35.

Die heitere Stimmung des Fürsten übertrug sich auch auf seine häusliche Umgebung, die Bekannten, und selbst auf den deutschen Wirt, bei dem die Schtscherbazkiy wohnten.

Mit Kity vom Brunnen zurückgekehrt, ließ der Fürst, der den Obersten, sowie Marja Eugenjewna und Warenka zum Kaffee zu sich gebeten hatte, Tisch und Stühle in den kleinen Garten unter einen Kastanienbaum bringen und dort zum Frühstück decken.

Selbst der Hauswirt und der Diener wurden unter dem Einfluß seiner heiteren Stimmung lebhaft. Sie kannten seine Freigebigkeit, und nach einer halben Stunde blickte auch der kranke Hamburger Arzt, der oben logierte, neidisch aus dem Fenster auf die heitere, russische Gesellschaft gesunder Menschen herab, die sich da unter dem Kastanienbaum versammelt hatte.

In dem von Kringeln zitternden Schatten des Blätterdaches saß die Fürstin an dem mit einem schneeigen Tafeltuch bedeckten Tische, auf welchem Kaffeekannen, Brot und Butter, Käse und kaltes Wildbret stand, in ihrem Hauskleid mit lila Schleifen, und verteilte die Tassen und Törtchen.

Am andern Ende saß der Fürst, mit vollen Backen kauend, in geräuschvoller und heiterer Unterhaltung; er hatte neben sich Ankäufe ausgelegt; geschnitzte Kästchen, Spiele, Federmesser von allen Sorten, die er in allen Bädern in Massen gekauft hatte, und verteilte sie nun. unter alle, selbst an Lieschen, das Dienstmädchen und den Hauswirt, mit welchem er in seinem komischen schlechten Deutsch scherzte, indem er ihm versicherte, daß nicht die Bäder Kity geheilt hätten, sondern seine vorzügliche Kost und besonders die Suppe mit gebackenen Pflaumen.

Die Fürstin machte sich über ihres Gatten russische Manieren lustig, war aber gleichfalls so angeregt und heiter, wie sie seit der ganzen Zeit ihrer Anwesenheit im Bade nicht gewesen war.

Der Oberst freute sich, wie stets, über die Späße des Fürsten, aber in Bezug auf die europäischen Verhältnisse, welche er aufmerksam studiert hatte, wie er wähnte, hielt er die Partei der Fürstin.

Die gutmütige Marja Eugenjewna schüttelte sich vor Lachen über alles was der Fürst Scherzhaftes äußerte, und selbst Warenka – was Kity noch nie bemerkt hatte – ließ ein leises, aber vernehmliches Lachen hören, welches die Scherze des Fürsten in ihr hervorriefen.

Alles dies erheiterte Kity wohl, aber sie konnte sich einer Sorge nicht erwehren. Sie vermochte die Aufgabe nicht zu lösen, welche ihr ihr Vater – ohne es zu wollen, mit seiner launigen Ansicht von ihren Freundinnen und jenem Leben gestellt, das sie so lieb gewonnen hatte.

Zu dieser Aufgabe kam noch die Veränderung in ihren Beziehungen zu Petroff, welche heute in so augenfälliger und unangenehmer Weise zum Ausdruck gekommen war. Alle befanden sich in heiterer Stimmung, nur Kity konnte nicht heiter sein und dies quälte sie noch mehr. Sie empfand ein Gefühl, wie es ihr wohl in der Kindheit kam, wenn sie, zur Strafe in ihr Zimmer eingeschlossen, das lustige Lachen der Schwestern vernahm.

»Nun, wie teuer kauftest du denn diese Masse Kram?« frug die Fürstin lächelnd, ihrem Gatten eine Schale Kaffee reichend.

»Man geht da eben unter den Buden umher, und tritt man an eine heran, so wird man eingeladen zu kaufen: Erlaucht, Excellenz, Durchlaucht, heißt es da; wenn man schon Durchlaucht tituliert wird, da kann man nicht mehr anders, man läßt zehn Thaler springen und damit gut.«

»Und das machst du nur aus langer Weile,« sagte die Fürstin.

»Versteht sich; aus lieber langer Weile. Man langweilt sich eben so, Matuschka, daß man wirklich nicht mehr weiß, was man mit sich anfangen soll.«

»Wie kann man sich nur langweilen, Fürst? Es giebt doch jetzt soviel des Interessanten in Deutschland,« sagte Marja Eugenjewna.

»Aber ich kenne schon alles Interessante! Suppe mit gebackenen Pflaumen, Erbswurst – ich kenne alles!«

»O, nein, doch wie Ihr wollt! Fürst, interessant sind die Sitten hier,« meinte der Oberst.

»Was wäre dabei Interessantes? Die Menschen sind alle zufrieden, wie Kupfermünzen, aber sie haben sich alles dienstbar gemacht. Womit soll ich jedoch zufrieden sein? Ich habe mir niemand dienstbar gemacht, sondern ziehe mir des Abends meine Stiefel selber aus und setze sie auch noch selber vor die Thür. Morgens stehe ich auf, kleide mich sogleich an, gehe in den Salon und trinke dann meinen schlechten Thee. Wie geht es doch aber bei mir zu Hause? Da schläft man aus m Ruhe, ereifert sich über etwas, kommt dann hübsch zur Besinnung, überlegt sich alles und hat keinerlei Eile.«

»Zeit aber ist doch Geld! Das vergeßt Ihr!« warf der Oberst ein.

»Welche Zeit! Das ist eine ganz andere Zeit, wenn man einen ganzen Monat für einen Poltinnik opfert, als solche, von der eine halbe Stunde mit keinem Gelde bezahlbar ist! Was sagst du dazu, Katenka? Du bist recht langweilig.«

»Ich – o nichts.«

»Wohin wollt Ihr schon? Bleibt doch noch ein wenig sitzen,« wandte er sich an Warenka.

»Ich muß nach Haus,« antwortete Warenka aufstehend, nochmals in Lachen ausbrechend. Nachdem sie sich beruhigt hatte, verabschiedete sie sich und schritt nach dem Hause, um ihren Hut zu nehmen.

Kity folgte ihr nach. Selbst Warenka erschien ihr jetzt als eine andere. Sie war nicht schlechter geworden, aber doch eine andere, als Kity sie sich früher vorgestellt hatte.

»O, so habe ich lange nicht gelacht!« sagte Warenka, ihren Schirm und das Arbeitsbeutelchen nehmend; »wie liebenswürdig er doch ist, Euer Papa!«

Kity schwieg.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« frug Warenka.

»Maman wollte zu den Petroff gehen. Werdet Ihr nicht dort sein?« frug Kity, Warenka ausforschend.

»Ich werde kommen; sie rüsten sich zur Abreise und ich habe dann versprochen, mit einpacken zu helfen,« antwortete Warenka.

»Gut, auch ich werde kommen.«

»Aber, was wollt Ihr da?«

»Weshalb fragt Ihr so, weshalb, weshalb?« versetzte Kity, die Augen weit aufreißend, und um Warenka nicht fortzulassen, deren Sonnenschirm ergreifend. »Halt, halt, weshalb fragt Ihr so?«

»Nun; Euer Papa ist doch angekommen und man wird auch in Eurer Gegenwart in Verlegenheit geraten.«

»Nein, nein; sagt mir, weshalb Ihr nicht wollt, daß ich öfter bei den Petroff bin? Ihr wollt es doch offenbar nicht. Weshalb nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt,« antwortete Warenka ruhig.

»O bitte, sprecht nur!«

»Soll ich alles sagen?«

»Alles, alles!« –

»Etwas Besonderes ist ja gar nicht dabei – nur dies, daß Michael Aleksejewitsch, der Maler, erst zeitiger abreisen wollte, jetzt aber gar nicht mehr will,« sprach Warenka lächelnd.

»Und?« drängte Kity, Warenka finster anblickend.

»Nun; infolge dessen hat Anna Pawlowna gesagt, er wolle dies deswegen nicht, weil Ihr hier wäret. Natürlich war das unpassend, aber eben aus diesem Grunde, nur Euretwegen, ist der Zwist entstanden. Ihr wißt ja, wie reizbar diese Kranken sind!«

Kity blieb stumm, sich mehr und mehr verfinsternd, und Warenka sprach allein weiter, im Bemühen, sie beschwichtigen und zu beruhigen. Sie sah den sich vorbereitenden Ausbruch, wußte aber noch nicht, ob er sich in Worten oder in Thränen äußern werde.

»Es ist somit besser, Ihr geht nicht hin. Ihr versteht ja, und nehmt nicht übel« –

»Mir ist ganz recht geschehen, ganz recht!« versetzte Kity hastig, den Schirm aus den Händen Warenkas reißend und an den Blicken der Freundin vorbei ins Weite starrend.

Warenka wandelte ein Lächeln an, als sie den kindlichen Zorn der Freundin gewahrte, doch fürchtete sie, diese zu kränken.

»Inwiefern ist dir recht geschehen? Ich verstehe nicht,« sprach sie.

»Recht geschehen ist mir dafür, daß dies alles nur Verstellung war, alles nur simuliert wurde und nicht aus Herzensgrunde kam! Was ging mich auch ein fremder Mensch an? So ist es gekommen, daß ich die Ursache des Unfriedens geworden bin, nur weil ich etwas gethan habe, was niemand von mir verlangte. Daher ist alles dies nur Heuchelei, Heuchelei, Heuchelei!« –

»Aber wozu denn heucheln?« erwiderte ruhig Warenka.

»O wie thöricht; wie abscheulich! Und ich hätte dies doch gar nicht zu thun brauchen! Alles war Heuchelei!« sagte sie, den Schirm bald öffnend, bald schließend.

»Aber zu welchem Zwecke nur?«

»Zu dem, vor den Menschen, vor sich selbst, und vor Gott besser zu scheinen! Daß man jedermann täuscht! Nein, nie mehr werde ich mich von jetzt ab jenen Bestrebungen widmen! Man kann wohl schlecht sein, braucht aber doch wenigstens nicht zu lügen und zu trügen!«

»Aber wer ist denn die Betrügerin?« frug Warenka vorwurfsvoll, »Ihr sprecht doch gerade, als ob« –

Kity befand sich indessen in höchster Wut; sie ließ Warenka nicht aussprechen.

»Nicht von Euch, durchaus nicht von Euch rede ich. Ihr seid die Vollkommenheit selbst! Ja wohl, ich weiß, daß ihr alle die Vollkommenheit selbst seid! Aber was ist zu thun, wenn ich schlecht bin? Dies würde doch alles nicht gewesen sein, wenn ich nicht schlecht wäre! Laß mich also sein, wie ich bin, heucheln will ich aber nicht! Was geht mich Anna Pawlowna an? Mögen sie doch leben, wie sie wollen; auch ich thue es, wie ich will. Eine andere kann ich nicht werden und alles dies ist anders, anders!« –

»Was ist anders?« frug Warenka unsicher.

»Alles! Ich kann nicht anders leben, als nach meinem Herzen, Ihr aber lebt nach Regeln. Ich hatte Euch aufrichtig liebgewonnen, Ihr mich aber, wohl nur im Wunsche, mich zu retten, unterwiesen!«

»Ihr seid ungerecht,« sagte Warenka.

»Ich spreche nicht von anderen, nur von mir selbst!«

»Kity!« – erklang hier die Stimme der Mutter, »komm doch hierher und zeige Papa einmal deine Zaunkönige!« –

Mit einem Ausdruck von Stolz und ohne sich mit der Freundin ausgesöhnt zu haben, nahm sie von einem Tische die im Käfig befindlichen Zaunkönige und ging zur Mutter.

»Was ist dir? Du stehst so rot aus?« frug Vater und Mutter wie mit einer Stimme.

»Nichts,« versetzte Kity, »ich komme sofort wieder her,« und eilte nochmals zurück. »Sie wird noch da sein,« dachte sie, »was soll ich ihr sagen? Mein Gott, was habe ich ihr angethan, was habe ich gesprochen! Wofür habe ich denn sie beleidigt? Was soll ich thun? Was soll ich ihr sagen?« dachte Kity und blieb an der Thür stehen.

Warenka saß, im Hut und den Sonnenschirm in den Händen, am Tische, und betrachtete die Sprungfeder, welche Kity zerbrochen hatte. Sie hob den Kopf,

»Warenka, vergebt mir, vergebt!« flüsterte Kity, zu ihr tretend. »Ich weiß nicht mehr, was ich gesprochen habe. Ich« –

»Ich habe Euch wahrhaftig nicht wehe thun wollen,« antwortete Warenka, lächelnd.

Der Friede war wieder geschlossen, aber mit der Ankunft des Vaters hatte sich für Kity diese ganze Welt, in welcher sie gelebt, verwandelt. Sie sagte sich zwar nicht los von allem dem, was sie kennen gelernt hatte, aber sie hatte auch erkannt, daß sie sich selbst täuschte, wenn sie glaubte, sie könne so werden, wie sie zu sein wünschte.

Sie war gleichsam erwacht und fühlte die ganze Schwierigkeit, die darin lag, sich ohne Heuchelei und Prahlerei auf jener Höhe erhalten zu sollen, auf welche sie hinaufzugelangen wünschte. Weiter aber empfand sie auch die ganze Schwere der Bitternis dieser Welt in der sie lebte, ihrer Leiden und des Todes. Peinlich erschienen ihr die Anstrengungen, welche sie über sich gemacht hatte, um das alles lieben zu können, und sie empfand jetzt bald Sehnsucht nach einem frischen Lufthauch, nach Rußland, nach Pokrowskoje, wohin, wie sie brieflich benachrichtigt worden war, ihre Schwester Dolly mit ihren Kindern bereits übergesiedelt war.

Aber ihre Liebe zu Warenka hatte nicht abgenommen. Beim Abschied bat Kity diese, zu ihnen nach Rußland zu kommen.

»Ich werde kommen, sobald Ihr heiratet,« hatte Warenka darauf geantwortet.

»Niemals werde ich heiraten!« –

»Dann werde ich niemals kommen!«

»Also werde ich dann nur deshalb heiraten! Seht zu, seid Eures Versprechens eingedenk!« sagte Kity.

Die Prophezeiungen des Arztes hatten sich erfüllt. Kity kehrte wiederhergestellt nach Rußland zurück. Sie war nicht mehr so sorglos und heiter, wie vordem, sondern sie war ruhig geworden. Die bitteren Erfahrungen in Moskau waren ihr nur noch eine Erinnerung.

1.

Sergey Iwanowitsch Koznyscheff wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und ging – anstatt wie üblich ins Ausland – Ende Mai auf das Land zu seinem Bruder.

Seiner Überzeugung nach war das schönste Leben das Landleben, und er kam jetzt zu seinem Bruder, um dieses Leben zu genießen.

Konstantin Lewin war hocherfreut, umsomehr, als er den Bruder Nikolay für dieses Jahr nicht mehr erwartete, aber ungeachtet aller Liebe und Achtung, für Sergey Iwanowitsch, war es ihm nicht recht behaglich in Gesellschaft des Bruders auf dem Lande. Es war ihm peinlich, sogar unangenehm, die Auffassung seines Bruders vom Landleben zu beobachten. Für Konstantin Lewin war das Dorf der Ort seines Lebens, das heißt seiner Freuden und Leiden und seiner Mühen; für Sergey Iwanowitsch war das Dorf einerseits ein Erholungsort von der Arbeit, andererseits ein nützliches Gegengift für die Verderbnis, welches er mit Vergnügen und dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm.

Konstantin Lewin war das Dorf deshalb lieb und wert, weil es für ihn die Laufbahn einer zweifellos nutzbringenden Wirksamkeit bildete, Sergey Iwanowitsch besonders deshalb, weil man sich daselbst dem süßen Nichtsthun überlassen konnte, ja mußte. Außerdem aber war Konstantin auch auf die Stellung Sergey Iwanowitschs dem Volke gegenüber nicht gut zu sprechen. Sergey Iwanowitsch sagte, er liebe und kenne das Volk, und unterhielt sich häufig mit den Bauern, was er gut zu thun verstand, ohne sich zu verstellen oder mit einer Miene dabei zu zucken. Aus jeder solchen Unterhaltung deduzierte er sich allgemeine Thatsachen, die zu Gunsten des Volkes sprachen und den Beweis liefern sollten, daß er dieses Volk verstehe.

Dieser Standpunkt dem Volke gegenüber gefiel Konstantin Lewin nicht. Für ihn war das Volk nur der Hauptteilhaber an der gemeinsamen Arbeitspflicht und ungeachtet aller seiner Achtung, selbst einer gewissen angeborenen Liebe zum Bauernstande, die er wohl mit der Ammenmilch wie er selbst sagte, eingesogen hatte, geriet er als Teilhaber neben demselben an der gemeinsamen Arbeit, zwar bisweilen in Entzücken über die Kraft, die Güte und das Rechtsgefühl dieser Menschen, sehr oft aber auch, wenn es sich bei dieser gemeinsamen Arbeit um andere Eigenschaften handelte, in Zorn über deren Sorglosigkeit, Unachtsamkeit, Trunksucht und Verlogenheit.

Konstantin Lewin würde, wenn er gefragt worden wäre, ob er das Volk liebe, jedenfalls nicht gewußt haben, wie er hierauf antworten solle. Er liebte das Volk und liebte es auch nicht, genau so wie überhaupt die Menschen. Natürlich liebte er, als guter Mensch, die Menschen mehr, als daß er sie nicht geliebt hätte, und demzufolge liebte er auch das Volk. Aber das Volk lieben oder nicht lieben – als etwas Besonderes – das konnte er nicht, weil er nicht nur im Volke selbst lebte, nicht nur alle seine Interessen mit demselben verknüpft waren, sondern, weil er sich auch selbst für ein Teil aus dem Volke hielt und weder in sich selbst, noch in diesem Volke etwa besondere Vorzüge oder Mängel erkannte, und sich auch demselben nicht gegenüberzustellen vermochte.

Obwohl er ferner lange Zeit in den engsten Beziehungen mit dem Bauernstande als Gutsherr und Schiedsrichter gelebt hatte, hauptsächlich auch als Ratgeber – die Bauern vertrauten ihm und kamen bis zu vierzig Werst weit her, um sich bei ihm Rats zu erholen – so hatte er doch nicht das geringste bestimmte Urteil über das Volk; und auf die Frage, ob er es kenne, würde er sich in der nämlichen Ratlosigkeit befunden haben, wie bezüglich der Frage, ob er es liebe.

Zu sagen, er kenne das Volk, wäre für ihn das Nämliche gewesen, wie die Behauptung, er kenne die Menschen überhaupt. Er hatte wohl die Menschen beständig beobachtet und jede Art derselben kennen gelernt, aber in der Zahl jener Bauern, die er für gute und interessante Menschen gehalten hatte, nahm er unaufhörlich neue Charakterzüge wahr, änderte daher seine früher gewonnenen Urteile über dieselben und bildete sich neue.

Sergey Iwanowitsch verfuhr im Gegenteil. Ganz ebenso, wie er das Landleben liebte und pries als Gegensatz zu dem Leben, welches er nicht liebte – ganz ebenso liebte er das Volk im Gegensatz zu jener Art von Menschen, die er nicht liebte, ganz ebenso erkannte er das Volk als etwas, was den Menschen insgemein entgegengesetzt war. In seinem logischen Verstande hatten sich bestimmte Formen des Volkslebens klar abgesetzt, zum Teil aus diesem selbst hergeleitet, in der Hauptsache aber vorzugsweise nur aus dem Gegensätzlichen. Er änderte daher niemals seine Meinung über das Volk und das Verhältnis, in welchem er sich zu demselben fühlte.

Bei diesen unter den beiden Brüdern obwaltenden Meinungsverschiedenheiten über das Volk, suchte Sergey Iwanowitsch stets seinen Bruder vor allem dadurch zu überzeugen, daß er selbst bestimmte Begriffe von dem Volke besitze, von seinem Charakter, seinen Eigenschaften und seinem Geschmack. Konstantin Lewin hingegen besaß keinerlei bestimmte oder unwandelbare Vorstellungen und die Folge war, daß er bei derartigen Debatten des Widerspruches mit sich selbst überführt wurde.

Für Sergey Iwanowitsch selbst war der jüngere Bruder ein guter Mensch, von Gefühl, bien établi, wie er sich französisch ausdrückte, aber mit einer, wenn auch ziemlich beweglichen, so doch gleichwohl den Eindrücken des Augenblicks unterworfenen und daher an Widersprüchen reichen Geistesrichtung. Mit jener Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm daher bisweilen die Bedeutung der Dinge, fand aber keinen Genuß darin, mit ihm zu debattieren, da er ihn zu leicht schlug.

Konstantin Lewin blickte auf seinen Bruder, wie auf einen Menschen von hohem Geist und großer Bildung, edel in des Wortes höchstem Sinne und begabt mit der Fähigkeit, für das allgemeine Wohl zu wirken. Auf dem Grund seiner Seele aber begann er, je älter er wurde und je mehr er den Bruder erkannte, inne zu werden, daß diese Befähigung, zum allgemeinen Wohle wirken zu können, deren er sich so völlig bar wußte, vielleicht gar kein Vorzug sei, sondern vielmehr ein Mangel; nicht gerade ein Mangel an guten, ehrenhaften und löblichen Wünschen und Ansichten, aber doch ein Mangel an Lebenskraft, an dem, was man Herzensfrische nennt, an jenem Streben, welches den Menschen veranlaßt, aus all den unzählig sich bietenden Lebenswegen einen auszuwählen und diesen einen zu erstreben.

Je mehr er den Bruder erkannte, umsomehr bemerkte er, daß auch Sergey Iwanowitsch, wie viele andere Propheten des allgemeinen Wohls, nicht vom Herzen zu dieser seiner Liebe für dasselbe geleitet wurde, sondern nur nach dem Verstande urteilte, es sei gut, wenn man sich mit Derartigem befasse, und daß er sich eben aus diesem Grunde nur damit befaßte. In dieser Annahme bestärkte Lewin auch weiter noch die Bemerkung, daß sich sein Bruder die Frage, welche die sociale Wohlfahrt oder die Unsterblichkeit der Seele betrafen, nicht anders zu Herzen nahm, als wie wenn es sich um eine Partie Schach oder die scharfsinnige Konstruktion einer neuen Maschine handelte.

Ferner aber war es Lewin auch deshalb noch peinlich, mit seinem Bruder das Landleben zu teilen, weil er, besonders im Sommer, beständig mit der Ökonomie beschäftigt war, so daß ihm selbst der lange Sommertag noch nicht hinreichte alles zu erledigen, was erledigt werden mußte, während Sergey Iwanowitsch der Ruhe pflegte. Wenngleich indessen dieser jetzt auch ausruhte, das heißt, nicht an seinem Werke arbeitete, so war er doch so an geistige Thätigkeit gewöhnt, daß er es liebte, die Ideen welche ihm gekommen waren, in schöner, präciser Form zu äußern, und er liebte es, daß ihm jemand hierbei zuhörte. Der gewöhnliche und natürliche Zuhörer war nun sein Bruder, und es wurde diesem daher ungeachtet aller freundschaftlichen Offenheit in den beiderseitigen Beziehungen peinlich, den Bruder allein lassen zu sollen. Sergey Iwanowitsch liebte es, im Sonnenschein im Grase zu liegen, sich rösten zu lassen und träge dabei zu plaudern.

»Du glaubst nicht,« wandte er sich an seinen Bruder, »welchen Reiz für mich diese faulenzende Sommerfrische hat. Kein Gedanke ist im Kopf, und rollte man ihn wie eine Kugel.« Konstantin Lewin war es indessen langweilig, so zu sitzen und jenem zuzuhören, schon deshalb, weil er wußte, daß man ohne seine persönliche Aufsicht den Dünger auf ein falsches Feld fahren und wer weiß wie schlecht auswerfen werde. Man würde die Pflugscharen an den Pflügen nicht festschrauben und dann sagen, der Pflug sei eine unnütze Erfindung.

»Nun genug, endlich mit diesem Laufen in der Hitze!« sagte zu ihm sein Bruder.

»Ach, nur noch einmal nach dem Kontor muß ich sehen,« antwortete Lewin und eilte auf das Feld hinaus.

2.

In den ersten Tagen des Juni ereignete es sich, daß die Amme und Wirtschafterin Agathe Michailowna ein Gefäß mit soeben von ihr eingesalzenen Pilzen in den Keller tragen wollte, ausglitt, zu Falle kam und sich den Handknöchel verstauchte. Der Landarzt kam, ein zungengewandter junger Mann, welcher kaum erst die Universitätsstudien hinter sich hatte; er besichtigte die Hand, sagte, daß sie nicht aus dem Gelenk gefallen sei und vergnügte sich dann in einem Gespräch mit dem berühmten Sergey Iwanowitsch Koznyscheff, indem er demselben, um ihm seine aufgeklärten Ansichten zu zeigen, allen Klatsch aus dem ganzen Landkreis berichtete und dabei die üble Lage der ländlichen Angelegenheiten beklagte.

Sergey Iwanowitsch hörte aufmerksam zu, erkundigte sich, äußerte, angeregt von seinem neuen Zuhörer, einige treffende und bedeutungsvolle Bemerkungen, die von dem jungen Arzte respektvoll aufgenommen wurden, und geriet dann in seine gewöhnliche, dem Bruder schon bekannte lebhafte Stimmung, m welche er gewöhnlich nach einer glänzenden, geistreichen Unterhaltung geriet.

Nach der Abfahrt des Arztes empfand er den Wunsch, eine Angelpartie an den Fluß Zu machen. Er liebte das Angeln und war fast stolz darauf, daß er eine so einfältige Beschäftigung lieben konnte.

Konstantin Lewin, welcher nach dem Ackerfelde und den Wiesen sehen mußte, erbot sich, den Bruder im Kabriolett hinauszufahren.

Es war in der Jahreszeit, in welcher die Natur auf ihrem Höhepunkt steht, in welcher der Getreideschnitt bereits bestimmt ist und die Sorge für die Saat des künftigen Jahres beginnt, wo die Krummeternte naht, wenn der Roggen in graugrüner Färbung noch mit beweglicher Ähre im Winde wogt und der grüne Hafer, von den Büscheln gelbgewordenen Grases durchsetzt, ungleichmäßig aus der Wintersaat emporkommt, wenn der frühzeitige Buchweizen schon die Erde bedeckt, während die von dem werdenden Vieh hartgetretenen Brachfelder mit den darin freigelassenen Fußsteigen die der Pflug nicht berührt, halb gepflügt liegen, die herausgebrachten vertrockneten Düngerhaufen im Abendrot mit dem duftenden Grase zusammen ihren Geruch verbreiten und in den Niederungen, der Sense harrend in dichtem Wuchs die Wiesen stehen, mit den dunkeln Massen der Sauerampfer auf den saftigen Stengeln.

Es war jene Zeit, in welcher in der Arbeit des Landlebens eine kurze Ruhepause eintritt vor dem Beginn der sich alljährlich wiederholenden, alljährlich von neuem alle Kräfte des Volkes wieder herausfordernden Ernte. Dieselbe fiel glänzend aus, und schöne helle Sommertage mit thaufrischen kurzen Nächten folgten ihr.

Die beiden Brüder mußten durch den Wald fahren, um zu den Wiesen zu gelangen. Sergey Iwanowitsch freute sich über die Schönheit des sich entlaubenden Waldes und wies dem Bruder bald eine dunkle, alte Linde von der Schattenseite her, die buntdurchsetzt von den gelben Samentroddeln sich zur Blüte vorbereitet, bald die schimmernden jungen Triebe der Bäume, aus dem heurigen Jahr.

Konstantin Lewin liebte es nicht, von der Schönheit der Natur zu sprechen oder Gespräche darüber anzuhören. Worte nahmen für ihn nur die Schönheit von dem, was er sah. Er nickte dem Bruder nur zu, begann aber unwillkürlich über etwas anderes nachzudenken. Als sie durch den Wald gelangt waren, wurde seine Aufmerksamkeit ganz von dem Anblick des Brachfeldes auf dem Hügel gefesselt, auf welchem das Gras trocknete, in Schwaden gemäht, in Haufen zerstreut, und wo frisch gepflügt war. Über das Feld bewegte sich ein langer Zug von Wagen. Lewin zählte die Wagen und war befriedigt, daß alles, was nötig war, von ihnen fortgebracht wurde, und seine Gedanken schweiften nun bei dem Anblick der Wiesen zu der Heuernte. Er empfand stets etwas ihn eigentümlich Anmutendes bei der Heuernte. Nachdem Lewin zur Wiese gekommen, hielt er das Pferd an.

Der Morgenthau lag noch unten in dem dichten Grase, und Sergey Iwanowitsch bat ihn, im Kabriolett über die Wiese zu fahren – damit er sich nicht die Füße naß machte– bis zu dem Weidengebüsch hin, bei welchem man die Barsche fing. So schwer es Lewin wurde, sein Gras zerfahren zu müssen, er fuhr dennoch in die Wiese. Das hohe Gras wogte geschmeidig um die Räder und die Hufe des Pferdes, seine Samenkörner an den nassen Speichen und Naben sitzen lassend.

Der Bruder ließ sich unter dem Gebüsch nieder und untersuchte die Angel, während Lewin das Pferd wegführte und anband, worauf er in das graugrüne, von keinem Lufthauch bewegte ungeheure Grasmeer der Wiese hineinschritt. Das wie Seide glänzende Gras mit den reifen Spitzen auf dem nassen Boden, ging ihm fast bis an den Gürtel.

Nachdem Lewin die Wiese durchkreuzt hatte, gelangte er auf den Weg heraus. Da begegnete er einem alten Manne mit einem geschwollenen Auge, der einen Bienenkorb trug, in welchem Bienen waren.

»Nun, Thomitsch, hast du etwas gefangen?« frug er diesen.

»Was soll ich fangen? Wenn man nur seine eigenen Bienen behalten kann! Mir war nun schon der zweite Schwarm hier davongegangen. Aber die Kinder haben ihn noch eingeholt. Bei Euch wird gepflügt – sie hatten das Pferd ausgespannt,« –

»Was meinst du Thomitsch, soll man schneiden oder noch warten.«

»Nun, nach meiner Meinung müßte man bis zu St. Peter warten, doch Ihr schneidet stets früher. Nun, Gott wird es schon geben, daß das Gras gut ist und das Vieh Futter haben wird im Überfluß.«

»Und was meinst du zum Wetter?«

»Steht bei Gott! Vielleicht wird auch das Wetter gut.«

Lewin kehrte zu seinem Bruder zurück.

Derselbe hatte nichts gefangen, aber Sergey Iwanowitsch langweilte sich gleichwohl nicht und schien in der heitersten Stimmung zu sein. Lewin bemerkte, daß ihn das Gespräch mit dem Arzte angeregt hatte, und er Lust empfand, weiter zu sprechen. Er selbst aber wollte so bald als möglich nach Hause, um über die Wahl der Schnitter, während des Frühstücks, Verfügungen zu treffen und der Ungewißheit, in der er selbst sich wegen der Heuernte, die ihn stark in Anspruch nahm, befand, ein Ende zu machen.

»Wollen wir nicht aufbrechen?« begann Lewin.

»Warum denn so eilen? Bleiben wir noch ein wenig sitzen! Wie bist du aber doch naß geworden! Wenn man auch nichts fängt, so ist es doch ganz hübsch. Alle Jagd ist deshalb angenehm, weil man durch sie mit der Natur in Berührung kommt. Welcher Reiz liegt im Anblick dieses stahlfarbenen Gewässers,« sprach Sergey Iwanowitsch. »Diese Wiesenufer,« fuhr er fort, »stets geben sie nur ein Rätsel auf – verstehst du? Das Gras spricht etwas zum Wasser.«

»Ich verstehe das Rätsel nicht,« versetzte Lewin mißmutig.

7.

In Moskau mit dem Morgenzug angekommen, blieb Lewin bei seinem ältesten Bruder Koznyscheff. Nachdem er sich umgekleidet, begab er sich zu diesem ins Kabinett, entschlossen, ihm unverweilt zu berichten, zu welchem Zwecke er angekommen sei und seinen Rat zu erbitten.

Aber sein Bruder war nicht allein. Bei ihm befand sich ein berühmter Professor der Philosophie, der aus Charkoff eigens deshalb gekommen war, um Zweifel, die beiden über eine sehr wichtige philosophische Frage aufgetaucht waren, aufzuklären.

Der Professor führte eine sehr scharfe Polemik gegen die Materialisten und Sergey Koznyscheff war mit Interesse dieser Polemik gefolgt. Nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen hatte, teilte er demselben brieflich seine Einwendungen mit und machte ihm Vorwürfe, daß er den Materialisten viel zu große Konzessionen gemacht habe. Der Professor war nun sogleich selbst erschienen, um sich mit dem Briefschreiber auszusprechen.

Das Thema drehte sich um eine moderne Frage: Giebt es eine Grenze zwischen den psychologischen und physiologischen Offenbarungen in der Thätigkeit des Menschen, und wo liegt sie?

Sergey Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem ihm eigenen vor jedermann angenommenen kaltfreundlichen Lächeln und fuhr, nachdem er denselben mit dem Professor bekannt gemacht hatte, in seinem Gespräch fort.

Der kleine Herr in der Brille mit der schmalen Stirn ließ einen Augenblick das Gespräch fallen, um den Angekommenen zu begrüßen und setzte dann das Gespräch fort, ohne Lewin weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Lewin saß erfüllt von der Erwartung, daß der Professor sich entfernen möchte, aber bald begann er sich selbst für den Gegenstand der Unterhaltung zu interessieren.

Lewin hatte in den Journalen die Artikel gefunden, um die es sich hier handelte und sie gelesen, von ihnen angezogen als von einer Entwickelung ihm bekannter Dinge. Er hatte auf der Universität die Fundamente der Naturwissenschaften studiert, sich aber nie mit diesen wissenschaftlichen Ausführungen über die Entstehung des Menschen als eines lebenden Wesens, über die Reflexe, über Biologie und Sociologie näher beschäftigt, mit jenen Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Todes für ihn selbst, die ihm in der jüngsten Zeit öfters in den Sinn gekommen waren.

Beim Anhören der Unterredung des Bruders mit dem Professor bemerkte er, daß sie wissenschaftliche Fragen mit subjektiven verbanden. Mehrmals näherten sie sich jenen Fragen, aber jedes Mal, wenn sie nahe an den Hauptpunkte waren, wie ihm schien, entfernten sie sich sogleich wieder davon und versenkten sich wieder in das Gebiet feinster Unterscheidungen, Verteidigungen, Citate, Fingerzeige und Verweise auf Autoritäten, und nur schwer vermochte er noch zu erkennen, wovon eigentlich die Rede war.

»Ich kann nicht zugeben,« sagte Sergey Iwanowitsch mit seiner gewöhnlichen Klarheit und Präzision des Ausdruckes und Eleganz der Diktion, »ich kann keinenfalls mit Keis darin übereinstimmen, daß meine gesamte Vorstellung von der äußeren Welt aus den Eindrücken hervorgehen sollte. Die elementarste Vorstellung vom Sein wird von mir nicht durch die Empfindung erworben, denn es ist gar kein besonderes Organ für die Wiedergabe dieser Vorstellung vorhanden.«

»Ja wohl, aber Wurst und Knaust und Pripasoff würden dem entgegenhalten, daß Euer Daseinsbewußtsein aus der Vereinigung aller Empfindungen hervorgeht, daß dieses Existenzbewußtsein das Resultat der Gefühle ist. Wurst spricht sogar unverhohlen aus, daß wo nicht Gefühl vorhanden sei, auch das Verständnis für das Sein fehle.«

»Ich würde dem gegenüber behaupten« – begann Sergey Iwanowitsch.

Hier schien es Lewin wiederum, als ob sie, der Hauptfrage nahe gekommen, sich von neuem von ihr entfernten, und so entschloß er sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.

»Es könnte demzufolge, wenn mein Gefühl vernichtet ist, wenn mein Körper stirbt, keine Existenz mehr geben?« warf er ein.

Der Professor blickte verdrießlich und gewissermaßen mit einem geistigen Schmerzgefühl über die Unterbrechung auf nach dem seltsamen Frager hinüber, der eher einem Riesen ähnlich sah, als einem Philosophen, und richtete dann das Auge auf Sergey Iwanowitsch als wolle er fragen, was man eigentlich hierauf antworten könne.

Sergey Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit der nämlichen Anstrengung und Einseitigkeit sprach, wie der Professor, und in dessen Kopfe noch Spielraum genug übrig war, dem Professor mit Erwiderungen zu dienen, und zugleich auf diesen einfachen und natürlichen Gesichtspunkt einzugehen, von welchem aus diese Frage gestellt war, lächelte und sagte:

»Diese Frage zu entscheiden besitzen wir kein Recht« –

»Wir haben keine Unterlagen dafür,« bestätigte der Professor, und setzte seine Ausführungen fort.

»Nein,« sagte er, »ich verweise darauf, daß, wenn, wie Pripasoff offen sagt, die Empfindung zu ihrem Fundamente den Eindruck hat, wir diese beiden Begriffe auch streng voneinander scheiden müssen.«

Lewin hörte nun nicht weiter zu, sondern wartete nur noch, bis der Professor sich verabschieden würde.

30.

Wie in allen kleinen Orten, an denen Leute zusammenströmen, so hatte sich auch in dem kleinen deutschen Badeort, wohin die Schtscherbazkiy gereist waren, jene übliche Krystallisation unter der Gesellschaft vollzogen, die jedem Mitgliede derselben seinen bestimmten und unveränderlichen Platz anweist.

Wie ein Wasserteilchen in der Kälte bestimmt und unwandelbar die bekannte Form eines Schneeflockenkrystalls annimmt, ganz so wurde auch hier jede im Bad Neuangekommene Person sogleich in den ihr gebührenden Platz eingewiesen.

Der »Fürst Schtscherbazkiy samt Gemahlin und Tochter« hatten sich nach dem Quartier, welches sie mieteten, sowie nach dem Namen, und den Bekannten, die sie antrafen, sogleich in der ihnen bestimmten und vorher festgesetzten Kaste einkrystallistert.

In dem Bade befand sich in diesem Jahre eine wirkliche, deutsche Fürstin, infolge dessen sich die Krystallisation der Gesellschaft noch energischer vollzog.

Die Fürstin wollte um jeden Preis der deutschen Prinzessin ihre Tochter vorstellen und am nächsten Tage schon vollzog sie diese Ceremonie.

Kity knixte tief und graziös in ihrer aus Paris verschriebenen, »sehr einfachen«, das heißt sehr eleganten Sommerrobe.

Die deutsche Prinzessin sagte zu ihr: »Ich hoffe, daß die Rosen bald auf dieses liebe Gesichtchen zurückkehren mögen,« und für die Schtscherbazkiy wurde damit der Weg der Etikette, aus dem nicht mehr herauszutreten war, sogleich fest vorgezeichnet.

Die Schtscherbazkiy waren auch mit der Familie einer englischen Lady und mit einer deutschen Gräfin und deren im letzten Kriege verwundetem Sohne, bekannt geworden, sowie mit einem schwedischen Gelehrten und mit einem Mr. Canut nebst Schwester.

Aber der hauptsächlichste Verkehrskreis der Schtscherbazkiy bestand aus einer Moskauer Dame Marja Eugenie Rtischtschewaja mit Tochter, welche Kity unsympathisch war, weil dieselbe an der nämlichen Krankheit litt wie sie, an unglücklicher Liebe – und einem Moskauer Obersten, den Kity von Kindheit an nur in Uniform und Epauletten gesehen hatte und kannte, und der hier, mit seinen kleinen Äuglein, dem offenen Hals mit dem farbigen Shlips, außerordentlich lächerlich und langweilig wurde, da man sich nicht von ihm frei machen konnte.

Da alle diese Verhältnisse so fest beobachtet wurden, begann sich Kity sehr zu langweilen, und zwar umsomehr, als der Fürst nach Karlsbad gefahren war, und sie mit der Mutter allein zurückblieb.

Sie interessierte sich nicht für die Leute, welche sie kannte, da sie fühlte, daß von ihnen nichts Neues mehr zu erwarten war. Das hauptsächlichste und lebhafteste Interesse im Bade gewährte ihr jetzt die Beobachtung und Beurteilung derjenigen, welche sie nicht kannte.

Nach der Eigenart ihres Charakters, vermutete Kity stets in den Leuten nur das Beste, und besonders in denjenigen, die sie nicht kannte. Auch jetzt, als sie Betrachtungen darüber anstellte, wer dieser oder jener sei, und in welchen Beziehungen die Beobachteten untereinander stehen mochten, auch wie sie überhaupt sein könnten, konstruierte sich Kity die wundersamsten und edelsten Charaktere, und fand auch die Bestätigung dafür in ihren Beobachtungen.

Unter diesen Charakteren beschäftigte sie namentlich eine junge russische Dame, die mit einer kranken Landsmännin in das Bad gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie man sie allgemein nannte.

Madame Stahl gehörte der vornehmsten Gesellschaft an, war aber so krank, daß sie nicht mehr zu gehen vermochte, und sich nur selten, an besonders schönen Tagen, im Bad in einem kleinen Fahrwagen zeigte.

Es war indessen weniger ihre Krankheit, als vielmehr ihr Stolz, welcher, nach der Erklärung der Fürstin Madame Stahl mit keinem der russischen Badegäste Umgang pflegen ließ.

Die junge russische Dame pflegte sorglich Madame Stahl und kümmerte sich auch, wie Kity bemerkte, außerdem noch um sämtliche Schwerkranke, deren es viele in dem Bade gab, in der natürlichsten, herzlichsten Weise.

Diese junge Russin war, nach Kitys Beobachtungen, keine Verwandte von Madame Stahl, aber ebensowenig eine gemietete Krankenpflegerin. Madame Stahl nannte sie Warenka, die anderen aber hießen sie »Mademoiselle Warenka«.

Ganz abgesehen davon, daß Kity schon die Beobachtung der Beziehungen dieses jungen Mädchens zur Frau Stahl und zu anderen ihr unbekannten Personen interessierte, empfand diese, wie das oft zu gehen pflegt, eine unerklärliche Sympathie zu dieser Mademoiselle Warenka und fühlte, nach den sich begegnenden gegenseitigen Blicken zu urteilen, daß auch sie gefiel.

Mademoiselle Warenka war nicht mehr in dem Alter, welches man die erste Jugend nennen konnte, sondern sie war gewissermaßen ein Wesen ohne Jugend.

Man konnte sie vielleicht für neunzehnjährig halten – aber ebenso gut auch für dreißigjährig. Musterte man ihre Züge, so war sie, trotz der krankhaften Farbe ihres Gesichts eher hübsch, als häßlich.

Sie war vielleicht auch hübsch gewachsen, wenn nicht die allzugroße Hagerkeit ihres Körpers gewesen wäre, und der Kopf zu ihrem mittleren Wuchs nicht im Mißverhältnis gestanden hätte. Für die Männerwelt aber mußte sie ja auch nicht anziehend sein. Sie glich einer schönen, zwar noch blätterreichen, aber doch schon verblühten und geruchlos gewordenen Blume.

Abgesehen hiervon aber konnte sie auch noch deshalb für die Männer nicht anziehend sein, weil ihr das abging, was Kity in zu hohem Maße besaß – die noch gefesselte Lebensglut und das Bewußtsein eigener Anziehungskraft.

Sie schien stets mit einer Aufgabe beschäftigt zu sein, in der es für sie keine Unsicherheit geben konnte, und infolge dessen, schien es, vermochte sie sich auch nicht für Nebensächliches zu interessieren.

Aber gerade mit diesem Widerspruch mit sich selbst zog sie Kity zu sich hin. Kity empfand, daß sie in ihr, in ihrer Lebensgeschichte ein Vorbild für das finden werde, was sie jetzt so sehnlich suchte; ein Lebensinteresse, Würdigung des Daseins, die außerhalb der für Kity so widerlich gewordenen Beziehungen des weiblichen Elements zu dem männlichen lägen, jener Beziehungen, welche ihr jetzt als eine schmachvolle Menschenwarenausstellung, die der Käufer harrte, erschien.

Je mehr Kity ihre unbekannte Freundin beobachtete, umsomehr überzeugte sie sich, daß dieses Mädchen ein solches, wirklich vollkommenes Geschöpf sei, als das sie sich diese gedacht hatte, und umsomehr wünschte sie nun, mit ihr bekannt zu werden.

Beide Mädchen begegneten sich täglich mehrere Male und bei jeder Begegnung sprachen die Augen Kitys »wer bist du und was bist du? Du mußt doch das herrliche Geschöpf in Wahrheit sein, welches ich mir in dir vorstelle. Aber denke nicht,« sprach ihr Blick weiter, »daß ich mir gestatten würde, mich dir freundschaftlich anzuschließen; ich interessiere mich lediglich für dich und liebe dich.«

»Auch ich liebe dich und du bist gut, sehr gut,« antwortete ihr der Blick des unbekannten Mädchens, »und ich würde dich noch viel mehr lieben, wenn ich die Zeit dazu hätte.«

Und in der That, Kity gewahrte, daß sie fortwährend beschäftigt war; entweder holte sie die Kinder der russischen Familie von der Quelle ab, oder sie trug das Plaid für die Kranke und hüllte diese darin ein, oder sie bemühte sich, einen aufgeregten Leidenden zu zerstreuen, oder sie ging, um Gebäck zum Kaffee für jemand auszuwählen und zu kaufen.

Bald nach der Ankunft der Schtscherbazkiy erschienen kei der Morgenkur noch zwei weitere Badegäste, welche eine allgemeine Aufmerksamkeit, freilich nicht angenehmer Art, erregten.

Der eine war ein sehr großer Mann, von gekrümmter Haltung, mit großen Händen und in einem kurzen, schlecht sitzenden, alten Überzieher. Er hatte schwarze, offenherzige, zugleich aber auch furchterweckende Augen. Mit ihm war ein pockennarbiges, aber gutmütig aussehendes Weib von großer Häßlichkeit und in geschmackloser Kleidung.

Nachdem Kity diese beiden als Russen erkannt hatte, begann sie sich in ihrer Einbildungskraft schon einen schönen und rührenden Roman über sie zu machen, aber die Fürstin, aus der Kurliste ersehend, daß dies Lewin Nikolay und Marja Nikolajewna waren, erklärte Kity, welch ein böser Mensch dieser Lewin sei und alle Traumgebilde des jungen Mädchens über diese beiden Menschen entschwanden.

Nicht nur, weil die Mutter ihr dies mitteilte, sondern auch deshalb, weil jener ein Bruder Konstantin Lewins war, erschienen ihr diese Personen plötzlich im höchsten Grade unangenehm.

Dieser Lewin erweckte in ihr jetzt, mit seiner Gewohnheit, mit dem Kopfe zu zerren, ein unbesiegbares Gefühl der Abneigung.

Es schien ihr, als ob in seinen großen, furchterregenden Augen, welche sie hartnäckig verfolgten, eine Empfindung von Haß und Spott läge, und sie bemühte sich, Begegnungen mit diesem Manne zu vermeiden.

31.

Es war ein bodenlos morastiger Tag; der Regen fiel schon den ganzen Vormittag und die Kranken drängten sich in den Veranden mit ihren Sonnenschirmen.

Kity ging mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten, der heiter in seinem, nach europäischem Schnitt fertig in Frankfurt gekauften Überzieher plauderte.

Sie gingen auf der einen Seite der Veranda und suchten Lewin auszuweichen, der auf der anderen ging. Warenka in ihrem dunkeln Kleide und dem schwarzen Hute mit nach unten gebogenen Krempen, ging mit einer blinden kleinen Französin die lange Veranda hindurch, stets, wenn sie Kity begegnete, freundliche Blicke mit dieser austauschend.

»Mama, darf ich nicht ein Gespräch mit ihr anknüpfen?« frug Kity, ihrer unbekannten Freundin folgend und bemerkend, daß dieselbe zu dem Brunnen schritt, wo man bequem miteinander in Berührung treten konnte.

»Ja wohl, wenn du es so gern willst. Doch werde ich mich selbst zuvor über sie orientieren und zu ihr hingehen,« antwortete die Mutter. »Was findest du denn an ihr Besonderes? Eine Gesellschafterin wird sie doch wohl nur sein. Wenn du willst, werde ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle soeur gekannt,« fügte die Fürstin hinzu, stolz das Haupt erhebend.

Kity wußte, daß die Fürstin unangenehm davon berührt worden war, daß Madame Stahl es zu vermeiden suchte, mit ihr Bekanntschaft zu machen, sie drängte sie daher nicht.

»Es ist seltsam, wie lieb sie erscheint!« antwortete sie nur, nach Warenka blickend, gerade als diese der kleinen Französin ein Glas Brunnen reichte. »Seht nur, wie einfach alles bei ihr ist, wie lieb.«

»Deine engouements sind mir entsetzlich,« sagte die Fürstin, »gehen wir doch lieber zurück,« fügte sie alsdann hinzu, indem sie bemerkte, daß Lewin in Begleitung seiner Dame und eines deutschen Arztes, mit welchem er sehr laut und heftig sprach, auf sie zukam.

Man wandte sich um, um zurückzukehren, als plötzlich schon nicht mehr ein lautes Sprechen, sondern ein Schreien hörbar wurde.

Lewin war stehen geblieben und schrie, der Arzt aber war gleichfalls in Zorn geraten.

Ein Trupp Menschen sammelte sich um die beiden. Die Fürstin und Kity entfernten sich schleunigst, während sich der Oberst zu dem Haufen gesellte, um in Erfahrung zu bringen, um was es sich handelte.

Nach einigen Minuten hatte derselbe die Damen wieder eingeholt. »Was gab es denn dort?« frug die Fürstin.

»Schimpf und Schande!« antwortete der Oberst. »Vor dem einem muß man sich stets in acht nehmen, daß man mit Russen im Auslande zusammentrifft. Jener große Herr stritt sich mit seinem Arzte und sagte ihm Grobheiten dafür, daß er ihn nicht gesund mache. Dabei schwang er sogar seinen Stock. Es ist einfach eine Schande!«

»O, wie unangenehm!« äußerte die Fürstin, »und womit endete die Scene?«

»Gott sei Dank mischte sich jene Dame hinein, – die, deren Hut wie ein Pilz. aussteht. Sie ist eine Russin wie mir scheint,« sagte der Oberst.

»Mademoiselle Warenka?« frug Kity freudig.

»Ja wohl. Sie verstand schneller fertig zu werden, als jeder andere; nahm jenen Herrn einfach am Arme und führte ihn hinweg.«

»Da seht Ihr, Maman,« sagte Kity zu ihrer Mutter, »Ihr wundert Euch, daß ich von ihr entzückt bin!«

Vom folgenden Tage ab bemerkte Kity, ihre unbekannte Freundin beobachtend, daß Mademoiselle Warenka mit Lewin, sowie mit dessen Begleiterin schon in den nämlichen Beziehungen stand, wie mit ihren übrigen Schutzbefohlenen.

Sie stand ihnen bei, unterhielt sich mit ihnen, und machte die Dolmetscherin für das Weib Lewins, welches sich in keiner einzigen fremden Sprache auszudrücken wußte.

Kity begann nun der Mutter noch mehr anzuliegen, ihr die Bekanntschaft mit Warenka zu gestatten, und so unangenehm es der Fürstin auch sein mochte, den ersten Schritt zur Erfüllung des Wunsches mit Madame Stahl bekannt zu werden, welche sich offenbar auf eine unbekannte Eigenschaft viel einbildete, thun zu sollen, stellte sie dennoch Erkundigungen über Warenka an, näherte sich – nachdem sie Einzelheiten über diese vernommen hatte, welche darauf schließen ließen, daß etwas Übles nicht zu befürchten sei, obwohl sich auch nicht viel Gutes über diese Bekanntschaft ergab – selbst Warenka und machte sich mit dieser bekannt.

Indem sie die Zeit auswählte, in welcher ihre Tochter zum Brunnen ging, Warenka aber vor dem Bäcker stand, trat die Fürstin zu ihr.

»Gestattet mir, mich mit Euch bekannt zu machen,« begann sie mit ihrem würdevollen Lächeln. »Meine Tochter hat Euch liebgewonnen. Vielleicht aber kennt Ihr mich nicht; ich« –

»Das Vergnügen ist für mich ein ganz besonderes, Fürstin,« antwortete Warenka schnell.

»Welch ein gutes Werk habt Ihr gestern an unserem bemitleidenswerten Landsmann vollbracht,« fuhr die Fürstin fort.

Warenka errötete.

»Ich weiß nicht mehr recht – wie es scheint – ich habe doch gar nichts gethan,« antwortete sie.

»O doch: Ihr habt jenen Lewin vor einer Unannehmlichkeit bewahrt.«

»Ach ja; sa compane rief mich herbei und ich habe mich nur bemüht, ihn zu beruhigen. Er ist sehr krank und war mit dem Arzte unzufrieden. Ich habe eben die Gewohnheit, solchen Kranken Beistand zu leisten.«

»Ich habe schon gehört, daß Ihr sonst in Mentone mit Eurer Tante wohnt, wie es scheint mit Madame Stahl. Deren belle soeur habe ich ja gekannt.«

»O nein; sie ist nicht meine Tante. Ich nenne sie maman, bin mit ihr aber in keiner Beziehung verwandt. Sie hat mich erzogen,« fügte Warenka, wiederum errötend, hinzu.

Dies wurde so einfach gesprochen, so gut, aufrichtig und offenherzig war dabei der Ausdruck ihres Gesichts, daß die Fürstin jetzt begriff, warum ihre Kity diese Warenka liebgewonnen hatte.

»Was macht denn jener Lewin?« frug sie.

»Er wird abreisen,« versetzte Warenka.

In diesem Augenblick kam Kity vom Brunnen zurück, freudeglänzend, daß ihre Mutter mit der unbekannten Freundin bekannt geworden war.

»Nun, Kity, dein lebhafter Wunsch, bekannt zu werden mit Mademoiselle« –

– »Warenka« – lächelte Warenka, »so nennt mich alles.«

Kity errötete vor Freude und drückte lange schweigend die Hand der neuen Freundin, welche diesen Druck nicht erwiderte, sondern ihre Hand unbeweglich in der Kitys ruhen ließ.

Warenkas Hand antwortete nicht auf den Druck, aber ihr Gesicht schimmerte in einem stillen freudigen, wenn auch etwas traurigen Lächeln, welches große, aber schöne Zähne zeigte.

»Ich selbst wünschte dies schon längst« – sprach sie.

»Ihr seid aber so sehr in Anspruch genommen« –

»O; im Gegenteil, in keiner Beziehung,« versetzte Warenka, mußte aber schon in der nämlichen Minute ihre neuen Bekannten verlassen, da zwei kleine Mädchen russischer Nationalität, die Töchterchen eines Kranken zu ihr gelaufen kamen.

»Warenka, maman ruft!« riefen sie.

Warenka folgte ihnen.

32.

Die näheren Einzelheiten, welche die Fürstin über die Vergangenheit Warenkas, sowie über deren Beziehungen zu Madame Stahl und über die letztere selbst in Erfahrung gebracht hatte, waren die folgenden:

Madame Stahl, von der die Einen erzählten, daß sie ihren Mann zu Tode geärgert, die Anderen, daß dieser sie durch unmoralischen Lebenswandel aufs Krankenlager gebracht habe, war stets leidend und eine exaltierte Frau.

Nachdem sie, mit ihrem Manne bereits in Trennung, des ersten Kindes genesen, war dieses sogleich nach der Geburt gestorben, und die Verwandten der Frau, ihre Empfindsamkeit kennend, tauschten in der Furcht, diese Nachricht möchte ihr das Leben kosten, das tote Kind aus und legten ihr das in der nämlichen Nacht und im nämlichen Hause in Petersburg geborene Töchterchen eines Hofkoches unter. Dieses Kind war Warenka.

Madame Stahl erfuhr später, daß Warenka nicht ihre Tochter sei, erzog diese aber weiter, um so lieber, als Warenka bald darauf keinen lebenden Verwandten mehr besaß.

Madame Stahl hatte nun bereits seit mehr als zehn Jahren beständig im Ausland im Süden gelebt, ohne je das Bett verlassen zu haben.

Man erzählte einerseits, daß sich Madame Stahl der Lebensaufgabe gewidmet habe, in der Gesellschaft die Stellung einer Wohlthäterin und hochreligiös gesinnten Frau einzunehmen.

Andere sagten, daß sie seelisch tatsächlich dasselbe hochmoralische Wesen sei, nur auf das Wohl des Nächsten bedacht, als welches sie äußerlich erschien.

Niemand wußte, welcher Konfession sie angehörte, ob sie katholisch, protestantisch oder rechtgläubig sei, aber eins war unzweifelhaft, – sie stand in freundschaftlichen Verbindungen mit den allerhöchsten Persönlichkeiten aller Kirchen und Glaubensbekenntnisse.

Warenka lebte nun mit ihr beständig im Auslande und alle, welche Madame Stahl kannten, kannten und liebten auch Mademoiselle Warenka, wie jedermann sie nannte.

Nachdem die Fürstin diese Umstände erfahren hatte, fand sie nichts Bedenkliches mehr in der Annäherung ihrer Tochter an Warenka, umsoweniger, als Warenka die feinsten Manieren und die beste Erziehung besaß.

Sie sprach vorzüglich französisch und englisch, und was die Hauptsache war, sie brachte seitens der Madame Stahl die Nachricht, daß diese es bedaure, ihrer Krankheit halber des Vergnügens beraubt zu sein, Bekanntschaft mit der Fürstin zu schließen.

Nachdem Kity mit Warenka bekannt geworden war, erwärmte sie sich immer mehr und mehr für ihre neue Freundin und entdeckte mit jedem Tage neue Vorzüge an ihr.

Die Fürstin, welche erfahren hatte, daß Warenka gut singe, bat diese zu einem Besuch für den Abend, damit sie etwas vortrage.

»Kity ist musikalisch und ein Pianoforte haben wir auch, es ist zwar nicht gut, aber Ihr würdet uns ein großes Vergnügen gewähren,« sagte sie mit ihrem gezwungenen Lächeln, welches besonders in diesem Augenblicke Kity unangenehm war, da diese bemerkt hatte, daß Warenka wenig Neigung zum Singen zu haben schien.

Diese kam indessen am Abend und sie brachte auch ein Notenheft mit. Die Fürstin hatte noch Marja Eugenjewna mit ihrer Tochter und dem Obersten eingeladen. Warenka schien es völlig unberührt zu lassen, daß sich auch ihr unbekannte Personen hier eingefunden hatten, und sie schritt sogleich ans Klavier.

Sie verstand nicht, sich selbst die Begleitung zu spielen, sang aber vorzüglich vom Blatte. Kity, welche gut Klavier spielte, begleitete sie dazu.

»Ihr habt ein ungewöhnliches Talent,« sagte ihr die Fürstin, als Warenka die erste Nummer herrlich vorgetragen hatte.

Marja Eugenjewna nebst ihrer Tochter bedankten sich bei ihr und belobten sie.

»Seht nur einmal,« begann der Oberst durchs Fenster sehend, »welch eine Menschenmenge sich draußen versammelt hat, um Euch zu hören.«

In der That hatte sich ein ziemlich großer Trupp von Menschen unter den Fenstern angesammelt.

»Ich freue mich sehr, daß dies Euch Vergnügen gemacht hat,« versetzte Warenka einfach.

Kity blickte stolz auf ihre neue Freundin. Sie war entzückt sowohl von deren Kunstfertigkeit, wie von ihrer Stimme und ihrem Gesicht, aber vor allem war sie bezaubert von ihrem Auftreten und davon, daß sie offenbar nicht das Geringste von ihrer Gesangskunst hielt und sich dem dafür gespendeten Lobe gegenüber völlig gleichgültig verhielt. Sie schien nur zu fragen, ob sie noch weiter singen solle, oder ob es genug sei.

»Wenn ich das wäre,« dachte Kity bei sich selbst, »wie stolz wollte ich hierauf sein! Wie würde ich mich freuen, diesen Haufen dort unter den Fenstern erblicken zu können. Ihr aber ist alles völlig gleichgültig, und sie treibt nur der Wunsch, niemand etwas abzuschlagen und alles zu thun was ›maman‹ angenehm ist. Was mag eigentlich in ihr ruhen? Was verleiht ihr nur diese Kraft, auf alles herabzublicken, sich allem gegenüber in der Ruhe der Unabhängigkeit zu verhalten? Wie gern möchte ich dies erfahren und es von ihr lernen.« So dachte Kity, auf dieses ruhige Antlitz blickend.

Die Fürstin bat Warenka, noch zu singen und Warenka sang ein anderes Lied ebenso glatt, sorgfältig und gut, aufrecht an dem Klavier stehend und mit ihrer kleinen schmächtigen Hand den Takt darauf schlagend.

Das hierauf in dem Heft folgende Lied war italienisch. Kity spielte das Präludium und schaute dann auf Warenka.

»Lassen wir dies aus,« sagte dieselbe errötend.

Kity ließ erschreckt und fragend ihren Blick auf Warenkas Gesicht ruhen.

»Also singen wir ein anderes,« sagte sie hastig, die Blätter umschlagend und sofort inne werdend, daß sich mit diesem Liede irgend eine Erinnerung verknüpft.

»Ach nein,« versetzte Warenka, ihre Hand auf die Noten legend und lächelnd, »nein, nein; singen wir es,« und sie sang so ruhig, kühl und schön, wie vorher.

Nachdem sie geendet hatte, dankten ihr alle nochmals und man begab sich zum Thee. Kity und Warenka gingen in den Garten hinaus, der sich neben dem Hause befand.

»Nicht wahr, es verknüpft sich für Euch eine Erinnerung mit diesem Liede?« frug Kity.- »Ihr sprecht nicht?« fügte sie eifrig hinzu, »sagt mir nur – ist es nicht so?«

»Nein. Warum? – Doch ich will offen gestehen,« fuhr Warenka, ohne eine Antwort abzuwarten, fort, »daß sich allerdings eine Erinnerung und zwar eine einst sehr traurige, damit verknüpft. Ich liebte einen Mann und dieses Lied hatte ich ihm gesungen.«

Kity blickte mit weit offenen, großen Augen schweigend und verwirrt auf Warenka.

»Ich liebte ihn und er liebte mich; aber seine Mutter wollte nicht und er vermählte sich mit einer anderen. Er lebt jetzt nicht gar weit von hier und bisweilen sehe ich ihn auch. Habt Euch nicht gedacht, daß ich auch einen Roman haben konnte?« sagte sie und auf ihrem angenehmen Gesicht sprühte eine leichte Glut auf, welche – Kity fühlte dies – einst die ganze Gestalt erleuchtet haben mochte.

»Warum sollte ich dies nicht haben vermuten können? Wäre ich ein Mann, so würde ich niemand wieder lieben können, nachdem ich Euch kennen gelernt hätte. Nur begreife ich nicht, wie er der Mutter zu Gefallen Euch vergessen und unglücklich machen konnte. Er hat kein Herz gehabt!«

»O doch; er war ein sehr guter Mensch und ich bin auch nicht unglücklich. Im Gegenteil, ich bin sehr glücklich. Aber wollen wir heute nicht mehr singen?« fügte sie hinzu, sich dem Hause zuwendend.

»Wie gut Ihr seid, wie gut!« rief Kity aus, hielt sie zurück und küßte sie. »Könnte ich Euch doch nur ein klein wenig ähnlich sein!«

»Warum wollt Ihr denn einem anderen ähnlich sein? Ihr seid gut, so wie Ihr seid,« sagte Warenka mit ihrem sanften und matten Lächeln.

»Nein; ich bin durchaus nicht gut. Aber sagt mir doch – halt; setzen wir uns ein wenig!« sprach Kity und zog jene wieder auf einer kleinen Bank neben sich nieder. »Sagt mir, sollte es nicht kränkend sein daran denken zu müssen, daß ein Mensch unsere Liebe verschmäht hat, daß er sie nicht mochte?«

»Er hat sie ja gar nicht verschmäht; ich bin überzeugt, daß er mich geliebt hat, doch er war ein gehorsamer Sohn« –

»Gut, aber wenn er nun nicht nach dem Willen der Mutter gehandelt hätte, sondern einfach selbständig« – sagte Kity, im Gefühl, daß sie ihr eigenes Geheimnis verrate, und daß ihr Gesicht, flammend von der Röte der Scham, sie bereits überführt habe.

»Dann hätte er unrecht gehandelt und ich müßte ihn tadeln,« antwortete Warenka, die offenbar erkannt hatte, daß die Sache nicht mehr sie, sondern Kity anging.

»Und die Kränkung?« sagte Kity, »die Kränkung läßt sich nicht vergessen, die läßt sich nicht vergessen!« Sie entsann sich bei diesen Worten jenes Bildes auf dem letzten Balle, während der Pause der Ballmusik.

»Inwiefern ist hierbei Kränkung? Ihr habt doch ja nicht schlecht gehandelt?«

»Schlechter als schlecht – schmachvoll!«

Warenka schüttelte das Haupt und legte ihre Hand auf den Arm Kitys.

»Inwiefern denn schmachvoll?« sagte sie, »Ihr konntet doch dem Manne, der gleichgültig gegen Euch war, nicht sagen, daß Ihr ihn liebtet?«

»Natürlich nicht. Ich habe nie ein Wort davon gesagt, aber er hat es gewußt. Nein, nein, es giebt doch Blicke und Bewegungen. Sollte ich hundert Jahre leben, ich werde es nicht vergessen.«

»Was heißt das? Ich verstehe nicht. Es kann sich doch nur darum handeln, ob Ihr ihn jetzt noch liebt oder nicht,« fuhr Warenka fort, die Dinge mit dem Namen benennend.

»Ich hasse ihn; und kann mir nie vergeben!«

»Was heißt das?«

»Das heißt, erlittene Schmach und Kränkung.«

»O; wenn alle so empfindlich sein wollten, wie Ihr,« sagte Warenka; »es giebt wohl kein Mädchen, welches diese Erfahrung nicht gemacht hätte. Und dabei ist das alles doch so nichtig.«

»Aber was ist denn dann noch von Bedeutung,« erwiderte Kity, mit neugieriger Verwunderung Warenka ins Gesicht blickend.

»O, es giebt gar vieles was Bedeutung besitzt,« lächelte Warenka.

»Und das wäre?«

»Vieles hat ungleich höhere Bedeutung,« antwortete sie, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. In diesem Augenblick jedoch wurde die Stimme der Fürstin aus einem Fenster vernehmbar.

»Kity! Es wird kühl! Nimm doch einen Shawl oder komm in die Zimmer!«

»In der That, es ist Zeit,« sagte Warenka, sich erhebend, »ich muß noch zu Madame Berthe gehen; sie hat mich gebeten.«

Kity hielt sie an der Hand fest und frug sie mit leidenschaftlicher Neugier und Bitte in dem Blick:

»Was, was ist das Wichtigste, was eine solche Ruhe verleiht? Ihr wißt es also, sagt es mir!«

Allein Warenka verstand gar nicht, was Kitys Blick sie frug. Sie dachte nur an das Eine, daß sie heute noch zu Madame Berthe und dann nach Hause müsse zu maman zum Thee um zwölf Uhr.

Sie trat in die Zimmer, packte ihre Noten zusammen, verabschiedete sich von allen Anwesenden und wollte gehen.

»Gestattet mir, Euch zu begleiten,« sagte der Oberst.

»Gewiß; wie könntet Ihr allein jetzt zur Nachtzeit gehen?« bestätigte die Fürstin. »Ich werde wenigstens die Parascha mitsenden.«

Kity sah, daß Warenka mit Mühe ein Lächeln bei den Worten, daß sie eine Begleitung nötig habe, unterdrückte.

»O nein; ich gehe stets allein, und mir pflegt nie etwas zuzustoßen,« sagte sie, ihren Hut ergreifend.

Sie küßte Kity hierauf nochmals, und ohne dieser mitgeteilt zu haben, was jenes Höchste sei, verschwand sie mit schnellem Schritt, die Noten unterm Arm in dem Halbdunkel der Sommernacht, ihr Geheimnis mit sich nehmend, was das Höchste sei, was ihr ihre beneidenswerte Ruhe und Würde verlieh.

33.

Kity machte auch mit Madame Stahl Bekanntschaft, und diese Bekanntschaft, im Verein mit der Freundschaft Warenkas, übte nicht nur einen mächtigen Einfluß auf sie aus, sie tröstete sie auch in ihrem Leid.

Kity fand diesen Trost darin, daß sich ihr, dank dieser Bekanntschaft, eine vollständig neue Welt erschlossen hatte, die nichts gemeinsames mit der bisherigen besaß, eine erhabene, schöne Welt, von deren Höhe herab man ruhig auf die frühere blicken konnte.

Es zeigte sich ihr, daß außer dem instinktiven Dasein, welchem Kity sich bis jetzt dahingegeben, auch ein geistiges Leben existierte.

Dieses Leben offenbarte sich als die Religion, aber als eine Religion, welche nichts gemeinsam hatte mit jener, die Kity von Kindheit auf kannte, und welche sich in dem allabendlichen Hochamt im Witwenhaus verkörperte, wo man Bekannte treffen konnte und kirchenslavische Texte mit dem Geistlichen auswendig lernte.

Dies war eine höhere Religion, eine geheimnisvolle, verbunden mit einer Reihe der herrlichsten Ideen und Empfindungen, die man nicht nur glauben durfte, weil es so vorgeschrieben war, sondern die man lieben konnte.

Kity lernte alles dies nicht aus Worten. Madame Stahl sprach mit ihr wie mit einem geliebten Kinde, auf daß man Sorgfalt verwendet wie in der Erinnerung an die eigene Jugend, und nur einmal erwähnte sie, daß in allem menschlichen Elend einen Trost nur die Liebe und der Glaube verleihe und daß für das Mitleid Christi mit uns kein Schmerz mehr nichtig sei – ging dann aber sofort wieder auf ein anderes Thema über.

Kity erkannte jedoch in jeder ihrer Bewegungen, in jedem ihrer Worte, in jedem ihrer himmlischen Blicke, wie Kity diese nannte, und besonders in ihrer ganzen Lebensgeschichte, die sie durch Warenka erfahren hatte, was denn nun das Höchste sei, und was sie bisher noch nicht gekannt hatte.

Indessen so erhaben der Charakter der Madame Stahl auch war, so rührend ihre ganze Geschichte, so erhaben und mild ihre Rede auch klang, gewahrte Kity doch unwillkürlich Züge an ihr, die sie unsicher machten.

Kity bemerkte, daß Madame Stahl, indem sie nach ihren Verwandten frug, geringschätzig lächelte, was doch gegen die christliche Liebe war.

Sie bemerkte auch noch, daß wenn sie bei Madame Stahl den katholischen Geistlichen antraf, diese ihr Gesicht stets im Schatten einer Ampel hielt und eigentümlich lächelte.

So unscheinbar diese beiden Beobachtungen auch sein mochten, so setzten sie sie doch in Verwirrung und sie begann an Madame Stahl zu zweifeln.

Warenka hingegen, vereinsamt, ohne Anverwandte, ohne Freunde, mit ihrer traurigen Hoffnungslosigkeit, die nichts ersehnte, nichts beklagte, blieb immer von derselben Vollkommenheit, von der Kity kaum zu träumen wagte.

An Warenka erkannte diese, was es kostete, sich selbst zu vergessen und seinen Nächsten zu lieben, um ruhig, glücklich und gut zu werden. Und so wollte Kity sein.

Nachdem sie jetzt klar erkannt hatte, was also das höchste Gut sei, begnügte sie sich nicht damit, darüber in Entzücken zu geraten, sondern sie ergab sich sogleich, mit ganzer Seele, diesem neuen Leben, welches sich erschlossen hatte.

Nach den Berichten Warenkas über das, was Madame Stahl gethan hatte, sowie andere, die jene nannte, hatte sich Kity bereits den Plan ihres künftigen Lebens gemacht.

Sie wollte ebenso wie eine Nichte der Madame Stahl, Aline, von der ihr Warenka viel erzählt hatte, wo sie auch immer leben mochte, Unglückliche aufsuchen, ihnen helfen, so viel sie vermochte, das Evangelium verkünden, den Kranken die heilige Schrift vorlesen wie auch den Verbrechern und den Sterbenden.

Der Gedanke, den Verbrechern die Heilslehren zu verkünden, wie dies Aline gethan hatte, war besonders verführerisch für Kity. Aber all das waren für sie nur erst geheimgehaltene Ideen, die sie weder der Mutter, noch Warenka mitteilte.

In der Erwartung des Zeitpunkts, ihre Pläne in großem Maßstabe zur Ausführung zu bringen, fand Kity übrigens in dem Bade, wo es so viele Kranke und Unglückliche gab, leicht Gelegenheit, ihre neuen Grundsätze zur Anwendung zu bringen, indem sie Warenka nachahmte.

Anfänglich deutete die Fürstin nur an, daß Kity sich stark unter dem Einfluß ihres Engougements – wie sie es nannte – für Madame Stahl und namentlich für Warenka befinde.

Sie sah, daß Kity nicht nur Warenka in ihrem Wirken nachahmte, sondern dies auch unwillkürlich mit deren Manier zu gehen, zu reden und mit den Augen zu blinken that.

Dann aber bemerkte die Fürstin, daß sich in ihrer Tochter, unabhängig von dieser Eingenommenheit, ein ernster seelischer Wandlungsprozeß vollzog.

Die Fürstin sah, daß Kity des Abends in dem französischen Evangelium las, welches ihr Madame Stahl geschenkt hatte. Kity hatte dies früher nie gethan. Sie sah, daß ihre Tochter die Bekanntschaften aus der großen Welt mied und sich mit Kranken abgab, die unter der Protektion Warenkas standen, insbesondere mit der armen Familie eines kranken Malers Petroff. Kity war augenscheinlich stolz darauf, daß sie in dieser Familie die Obliegenheiten einer barmherzigen Schwester erfüllte.

Alles das war lobenswert, und die Fürstin hatte auch nichts dagegen, umsoweniger, als die Frau Petroffs ein sehr rechtschaffenes Weib war und die deutsche Prinzessin, das Wirken Kitys bemerkend, diese gelobt und einen Engel des Trostes genannt hatte. Alles das wäre recht gut gewesen, wenn es nicht zu weit getrieben worden wäre; die Fürstin sah jedoch, daß ihre Tochter in das Übermaß geriet und sagte ihr dies.

»Il ne faut jamais rien outrer,« sprach sie.

Die Tochter hatte nicht darauf antwortetet, sie hatte nur in ihrem Inneren gedacht, man könne nicht von einem Übermaß in der christlichen Werkthätigkeit sprechen. Welches Übermaß könne liegen in der Befolgung der Lehre, nach welcher geheißen wird, auch die zweite Wange zu bieten, wenn man die erste schlägt, auch das Hemd zu geben, wenn man den Rock nimmt.

Der Fürstin gefiel dieser übermäßige Eifer indessen durchaus nicht, und zwar umsoweniger, weil sie fühlte, daß Kity ihr nicht ihre ganze Seele offenbaren wollte. In der That verheimlichte diese der Mutter ihre neuen Anschauungen und Empfindungen. Sie verheimlichte dieselben indessen nicht deshalb, weil sie etwa ihre Mutter nicht geachtet, nicht geliebt hätte, nein, nur deshalb, weil es eben ihre Mutter war. Jedem anderen würde sie dieselben eher geoffenbart haben, als der Mutter.

»Anna Pawlowna ist lange nicht bei uns gewesen,« sagte eines Tages die Fürstin bezüglich der Frau Petroffs. »Ich habe sie hergebeten; aber sie ist, wie es scheint, mit irgend etwas unzufrieden.«

»O nein, maman, das habe ich nicht bemerkt,« antwortete Kity erregt.

»Warest du längere Zeit nicht dort?«

»Wir wollen morgen einen Ausflug in die Berge machen,« versetzte Kity.

»Gut, fahret dann,« antwortete die Fürstin, in das verwirrte Gesicht der Tochter schauend, und sich bemühend, den Grund ihrer Verlegenheit zu erraten.

An demselben Tag erschien Warenka zur Tafel; sie teilte mit, daß Anna Pawlowna es aufgegeben habe, morgen nach den Bergen zu fahren.

Die Fürstin bemerkte, daß Kity wiederum errötete.

»Kity, hast du etwas Unangenehmes mit den Petroffs gehabt?« frug sie, als beide allein waren. »Weshalb schickt jene Frau ihre Kinder nicht mehr, und weshalb kommt sie selbst nicht mehr zu uns?«

Kity antwortete, daß nichts zwischen ihnen vorgefallen sei und sie entschieden nicht begreife, warum Anna Pawlowna gleichsam mißvergnügt über sie zu sein scheine.

Kity sprach damit die volle Wahrheit; sie wußte nichts von dem Grunde der Veränderung Anna Pawlownas ihr selbst gegenüber, konnte ihn aber erraten, indem sie etwas vermutete, was sie der Mutter nicht mitteilen konnte, und wovon sie selbst sich noch nicht einmal Rechenschaft gegeben hatte. Es war einer jener Umstände, die man wohl kennt, von denen man aber sich selbst nicht einmal Rechenschaft geben kann; es ist ja so entsetzlich und beschämend, einen Fehler zu begehen.

Wieder und wieder prüfte Kity im Geiste alle ihre Beziehungen zu jener Familie. Sie vergegenwärtigte sich die treuherzige Freude, die auf dem runden, gutmütigen Gesicht Anna Pawlownas bei ihren Begegnungen zum Ausdruck gekommen war; sie erinnerte sich ihrer geheim gepflogenen Unterredungen über den Kranken, der Gespräche darüber, wie man ihn von der Arbeit, die ihm untersagt war abziehen und zum Spazierengehen bringen könne; der Anhänglichkeit des jüngsten Söhnchens, welches sie »meine Kity« zu rufen pflegte, und das ohne ihren Beistand nicht zu Bett gehen wollte. Wie war das alles so gut!

Dann vergegenwärtigte sie sich die furchtbar abgemagerte Erscheinung Petroffs mit dem langen Halse, in dem zimmetfarbenen Überzieher, seinen spärlichen, wirren Haaren, den forschenden, namentlich anfangs für Kity furchterregend gewesenen, blauen Augen, und seine krankhaften Anstrengungen, in der Gegenwart Kitys munter und lebhaft zu erscheinen. Sie gedachte der Anstrengungen, die sie anfangs gemacht hatte, um den Ekel, den sie vor ihm, wie vor allen Brustleidenden empfand, zu überwinden, und der Mühe, mit welcher sie ausgedacht hatte, wovon sie mit ihm sprechen könne. Sie rief sich jenen schüchternen, rührungsvollen Blick wieder ins Gedächtnis, mit welchem er sie angeschaut hatte, das seltsame Gefühl ihres Mitleids und ihrer Verlegenheit, und dann des Bewußtseins ihrer Tugend, das sie hierbei empfand. Wie war das alles so gut!

Aber alles das war auch nur in der ersten Zeit. Jetzt, seit einigen Tagen, hatte sich alles plötzlich zum Üblen gekehrt. Anna Pawlowna begegnete Kity mit einer erheuchelten Liebenswürdigkeit, sie und ihren Mann unaufhörlich beobachtend.

Sollte etwa dessen rührende Freude bei ihrem Nahen die Ursache des Erkaltens der Anna Pawlowna sein?

»Ja,« entsann sie sich, »es war jedenfalls etwas nicht Natürliches in Anna Pawlowna, was mit ihrer sonstigen Herzensgüte durchaus nicht mehr übereinkam, als sie vorgestern mürrisch gesagt hatte: Er hat nur auf Euch gewartet und wollte ohne Euch den Kaffee nicht trinken, obwohl er schrecklich schwach geworden ist. Ja, vielleicht war es ihr auch unangenehm gewesen, als ich ihm das Plaid gab. Alles war so einfach gewesen, und dennoch hatte er es verlegen entgegengenommen, mir so lange gedankt, daß auch ich verlegen wurde. Und dann mein Porträt, welches er so schön gemalt hat. Aber namentlich wohl jener Blick von ihm, verwirrt und zärtlich! Ja, ja, so wird es sein,« wiederholte sie sich voll Entsetzen. »Aber doch nein; das kann nicht sein, es darf nicht sein! Er ist doch so beklagenswert!« sagte sie hierauf zu sich selbst. Dieser Zweifel vergiftete ihr nun die Reize ihres neuen Lebens.

34.

Noch vor dem Schluß der Badesaison kehrte der Fürst Schtscherbazkiy von seiner Reise von Karlsbad nach Baden und Kissingen zu russischen Bekannten, bei denen er, wie er sagte »russische Luft schnappen« wollte, wieder zurück zu den Seinigen.

Die Anschauungen des Fürsten und der Fürstin über das Leben im Auslande waren vollständig entgegengesetzte.

Die Fürstin fand alles schön und bemühte sich, trotz ihrer unanfechtbaren Stellung in der russischen Gesellschaft, im Auslande die europäische Dame nachzuahmen – was sie nicht war als russische Standesperson. – Sie verstellte sich infolge dessen und das nahm sich bisweilen ungeschickt aus.

Der Fürst hingegen fand im Ausland alles schlecht, beschwerte sich über die europäische Lebensweise, hielt an seinen russischen Gewohnheiten fest und bestrebte sich absichtlich, im Auslande weniger als der Europäer zu erscheinen, der er wirklich war.

Der Fürst kam magerer geworden und mit Hängefalten in den Backen, aber in heiterster Laune zurück. Seine heitere Stimmung erhöhte sich noch, als er Kity vollständig genesen wiedersah.

Die Mitteilung über das Freundschaftsverhältnis Kitys mit Madame Stahl und Warenka, sowie die ihm von der Fürstin mitgeteilten Beobachtungen der Veränderung, die mit Kity vorgegangen war, verstimmten den Fürsten und erweckten in ihm das gewöhnliche Gefühl von Eifersucht gegen alles, was außer ihm seine Tochter an sich zog, die Befürchtung, die Tochter könnte sich seinem Einfluß entziehen und in Machtsphären geraten, die ihm unzugänglich waren.

Aber diese unangenehmen Nachrichten wurden in das Übermaß an Gutmütigkeit und Frohsinn versenkt, das stets in ihm vorhanden war und durch die Karlsbader Kur eine besondere Verstärkung erfahren hatte.

Am Tage nach seiner Ankunft begab sich der Fürst in seinem langen Paletot, mit seinen echt russisch, runzligen und gedunsenen Wangen, dem gesteiften Kragen und in heiterster Stimmung mit seiner Tochter nach dem Brunnen.

Der Morgen war schön; die sauberen freundlichen Häuser mit den kleinen Gärtchen, der Anblick der deutschen Mägde mit den blühenden Gesichtern, und roten Händen die lustig hantierten und der helle Sonnenschein ergötzte das Herz.

Je näher sie indessen zu dem Brunnen kamen, um so häufiger trafen sie auf Kranke und ihr Anblick war um so trauriger angesichts des Vorhandenseins der gewöhnlichen Bedingungen für ein gemütliches Leben nach deutschen Begriffen. Kity aber setzte dieser Widerspruch nicht mehr in Erstaunen.

Die glänzende Sonne, das heitere schimmernde Grün, die Klänge der Musik, bildeten für sie nur den natürlichen Rahmen aller dieser ihr bekannten Gesichter, dieses Wechsels zur Verschlechterung oder zur Besserung, die sie beobachtete, dem Fürsten jedoch erschien das Licht und der Glanz des Junimorgens, die Klänge des Orchesters, welches einen lustigen modernen Walzer spielte, und namentlich der Anblick der gesundheitstrotzenden Mädchen, fast unpassend und ungeheuerlich, im Bunde mit diesen von allen Enden Europas hier zusammengekommenen Todkranken, die niedergeschlagen einhergingen.

Trotz eines Gefühles von Stolz, gleichsam wiedererwachter Jugendlichkeit, welches er empfand, als die Lieblingstochter mit ihm Arm in Arm dahinschritt, wurde ihm jetzt sein festes Auftreten mit seinen vollen wohlbeleibten Gliedern gleichwohl förmlich peinlich. Er hatte fast das Gefühl eines Menschen, der unbekleidet in einer Gesellschaft erscheint.

»Stelle mich doch deinen neuen Freunden vor,« sagte er zu seiner Tochter, mit dem Ellbogen ihren Arm drückend; »ich liebe dein häßliches Soden nur um deswillen, weil es dich so hübsch gesund gemacht hat; es ist traurig, traurig hier bei Euch. Wer ist denn das dort?«

Kity nannte ihm die und jene bekannte oder unbekannte Person, die ihnen begegnete. Gerade am Eingang zum Kurpark begegnete sie der blinden Madame Berthe mit ihrer Führerin und der Fürst freute sich über den milden Ausdruck im Gesicht der alten Französin, als diese die Stimme Kitys vernahm.

Mit der ganzen Höflichkeit der Franzosen sprach sie den Fürsten sogleich an, lobte denselben, daß er eine so reizende Tochter besitze, und hob Kity fast in den Himmel, indem sie dieselbe einen Schatz, eine Perle und einen Engel des Trostes nannte.

»Also sie ist ein zweiter Engel,« lächelte der Fürst, »denn sie nannte schon als Engel Nummer eins Mademoiselle Warenka!«

»O! Mademoiselle Warenka ist allerdings der reine Engel, allez!« versetzte Madame Berthe.

In der Veranda begegneten sie Warenka selbst. Dieselbe schritt den beiden eiligst entgegen, eine kleine elegante rote Tasche in der Hand tragend.

»Papa hier ist angekommen!« begrüßte Kity sie.

Warenka machte, einfach und natürlich wie alles war was sie that, eine Bewegung, die zwischen Verbeugung und Gruß die Mitte hielt, und wandte sich dann sofort im Gespräch an den Fürsten, unbefangen und natürlich, wie sie mit jedermann sprach.

»Gewiß kenne ich Euch, sehr wohl« – sagte der Fürst zu ihr mit einem Lächeln, in welchem Kity mit Freude erkannte, daß ihre Freundin dem Vater gefiel. »Wohin eilt Ihr denn so schnell?«

» Maman ist hier,« sagte sie, sich an Kity wendend, »sie hat die ganze Nacht nicht schlafen können und der Doktor hat ihr eine Ausfahrt angeraten. Ich bringe ihr eine Arbeit.«

»Das ist also Engel Numero eins,« sagte der Fürst, nachdem Warenka gegangen war.

Kity sah, daß er Lust hatte sich über Warenka lustig zu machen, dies aber nicht über sich gewann, weil sie ihm gefallen hatte.

»Nun so werden wir wohl noch alle deine Freunde sehen; auch Madame Stahl, wenn sie geruht, mich zu erkennen,« fügte er dann hinzu.

»Hast du sie denn schon gekannt, Papa?« frug Kity mit einem Schreck, indem sie bemerkte, wie in den Augen des Fürsten der Funke des Spottes bei der Erinnerung der Madame Stahl aufleuchtete.

»Ihren Mann habe ich gekannt, und auch sie ein wenig, schon bevor sie unter die Pietisten gegangen ist.«

»Was ist das, Papa, eine Pietistin?« frug Kity, schon erschreckt davon, daß das, was sie so hoch an Madame Stahl schätzte, einen Namen hatte.

»Ich weiß es selbst nicht recht, und weiß nur, daß sie für alles Gott dankt, für jedes Unglück – auch dafür, daß ihr Mann gestorben ist. Die Sache ist natürlich lächerlich, da beide in Unfrieden miteinander gelebt haben. – Aber wer ist denn das, jene mitleiderregende Person dort?« frug der Fürst, welcher einen Kranken von kleiner Figur auf einer Bank sitzen sah, in einem zimmetfarbenen Überzieher und weißen Beinkleidern, welche seltsame Falten um die fleischlosen Knochen der Beine warfen. Der Herr hatte seinen Strohhut über dem spärlichen lockigen Haarwuchs gelüftet, und die hohe krankhaft von dem Hute rotgefärbte Stirn entblößt.

»Das ist Petroff, ein Maler,« antwortete Kity errötend. »Und das ist seine Gattin,« fügte sie dann hinzu, auf Anna Pawlowna zeigend, welche gleichsam mit Absicht gerade, als sie herankamen, hinter dem Kinde hereilte, welches auf dem Wege davonlief.

»Wie traurig und wie gut sieht dieses Gesicht aus,« sagte der Fürst. »Weshalb bist du denn nicht zu ihm getreten? Er wollte dir doch etwas sagen?«

»Gehen wir hin!« antwortete Kity, sich entschlossen nach ihm umwendend.

»Wie steht es mit Eurer Gesundheit heute?« frug sie Petroff.

Dieser erhob sich, auf seinen Stock gestützt und blickte schüchtern auf den Fürsten.

»Meine Tochter,« nahm dieser das Wort, »Ihr seid mir bereits bekannt.«

Der Maler verbeugte sich und lächelte, ein selten weißes Gebiß dabei zeigend.

»Wir hatten Euch gestern erwartet, Fürstin,« sagte er zu Kity.

»Er wankte, als er dies sagte, und bemühte sich, indem er diese Bewegung wiederholte, zu zeigen, daß er dies mit Absicht gethan hatte.

»Ich wollte kommen, aber Warenka sagte mir, Anna Pawlowna habe geschickt mit der Nachricht, Ihr würdet nicht ausfahren.«

»Weshalb sollte ich nicht ausfahren?« antwortete Petroff errötend und sogleich zu husten beginnend, während er mit den Augen sein Weib suchte. »Annetta, Annetta!« sprach er laut; auf seinem weißen Hals, der dünn wie ein Strick war, erschienen starke Adern. Anna Pawlowna kam herbei. »Wie konntest du der jungen Fürstin sagen lassen, wir würden nicht ausfahren?« raunte er zornig, da er die Stimme verloren hatte.

»Guten Tag, Fürstin,« grüßte diese mit einem gekünstelten Lächeln, das ihrem früheren Verkehr unähnlich war. »Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen,« wandte sie sich an den Fürsten, »man hat Euch lange erwartet, Fürst!«

»Wie konntest du der Fürstin sagen lassen, daß wir nicht ausfahren?« raunte nochmals der Maler heiser, noch heftiger, und sich augenscheinlich besonders darüber erregend, daß ihm die Stimme versagte, und er seiner Rede nicht denjenigen Ausdruck zu geben vermochte, den er ihr zu geben wünschte.

»Mein Gott! Ich dachte, wir würden nicht ausfahren,« versetzte die Frau mürrisch.

»Gewiß, wenn« – er hustete und winkte mit der Hand.

Der Fürst lüftete den Hut und ging mit seiner Tochter fort.

»O, o,« seufzte er tief auf, »o diese Unglücklichen!«

»Ja, Papa,« erwiderte Kity. »Und dabei, mußt du wissen, haben sie drei Kinder, keinen Dienstboten und fast gar keine Unterhaltsmittel. Er empfängt bloß etwas von der Akademie,« erzählte sie lebhaft und sich bemühend, die Erregung zu unterdrücken, die in ihr infolge der seltsamen Veränderung im Verhalten Anna Pawlownas gegen sie aufgestiegen war. »Und dort ist auch Madame Stahl,« fuhr sie fort, auf einen Fahrstuhl zeigend, in welchem, von Kissen umgeben ein Etwas in Grau und Blau unter einem Sonnenschirm lag.

Das war Madame Stahl. Hinter ihr stand ein griesgrämiger stämmiger deutscher Arbeiter, der sie rollte; daneben stand ein blonder schwedischer Graf, den Kity dem Namen nach kannte. Einige Kranke blieben um den Wagen herum stehen und schauten nach der Dame, als sei diese ein außergewöhnliches Wesen.

Der Fürst trat zu ihr hin und sogleich bemerkte Kity in seinen Augen, den Funken des Spottes, der sie in Verwirrung setzte. Er trat zu Madame Stahl und begann mit ihr in jenem vorzüglichen Französisch, welches jetzt nur noch Wenige sprechen, außerordentlich höflich und liebenswürdig ein Gespräch.

»Ich weiß nicht, ob Ihr Euch meiner noch entsinnt. Ich selbst muß dies aber schon thun, um Euch für Eure Güte meiner Tochter gegenüber, danken zu können,« sagte er zu ihr, seinen Hut abnehmend und ohne sich wieder zu bedecken.

»Fürst Alexander Schtscherbazkiy,« sagte Madame Stahl, ihre himmelnden Augen zu ihm erhebend, in denen indessen Kity ein Mißvergnügen bemerkte. »Sehr erfreut. Ich habe Eure Tochter so lieb gewonnen.«

»Eure Gesundheit ist noch immer nicht gebessert?«

»Ich bin völlig daran gewöhnt,« versetzte Madame Stahl und machte den Fürsten mit dem schwedischen Grafen bekannt.

»Ihr habt Euch indessen nur sehr wenig verändert,« fuhr der Fürst fort. »Ich habe wohl seit zehn oder elf Jahren nicht die Ehre gehabt, Euch zu sehen.«

»Ja; Gott schickt uns ein Kreuz und verleiht auch die Kraft es zu tragen. Man staunt oft darüber, in was man sich in diesem Leben schicken kann. – Von der andern Seite!« – wandte sie sich plötzlich launisch zu Warenka, die ihr das Plaid nicht gut genug um die Füße gewickelt hatte.

»Wohl, damit man Gutes thue,« sagte der Fürst und seine Augen lachten.

»Darüber dürfen wir nicht richten,« antwortete Madame Stahl, den Schimmer eines gewissen Ausdrucks auf dem Gesicht des Fürsten bemerkend. »Ihr werdet mir also jenes Buch senden, liebster Graf?« wandte sie sich an den jungen Schweden.

»Ah,« rief der Fürst, den Moskauer Obersten erblickend, welcher in der Nähe stand, verabschiedete sich von Madame Stahl, und schritt mit seiner Tochter und dem Moskauischen Obersten, der sich an ihn angeschlossen hatte, von dannen.

»Das ist unsere Aristokratie, Fürst!« sagte der Moskauische Oberst, im Wunsche, ironisch zu sein. Er hatte ein Vorurteil gegen Madame Stahl, weil diese nicht mit ihm bekannt war.

»Immer dieselbe,« versetzte der Fürst.

»Ihr habt sie aber doch schon vor ihrer Erkrankung gekannt, Fürst, das heißt, bevor sie sich gelegt hat?«

»Ja wohl. Sie wurde zu meiner Zeit krank.«

»Man sagt, sie wäre seit zehn Jahren nicht ein einziges Mal aufgestanden.«

»Sie steht nicht auf, weil sie kurzbeinig ist; sie ist sehr schlecht gebaut.«

»Papa, unmöglich!« rief Kity.

»Die bösen Zungen reden so, Herzchen. Aber deine Warenka wird’s schon wissen. O, über diese leidenden Damen!«

»Nein, Papa!« entgegnete Kity eifrig, »Warenka vergöttert sie, und dann thut sie doch soviel Gutes! Frage, wen du willst! Sie und Aline Stahl kennt jedermann!«

»Mag sein,« antwortete er, wiederum mit dem Ellbogen ihren Arm drückend, »aber am besten ist es, freilich, wenn niemand etwas weiß, soviel man auch fragt.«

Kity verstummte, nicht, weil sie nichts mehr hätte erwidern können, sondern, weil sie dem Vater ihre geheimsten Gedanken nicht entdecken wollte.

Seltsam aber war es dennoch, daß sie, obwohl sie entschlossen war, sich der Ansicht des Vaters nicht unterzuordnen, und ihm keinen Einblick in ihr Allerheiligstes zu gewähren, doch empfand, wie das Heiligenbild der Madame Stahl das sie einen ganzen Monat hindurch in der Seele getragen hatte, unwiederbringlich verschwunden war; gleichwie eine Figur, die aus einer übergeworfenen Robe gebildet wird, verschwindet, sobald das weggenommen wird, worauf die Robe ruhte.

Es blieb nur noch das kurzbeinige Weib, welches deshalb lag, weil es eine schlechte Figur besaß und die sanfte Warenka unausgesetzt quälte, weil diese ihr das Plaid nicht in der gewünschten Weise umwarf. Durch keinerlei Anstrengungen ihrer Einbildungskraft wollte es ihr mehr gelingen, sich die frühere Madame Stahl wieder zurückzurufen.

26.

Die äußeren, Beziehungen Aleksey Aleksandrowitschs zu seiner Gattin blieben die nämlichen wie früher. Der einzige Unterschied bestand nur darin, daß er jetzt noch mehr beschäftigt war, als vorher.

Wie in früheren Jahren, so fuhr er mit Beginn des Frühlings in das Bad nach dem Ausland, um seine durch die aufreibende Winterarbeit alljährlich angegriffene Gesundheit wieder zu kräftigen; wie gewöhnlich, kehrte er im Juli zurück und widmete sich dann sogleich wieder mit erhöhter Energie der gewohnten Thätigkeit. Wie immer, ging alsdann sein Weib auf den Landsitz während er in Petersburg blieb.

Seit der Zeit jenes Gespräches nach der Soiree bei der Fürstin Twerskaja, hatte er nie wieder mit Anna über seinen Argwohn und seine Eifersucht gesprochen und jener ihm eigene Ton des Nachahmens anderer konnte nicht passender für seine jetzigen Beziehungen zu seiner Frau sein.

Er war jetzt etwas kühler ihr gegenüber geworden; aber er schien auch gleichsam noch ein leises Mißvergnügen über jenes erste nächtliche Gespräch zu empfinden, welchem sie auszuweichen gesucht hatte. In seinen Beziehungen zu ihr ruhte ein Schatten von Verdruß, aber nichts weiter.

»Du wolltest dich mit mir nicht aussprechen, schien er zu sagen, sich in Gedanken zu ihr wendend, »um so schlimmer für dich. Du wirst mich nun bitten, aber jetzt werde ich nicht bereit sein zu einer Aussprache,« sagte er in Gedanken zu sich; wie ein Mensch, der es vergeblich versucht hat, eine Feuersbrunst zu dämpfen und nun, erzürnt über seine vergeblichen Anstrengungen, sagt, »möge es nun über dich kommen, mögest du nun verbrennen dafür!« –

Er, dieser verständige, in Amtsgeschäften so feinfühlige Mann, begriff noch nicht die ganze Unmöglichkeit eines solchen Verhältnisses zu seinem Weibe. Er begriff es nicht, weil es ihm allzu furchtbar erschien, seine Lage wie sie wirklich war, erkennen zu sollen, und verbarg und verschloß und versiegelte daher auf dem Grund seiner Seele jenes Behältnis, in welchem seine Empfindungen zur Familie, zu Weib und Kind, ruhten.

Er, ein aufmerksamer Vater, war seit dem Ende dieses Winters auffallend kühl gegen sein Kind geworden, er beobachtete ihm gegenüber die nämliche ironisierende Haltung, wie er sie seinem Weibe gegenüber beobachtete. »Nun, junger Mann!« wandte er sich an ihn.

Aleksey Aleksandrowitsch dachte und sprach es auch aus, daß er in keinem Jahre so viele Geschäfte gehabt habe, als in dem laufenden, aber er gestand nicht zu, daß er sich selbst in diesem Jahre die Geschäfte auferlegt hatte, und daß dies nur eines der Mittel sein sollte, durch welche er die Öffnung jenes Behältnisses vermeiden wollte, in welchem die Empfindungen für sein Weib und seine Familie ruhten, sowie seine Gedanken über beides, die um so furchtbarer wurden, je länger sie in demselben schlummerten.

Hätte jemand das Recht gehabt, Aleksey Aleksandrowitsch zu befragen, was er über diese Führung seines Weibes denke, so würde dieser sanfte, friedsame Mensch nicht geantwortet haben, und nur über denjenigen sehr in Zorn geraten sein, der ihn darnach gefragt.

Infolge dessen lag auch im Gesichtsausdruck Aleksey Aleksandrowitschs etwas Stolzes und Herbes, wenn man ihn nach dem Befinden seines Weibes frug. Aleksey Aleksandrowitsch wollte nicht über das Befinden seines Weibes oder die Gefühle desselben nachdenken und tatsächlich dachte er auch gar nicht daran.

Die Villa Aleksey Aleksandrowitschs war in Peterhof, und gewöhnlich hielt sich auch die Gräfin Lydia Iwanowna den Sommer hindurch dort auf, in der Nachbarschaft und in stehenden Beziehungen zu Anna.

Im laufenden Jahre hatte nun die Gräfin Lydia Iwanowna darauf verzichtet, ihren Aufenhalt in Peterhof zu nehmen, und sich nicht ein einziges Mal bei Anna eingefunden, vielmehr Aleksey Aleksandrowitsch auf das Unpassende in der Annäherung Annas an Bezzy und Wronskiy aufmerksam gemacht.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte sie daraufhin ernst verwiesen, dem Gedanken Ausdruck verleihend, daß seine Frau über jeden Verdacht erhaben sei, und seitdem die Gräfin Lydia Iwanowna zu meiden begonnen.

Er wollte nicht sehen, und sah auch nicht, daß in der hohen Gesellschaft viele schon sein Weib von der Seite ansahen; er wollte nicht begreifen und begriff auch nicht, weshalb sein Weib, gerade darauf bestand, nach Zarskoje überzusiedeln, wo Bezzy wohnte, und von wo es nicht weit bis zum Lager des Regiments in welchem Wronskiy diente, war. Er gestattete sich nicht, hierüber Betrachtungen anzustellen und er stellte auch keine an.

Und nichtsdestoweniger wußte er doch auf dem Grunde seiner Seele, ohne sich dies je selbst zuzugestehen, ohne sogar auch nur den geringsten Beweis, oder den geringsten Verdachtgrund dafür zu haben, unzweifelhaft sicher, daß er ein betrogener Gatte war, und er war infolge dessen tief unglücklich.

Wie oft hatte er sich während der Zeit seiner achtjährigen glücklichen Ehe mit seinem Weibe im Hinblick auf andere ungetreue Frauen und betrogene Ehemänner gefragt, wie man dies dulden könne, weshalb man ein solches Mißverhältnis nicht auflöse. Jetzt aber, da das Unglück auf sein eigenes Haupt herniedergebrochen war, dachte er nicht nur nicht überhaupt daran, wie er dieses Verhältnis lösen solle, sondern er wollte dieses überhaupt gar nicht kennen, und zwar deshalb nicht, weil es zu furchtbar, zu unnatürlich war.

Seit der Zeit seiner Rückkehr vom Auslande war Aleksey Aleksandrowitsch zweimal auf seinem Landsitz gewesen. Das eine Mal hatte er daselbst zu Mittag gespeist, das andere Mal den Abend mit Besuch dort verbracht, aber noch nicht ein einziges Mal war er über Nacht dageblieben, wie er dies sonst in früheren Jahren zu thun gewohnt war.

Der Tag der Rennen war ein Tag voller Beschäftigung für Aleksey Aleksandrowitsch, aber, nachdem er schon morgens sich die Einteilung des Tages gemacht hatte, beschloß er, sogleich nach dem ersten Frühstück auf den Landsitz zu seinem Weibe zu fahren und von dort nach den Rennen, zu denen der gesamte Hof anwesend war und bei denen er daher gegenwärtig sein mußte.

Zu seinem Weibe wollte er sich deshalb begeben, weil er den Entschluß gefaßt hatte, der Etikette halber einmal wenigstens in der Woche zu verweilen. Außerdem aber mußte er ihr an diesem Tage, zum fünfzehnten des Monats, nach der eingeführten Regel, Gelder zur Führung des Haushaltes übergeben.

Mit der gewohnten Herrschaft über seine Gedanken gestattete er sich, nachdem er das alles überlegt hatte, nicht, noch weiter abzuschweifen in dem, was sie anging.

Der Vormittag war sehr reich an Arbeit für Aleksey Aleksandrowitsch gewesen. Am Abend vorher hatte ihm die Gräfin Lydia Iwanowna die Broschüre eines in Petersburg anwesenden bekannten Chinareisenden mit einem Briefe übersandt, in welchem sie ihn ersuchte, den Reisenden selbst wohl aufnehmen zu wollen, da er in verschiedenen Beziehungen ein sehr interessanter und nützlicher Mann sei.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte sofort die Broschüre am Abend nicht ganz durchlesen können und erledigte die Lektüre am folgenden Morgen. Hierauf erschienen bei ihm die Bittsteller, Vorträge begannen, Empfänge, Bestimmungen, Absetzungen, Korrespondenzen, Verfügungen über Auszeichnungen, Pensionen, Gehälter, kurz alle die Werkeltagsobliegenheiten warteten seiner, wie sie Aleksey Aleksandrowitsch nannte und die soviel Zeit in Anspruch nahmen.

Dann folgte eine persönliche Angelegenheit in dem Besuche des Arztes, und dem seines Geschäftsführers, welcher indessen nicht soviel Zeit für sich in Anspruch nahm, und nur die Aleksey Aleksandrowitsch erforderlichen Gelder überbrachte, dabei einen kurzen Bericht über den Stand des Vermögens gebend, welches nicht völlig befriedigend stand, da sich zeigte, daß im gegenwärtigen Jahre infolge häufiger Ausschreitungen mehr verbraucht worden und hierdurch ein Deficit entstanden war.

Der Arzt aber, ein berühmter Mediziner Petersburgs, der zu Aleksey Aleksandrowitsch in freundschaftlichen Beziehungen stand, hatte viel Zeit in Anspruch genommen.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte ihn an diesem Tage gar nicht erwartet, und war verwundert gewesen über sein Kommen, noch mehr aber darüber, daß der Arzt ihn sehr aufmerksam nach seinem Befinden frug, seine Brust behorchte und seine Leber befühlte.

Aleksey Aleksandrowitsch wußte nicht, daß seine Freundin Lydia Iwanowna, bemerkend, seine Gesundheit sei heuer gar nicht gut, den Doktor gebeten hatte, doch zu ihm zu fahren und den Leidenden zu untersuchen.

»Thut es um meinetwillen,« hatte die Gräfin Lydia Iwanowna zu demselben gesagt.

»Ich thue es für Rußland, Gräfin,« hatte der Arzt erwidert.

»Ein unschätzbarer Mensch!« sagte die Gräfin Lydia Iwanowna.

Der Arzt war sehr unzufrieden mit Aleksey Aleksandrowitsch. Er fand eine bedeutende Lebervergrößerung, die Ernährung beeinträchtigt und die Wirkung des Bades war gleich null.

Er schrieb ihm soviel als möglich körperliche Bewegung, und so wenig als möglich geistige Arbeit vor, hauptsächlich aber möchten aller Ärger streng vermieden werden; also gerade das, was Aleksey Aleksandrowitsch ebenso unmöglich zu gewähren war, als wie er das Atmen hätte unterlassen können. Hierauf fuhr der Arzt von dannen, in Aleksey Aleksandrowitsch eine unangenehme Empfindung zurücklassend, daß etwas in ihm nicht in Ordnung sei, was sich jedoch auch nicht bessern lasse.

Bei seinem Fortgang von Aleksey Aleksandrowitsch stieß der Doktor auf der Treppe mit dem ihm gut bekannten Sljudin, Alekseys Geschäftsführer zusammen.

Beide waren Kameraden auf der Universität gewesen und achteten sich, obwohl sie selten zusammenkamen, als gute Freunde, weshalb denn auch der Arzt niemandem seine aufrichtige Meinung über den Kranken gesagt hätte, als Sljudin.

»Wie freue ich mich, daß Ihr bei ihm waret,« sagte Sljudin. »Er befindet sich nicht wohl und mir scheint – wie steht es denn?« –

»So steht es,« sagte der Arzt, über den Kopf Sljudins hinweg dem Kutscher zuwinkend, daß er vorfahre, »so steht es,« sagte er, einen Finger seines Glacehandschuhs in die weißen Hände nehmend und ihn langziehend. »Spannt man die Saiten nicht und probiert man sie zu zerreißen, so ist dies sehr schwer; spannt man sie aber bis zur äußersten Möglichkeit und legt man sich nur mit eines Fingers Schwere auf die gespannte Saite, so springt sie. Er aber mit seiner Unermüdlichkeit, seiner Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit – er freilich ist bis zum äußersten Grad angespannt, und eine Beseitigung des Leidens ist nicht direkt lebensgefährlich aber schwer,« fügte der Arzt hinzu, bedeutungsvoll die Brauen hochziehend. »Werdet Ihr zu den Rennen gehen?« frug er dann, sich in seinem vorgefahrenen Wagen niedersetzend.

– »Ja, versteht sich, es nimmt mir freilich viel Zeit weg,« versetzte dann noch der Arzt auf eine Frage Shudins, die er gar nicht gehört hatte. –

Nach dem Arzte, der Aleksey Aleksandrowitsch soviel Zeit geraubt hatte, erschien der berühmte Chinareisende, und Aleksey setzte nun, die Früchte seiner soeben beendeten Lektüre und seine Kenntnisse über den Gegenstand, die er schon früher besessen hatte, benutzend, den Reisenden in Erstaunen mit der Tiefe seines Wissens und seinem weitreichenden, klaren Blick.

Zugleich mit dem Chinareisenden wurde auch die Ankunft des Gouvernementsdirektors gemeldet, welcher in Petersburg angekommen und mit dem eine Konferenz abzuhalten war. Nach seiner Abreise mußten wieder tägliche Geschäfte mit dem Geschäftsführer erledigt werden und dann mußte er noch in einer ernsten und wichtigen Angelegenheit zu einer hervorragenden Persönlichkeit Petersburgs fahren.

Aleksey Aleksandrowitsch war um fünf Uhr, zur Zeit wo er Mittag speiste, kaum wieder zurückgekehrt so lud er seinen Geschäftsführer, nachdem er mit ihm gespeist hatte ein, zusammen mit ihm nach seinem Landsitz und zu den Rennen zu fahren.

Ohne daß er sich davon Rechenschaft zu geben vermochte, suchte er jetzt nach Gelegenheiten dritte Personen bei seinen Begegnungen mit der Gattin hinzuzuziehen.