damit versorgen zu können. Vielleicht wäre auch noch etwas für den Stab des Oberstkommandierenden übriggeblieben. Er stand im Zivildienst. Sehr viele Frauen interessierten sich für Saumarez, vielleicht nur darum, weil sein Benehmen ihnen gegenüber verletzend war. Ein Pony wird den, der es im Anfang seiner Bekanntschaft über die Schnauze schlägt, nicht gerade lieben, aber es wird in der Folge ein tiefes Interesse für alle seine Schritte hegen. Die ältere Miß Copleigh war nett, rundlich, hübsch und liebenswürdig. Die jüngere war weniger hübsch, und, nach Männern zu urteilen, die den eben erwähnten Wink mißachteten, eher abweisend als fesselnd. Beide Mädchen hatten eigentlich die gleiche Figur und in Stimme und Aussehen eine starke Ähnlichkeit, wenn auch niemand nur einen Augenblick im Zweifel sein konnte, welche die Nettere von beiden war.

Saumarez faßte seinen Entschluß, die Ältere zu heiraten, als sie kaum von Behar gekommen waren. Wenigstens glaubten wir alle, daß er es beabsichtige, was auf dasselbe herauskommt. Sie war zweiundzwanzig, und er dreiunddreißig, mit Gehalt und Nebeneinnahmen von monatlich vierzehnhundert Rupien. Die Partie, wie wir sie uns dachten, war also in jeder Hinsicht günstig. Saumarez heißt er, und summarisch ist er, wie jemand einmal von ihm gesagt hat. Nach dem Entwurf seiner Resolution bildete er einen Sonderausschuß, in dem er allein beriet und beschloß, die rechte Stunde abzuwarten. Die Copleighschen Mädchen gingen »paarweise auf die Jagd«, wie wir uns in unserer nicht gerade liebenswürdigen Art ausdrückten. Wir wollten damit sagen, daß man die eine nie ohne die andere zu fassen bekam. Es waren sehr zärtliche Schwestern, aber ihre gegenseitige Anhänglichkeit konnte bisweilen lästig werden. Saumarez hielt sich geschickt zwischen beiden, und nur er selbst hätte sagen können, nach welcher Seite sein Herz neigte, wenn es auch jeder zu erraten glaubte. Er ritt und tanzte viel mit ihnen, aber es gelang ihm doch nie, die eine für ein Weilchen von der andern zu trennen.

Unter Frauen hieß es, daß die beiden Mädchen aus tiefem Mißtrauen gegeneinander so fest zusammenhielten, jede in der Furcht, die andere könne ihr einen Vorsprung abgewinnen. Aber das geht einen Mann nichts an. Saumarez sprach weder dafür noch dagegen. Er war so geschäftsmäßig aufmerksam, wie es ihm seine Arbeit und sein Polospielen irgend erlaubten. Zweifellos hatten beide Mädchen ihn gern.

Als sich die heiße Jahreszeit näherte und Saumarez sich noch immer nicht erklärt hatte, behaupteten die Frauen, daß den Mädchen die Sorge aus den Augen sähe. Sie machten einen abgespannten, bekümmerten und reizbaren Eindruck. Männer sind in diesen Dingen völlig blind, es sei denn, daß sie ihrer Anlage nach mehr Weibliches als Männliches haben. In diesem Fall ist es belanglos, was sie denken und sagen. Ich behaupte, die heißen Apriltage nahmen den Copleighschen Mädchen die Farbe. Man hätte sie zeitiger in die Berge schicken müssen. Niemand, weder Mann noch Frau, ist ein Engel, wenn die Hitze kommt. Die jüngere Schwester wurde bitter, um nicht zu sagen zynisch, und die Liebenswürdigkeit der Älteren wurde fadenscheinig. Sie war allzu erzwungen.

Der Ort, wo sich dies zutrug, war nicht gerade klein, lag aber nicht an der Bahn und war vernachlässigt. Es gab keine Gärten, keine Musik und keine Vergnügungen, die der Rede wert gewesen wären. Man brauchte fast einen Tag, um nach Lahore zum Ball zu fahren. Die Leute waren für jede kleine Unterhaltung dankbar.

Ungefähr Anfang Mai, als es sehr heiß war, kurz vor dem »Auszug« der letzten zwanzig Leute in die Berge, veranstaltete Saumarez ein Mondschein-Picknick zu Pferde. Es sollte bei einem alten, sechs Meilen entfernten Grabmal nahe am Flußbett stattfinden. Man verließ den Ort wie die Arche Noah. Des Staubes wegen mußte man paarweise in viertelstündigem Abstand reiten. Es waren zusammen sechs Paare, die Anstandsdamen mit eingerechnet. Mondschein-Picknicks sind am Ende der Saison, ehe die jungen Mädchen alle in die Berge gehen, von Nutzen. Sie führen Verständigungen herbei und sollten darum von Ballmüttern begünstigt werden, besonders von denen, deren Schützlinge im Reitkleid am vorteilhaftesten aussehen. Ich kannte einmal einen Fall, – aber das ist eine andere Geschichte. Wir nannten dies Picknick das »große Verlobungs-Picknick«, weil wir alle wußten, daß Saumarez der älteren Miß Copleigh einen Antrag machen würde. Und außer dieser Sache gab es noch eine andere, die möglicherweise auch ihren glücklichen Abschluß finden konnte. Die Luft in der Gesellschaft war gewitterschwül und verlangte nach einer Entladung.

Wir trafen uns um zehn Uhr auf dem Exerzierplatz. Die Nacht war entsetzlich heiß. Die Pferde kamen schon beim Schritt in Schweiß. Aber es war doch noch besser als das Stillsitzenmüssen in unseren dunklen Häusern. Beim Aufbruch im Vollmond waren wir vier Paare; eine Gruppe zu dritt, Saumarez mit den Copleighschen Mädchen, und ich. Während ich hinterdrein ritt, überlegte ich mir, mit wem Saumarez wohl nach Hause reiten würde. Alle waren glücklich und zufrieden, aber jeder fühlte die herannahenden Ereignisse. Wir ritten langsam, und es wurde fast Mitternacht, ehe wir das alte Grabmal erreichten. Wir wollten ihm gegenüber in dem verwüsteten Garten an der Zisternenruine essen und trinken. Ich kam etwas später als die andern und sah, ehe ich den Garten betrat, am nördlichen Horizont einen leichten, schwarzbraunen Wolkenstreifen. Allein mir hätte es wohl niemand gedankt, wenn ich ein so gut eingefädeltes Vergnügen wie dies Picknick verdorben hätte. Was hat denn auch schließlich ein Sandsturm mehr oder weniger zu bedeuten? Wir sammelten uns an der Zisterne. Einer hatte ein Banjo, – ein höchst gefühlvolles Instrument, – mitgebracht. Drei oder vier von uns sangen. Man lächle nicht darüber. Unsere Vergnügungen in den entlegenen Orten sind spärlich. Wir plauderten in Gruppen oder alle miteinander, lagen unter den Bäumen, warteten auf das Abendessen und ließen sonnverbrannte Rosen uns ihre Blätter zu Füßen streuen. Das Essen war herrlich, so gut auf Eis gekühlt, wie man es sich nur wünschen kann, und wir ließen uns Zeit.

Ich hatte gefühlt, wie die Luft heißer und heißer wurde, aber die anderen schienen es erst zu merken, als der Mond plötzlich verlosch und ein brennendheißer Wind die Orangenbäume peitschte, daß sie aufrauschten wie das Meer. Ehe wir wußten, wie uns geschah, war der Sandsturm über uns, und alles eine einzige brausende, wirbelnde Finsternis. Der Eßtisch wurde buchstäblich in die Zisterne hinabgeblasen. Wir hatten Furcht, in der Nähe des alten Grabbaus zu bleiben, weil der Sturm ihn hätte umstürzen können. Darum tasteten wir uns zu den Orangenbäumen, wo die Pferde angebunden waren, um zu warten bis der Sturm sich gelegt hätte. Dann verlor sich auch der letzte Lichtschimmer, und man konnte nicht die Hand vor den Augen sehen. Die Luft war schwer von Staub und Sand aus dem Flußbett, der in Stiefel und Taschen drang, uns den Nacken hinabrieselte und Brauen und Bart bedeckte. Es war einer der schlimmsten Sandstürme des ganzen Jahres. Wir standen eng zusammengedrängt dicht bei den zitternden Pferden; der Donner krachte über uns, und die Blitze schossen wie Wasserstrahlen aus einem Schlauch nach allen Richtungen. Solange die Pferde sich nicht losrissen, war keine Gefahr. Ich stand geduckt mit dem Rücken gegen den Wind, mit der Hand vorm Mund und hörte, wie die Bäume sich peitschten. Erst als es blitzte, konnte ich sehen, wer bei mir stand, und entdeckte Saumarez mit der älteren Miß Copleigh dicht neben mir, und vor mir mein Pferd. Die ältere Miß Copleigh erkannte ich an ihrem Hutschleier, den die jüngere nicht trug. Die ganze Elektrizität der Luft war mir in die Glieder gefahren, und ich zitterte und zuckte von Kopf bis zu Fuß, ganz wie ein Maishalm vorm Regen. Es war ein herrlicher Sturm. Der Wind schien die Erde emporzuheben und in großen Klumpen vor sich her zu schleudern, und aus dem Boden quoll eine Glut wie am Tage des Jüngsten Gerichtes. Nach der ersten halben Stunde besänftigte sich der Sturm ein wenig, und ich hörte dicht vor meinem Ohr eine leise Stimme, – wie die Stimme einer vom Wind getriebenen, verlorenen Seele, – still verzweifelt vor sich hin sagen: »Ach, mein Gott, mein Gott.« Dann taumelte die jüngere Miß Copleigh mir in die Arme und rief: »Wo ist mein Pferd! Ich will nach Hause, ich muß nach Hause! Bringen Sie mich nach Hause!«

Ich glaubte, Blitzen und Finsternis ängstigten sie, und darum sagte ich ihr, es sei keine Gefahr, und sie müsse warten, bis der Sturm vorüber sei. Aber sie antwortete nur: »Nein, darum nicht! Darum nicht! Ich muß nach Hause! Bitte, bringen Sie mich doch von hier fort!«

Ich sagte ihr wieder, sie dürfe nicht gehen, ehe es hell sei; dann fühlte ich nur noch, wie sie mich im Vorübergehen streifte. Es war zu dunkel, um sehen zu können, wohin sie ging. Im nächsten Augenblick zerriß ein gewaltiger Blitz den ganzen Himmel, als wäre das Ende der Welt gekommen, und alle Frauen schrien auf.

Unmittelbar darauf fühlte ich die Hand eines Mannes auf meiner Schulter und hörte Saumarez mir etwas ins Ohr brüllen. Das Rauschen der Bäume und das Heulen des Windes ließen mich seine Worte nicht gleich verstehen, aber schließlich hörte ich ihn sagen: »Ich habe um die Falsche angehalten! Was soll ich tun?« Einen Grund, mich ins Vertrauen zu ziehen, hatte Saumarez nicht. Ich war nie sein Freund und bin es auch jetzt nicht. Aber ich glaube, keiner von uns beiden war in jenem Augenblick bei Besinnung. Er zitterte vor Aufregung, und ich fühlte mich so seltsam erregt, als liefe mir ein elektrischer Strom durch alle Glieder. Da mir nichts Besseres einfiel, sagte ich: »Sie Narr, wie können Sie auch in einem Sandsturm anhalten!« Aber ich sah ein, daß das den Fehler nicht gut machte. Dann schrie er: »Wo ist Edith, Edith Copleigh?« Edith war die jüngere Schwester. Ich antwortete überrascht: »Was wollen Sie denn von der?« Es ist kaum zu glauben, aber während der folgenden zwei Minuten schrien wir uns an wie Wahnsinnige. Er beteuerte, daß er von jeher um die jüngere Schwester habe anhalten wollen, und ich erklärte ihm, bis ich heiser war, daß er sich geirrt haben müsse. Auch das ist dadurch zu erklären, daß wir beide nicht bei Besinnung waren. Das Ganze erschien mir wie ein böser Traum, vom Stampfen der Pferde in der Dunkelheit bis zu Saumarez‘ Wort, daß er von Anfang an nur Edith Copleigh geliebt habe. Er umklammerte noch immer meine Schulter und flehte mich an, ich solle ihm sagen, wo Edith Copleigh sei, als der Sturm wieder aussetzte, eine Helle eintrat, und wir die Sandwolke in die Ebene vor uns hinauswirbeln sahen. Da wußten wir, daß das Schlimmste vorüber war. Der Mond stand tief; es herrschte ein mattes Zwielicht, wie es eine Stunde vor der wirklichen Morgendämmerung einzutreten pflegt. Aber der Schimmer war nur ganz schwach, und die schwarzbraune Wolke brüllte dahin wie ein Stier. Ich dachte daran, wo wohl Edith Copleigh wäre, und während ich noch nachdachte, sah ich dreierlei zugleich: einmal Maud Copleighs lächelndes Gesicht aus der Dunkelheit auftauchen und sich Saumarez nähern, der neben mir stand. Sie flüsterte: »George« und hängte sich ihm in den Arm, der meine Schulter nicht gepackt hielt. Und ich sah auf ihrem Gesicht jenen Ausdruck, der nur ein-, zweimal im Leben einer Frau erscheint, wenn sie vollkommen glücklich ist, wenn der Himmel im strahlenden Glanz voller Geigen hängt, und wenn ihr die ganze Welt in lichte Wolken zerfließt, weil sie liebt und wieder geliebt wird. Und zugleich sah ich Saumarez‘ Gesicht, wie er Maud Copleighs Stimme hörte, und sah außerdem ein graues Leinenkleid fünfzig Schritt weit von den Orangenbäumen sich aufs Pferd heben.

Es muß wohl die Folge meiner Überreizung gewesen sein, daß ich mich so schnell in Dinge mischte, die mich nichts angingen. Saumarez wollte dem Kleide nach, aber ich drängte ihn zurück und sagte: »Sie bleiben hier. Klären Sie die Geschichte auf. Ich werde sie zurückholen.« Und ich stürzte zu meinem Pferde. Mich beherrschte die völlig unnötige Vorstellung, daß alles ordnungsgemäß und schicklich vor sich gehen, und daß vor allem Saumarez erst den glücklichen Ausdruck Maud Copleighs auslöschen müsse. Wahrend ich meinem Pferd das Zaumzeug überwarf, dachte ich daran, wie er das wohl zuwege bringen würde.

Ich galoppierte hinter Edith Copleigh her und nahm mir vor, sie unter irgendeinem Vorwand gemächlich zurückzubringen. Aber sobald sie mich bemerkte, ließ sie ihr Pferd in noch schärferen Galopp fallen, und ich sah mich zu einer ernstlichen Verfolgung genötigt. Sie rief mir drei- oder viermal zurück: »Lassen Sie mich! Ich will nach Hause! Lassen Sie doch!« Aber meine Pflicht war, erst mit ihr zu unterhandeln, wenn ich sie eingeholt hatte. Der Ritt stimmte gut zu dem ganzen wüsten Traum. Der Boden war sehr schlecht, und von Zeit zu Zeit jagten wir durch wirbelnde, würgende Staubgespenster, Nachzügler des flüchtigen Sturmes. Es wehte ein brennend heißer Wind, der einen üblen Geruch wie aus dumpfigen Ziegelöfen mit sich führte. Und durch das Zwielicht zwischen den Staubgespenstern auf der weiten, öden Ebene schimmerte das graue Reitkleid auf dem grauen Pferde. Sie hielt anfangs auf die Stadt zu. Dann wendete sie nach dem Flusse und ritt durch ein Lager verbrannten Dschungelgrases, über das man nicht einmal hätte Schweine treiben mögen. Bei kühler Überlegung wäre es mir nicht im Traum eingefallen, nachts über solches Land zu reiten. Aber beim Zucken der Blitze und bei dem Höllengeruch schien es ganz richtig und natürlich. Ich ritt und schrie, und sie beugte sich vornüber und peitschte ihr Pferd vorwärts. Und der Sturm hielt Nachernte, packte uns und stieß uns vorwärts wie Fetzen Papier.

Ich weiß nicht, wie weit wir ritten; aber das Stampfen der Pferdehufe, das Brüllen des Sturmes, die Jagd des matten, blutigroten Mondes durch gelbe Nebel schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Ich war buchstäblich in Schweiß gebadet, vom Helm bis zu den Gamaschen, als der Graue vor mir strauchelte, wieder auf die Beine kam und stocklahm stillstand. Auch mein Tier war völlig erschöpft. Edith Copleigh war in einem traurigen Zustand, ohne Hut, von Staub überzogen, und weinte bitterlich. »Können Sie mich nicht in Ruhe lassen?« sagte sie. »Ich wollte doch nur nach Hause! Lassen Sie mich doch, bitte!«

»Miß Copleigh, Sie müssen mit mir zurück. Saumarez hat Ihnen etwas zu sagen.«

Ich hatte mich höchst einfältig ausgedrückt, aber ich kannte Miß Copleigh kaum und konnte ihr nicht in ein paar Worten sagen, was mir Saumarez gesagt hatte, wenn ich auch zum Schaden meines Pferdes Vorsehung spielen sollte. Saumarez würde es selbst besser können, glaubte ich. Alle ihre Vorwände, daß sie müde sei und nach Hause müsse, fielen zusammen. Ihr Schluchzen warf sie im Sattel hin und her; ihr schwarzes Haar flatterte im Wind. Ich wiederhole nicht, was sie gesagt hat, denn sie war völlig fassungslos.

Das war also die gefühllose Miß Copleigh! Und da stand ich, ihr fast wildfremd, und suchte ihr klarzumachen, daß Saumarez sie liebe und sie zurückkommen müsse, um es ihn selbst sagen zu hören. Ich glaube, es gelang mir, sie zu verständigen, denn sie riß den Grauen zusammen und ließ ihn, so gut es ging, den Weg zum Grabbau zurückhinken. Und der Sturm donnerte vorwärts nach Umballa. Die ersten großen lauen Regentropfen fielen. Ich erfuhr, daß sie dicht neben Saumarez gestanden habe, als er sich ihrer Schwester erklärte, und daß sie heimgewollt habe, um sich in Ruhe, – wie es sich für ein englisches Mädchen schickt, – auszuweinen. Sie betupfte im Weiterreiten unablässig ihre Augen mit dem Taschentuch und plapperte mir, um sich in ihrer Erregung zu erleichtern, alles vor. Es war vollständig unnatürlich und schien doch in jenem Augenblick ganz selbstverständlich. Die ganze Welt bestand nur aus den beiden Copleighschen Mädchen, Saumarez und mir. Wir waren alle eingeschlossen von Blitzen und Finsternis, und die Leitung dieser irregeleiteten Welt lag in meiner Hand.

Als wir in der düsteren Totenstille nach dem Sturme zum Grabbau zurückkamen, brach die Dämmerung an. Noch war niemand gegangen. Alle warteten auf unsere Rückkehr, Saumarez vor allem. Er war blaß und verhärmt. Als Miß Copleigh und ich heranhinkten, kam er uns entgegen, hob sie vom Pferde und küßte sie vor der ganzen Gesellschaft. Es war wie auf dem Theater, und diese Ähnlichkeit wurde noch erhöht, als die verstaubten, gespensterhaften Männer und Frauen unter den Orangenbäumen wie im Theater Beifall klatschten zu Saumarez‘ Wahl. Nie in meinem Leben habe ich etwas so wenig Englisches erlebt.

Schließlich sagte Saumarez, wir müßten nach Hause, oder der ganze Ort würde uns suchen kommen, und »ob ich wohl so freundlich sein wollte, mit Maud Copleigh heimzureiten?« »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte ich.

So bildeten wir denn sechs Paare und zogen nach Hause, immer zwei und zwei. Saumarez ging neben Edith Copleigh her, die sein Pferd ritt.

Die Luft war wieder rein, und ganz allmählich, als die Sonne aufging, fühlte ich, daß wir uns in ganz gewöhnliche Männer und Frauen zurückverwandelten, und daß das »große Verlobungs-Picknick« eigentlich etwas ganz Fremdartiges, Unirdisches gewesen war, etwas, was sich nie wieder ereignen würde. Es war mit dem Sandsturm, dem elektrischen Summen der Luft verschwunden.

Ich war müde und zerschlagen und schämte mich eigentlich, als ich nach Hause kam und nach einem Bad ins Bett ging.

Es gibt noch eine andere Lesart dieser Geschichte, die von Frauen stammt. Aber die wird wohl niemals niedergeschrieben werden, – – es sei denn, daß Maud Copleigh einmal Lust dazu verspürt.

Das Tor der hundert Leiden

Das Tor der hundert Leiden

»So ich für einen Groschen den Himmel gewinnen kann,
willst du es mir mißgönnen?«

Sprichwort der Opiumraucher.

Das Folgende ist keine Arbeit von mir. Mein Freund, Gabral Misquitta, der Mischling, erzählte mir das Ganze zwischen Monduntergang und Morgen, sechs Wochen vor seinem Tode; und ich brachte es nach seinem Diktat zu Papier, während er meine Fragen beantwortete. Etwa so:

Es liegt zwischen der Kupferschmiedgasse und dem Viertel der Pfeifenstiel Verkäufer, noch keine hundert Meter im Vogelflug von der Wasir Khan Moschee. Soviel kann ich jedem verraten, aber ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß keiner das Tor finden wird, mag er noch so überzeugt sein, die Stadt zu kennen. Hundertmal kann man durch die nämliche Gasse gehen, ohne das Tor zu finden. Wir nannten die Gasse »die Gasse des schwarzen Rauchs«, aber der einheimische Name lautet natürlich ganz anders. Ein beladener Esel wäre außerstande, zwischen ihren Mauern hindurchzukommen; ja, an einem Punkt, kurz vor »Dem Tor«, zwingt; eine vorspringende Hausfront die Leute, sich seitwärts durchzuzwängen.

In Wirklichkeit ist es gar kein Tor. Es ist ein Haus. Der alte Fung-Tsching war sein erster Besitzer – fünf Jahre sind es her. Er war ein Schuhmacher aus Kalkutta. Sie sagen, er hätte dort in der Trunkenheit seine Frau ermordet. Das ist auch der Grund, weshalb er auf den Bazar-Rum verzichtete und sich statt dessen dem schwarzen Rauch ergab. Später zog er nach dem Norden und eröffnete »Das Tor« als Stätte, wo man in Ruhe seinen Rauch trinken konnte. Sie müssen wissen, es war ein »Pukka« – ein anständiges Opiumhaus, und keine von den dumpfen, stickigen Höhlen, wie man sie überall in der Stadt findet. Ja, der Alte verstand sein Geschäft gründlich und war für einen Chinesen ungewöhnlich sauber. Er war einäugig – ein kleines Kerlchen, noch keine fünf Fuß hoch, und hatte beide Mittelfinger verloren. Trotzdem habe ich noch niemanden getroffen, der ihm an Geschicklichkeit beim Drehen der schwarzen Pillen gleich kam. Er schien außerdem gegen den Rauch vollkommen unempfindlich. Was er tagaus tagein darinnen leistete, grenzte ans Wunderbare. Ich bin nun schon fünf Jahre dabei und kann auch meinen Teil vertragen; aber in dieser Hinsicht war ich neben Fung-Tsching ein Kind. Trotzdem war der Alte scharf auf sein Geld aus: das habe ich an ihm nie verstanden. Er soll vor seinem Tode noch ziemlich viel zusammengerafft haben, aber jetzt hat alles sein Neffe, und der Alte ist, nur um begraben zu werden, nach China zurückgelangt.

Er hielt den großen Raum im Oberstock, wo seine besten Kunden sich versammelten, so blank wie eine Stecknadel. In der einen Ecke stand Fung-Tschings Götze – fast ebenso häßlich wie Fung-Tsching selbst – und unter seiner Nase wurden Tag und Nacht Räucherspäne abgebrannt; aber man roch sie nicht, wenn die Pfeifen ordentlich im Gange waren. Gegenüber von dem Götzen stand Fung-Tschings Sarg. Er hatte einen hübschen Teil seiner Ersparnisse auf diesen Sarg verwandt und immer, wenn sich ein neuer Kunde im »Tor« meldete, wurde er zuerst dem Sarg vorgestellt. Der war aus schwarzem Lack mit roten und goldenen Inschriften, und es hieß, Fung-Tsching hätte ihn die ganze weite Reise aus China mitgebracht. Ich weiß zwar nicht, ob das stimmt, aber das eine ist sicher: wenn ich als erster am Platz war, breitete ich meine Matte direkt unterhalb des Sarges aus. Es war ein stiller Winkel, wissen Sie, und durch das Fenster kam hin und wieder von der Gasse her ein kleiner Luftzug. Außer den Matten gab es in dem Raum kein Mobiliar – nur den Sarg und den alten Götzen, über und über grün und blau und purpurfarben vor lauter Alter und Lack.

Fung-Tsching hat uns niemals verraten, weshalb er das Haus »Das Tor der hundert Leiden« nannte. (Er war der einzige Chinese, den ich je gekannt habe, der sich übelklingender, phantastischer Namen bediente. Die meisten klingen sonst sehr blumenreich.) Davon können Sie sich in Kalkutta überzeugen. Wir kamen ganz von selbst dahinter. Nichts packt einen so, wenn man ein Weißer ist, wie der schwarze Rauch. Die Gelben sind darin anders. Opium hat auf sie fast gar keine Wirkung; aber Weiße und Schwarze nimmt es ziemlich mit. Natürlich gibt es überall Menschen, die es im Anfang nicht stärker spüren als zum Beispiel den Tabak. Sie dösen nur so’n bißchen vor sich hin, wie wenn man von selbst einschläft, und sind am nächsten Morgen fast arbeitsfähig. Ich war nämlich auch einer von der Sorte, als ich mit dem Zeugs anfing, aber nun bin ich schon fünf Jahre ununterbrochen dabei – und jetzt ist es ganz anders geworden. Hatte so ’ne alte Erbtante, unten in der Agraer Gegend, die mir da bei ihrem Tode ’ne Kleinigkeit hinterließ. So rund sechzig Rupien im Monat – fest. Sechzig ist nicht viel. Kann mich noch auf ’ne Zeit besinnen – es scheint mir ’ne Ewigkeit her – da verdiente ich dreihundert im Monat und noch Nebeneinnahmen – damals, als ich die großen Holzlieferungen in Kalkutta hatte.

Ich blieb nicht lange bei der Arbeit. Der schwarze Rauch gestattet nicht, daß man sich viel mit anderen Dingen beschäftigt, und obgleich er auf mich, verglichen mit den meisten Menschen, nur wenig Wirkung hat, könnte ich doch nicht einen Tag arbeiten, und wenn es um mein Leben ginge! Und schließlich komme ich ja auch mit sechzig Rupien aus. Als der alte Fung-Tsching noch lebte, gab er mir ungefähr die Hälfte der Summe für meinen Unterhalt (ich esse nur sehr wenig) und behielt den Rest für sich. Jederzeit, Tag und Nacht, konnte ich »das Tor« aufsuchen und, wann ich wollte, dort rauchen und schlafen, und das Übrige war mir ja gleichgültig. Ich weiß, der Alte hat ein hübsches Stückchen Geld dabei verdient; aber das war mir ganz gleich; außerdem lief ja immer wieder Geld ein – regelmäßig, jeden Monat.

Wir waren unser zehn, als »das Tor« eröffnet wurde. Ich – und zwei Eingeborenengentlemen von irgendeinem Amt in Anarkulli; aber sie bekamen später den Abschied und konnten nicht mehr bezahlen (niemand, der tagsüber arbeiten muß, kann es bei dem schwarzen Rauch, ohne Unterbrechung, aushalten); ein Chinese, der Fung-Tschings Neffe war; ein Weib aus den Bazaren, die irgendwo ’ne Menge Geld liegen hatte; ein englischer Bummler – Mac Soundso hieß er, den genauen Namen habe ich vergessen – der große Mengen rauchte, aber niemals etwas zu bezahlen schien (es hieß, er habe einmal, bei irgendeinem Prozeß in Kalkutta, wo er als Anwalt tätig war, Fung-Tsching das Leben gerettet); ein anderer Eurasier, wie ich, aus Madras gebürtig; eine Halbeuropäerin und ein paar Männer, die behaupteten, aus dem Norden zu stammen. Ich glaube, es waren Perser oder Afghanen oder so etwas. Heute sind nur noch fünf von uns am Leben, aber wir fünf kommen ganz regelmäßig. Ich weiß nicht, was aus den indischen Beamten geworden ist; das Weib aus den Bazaren starb nach einem halben Jahr des schwarzen Rauches, und Fung-Tsching behielt, glaube ich, ihre Fuß- und Armspangen und den Nasenring für sich. Genau weiß ich es aber nicht. Der Engländer trank außerdem noch und gab die Sache schließlich auf. Einer der Perser wurde vor langer, langer Zeit eines Nachts bei einem Straßenkampf neben dem großen Brunnen in der Nähe der Moschee getötet, und die Polizei schüttete den Brunnen zu, weil er die Luft verpestete. Da fanden sie den Perser auf dem Grunde – tot. Wie Sie sehen, sind also nur noch der Chinese, die Halbeuropäerin, die wir die Memsahib nennen (sie lebte früher mit Fung-Tsching zusammen), der andere Eurasier, der eine Perser und ich selbst übrig geblieben. Die Memsahib sieht jetzt sehr alt aus. Ich glaube, sie war noch eine junge Frau, als »das Tor« eröffnet wurde; aber was das anbetrifft, so sind wir alle alt – Hunderte und Hunderte von Jahren alt. Es ist sehr schwer, die Jahre zu zählen, wenn man im »Tor« lebt, und außerdem ist mir die Zeit ganz gleich. Ich beziehe jeden Monat sechzig Rupien. Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch durch die Holzlieferungen in Kalkutta meine dreihundertundfünfzig Rupien und Nebeneinnahmen verdiente, hatte ich auch so eine Art Frau. Jetzt ist sie aber gestorben. Die Leute sagen: daß ich mich an den schwarzen Rauch gewöhnte, wäre ihr Tod gewesen. Vielleicht stimmt das auch, aber das ist so lange her, daß es schon ganz gleich ist. Die erste Zeit, als ich das »Tor« besuchte, tat mir die Sache manchmal noch leid; aber das ist nun alles längst vorbei; ich beziehe jeden Monat meine sechzig Rupien, ganz regelmäßig, und bin vollkommen glücklich. Nicht gerade berauschend glücklich, aber immer ruhig und friedlich und zufrieden.

Wie ich dazu gekommen bin? Ich probierte es ein paar mal zu Hause, nur um es kennenzulernen. Niemals sehr viel auf einmal, aber ich glaube, das war in der Zeit, als meine Frau starb. Wie dem auch sei, ich fand mich eines Tages in dieser Stadt wieder und machte dann die Bekanntschaft von Fung-Tsching. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam; aber er erzählte mir von »dem Tor«, und ich gewöhnte es mir an, dorthin zu gehen, und seitdem bin ich, ich weiß nicht wie, hängen geblieben. Aber vergessen Sie nicht, zu Fung-Tschings Lebzeiten war »das Tor« ein anständiges Haus, wo man sich sehr wohl fühlen konnte, ganz anders als die Höhlen, in denen die Nigger verkehren. Nein; es war dort sauber und ruhig und nicht überfüllt. Natürlich gab es außer uns zehn und dem Wirt noch andere Kunden; aber wir hatten stets eine eigene Matte mit einem wattierten, wollenen Kopfstück, das ganz mit schwarzen und roten Drachen bedeckt war, genau wie in der Ecke der Sarg.

Nach der dritten Pfeife fingen die Drachen an, sich zu bewegen und miteinander zu kämpfen. Ich habe sie beobachtet, nächtelang, wieder und immer wieder. Ich maß meinen Rauch an ihnen; jetzt braucht es schon ein Dutzend Pfeifen, um sie lebendig zu machen. Außerdem sind sie jetzt alle schmutzig und zerrissen, wie die Matten, seitdem der alte Fung-Tsching nicht mehr lebt. Er starb vor wenigen Jahren und hinterließ mir die Pfeife, die ich jetzt immer rauche – eine silberne, mit allerlei tollem Getier, das sich um den Rauchbehälter unterhalb des Pfännchens windet. Vordem benutzte ich, glaube ich, eine große Bambuspfeife mit einem sehr kleinen, kupfernen Pfännchen und einem Mundstück aus grünem Nephrit. Sie war etwas dicker als ein Bambusspazierstock und schmeckte sehr, sehr süß. Der Bambus schien den ganzen Rauch aufzusaugen. Silber tut das nicht; ich muß die silberne jetzt von Zeit zu Zeit reinigen, das macht natürlich viel Arbeit, aber ich rauche sie trotzdem, um des Alten willen. Er muß ja ganz anständig an mir verdient haben, aber er hat mir stets saubere Matten und Kissen gegeben, sowie das beste Zeugs, was zu haben war.

Als er starb, übernahm sein Neffe, Tsin-ling, »das Tor«; er nannte es den »Tempel des dreifachen Besitzes« aber wir Alten sprechen immer noch von den »Hundert Leiden«. Der Neffe führt die Sache auf sehr schäbige Art, und ich glaube, die Memsahib muß ihm helfen. Sie lebt bei ihm, wie früher bei dem Alten. Die beiden lassen Gott weiß was für Pack herein, selbst Nigger und dergleichen, und der schwarze Rauch ist nicht mehr so gut wie früher. Ich habe wiederholt verbrannte Kleie in meiner Pfeife gefunden. Der Alte wäre gestorben, wenn das zu seiner Zeit passiert wäre. Außerdem wird das Zimmer jetzt nie mehr gereinigt, und sämtliche Matten sind zerfetzt und an den Ecken ausgefranst. Der Sarg ist fort – nach China zurückgebracht worden – mitsamt dem Alten und zwei Unzen Rauchs, die man ihm hineinlegte, falls er unterwegs welchen brauchen sollte.

Unter des Hausgötzens Nase werden auch nicht mehr so viele Späne abgebrannt wie früher; und das ist bestimmt ein böses Zeichen, darauf schwöre ich. Er ist inzwischen ganz braun geworden, und niemand kümmert sich mehr um ihn. Daran ist, wie ich weiß, nur die Memsahib schuld, denn als Tsing-ling einmal Goldpapier vor ihm verbrennen wollte, sagte sie, das sei nur Geldverschwendung, und wenn er ständig vor ihm einen Span langsam verkohlen ließe, würde der Götze den Unterschied nicht merken. Jetzt haben wir Späne, die mit ’ner Menge Leim beschmiert sind; sie brennen zwar ’ne halbe Stunde länger, stinken aber dafür. Und dazu noch der Geruch von dem Zimmer selbst! Bei so einer Führung kann kein Geschäft gedeihen! Dem Götzen gefällt es auch nicht. Das sehe ich ganz genau. Spät in der Nacht nimmt er mitunter alle möglichen Farben an – blau und grün und rot – genau wie in der Zeit, als Fung-Tsching noch lebte; aber jetzt rollt er die Augen und stampft mit den Füßen wie ein richtiger Teufel.

Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich nicht wegbleibe und in Ruhe für mich rauche – in einem Privatzimmer des Bazars. Wahrscheinlich jedoch würde mich Tsin-ling umbringen – er bezieht jetzt meine sechzig Rupien – außerdem würde es schreckliche Umstände machen und ich liebe »das Tor« wirklich sehr. Äußerlich ist es ja ziemlich unansehnlich, beileibe nicht was es zu des Alten Zeiten war, aber ich könnte es doch nicht verlassen. Ich habe so manchen da ein- und ausgehen sehen. Und viele habe ich hier auf den Matten sterben sehen, so daß ich jetzt selber Angst hätte, da draußen zu endigen. Manche Dinge habe ich hier erlebt, die die meisten Menschen recht seltsam anmuten würden, und doch gibt es nichts Seltsames, wenn man den schwarzen Rauch trinkt, außer dem schwarzen Rauch selbst. Und wenn es das gäbe, wäre es ja auch ganz gleich. Fung-Tsching hielt sehr auf gutes Publikum und ließ niemanden herein, der beim Sterben irgendwelche Scherereien machte – tobsüchtig wurde und dergleichen mehr. Aber sein Neffe ist nicht halb so vorsichtig. Er erzählt jedem, der ihm über den Weg läuft, daß er ein »erstklassiges Etablissement« besäße. Macht nicht den leisesten Versuch, die Leute ruhig und unauffällig in sein Haus zu ziehen und es ihnen dann gemütlich zu machen. Deshalb ist »das Tor« jetzt auch ein klein wenig bekannter geworden – bei den Schwarzen natürlich. Der Neffe wagt nicht, einen Weißen oder eine Mischhaut hierherzuziehen. Uns drei muß er natürlich behalten – mich und die Memsahib und den anderen Eurasier. Wir sind Stammgäste. Aber er würde uns keinen Pfeifenkopf Kredit geben – nicht um die Welt!

Eines Tages hoffe ich, hier im »Tor« zu sterben. Der Perser und der Mann aus Madras sind schon arg zitterig geworden. Sie haben jetzt einen Jungen, um ihnen die Pfeifen anzuzünden. Ich tue das immer noch selbst. Wahrscheinlich werden sie noch vor mir zur Tür herausgetragen werden. Ich glaube aber nicht, daß ich die Memsahib oder Tsin-ling überlebe. Frauen halten den schwarzen Rauch länger aus als Männer, und Tsin-ling hat einen guten Teil von des Alten Blut in den Adern, trotzdem er das billige Zeugs raucht. Das Weib aus den Bazaren wußte zwei Tage vorher, daß ihre Zeit gekommen war; sie starb auf einer sauberen Matte mit einem hübschen, wattierten Kissen unter dem Kopf, und der Alte hing ihre Pfeife über dem Hausgötzen auf. Er hing sehr an ihr, so viel ich weiß. Aber das hinderte ihn nicht, ihre Spangen an sich zu nehmen.

Ich möchte sterben, wie das Weib gestorben ist – auf einer sauberen, kühlen Matte mit einer Pfeife voll anständigen Zeugs zwischen den Lippen. Wenn ich fühle, daß ich soweit bin, werde ich Tsin-ling darum bitten; er kann dafür meine sechzig Rupien weiterbeziehen, solange er will, ganz regelmäßig. Dann werde ich mich still und behaglich ausstrecken und die schwarzen und roten Drachen bei ihrem letzten, großen Kampf beobachten; und dann …

Nun, es ist ja ganz gleich. Alles ist mir so ziemlich gleich – wenn nur Tsin-ling nicht Kleie unter den schwarzen Rauch mischte.

Der Wahnsinn des Gemeinen Ortheris

Der Wahnsinn des Gemeinen Ortheris

Meine Freunde Mulvaney und Ortheris hatten sich auf einen eintägigen Jagdausflug begeben. Learoyd lag noch im Lazarett, wo er sich von einem Fieber, das er sich in Birma zugezogen hatte, erholen sollte. Mulvaney und Ortheris sandten auch mir eine Aufforderung und waren aufrichtig gekränkt, als ich außer mir selbst noch Bier – fast genügend Bier, um den Durst zweier Linieninfanteristen zu löschen – mitbrachte.

»Von wegen dem Bier haben wir Sie doch nich ingeladen, Herr,« meinte Mulvaney verstimmt, »sondern nur von wegen der Freude an Ihrer Gesellschaft.«

Ortheris kam mir zu Hilfe. »Na, ’s wird ihm nischt schaden, wenn er ’n bischen was zu saufen bei sich hat. Un‘ wir sin‘ auch nich‘ gerade Fürsten- und Grafensöhne. Wir sin‘ nur ’n paar gemeine Tommys, Du mißvergnügter Irländer, Du; also auf Ihr ganz Spezielles!«

Wir jagten den ganzen Vormittag und erlegten zwei Pariaköter, vier grüne, brütende Papageienweibchen, eine Gabelweihe, eine Schlange, eine Sumpfschildkröte und acht Krähen. Der Wildbestand war wirklich reichhaltig. Dann ließen wir uns am Flußufer zum Frühstück nieder – »bei Zadder und Kommisbrot« – wie Mulvaney sagte, und schossen in den Zwischenpausen, in denen wir nicht beschäftigt waren, das Essen mit unserem einzigen Taschenmesser zu zerlegen, auf gänzlich unweidmännische Art nach Krokodilen. Danach tranken wir das ganze Bier, warfen die Flaschen ins Wasser und benutzten sie als Zielscheibe. Zuletzt lockerten wir unsere Gürtel und streckten uns zum Rauchen in dem warmen Sande aus. Wir waren zu faul, um die Jagd fortzusetzen.

Da stieß Ortheris, der, die Brust auf die Fäuste gestützt, auf dem Bauche lag, plötzlich einen tiefen Seufzer aus. Dann fluchte er leise den blauen Himmel an.

»Was soll ’n das heißen?« forschte Mulvaney. »Haste noch nich genug gesoffen?«

»London, Tottenham Court Road un‘ ’n Mädel, an das ich gerade denken mußte. Was hat das ganze Militär überhaupt für ’n Sinn?«

»Ortheris, mein Sohn,« entgegnete Mulvaney hastig, »ich glaube viel eher, es is‘ nach all dem Bier was in Deinem Bauch nich‘ ganz in Ordnung. Ich kenne das an mir, wenn mir die Leber so ’n bißchen einrostet.«

Langsam, ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Ortheris fort: – »Ich bin ’n Tommy – ein verdammter, hundestehlender Tommy, mit ’nem Achtannasold un‘ ’ner Nummer statt ’nem anständigen Namen. Was bin ich denn schon groß? Wenn ich nun zuhause geblieben wäre, hätt ich das Mädel da heiraten un‘ ’nen kleinen Laden auf der Hammersmither Landstraße aufmachen können. ›S. Ortheris, Konservator und Ausstopfer‹, mit ’nem ausgestopften Fuchs im Schaufenster, wie sie ’s in Haylesbury Dairies haben, un‘ ’nem kleinen Kasten blauer und gelber Glasaugen. Un‘ ich hätte dann ’nen kleines Frauchen, das immerzu ›Kundschaft‹ ruft, wenn die Ladenglocke bimmelt. Aber so bin ich nur ’n Tommy – ’n verdammter, gottverlassener, biersaufender Tommy. ›Gewehr bei Fuß – Gewehr über! Rührt Euch! – Achtung! Rechtsum – linksum – ohne Tritt marsch! Das Ganze – halt! Gewehr bei Fuß – Gewehr über! Ladet das Gewehr!‹ Das is‘ noch mal mein Ende.« Er zitierte Bruchstücke aus dem militärischen Begräbnisreglement.

»Maul gehalten!« brüllte Mulvaney. »Haste erst mal so oft in die Luft gefeuert wie ich, über ’nen bessern Kerl weg als de selber bist, dann wirste Dich über das Reglement da nich‘ mehr lustig machen. Das is ja schlimmer als im Quartier ’nen Trauermarsch pfeifen. Wo Du obendrein den ganzen Bauch voll Bier hast un‘ die Sonne so hübsch kühl is. Ich muß mich für Dich schämen. Du bist ja nich‘ besser als so ’n hergelaufener Schwarzer – Du mit Deinem Begräbniskommando un‘ Deinen Glasaugen. Können Sie ’s ihm nich‘ verbieten, Herr?«

Was sollte ich machen? Konnte ich Ortheris auf bisher unbekannte Freuden seines Daseins hinweisen? Ich war weder der Regimentsgeistliche noch Ortheris spezieller Vorgesetzter; er hatte also ein Recht zu reden, wie ihm ums Herz war.

»Lassen Sie ihn in Ruh, Mulvaney,« sagte ich. »Es ist nur das Bier.«

»Nee – ’s is nich‘ das Bier,« widersprach Mulvaney. »Ich weiß, was jetzt kommt. Von Zeit zu Zeit packt ’s ihn so – ’s is arg – wirklich arg – ich kann den Jungen gut leiden.«

Tatsächlich – Mulvaney schien sich unnötig aufzuregen, aber ich wußte ja, er wachte über Ortheris wie ein Vater.

»Laß mich nur, laß mich mein Herz ausschütten,« fügte Ortheris träumerisch hinzu. »Willste ’nem armen Papageien das Schreien verbieten, Mulvaney, wenn es heiß is un‘ der Käfig ihm seine armen, kleinen rosa Zehen verbrennt?«

»Rosa Zehen! Willste damit sagen, daß Du unter John Bull’s Militärsocken rosa Zehen hast? Du verpimpelte« – Mulvaney raffte alle Kraft für eine ungeheuerliche Beschimpfung zusammen – »versimpelte Schulmamsell, Du! Rosa Zehen! Wieviel echtes Bertoner Bier mit der Marke drauf hat das verrückte Baby eigentlich gesoffen?«

»’S is gar nich‘ das Bertoner,« erwiderte Ortheris. »’S is ein bittereres Bier als das. ‚S iss das Heimweh!«

»Nun hör einer das an! Wo er in den nächsten vier Monaten mit der »Serapis« zurücktransportiert werden soll!«

»Was frag ich ’n schon danach? Mir is doch alles eins! Weißte denn, ob ich nich Bammel habe, abzuschrammen, eh ich meine Papiere bekomme?« Und er hub von neuem an, im Singsang das Begräbnisreglement zu rezitieren.

Diese Seite von Ortheris Charakter war mir vollständig neu, aber Mulvaney schien sie offensichtlich schon zu kennen und ihr ernsthafte Bedeutung beizumessen. Während Ortheris, Kopf in den Händen begraben, weiterlallte, flüsterte Mulvaney mir zu:

»’s packt ihn immer, wenn die Säuglinge, die sie heutzutage zu Unteroffizieren machen, ihn ganz besonders gezwiebelt haben. Weil se nischt Besseres anzufangen wissen. Ich kann ’s nich verstehn.«

»Na, was schadet es denn? Lassen Sie ihn sich doch aussprechen.«

Jetzt stimmte Ortheris die Parodie auf ein bekanntes Soldatenlied an, die nur von Krieg, Totschlag und Moritaten handelte. Er starrte dabei über den Fluß, und sein Gesicht war mir ganz fremd geworden. Mulvaney packte mich am Ellbogen, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen.

»Schaden? Und ob es schadet! ’s is so ’ne Art Anfall. Ich kenn ’s. ’s wird noch die ganze Nacht so weitergehen, un‘ mitten drin wird er aufstehen un‘ im Schrank nach seinen Sachen suchen. Un‘ dann kommt er zu mir un‘ sagt: ›Ich geh jetzt nach Bombay. Antworte morgen beim Appell für mich.‹ Un‘ dann hauen wir beide uns, wie wir ’s schon öfters getan haben – er, um wegzukommen, un‘ ich, um ihn zu halten – un‘ so werden wir beide wegen Unruhe in der Kaserne aufgeschrieben. Ich hab ihn mit dem Riemen verhauen un‘ hab ihm eins über ’n Detz gegeben, un‘ ich hab ihm gut zugeredet – aber alles nützt nischt, wenn er den Anfall hat. Er is ’n guter Junge, wie ’s bald keinen zweiten gibt, wenn er klar is. Aber ich weiß, was heute nacht in der Kaserne alles passieren wird. Der liebe Gott verhüte, daß er mir nich abschrammt, wenn ich aufstehe, um ihm eins über ’n Detz zu geben. Egal muß ich daran denken, Tag und Nacht.«

Das rückte die Sache in ein weit weniger harmloses Licht und bot für Mulvaneys Besorgnis eine völlig ausreichende Erklärung. Im Augenblick schien er Ortheris durch allerlei Überredungskünste seinem Anfall entreißen zu wollen, denn er brüllte nach der Böschung hinüber, auf der Ortheris ausgestreckt lag:

»Paß emal auf, Du mit den ›armen, rosa Zehen‹ un‘ den Glasaugen. Biste nu‘ des nachts hinter mir her über den Irriwaddy geschwommen, wie ’s sich für ’nen braven Kerl schickt, oder haste Dich unter ’s Bett verkrochen, wie damals bei Ahmid Kheyl?«

Das war eine grobe Beleidigung und eine ausgesprochene Lüge, aber Mulvaney wollte seinen Freund jetzt schon zu Handgreiflichkeiten treiben. Allein Ortheris schien in eine Art Trance versunken. Langsam und ohne Zeichen von Arger antwortete er in dem gleichen Singsang, in dem er das Begräbnisreglement zitiert hatte:

»Ich bin des nachts über den Irriwaddy geschwommen, wie Du genau weißt, um ganz nackt un‘ ohne Furcht die Stadt Lungtungpen zu nehmen. Un‘ wo ich bei Ahmid Kheyl gesteckt habe, weißt Du auch ganz genau, und vier verdammte Afghanen wissen ’s obendrein. Aber da gab ’s auch was zu tun; da dachte ich nich‘ an ’s Sterben. Aber jetzt will ich nach Hause zurück – nach Hause, nach Hause. Nee, ich hab nich Heimweh nach meiner Mama, weil mich nämlich mein Onkel erzogen hat, aber ich hab Heimweh nach London – Heimweh nach den Gerüchen un‘ nach all den Ansichten un‘ nach dem Gestank von der ollen Stadt: nach den Apfelsinenschalen un‘ nach dem Asphalt un‘ nach den Gaslaternen, wenn man über die Vauxhall-Brücke geht. Heimweh nach der Eisenbahn un‘ nach ’nem Ausflug nach Box-Hill, mit ’ner neuen Pfeife im Maul un‘ ’nem Mädel auf ‚m Schoß. Danach hab ich Heimweh un‘ nach den Lichtern auf der »Strand«, wo man jeden Menschen kennt, un‘ wo der Schutzmann, der einen aufschreibt, ’n alter Freund is, der einen schon oft ungeschrieben hat, als man noch ’n kleiner Stöppke war un‘ zwischen dem Tempel un‘ dem Triumphbogen übernachten wollte. Wo ’s kein verdammtes Wacheschieben un‘ kein Knöppeputzen un‘ keinen Khaki gibt, wo einen niemand nischt zu sagen hat un‘ man sein Mädel Sonntags ausführen kann, um zuzusehen, wie die Rettungsgesellschaft ihre Übungen macht un‘ aus ‚m Serpentine-Fluß im Park die toten Leichen rauszieht. Das alles hab ich nun aufgegeben, um hier draußen ›der Witwe‹ 1 zu dienen, wo ’s keine Weiber un‘ nischt Anständiges zu trinken un‘ gar nischt zu sehen gibt, nee un‘ auch nischt zu tun un‘ zu reden un‘ zu denken un‘ zu fühlen. Gott im Himmel, Stanley Ortheris, Du bist ’n größerer Esel als das ganze Regiment un‘ Mulvaney zusammengekoppelt! Zuhause da sitzt nun ›die Witwe‹ mit ’ner goldenen Krone auf ’n Kopp, un‘ hier sitze ich, Stanley Ortheris, der Witwe ihr Eigentum, un‘ ’nen verdammter, ausgemachter Esel!«

Diesen letzten Satz sprach er mit gesteigerter Betonung und schloß ihn mit einem sechsfachen anglo-indischen Fluch. Mulvaney antwortete nichts, sah mich aber an, als erwarte er von mir, daß ich Ortheris getrübten Verstand in Ordnung brächte.

Da erinnerte ich mich, in Rawal Pindi einen Mann gesehen zu haben, der, obwohl halb wahnsinnig vom Trunk, durch eine große Blamage ernüchtert wurde. Einige Regimenter werden vielleicht wissen, was ich damit meine. Ich hoffte, Ortheris auf die gleiche Manier zur Vernunft zu bringen, obwohl er durchaus nüchtern war. Ich sagte also:

»Was hat es für einen Sinn, den Kopf hängen zu lassen und auf die ›Witwe‹ zu schimpfen?«

»Das tu ich ja gar nicht!« protestierte Ortheris. »So wahr mir Gott helfe, ich hab kein Wort gegen sie gesagt un‘ werd auch nie ’n Wort sagen – nee, un‘ wenn ich jetzt auf der Stelle desertiere.«

Hier war meine Chance! »Na, es klang aber ganz so! Was nützt überhaupt die ganze Aufschneiderei? Würden Sie wirklich durchgehen, wenn Sie die Möglichkeit hätten?«

»Stellen Sie mich doch auf die Probe!« rief Ortheris, aufspringend wie von der Tarantel gestochen.

Mulvaney sprang gleichfalls auf. »Was haben Sie vor?«

»Ortheris nach Bombay oder Karachi weiterzuhelfen. Sie können ja melden, er hätte sich vor dem Mittagessen von Ihnen getrennt und sein Gewehr hier auf der Böschung zurückgelassen.«

»Das soll ich melden – ich?« wiederholte Mulvaney langsam. »Schön. Wenn der Ortheris jetzt desertieren will un‘ Sie, Herr, der Sie sein un‘ mein Freund sin‘, ihm dabei helfen, so werde ich, Terence Mulvaney, auf meinen Eid hin, den ich noch nie gebrochen habe, melden, was Sie von mir verlangen. Aber – –« hier schritt er auf Ortheris zu und hielt ihm den Kolben seines Jagdgewehrs unter die Nase – »aber, Gott steht Deinen Fäusten bei, Stanley Ortheris, wenn Du mir je wieder über den Weg läufst!«

»Mir is jetzt alles wurscht!« erklärte Ortheris. »Ich hab das Hundeleben satt. Gebt mir nur mal ’ne Schangse! Macht mit mir keine Menkenkens. Laß mich los, sag ich Dir!«

»Ziehen Sie die Kleider aus und nehmen Sie meine dafür,« sagte ich, »dann werde ich Ihnen sagen, was Sie zu tun haben.«

Ich hoffte, diese Lächerlichkeit würde Ortheris aufhalten; aber er hatte seine Kommißstiefel weggeschleudert und seinen Waffenrock ausgezogen, fast ehe ich meinen Kragen abgeknöpft hatte. Mulvaney packte mich am Arm:

»Jetzt hat ’n der Anfall; der Anfall hat ’n immer noch tüchtig! Bei meiner Ehre un‘ Seligkeit, wir werden mitschuldig an ’ner Desertion! Sie haben Recht, Herr, ’s wird nur achtundzwanzig oder auch sechsundfünfzig Tage kosten, aber denken Sie nur an die Schande – an die schwarze Schande für ihn un‘ für mich!« In meinem Leben habe ich Mulvaney nicht so aufgeregt gesehen.

Ortheris dagegen war vollkommen ruhig und sagte nur kurz, sowie der Kleidertausch bewerkstelligt war und ich als Linieninfanterist in die Welt schaute: »So, nun weiter. Was jetzt? Is es Ihr Ernst? Was muß ich nun tun, um aus dieser Hölle hier rauszukommen?«

Ich sagte ihm, wenn er ein paar Stunden hier am Flußufer auf mich warten wollte, würde ich zur Stadt reiten und mit hundert Rupien zurückkehren. Mit dieser Summe in der Tasche könnte er bis zu der nächsten, etwa fünf Meilen entfernten Station der Zweigeisenbahnlinie marschieren und dort ein Billett erster Klasse nach Karachi lösen. Da das Regiment wußte, daß er bei seinem Ausflug kein Geld mitgehabt hatte, würde es nicht sofort an die Hafenstädte telegraphieren, sondern erst einmal in den Eingeborenendörfern am Fluß nach ihm suchen. Außerdem würde es keinem Menschen einfallen, in dem Insassen eines Coupes erster Klasse einen Deserteur zu vermuten. In Karachi sollte er sich dann weiße Anzüge besorgen und sich, wenn möglich, auf einem Frachtdampfer einschiffen.

Hier unterbrach er mich. Wenn ich ihm bis Karachi weiterhülfe, wolle er sich schon alleine durchschlagen. Darauf befahl ich ihm, hier auf mich zu warten, bis es dunkel genug wäre, um unbemerkt in meinem neuen Aufputz zur Stadt zu reiten. Nun hat Gott in seiner Weisheit das Herz des britischen Soldaten, der oft ein ungehobelter Rowdie ist, so weich wie das Herz eines kleinen Kindes erschaffen, auf daß er seinen Vorgesetzten vertraue und ihnen in allen unerfreulichen und bedenklichen Lagen anhänge. Zu einem »Zivilisten« faßt er nicht so rasch Vertrauen, aber tut er es dennoch, so traut er ihm rückhaltslos wie ein treuer Hund. Ich hatte obendrein seit über drei Jahren, mit Unterbrechungen, die Ehre der Freundschaft des Gemeinen Ortheris genossen, und wir hatten als Mann zu Mann aneinander gehandelt. Folglich hielt er alle meine Worte für Wahrheit und nicht für leichtfertig und im Scherz gesprochen.

Mulvaney und ich ließen ihn daher in dem hohen Ufergrase zurück und schritten, uns ebenfalls nach Möglichkeit an das hohe Gras haltend, auf mein Pferd zu. Das Hemd scheuerte dabei ganz scheußlich.

Wir warteten fast zwei Stunden auf die Dämmerung, da mit ich in ihrem Schutz wegreiten konnte. Währenddessen unterhielten wir uns flüsternd über Ortheris und spannten unser beider Gehör an, um jedes Geräusch aus der Richtung des Ortes, wo wir ihn gelassen hatten, aufzufangen. Aber nichts rührte sich, außer dem Winde in dem Federgrase.

»Ich hab ihn auf ’n Detz geschlagen,« bemerkte Mulvaney inbrünstig, »wieder un‘ immer wieder. Ich hab ’n mit meinem Riemen hier fast dot geprügelt, un‘ doch kann ich ihm die Anfälle da nich‘ austreiben. Beileibe nich‘! Dabei is er nich‘ verrückt, sondern von Haus aus ganz gescheit un‘ vernünftig. Was is es nur eigentlich? Is es seine Erziehung, die nischt taugt, oder seine Bildung, die er nie gehabt hat? Sie glauben doch über alles Bescheid zu wissen, also geben Sie mir mal ’ne Antwort.«

Aber ich fand keine. Ich fragte mich die ganze Zeit, wie lange Ortheris da unten an der Uferböschung wohl aushalten würde, und ob er mich wirklich zwingen würde, ihm beim Desertieren zu helfen, wie ich es ihm versprochen hatte.

Gerade als die Dämmerung dichter zu werden begann und ich mit schwerem, schwerem Herzen mein Pferd satteln wollte, hörten wir aus der Richtung des Flusses wildes Geschrei.

Die Teufel hatten die Seele des Gemeinen Stanley Ortheris, Nr. 22639, II. Kompanie, freigegeben. Die Einsamkeit, die Dämmerung und das Warten hatten sie, meinen Erwartungen entsprechend, vertrieben. Wir machten uns im Geschwindschritt auf den Weg nach dem Fluß und fanden Ortheris wild durch das Gras irrend. Seinen – ich meine, meinen Rock hatte er weggeworfen. Er schrie nach uns wie ein Wahnsinniger.

Als wir ihn erreichten, sahen wir, daß er vor Schweiß troff und wie ein erschrecktes Tier an allen Gliedern zitterte. Wir hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Er beklagte sich, daß er in Zivilkleidern stäke und wollte sich meinen Anzug vom Leibe reißen. Ich befahl ihm, sich zu entkleiden, und wir vollzogen so rasch wie möglich diesen zweiten Tausch.

Das Scheuern seines eigenen grauen Militärhemdes und das Quietschen seiner Stiefel brachten ihn anscheinend wieder zu sich. Er fuhr mit der Hand über die Augen und fragte:

»Was war nur mit mir los? Ich bin nich‘ verrückt, ich hab auch keinen Sonnenstich – un‘ ich hab da geschimpft – un‘ hab mich benommen – –«

»Wie Du Dich benommen hast?« wiederholte Mulvaney. »Schande haste Dir selbst gemacht – aber das war ja ganz egal. Nee, Schande haste auch über die zweite Kompanie gebracht – un‘ was das Allerschlimmste is – über mich! Wo ich erst ’n Kerl aus Dir gemacht habe – aus Dir dreckigem, fischgrätigem, winselnden kleinen Rekruten. Zu dem Du heute wieder geworden bist – Stanley Ortheris!«

Eine ganze Weile sprach Ortheris kein Wort. Dann schnallte er seinen Riemen los, der über und über mit Abzeichen der Regimenter bedeckt war, mit denen sein eigenes in Garnison gelegen hatte, und überreichte ihn Mulvaney.

»Ich bin zu schwach, um Dich zu verdreschen, Mulvaney,« sagte er, »aber Du hast mich schon öfters verhauen. Heute kannste mich mit dem Ding da kaputt schlagen, wennde Lust dazu hast.«

»Lassen Sie mich mal ’n Wortchen mit ihm reden, Herr,« sagte Mulvaney.

Ich verabschiedete mich, und auf dem Heimweg dachte ich ziemlich lange nach, im besonderen über Ortheris und im allgemeinen über meinen Freund, den Infanteristen Tommy Atkins, den ich liebe.

Aber ich vermochte zu keinem Schluß zu gelangen.

  1. Bezeichnung für die verstorbene Königin Victoria.

Die Geschichte von Muhammad Din

Die Geschichte von Muhammad Din

»Wer ist glücklich zu preisen unter den Menschen? Er,
der daheim in seinem eigenen Hause kleine Kinder sieht
hüpfen, fallen und lärmen und aus dem Staube Kronen sich
erbauen.«

Munichandra.

Der Poloball war alt, zerschrammt, verbeult und voller Kerben. Er lag auf dem Kaminsims zwischen den Pfeilenstielen, die Imam Din, der Speisenträger, für mich reinigte.

»Braucht der Himmelsgeborene diesen Ball?« fragte Imam Din ehrerbietig.

Der Himmelsgeborene legte keinen besonderen Wert darauf; aber was konnte der Poloball einem Khitmatgar nützen?

»Mit Euer Gnaden Erlaubnis, ich besitze einen kleinen Sohn. Er hat diesen Ball gesehen und wünscht damit zu spielen. Ich begehre ihn nicht für mich.«

Keinem Menschen wäre es auch nur im Traume eingefallen, den wohlbeleibten Imam Din zu beschuldigen, mit Polobällen spielen zu wollen. Er trug das schäbige Ding auf die Veranda hinaus und es folgte ein Orkan entzückter kleiner Schreie, ein Trippeln kleiner Füße und das Poch-Poch-Poch des auf dem Boden rollenden Balles. Augenscheinlich hatte der kleine Sohn vor der Tür gewartet, um sich seinen Schatz zu sichern. Aber wie hatte er es nur fertiggebracht, den Poloball zu entdecken?

Als ich am folgenden Tage eine halbe Stunde früher als gewöhnlich aus dem Bureau heimkehrte, bemerkte ich im Speisezimmer eine kleine Gestalt – eine winzige, rundliche Gestalt in einem lächerlich kurzen Hemdchen, das ihr vielleicht halbwegs über den prallen Bauch reichte. Der Kleine wanderte, Finger im Mund und leise vor sich hinsummend, im Zimmer umher und besah sich die Bilder. Zweifellos war dies der »kleine Sohn«.

Natürlich hatte er in meinem Zimmer nichts zu suchen; er war jedoch so gründlich in seine Entdeckungen vertieft, daß er mich, der ich auf der Schwelle stehengeblieben war, nicht bemerkte. Ich betrat das Zimmer und hätte ihn um ein Haar in einen Krampfanfall versetzt. Atemlos vor Schreck ließ er sich auf den Boden fallen. Er riß die Augen und dann den Mund auf. Ich wußte, was nun kommen würde, und floh, verfolgt von einem langgezogenen, trockenen Geheul, das die Dienstbotenquartiere viel rascher erreichte als irgendein Befehl meinerseits es je getan hatte. Zehn Sekunden später stand Imam Din im Speisezimmer. Dann ertönte verzweifeltes Schluchzen, und ich kehrte zurück und erblickte Imam Din, wie er dem kleinen Sünder eine Strafpredigt hielt, der seinerseits sein Hemd ausgiebig als Taschentuch benutzte.

»Dieser Junge«, meinte Imam Din strafend, »ist ein Taugenichts – ein großer Taugenichts. Ohne Zweifel wird er für sein Benehmen ins Gefängnis – in die Khana – kommen.« Erneutes Gebrüll von seiten des reuigen Sünders, und eine umständliche Entschuldigung an mich von Imam Din.

»Sage dem Kleinen,« erwiderte ich, »daß der Sahib nicht böse ist, und nimm ihn fort.« Imam Din vermittelte dem Verbrecher, der sich inzwischen sein Hemd strickähnlich um den Hals gewunden hatte, meine Verzeihung und das Gebrüll dämpfte sich zum Schluchzen. Die beiden bewegten sich zur Tür. »Sein Name«, erklärte Imam Din, als wäre der Name ein Teil des Verbrechens, »ist Muhammad Din, und er ist ein Taugenichts.« Nun, da die unmittelbare Gefahr von ihm abgewendet war, drehte sich Muhammad Din in seines Vaters Armen um und meinte ernsthaft: »Es ist wahr, daß mein Name Muhammad Din ist, Tahib, aber ich bin kein Taugenichts. Ich bin ein Mann!«

Von jenem Tage datiert meine Bekanntschaft mit Muhammad Din. Niemals wieder betrat er mein Eßzimmer, doch auf dem neutralen Boden des Grundstückes pflegten wir uns mit großer Feierlichkeit zu begrüßen, obwohl unsere Unterhaltung sich von ihm aus auf »Talaam, Tahib« und meinerseits auf »Salaam, Muhammad Din« beschränkte. Täglich tauchten bei meiner Rückkehr aus dem Geschäft aus dem Schatten des mit Schlingpflanzen bedeckten Gitterwerks, wo sie sich verborgen gehalten hatten, das weiße Hemdchen und der dicke kleine Körper auf, und täglich parierte ich mein Pferd, damit unsere Begrüßung auch mit der nötigen Bedachtsamkeit und mit geziemender Würde erfolge.

Niemals hatte Muhammad Din einen Spielgefährten. Er pflegte in seine eigenen geheimnisvollen Angelegenheiten vertieft durch das Grundstück zu trotten, hin und her zwischen den Rizinusbüschen. Eines Tages stieß ich an einer entlegenen Stelle des Gartens auf eine seiner Arbeiten. Er hatte den Poloball halb im Staube vergraben und um ihn im Kreise sechs welke, alte Maßliebchen gesteckt. Außerhalb dieses Kreises wiederum war aus Stückchen roten Ziegels, die mit Porzellanscherben wechselten, ein rohes Viereck gezogen, das Ganze von einem kleinen Staubwall umgrenzt. Der Bhisti oder Wasserträger vom Brunnen legte ein gutes Wort für den kleinen Architekten ein und meinte, es sei ja nur das Spiel eines kleinen Kindes und verschandele meinen Garten doch kaum.

Der Himmel weiß, daß ich weder damals noch später die Absicht hatte, des Kindes Werk zu zerstören; allein noch am gleichen Abend führte mich ein Spaziergang unversehens gradenwegs dorthin, so daß ich, noch ehe ich es recht wußte, Maßliebchen, Staubwall und die Bruchstücke eines ehemaligen Seifennapfes zertreten und in ein hoffnungsloses, unrettbares Chaos verwandelt hatte. Am nächsten Morgen entdeckte ich Muhammad Din, wie er über der Trümmerstätte, die ich geschaffen hatte, leise in sich hineinweinte. Irgend jemand hatte ihm in roher Weise erklärt, der Sahib sei sehr böse auf ihn, daß er ihm seinen Garten ruiniere, und dann unter Flüchen des Kindes kostbaren Plunder in alle vier Wände zerstreut. Muhammad Din arbeitete eine ganze Stunde lang, um auch die kleinste Spur des Staubwalls und der Töpferscherben zu beseitigen und das Gesicht, mit dem er mir bei meiner Rückkehr aus dem Bureau sein »Talaam Tahib« wünschte, war tränennaß und zerknirscht. Eine in aller Eile angestellte Untersuchung endigte damit, daß Imam Din Muhammad Din zu verstehen gab, daß es ihm durch meine ganz außerordentliche Gnade gestattet sei, nach Belieben weiterzuspielen. Worauf das Kind wieder Mut faßte und sich daranmachte, den Grundriß eines Gebäudes aufzuzeichnen, das die Maßliebchen-Poloball-Schöpfung in den Schatten stellen sollte.

Einige Monate lang verfolgte dieses rundliche kleine Original auch weiterhin seine anspruchslose Bahn im Staube und unter den Rizinussträuchern; immer wieder die prunkvollsten Paläste bauend aus verdorrten, weggeworfenen Blumen, aus runden, vom Wasser geglätteten Kieseln, aus kleinen Glasscherben und aus Federn, die er – vermutlich meinen Hühnern ausgerupft hatte – – immer allein, unablässig vor sich her summend.

Einmal wurde eine besonders lustig gefärbte Muschel dicht neben seiner jüngsten Schöpfung fallen gelassen, und ich erwartete, daß Muhammad Din damit ein mehr als gewöhnlich prächtiges Bauwerk aufführen würde. Ich hatte mich auch nicht getäuscht. Fast eine ganze Stunde sann er tief nach und sein Summen schwoll zu einem Triumphlied an. Dann begann er in den Staub zu zeichnen. Diesmal würde es entschieden ein ganz besonders wunderbarer Palast werden, denn der Grundriß maß der Länge nach nicht weniger als zwei Meter und einen Meter in der Breite. Doch der Palast sollte nie vollendet werden.

Am folgenden Tage stand kein Muhammad Din am Eingang zur Auffahrt, und kein »Talaam, Tahib« grüßte mich bei meiner Rückkehr. Ich war an den Willkomm so gewöhnt, daß dieser Wegfall mich beunruhigte. Am nächsten Tage erzählte mir Imam Din, das Kind litte an leichtem Fieber und brauche Chinin. Es erhielt das Chinin und einen englischen Arzt obendrein.

»Die Bälger haben alle keine Widerstandskraft,« meinte der Arzt, als er Imam Dins Wohnung verließ.

Eine Woche später begegnete ich, obwohl ich viel darum gegeben hätte, ihm aus dem Wege gehen zu können, Imam Din auf dem Wege zum mohammedanischen Friedhof, begleitet von einem Freund, und er trug auf seinen Armen, eingehüllt in ein weißes Tuch, alles was übriggeblieben war von dem kleinen Muhammad Din.

Auf Grund einer Ähnlichkeit

Auf Grund einer Ähnlichkeit

»Ist dein Spiegel zerbrochen, so blicke in stilles Wasser,
aber hüte dich, hineinzufallen.«

Indisches Sprichwort.

Nach einer glücklichen Liebe ist so ziemlich das Unbequemste, das ein junger Mann zu Beginn seiner Laufbahn mit sich herumschleppen kann, eine Liebe, die nicht erwidert wird. Er kommt sich dabei wichtig und businesslike vor, wird blase und zynisch und kann jedesmal, wenn er mit der Leber nicht ganz in Ordnung ist oder an Mangel an Bewegung leidet, um seine verlorene Geliebte trauern und sich auf eine zarte, dämmrige Weise sehr glücklich fühlen.

Hannasydes Liebesaffäre war für ihn eine wahre Gottesgabe. Die Sache war nun schon vier Jahre alt und das Mädchen hatte ihn längst vergessen. Sie hatte inzwischen geheiratet und kämpfte mit zahlreichen eigenen Sorgen. Damals hatte sie Hannasyde erklärt: obwohl sie ihn nie anders als mit den Augen einer Schwester betrachten könnte, nähme sie doch ein anhaltendes, lebhaftes Interesse an seinem Wohlergehen. Diese überraschend neuartige und originelle Bemerkung gab Hannasyde für die Dauer zweier Jahre Stoff zum Denken, und seine Eitelkeit füllte die übrigen vierundzwanzig Monate aus. Hannasyde war jedoch ein ganz anderer Kerl als Phil Garron, trotzdem er mit diesem unverdienten Glückspilz Einiges gemein hatte.

Er hegte und pflegte also jene unglückliche Liebe, wie Männer eine gut eingerauchte Pfeife hegen und pflegen um der Behaglichkeit willen, und weil sie ihm durch den Gebrauch teuer geworden war. Sie brachte ihn glücklich über die erste Simlaer Saison hinweg. Hannasyde war keine Beauté. Außerdem hatte er etwas ungeschliffene Manieren und eine gewisse rauhe Art, einer Dame auf ’s Pferd zu helfen, die ihm in den Augen des schönen Geschlechts keinen besonderen Reiz verliehen. Daran wäre selbst dann nichts zu ändern gewesen, wenn er sich um weibliche Gunst bemüht hätte, was er nicht tat. Eine ganze Weile behielt er sein verwundetes Herz für sich.

Dann traf ihn das Unglück. Jeder, der schon in Simla gewesen ist, kennt den Abhang, der sich vom Telegraphenamt nach dem Bureau für öffentliche Arbeiten hinzieht. Hannasyde schlenderte eines Septembermorgens in der Besuchszeit diesen Abhang hinauf, als eine Rickshaw eilig den Berg hinunterrollte, und in der Rickshaw saß das leibhaftige Ebenbild des Mädchens, deretwegen er so glücklich unglücklich war. Hannasyde lehnte sich gegen die Brüstung und rang nach Luft. Er wollte den Berg wieder hinunterlaufen, der Rickshaw nach, aber das war unmöglich; also schritt er weiter, während der größere Teil seines Blutes ihm in den Schläfen hämmerte. »Sie« war, wie er später ausfindig machte, die Frau eines Mannes aus Dindigul oder Coinbatore oder sonst irgendeinem gottverlassenen Nest und war um ihrer Gesundheit willen schon früh im Jahre nach Simla gekommen. Nach Schluß der Saison wollte sie nach Dindigul, oder wie das Nest hieß, zurück und würde aller Wahrscheinlichkeit nach im Leben nicht wieder nach Simla kommen, denn ihr nächster Kurort in den Bergen war Ooctacamund. Noch in der gleichen Nacht ging Hannasyde, aufgewühlt und zuckend unter der Gewalt seiner zu neuem Leben angefachten Gefühle, eine geschlagene Stunde mit sich zu Rate. Er entschied sich für das Folgende; und man selbst mag entscheiden, wieviel bei diesem Beschluß echter Anhänglichkeit für seine alte Liebe und wieviel einer ganz natürlichen Neigung, auszugehen und sich zu amüsieren, entsprang. Mrs. Landys-Haggert würde nach aller menschlichen Voraussicht niemals wieder seinen Weg kreuzen. Es war also ganz gleich, wie er sich benahm. Sie ähnelte in einer ans Wunderbare grenzenden Weise dem Mädchen, das »ein tiefes, anhaltendes Interesse« nahm, und wie die Formel sonst noch lautete. Alles in allem würde es äußerst angenehm sein, Bekanntschaft mit Mrs. Landys-Haggert zu schließen und sich auf kurze, nur sehr kurze Zeit hin einzureden, daß er wieder einmal mit Alice Chisane zusammen wäre. Jeder ist in irgendeinem Punkte mehr oder weniger verrückt. Hannasydes besondere Monomanie war seine alte Liebe zu Alice Chisane.

Er machte es sich daher zur Aufgabe, Mrs. Haggert vorgestellt zu werden – mit Erfolg. Ebenfalls machte er es sich zur Aufgabe, so viel von seiner Zeit wie nur irgendmöglich mit dieser Dame zu verbringen. Einem Manne, der es wirklich ernst meint, bietet Simla eine überraschende Fülle von Möglichkeiten für Tête-à-têtes. Es gibt dort Gartenfeste, Tennispartien und Picknicks, Frühstücke in Annandale, Wettschießen, Diners und Bälle, nicht zu sprechen von Spazierritten und -gängen, die ja private Angelegenheiten sind. Hannasyde hatte sich mit dem festen Vorsatz, Ähnlichkeiten zu entdecken, ans Werk gemacht und endete damit, mehr zu finden als er gehofft hatte. Er wollte sich täuschen, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, getäuscht zu werden, und er täuschte sich überaus gründlich. Nicht nur waren Gesicht und Figur von Mrs. Landys-Haggert Gesicht und Figur von Alice Chisane, nein, auch die Stimme und die tieferen Töne waren genau die gleichen; ebenso die Redewendungen und kleinen Manierismen in Gang oder Gebärde, die jede Frau hat: sie waren identisch, absolut identisch. Die Kopfhaltung war die gleiche; der müde Ausdruck in den Augen nach einem langen Spaziergang war der gleiche; und einmal – Wunder über Wunder – summte Mrs. Haggert, während Hannasyde im Nebenzimmer auf sie wartete, um sie zu einem Spazierritt abzuholen, Ton für Ton ein altes Lied, genau so wie Alice es Hannasyde einmal in der Dämmerung eines englischen Salons vorgesummt hatte, mit genau dem gleichen, vollen Tremolo in der zweiten Zeile. An der Frau selbst – an ihrer Seele war nicht die geringste Ähnlichkeit zu entdecken; Alice und sie waren von verschiedenem Guß. Trotzdem wollte Hannasyde diese aufreizende, verwirrende Ähnlichkeit in Gesicht, Stimme und Wesen erforschen, sehen und hegen. Er war versessen darauf, so und nicht anders einen Narren aus sich zu machen, und er wurde in keiner Hinsicht enttäuscht.

Offene und unverhohlene Verehrung, einerlei von welchem Manne, ist jeder Frau, einerlei wie sie beschaffen ist, angenehm; da Mrs. Landys-Haggert aber eine Frau von Welt war, wußte sie nicht, was sie von Hannasydes Bewunderung halten sollte.

Keine Mühe schien ihm zu groß – im gewöhnlichen Leben war er ein Egoist – um ihre Wünsche zu erfüllen, ja, wenn möglich, ihnen zuvorzukommen. Jeder ihrer Befehle war ihm Gesetz. Kein Zweifel, er genoß ihre Gesellschaft, solange sie mit ihm über Banalitäten schwatzte. Sobald sie jedoch ihre persönlichen Anschauungen und Klagen – gesellschaftliche kleine Reibereien, die in Simla die Würze des Lebens ausmachen – vorbrachte, war er weder angenehm berührt noch interessiert. Es lag ihm nicht das geringste daran, näheres von Mrs. Landys-Haggert oder ihren vergangenen Erlebnissen zu erfahren – sie hatte fast die ganze Welt bereist und verstand, geistreich zu plaudern – er wollte nur das Ebenbild von Alice Chisane vor Augen und Ohren haben. Alles, was ihn darüber hinaus an eine fremde Persönlichkeit gemahnte, irritierte ihn, und er machte aus seinen Gefühlen kein Hehl.

Eines Abends sagte ihm Mrs. Landys-Haggert vor dem Postgebäude ohne jede vorherige Warnung kurz und bündig ihre Meinung. »Mr. Hannasyde,« sagte sie, »wollen Sie mir bitte gütigst erklären, weshalb Sie sich zu meinem speziellen Cavalier servante ernannt haben? Ich verstehe es nicht; aber ich bin aus irgendeinem Grunde fest überzeugt, daß ich selbst Ihnen vollkommen gleichgültig bin.« Übrigens erscheint das als eine Bestätigung der Theorie, daß kein Mann einer Frau etwas vorlügen kann, ohne entdeckt zu werden. Hannasyde wurde überrumpelt. Seine Stellung war zu keiner Zeit eine sehr feste gewesen, weil er in einem fort nur an sich selbst dachte, und ehe er so recht wußte, was er tat, platzte er mit der deplacierten Antwort heraus: »Das sind Sie mir auch wirklich.«

Das Sonderbare an der Situation und diese Antwort zwangen Mrs. Landys-Haggert zum Lachen. Und jetzt kam die ganze Geschichte heraus, und am Schluß von Hannasydes lichtvoller Erklärung bemerkte Mrs. Haggert mit einem kaum hörbaren Anflug von Verachtung in der Stimme: »Also ich soll Ihnen als Puppe dienen, die Sie mit den Lumpen ihrer alten und brüchigen Liebe bekleiden?«

Hannasyde war sich nicht im klaren, welche Antwort jetzt die richtige war, er erging sich daher in undeutlichen und allgemeinen Lobpreisungen von Alice Chisane, und das war auch nicht gerade befriedigend. Nun ist aber ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß Mrs. Haggert auch nicht den Schatten eines wärmeren Gefühls für Hannasyde hegte. Aber … aber keine Frau liebt es, für eine andere, statt um ihrer selbst willen umworben zu werden – besonders wenn die Betreffende eine etwas abgestandene Göttin älteren Jahrgangs ist.

Hannasyde vermochte indes nicht einzusehen, daß er einen ganz besonderen Narren aus sich gemacht hatte. Er freute sich vielmehr, in der Wüstenei von Simla eine mitfühlende Seele getroffen zu haben.

Als die Saison zu Ende war, kehrte Hannasyde nach seinem Wohnort und Mrs. Haggert an den ihrigen zurück. »Es war eigentlich so, wie wenn man einem Gespenst den Hof macht,« sagte sich Hannasyde, »und vollkommen ohne Belang; jetzt werde ich mich an die Arbeit machen.« Allein er ertappte sich dabei, daß er in einem fort an das Haggert-Chisane-Gespenst denken mußte, ohne sich darüber klar werden zu können, ob die Haggert- oder die Chisane-Mischung an diesem reizenden Gespenst überwog.

*

Die Klarheit kam ihm einen Monat später.

Eine besonders charakteristische Eigenschaft dieses Landes ist die Art, in der eine herzlose Regierung ihre Beamten von einem Ende des Reiches nach dem anderen schickt. Niemals kann man überzeugt sein, daß man einen Freund oder Feind endgültig losgeworden ist, bis nicht der oder die Betreffende stirbt. Ich kenne einen Fall – – aber das ist eine andere Geschichte.

Haggerts Abteilung beorderte ihn innerhalb von zwei Tagen von Dindigul nach der Grenze, und er ging – von Dindigul nach seiner neuen Station – und setzte bei jeder Etappe aus seiner eigenen Tasche Geld zu. Seine Frau ließ er unterwegs in Luknow bei Freunden zurück, um an einem großen Ball auf der Chutter Munzil teilzunehmen und ihm nachzureisen, sobald er das neue Haus ein wenig wohnlich gemacht hätte. Luknow war auch Hannasydes Station, und Mrs. Haggert blieb eine Woche dort. Hannasyde ging, um sie vom Bahnhof abzuholen, und als der Zug hereinbrauste, wußte er plötzlich, an welche er den ganzen vergangenen Monat hatte denken müssen. Gleichzeitig ging ihm die Unklugheit seines Verhaltens auf. Die Luknower Woche, in der sie sich auf zwei Bällen trafen und eine unbegrenzte Anzahl Spazierritte machten, war für den Fall entscheidend; Hannasyde merkte plötzlich, daß er in Gedanken ständig folgenden Kreis durchlief: Er bete Alice Chisane an – zum mindesten hatte er sie einmal angebetet. Und er bewundere Mrs. Landys-Haggert, weil sie Alice Chisane gleiche, obwohl sie zehntausendmal reizender sei. Dabei »gehöre« Alice Chisane einem anderen, und Mrs. Landys-Haggert ebenfalls – (obendrein war sie eine gute, anständige Frau). Daher sei er, Hannasyde – – hier gab er sich verschiedene nicht gerade schmeichelhafte Namen und wünschte, er wäre gleich zu Anfang klüger gewesen.

Ob Mrs. Landys-Haggert ahnte, was in seiner Seele vorging, weiß nur sie allein. Er schien, ganz abgesehen von der Chisane-Ähnlichkeit plötzlich ein rückhaltloses Interesse an allem zu nehmen, was sie selbst betraf, und er sagte ein oder zwei Dinge, die Alice Chisane, wenn sie noch mit ihm verlobt gewesen wäre, selbst auf Grund der Ähnlichkeit nicht hätte verzeihen können. Aber Mrs. Haggert tat, als höre sie diese Bemerkungen nicht und setzte Hannasyde ausgiebig auseinander, was für ein Herzenstrost und eine Erquickung sie ihm dank ihrer seltsamen Ähnlichkeit mit seiner alten Liebe gewesen wäre. Und Hannasyde stöhnte beim Reiten in sich hinein und sagte: »Da haben Sie wirklich recht.« Dann beschäftigte er sich mit Vorbereitungen für ihre Abreise nach der Grenze und fühlte sich dabei ganz ungewöhnlich klein und unglücklich.

Es kam der letzte Tag ihres Aufenthaltes in Luknow und Hannasyde brachte sie zum Bahnhof. Sie war sehr dankbar für seine Güte und für all die Mühe, die er sich ihretwegen gemacht hatte und lächelte freundlich und voller Mitgefühl, wie jemand, der sich des Alice-Chisane Grundes dieser Güte vollauf bewußt ist. Und Hannasyde schalt die Kulis, die das Gepäck trugen, und schob die Leute auf dem Bahnsteig beiseite und flehte innerlich zum Himmel, daß das Dach einstürzen und ihn erschlagen möchte.

Als der Zug sich langsam in Bewegung setzte, lehnte sich Mrs. Landys-Haggert zum Fenster hinaus, um Hannasyde Lebewohl zu sagen: – »Übrigens fällt mir da ein, Mr. Hannasyde, ich reise ja im Frühjahr nach England; vielleicht sehen wir uns dann auf der Durchreise. Also sage ich nur auf Wiedersehen.«

Hannasyde schüttelte ihr die Hand und erwiderte sehr ernst und in tiefster Verehrung: – »Ich hoffe zu Gott, daß ich Ihr Gesicht nie wieder sehen werde!«

Und Mrs. Haggert verstand ihn.

Wressley vom Auswärtigen Amt

Wressley vom Auswärtigen Amt

Einer der Flüche unseres Lebens hier draußen ist – im malerischen Sinne gesprochen – der völlige Mangel an Atmosphäre. Es gibt bei uns keine nennenswerten Halbtöne. Die Menschen heben sich alle kraß und roh gegen den Horizont ab; es gibt nichts, das einen versöhnlichen Schimmer über sie würfe, nichts, gegen das man sie messen könnte. Sie verrichten ihre Arbeit und fangen allmählich an zu glauben, daß es außer ihrer Arbeit nichts gibt, ja, daß nichts über die Arbeit geht und daß sie selbst der Mittelpunkt sind, um den sich die ganze Verwaltung dreht. Hier ein Beispiel! Ein eurasischer Schreiber war an einer Kasse angestellt, um Formulare auszufüllen. Er bemerkte zu mir: »Wissen Sie, was passieren würde, wenn ich auf diesem Bogen eine einzige Zeile hinzufügte oder wegließe?« Und im Tone eines Verschwörers fügte er hinzu: »Sämtliche Zahlungen des Schatzamtes im ganzen weiten Umkreis des Gouvernements würden in Unordnung geraten! Stellen Sie sich das einmal vor!«

Hätten die Menschen nicht diese Illusion von der alles überragenden Wichtigkeit ihrer eigenen speziellen Arbeit, ich glaube, sie setzten sich eines schönen Tages hin und machten ihrem Leben ein Ende. Aber ihre Schwäche ist mitunter lästig, besonders wenn der Zuhörer sich darüber klar ist, daß er an genau dem gleichen Fehler leidet.

Selbst das Indische Sekretariat glaubt, daß es Gutes tut, wenn es einen überarbeiteten Beamten von der Exekutive auffordert, in einem Distrikt von fünftausend Quadratmeilen eine statistische Erhebung über den Kornwurm anzustellen.

Es war einmal ein Mann vom Auswärtigen Amt – ein Mann, der in seinem Dienste bereits die mittleren Lebensjahre erreicht hatte, und von dem respektlose junge Unterbeamten behaupteten, er könne Aitchisons »Verträge und Sunnuden« nachts im Schlafe von hinten nach vorne auswendig aufsagen. Was er mit seinem aufgespeicherten Wissen tat, wußte allein der Staatssekretär, und der spürte begreiflicherweise keinerlei Neigung, darüber etwas verlauten zu lassen. Dieses Mannes Name lautete Wressley, und es war seinerzeit zu einer stehenden Redensart geworden, zu behaupten, daß Wressley über die Staaten von Mittelindien besser Bescheid wüßte, als sonst irgendeine lebende Seele auf Erden. Wer das nicht erklärte, galt für einen Mann von beschränktem Verstände.

Heutzutage ist der Mann, der behauptet, das wirre Gewebe zwischenstammlicher Beziehungen jenseits der Grenze zu kennen, ein nützlicheres Individuum, aber zu Wressleys Zeit wurde viel Aufmerksamkeit auf die mittelindischen Staaten verwandt. Sie wurden als »Foci« und »Faktoren« bezeichnet, kurz, erhielten alle möglichen und unmöglichen Namen.

Und hier machte sich der Fluch anglo-indischen Lebens heftig fühlbar. Wenn Wressley seine Stimme erhob und über diese und jene Erbfolge von diesem und jenem Throne sprach, schwieg das ganze Auswärtige Amt, und die Departementchefs wiederholten nur die letzten zwei, drei Worte Wressleys und setzten ihr »Ja, ja« darunter in dem erhabenen Gefühl, daß sie »das Reich in seinen schweren politischen Entscheidungen« unterstützten. So ist es aber in fast allen großen Betrieben: ein oder zwei Leute verrichten die Arbeit, während die anderen daneben sitzen und reden, bis der Ordenssegen sich über sie ergießt.

Wressley war der aktive Teilhaber der Firma »Auswärtiges Amt«, und um ihn bei der Stange zu halten, wenn er Spuren der Ermüdung zeigte, verhätschelten ihn seine Vorgesetzten und rieben es ihm unter die Nase, was er für ein Prachtkerl sei. In Wahrheit hatte er einen Sporn gar nicht nötig, denn er war ein zäher Bursche; was er jedoch an Lob erhielt, bestätigte ihn in der Meinung, daß es auf der Welt niemanden gäbe, so absolut und zwingend unentbehrlich für den Bestand des Indischen Reiches wie Wressley vom Auswärtigen Amt. Er arbeitete damals unter einem Vizekönig, der genau wußte, wann es an der Zeit war, einen widerspenstigen großen Mann zu »streicheln« und einen im Joch schwitzenden müden, kleinen zu ermutigen; folglich arbeiteten seine sämtlichen Gespanne glatt und reibungslos. Wressley gab er die oben geschilderte Meinung von sich selbst, und sogar zähe Burschen werden mitunter von den Lobpreisungen eines Vizekönigs ein wenig aus ihrer Bahn geworfen. Es war einmal ein Mann – – – aber das ist eine andere Geschichte.

Ganz Indien kannte Wressleys Name und Amt – beide standen sogar in Thacker und Spinks Auskunftsbuch verzeichnet – aber was er als Mensch war, was er eigentlich tat und welches seine besonderen Meriten waren – das wußten und darum kümmerten sich noch keine fünfzig Seelen. Seine Arbeit füllte sein Leben aus und er fand keine Zeit, Bekanntschaften zu pflegen, ausgenommen die von toten Rajput-Häuptlingen mit einem »Ahir« Fleck auf ihrem Wappenschild. Wressley hätte einen vorzüglichen Clerk im Heroldsamt abgegeben, hätte er nicht im bengalischen Zivildienst gestanden.

Eines Tages – zwischen zwei Gängen auf’s Amt – traf Wressley ein großes Unglück; es traf und überwältigte ihn, warf ihn wie einen kleinen Schuljungen einfach über den Haufen, so daß er keuchend und nach Luft ringend auf dem Kampfplatz zurückblieb. Ohne jeden Grund und entgegen den Gesetzen der Vorsicht verliebte er sich auf den ersten Blick in ein frivoles, goldhaariges Mädchen, das auf einem langbeinigen, grobknochigen Wallach mit einer blausamtenen Jockeimütze tief in die Stirn geschoben die Simlaer Hauptstraße auf und ab zu jagen pflegte. Sie hieß Venner – Tillie Venner – und war reizend. Sie eroberte Wressleys Herz im kurzen Galopp, und Wressley entdeckte, daß es nicht gut sei, daß der Mensch allein bleibe; selbst wenn er die Hälfte der Akten des Auswärtigen Amts in seinen Schränken liegen hat.

Dann lachte ganz Simla, denn Wressley als Verliebter bot einen lächerlichen Anblick. Er tat sein Möglichstes, um das Mädchen für sich – das heißt für seine Arbeit – zu interessieren – und auch sie gab sich, nach Weiberart, die größte Mühe, Interesse zu zeigen für das, was sie hinter seinem Rücken als »Mr. Wressleys Wajahs« bezeichnete: sie hatte eine sehr hübsche Art zu lispeln. Sie verstand auch nicht das Geringste von alledem, heuchelte aber Verständnis. Männer haben auch schon vor Wressleys Zeit auf jenen bloßen Schein hin geheiratet.

Jedoch die Vorsehung wachte über Wressley. Er war ganz betroffen von Miß Venners Intelligenz. Er wäre noch betroffener gewesen, hätte er gehört, wie sie privatim und im Vertrauen seine Besuche schilderte. Er hatte eine sonderbare Auffassung von der Art, wie man um Mädchen wirbt. Er meinte, ein Mann sollte ihnen das Beste, was er in seinem Leben geleistet hätte, ehrfurchtsvoll zu Füßen legen. Ich glaube, Ruskin schreibt irgendwo dasselbe; im gewöhnlichen Leben jedoch sind ein paar Küsse wirksamer und weniger zeitraubend.

Etwa einen Monat nachdem er sein Herz an Miß Venner verloren hatte – die Folge war, daß er seine Arbeit elend vernachlässigte – kam Wressley der erste Gedanke zu seinem »Eingeborenenregime in Mittelindien« und erfüllte ihn mit Freude. So, wie er den Plan des Buches entwarf, mußte es ein großes Buch werden – sein Lebenswerk – ein wirklich umfassendes Werk über einen ungemein, fesselnden Gegenstand, geschrieben auf Grund all der mühsam erworbenen Spezialkenntnisse Wressleys vom Auswärtigen Amt rein Geschenk für eine Kaiserin.

Miß Venner sagte er, er beabsichtige Urlaub zu nehmen und hoffe, ihr bei seiner Rückkehr ein ihrer würdiges Geschenk mitbringen zu können. Würde sie wohl bereit sein, solange zu warten? Natürlich war sie bereit! Wressley bezog ein Gehalt von eintausendsiebenhundert Rupien im Monat. Dafür wartete sie, wenn nötig, ein Jahr. Ihre Mama half ihr sogar dabei.

Also nahm Wressley Urlaub auf ein Jahr sowie sämtliche verfügbaren Dokumente – es war ungefähr eine Wagenladung voll – und zog, seinen Kopf heiß von großen Gedanken, nach Mittelindien. Er begann sein Werk in dem Lande, von dem er schrieb. Eine allzu ausgedehnte Amtstätigkeit hatte ihn zu einem kalten Arbeiter gemacht; und er hatte wohl geahnt, daß er für seine Palette der lebendigen Macht des Lokalkolorits bedurfte. Ein gefährlicher Farbstoff für die Versuche eines Amateurs!

Der Himmel allein weiß, wie der Mann arbeitete! Er sammelte seine Rajahs, analysierte seine Rajahs und verfolgte sie samt ihren Gattinnen und Konkubinen bis in prähistorische Zeiten und noch weiter zurück. Er datierte und konterdatierte, pedigrierte und pedigrierte noch einmal, eruierte und kritisierte, inferierte, notierte, kombinierte, selektrierte, sortierte und klassifizierte zehn Stunden am Tage. Und weil dieser neue und unverhoffte Glanz der Liebe ihn umspielte, verwandelte er jenes tote Gebein und die unsaubere Geschichte vergangener Missetaten in etwas, über das man nach Wressleys Willen lachen oder weinen mußte. Sein Herz und seine Seele lebten in seiner Feder und flößen in die Tinte über. Für die Dauer von zweihundertunddreißig Tagen und Nächten war er ein Wesen mit Mitgefühl, Einsicht, Humor und Stil, und sein Buch wurde ein Buch. Ihm standen seine ungeheuren Spezialkenntnisse zur Verfügung, aber der Geist, der aus ihm atmete, der menschlich verstehende Funke, die Poesie und die Gewalt der Rede waren über jede Spezialkenntnis erhaben. Ich zweifle indes, ob er der Gabe, die ihm gewährt war, wirklich inne wurde; so ist es immerhin möglich, daß er seines Glücksgefühls zum Teil verlustig ging. Er arbeitete ja für Tillie Venner, nicht für sich selbst. Männer leisten nicht selten ihre beste Arbeit blind,»um eines anderen Menschen willen.

Außerdem kann man – eine Bemerkung, die nichts mit dieser Geschichte zu tun hat – überall in Indien, wo jeder jeden kennt, Männer beobachten, die unter dem Banne einer Frau aus Reih und Glied hinaus auf Einzelposten getrieben werden. Taugt der Betreffende was, so wird er, einmal in Bewegung gesetzt, weitermarschieren; aber der Durchschnittsmensch kehrt, sobald die Frau an seinen Erfolgen als Tribut ihrer Macht das Interesse verloren hat, in Reih und Glied zurück.

Wressley brachte das erste Exemplar seines Buches nach Simla mit und überreichte es errötend und stotternd Miß Venner. Sie las einen kleinen Teil daraus. Ihre Kritik gebe ich verbatim wieder: »Ach ja, Ihr Buch! Es handelt ja nur von jenen scheußlichen Wajahs! Ich habe es nicht verstanden.«

*

Wressley vom Auswärtigen Amt war erledigt, zerbrochen ich übertreibe nicht – durch dieses eine frivole, dumme kleine Mädchen. Er vermochte nur noch zu stammeln: »Aber – aber es ist mein magnum opus! Mein Lebenswerk!« Miß Venner wußte nicht, was er mit magnum opus sagen wollte, aber sie wußte, daß Hauptmann Kerrington bei der letzten Ghymkhana drei Rennen gewonnen hatte. Wressley ersuchte sie, hinfort nicht mehr auf ihn zu warten. So viel Verstand war ihm noch geblieben.

Dann kam die Reaktion auf eine einjährige Überanstrengung, und Wressley kehrte in das Auswärtige Amt und zu seinen »Wajahs« zurück, ein kompilierender, Exzerpte machender, Berichte schreibender Tagelöhner, der schon mit dreihundert Rupien im Monat überbezahlt gewesen wäre. Er ließ es bei Miß Venners Kritik bewenden; das beweist, daß die Inspiration seines Buches, eine rein vorübergehende war und mit ihm selbst nichts zu tun hatte. Trotzdem hatte er kein Recht, fünf Bücherkisten voll des besten Werkes über indische Geschichte, das je geschrieben wurde, die er mit ungeheuren Kosten den ganzen Weg von Bombay hatte kommen lassen, unterwegs in irgendeinem kleinen Gebirgssee zu versenken.

Als er wenige Jahre später kurz vor seinem Rücktritt seinen Haushalt auflöste, sah ich mir seine Bibliothek durch und stieß dabei auf das einzige noch existierende Exemplar seines »Eingeborenenregimes in Mittelindien« – das Exemplar, das Miß Venner nicht hatte verstehen können. Ich las es, auf seinen Koffern sitzend, die ganze Nacht hindurch und bot ihm an, dafür zu zahlen, was er haben wollte. Er durchflog, über meine Schulter gebeugt, ein paar Seiten und sagte dann müde:

»Wie zum Teufel bin ich dazu gekommen, einmal so was Anständiges zu schreiben?«

Und zu mir gewandt fügte er hinzu:

»Nehmen Sie ’s und behalten Sie ’s. Schreiben Sie eine Ihrer Penny-Geschichten über seine Entstehung. Vielleicht – vielleicht – war der ganze Fall überhaupt nur bestimmt, diesem Zwecke zu dienen.«

Und das schien mir, der ich wußte, was Wressley vom Auswärtigen Amt einmal gewesen war, so ziemlich das Bitterste, das ich je einen Mann über sein eigenes Werk habe sagen hören.

Eine mündliche Botschaft

Eine mündliche Botschaft

Diese Geschichte mag von denen erklärt werden, die wissen, aus welchem Stoff die menschliche Seele ist und wo die Grenze des Möglichen liegt. Ich habe lang genug in diesem Lande gelebt, um zu wissen, daß man nichts weiß, und kann daher nur berichten, was sich ereignete.

Dumoise war unser Zivilarzt in Meridki; wir nannten ihn »die Maus«, weil er klein, rundlich und still war. Er war ein guter Arzt und kam mit jedem gut aus, sogar mit dem stellvertretenden Regierungskommissar, der die Manieren eines Schifferknechts und den Takt eines Regimentsgauls besaß. Dumoise heiratete ein Mädchen, so rund und still wie er selbst. Sie war eine Miß Hillardyce, die Tochter von »Squash« Hillardyce, der aus Versehen seines Chefs Tochter zur Frau erhielt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Flitterwochen dauern in Indien nur selten länger als acht Tage, indes steht es jedem jungen Paare frei, sie auf zwei, drei Jahre auszudehnen. Indien ist für Eheleute, die ganz ineinander aufgehen, ein ideales Land. Niemand hindert sie, allein für sich, ohne Verkehr, zu leben – wie »die Mäuse« das taten. Dieses stille, kleine Pärchen zog sich nach der Hochzeit vor der Welt zurück und war sehr glücklich. Zwar sahen sie sich gezwungen, gelegentlich einmal eine Gesellschaft zu geben, aber sie schlössen sich niemandem an, und die Station ging ihre eigenen Wege und vergaß die beiden ganz; nur von Zeit zu Zeit bemerkte jemand so nebenbei: »die Maus« wäre ein vorzüglicher Kerl, aber ein wenig langweilig. Um die Wahrheit zu sagen, ein Zivilarzt, der sich mit jedem verträgt, ist eine Seltenheit und wird als solche entsprechend gewürdigt. Jedoch nur wenige Menschen können es sich leisten, Robinson Crusoe zu spielen – am wenigsten in Indien, wo wir Europäer spärlich sind und ganz besonders von der Hilfsbereitschaft anderer abhängen. Dumoise tat unrecht, sich ein Jahr lang vor der Welt zu verschließen, und er entdeckte seinen Fehler, als mitten in der kalten Jahreszeit auf der Station eine Typhusepidemie ausbrach, an der auch seine Frau erkrankte. Dumoise war ein scheues, zurückhaltendes Kerlchen, und fünf Tage vergingen in Untätigkeit, ehe er erkannte, daß seine Frau an etwas Schlimmerem als einfachem Fieber ausbrannte, und drei weitere Tage verstrichen, bevor er es wagte, Mrs. Shute, die Frau des Ingenieurs, aufzusuchen und ihr schüchtern seine Not zu gestehen. Fast jeder Haushalt in Indien weiß, daß die Ärzte dort dem Typhus gegenüber machtlos sind. Der Kampf muß in solchen Fällen zwischen der Pflegerin und dem Tode ausgefochten werden, Minute für Minute, Grad für Grad. Mrs. Shute hätte Dumoise »wegen seiner verbrecherischen Saumseligkeit« auch fast geohrfeigt und machte sich unverzüglich auf den Weg, das arme Ding zu pflegen. In jenem Winter hatten wir in unserer Station verschiedene Typhusfälle, und da die durchschnittliche Sterbeziffer ungefähr fünf zu eins beträgt, waren wir überzeugt, jemanden unter uns verlieren zu müssen. Aber wir taten alle unser Möglichstes. Die Frauen wachten bei den Frauen, und die Männer machten sich ans Werk und pflegten die Junggesellen, die daniederlagen. Sechsundfünfzig Tage lang rangen wir mit jenen Fällen und brachten sie im Triumph durch das Tal der Schatten. Und gerade, als wir glaubten, nun wäre die Sache endlich vorbei und einen kleinen Ball geben wollten, um den Sieg zu feiern, bekam die kleine Mrs. Dumoise einen Rückfall und starb innerhalb einer Woche, und die Station ging statt dessen zu ihrem Begräbnis. Dumoise brach am Grabe vollständig zusammen und mußte schließlich weggeführt werden.

Nach dem Tode verkroch sich Dumoise in sein Haus und verweigerte jeden Trost. Er ging zwar nach wie vor gewissenhaft seinen Pflichten nach, aber wir alle hatten das Empfinden, daß er unbedingt Urlaub nehmen müsse, und seine Kollegen vom Dienst gaben ihm das auch zu verstehen. Dumoise bedankte sich sehr für ihren freundlichen Vorschlag – er war in jenen Tagen für alles dankbar – und ging auf eine Wandertour nach Chini. Chini liegt einige zwanzig Tagesmärsche von Simla entfernt im Herzen der Berge, und die dortige Szenerie ist sehr wohltuend für Menschen in innerlicher Not. Man wandert durch große, schweigende Deodarwälder am Fuße von großen, schweigenden Felsklippen und über große schweigende Almen, wogend und schwellend wie ein Frauenbusen, und der Regen, der auf die Deodare niederfällt, sagt: »Still, still, still.« So wurde der kleine Dumoise nach Chini expediert, um in Begleitung einer großen Plattenkamera und eines Jagdgewehrs seinen Kummer niederzukämpfen. Außerdem nahm er noch einen völlig überflüssigen Träger mit, weil der Bursche seiner Frau Lieblingsdiener gewesen war. Er war zwar ein Faulpelz und ein Dieb, aber Dumoise traute ihm rückhaltslos.

Auf dem Rückwege von Chini machte Dumoise einen Abstecher nach Bagi durch die Waldschläge am Ausläufer des Mount Huttoo. Einige Menschen, die schon mehr als ein wenig in der Welt herumgekommen sind, behaupten, der Weg von Kotegarh nach Bagi sei einer der schönsten dieser Erde. Er führt durch dunkle, nasse Wälder und gipfelt ganz plötzlich in einem öden, kargen Berghang mit schwarzen Klippen. Der Bagi Dak-Bungalow ist gegen alle Stürme ungeschützt und bitter kalt. Nur wenige Menschen kommen nach Bagi; vielleicht war das der Grund, weshalb Demoise dort hinging. Er machte um sieben Uhr abends Rast, und sein Träger eilte den Berg hinunter ins Dorf, um für den nächsten Tagesmarsch Kulis zu engagieren. Die Sonne war bereits untergegangen und die Nachtwinde begannen zwischen den Felsen zu singen und zu summen. Dumoise lehnte sich gegen das Verandageländer und wartete auf die Rückkehr seines Trägers. Der Mann war kaum verschwunden, da kehrte er auch schon in solcher Hast zurück, daß Dumoise glaubte, ein Bär wäre ihm über den Weg gelaufen. Der Bursche jagte, so rasch er nur konnte, den Berg hinauf.

Aber kein Bär war da, um dieses Entsetzen zu erklären. Der Mann stürzte auf die Veranda und fiel der Länge nach hin, das Gesicht aschgrau, während Blut ihm aus der Nase strömte. Dann stieß er gurgelnd hervor: »Ich habe die Memsahib gesehen! Ich habe die Memsahib gesehen!

»Wo?« fragte Dumoise.

»Dort unten auf dem Weg zum Dorfe. Sie trug ein blaues Kleid und lüftete den Schleier ihres Hutes und sagte: ›Ram Dass, überbringe dem Sahib meine Salaams und melde ihm, daß ich ihn nächsten Monat in Nuddea treffen werde.‹ Dann lief ich, weil ich mich fürchtete.«

Was Dumoise darauf sagte oder tat, weiß ich nicht. Ram Dass erklärt, er hätte nichts geantwortet, sondern sei die ganze kalte Nacht auf der Veranda auf und ab geschritten, wartend, daß die Memsahib den Berg hinauf zu ihm komme, und hätte wie ein Wahnsinniger die Arme in das Dunkel hinausgestreckt. Aber keine Memsahib kam, und am folgenden Tage ging Dumoise weiter nach Simla, stündlich den Träger einem neuen Kreuzverhör unterwerfend.

Ram Dass vermochte nur zu wiederholen, er hätte Mrs. Dumoise getroffen, und sie hätte ihren Schleier gelüftet und ihm die Botschaft aufgetragen, die er getreulich ausgerichtet hätte. An dieser Darstellung hielt Ram Dass fest. Er wußte nicht, wo Nuddea lag und besaß auch keine Freunde in Nuddea und wäre, selbst wenn man seinen Lohn verdoppelt hätte, unter keinen Umständen nach Nuddea gegangen.

Nuddea liegt in Bengalien, und ein im Pandschab angestellter Arzt hat nicht das Geringste mit Nuddea zu schaffen. Die Reise von dort nach Meridki mißt über zwölfhundert Meilen.

Dumoise marschierte ohne weiteren Aufenthalt bis Simla durch und kehrte von dort nach Meridki zurück, um den Kollegen abzulösen, der ihn während seiner Tour vertreten hatte. Es galt noch ein paar Rechnungen auszugleichen und einige Anweisungen des Generalarztes zu notieren, kurz, die Übernahme dauerte einen ganzen Tag. Am Abend erzählte Dumoise seinem Locum tenens – einem alten Freunde aus seiner Junggesellenzeit – was sich in Bagi ereignet hatte, und der Freund erklärte, Ram Dass hätte, wenn er schon einmal mit dergleichen Dingen anfange, doch ebensogut Tuticorin vorschlagen können.

Im gleichen Augenblick erschien der Telegraphenbote mit einem Telegramm aus Simla, in dem Dumoise angewiesen wurde, gar nicht erst die Station in Meridki zu übernehmen, sondern sofort in besonderer Mission nach Nuddea weiterzureisen. In Nuddea war eine häßliche Choleraepidemie ausgebrochen, und die bengalische Regierung hatte sich, wie immer, in Ermangelung der erforderlichen Anzahl Ärzte, eine Kraft aus dem Pandschab geborgt.

Dumoise warf das Telegramm über den Tisch weg dem anderen hin und fragte: »Nun?«

Der andere sagte gar nichts. Was sollte er schließlich auch sagen?

Dann fiel ihm ein, daß Dumoise ja auf dem Wege nach Bagi Simla hatte passieren müssen, und daß ihm dort vielleicht etwas von der bevorstehenden Versetzung zu Ohren gekommen wäre.

Er versuchte, die Frage und den dahinter stehenden Verdacht zu formulieren, aber Dumoise fiel ihm ins Wort: »Hätte ich das gewollt: ich wäre gar nicht erst aus Chini zurückgekehrt. Ich befand mich dort auf einer Jagdexpedition. Ich wünsche im Gegenteil weiterzuleben, da ich noch allerhand zu leisten habe … obwohl mir das andere ebenso lieb ist.«

Der Kollege neigte den Kopf und half Dumoise in der Abenddämmerung die eben erst geöffneten Koffer packen. Da trat Ram Dass mit der Lampe ein.

»Wohin reisen der Sahib?« fragte er.

»Nach Nuddea,« antwortete Dumoise leise.

Ram Dass umklammerte Dumoises Knie und Stiefel und flehte ihn an, nicht zu gehen. Ram Dass weinte und heulte, bis er aus dem Zimmer gewiesen werden mußte. Dann packte er seine Habseligkeiten zusammen und kehrte noch einmal zurück, um seinen Herrn um ein Zeugnis zu bitten. Er wollte nicht mit nach Nuddea, um dort seinen Sahib sterben zu sehen und vielleicht selbst sterben zu müssen.

So zahlte Dumoise ihm seinen Lohn und reiste allein nach Nuddea, nachdem der andere Arzt von ihm wie von einem zum Tode Verurteilten Abschied genommen hatte.

Elf Tage später gesellte sich Dumoise zu seiner Memsahib, und die bengalische Regierung mußte sich einen neuen Arzt borgen, um die Epidemie in Nuddea zu bekämpfen. Der erste lag tot in dem Chooadanga Dak-Bungalow.