In der zehnten Stunde saßen der alte Fürst, Sergey Iwanowitsch und Stefan Arkadjewitsch bei Lewin. Nachdem man über die Wöchnerin gesprochen hatte, unterhielt man sich auch über nebensächliche Dinge.
Lewin hörte ihnen zu und dachte unwillkürlich bei diesen Gesprächen der Vergangenheit, dessen, was bis zum heutigen Morgen geschehen war; er vergegenwärtigte sich auch, wie er sich noch gestern dazu gestellt hatte. Es war ihm, als seien seit dieser Zeit hundert Jahre vergangen. Er fühlte sich auf einer gewissen unzugänglichen Höhe, von welcher er sich vorsorglich herabließ, um diejenigen nicht zu verletzen, mit denen er sprach. Er sprach, und dachte dabei fortwährend seines Weibes, der Einzelheiten ihres jetzigen Zustandes, und seines Sohnes, und suchte sich an den Gedanken seines Vorhandenseins zu gewöhnen. Die ganze Welt des Weiblichen, welche für ihn eine neue, ihm unbekannt gewesene Bedeutung erlangt hatte, seitdem er verheiratet war, erhob sich jetzt in seinem Begriffsvermögen so hoch, daß er sie mit seiner Vorstellungskraft nicht mehr zu umfassen vermochte. Er hörte ans das Gespräch über ein Essen am gestrigen Tag im Klub und dachte dabei »wie mag es jetzt mit ihr stehen, ob sie eingeschlafen ist? Wie mag sie sich befinden? Was mag sie denken? Schreit der kleine Dmitry?« Und mitten in der Unterhaltung sprang er auf und verließ das Zimmer.
»Man hat mir gemeldet, man kann zu ihr,« sagte der Fürst. »Gut; sogleich« – antwortete Lewin, und ging ohne Verzug zu ihr.
Sie schlief nicht und sprach leise mit ihrer Mutter, Pläne über die bevorstehende Taufe entwerfend.
Geputzt, frisiert und in einem zierlichen Häubchen mit blauem Band, die Hände auf der Bettdecke ausgestreckt, lag sie auf dem Rücken, und winkte ihn mit dem Blick zu sich, indem sie dem seinigen begegnete. Ihr Blick, schon ohnehin hell, wurde noch lichter im Maße, als er sich ihr näherte. Auf ihrem Gesicht lag jene Wandlung vom Irdischen zum Überirdischen, welche auf dem Gesicht Verstorbener zu liegen pflegt. Dort aber liegt Vergebung darauf; hier ein Wunsch nach Begegnung. Wiederum trat ihm jene Wallung, ähnlich derjenigen, die er in den Augenblicken der Niederkunft empfunden hatte, ans Herz. Sie nahm ihn bei der Hand und frug, ob er geschlafen habe. Er konnte nicht antworten und wandte sich ab, von seiner Schwäche übermannt.
»Ich habe mich vergessen, mein Konstantin,« sagte sie zu ihm, »doch jetzt befinde ich mich recht wohl.« Sie schaute ihn an, doch plötzlich veränderte sich ihr Ausdruck. »Gebt ihn mir her,« sprach sie, das Wimmern des Kindes vernehmend. »Gebt ihn her, Lisabetha Petrowna, er soll ihn sehen.«
»Hier, der Papa muß ihn sehen,« sagte Lisabetha Petrowna, ein rotes, seltsames, sich bewegendes Etwas emporhebend und herbeibringend; »doch halt, wir wollen ihn erst putzen,« und Lisabetha Petrowna legte dieses sich bewegende, rote Ding auf das Bett, wickelte das Kind auf, und wickelte es wieder zu, nachdem sie es mit einem Finger aufgehoben, umgewendet, und es mit irgend etwas bestreut hatte.
Lewin machte, indem er dieses einzige, klägliche Wesen ansah, vergebliche Anstrengungen, in seiner Seele einige Kennzeichen von Vatergefühl für dasselbe zu entdecken. Er empfand nur Ekel vor ihm. Nachdem es jedoch der Hüllen entledigt war, die zarten Armchen, Füßchen, die wie Saffran aussahen, sichtbar wurden, mit den kleinen Fingerchen, selbst mit dem Daumen, der sich vor den anderen auszeichnete, und als er wahrnahm, wie Lisabetha Petrowna – als wären es weiche Sprungfedern – die gespreizten Armchen andrückte, indem sie sie in ein leinenes Jüpchen steckte, überkam ihn ein solches Mitleid mit diesem Wesen, und eine solche Angst, sie könne demselben schaden, daß er sie an der Hand festhielt.
Lisabetha Petrowna lachte.
»Habt keine Angst; habt keine Angst!«
Nachdem das Kind angezogen und zu einer drallen Puppe umgewandelt worden war, wälzte es Lisabetha Petrowna, als sei sie stolz auf ihr Werk, und trat dann zurück, damit Lewin den Sohn in seiner ganzen Schönheit sehen könne.
Kity schaute unverwandt gleichfalls nach ihm hin.
»Reicht ihn her, reicht ihn her!« sagte sie und wollte sich sogar erheben.
»Was macht Ihr, Katharina Aleksandrowna, solche Bewegungen dürft Ihr nicht machen! Wartet nur, ich werde ihn Euch schon geben. Jetzt wollen wir uns aber erst Papa zeigen, wie hübsch wir sind.«
Und Lisabetha Petrowna erhob auf dem einen Arme – der andere stützte nur mit den Fingern das noch haltlose Genick – dieses seltsame, zappelnde, seinen Kopf unter dem Saum der Windel verbergende rote Wesen. Doch es hatte auch eine Nase, schielende Äugen und schmatzende Lippen.
»Ein schönes Kind!« sagte Lisabetha Petrowna.
Lewin seufzte voll Ingrimm. Dieses schöne Kind flößte ihm nur das Gefühl des Abscheues und des Mitleids ein. Das war durchaus nicht das Gefühl, welches er erwartet hatte.
Er wandte sich ab, wahrend Lisabetha Petrowna das Kind an die noch nicht gewohnte Brust zu legen suchte. Ein Lachen ließ ihn plötzlich den Kopf heben. Kity hatte gelacht. Das Kind hatte sich an ihre Brust gemacht.
»Genug, genug nun!« sagte Lisabetha Petrowna, doch Kity ließ es nicht von sich. Es schlief in ihren Armen ein.
»Sieh jetzt her,« sprach Kity, ihm das Kind so zuwendend, daß er es sehen konnte. Das ältlich aussehende Gesichtchen runzelte sich plötzlich noch mehr; das Kind nieste.
Lächelnd und mit Mühe die Thränen zurückhaltend, küßte Lewin sein Weib und verließ das verdunkelte Gemach.
Was er für dieses kleine Geschöpf empfand, war durchaus nicht das, was er erwartet hatte. Nichts Heiteres und Freudiges lag in diesem Gefühl; im Gegenteil, es verursachte ihm eine ungewohnte, peinliche Angst; die Erkenntnis eines neuen Gebietes, auf dem er verwundbar war. Diese Erkenntnis war ihm in der ersten Zeit so peinlich, die Angst davor, daß dieses hilflose Wesen nicht litte, war so stark, daß infolge derselben die Empfindung einer ungemessenen Freude, selbst des Stolzes, die er hatte, als das Kind nieste, gar nicht bemerkbar wurde.