24.

»Nun; ging es recht vergnügt zu?« frug sie mit schuldbewußtem und sanftem Ausdruck in den Zügen, ihm entgegentretend.

»Wie gewöhnlich,« versetzte er, sogleich mit einem einzigen Blick auf sie erkennend, daß sie in einer ihrer besten Stimmungen sei. Er war an diese Übergänge schon gewöhnt und heute ganz besonders erfreut davon, weil er selbst sich gleichfalls in bester Laune befand.

»Was sehe ich! So ist’s recht!« sagte er, auf die Koffer im Vorzimmer weisend.

»Ja, wir müssen abreisen, und es ist ganz gut, daß wir auf das Dorf wollen. Dich hält doch wohl nichts zurück?«

»Nur eines wünschte ich. Ich komme sogleich wieder, wir wollen dann sprechen, ich möchte mich nur umkleiden. Laß den Thee geben.«

Er begab sich in sein Kabinett.

Es hatte etwas Verletzendes darin gelegen, als er sagte, »so ist’s recht«; wie man zu einem Kinde spricht, wenn dieses aufgehört hat launisch zu sein; und noch verletzender war der Gegensatz zwischen dem schuldbewußten Tone bei ihr und dem selbstbewußten bei ihm; auf einen Augenblick empfand sie in sich den aufsteigenden Wunsch nach Kampf; allein indem sie sich selbst bezwang, erstickte sie denselben und begegnete Wronskiy noch immer so heiter.

Nachdem dieser wieder zu ihr gekommen war, erzählte sie ihm, teilweise die zurechtgelegten Worte wiederholend, davon, wie sie den Tag zugebracht hatte, sowie von ihren Plänen zur Abreise.

»Weißt du, es ist über mich fast wie eine Begeisterung gekommen,« sprach sie, »weshalb sollen wir hier auf die Scheidung warten? Geht das nicht ganz ebenso auf dem Dorfe? Ich kann nicht mehr länger warten, ich will nicht hoffen, nichts hören von der Scheidung. Ich habe beschlossen, daß dies keinen Einfluß mehr auf mein Leben ausüben soll. Bist du auch einverstanden?«

»O ja;« sagte er, ihr beunruhigt in das erregte Gesicht blickend.

»Was habt Ihr denn dort angegeben? Wer war dabei?« sagte sie.

Wronskiy nannte die Gäste. Es war ein vorzügliches Essen gegeben worden, eine Bootwettfahrt dazu und alles das war ganz hübsch ausgefallen, aber in Moskau thut man es nicht ohne ein ridicule. Es war auch eine Dame, eine Schwimmlehrerin der Königin von Schweden dabei aufgetreten und hatte ihre Kunst gezeigt.

»Wie? Sie schwamm?« frug Anna, sich verfinsternd.

»In einem roten costume de natation; sie war alt und häßlich. Aber wann reisen wir?«

»Welch thörichte Phantasie! Schwimmt sie denn in einer ganz besonderen Weise?« sagte Anna, ohne hierauf zu antworten.

»Durchaus nichts Besonderes war dabei; ich muß sogar sagen, es war ein furchtbarer Unsinn. Aber wenn also denkst du zu reisen?«

Anna schüttelte den Kopf, als wünsche sie, einen unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.

»Wenn wir reisen? Nun, je früher, um so besser. Morgen werden wir noch nicht fertig sein; aber übermorgen.«

»Ja – doch nein, halt. Übermorgen ist Sonntag, da muß ich zu maman,« sagte Wronskiy, in Verlegenheit geratend, weil er, sofort nachdem er den Namen der Mutter ausgesprochen hatte, ihren starr und argwöhnisch auf sich gerichteten Blick fühlte. Seine Verwirrung bestätigte ihr ihren Verdacht. Sie geriet in Wallung und entfernte sich von ihm. Jetzt war es nicht mehr die Lehrerin der Königin von Schweden, sondern die junge Fürstin Sorokina, welche mit der Gräfin Wronskaja zusammen auf einem Dorfe bei Moskau lebte, die vor Anna auftauchte.

»Du kannst doch morgen zu ihr fahren?« sprach sie.

»Nein, nein! In der Angelegenheit, in welcher ich zu ihr will – läßt sich ein Kreditschein und das Geld morgen nicht erhalten,« antwortete er. »Wenn dem so ist, so werden wir gar nicht reisen.«

»Warum das?«

»Ich werde nicht später abreisen. Entweder Montag oder gar nicht.«

»Aber warum?« sagte Wronskiy, wie mit Erstaunen. »Das hat doch gar keinen Sinn.«

»Für dich hat es keinen Sinn, weil du mit mir nichts zu thun hast. Du willst mein Leben nicht begreifen. Das einzige, was mich hier interessiert hat – war Hanna. Du sagst, dies sei eine Heuchelei. Du hast erst gestern gesagt – daß ich meine Tochter nicht liebte, sondern mich stellte, als ob ich diese Engländerin liebte – dies wäre unnatürlich. Ich möchte nun wissen, welches Leben hier für mich ein natürliches sein könnte!«

Einen Augenblick kam sie zur Besinnung und erschrak darüber, daß sie ihrem Vorsatz untreu geworden war. Aber obwohl sie wußte, daß sie sich damit verderbe, vermochte sie nicht mehr an sich zu halten; sie mußte ihm zeigen, wie ungerecht er war, sie konnte sich ihm nicht mehr unterordnen.

»Ich habe dies niemals gesagt; ich habe gesagt, daß ich dieser so plötzlichen Liebe nicht nachfühlen könnte.«

»Warum sprichst du, der mit seiner Offenheit prahlt, nicht die Wahrheit?«

»Ich prahle nie und spreche nie die Unwahrheit,« sprach er ruhig, den in ihm aufsteigenden Groll niederhaltend, »es ist sehr bedauerlich, wenn du mich nicht achtest« –

»Die Achtung hat man erdacht, um eine leere Stelle damit zu verdecken, auf welcher die Liebe sein müßte. Aber wenn du mich nicht mehr liebst, so ist es besser und ehrenhafter, dies auszusprechen.«

»Nein, das wird unerträglich!« rief Wronskiy, vom Stuhle aufstehend. Vor ihr stehen bleibend, sprach er dann langsam: »Weshalb stellst du meine Geduld auf die Probe?« Er sprach dies mit einem Ausdruck, als könnte er noch mehr sagen, halte aber an sich; »es giebt gewisse Grenzen!«

»Was wollt Ihr damit sagen?« rief sie, mit Schrecken auf den offenen Ausdruck von Haß schauend, der in seinem ganzen Gesicht, und besonders in den harten, drohenden Augen lag. »Ich will sagen,« begann er, stockte aber, »ich muß fragen, was Ihr von mir wollt?«

»Was könnte ich wollen? Ich könnte nur wollen, daß Ihr mich nicht vernachlässigt, wie Ihr es beabsichtigt« – sagte sie, vollkommen verstehend, was er nicht vollendet hatte, »aber das will ich nicht; das kommt erst in zweiter Reihe. Ich will Liebe, und diese giebt es nicht mehr. Vielleicht, daß alles schon vorbei ist.«

Sie schritt der Thür zu.

»Bleib – bleibe!« sagte Wronskiy, ohne seine finstere zusammengezogenen Brauen zu glätten, und ergriff sie bei der Hand. »Was ist denn eigentlich? Ich habe gesagt, daß die Abreise auf drei Tage verschoben werden muß, du hast mir darauf geantwortet, ich lüge und sei ein ehrloser Mensch!«

»Ja, und ich wiederhole, daß ein Mensch, der mir vorwirft, alles für mich geopfert zu haben« – sprach sie in der Erinnerung an die Worte eines anderen, früheren Streites – daß er schlimmer ist, ein Mensch ohne Herz, als ein ehrloser Mensch!«

»Nein; es giebt aber doch eine Grenze für die Geduld!« rief er aus, ihre Hand schnell loslassend.

»Er haßt mich, das ist klar,« dachte sie, und verließ schweigend, ohne sich umzublicken, mit unsicheren Schritten das Gemach. »Er liebt eine andere; das ist noch klarer,« sprach sie zu sich, in ihr Zimmer tretend, »ich will Liebe, aber die ist nicht mehr da. Vielleicht ist alles vorüber,« wiederholte sie mit den von ihr schon geäußerten Worten, »und wir müssen ein Ende machen. Aber wie?« frug sie sich und setzte sich in einem Sessel vor dem Spiegel. Gedanken daran, wohin sie jetzt fahren könnte – zu der Tante vielleicht, bei welcher sie erzogen worden war, zu Dolly, oder einfach ins Ausland, ferner daran, was er jetzt, allein in seinem Kabinett thun möge; ob dieser Streit ein entscheidender gewesen oder eine Aussöhnung noch möglich sei, sowie, was jetzt alle ihre früheren Petersburger Bekannten von ihr sagen würden, wie Aleksey Aleksandrowitsch die Sache betrachten würde; viele andere Ideen, was jetzt werden solle nach dem Bruch, kamen ihr in den Kopf, aber sie gab sich ihnen nicht mit ganzer Seele hin.

In ihrer Seele lebte ein unklarer Gedanke, der sie ausschließlich interessierte, doch konnte sie sich nicht klar darüber werden. Indem sie aber nochmals an Aleksey Aleksandrowitsch dachte, rief sie sich zugleich auch die Zeit ihrer Krankheit nach ihrer Niederkunft und jenes Gefühl wieder ins Gedächtnis zurück, welches sie damals nicht verlassen hatte »warum bin ich nicht gestorben«? und erkannte nun plötzlich das Gefühl, welches in ihrer Seele lebte. Ja; er war es, der Gedanke, der allein alles entschied, »sie mußte sterben«.

»Die Schmach und Schande Aleksey Aleksandrowitschs, Sergeys, und meine eigene furchtbare Schmach – das alles wird durch den Tod gesühnt. Sie wollte – sterben, er aber sollte bereuen, er muß Mitleid empfinden, Liebe, und soll meinethalben leiden!«

Mit beständigem Lächeln des Mitleids mit sich selbst saß sie in dem Lehnstuhl, die Ringe ihrer linken Hand abziehend und wieder aufsetzend, und sich lebhaft seine Gefühle nach ihrem Tode, von den verschiedenen Seiten aus, vorstellend.

Sich nähernde Schritte, es waren seine Schritte, zogen sie ab. Als wäre sie mit dem Weglegen ihrer Ringe beschäftigt, wandte sie sich nicht einmal nach ihm um.

Er trat zu ihr und ihre Hand ergreifend, sagte er leise:

»Anna, wir wollen übermorgen fahren, wenn du willst. Ich bin mit allem einverstanden.«

Sie schwieg.

»Nun?« frug er.

»Du weißt ja selbst,« sagte sie und brach sogleich, unfähig, noch länger an sich zu halten, in Schluchzen aus. »Verlaß mich, verlaß mich!« sprach sie unter Schluchzen, »ich werde morgen fortgehen – ich werde noch mehr thun! Wer bin ich noch? Ein lasterhaftes Weib, ein Stein auf deinem Wege. Ich will dich nicht quälen, ich will nicht, und werde dich befreien. Du liebst nicht, liebst eine andere!«

Wronskiy beschwor sie, sich zu beruhigen und beteuerte, daß es doch gar keinen Anlaß zur Eifersucht für sie gäbe, daß er niemals aufgehört habe oder aufhören werde, sie zu lieben, und sie noch mehr liebe, als je zuvor.

»Anna, wozu sollen wir uns beide so quälen?« sagte er, ihr die Hände küssend. In seinen Zügen malte sich jetzt Zärtlichkeit und ihr schien es, als vernehme sie mit ihrem Ohr einen Klang von Thränen in seiner Stimme, als verspüre sie das Feuchte dieser Thränen auf ihrer Hand, und augenblicklich ging die verzweiflungsvolle Eifersucht Annas in eine verzweiflungsvolle, leidenschaftliche Zärtlichkeit über. Sie umfing ihn und bedeckte ihm Kopf, Hals und Hände mit Küssen.

9.

Der alte vernachlässigte Palazzo mit den hohen bossierten Plafonds und Fresken an den Wänden, Mosaikboden und schweren gelben Stoffgardinen an den hohen Fenstern; Vasen auf den Konsolen und Kaminen, geschnitzten Thüren und dämmerigen Sälen, die mit Gemälden vollgehängt waren – dieser Palazzo hielt, nachdem sie in ihn übergesiedelt waren, schon in seiner äußeren Erscheinung in Wronskiy eine angenehme Täuschung wach, die, daß er weniger ein russischer Gutsherr und Stallmeister ohne Amt sei, als vielmehr ein erlauchter Liebhaber und Kunstmäcen, und er selbst – ein bescheidener Künstler, der sich von der Welt losgesagt hatte, von seinen Verbindungen und dem Ehrgeiz – für ein geliebtes Weib.

Die Rolle, welche Wronskiy mit seinem Umzug in den Palazzo erwählt hatte, gelang vollständig und durch Vermittlung Golenischtscheffs mit einigen interessanten Personen bekannt geworden, fühlte er sich für die Anfangszeit beruhigt. Er malte unter der Leitung eines italienischen Professors der Malerei Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem Kunstleben Italiens im Mittelalter. Das mittelalterliche Kunstleben Italiens hatte für Wronskiy in letzter Zeit soviel Reiz gewonnen, daß dieser selbst einen Hut und das Plaid über der Schulter nach der mittelalterlichen Mode zu tragen begann, was ihm sehr gut stand.

»Da leben wir hier und wissen gar nichts davon,« sagte eines Tages Wronskiy zu Golenischtscheff, der früh zu ihm gekommen war. »Hast du das Gemälde Michailoffs gesehen?« Er reichte die am Morgen soeben erhaltene russische Zeitung hin, und wies auf einen Artikel über einen russischen Maler, der in der nämlichen Stadt lebte und hier ein Gemälde ausgeführt hatte, über welches schon lange Gerüchte umliefen und das schon im voraus angekauft worden war.

In dem Aufsatz wurden der Regierung und der Akademie Vorwürfe gemacht, daß der vorzügliche Künstler jeder Aufmunterung und Unterstützung entbehre.

»Ich habe das Bild gesehen,« antwortete Golenischtscheff, »natürlich ist er nicht talentlos, aber er verfolgt eine vollständig verkehrte Richtung; das ist noch immer jene Richtung Iwanoff-Strauß-Rénan, Christus und der kirchlichen Malerei gegenüber.«

»Was stellt das Gemälde dar?« frug Anna.

»Christus vor Pilatus. Christus ist als Hebräer mit allem Realismus der neuen Schule dargestellt« – durch die Frage nach dem Inhalt des Gemäldes auf eines seiner Lieblingsthemen gebracht, begann Golenischtscheff zu erklären.

»Ich begreife nicht, wie man einem so groben Irrtum verfallen kann. Christus hat doch schon seine bestimmte Verkörperung in der Kunst der größten Altmeister. Wenn man nicht Gott darstellen will, sondern einen Revolutionär oder Weisen, so mag man sich den Sokrates aus der Geschichte wählen, den Franklin, die Charlotte Corday – aber nur nicht Christus. – Man nimmt da aber gerade diejenige Gestalt, die man für die Kunst nicht nehmen soll, und dann« –

»Aber ist es denn wahr, daß sich dieser Michailoff in so großer Armut befindet?« frug Wronskiy in dem Gedanken, daß er, als russischer Mäcen, ohne Rücksicht darauf, ob das Gemälde gut oder schlecht sei, dem Künstler helfen könne.

»Kaum; er ist ein bedeutender Porträtmaler. Ihr habt wohl sein Porträt der Wasiljtschikowa gesehen? Er scheint indessen nicht mehr Porträts malen zu wollen, und kann es allerdings möglich sein, daß er sich wirklich in Not befindet. Ich sage, daß« –

»Könnte man ihn nicht bitten, ein Porträt der Anna Arkadjewna zu malen?« sagte Wronskiy.

»Weshalb meines?« fiel Anna ein, »außer dem deinigen möchte ich kein anderes haben. Oder noch besser wäre Any« – so nannte sie ihr kleines Mädchen – »da ist sie gerade,« fügte sie hinzu, durch das Fenster auf eine hübsche italienische Amme schauend, welche das Kind in den Garten trug, und dann sorglich verstohlen auf Wronskiy blickend.

Die hübsche Amme, deren Kopf Wronskiy für sein Gemälde porträtiert hatte, bildete das einzige geheime Leid im Leben Annas. Wronskiy hatte sie gemalt, sich in ihre Anmut und Mittelalterlichkeit verliebt, und Anna wagte nicht, sich zu gestehen, daß sie fürchtete, sie könne auf diese Amme eifersüchtig werden. Infolge dessen behandelte sie dieselbe ausnehmend gut und verzärtelte sie sogar, ebenso wie den kleinen Sohn derselben.

Wronskiy blickte ebenfalls durch das Fenster und dann Anna in die Augen, wandte sich jedoch hierauf sogleich wieder zu Golenischtscheff und sagte:

»Kennst du diesen Michailoff?«

»Ich bin ihm begegnet, doch ist er ein Sonderling und ohne jede Bildung. Wißt Ihr, er ist einer jener Wilden, jener Neuerer, die man jetzt so häufig trifft; einer jener Freidenker, welche d’emblée, in den Begriffen des Unglaubens, der Regierung und des Materialismus aufgezogen sind. Früher,« fuhr Golenischtscheff fort, ohne zu bemerken, oder bemerken zu wollen, daß auch Wronskiy und Anna zu reden wünschten, »früher war ein Freidenker ein Mensch, der in den Begriffen Religion, Gesetz und Moral erzogen worden, und selbst durch Kampf und Mühe zum Freidenkertum gelangt war; jetzt zeigt sich ein neuer Typus der selbstgewordenen Freidenker, welche emporwachsen, ohne auch nur davon gehört zu haben, daß es Gesetze der Moral, der Religion giebt, und daß Autoritäten existieren; solcher, die eben geradezu in den Begriffen des absoluten Nein, das heißt also, wie Wilde aufwachsen. So Einer ist er nun; der Sohn eines höheren Moskauer Lakaien wohl, der keinerlei Bildung empfangen hat. Nachdem er in die Akademie eingetreten war und sich einen Namen gemacht hatte, begann er, gerade kein Dummkopf, das Bedürfnis nach Bildung zu fühlen. Er wandte sich daher zu dem, was ihm als Quelle der Bildung erschien – zu den Journalen. Man bedenke nur, in der alten Zeit hätte ein Mensch, der sich bilden wollte, nehmen wir an, ein Franzose, alle Klassiker studieren müssen: die Theologen, Tragiker, Historiker und Philosophen; man bedenke die geistige Arbeit, die ihm da obgelegen haben würde. Jetzt aber, bei uns, ist er geradenwegs auf die oppositionelle Litteratur gestoßen, hat sich schnell den ganzen Extrakt der Verneinungswissenschaft zu eigen gemacht – und ist fertig! Vor zwanzig Jahren würde er in dieser Litteratur die Kennzeichen eines Kampfes mit der Autorität, mit hundertjährigen Anschauungen gefunden haben, er würde aus diesem Kampfe erkannt haben, daß es noch etwas Anderes gebe, jetzt aber verfällt er geradenwegs einer Litteratur, in welcher man die alten Anschauungen nicht einmal mehr einer Bekämpfung würdigt, sondern unverhohlen heraussagt, ,das ist nichts mehr, évolution, Kampf ums Dasein!‘ Ich habe in meiner Abhandlung« –

»Wißt Ihr was,« sagte Anna, die schon lange aufmerksame Blicke mit Wronskiy gewechselt hatte, und wußte, daß diesen der Bildungsgang des Künstlers nicht interessierte, sondern nur der Gedanke beschäftigte, ihm zu helfen, ihm ein Porträt zuzuweisen: »Wißt Ihr was?« unterbrach sie den sich im Redefluß verlierenden Golenischtscheff, »wir wollen zu ihm gehen!«

Golenischtscheff sammelte sich und stimmte bereitwillig zu, da jedoch der Künstler in einem entfernteren Viertel wohnte, beschloß man einen Wagen zu nehmen.

Nach Verlauf einer Stunde fuhren Anna die neben Golenischtscheff saß, und Wronskiy, der auf dem Vordersitz des Wagens Platz genommen hatte, vor einem neuen, unschön aussehenden Gebäude in dem abgelegenen Stadtviertel vor. Nachdem sie von der heraustretenden Frau des Hausmanns erfahren hatten, daß Michailoff den Zutritt zu seinem Atelier wohl gewähre, augenblicklich aber sich in seiner Privatwohnung, die wenige Schritte entfernt lag, befinde, so sandten sie ihm ihre Karten mit der Bitte um die Erlaubnis, seine Gemälde sehen zu dürfen.

25.

In dem Gefühl, daß die Aussöhnung eine vollständige war, beschäftigte sich Anna vom andern Morgen ab munter mit den Anstalten zur Abreise.

Obwohl noch gar nicht beschlossen war, ob man Montag oder Dienstag reisen würde, da beide sich gestern gegenseitig Konzessionen gemacht hatten, bereitete sich Anna eifrig auf die Abreise vor, jetzt vollkommen gleichgültig dem gegenüber, ob man früh öder spät am Tage abreiste. Sie stand eben in ihrem Zimmer vor einem geöffneten Schranke, und nahm Sachen heraus, als er bereits angekleidet, früher als gewöhnlich, bei ihr eintrat.

»Ich muß sofort zu maman, fahren; sie kann mir das Geld durch Jegoroff übersenden. Morgen bin ich dann bereit zu reisen,« sagte er.

Mochte sie nun auch noch so gut gelaunt sein, die Erwähnung der Abreise auf den Landsitz schnitt ihr ins Herz.

»O, auch ich beeile mich nicht,« sagte sie, dachte aber sogleich: vielleicht ist es doch noch möglich, es so einzurichten, daß man thut wie ich wünschte. – »Nein, thu‘ wie du willst! Geh‘ in den Speisesalon, ich werde sogleich auch kommen und will nur noch diese überflüssigen Sachen herauslegen,« sprach sie, noch etwas auf Annuschkas Arme packend, auf welcher bereits ein Berg Leinen ruhte.

Wronskiy verzehrte gerade sein Beafsteak, als sie in den Speisesalon trat.

»Du glaubst nicht, wie kalt mich diese Gemächer lassen,« sagte sie, sich neben ihm zu ihrem Kaffee setzend. »Es giebt doch nichts Schrecklicheres als diese chambres garnies. Es liegt kein Ausdruck, keine Seele in ihnen. Diese Uhren, Gardinen, und namentlich diese Tapeten – sind wie ein Alp. – Ich gedenke Wosdwishenskojes, wie des gelobten Landes. Du hast noch keine Pferde hergeschickt?«

»Nein; sie werden kommen wenn wir fort sind. Fährst du noch einmal aus?«

»Ich wollte noch zur Wilson; ich muß ihr Kleider bringen. Also morgen ist es gewiß?« sprach sie mit heiterer Stimme; doch plötzlich veränderte sich ihr Antlitz.

Der Kammerdiener Wronskiys kam, um sich die Unterschrift für ein Telegramm aus Petersburg auszubitten.

Es war nichts Besonderes in der Empfangnahme einer Depesche seitens Wronskiys, aber gleichwohl sagte dieser, als wünschte er etwas vor ihr zu verheimlichen, er wolle im Kabinett unterschreiben, und wandte sich dann hastig zu ihr.

»Gewiß werde ich morgen mit allem in Ordnung sein.«

»Von wem war die Depesche?« frug sie, ohne ihn zu hören.

»Von Stefan,« antwortete er gezwungen.

»Warum hast du mir sie nicht gezeigt? Welches Geheimnis kann es zwischen Stefan und mir geben?«

Wronskiy rief den Kammerdiener zurück und befahl, die Depesche zu bringen.

»Ich wollte sie dir nicht zeigen, weil Stefan eine Leidenschaft hat, zu telegraphieren. Wozu telegraphieren, wenn nichts entschieden ist?«

»Über die Scheidung?«

»Ja. Doch er schreibt, er habe noch nichts erreichen können. Kürzlich versprach er einen entgültigen Bescheid. Da lies.«

Mit bebenden Händen ergriff Anna die Depesche und las noch einmal das, was Wronskiy gesagt hatte. Am Schluß war noch hinzugefügt »es ist wenig Hoffnung vorhanden, aber ich werde alles Mögliche und Unmögliche thun.«

»Ich habe gestern gesagt, daß es mir vollkommen gleichgültig ist, wann ich die Scheidung erhalte, ja, selbst, ob ich sie erhalte,« sprach sie errötend. »Es lag aber doch keine Notwendigkeit vor, mir etwas zu verheimlichen. So kann er auch vor mir seine Korrespondenz mit Frauen verheimlichen, und er verheimlicht sie auch,« dachte sie dabei.

»Jaschwin wollte heute früh mit Woytoff herkommen,« sagte Wronskiy, »es scheint, daß er Pjevzoff alles abgewonnen hat, ja, sogar noch mehr, als dieser bezahlen kann; einige sechzigtausend Rubel.«

»Nein,« versetzte sie, erzürnt darüber, daß er mit diesem Wechsel des Themas so augenfällig zu verstehen gab, daß sie gereizt sei, »weshalb glaubst du, daß diese Nachricht mich so interessiert, daß man sie sogar zu verbergen hätte? Ich habe gesagt, daß ich nicht daran denken mag, und wünschte, du möchtest ebensowenig davon interessiert werden, wie ich.«

»Ich interessiere mich nur deshalb dafür, weil ich Klarheit liebe,« sagte er.

»Klarheit liegt nicht in der Form, sondern in der Liebe,« sagte sie, mehr und mehr in Erregung geratend, aber nicht durch seine Worte, sondern durch den Ton kalter Ruhe, mit welchem er sprach. »Weshalb wünschest du Klarheit?«

»Mein Gott! Wieder die Liebe!« dachte er, finster werdend. »Du weißt doch, wozu? Für dich, und für die Kinder, welche kommen werden,« sagte er.

»Kinder wird es nicht geben.«

»Das ist sehr bedauerlich,« sagte er.

»Dir ist sie erforderlich für die Kinder, aber an mich denkst du nicht,« sprach sie, vollständig vergessend und überhörend, daß er gesagt hatte »für dich und für die Kinder«. –

Die Frage nach der Möglichkeit, ob sie noch Kinder haben würden, hatte für sie seit Langem eine Streitfrage gebildet, die sie erbitterte. Seinen Wunsch, Kinder zu haben, legte sie sich dahin aus, daß er ihre Schönheit nicht schätze.

»O, ich sagte doch für dich! Vor allem für dich,« wiederholte er, sich wie unter einem Schmerzgefühl verfinsternd, »weil ich überzeugt bin, daß ein großer Teil deiner Gereiztheit von der Unbestimmtheit unserer Lage herrührt.«

»Ja, jetzt hat er aufgehört, sich zu verstellen und alle seine kalte Gehässigkeit gegen mich ist nun sichtbar,« dachte sie, seine Worte nicht vernehmend, aber mit Schrecken auf den kalten, harten Richter blickend, der, mit ihr Spott treibend, aus seinen Augen herausschaute. »Dies ist nicht der Grund,« sagte sie, »ich begreife selbst nicht, daß der Grund meiner Gereiztheit – wie du es nennst, der sein kann, mich vollständig in deiner Gewalt zu befinden. Was für eine Unbestimmtheit der Lage giebt es hierbei? Im Gegenteil.«

»Es ist sehr bedauerlich, daß du nicht verstehen willst.« unterbrach er sie, beharrlich in dem Wunsche, seinen Gedanken auszusprechen, »die Unbestimmtheit liegt darin, daß dir scheint, als wäre ich frei.«

»Diesbezüglich kannst du ganz ruhig sein,« sagte sie, und begann, indem sie sich von ihm abwandte, ihren Kaffee zu trinken.

Sie hob die Tasse, und führte sie, den kleinen Finger von sich streckend zum Munde. Nachdem sie einige Schlucke genommen, blickte sie ihn an. An dem Ausdruck seines Gesichts erkannte sie klar, daß ihm ihre Hand und ihre Geste zuwider war, wie das Geräusch, welches sie mit den Lippen verursacht hatte.

»Mir ist alles vollständig gleichgültig, was deine Mutter denkt, und wie sie dich verheiraten will,« sagte sie, mit zitternder Hand die Tasse niedersetzend.

»Davon sprechen wir ja aber gar nicht.«

»O, eben davon; und glaube mir, daß für mich ein Weib ohne Herz – sei es alt oder nicht alt, deine Mutter oder eine Fremde – ohne Interesse ist, und ich es nicht kennen mag!«

»Anna, ich bitte dich, nicht unehrerbietig von meiner Mutter zu reden.«

»Ein Weib, welches nicht mit seinem Herzen erraten hat, worin das Glück und die Ehre des Sohnes beruht – hat kein Herz.«

»Ich wiederhole meine Bitte, nicht unehrerbietig von meiner Mutter zu sprechen, die ich achte,« sagte er, seine Stimme hebend und sie streng anblickend.

Sie antwortete nicht. Starr schaute sie ihn an, sein Gesicht, seine Hände; sie rief sich die gestrige Versöhnungsscene mit allen ihren Einzelheiten ins Gedächtnis zurück, sowie seine leidenschaftlichen Liebkosungen. »Ganz die nämlichen Liebkosungen hat er an andere Weiber verschwendet, er wird es weiterhin thun, er will es thun,« dachte sie.

»Du liebst deine Mutter nicht. – Das sind alles Phrasen, nur Phrasen!« – sprach sie, ihn haßerfüllt anblickend.

»Wenn es so allerdings steht, dann heißt es« –

– »Zu einem Entschluß kommen; und ich bin entschlossen;« sagte sie und wollte gehen, doch gerade trat Jaschwin ins Zimmer. Anna begrüßte ihn und blieb.

Warum sie, während in ihrer Seele ein Sturm tobte, und sie fühlte, daß sie auf einem Wendepunkt ihres Lebens stehe, der furchtbare Folgen haben könne – warum sie sich während dieser Minute vor einem fremden Menschen verstellen mußte, der früher oder später ja doch alles erfahren würde, – sie wußte es nicht, sondern ließ sich, den Sturm in sich beschwichtigend, sogleich nieder und begann mit dem Besuch zu konversieren.

»Nun, wie steht es mit Eurer Angelegenheit; habt Ihr eine Schuldverschreibung erhalten?« frug sie Jaschwin.

»Nicht der Rede wert. Mir scheint, daß ich nicht alles erhalten werde, ich muß Mittwoch verreisen. Wenn reist Ihr?« antwortete dieser, mit den Augen zwinkernd und Wronskiy anblickend. Er erriet augenscheinlich, daß ein Zwist obgewaltet hatte.

»Übermorgen wahrscheinlich,« sagte Wronskiy.

»Ihr bereitet Euch übrigens schon seit Langem darauf vor.«

»Jetzt ist es jedoch beschlossen,« sprach Anna, Wronskiy gerade ins Auge schauend, mit einem Blick, der diesem sagte, er solle nicht mehr an die Möglichkeit einer Aussöhnung denken. »Thut Euch denn dieser unglückliche Pjevzoff nicht leid?« setzte sie dann ihr Gespräch mit Jaschwin fort.

»Ich habe mich noch nie gefragt, Anna Arkadjewna, ob mir etwas leid thut oder nicht. Hier ist mein ganzes Vermögen« – er wies auf seine Seitentasche – »und jetzt bin ich ein reicher Mann. Heute fahre ich in den Klub, um ihn vielleicht als Bettler wieder zu verlassen. Wird mich doch jeder der sich mit mir zum Spiel niedersetzt, auch bis aufs Hemd ausplündern, so wie ich es mit ihm mache. Wir kämpfen eben miteinander – und darin liegt das Vergnügen.«

»Aber wenn Ihr nun verheiratet wäret,« sagte Anna, »was würde da aus Eurer Frau.«

Jaschwin brach in Gelächter aus.

»Eben deshalb habe ich auch nicht geheiratet, mir dies auch niemals vorgenommen!«

»Und Helsingfors?« frug Wronskiy, sich in die Unterhaltung mischend und Anna, welche lächelte, anblickend. Seinem Blick begegnend, nahm das Antlitz Annas plötzlich einen kalten, strengen Ausdruck an, als wollte sie ihm sagen, »es ist nichts vergessen; es ist noch beim Alten.«

»Aber Ihr seid doch gewiß einmal verliebt gewesen?« wandte sie sich zu Jaschwin.

»O Gott, wie oft. Aber – merkt wohl auf, es kann sich einer zum Spiel setzen, um stets dann davon aufzustehen, sobald die Zeit des Rendezvous kommt – ich kann mich zwar auch mit der Liebe beschäftigen, doch immer nur so, daß ich abends die Partie nicht versäume. So halte ich es.«

»Darnach frage ich nicht; sondern nach dem, um was es sich jetzt handelt;« sie wollte sagen »Helsingfors,« das Wort aber nicht aussprechen, welches von Wronskiy gesprochen worden war.

Es kam nun Wojtoff, welcher einen Hengst gekauft hatte; Anna erhob sich und verließ das Zimmer.

Bevor Wronskiy von Hause wegfuhr, trat er noch bei ihr ein. Sie wollte sich stellen, als suchte sie Etwas auf dem Tische, blickte ihm aber, von ihrer Heuchelei beschämt, offen und mit kühlem Blick ins Antlitz.

»Was wollt Ihr?« frug sie ihn auf französisch.

»Das Attestat über den Gambetta holen. Ich habe ihn verkauft,« sprach er in einem Tone, der deutlicher als Worte ausdrückte, »ich habe mich durchaus nicht zu erklären und es würde dies auch zu nichts führen. Ich trage doch keine Schuld ihr gegenüber,« dachte er, »wenn sie sich selbst bestrafen will, tant pis pour elle!« Im Hinausgehen aber schien ihm, als habe sie etwas gesagt und sein Herz regte sich plötzlich in Mitleid für sie.

»Was ist, Anna?« frug er.

»Ich sagte nichts,« antwortete sie immer noch so kalt und ruhig.

»Ah, nichts, dann – tant pis,« dachte er, wieder kühl werdend, wandte sich und ging. Indem er hinausschritt, erblickte er im Spiegel ihr Gesicht, bleich, mit bebenden Lippen. Er wollte nun wohl stehen bleiben und ihr ein tröstendes Wort sagen, doch seine Füße trugen ihn aus dem Zimmer, schneller, als er sich ausgedacht hatte, was er sagen sollte. Diesen ganzen Tag brachte er außerhalb des Hauses zu; als er spät Abends heimkehrte, sagte ihm die Zofe, daß Anna Arkadjewna Kopfweh habe und bitten lasse, sie nicht zu besuchen.

16.

In der zehnten Stunde saßen der alte Fürst, Sergey Iwanowitsch und Stefan Arkadjewitsch bei Lewin. Nachdem man über die Wöchnerin gesprochen hatte, unterhielt man sich auch über nebensächliche Dinge.

Lewin hörte ihnen zu und dachte unwillkürlich bei diesen Gesprächen der Vergangenheit, dessen, was bis zum heutigen Morgen geschehen war; er vergegenwärtigte sich auch, wie er sich noch gestern dazu gestellt hatte. Es war ihm, als seien seit dieser Zeit hundert Jahre vergangen. Er fühlte sich auf einer gewissen unzugänglichen Höhe, von welcher er sich vorsorglich herabließ, um diejenigen nicht zu verletzen, mit denen er sprach. Er sprach, und dachte dabei fortwährend seines Weibes, der Einzelheiten ihres jetzigen Zustandes, und seines Sohnes, und suchte sich an den Gedanken seines Vorhandenseins zu gewöhnen. Die ganze Welt des Weiblichen, welche für ihn eine neue, ihm unbekannt gewesene Bedeutung erlangt hatte, seitdem er verheiratet war, erhob sich jetzt in seinem Begriffsvermögen so hoch, daß er sie mit seiner Vorstellungskraft nicht mehr zu umfassen vermochte. Er hörte ans das Gespräch über ein Essen am gestrigen Tag im Klub und dachte dabei »wie mag es jetzt mit ihr stehen, ob sie eingeschlafen ist? Wie mag sie sich befinden? Was mag sie denken? Schreit der kleine Dmitry?« Und mitten in der Unterhaltung sprang er auf und verließ das Zimmer.

»Man hat mir gemeldet, man kann zu ihr,« sagte der Fürst. »Gut; sogleich« – antwortete Lewin, und ging ohne Verzug zu ihr.

Sie schlief nicht und sprach leise mit ihrer Mutter, Pläne über die bevorstehende Taufe entwerfend.

Geputzt, frisiert und in einem zierlichen Häubchen mit blauem Band, die Hände auf der Bettdecke ausgestreckt, lag sie auf dem Rücken, und winkte ihn mit dem Blick zu sich, indem sie dem seinigen begegnete. Ihr Blick, schon ohnehin hell, wurde noch lichter im Maße, als er sich ihr näherte. Auf ihrem Gesicht lag jene Wandlung vom Irdischen zum Überirdischen, welche auf dem Gesicht Verstorbener zu liegen pflegt. Dort aber liegt Vergebung darauf; hier ein Wunsch nach Begegnung. Wiederum trat ihm jene Wallung, ähnlich derjenigen, die er in den Augenblicken der Niederkunft empfunden hatte, ans Herz. Sie nahm ihn bei der Hand und frug, ob er geschlafen habe. Er konnte nicht antworten und wandte sich ab, von seiner Schwäche übermannt.

»Ich habe mich vergessen, mein Konstantin,« sagte sie zu ihm, »doch jetzt befinde ich mich recht wohl.« Sie schaute ihn an, doch plötzlich veränderte sich ihr Ausdruck. »Gebt ihn mir her,« sprach sie, das Wimmern des Kindes vernehmend. »Gebt ihn her, Lisabetha Petrowna, er soll ihn sehen.«

»Hier, der Papa muß ihn sehen,« sagte Lisabetha Petrowna, ein rotes, seltsames, sich bewegendes Etwas emporhebend und herbeibringend; »doch halt, wir wollen ihn erst putzen,« und Lisabetha Petrowna legte dieses sich bewegende, rote Ding auf das Bett, wickelte das Kind auf, und wickelte es wieder zu, nachdem sie es mit einem Finger aufgehoben, umgewendet, und es mit irgend etwas bestreut hatte.

Lewin machte, indem er dieses einzige, klägliche Wesen ansah, vergebliche Anstrengungen, in seiner Seele einige Kennzeichen von Vatergefühl für dasselbe zu entdecken. Er empfand nur Ekel vor ihm. Nachdem es jedoch der Hüllen entledigt war, die zarten Armchen, Füßchen, die wie Saffran aussahen, sichtbar wurden, mit den kleinen Fingerchen, selbst mit dem Daumen, der sich vor den anderen auszeichnete, und als er wahrnahm, wie Lisabetha Petrowna – als wären es weiche Sprungfedern – die gespreizten Armchen andrückte, indem sie sie in ein leinenes Jüpchen steckte, überkam ihn ein solches Mitleid mit diesem Wesen, und eine solche Angst, sie könne demselben schaden, daß er sie an der Hand festhielt.

Lisabetha Petrowna lachte.

»Habt keine Angst; habt keine Angst!«

Nachdem das Kind angezogen und zu einer drallen Puppe umgewandelt worden war, wälzte es Lisabetha Petrowna, als sei sie stolz auf ihr Werk, und trat dann zurück, damit Lewin den Sohn in seiner ganzen Schönheit sehen könne.

Kity schaute unverwandt gleichfalls nach ihm hin.

»Reicht ihn her, reicht ihn her!« sagte sie und wollte sich sogar erheben.

»Was macht Ihr, Katharina Aleksandrowna, solche Bewegungen dürft Ihr nicht machen! Wartet nur, ich werde ihn Euch schon geben. Jetzt wollen wir uns aber erst Papa zeigen, wie hübsch wir sind.«

Und Lisabetha Petrowna erhob auf dem einen Arme – der andere stützte nur mit den Fingern das noch haltlose Genick – dieses seltsame, zappelnde, seinen Kopf unter dem Saum der Windel verbergende rote Wesen. Doch es hatte auch eine Nase, schielende Äugen und schmatzende Lippen.

»Ein schönes Kind!« sagte Lisabetha Petrowna.

Lewin seufzte voll Ingrimm. Dieses schöne Kind flößte ihm nur das Gefühl des Abscheues und des Mitleids ein. Das war durchaus nicht das Gefühl, welches er erwartet hatte.

Er wandte sich ab, wahrend Lisabetha Petrowna das Kind an die noch nicht gewohnte Brust zu legen suchte. Ein Lachen ließ ihn plötzlich den Kopf heben. Kity hatte gelacht. Das Kind hatte sich an ihre Brust gemacht.

»Genug, genug nun!« sagte Lisabetha Petrowna, doch Kity ließ es nicht von sich. Es schlief in ihren Armen ein.

»Sieh jetzt her,« sprach Kity, ihm das Kind so zuwendend, daß er es sehen konnte. Das ältlich aussehende Gesichtchen runzelte sich plötzlich noch mehr; das Kind nieste.

Lächelnd und mit Mühe die Thränen zurückhaltend, küßte Lewin sein Weib und verließ das verdunkelte Gemach.

Was er für dieses kleine Geschöpf empfand, war durchaus nicht das, was er erwartet hatte. Nichts Heiteres und Freudiges lag in diesem Gefühl; im Gegenteil, es verursachte ihm eine ungewohnte, peinliche Angst; die Erkenntnis eines neuen Gebietes, auf dem er verwundbar war. Diese Erkenntnis war ihm in der ersten Zeit so peinlich, die Angst davor, daß dieses hilflose Wesen nicht litte, war so stark, daß infolge derselben die Empfindung einer ungemessenen Freude, selbst des Stolzes, die er hatte, als das Kind nieste, gar nicht bemerkbar wurde.

17.

Die Verhältnisse Stefan Arkadjewitschs hatten sich sehr verschlechtert. Die Gelder für zwei Drittel des Waldes waren bereits verlebt, und das dritte Drittel hatte er unter einem Zinsenabzug von zehn Prozent bei dem Kaufmann schon im voraus fast ganz erhoben. Der Kaufmann gab kein Geld mehr her, umsoweniger, als sich in diesem Winter Darja Aleksandrowna, zum erstenmale rückhaltlos ihre Rechte auf ihr Vermögen geltend machend, geweigert hatte, einen Kontrakt über den Empfang des Betrages für das letzte Drittel des Waldes zu unterschreiben.

Der ganze Gehalt ging für die häuslichen Ausgaben, sowie für die Begleichung der kleinen Forderungen auf, die sich nicht aufschieben ließen. An Geld war vollständige Ebbe eingetreten.

Das war unangenehm, peinlich, und konnte nach der Meinung Stefan Arkadjewitschs nicht so fortgehen. Die Ursache lag nach seiner Auffassung darin, daß er einen zu geringen Gehalt bezog. Das Amt, welches er bekleidete, war offenbar sehr gut gewesen vor fünf Jahren, jetzt aber war dem nicht mehr so. Petroff, der Bankdirektor, hatte zwölftausend Rubel; Swentizkiy, ein Mitglied der Gesellschaft, hatte siebzehntausend, und Mitin, der die Bank gegründet hatte, bezog fünfzigtausend Rubel. »Offenbar habe ich geschlafen und man hat mich vergessen,« dachte Stefan Arkadjewitsch bei sich, und fing nun an, das Ohr zu spitzen, und um sich zu schauen, und gegen das Ende des Winters hin hatte er eine sehr gute Stelle erspäht, auf welche er nun eine Attake machte; zuerst von Moskau aus, mit Hilfe seiner Tanten, Onkel und Freunde, dann aber, nachdem die Sache reif geworden, fuhr er mit dem Frühling selbst nach Petersburg. Es war eines jener Ämter, deren jetzt, mit Einkünften von ein bis zu fünfzigtausend Rubel jährlich Gehalt, mehr geworden sind, als früher vorhanden waren, behagliche, sportelfette Ämter. Es war die Stellung eines Mitglieds in der Kommission der vereinigten Agentur der Kreditaktien-Bilanz der südlichen Eisenbahnen und Bankinstitute. Dieses Amt forderte, wie alle derartigen Stellungen, so ungeheure Kenntnisse, solche Thätigkeit, daß es schwer war, es in einem einzelnen Menschen zu vereinigen.

Da nun ein solcher Mann, der diese Eigenschaften in sich vereinigte, nicht vorhanden war, war es immer noch das beste, wenn das Amt ein ehrenhafter Mann bekleidete, als ein unehrenhafter. Stefan Arkadjewitsch aber war nicht nur ein Ehrenmann – ohne Betonung – sondern er war ein ehrlicher Mensch – mit Betonung – in jenem eigentümlichen Sinne, den dieses Wort in Moskau besitzt, wenn man sagt: Ein ehrlicher Beamter, Schriftsteller, ein ehrliches Journal, eine solide Unternehmung, ehrliche Richtung; und welcher nicht nur andeutet, daß ein Mensch oder eine Institution nicht unehrenhaft ist, sondern auch, daß dieselben fähig sind, bei Gelegenheit der Regierung einen Stich zu versetzen.

Stefan Arkadjewitsch verkehrte in Moskau in denjenigen Kreisen, in denen dieses Wort eingeführt war, in denen er als ehrenhafter Mann angesehen wurde und demgemäß mehr Anrechte auf diese Stellung hatte, als andere.

Das Amt warf jährlich von sieben bis zu zehntausend Rubel ab und Oblonskiy konnte es bekleiden, ohne dabei seinen Regierungsposten aufzugeben. Es hing von zwei Ministerien ab, von einer Dame und zwei Juden, und alle diese Leute mußte Stefan Arkadjewitsch – obwohl sie schon vorbereitet waren – in Petersburg besuchen. Außerdem hatte er seiner Schwester Anna versprochen, von Karenin eine bestimmte Antwort betreffs der Ehescheidung zu erlangen.

Nachdem er sich von Dolly fünfzig Rubel erbeten hatte, fuhr er nach Petersburg.

In dem Kabinett Karenins sitzend, und dessen Projekt betreffs des schlechten Zustandes der russischen Finanzen anhörend, wartete Stefan Arkadjewitsch nur auf die Minute, wo Karenin enden würde, um von seiner Angelegenheit und von Anna zu beginnen.

»Ja, das ist sehr wichtig,« sagte er, als Aleksey Aleksandrowitsch sein Pincenez abnahm, ohne welches er jetzt nicht mehr lesen konnte, und fragend seinen ehemaligen Schwager anschaute, »das ist sehr richtig in den Einzelheiten, aber bei alledem ist doch das Prinzip unserer Zeit – die Freiheit.«

»Ich stelle aber eben ein anderes Prinzip auf, welches das Prinzip der Freiheit mit einschließt,« sprach Aleksey Aleksandrowitsch, das Wort »einschließt« betonend und das Pincenez wieder aufsetzend, um noch einmal seinem Zuhörer die Stelle vorzulesen, in welcher eben dies gesagt war.

Das schöngeschriebene Manuskript mit den großen weißen Rändern durchblätternd, las Aleksey Alesandrowitsch aufs neue die überzeugende Stelle.

»Ich will kein Protektionssystem, keines im Interesse einzelner Privatpersonen, sondern eines im Interesse des allgemeinen Wohls – für die niedrigsten ebenso wie für die höchsten Klassen« – sagte er, über dem Pincenez hinweg nach Oblonskiy blickend. »Aber die oben können das nicht begreifen, die sind nur von persönlichen Interessen eingenommen und von Phrasen begeistert.«

Stefan Arkadjewitsch wußte, daß Karenin, wenn er davon zu sprechen begann, was die oben thäten und dächten, die Nämlichen, welche seine Projekte nicht annehmen wollten und die die Ursache aller Übelstände in Rußland waren, dem Schluß schon ziemlich nahe war, und entsagte daher jetzt gern der Verteidigung seines Princips der Freiheit und stimmte vollständig ein. Aleksey Aleksandrowitsch verstummte, nachdenklich seine Schrift durchblätternd.

»Ach, bei dieser Gelegenheit« – sagte Stefan Arkadjewitsch, »wollte ich dich bitten, wenn du Pomorskiy sehen solltest, ihm doch ein paar Worte davon zu sagen, daß ich recht sehr die offene Stellung als Mitglied der Kommission der vereinigten Agentur der Kreditaktien-Bilanz der südlichen Eisenbahnen zu haben wünschte.« Stefan Arkadjewitsch war der Titel dieses Amtes, das ihm so sehr am Herzen lag, bereits gewohnt geworden und er sprach ihn schnell herunter, ohne sich dabei zu versehen.

Aleksey Aleksandrowitsch erkundigte sich, worin die Thätigkeit dieser neuen Kommission bestände und überlegte. Er erwog, ob in der Thätigkeit dieser Kommission nicht etwas seinen Plänen Feindliches liegen könne. Doch da die Thätigkeit dieses neuen Instituts eine sehr komplizierte war, und seine Pläne ein sehr großes Gebiet umfaßten, so vermochte er sich dies nicht sofort klarzumachen und sagte, das Pincenez abnehmend:

»Ohne Zweifel kann ich mit ihm davon sprechen; aber warum wünschest du gerade dieses Amt zu übernehmen?«

»Der Gehalt ist gut, gegen neuntausend Rubel, und meine Mittel« –

»Neuntausend,« wiederholte Aleksey Aleksandrowitsch und verfinsterte sich. Die Höhe dieses Gehaltes erinnerte ihn daran, daß nach dieser Seite eine vorausgesetzte Thätigkeit Stefan Arkadjewitschs dem Hauptgedanken seiner Projekte entgegen sein würde, welche stets für die Sparsamkeit waren.

»Ich finde, und habe auch darüber eine Denkschrift geschrieben, daß in unserer Zeit diese ungeheuren Gehälter die Kennzeichen einer falschen ökonomischen assiette unserer Regierung sind.«

»Was willst du?« sagte Stefan Arkadjewitsch. »Nehmen wir an, ein Bankdirektor erhält zehntausend Rubel, so ist er diese doch wohl wert. Oder ein Ingenieur erhält zwanzigtausend.«

»Ich meine, daß der Gehalt eine Bezahlung für Ware ist, und dem Gesetz der Nachfrage und des Angebotes entsprechen muß. Wenn die Normierung eines Gehaltes von diesem Gesetz abweicht, wie zum Beispiel, wenn ich sehe, daß aus einem Institut zwei Ingenieure hervorgehen, gleich kenntnisreich und befähigt, und der eine vierzigtausend Rubel Gehalt erhält, während sich der andere mit zweitausend begnügt; oder wenn man zu Direktoren einer Bank mit ungeheuren Gehältern Rechtsgelehrte einsetzt, die kein bestimmtes Spezialwissen besitzen – so schließe ich daraus, daß der Gehalt nicht nach dem Gesetz von Nachfrage und Angebot bestimmt ist, sondern geradezu nach dem Ansehen der Person. Hierin aber liegt ein Mißbrauch, der sich, wichtig an und für sich, als schadenbringend im Staatsdienst erweist. Ich glaube« –

Stefan Arkadjewitsch beeilte sich, seinen Schwager zu unterbrechen.

»Ja, aber du giebst doch zu, daß sich da eine neue, unzweifelhaft nutzbringende Institution eröffnet; ein lebensfähiges Unternehmen, wenn du willst. Man schätzt es namentlich insofern hoch, als es auf ehrenhafte Weise geleitet werden soll,« sagte Stefan Arkadjewitsch gewichtig.

Die moskauer Bedeutung des Wortes »ehrenhaft« war jedoch für Aleksey Aleksandrowitsch unverständlich.

»Ehrenhaftigkeit ist nur eine negative Eigenschaft,« sagte er.

»Aber du würdest mir gleichwohl einen großen Gefallen erweisen,« sagte Stefan Arkadjewitsch, »wenn du ein Wort für mich bei Pomorskiy einlegen wolltest,« das Wörtchen »Pomorskiy« unterdrückend, »so im Gespräch.«

»Das hängt aber doch mehr von Bolgarinoff ab, wie mir scheint,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch.

»Bolgarinoff seinerseits ist völlig einverstanden,« sagte Stefan Arkadjewitsch errötend. Er errötete bei der Erwähnung dieses Namens, weil er erst am nämlichen Tage früh bei dem Juden Bolgarinoff gewesen war und dieser Besuch einen unangenehmen Eindruck in ihm hinterlassen hatte.

Stefan Arkadjewitsch wußte genau, daß das Unternehmen, dem er seine Kräfte weihen wollte, neu, lebensfähig und solid war, aber am heutigen Morgen, als Bolgarinoff ihn offenbar mit Absicht zwei Stunden mit anderen Bittstellern im Empfangszimmer hatte warten lassen, da war es ihm dennoch plötzlich peinlich zu Mute geworden. Ob nun deswegen, daß er, ein Nachkomme Rjuriks, ein Fürst Oblonskiy, zwei Stunden in dem Empfangszimmer eines Juden wartete, oder weil er zum erstenmal im Leben, das Beispiel der Vorfahren, der Regierung zu dienen, nicht befolgt hatte und eine neue Laufbahn betrat; jedenfalls war ihm höchst unbehaglich zu Mute gewesen.

Während der zwei Stunden seines Wartens bei Bolgarinoff hatte Stefan Arkadjewitsch, schnell im Empfangssalon auf und abgehend, sich den Lockenbart streichend, mit anderen Bittstellern Gespräche anknüpfend, und über einen Kalauer nachdenkend, den er darüber zum besten geben wollte, wie er bei dem Juden gewartet habe, geflissentlich vor den anderen, ja selbst vor sich, das Gefühl, welches er empfand, verborgen. Er war während dieser ganzen Zeit in unbehaglicher und verdrießlicher Stimmung gewesen, ohne daß er wußte, wie dies kam; ob vielleicht daher, daß aus dem Kalauer, in dem er sich versuchte, nichts wurde – er lautete: »ich hatt‘ es zu thun mit Juden und dafür mußt‘ ich bluten« 3 – oder aus einem anderen Grunde.

Nachdem ihn nun endlich Bolgarinoff mit außerordentlicher Höflichkeit empfangen, augenscheinlich im Triumph über seine Erniedrigung, und ihm einen fast abschläglichen Bescheid erteilt hatte, suchte er dies so schnell als möglich zu vergessen. Jetzt indessen, als er sich hieran erinnerte, errötete er.

  1. Der Originaltext lautet: »bylo djelo so zyda, i ja dozidalsja«, »es gab mit einem Juden Etwas zu thun und ich mußte tüchtig warten«.

18.

»Jetzt habe ich noch ein Anliegen, und du weißt ja welches. Es betrifft Anna,« sagte Stefan Arkadjewitsch, nachdem er eine Weile geschwiegen, und den unangenehmen Eindruck von sich abgeschüttelt hatte.

Kaum hatte Oblonskiy den Namen Annas ausgesprochen, so veränderte sich das Gesicht Aleksey Aleksandrowitschs vollständig; anstatt der früheren Lebhaftigkeit drückte es Ermüdung und etwas Totenhaftes aus.

»Was wollt Ihr denn gerade von mir?« sagte er, sich im Sessel wendend und sein Pincenez zusammenklemmend.

»Einen Entschluß, irgend einen Bescheid, Aleksey Aleksandrowitsch. Ich wende mich jetzt zu dir – nicht zu dem beleidigten Gatten« – wollte Stefan Arkadjewitsch sagen, veränderte jedoch diese Worte in der Furcht, die Sache damit zu verderben, indem er fortfuhr, »nicht als zu dem Staatsmann (was übrigens auch nicht recht angebracht war), sondern einfach zu dir als Menschen, und zwar als guten Menschen und Christen. Du mußt Mitleid mit ihr haben,« sprach er.

»Das heißt, inwiefern denn eigentlich?« sagte Karenin leise.

»Ja, Mitleid mit ihr haben! Wenn du sie sähest, wie ich sie gesehen habe – ich habe den ganzen Winter bei ihr zugebracht – du würdest Erbarmen mit ihr haben. Ihre Lage ist entsetzlich, wirklich entsetzlich.«

»Mir schien.« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch mit noch dünnerer, fast pfeifender Stimme, »als habe doch nun Anna Arkadjewna alles das, was sie selbst gewollt hat.«

»Ach, Aleksey Aleksandrowitsch, um Gottes willen keine Rekriminationen! Was vorbei ist, ist vorbei, und du weißt, was sie wünscht und ersehnt – die Ehescheidung.«

»Ich habe aber geglaubt, Anna Arkadjewna wird in die Ehescheidung nicht einwilligen für den Fall, daß ich die Bedingung, mir den Sohn zu lassen, stelle. So habe ich auch geantwortet und gemeint, daß diese Angelegenheit abgethan wäre. Ich erachte sie für abgethan,« sprach Aleksey Aleksandrowitsch mit tönender Stimme.

»Um Gott, ereifere dich nicht,« sprach Stefan Arkadjewitsch, die Kniee seines Schwagers berührend, »die Angelegenheit ist nicht abgethan. Wenn du mir erlaubst, zu rekapitulieren, so lag die Sache so: Als ihr euch trenntet, warest du großmütig, wie man nur großmütig sein kann; du hast ihr alles bewilligt – die Freiheit, sogar die Trennung! Sie weiß das zu schätzen. Nein, denke nicht anders, sie hat es wirklich geschätzt; bis zu einem Grade, daß sie während jener ersten Minuten im Gefühl ihrer Schuld vor dir, nicht einmal alles überdachte oder überdenken konnte. Sie hat auf alles verzichtet, aber die Wirklichkeit, die Zeit, haben ihr gezeigt, daß ihre Lage qualvoll und unmöglich ist.«

»Das Leben Anna Arkadjewnas kann mich nicht interessieren,« unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch, die Brauen in die Höhe ziehend.

»Gestatte mir, dies zu bezweifeln,« entgegnete ihm Stefan Arkadjewitsch geschmeidig, »ihre Lage ist peinlich für sie, und unersprießlich für jedermann, wer es auch sei. Sie hat dieselbe verdient, sagst du. Das weiß sie, und sie bittet dich auch nicht, sagt vielmehr offen heraus, daß sie nicht wagt, um Etwas zu bitten. Ich aber, wir Verwandten alle, alle, die sie lieb haben, wir bitten, wir beschwören dich. Warum soll sie sich quälen? Wem würde besser dadurch?«

»Erlaubt; Ihr versetzt mich, wie es scheint, in die Lage eines Angeklagten,« fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort.

»O nein, o nein; keineswegs; verstehe mich recht,« sagte Stefan Arkadjewitsch, abermals seine Hände berührend, als wäre er überzeugt, daß diese Berührung den Schwager erweichen würde; »ich sage nur das Eine, ihre Lage ist qualvoll, dieselbe kann erleichtert werden durch dich, und du verlierst nichts dabei! Ich werde für dich alles so arrangieren, daß du es nicht merkst. Du hattest mir es doch versprochen.«

»Das Versprechen ist früher gegeben worden. Ich habe geglaubt, daß die Frage über den Sohn die Angelegenheit entschieden hätte. Außerdem habe ich gehofft, daß Anna Arkadjewna Großmut genug haben werde« – Aleksey Aleksandrowitsch brachte dies mit Anstrengung hervor, erbleichend und mit bebenden Lippen.

»Sie stellt alles deiner Großmut anheim und bittet, fleht nur um das Eine – sie dieser unmöglichen Lage zu entheben, in der sie sich befindet! Sie bittet nicht mehr um den Sohn! Aleksey Aleksandrowitsch, du bist ein guter Mensch, versetze dich einen Augenblick in ihre Lage. Die Frage der Ehescheidung ist für sie in ihrer Situation, eine Frage über Leben und Tod. Hättest du nicht früher das Versprechen gegeben, so würde sie sich mit ihrer Lage abzufinden suchen und auf dem Lande bleiben. Aber du hast versprochen, sie hat dir geschrieben und ist nach Moskau gekommen, und in Moskau, wo ihr jede Begegnung einen Stich ins Herz giebt, lebt sie nun seit sechs Monaten, mit jedem Tage eine Entscheidung erwartend. Das ist doch Wohl ganz das Nämliche, als wenn man einen zum Tode Verurteilten Monate hindurch mit der Schlinge um den Hals hält, indem man ihm bald den Tod, bald Begnadigung als möglich in Aussicht stellt. Erbarme dich ihrer, und dann will ich es schon auf mich nehmen die Sache zu ordnen! – Vos scrupules« –

»Ich spreche nicht davon, nicht davon,« unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch mit Widerwillen, »ich hatte da vielleicht etwas versprochen, was zu versprechen ich gar kein Recht hatte.«

»So stellst du also in Abrede, mir ein Versprechen gegeben zu haben?«

»Ich habe mich nie bei der Erfüllung einer Möglichkeit geweigert, wünsche aber Zeit zu haben, um überlegen zu können, inwieweit das Versprochene erfüllbar ist.«

»Nein, Aleksey Aleksandrowitsch!« begann Oblonskiy aufspringend, »daran will ich nicht glauben! Sie ist so unglücklich, wie nur ein Weib unglücklich sein kann, und du kannst dich nicht weigern, eine solche« –

– »Soweit mein Versprechen erfüllbar ist. Vous professez d’être un libre penseur, ich aber, als Rechtgläubiger, kann in einer so wichtigen Angelegenheit nicht Wider das christliche Gebot handeln.«

»Aber in der christlichen Gesellschaft und bei uns ist doch, soviel ich weiß, die Ehescheidung zulässig,« sagte Stefan Arkadjewitsch; »die Ehescheidung ist auch in unserer Kirche zulässig und wir sehen« –

– »Sie ist gestattet, doch nicht in diesem Sinne.«

»Aleksey Aleksandrowitsch, ich erkenne dich nicht wieder,« sagte Oblonskiy flehend, »hast du nicht alles vergeben? Haben wir dies nicht hoch angeschlagen? Warest du nicht, getrieben gerade vom christlichen Gefühl, bereit, alles zu opfern? Du selbst hast gesagt, man solle auch den Rock hingeben wenn man das Hemd nähme, und jetzt« –

»Ich bitte dich,« begann Aleksey Aleksandrowitsch, plötzlich auf die Füße springend, bleich, mit bebenden Kinnbacken und pfeifender Stimme, »ich bitte Euch, abzubrechen, abzubrechen – dieses Gespräch« –

»O nein doch! Verzeihe mir, verzeih‘ wenn ich dich gekränkt habe,« beharrte Stefan Arkadjewitsch, verlegen lächelnd und die Hand hinstreckend, »ich habe ja nur wie ein Gesandter meinen Auftrag übermittelt.«

Aleksey Aleksandrowitsch gab ihm die Hand, begann nachzudenken.

»Ich muß überlegen und mich nach Weisungen umsehen. Übermorgen werde ich Euch eine bestimmte Antwort geben,« sagte er nach einigem Nachdenken.

19.

Stefan Arkadjewitsch wollte schon gehen, als Korney erschien mit der Meldung:

»Sergey Aleksejewitsch!«

»Wer ist dieser Sergey Aleksejewitsch?« wollte Stefan Arkadjewitsch anfangen, besann sich aber sogleich. »Ach, der kleine Sergey,« sagte er, »Sergey Aleksejewitsch! Ich dachte, der Direktor des Departements wäre es. Anna hat mich ja gebeten, ihn zu besuchen,« erinnerte er sich, und rief sich jenen schüchternen, mitleiderweckenden Ausdruck wieder ins Gedächtnis, mit welchem ihm Anna, indem sie ihn entließ, gesagt hatte, »du wirst ihn sehen, erforsche genau, wo er ist und wer bei ihm ist. Und mein Stefan – wenn es möglich wäre; es wird doch möglich sein?« Stefan Arkadjewitsch verstand was dieses »wenn es möglich wäre« bedeutete. Wenn es möglich wäre, die Scheidung so zu stände zu bringen, daß er ihr den Sohn überließ! Jetzt sah er indessen, daß hieran nicht zu denken war, aber dennoch freute er sich, den Neffen zu sehen.

Aleksey Aleksandrowitsch machte seinen Schwager darauf aufmerksam, daß man zu seinem Sohne nie von der Mutter spreche und er ihn daher ersuche, kein Wort von derselben zu erwähnen.

»Er war sehr krank geworden nach jenem Wiedersehen mit seiner Mutter, welches wir nicht vorausgesehen hatten,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch. »Wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber eine verständige Pflege und Seebäder im Sommer haben feine Gesundheit wiederhergestellt, und jetzt habe ich ihn auf Anraten des Arztes in die Schule gegeben. In der That hat auch der Einfluß der Kameraden auf ihn eine günstige Wirkung gehabt und er ist vollkommen gesund und lernt gut.«

»Was für ein hübscher Bursch er geworden ist; das ist nicht mehr der kleine Sergey Aleksejewitsch!« lächelte Stefan Arkadjewitsch, auf den hurtig und ungezwungen eintretenden hübschen, breitschulterigen Knaben in blauer Kutte und langen Beinkleidern blickend. Der Knabe sah gesund und munter aus. Er verneigte sich vor dem Onkel wie vor einem Fremden, doch, als er ihn erkannt hatte, errötete er und wandte sich, als sei er von Etwas beleidigt und erzürnt, hastig von ihm ab. Der Knabe ging zu seinem Vater und gab ihm ein Billet über Censuren, welche er in der Schule erhalten hatte.

»Nun, recht so,« sagte der Vater, »du kannst gehen.«

»Er ist magerer geworden und gewachsen, er hat aufgehört, ein Kind zu sein und ist ein großer Knabe geworden; das liebe ich,« sagte Stefan Arkadjewitsch, »besinnst du dich noch auf mich?«

Der Knabe blickte schnell nach seinem Vater.

»Ich besinne mich, mon oncle,« antwortete er, auf den Oheim blickend und wiederum in Verwirrung geratend.

Der Onkel rief den Knaben zu sich und nahm ihn bei der Hand.

»Nun, wie geht es denn?« sagte er, im Wunsche, Etwas zu sagen, obwohl er nicht recht wußte, was er sagen sollte.

Der Knabe zog errötend und ohne zu antworten, behutsam seine Hand aus der des Onkels, und sobald Stefan Arkadjewitsch losgelassen hatte, eilte er wie ein Vogel, den man in Freiheit gesetzt hat, mit einem fragenden Blick auf den Vater schnellen Schrittes aus dem Gemach.

Ein Jahr war vergangen, seit der kleine Sergey seine Mutter zum letztenmal gesehen hatte. Seit jener Zeit hatte er nie wieder von ihr gehört. In diesem Jahre nun war er in die Schule gegeben worden und hatte hier Kameraden kennen und lieben gelernt. Jene Gedanken und Erinnerungen an seine Mutter, die ihn nach dem Wiedersehen mit ihr krank gemacht hatten, beschäftigten ihn jetzt nicht mehr. Wenn sie ihn überkamen, scheuchte er sie geflissentlich von sich, indem er sie für schimpflich und nur den Mädchen angemessen hielt aber nicht für einen Knaben und Schulkameraden. Er wußte, daß zwischen Vater und Mutter ein Zwist bestand, der beide trennte; er wußte, daß es ihm beschieden war, bei dem Vater zu bleiben, und suchte sich nun an diesen Gedanken zu gewöhnen.

Daß er den Onkel, welcher seiner Mutter ähnlich war, wiedersah, war ihm unangenehm, weil dies eben wieder jene Erinnerungen, die er für schimpflich hielt, in ihm wachrief. Es war ihm dies um so unangenehmer, als er, nach einigen Worten, die er gehört hatte, indem er an der Thür des Kabinetts wartete, und namentlich nach dem Gesichtsausdruck des Vaters und des Onkels zu urteilen erriet, daß zwischen beiden die Rede von seiner Mutter gewesen sein mußte, und um nun diesen Vater, bei welchem er lebte, und von dem er abhing, nicht hintenanzusetzen, hauptsächlich jedoch sich nicht einer Empfindsamkeit hinzugeben, die er für so verächtlich hielt, bemühte sich der kleine Sergey, diesen Onkel gar nicht anzublicken, welcher gekommen war seine Ruhe zu stören, und nicht an das zu denken, was er ihm ins Gedächtnis zurückrief.

Als ihn jedoch Stefan Arkadjewitsch, der hinter ihm hinausgegangen, und seiner auf der Treppe ansichtig geworden war, zu sich rief, und frug, wie er in der Schule die Zeit in den Zwischenstunden verbringe, unterhielt sich Sergey, außer Gesichtsweite des Vaters, mit ihm.

»Jetzt machen wir Eisenbahn,« sagte er, auf die Frage antwortend. »Und wißt Ihr wie? Zwei setzen sich auf eine Bank; das sind die Passagiere; Einer steht auf der Bank, und alle spannen sich nun davor. Man kann sie nun mit den Händen oder auch an den Gürteln ziehen und so geht es durch alle Säle. Die Thüren werden schon vorher geöffnet. Nur ist es schwer dabei den Kondukteur zu machen.«

»Das ist der, welcher steht?« frug Stefan Arkadjewitsch lächelnd.

»Ja; da ist Kühnheit und Gewandtheit notwendig, besonders wenn sie schnell stehen bleiben oder wenn einer fällt.«

»Ja, das ist kein Spaß,« sagte Stefan Arkadjewitsch, voll Wehmut in diese lebhaften, an die Mutter gemahnenden Augen blickend, die jetzt nicht mehr Kinderaugen, schon nicht ganz unschuldsvoll waren, und obwohl er Aleksey Aleksandrowitsch versprochen hatte, nicht von Anna zu sprechen, hielt er es doch nicht aus.

»Denkst du denn noch deiner Mama?« frug er plötzlich.

»Nein; ich denke nicht mehr an sie,« antwortete Sergey, schnell und schlug, purporrot werdend, die Augen nieder. Der Onkel konnte nun nichts mehr ans ihm herausbringen.

Der Erzieher Slavjanin fand nach einer halben Stunde seinen Zögling auf der Treppe und konnte lange nicht verstehen, ob Sergey jemand zürne oder weine.

»Ihr habt Euch wohl gestoßen, als Ihr fielet?« sagte der Erzieher. »Ich habe doch immer gesagt, daß dies ein gefährliches Spiel ist. Das wird wohl dem Direktor gesagt werden müssen.«

»Wenn ich mich gestoßen hätte, so hatte dies ja doch niemand bemerkt. Das ist doch sicher wahr!«

»Nun was aber ist Euch denn dann?«

»Laßt mich! Ob ich daran denke oder nicht! Was geht das ihn an? Warum soll ich daran denken? Laßt mich in Ruhe!« wandte er sich schon nicht mehr an den Erzieher, sondern an die ganze Welt.

 

20.

Stefan Arkadjewitsch hatte, wie stets, die Zeit in Petersburg nicht müßig zugebracht. In Petersburg hatte er an Geschäften außer der Scheidung der Schwester und der Angelegenheit mit dem Amte wie immer, noch eine Erholung von nöten nach dem Moskauer Stumpfsinn, wie er sagte.

Moskau war ungeachtet seiner Caféchantants und Omnibusse doch für ihn nur ein stehender Sumpf. Dies fühlte Stefan Arkadjewitsch stets, und wenn er in Moskau besonders bei seiner Familie gelebt hatte, fühlte er, daß sein Lebensmut sank. Wenn er lange Zeit, ohne fortzukommen in Moskau zugebracht hatte, kam er soweit, daß er anfing, sich über die schlechte Laune und die Vorwürfe seines Weibes Gedanken zu machen, über die Gesundheit und Erziehung der Kinder, und die kleinen Interessen seines Dienstes; selbst der Umstand, daß er Schulden hatte, beunruhigte ihn.

Es war indessen nur notig, daß er nach Petersburg kam und sich dort aufhielt, in dem Kreise, in welchem er verkehrte, und in welchem man lebte, ja wirklich lebte, und nicht erfror wie in Moskau, um sogleich alle diese Gedanken verschwinden und schmelzen zu lassen, wie Wachs vor dem Scheine des Feuers.

Und sein Weib? – Erst heute hatte er mit dem Fürsten Tschetschenskiy gesprochen. Der Fürst Tschetschenskiy hatte Frau und Kinder – die erwachsenen Kinder waren Pagen – und doch auch eine zweite, illegitime Familie, in welcher gleichfalls Kinder vorhanden waren. Obwohl nun die erste Familie auch gut war, fühlte sich der Fürst doch glücklicher in der zweiten; er brachte seinen ältesten Sohn mit in seine zweite Familie und erzählte Stefan Arkadjewitsch, er fände, dies sei ihm nützlich und förderlich.

Was hätte man hierzu in Moskau gesagt?

Seine Kinder? – In Petersburg hinderten die Kinder die Väter nicht daran, zu leben. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und es gab hier nicht jene in Moskau – bei Lwoff zum Beispiel – verbreitete, seltsame Auffassung, daß den Kindern aller Luxus des Lebens, den Eltern allein Mühe und Sorgen zukämen. Hier hatte man erkannt, daß der Mensch verpflichtet sei, für sich selbst zu leben, wie ein gebildeter Mensch eben leben müsse.

Sein Dienst? – Der Dienst war hier gleichfalls nicht eine so strenge hoffnungslose Fessel, wie die, welche man in Moskau trug; hier war ein Interesse am Dienst vorhanden. Eine Begegnung, ein Verdienst, ein treffendes Wort, die Fähigkeit, sich in den Personen nur verschiedene Gegenstände vorzustellen, war alles, um jemand plötzlich Carriere machen zu lassen, wie Bojanzeff, dem Stefan Arkadjewitsch gestern begegnet und der jetzt einer der ersten Beamten war, sie gemacht hatte. Dieser Dienst gewährte Interesse.

Insbesondere wirkten aber die Petersburger Anschauungen in finanziellen Dingen beruhigend auf Stefan Arkadjewitsch. Bartejanskij, welcher mindestens fünfzigtausend Rubel in dem train, welchen er gerade verfolgte, verbrauchte, hatte ihm erst gestern darüber ein bemerkenswertes Wort fallen lassen.

Vor dem Essen hatte Stefan Arkadjewitsch in der Unterhaltung zu Bartejanskij gesagt:

»Du scheinst dem Mordwinskij nahe zu stehen und könntest mir daher einen Dienst erweisen, wenn du bei ihm für mich ein gutes Wort einlegen wolltest. Es ist da ein Amt vorhanden, welches ich haben möchte, als Mitglied der Agentur« –

»Nun, ich erinnere mich nicht so ganz – aber was hast du für eine Sehnsucht nach diesen Eisenbahngeschäften mit Juden? Doch wie du willst; aber es ist doch etwas Widerwärtiges dabei« –

Stefan Arkadjewitsch sagte ihm nicht, daß es sich um ein lebensfähiges Unternehmen handle: Bartejanskij hätte dies nicht verstanden.

»Ich brauche Geld; habe nichts mehr zu leben.«

»Aber du lebst doch?«

»Ich lebe wohl, habe aber viel Schulden.«

»Was willst du? Hast du viel?« sagte Bartejanskij mitleidig.

»Sehr viel, zwanzigtausend Rubel.«

Bartejanskij lachte lustig auf.

»O glücklicher Mensch!« sagte er, »ich habe anderthalb Million und besitze gar nichts, aber, wie du siehst, kann man doch noch dabei leben!«

Stefan Arkadjewitsch fand nicht sowohl in den Worten allein, als in der Sache selbst die Richtigkeit des Gesagten.

Schivachoff hatte dreihunderttausend Rubel Schulden und nicht eine Kopeke im Vermögen und er lebte doch, und noch dazu auf welche Weise! Den Grafen Krivzoff hatten alle schon totgesungen und er unterhielt doch noch zwei Maitressen. Petrowskiy hatte fünf Millionen durchgebracht und lebte noch immer auf demselben Fuße, verwaltete sogar noch immer Finanzen und bezog zwanzigtausend Rubel Gehalt.

Außer alledem aber wirkte Petersburg auch physisch angenehm auf Stefan Arkadjewitsch ein. Es verjüngte ihn.

In Moskau schaute er zuweilen nach einem grauen Haar, schlief nach dem Essen, reckte sich, stieg im Schritt, schwer atmend die Treppen, langweilte sich mit jungen Weibern und tanzte nicht auf den Bällen. In Petersburg hingegen fühlte er sich stets um zehn Jahre jünger.

Er empfand in Petersburg das, was ihm gestern erst der sechzigjährige Graf Oblonskiy, Peter, der soeben aus dem Ausland zurückgekommen war, gesagt hatte.

»Wir verstehen hier nicht zu leben,« hatte Peter Oblonskiy gesagt, »glaubst du es wohl – ich habe den Sommer in Baden verlebt, aber, wahrhaftig, mich ganz wie ein junger Mensch gefühlt. Kaum sah ich ein junges Frauenzimmer, so gingen die Gedanken – man aß und trank so leichthin – Kraft und Mut war vorhanden. Da aber bin ich nun nach Rußland gekommen – ich mußte zu meiner Frau und auf das Dorf – ja; du wirst es nicht glauben; vierzehn Tage hindurch hatte ich meinen Hausrock angezogen und aufgehört, zur Tafel Toilette zu machen. An die jungen Frauenzimmer denke ich nicht mehr, ich bin ein vollständiger Greis geworden. Nur das Seelenheil zu retten, bleibt mir noch. Dann aber fuhr ich nach Paris – da kam ich wieder in Ordnung.«

Stefan Arkadjewitsch empfand ganz den nämlichen Unterschied, wie Peter Oblonskiy. In Moskau hatte er so nachgelassen, daß er in der That, wenn er lange noch so hätte fortleben müssen, dazu gekommen wäre – was übrigens ganz gut gewesen sein würde – für das Heil seiner Seele zu sorgen. In Petersburg aber fühlte er sich wieder als wahrer Mensch.

Zwischen der Fürstin Betsy Twerskaja und Stefan Arkadjewitsch bestanden alte, sehr seltsame Beziehungen. Stefan Arkadjewitsch machte ihr stets launig den Hof und sagte ihr, immer im Scherz, die indecentesten Dinge, wobei er recht wohl wußte, daß ihr dies ganz besonders gefiel. Am Tage nach seinem Gespräch mit Karenin begab sich Stefan Arkadjewitsch zu ihr. Er fühlte sich so jung, daß er in dieser scherzhaften Cour und seichten Plauderei unvermutet so weit kam, daß er nicht mehr wußte, wie er sich wieder heraushelfen sollte, obwohl sie ihm leider nicht nur nicht gefiel, sondern sogar widerlich war. Dieser Ton herrschte nun deswegen, weil er ihr sehr gefiel, und so kam es, daß er recht froh über die Ankunft der Fürstin Mjagkaja war, welche diesem Alleinsein zu Zweien ein Ende machte.

»Ah, Ihr hier,« sagte sie, ihn erblickend, »nun, wie befindet sich Eure arme Schwester? Haltet mich nicht für neugierig,« fügte sie hinzu, »seit alle sie verlassen haben, alle die, die tausendmal schlechter sind, als sie, finde ich, daß sie schön gehandelt hat. Ich kann es Wronskiy nicht verzeihen, daß er es mich nicht hat wissen lassen, als sie in Petersburg war. Ich wäre zu ihr, und mit ihr überall hingefahren. Übermittelt ihr doch gefälligst den Ausdruck meiner Liebe für sie, und erzählt mir nun von ihr.«

»Ja, ihre Lage ist schwer,« begann Stefan Arkadjewitsch zu erzählen, in der Einfalt seines Herzens die Worte der Fürstin Mjagkaja, für bare Münze nehmend, doch diese unterbrach ihn sogleich, nach ihrer Gewohnheit, und begann selbst zu erzählen.

»Sie hat gethan, was alle außer mir auch thun, jedoch verheimlichen. Sie aber hat nicht täuschen wollen, sondern schön gehandelt, und noch schöner gehandelt, weil sie diesen halben Narren, Euren Schwager, verließ. Ihr entschuldigt mich wohl; alle haben gesagt, daß er klug sei, klug – nur ich allein habe gesagt, daß er ein Thor ist. Jetzt, nachdem er sich mit der Lydia Iwanowna verbunden hat, und mit dem Landau, sagt jedermann, daß er halbverrückt ist. Ich wäre froh, wenn ich nicht mit jedermann einzustimmen brauchte, aber diesmal kann ich doch nicht anders!«

»Erklärt mir doch gefälligst,« sagte Stefan Arkadjewitsch, »was das eigentlich bedeutet? Gestern war ich bei ihm in der Angelegenheit meiner Schwester und ersuchte ihn um einen bestimmten Bescheid. Er gab mir keine Antwort und sagte, er wolle sich bedenken, heute morgen aber erhielt ich anstatt der Antwort eine Einladung für diesen Abend zu der Gräfin Lydia Iwanowna.

»So, so,« sagte die Fürstin Mjagkaja voll Vergnügen. »Sie werden Landau befragen, was der sagen wird.«

»Wie, Landau? Warum? Wer ist das, Landau?« –

»Wie, Ihr kennt nicht Jules Landau le fameux, Jules Landau le clairvoyant? Der ist auch halbverrückt, und doch, von ihm hängt das Schicksal Eurer Schwester ab. Aber das kommt eben vom Leben in der Provinz – Ihr wißt von nichts! – Landau, seht Ihr, war ein Kommis in einem Pariser Magazin und kam einmal zu einem Arzte. Beim Arzt schlief er im Empfangszimmer ein und begann im Schlaf allen Kranken Rat zu erteilen, wunderbare Ratschläge! Hierauf hörte die Frau des Juriy Meledinskiy – Ihr wißt, des Kranken – von diesem Landau und nahm ihn mit zu ihrem Manne. Er kurierte nun ihren Gatten, doch hat er ihm noch keinerlei Nutzen gebracht, nach meiner Meinung, da dieser noch immer so gelähmt ist; allein man glaubt an ihn und giebt sich mit ihm ab. Sie haben ihn mit nach Rußland gebracht, hier hat sich alles auf ihn gestürzt und er hat sie alle zu kurieren begonnen. Die Gräfin Bessubowa hat er geheilt und sie hat ihn so lieb gewonnen, daß sie ihn zu ihrem Sohne gemacht hat.

»Wie, zu ihrem Sohne?«

»Jawohl, adoptiert. Er ist jetzt kein Landau mehr, sondern ein Graf Bessuboff. Doch darum handelt es sich nicht; Lydia jedoch – ich liebe sie sehr, aber sie hat den Kopf nicht auf dem rechten Flecke – hat sich natürlich jetzt diesem Landau in die Arme geworfen und ohne ihn wird weder bei ihr, noch bei Aleksey Aleksandrowitsch ein Beschluß gefaßt, weshalb das Schicksal Eurer Schwester jetzt in den Händen dieses Landau, alias Grafen Bessuboff, liegt.«

14.

Der Arzt war noch nicht aufgestanden und der Diener sagte, er sei spät zu Bett gegangen und habe nicht befohlen, ihn zu wecken, doch stehe er bald auf.

Der Diener putzte Lampengläser und schien davon sehr in Anspruch genommen zu sein. Diese Aufmerksamkeit des Dieners für seine Gläser und der Gleichmut gegenüber dem, was sich bei Lewin vollzog, setzte diesen anfangs außer Fassung, doch erkannte er, zur Überlegung kommend sogleich, daß ja niemand seine Empfindungen kenne, und kennen müsse, und es daher um so notwendiger sei, ruhig zu handeln, wohlüberlegt und entschlossen, um diese Mauer der Indifferenz zu durchbrechen und seinen Zweck zu erreichen.

»Eile mit Weile,« sagte Lewin zu sich selbst, mehr und mehr eine Zunahme seiner physischen Kräfte, sowie seiner Wahrnehmungsfähigkeit für alles das, was er zu thun hatte, verspürend.

Nachdem er gehört, daß der Arzt noch nicht aufgestanden sei, blieb Lewin innerhalb der verschiedenen Pläne, die in ihm erstanden, bei dem, daß Kusma mit einem Billet zu einem andern Arzte fuhr, während er selbst in die Apotheke nach Opium eilte; sollte aber, wenn er zurückkäme, der Doktor noch nicht aufgestanden sein, so wollte er den Diener bestechen oder wenn derselbe nicht einwilligte, den Arzt mit Gewalt wecken, koste es, was es wolle.

In der Apotheke verschloß ein dürrer Provisor mit ganz dem nämlichen Gleichmut, mit welchem der Lakai die Gläser geputzt hatte, vermittelst einer Oblate Pulver für einen wartenden Kutscher, und verweigerte das Opium. Im Bestreben, nichts zu überhasten und nicht in Aufregung zu geraten, begann Lewin, nachdem er den Namen des Arztes und der Hebamme genannt, und erklärt hatte, wozu das Opium nötig sei, den Provisor zu überreden. Derselbe frug in deutscher Sprache um Rat, ob er es geben könne, und holte, nachdem er hinter einer Zwischenwand heraus Zustimmung erhalten hatte, ein Gläschen und einen Trichter herbei, worauf er langsam aus einem großen Gefäß in ein kleines Fläschchen goß, einen weißen Papierstreif anklebte und siegelte. Ungeachtet der Bitte Lewins, es nicht zu thun, wollte er das Fläschchen nochmals einwickeln. Das konnte aber Lewin nicht mehr aushalten; entschlossen riß er dem Manne das Fläschchen aus den Händen und stürzte zu der großen Glasthür hinaus.

Der Arzt war noch nicht aufgestanden, und der Diener, jetzt mit dem Ausbreiten eines Teppichs beschäftigt, weigerte sich, ihn zu wecken. Lewin zog ohne Überstürzung ein Zehnrubelpapier hervor, gab es ihm, mit einigen langsam gesprochenen Worten, aber ohne Zeit zu verlieren, und erklärte, daß Peter Dmitrjewitsch – wie erhaben und bedeutungsvoll erschien Lewin jetzt der vorher so unbedeutend gewesene Peter Dmitrjewitsch – versprochen habe, zu jeder Zeit da sein zu wollen, und sicherlich nicht ungehalten sein werde selbst darüber, daß er ihn sogleich wecke.

Der Diener gehorchte, ging nach oben und lud Lewin ein, in das Empfangszimmer zu treten.

Lewin vermochte hinter der Thür zu hören, wie der Arzt hustete, umherging, sich wusch und Etwas sagte. Es vergingen drei Minuten; Lewin schien es, als wäre mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er konnte nicht länger warten.

»Peter Dmitrjewitsch, Peter Dmitrjewitsch,« rief er mit beschwörender Stimme in die geöffnete Thür hinein; »um Gottes willen, verzeiht mir, nehmt mich heute, wie ich bin; es hat schon seit mehr als zwei Stunden begonnen!«

»Sofort, sofort!« antwortete eine Stimme und Lewin hörte mit Erstaunen, daß der Arzt dies lächelnd sagte.

»Auf eine Minute!«

»Sogleich.«

Es vergingen noch zwei Minuten, während deren der Arzt die Stiefel anzog, zwei weitere, während er das Tuch umwarf und sich den Kopf bürstete.

»Peter Dmitrjewitsch,« begann Lewin abermals mit kläglicher Stimme, doch gerade erschien der Arzt, angekleidet und gekämmt. »Diese Leute haben kein Gewissen,« dachte Lewin, »sich zu kämmen, während wir verderben!«

»Guten Morgen!« sagte der Arzt zu ihm, die Hand hinreichend, als wollte er ihn mit seiner Ruhe necken. »Beunruhigt Euch nicht, wie steht es?«

Sich bemühend, so ausführlich wie möglich zu sein, begann Lewin alle unnötigen Einzelheiten über den Zustand seiner Frau zu erzählen, seinen Bericht unaufhörlich mit Bitten, der Arzt mochte sogleich mit ihm kommen, unterbrechend.

»Habt keine Angst; Ihr kennt das wohl noch nicht. Ich bin gewiß gar nicht notwendig, habe es aber versprochen und werde kommen. Aber Eile hat es keine. Setzt Euch doch gefälligst; ist nicht ein Kaffee gefällig?«

Lewin schaute ihn an, mit dem Blick fragend, ob sich der Arzt über ihn lustig machen wolle. Doch dieser dachte gar nicht daran, zu scherzen.

»Ich weiß schon, weiß schon,« sprach er lächelnd, »auch ich bin Familienvater, aber wir, die Männer, sind in diesen Augenblicken doch die beklagenswertesten Menschen. Ich habe da eine Patientin, deren Mann in solchen Momenten stets in den Pferdestall läuft.«

»Aber wie meint Ihr, Peter Dmitrjewitsch? Glaubt Ihr, daß alles glücklich gehen kann?«

»Alle Bedingungen für einen günstigen Ausgang sind vorhanden.«

»Ihr kommt also sofort?« sagte Lewin, zornig auf den Diener blickend, der den Kaffee brachte.

»In einem Stündchen.«

»Ach, nein doch, um Gottes willen!«

»Aber dann laßt mich doch wenigstens meinen Kaffee trinken.«

Der Arzt widmete sich dem Kaffee. Beide schwiegen.

»Man wird die Türken doch entschieden schlagen. Habt Ihr die gestrige Depesche gelesen?« sagte der Doktor semmelkauend.

»Nein; ich kann nicht mehr,« rief Lewin aufspringend, »Ihr werdet also nach Verlauf einer Viertelstunde kommen?«

»In einer halben Stunde.«

»Auf Ehrenwort?«

Als Lewin wieder nach Hause kam, traf er mit der Fürstin zusammen, und beide begaben sich zur Thür des Schlafzimmers.

Die Fürstin hatte Thränen in den Augen und ihre Hände zitterten; als sie Lewin erblickte, umarmte sie ihn und brach in Thränen aus.

»Nun, liebe Lisabetha Petrowna,« sagte sie, die ihnen mit hellem, sorglichen Gesicht daraus entgegentretende Lisabetha Petrowna an der Hand fassend.

»Es geht gut,« sagte sie, »überredet sie nur, sich niederzulegen. Es wird ihr dann leichter sein.«

Seit dem Augenblick, als er erwacht war und erkannt hatte, um was es sich handelte, hatte er sich darauf vorbereitet, ohne Erwägungen und Vermutungen im voraus anzustellen, alle Gedanken und Gefühle in sich verschließend, mannhaft, sein Weib nicht aus der Fassung bringend, sondern im Gegenteil sie beruhigend und ihren Heldenmut stützend – zu ertragen, was ihm bevorstand.

Ohne sich zu gestatten, nur daran zu denken, was kommen würde, und wie das enden sollte, nur nach seinen eingehenden Erkundigungen, wie sehr sich derartige Ereignisse gewöhnlich in die Länge zögen, urteilend, hatte sich Lewin innerlich gefaßt gemacht, zu dulden, fünf Stunden lang, und es hatte ihm das auch möglich geschienen.

Als er indessen vom Arzte heimgekommen war und von neuem ihre Leiden sah, begann er öfter und öfter zu wiederholen »Gott vergieb mir und steh‘ mir bei!« und seufzend den Kopf emporzuheben, und fing an zu befürchten, daß er dies nicht aushalten, sondern in Thränen ausbrechen, oder davonlaufen würde. In solch qualvoller Stimmung befand er sich, und doch war erst eine Stunde vergangen.

Aber nach dieser Stunde verging noch eine; zwei, drei, alle fünf Stunden vergingen, die er sich als höchste Frist seiner Geduldsprobe gesetzt hatte, und die Situation war noch immer dieselbe; er litt noch immer, weil sich weiter nichts thun ließ als leiden, jede Minute denkend, er sei bis an die äußersten Grenzen der Geduld gekommen, und das Herz müsse ihm nun von Mitleid zerrissen werden.

Aber Minuten vergingen, Stunden, Stunden auf Stunden, und die Empfindungen von Schmerz und Angst in ihm wuchsen und wurden noch höher gespannt.

Alle jene gewöhnlichen Verhältnisse im Leben, ohne die man sich gewöhnlich nichts vorstellen kann, waren für Lewin nicht mehr vorhanden. Er hatte das Zeitbewußtsein verloren. Jene Minuten – jene Minuten, da sie ihn zu sich rief und er ihre schweißbedeckte, mit außergewöhnlicher Kraft seine Hand bald pressende, bald hinwegstoßende Rechte hielt, schienen ihm bald Stunden, bald schienen sie ihm Minuten. Er war verwundert, als Lisabetha Petrowna ihn bat, das Licht hinter dem Schirm anzuzünden und als er wahrnahm, daß es bereits fünf Uhr abends war.

Hätte man ihm gesagt, daß es jetzt erst zehn Uhr morgens wäre, er würde ebensowenig verwundert gewesen sein. Wo er während dieser Zeit war, wußte er ebensowenig, wie wenn Etwas geschah. Er sah ihr glühendes, bald verzweifeltes und leidendes, bald lächelndes und ihn beschwichtigendes Gesicht. Er sah auch die Fürstin, rot im Gesicht, aufgeregt, mit den aufgegangenen Locken der grauen Haare, und in Thränen, die sie mühsam verschluckte, sich die Lippen zernagen; er sah Dolly, den Arzt, welcher dicke Cigaretten rauchte, und Lisabetha Petrowna mit ihrem festen, energischen und ruhigen Gesicht, sowie den alten Fürsten, der mit finsterem Gesicht im Salon auf und abschritt. Aber wie sie gekommen waren oder gingen, wo sie waren – er wußte es nicht.

Die Fürstin war bald bei dem Arzte im Schlafzimmer, bald im Kabinett, wo sich ein gedeckter Tisch befand; bald war sie abwesend und Dolly war da. Dann erinnerte sich Lewin, daß man ihn fortgeschickt hatte; einmal hatte man ihn geschickt, einen Tisch und ein Sofa zu transportieren. Er hatte dies voll Eifers gethan, indem er meinte, es sei für sie nötig, und erst dann erkannt, daß er sich selbst damit ein Nachtlager bereitet hatte. Darauf sandte man ihn zum Arzt ins Kabinett, damit er nach etwas frage. Der Arzt antwortete und begann dann von den Unordnungen in der Duma zu sprechen. Hierauf schickte man ihn in das Schlafzimmer zur Fürstin, derselben ein Heiligenbild in silbernem, vergoldetem Gewand zu bringen. Er kletterte nebst der alten Kammerfrau der Fürstin auf einen Schrank, um es zu erlangen und zerbrach dabei eine Lampe; die Kammerfrau der Fürstin beruhigte ihn über seine Frau und über die Lampe und er brachte das Heiligenbild und stellte es zu Häupten Kitys, es sorgfältig hinter die Kissen steckend. Aber wo, wann und warum alles das war, wußte er nicht. Er verstand auch nicht, weshalb ihn die Fürstin bei der Hand nahm und ihn mit einem Blick voll Mitleid bat, sich zu beruhigen, weshalb Dolly ihm zuredete, zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte, ja, selbst der Doktor ihn ernst und teilnahmsvoll anschaute und ihm einen stärkenden Tropfen empfahl.

Er wußte und fühlte nur, daß das, was sich jetzt vollzog, dem ähnlich war, was sich ein Jahr vorher in dem Hotel der Gouvernementsstadt auf dem Totenbett seines Bruders Nikolay vollzogen hatte.

Jenes aber war ein Schmerz gewesen – dies war eine Freude! – Doch sowohl jener Schmerz, wie diese Freude lagen vereinsamt außerhalb aller gewohnten Verhältnisse des Lebens; sie bildeten in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch welche etwas Höheres erschien. In ganz gleicher Weise unergründlich, erhob sich die Seele vor der Betrachtung dieses Höchsten auf eine Höhe, wie sie nie zuvor begriffen, und wohin der Verstand nicht mehr reichte.

»Gott vergieb mir und steh‘ mir bei,« stammelte er ohne Unterlaß, ungeachtet der so langjährigen und ihm vollkommen erschienenen Entfremdung, in dem Gefühl, daß er sich ganz so vertrauensselig und naiv wieder zu Gott wende, wie in den Zeiten seiner Kindheit und ersten Jugend.

Während dieser ganzen Zeit herrschten in ihm zwei in sich gesonderte Stimmungen. Die eine war vorhanden, wenn er sich nicht in der Gegenwart seiner Frau befand; sie gruppierte sich um den Arzt, welche eine seiner dicken Cigaretten nach der anderen rauchte und sie dann an dem Rande des gefüllten Aschenbechers löschte, um Dolly und den Fürsten, von denen ein Gespräch über das Essen, über die Politik und die Krankheit Marja Petrownas gepflogen wurde, und wo Lewin plötzlich auf einen Moment völlig vergaß, was vorging, sich gleichsam erwacht fühlte – die andere herrschte in ihm, wenn er in ihrer Gegenwart war; an ihrem Kopfkissen stand, und es ihm das Herz zerreißen wollte vor Mitleid und doch nicht zerriß, und wo er ohne Aufhören zu Gott flehte.

Jedesmal, wenn ihn ein aus dem Schlafzimmer zu ihm dringender Schrei einer Minute des Vergessens wieder entriß, geriet er in den nämlichen seltsamen Irrtum, dem er in der ersten Minute verfallen war. Jedesmal, sobald er einen Schrei vernahm, sprang er auf und eilte, um sich zu entschuldigen, besann sich aber unterwegs, daß er ja nicht schuld sei; er wollte schützen, helfen. Erblickte er sie aber dann, sah er von neuem, daß es unmöglich sei zu helfen, so geriet er in Schrecken und sprach »Gott vergieb mir und steh mir bei.«

Je weiter die Zeit vorrückte, um so stärker wurden diese beiden Stimmungen; um so ruhiger wurde er, indem er seine Frau völlig vergaß, in der Abwesenheit von ihr, um so qualvoller wurden ihm aber auch ihre Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit, diesen gegenüber. Er sprang empor, wollte fort, und lief zu ihr.

Bisweilen, wenn sie ihn immer und immer wieder rief, machte er ihr Vorwürfe, doch wenn er ihr ergebenes, lächelndes Antlitz gesehen, ihre Worte gehört hatte: »Ich martere dich,« machte er Gott Vorwürfe, gedachte er aber Gottes, so flehte er sogleich um Vergebung und Erbarmen.

8.

Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und schnellen Genesung in einer Weise glücklich und voll Lebensfreude, die nicht zu vergeben war. Die Erinnerung an das Unglück ihres Gatten vergällte ihr ihre Seligkeit nicht. Diese Erinnerung war ihr einerseits zu furchtbar, als daß sie daran hätte denken mögen, andrerseits verlieh ihr das Unglück des Gatten eine viel zu hohe Seligkeit, als daß sie Reue über dasselbe hätte empfinden können. Die Erinnerung an alles, was sich mit ihr seit ihrer Krankheit zugetragen, die Aussöhnung mit dem Gatten, der Bruch mit ihm, die Nachricht von der Verwundung Wronskiys, dessen erneutes Erscheinen bei ihr, die Vorbereitung der Ehescheidung, das Verlassen des Hauses ihres Gatten, der Abschied von ihrem Sohne – alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus welchem sie, allein mit Wronskiy, im Auslande erwacht war. Die Erinnerung – das Böse, daß sie ihrem Gatten zugefügt hatte, erweckte in ihr ein Gefühl, welches dem Ekel und dem Gefühl ähnlich war, welches ein Mensch empfindet, der ertrinken wollte und sich von einem andern losgerissen hat, der sich an ihn anklammerte. Dieser letztere Mensch war ertrunken. Natürlich war das keine schöne Handlung, aber es war die einzige Rettung und man that daher am besten, an diese furchtbaren Einzelheiten nicht mehr zu denken.

Ein Schluß der sie über ihre Handlungsweise beruhigte, kam ihr damals, in der ersten Minute nach dem Bruch, und wenn sie jetzt an ihre ganze Vergangenheit dachte, erinnerte sie sich dieses Schlusses. »Ich habe unwiderleglich das Verhängnis dieses Mannes herbeigeführt,« dachte sie, »aber ich will aus diesem Unglück keinen Vorteil ziehen; auch ich leide und werde leiden, ich bin dessen beraubt, was ich über alles schätzte, – des ehrenhaften Namens und meines Sohnes. Ich habe schlecht gehandelt, und will daher kein Glück, keine Ehescheidung; ich werde leiden in meiner Schmach und der Trennung von dem Sohne.«

Aber so aufrichtig Anna auch leiden wollte, sie litt nicht; und ihre Schmach war für sie nicht vorhanden. Mit dem Takte, von welchem sie beide so viel besaßen, kamen sie im Auslande, indem sie russische Damen mieden, nie in eine falsche Situation und überall trafen sie Leute, die sich stellten, als ob sie die beiderseitige Lage noch weit besser verständen, als sie selbst sie auffaßten. Selbst die Trennung von ihrem Sohne, den sie liebte, war ihr in der ersten Zeit nicht schmerzlich. Ihr Töchterchen, sein Kind, war so lieb, hatte Anna so für sich eingenommen, seit ihr das Mädchen allein verblieben war, daß sie nur selten noch des Sohnes gedachte.

Ihr Bedürfnis zu leben, mit der Genesung erhöht, war so stark, und ihre Lebensverhältnisse waren so ungewohnte und angenehme, daß Anna sich unverzeihlich glücklich fühlte.

Je mehr sie Wronskiy erkannte, desto mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe für sie. Ihre vollständige Herrschaft über ihn war ihr eine fortwährende Freude. Seine Nähe war ihr stets willkommen. Alle Züge seines Charakters, den sie mehr und mehr erkannte, waren ihr unaussprechlich lieblich. Sein Äußeres, das sich im Civilanzug verändert hatte, war für sie so anziehend, wie für eine liebende junge Frau. In allem was er sprach, dachte und that, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes, und ihr Entzücken über ihn erschreckte sie selbst sogar häufig. Sie suchte nichts Unschönes in ihm und konnte auch nichts finden; sie wagte es nicht, das Bewußtsein ihrer Nichtigkeit vor ihm gewahr werden zu lassen, denn es schien ihr, als ob er, wenn er dies wüßte, schneller aufhören könne, sie zu lieben. Jetzt aber fürchtete sie nichts so sehr – obwohl sie nicht den geringsten Anlaß hierzu hatte – als, seine Liebe zu verlieren. Sie konnte nicht umhin, ihm dankbar zu sein für sein Verhältnis zu ihr und mußte ihm zeigen, wie hoch sie dasselbe schätzte. Er, der nach ihrer Meinung einen so ausgeprägten Beruf für die Staatscarriere besaß, in der er einmal eine bedeutende Rolle spielen mußte – er hatte seinen Ehrgeiz für sie geopfert, ohne je auch nur das geringste Bedauern darüber zu zeigen.

Er war mehr noch als früher, liebevoll und achtungsvoll gegen sie geworden und der Gedanke, sie möchte sich des Peinlichen ihrer Lage niemals bewußt werden, verließ ihn nicht eine Minute. Er, so ganz ein Mann, war vor ihr nicht nur widerspruchslos, er hatte nicht einmal seinen eigenen Willen, und war offenbar nur damit beschäftigt, auf welche Weise er ihren Wünschen zuvorkommen könne. Und sie konnte nicht umhin, dies hochzuschätzen, obwohl sie das Übermaß seiner Aufmerksamkeit für sie, diese Atmosphäre liebevoller Sorgfalt mit der er sie umgab, bisweilen bedrückte.

Wronskiy jedoch war ungeachtet der vollständigen Verwirklichung dessen, was er so lange ersehnt hatte, nicht vollkommen glücklich. Er fühlte bald, daß die Verwirklichung seines Wunsches ihm nur ein Körnlein von jenem Berg von Glück gewährt hatte, den er erwartete. Diese Verwirklichung zeigte ihm nur den ewigen Fehler, den die Menschen begehen, indem sie sich das Glück als Verwirklichung eines Wunsches denken. In der ersten Zeit, nachdem er sich mit ihr vereinigt und den Civilrock angelegt hatte, empfand er all den Reiz der Freiheit im allgemeinen, den er nicht vorher gekannt hatte, sowie die Freiheit der Liebe, und er war zufrieden; doch nicht auf lange. Bald fühlte er, daß sich in seiner Brust der Wunsch der Wünsche regte – die Langeweile. – Ganz ohne seinen Willen klammerte er sich an jeder vorüberhuschende Laune, indem er sie als Wunsch und Ziel erfaßte. Sechzehn Stunden des Tages mußte man sich beschäftigen, obwohl man im Ausland in vollkommener Freiheit lebte, außerhalb jenes Kreises von Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens, wie er die Zeit in Petersburg für sich in Anspruch nahm.

An jene Zerstreuungen des Junggesellenlebens, die Wronskiy bei früheren Reisen ins Ausland beschäftigt hatten, war nicht mehr zu denken, da schon ein einziger Versuch dieser Art einen unerwarteten, einem verspäteten Abendbrot unter Bekannten nicht entsprechenden Trübsinn in Anna hervorrief. Beziehungen zu der Gesellschaft des Ortes, auch den Russen hier, konnten sie bei der Unbestimmtheit ihrer Verhältnisse ebenfalls nicht unterhalten. Eine Besichtigung der Sehenswürdigkeiten hatte, abgesehen davon, daß sie alles schon gesehen hatten, für ihn als einen Russen, und verständigen Menschen, nicht jene unerklärbare Bedeutung, wie sie die Engländer diesem Punkte beimessen.

Wie daher das hungernde Tier nach jedem fallenden Gegenstande schnappt, in der Hoffnung, in ihm etwas zu fressen zu finden, so griff auch Wronskiy vollständig instinktiv bald zur Politik, bald nach neuen Büchern, bald nach der Malerei.

Da er von Kindheit an Talent zur Malerei gehabt, und, indem er nicht wußte, wofür er sein Geld verausgaben sollte, Stahlstiche zu sammeln begonnen hatte, so blieb er endlich bei der Malerei, und begann sich mit ihr zu beschäftigen und jenen brachliegenden Wust von Wünschen, welcher nach Verwirklichung verlangte, in ihr abzulagern.

Er besaß die Fähigkeit, die Kunst zu erfassen, und in der That mit Geschmack die Kunst nachzuahmen; er meinte auch, daß er dasselbe besäße, was der Künstler brauche, und befaßte sich, nachdem er einige Zeit geschwankt hatte, welches Genre der Malerei er erwählen solle: das religiöse, historische oder realistische, mit Malen. Er verstand sich auf jedes Genre und konnte sich für dieses, wie für jenes begeistern, aber er vermochte sich nicht vorzustellen, daß es auch möglich sei, ganz und gar nichts zu wissen, was es für Richtungen in der Malerei gebe, und sich unmittelbar von dem inspirieren zu lassen, was in der Seele lebte, ohne Sorge, ob das, was man malte, auch zu einem bestimmten Genre in der Kunst gehörte. Da er dies nicht kannte, und sich nicht unmittelbar vom Leben beeinflussen ließ, sondern mittelbar, vom Leben wie es durch die Kunst schon verkörpert war, so begeisterte er sich sehr schnell und leicht und erreichte ebenso schnell und leicht, daß das, was er malte, demjenigen Genre sehr ähnlich wurde, welches er nachzuahmen wünschte.

Vor allem gefiel ihm die französische Schule, die graziöse und effektvolle, und nach dieser begann er, das Bild Annas in italienischem Kostüm zu malen. Das Porträt erschien ihm und jedermann, der es sah, als sehr gelungen.