Sergey Iwanowitsch Koznyscheff wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und ging – anstatt wie üblich ins Ausland – Ende Mai auf das Land zu seinem Bruder.
Seiner Überzeugung nach war das schönste Leben das Landleben, und er kam jetzt zu seinem Bruder, um dieses Leben zu genießen.
Konstantin Lewin war hocherfreut, umsomehr, als er den Bruder Nikolay für dieses Jahr nicht mehr erwartete, aber ungeachtet aller Liebe und Achtung, für Sergey Iwanowitsch, war es ihm nicht recht behaglich in Gesellschaft des Bruders auf dem Lande. Es war ihm peinlich, sogar unangenehm, die Auffassung seines Bruders vom Landleben zu beobachten. Für Konstantin Lewin war das Dorf der Ort seines Lebens, das heißt seiner Freuden und Leiden und seiner Mühen; für Sergey Iwanowitsch war das Dorf einerseits ein Erholungsort von der Arbeit, andererseits ein nützliches Gegengift für die Verderbnis, welches er mit Vergnügen und dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm.
Konstantin Lewin war das Dorf deshalb lieb und wert, weil es für ihn die Laufbahn einer zweifellos nutzbringenden Wirksamkeit bildete, Sergey Iwanowitsch besonders deshalb, weil man sich daselbst dem süßen Nichtsthun überlassen konnte, ja mußte. Außerdem aber war Konstantin auch auf die Stellung Sergey Iwanowitschs dem Volke gegenüber nicht gut zu sprechen. Sergey Iwanowitsch sagte, er liebe und kenne das Volk, und unterhielt sich häufig mit den Bauern, was er gut zu thun verstand, ohne sich zu verstellen oder mit einer Miene dabei zu zucken. Aus jeder solchen Unterhaltung deduzierte er sich allgemeine Thatsachen, die zu Gunsten des Volkes sprachen und den Beweis liefern sollten, daß er dieses Volk verstehe.
Dieser Standpunkt dem Volke gegenüber gefiel Konstantin Lewin nicht. Für ihn war das Volk nur der Hauptteilhaber an der gemeinsamen Arbeitspflicht und ungeachtet aller seiner Achtung, selbst einer gewissen angeborenen Liebe zum Bauernstande, die er wohl mit der Ammenmilch wie er selbst sagte, eingesogen hatte, geriet er als Teilhaber neben demselben an der gemeinsamen Arbeit, zwar bisweilen in Entzücken über die Kraft, die Güte und das Rechtsgefühl dieser Menschen, sehr oft aber auch, wenn es sich bei dieser gemeinsamen Arbeit um andere Eigenschaften handelte, in Zorn über deren Sorglosigkeit, Unachtsamkeit, Trunksucht und Verlogenheit.
Konstantin Lewin würde, wenn er gefragt worden wäre, ob er das Volk liebe, jedenfalls nicht gewußt haben, wie er hierauf antworten solle. Er liebte das Volk und liebte es auch nicht, genau so wie überhaupt die Menschen. Natürlich liebte er, als guter Mensch, die Menschen mehr, als daß er sie nicht geliebt hätte, und demzufolge liebte er auch das Volk. Aber das Volk lieben oder nicht lieben – als etwas Besonderes – das konnte er nicht, weil er nicht nur im Volke selbst lebte, nicht nur alle seine Interessen mit demselben verknüpft waren, sondern, weil er sich auch selbst für ein Teil aus dem Volke hielt und weder in sich selbst, noch in diesem Volke etwa besondere Vorzüge oder Mängel erkannte, und sich auch demselben nicht gegenüberzustellen vermochte.
Obwohl er ferner lange Zeit in den engsten Beziehungen mit dem Bauernstande als Gutsherr und Schiedsrichter gelebt hatte, hauptsächlich auch als Ratgeber – die Bauern vertrauten ihm und kamen bis zu vierzig Werst weit her, um sich bei ihm Rats zu erholen – so hatte er doch nicht das geringste bestimmte Urteil über das Volk; und auf die Frage, ob er es kenne, würde er sich in der nämlichen Ratlosigkeit befunden haben, wie bezüglich der Frage, ob er es liebe.
Zu sagen, er kenne das Volk, wäre für ihn das Nämliche gewesen, wie die Behauptung, er kenne die Menschen überhaupt. Er hatte wohl die Menschen beständig beobachtet und jede Art derselben kennen gelernt, aber in der Zahl jener Bauern, die er für gute und interessante Menschen gehalten hatte, nahm er unaufhörlich neue Charakterzüge wahr, änderte daher seine früher gewonnenen Urteile über dieselben und bildete sich neue.
Sergey Iwanowitsch verfuhr im Gegenteil. Ganz ebenso, wie er das Landleben liebte und pries als Gegensatz zu dem Leben, welches er nicht liebte – ganz ebenso liebte er das Volk im Gegensatz zu jener Art von Menschen, die er nicht liebte, ganz ebenso erkannte er das Volk als etwas, was den Menschen insgemein entgegengesetzt war. In seinem logischen Verstande hatten sich bestimmte Formen des Volkslebens klar abgesetzt, zum Teil aus diesem selbst hergeleitet, in der Hauptsache aber vorzugsweise nur aus dem Gegensätzlichen. Er änderte daher niemals seine Meinung über das Volk und das Verhältnis, in welchem er sich zu demselben fühlte.
Bei diesen unter den beiden Brüdern obwaltenden Meinungsverschiedenheiten über das Volk, suchte Sergey Iwanowitsch stets seinen Bruder vor allem dadurch zu überzeugen, daß er selbst bestimmte Begriffe von dem Volke besitze, von seinem Charakter, seinen Eigenschaften und seinem Geschmack. Konstantin Lewin hingegen besaß keinerlei bestimmte oder unwandelbare Vorstellungen und die Folge war, daß er bei derartigen Debatten des Widerspruches mit sich selbst überführt wurde.
Für Sergey Iwanowitsch selbst war der jüngere Bruder ein guter Mensch, von Gefühl, bien établi, wie er sich französisch ausdrückte, aber mit einer, wenn auch ziemlich beweglichen, so doch gleichwohl den Eindrücken des Augenblicks unterworfenen und daher an Widersprüchen reichen Geistesrichtung. Mit jener Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm daher bisweilen die Bedeutung der Dinge, fand aber keinen Genuß darin, mit ihm zu debattieren, da er ihn zu leicht schlug.
Konstantin Lewin blickte auf seinen Bruder, wie auf einen Menschen von hohem Geist und großer Bildung, edel in des Wortes höchstem Sinne und begabt mit der Fähigkeit, für das allgemeine Wohl zu wirken. Auf dem Grund seiner Seele aber begann er, je älter er wurde und je mehr er den Bruder erkannte, inne zu werden, daß diese Befähigung, zum allgemeinen Wohle wirken zu können, deren er sich so völlig bar wußte, vielleicht gar kein Vorzug sei, sondern vielmehr ein Mangel; nicht gerade ein Mangel an guten, ehrenhaften und löblichen Wünschen und Ansichten, aber doch ein Mangel an Lebenskraft, an dem, was man Herzensfrische nennt, an jenem Streben, welches den Menschen veranlaßt, aus all den unzählig sich bietenden Lebenswegen einen auszuwählen und diesen einen zu erstreben.
Je mehr er den Bruder erkannte, umsomehr bemerkte er, daß auch Sergey Iwanowitsch, wie viele andere Propheten des allgemeinen Wohls, nicht vom Herzen zu dieser seiner Liebe für dasselbe geleitet wurde, sondern nur nach dem Verstande urteilte, es sei gut, wenn man sich mit Derartigem befasse, und daß er sich eben aus diesem Grunde nur damit befaßte. In dieser Annahme bestärkte Lewin auch weiter noch die Bemerkung, daß sich sein Bruder die Frage, welche die sociale Wohlfahrt oder die Unsterblichkeit der Seele betrafen, nicht anders zu Herzen nahm, als wie wenn es sich um eine Partie Schach oder die scharfsinnige Konstruktion einer neuen Maschine handelte.
Ferner aber war es Lewin auch deshalb noch peinlich, mit seinem Bruder das Landleben zu teilen, weil er, besonders im Sommer, beständig mit der Ökonomie beschäftigt war, so daß ihm selbst der lange Sommertag noch nicht hinreichte alles zu erledigen, was erledigt werden mußte, während Sergey Iwanowitsch der Ruhe pflegte. Wenngleich indessen dieser jetzt auch ausruhte, das heißt, nicht an seinem Werke arbeitete, so war er doch so an geistige Thätigkeit gewöhnt, daß er es liebte, die Ideen welche ihm gekommen waren, in schöner, präciser Form zu äußern, und er liebte es, daß ihm jemand hierbei zuhörte. Der gewöhnliche und natürliche Zuhörer war nun sein Bruder, und es wurde diesem daher ungeachtet aller freundschaftlichen Offenheit in den beiderseitigen Beziehungen peinlich, den Bruder allein lassen zu sollen. Sergey Iwanowitsch liebte es, im Sonnenschein im Grase zu liegen, sich rösten zu lassen und träge dabei zu plaudern.
»Du glaubst nicht,« wandte er sich an seinen Bruder, »welchen Reiz für mich diese faulenzende Sommerfrische hat. Kein Gedanke ist im Kopf, und rollte man ihn wie eine Kugel.« Konstantin Lewin war es indessen langweilig, so zu sitzen und jenem zuzuhören, schon deshalb, weil er wußte, daß man ohne seine persönliche Aufsicht den Dünger auf ein falsches Feld fahren und wer weiß wie schlecht auswerfen werde. Man würde die Pflugscharen an den Pflügen nicht festschrauben und dann sagen, der Pflug sei eine unnütze Erfindung.
»Nun genug, endlich mit diesem Laufen in der Hitze!« sagte zu ihm sein Bruder.
»Ach, nur noch einmal nach dem Kontor muß ich sehen,« antwortete Lewin und eilte auf das Feld hinaus.