Dreiundzwanzigstes Capitel.


Dreiundzwanzigstes Capitel.

Eine Scholle! Ein unregelmäßiges dreieckiges Stück Eis, dessen Seiten von hundert bis höchstens hundertfünfzig Fuß maßen! Und darauf einundzwanzig menschliche Wesen, gegen hundert Pelzthiere, ein riesiger Polarbär – Alle auf diesen letzten Ueberrest zusammengedrängt.

Ja, noch waren die Schiffbrüchigen wenigstens Alle am Leben, Keiner bei dem Bruche verschlungen worden, der gerade stattfand, als sie sich Alle in der Wohnung aufhielten. Sollte das Schicksal sie bis jetzt nur gerettet haben, um sie Alle mit einem Schlage zu verderben?

Welch‘ eine schlaflose Nacht! Niemand sprach ein Wort, oder rührte sich von der Stelle, da die geringste Erschütterung hinreichen konnte, eine weitere Zerstückelung zu veranlassen.

Selbst einige Stücken getrockneten Fleisches, welche Mrs. Joliffe austheilte, wollte Niemand anrühren.

Die Meisten verbrachten die Nacht in der freien Luft; sie wollten wenigstens Gottes weiten Himmel über sich verschlungen werden, und nicht in einer beengenden Baracke.

Am andern Tage, dem 5. Juni, stieg die Sonne glänzend über den Unglücklichen auf. Diese sprachen kaum mit einander und suchten sich zu meiden. Mit irrendem Blicke schweiften Einige über den kreisförmigen Horizont, in dessen Mittelpunkte die elende Scholle schwankte.

Auf dem vollkommen verlassenen Meere zeigte sich kein Segel, nicht einmal eine andere Insel oder ein Eiland von Eis. Diese Scholle war offenbar die letzte, welche noch auf dem Behrings-Meere schwamm.

Die Temperatur nahm täglich weiter zu; kein Lüftchen regte sich, in der Atmosphäre herrschte eine wahrhaft erschreckende Ruhe. Lange, flache Wellen hoben und senkten nur sanft jenes Stückchen Eis und Erde, die Reste der Insel Victoria, aber ohne es weiter zu treiben, so wie ein verlassenes Wrack auf- und abschwankt.

Die Trümmer eines Schiffs aber, ein Rest des Gerippes, ein Theil eines Mastes, eine zerbrochene Segelstange, einige Planken u. dgl. schwimmen doch wenigstens und können nicht versinken. Eine Scholle dagegen, ein Stück erstarrtes Wasser, die der Strahl der Sonne zerschmilzt…

Daß diese Scholle so lange ausgedauert, erklärt sich dadurch, daß sie den dicksten Theil der vormaligen Insel gebildet hatte. Eine Decke von Erde und Pflanzen lag über ihr und ihre Eiskruste mußte voraussichtlich von nicht geringem Durchmesser sein. Gewiß hatten die lange anhaltenden Fröste des Polarmeeres sie »mit Eis ernährt«, als jenes Cap Bathurst früher Jahrhunderte hindurch die nördlichste Spitze des amerikanischen Festlandes bildete.

Jetzt überragte diese Scholle das Niveau des Meeres im Mittel noch um fünf bis sechs Fuß; sie mußte also auch unter Wasser noch eine beträchtliche Masse darstellen. Lief sie aber bei dem ruhigen Wasser keine Gefahr zu bersten, so mußte sie doch nach und nach selbst zerfließen, was man an ihren Rändern recht deutlich wahrnehmen konnte, welche unter der Zunge der langen Wellen verschwanden, so daß unaufhörlich ein Stückchen Land nach dem andern sammt seiner grünenden Decke im Meere verschwand.

Ein derartiges Nachbrechen des Bodens fand noch an demselben Tage an der Stelle statt, welche die Wohnung trug, die jetzt unmittelbar am Rande der Scholle stand. Zum Glück war diese menschenleer, doch konnte man von ihr nur einige Planken und Dachbalken retten; der größte Theil der Geräthschaften und die astronomischen Instrumente gingen verloren. Die ganze kleine Colonie mußte sich nun auf den höchsten Punkt des Bodens zurückziehen, wo sie nichts gegen die Unbill der Witterung schützte.

Dorthin brachte man auch einige Werkzeuge, die Pumpen und das Luftreservoir, von dem Jasper Hobson zum Ansammeln des reichlich strömenden Regens Gebrauch machte, um Trinkwasser zu gewinnen, da es jetzt nicht mehr gerathen erschien, dem Boden zu diesem Zwecke Eis zu entnehmen.

Gegen vier Uhr näherte sich der Soldat Kellet, derselbe, der schon einige Spuren von Geistesabwesenheit gezeigt hatte, Mrs. Paulina Barnett und sagte zu ihr in ernstem Tone:

»Madame, ich gehe in’s Wasser.

– Kellet! rief erschrocken die Reisende.

– Ich sage Ihnen, ich gehe in’s Wasser. Ich hab‘ es mir wohl überlegt; eine andere Rettung giebt es doch nicht, so will ich lieber freiwillig sterben.

– Kellet, mahnte die Reisende und ergriff die Hand des Soldaten, dessen unstäter Blick auf ihr ruhte, Kellet, das werden Sie nicht thun!

– Doch, Madame; und da Sie immer so gut gegen uns Alle waren, wollte ich nicht sterben, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen.«

Kellet wandte sich nach dem Meere zu. Entsetzt klammerte sich Mrs. Paulina Barnett an ihn fest; ihre Schreie riefen Jasper Hobson und den Sergeanten herbei. Alle unterstützten ihre Bemühungen, den Wahnwitzigen zurückzuhalten. Der Unglückliche, den seine fixe Idee einmal erfaßt hatte, schüttelte abwehrend den Kopf.

Vermochte man wohl diesem Geisteskranken Vernunft beizubringen? Nein! Und wie leicht konnte sein Beispiel ansteckend sein! Wer weiß, ob nicht so manche Kameraden Kellet’s, die im höchsten Grade entmuthigt und verzweifelt waren, seinen Selbstmord nachahmten? Um jeden Preis mußte also das Vorhaben jenes Unglücklichen verhindert werden.

»Kellet, sagte da Mrs. Paulina Barnett mit sanftester Stimme und halb lächelnd, sind Sie mein guter und offenherziger Freund?

– Ja, Madame, erwiderte Kellet ruhig.

– Nun gut, Kellet; wenn Sie wollen, werden wir zusammen in den Tod gehen, … aber heute noch nicht.

– Madame! …

– Nein, mein wackerer Kellet, dazu bin ich nicht vorbereitet; doch morgen, wollen Sie morgen…«

Fester als je sah der Soldat der beherzten Frau in’s Gesicht; einen Augenblick schien er zu zweifeln, warf einen wilden Blick über das glitzernde Meer, strich sich mit der Hand über die Augen und murmelte:

»Also morgen!«

Dann mischte er sich wieder ruhig unter seine Genossen.

»Der arme Unglückliche! sprach Mrs. Paulina Barnett für sich, bis morgen habe ich ihn zu warten vertröstet, wer weiß, ob wir bis dahin nicht Alle schon versunken sind?«

Die ganze folgende Nacht verbrachte Jasper Hobson am Ufer. Er überdachte hin und her, ob es nicht ein Mittel gebe, die Auflösung der Insel so lange hinzuhalten, bis sie ein Land erreichte.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wichen keinen Augenblick von einander. Kalumah lag auf dem Boden, wie ein Hund vor seiner Herrin, und suchte diese zu erwärmen. Mrs. Mac Nap war, bedeckt mit einigen Pelzen, den Ueberbleibseln der Reichthümer aus der Factorei, ihr Kind am Herzen eingeschlummert.

Mit unvergleichlicher Reinheit erglänzten die Sterne. Die Schiffbrüchigen lagen da und dort hingestreckt, unbeweglich wie Leichname. Kein Geräusch unterbrach diese fürchterliche Ruhe. Nur die Wellen hörte man, wie sie die Scholle abnagten, und dann und wann ein Abbröckeln und Nachbrechen, dessen Ausdehnung man aus dem begleitenden trockenen Tone errieth.

Manchmal richtete sich der Sergeant empor und sah rings um sich, als könnten seine Augen die Finsterniß durchbohren, aber bald fiel er wieder in seine horizontale Lage zurück. An dem äußersten Ende der Scholle erschien der Bär wie eine unbewegliche, große Schneemasse.

Auch diese Nacht verstrich, ohne daß sich in der allgemeinen Lage etwas Wesentliches änderte; nur nahmen die niedrigen Morgennebel nach Osten zu eine leichte Färbung an. Einige Wolken im Zenith zehrten sich auf, und bald vergoldeten die Strahlen der Sonne die Wellen des endlosen Meeres.

Des Lieutenants erste Sorge war es, die Scholle ringsum zu untersuchen. Ihr Umfang erschien noch weiter verkleinert, ernstlicher fiel aber der Umstand in’s Gewicht, daß auch ihre mittlere Höhe über dem Wasser geringer wurde. Selbst die jetzt so schwache Bewegung der Wellen reichte hin, sie theilweise zu bedecken. Nur der Gipfel der kleinen Erhöhung blieb eigentlich noch frei von Wasser.

Auch Sergeant Long hatte seinerseits die Veränderungen während der vergangenen Nacht in’s Auge gefaßt. Die Fortschritte der Auflösung traten so deutlich zu Tage, daß ihm jede Hoffnung schwand.

Mrs. Paulina Barnett wandte sich zu Lieutenant Hobson.

»Madame, fragte sie dieser, werden Sie heute das Versprechen halten, das Sie Kellet gegeben haben?

– Herr Hobson, erwiderte in fast feierlichem Tone die Reisende, haben wir Alles gethan, was in unseren Kräften stand?

– Alles, Madame!

– Nun, dann geschehe der Wille des Herrn!« Doch sollte im Laufe dieses Tages noch ein letzter verzweifelter Rettungsversuch gemacht werden. Von Nordwesten her wehte eine mäßige Brise gerade nach der Richtung hin, in welcher das nächste Land, die Inselgruppe der Aleuten, liegen mußte.

Wie weit es bis dahin war, konnte man freilich nicht sagen, da die Lage der Scholle aus Mangel an Instrumenten nicht hatte bestimmt werden können. Wahrscheinlich konnte sie, vorausgesetzt, daß ihr keine Meeresströmung zu Hilfe gekommen, nicht weit weggetrieben sein, da sie dem Winde ja fast gar keine Angriffspunkte darbot.

Immerhin blieb diese Frage offen. Wenn die Scholle nun doch dem Lande näher war, als man ahnte! Wenn eine Strömung sie nach den so sehr ersehnten Aleuten getragen hatte! Jetzt wehte der Wind dorthin und mußte das Eisstück schnell fortführen, wenn man für etwas Segelfläche sorgte. Hatte jenes auch nur noch wenige Stunden zu schwimmen, so konnte in dieser Zeit doch vielleicht ein Land in Sicht kommen oder wenigstens ein Küstenfahrer oder ein Fischerboot angetroffen werden, welche der offenen See ja stets fern bleiben.

Eine anfangs ganz dunkle Idee gewann in Lieutenant Hobson’s Geiste bald ganz bestimmte Gestalt. Warum sollte man auf der Scholle nicht ebenso, wie auf einem Flosse, ein Segel ausspannen? Die Ausführung konnte nicht schwierig sein.

Jasper Hobson theilte dem Zimmermann seinen Gedanken mit.

»Sie haben Recht, antwortete Mac Nap. Alle Segel auf!«

So wenig Aussicht auf Erfolg dieser Versuch auch haben mochte, so belebte er doch einigermaßen die gesunkenen Lebensgeister. Konnte das wohl anders sein? Mußten die Unglücklichen sich nicht an Alles anklammern, was einer Hoffnung ähnlich sah? Alle gingen an’s Werk; selbst Kellet, der Mrs. Paulina Barnett noch nicht an ihr Versprechen erinnert hatte.

Ein Giebelbalken der vormaligen Soldatenwohnung wurde roh zugerichtet und in der Erd- und Sandmenge, die den kleinen Hügel bildete, befestigt. Mehrere Seile hielten ihn nach Art der Strickleitern. Eine aus einer starken Stange bestehende Raa empfing an Stelle des Segels eine Ausrüstung durch die Tücher und Decken der Lagerstätten und wurde alsdann aufgehißt. Das sehr urwüchsige Segel schwoll, als es passend gerichtet war, unter dem günstigen Winde an, und der Strudel hinter der Scholle bewies bald, daß sich dieselbe schneller in der Richtung nach Südosten bewegte.

Das war doch ein Erfolg, der die niedergeschlagenen Geister ermunterte. Es ging doch vorwärts, und Alles jubelte über die, wenn auch nur sehr mäßige Bewegung. Der Zimmermann war von diesem Resultate vorzüglich befriedigt. Als ständen sie auf Bordswache, so starrten Aller Augen nach dem Horizonte, und hätte man ihnen jetzt gesagt, daß sich kein rettendes Land zeigen würde, sie hätten es nicht einmal geglaubt.

Und doch sollten sie lange vergeblich harren.

Drei Stunden lang segelte die Scholle schon über das ziemlich ruhige Meer dahin. Sie leistete weder dem Winde noch dem Seegange Widerstand, und die Wellen trugen sie vielmehr, statt ihr hinderlich zu sein. Doch immer noch dehnte sich der ununterbrochene Horizont in vollem Kreise aus, und immer hofften und harrten die Armen!

Gegen drei Uhr Nachmittags nahm Lieutenant Hobson den Sergeant Long bei Seite und sprach zu ihm:

»Wir kommen zwar vorwärts, aber nur auf Kosten der Festigkeit und der Ausdauer unseres Eilandes.

– Wie meinen Sie das, Herr Lieutenant?

– Ich will damit sagen, daß die Scholle sich durch die Reibung des Wassers schneller abnutzt und leichter brechen wird. Seit wir unter Segel sind, hat sie schon um einen guten Theil abgenommen.

– Das glauben Sie …

– Das weiß ich bestimmt, Long. Die Scholle wird schmäler und im Verhältniß länger, auch reicht das Meer bis auf zehn Fuß vor unseren Hügel.«

Lieutenant Hobson hatte wahr gesprochen; mit der schnell dahin geführten Scholle mußte es sich so verhalten, wie er muthmaßte.

»Sergeant, fragte da Jasper Hobson, sind Sie der Meinung, daß wir den Lauf der Insel unterbrechen?

– Ich sollte meinen, erwiderte Sergeant Long, wir müßten darüber die Ansicht Aller hören; die Verantwortlichkeit für diesen Beschluß müssen Alle gleichmäßig tragen.«

Der Lieutenant stimmte zu. Beide nahmen ihren Platz auf der kleinen Erhöhung wieder ein, und Jasper Hobson sprach sich über die gegenwärtige Lage aus.

»Diese Schnelligkeit, sagte er, verzehrt die Scholle, die uns trägt, und könnte die unvermeidliche Katastrophe wohl um einige Stunden beschleunigen. Sprecht Eure Meinung aus, meine Freunde. Wollt Ihr, daß wir weiter segeln?

– Vorwärts! Vorwärts!«

Wie aus einem Munde riefen es alle die Unglücklichen.

Man fuhr also unbeirrt weiter, und dieser Beschluß sollte zu ganz unberechneten Folgen führen. Um sechs Uhr Abends erhob sich Madge und rief, indem sie nach einem entfernten Punkt am Horizont zeigte:

»Land! Land!«

Wie elektrisirt sprangen Alle auf. Wirklich erhob sich ein Land, im Südosten, zwölf Meilen von der Scholle.

»Segel, Segel herbei!« rief Jasper Hobson.

Alle verstanden ihn. Die Segelfläche wurde vergrößert; man brachte zwischen den Seilen mittels Kleidungsstücken, Pelzfellen und Allem, in dem sich der Wind fangen konnte, eine Art Beisegel an.

Die Schnelligkeit der Fahrt nahm zu, zumal die Brise auffrischte. Von allen Seiten schmolz aber nun die Scholle. Man fühlte sie erzittern; jeden Augenblick konnte sie in Stücke gehen.

Jetzt wollte Niemand hieran denken; nur die Hoffnung erfüllte sie; da unten auf dem festen Lande war ja das Heil!

Man rief nach ihm in’s Weite, man machte Zeichen – es war ein wahrer Rausch, der Alle erfaßte!

Um sieben ein halb Uhr hatte sich die Scholle merklich der Küste genähert, aber sie schmolz und versank auch zusehends. Schon spülten die Wellen über den größten Theil derselben und begruben die meisten der Thiere, die vor Angst sich nicht zu lassen wußten.

Jeden Augenblick konnte man das Versinken in den Abgrund befürchten. An die Ränder der Scholle schaffte man noch Sand und Erde, um jene vor der directen Bestrahlung durch die Sonne zu schützen, aus demselben Grunde breitete man auch Pelzfelle, die ihrer Natur nach sehr schlechte Wärmeleiter sind, darüber aus. Alle nur erdenklichen Mittel wurden angewendet, um die endliche Katastrophe zu verzögern. Aber Alles das war nicht hinreichend. Im Innern der Scholle hörte man es krachen, und auf der Oberfläche zeigten sich die Linien der Sprünge. Schon drang das Wasser von allen Seiten darüber ein, und noch war die Küste vier Meilen unter dem Winde entfernt!

Die Nacht sank herab, – eine dunkle, mondeslose Nacht.

»Frisch auf! Macht ein Signal, meine Freunde, rief Jasper Hobson. Vielleicht wird man uns doch von dort aus gewahr!«

Schnell trug man aus Allem, was noch Brennbares vorhanden war, nämlich wenige Planken und einen kleinen Balken, zu einem Scheiterhaufen zusammen und setzte diesen in Flammen. Bald züngelte ein hellleuchtendes Feuer durch das Halbdunkel empor….

Doch immer weiter schmolz die Scholle und immer tiefer sank sie hinab. Bald tauchte nur noch der kleine Hügel über das Wasser auf. Auf denselben hatten sich Alle, eine Beute des Entsetzens, zusammengedrängt, und mit ihnen die wenigen vom Meere noch verschonten Thiere. Der Bär ließ ein furchtbares Brummen vernehmen. Immer höher stieg das Wasser, und Nichts ließ annehmen, daß die Schiffbrüchigen bemerkt worden seien. Kaum eine Viertelstunde konnte noch bis zum Untersinken vergehen….

Gab es denn kein Mittel, den Zusammenhalt der Eisscholle nur um kurze Zeit zu verlängern? Nur noch um drei Stunden, so durfte man hoffen, das kaum noch drei Meilen entfernte Ufer zu erreichen! Aber was in aller Welt, was war zu thun?

»O, rief Jasper Hobson, gebt mir ein Mittel, die Schmelzung dieser Scholle jetzt zu hindern. Mein Leben, ja mein Leben gebe ich darum!«

Da ließ sich eine Stimme vernehmen:

»Es giebt wohl noch ein Mittel!«

Thomas Black war es, der also sprach; der Astronom, der so lange Zeit kaum den Mund geöffnet hatte, der kaum noch als Lebender gerechnet wurde unter allen diesen Opfern eines grausamen Todes. Und nun erlangte er die Sprache wieder, um zu verkünden: »Es giebt noch ein Mittel, die Schmelzung dieser Scholle zu verhindern! Es giebt noch eine Hilfe, die uns retten kann!«

Jasper Hobson stürzte auf Thomas Black zu; fragend hingen Aller Augen an diesem; sie glaubten, nicht recht gehört zu haben.

»Und dieses Mittel wäre… fragte der Lieutenant.

– An die Pumpen!« erwiderte einfach Thomas Black.

War dieser zum Narren geworden? Hielt er die Scholle für ein Schiff, das bei zehn Fuß Wasser im Kielraum zu versinken drohte?

Die Ventilationspumpen und das jetzt als Trinkwasserbehälter dienende Luftreservoir befanden sich wohl noch auf der Scholle, doch was sollten sie jetzt nützen? Wie konnten sie die Ränder, welche von allen Seiten abschmolzen, wieder erhärten?

»Er ist toll geworden! sagte Sergeant Long.

– An die Pumpen! wiederholte der Astronom. Laßt wieder Luft in das Reservoir!

– Thun wir seinen Willen!« rief Mrs. Paulina Barnett.

Die Pumpen wurden mit dem Luftbehälter verschraubt, dessen Deckel schnell verschlossen und verdichtet, und in ihm die eingepreßte Luft bis zur Spannung mehrerer Atmosphären comprimirt. Da befestigte Thomas Black einen Lederschlauch an das Reservoir, öffnete den Hahn des Letzteren und ging damit längs der Ränder der Scholle hin, wo die Wärme diese auflöste.

Und was geschah dabei zum größten Erstaunen Aller? Ueberall, wo die Hand des Astronomen den Luftstrom hinleitete, hörte es auf zu thauen, schlossen sich die Spalten wieder und fror es von Neuem.

»Hurrah! Hurrah!« riefen die Unglücklichen.

Zwar ermüdete die Arbeit an den Pumpen sehr, aber an Mannschaften zur Ablösung fehlte es ja nicht. Die vorspringenden Theile der Scholle nahmen wieder feste Gestalt an, als wären sie einer neuen, strengen Kälte ausgesetzt.

»Sie retten uns wie durch ein Wunder, Herr Black, sagte Jasper Hobson.

– O, das geht ja ganz natürlich zu!« erwiderte der Astronom.

Es war das in der That ganz natürlich, und zwar vollzog sich folgender physikalische Proceß:

Das Eis gefror nämlich aus zwei Gründen: erstens, indem das Wasser an der Oberfläche durch den Luftstrom verdunstet wurde und dadurch eine bedeutende Kälte erzeugte, und zweitens, indem die stark zusammengedrückte Luft sich wieder ausdehnte und dabei viele Wärme band. Ueberall, wo ein Sprung sich zeigte, verlöthete die durch die Luftausdehnung hervorgebrachte Kälte dessen Ränder wieder, und die Eisscholle gewann, Dank diesem äußersten Hilfsmittel, nach und nach fast ihre frühere Festigkeit wieder.

Mehrere Stunden fuhr man so in Gleichem fort. Erfüllt von froher, verlockender Hoffnung arbeiteten die Schiffbrüchigen mit einem Eifer, den nichts zu lähmen vermochte.

Man näherte sich dem Lande.

Als die Küste nur noch eine Viertelmeile entfernt lag, sprang der Bär in’s Wasser, schwamm bald an’s Land und verschwand.

Einige Minuten nachher strandete die Scholle auf dem Ufersande. Die wenigen Thiere, welche sie noch geborgen hatte, entflohen in das Dunkel. Dann verließen sie die Schiffbrüchigen, sanken in die Knie und lobpreisend stieg der Dank für ihre wunderbare Erhaltung und glückliche Rettung zum Himmel empor!

Vierundzwanzigstes Capitel.


Vierundzwanzigstes Capitel.

An dem äußersten Ende des Behrings-Meeres, auf der letzten der Aleuten, der Insel Blejinic, stieß das ganze Personal von Fort-Esperance, nachdem es seit Eintritt des Thauwetters 1800 Meilen weit getrieben worden war, wieder an’s Land. Aleutische Fischer, die den Geretteten zu Hilfe kamen, nahmen sie gastfreundlich auf. Bald waren die englischen Agenten am Festlande, welche im Dienste der Hudsons-Bai-Compagnie standen, über Jasper Hobson und seine Leute in Kenntniß gesetzt. –

Erscheint es nach dieser eingehenden Erzählung noch besonders nöthig, den Muth der wackeren Leute, die ihres Chefs würdig waren, und ihre entschlossene Thatkraft bei so vielerlei Prüfungen hervorzuheben? Nie hatte jener ihnen gefehlt, weder den Männern, noch den Frauen, denen die beherzte Paulina Barnett immer als Beispiel der Willenskraft im Mißgeschick und der Ergebung in den Rathschluß der Vorsehung voranging. Alle hatten treulich gekämpft bis zum Ende und der Verzweiflung keine Macht über sich gegönnt, selbst als sie das Festland, auf dem Fort- Esperance gegründet worden war, sich in eine umherirrende Insel, diese Insel in ein Eiland, dieses Eiland sich in eine Scholle verwandeln sahen, und auch zuletzt noch nicht, als selbst diese unter dem doppelten Einfluß der Sonne und des wärmeren Wassers zu schmelzen begann! Wenn der Versuch der Compagnie wieder von vorn angefangen werden mußte, wenn das neue Fort seinen Untergang gefunden hatte, – den Lieutenant Hobson und seine Genossen, die der Spielball so vieler unvorhergesehener Unfälle gewesen waren, konnte kein Vorwurf treffen. Jedenfalls fehlte von den neunzehn, Lieutenant Hobson’s Fürsorge anvertrauten Personen keine einzige, ja, die kleine Colonie war sogar um zwei Mitglieder, die junge Eskimodin Kalumah und das Kind des Zimmermanns Mac Nap, das Pathchen der Mrs. Paulina Barnett, gewachsen.

Sechs Tage nach ihrer Rettung kamen die Schiffbrüchigen in Neu-Archangel, der Hauptstadt des russischen Amerika, an.

Dort sollten sich Alle, welche die allgemeine Gefahr zu so nahen Freunden gemacht hatte, vielleicht für immer trennen!

Jasper Hobson und seine Leute wollten Fort- Reliance auf dem Ueberlandwege wieder erreichen, wahrend Mrs. Paulina Barnett, Kalumah, die sich von Ersterer nicht mehr trennen konnte, Madge und Thomas Black über San-Francisko und die Vereinigten Staaten nach Europa zurückzukehren beabsichtigten.

Bevor sie aber von einander schieden, sprach der Lieutenant in Gegenwart aller seiner Leute mit bewegter Stimme diese Worte zu der Reisenden:

»Madame, segne Sie Gott für das Gute, das wir Alle Ihnen verdanken! Sie waren unser Glaube, unser Trost, die Seele unserer kleinen Welt! Ich danke Ihnen in Aller Namen aus tiefstem Herzensgrunde!«

Ein dreimaliges Hurrah erschallte zu Ehren Mrs. Paulina Barnett’s; dann wollte jeder der Soldaten die Hand der muthigen Reisenden drücken, jede der Frauen sie tiefgerührt umarmen.

Jasper Hobson, der eine so innige Zuneigung zu Mrs. Paulina Barnett gewonnen hatte, wurde das Herz recht schwer, als er ihr zum letzten Male die Hand bot.

»Wäre es möglich, daß wir uns nie und nimmer wiedersehen sollten? sagte er.

– Nein, Jasper Hobson, antwortete die Reisende, nein, das kann nicht sein! Und wenn Sie nicht nach Europa kommen, ich werde Sie wieder zu finden wissen, hier oder in der neuen Factorei, die Ihre Hand doch einst noch gründet …«

In diesem Augenblick trat Thomas Black, der, seit er festes Land unter den Füßen spürte, die Sprache wieder erlangt hatte, vor und sagte mit bestimmtester Miene:

»Ja, wir werden uns wiedersehen … in sechsundzwanzig Jahren. Meine Freunde, die Sonnenfinsterniß des Jahres 1860 ist mir entgangen, aber die nächste werde ich nicht verfehlen, die im Jahre 1886 unter denselben Verhältnissen und unter denselben Breiten stattfinden wird. In sechsundzwanzig Jahren also, werthe Frau, finde ich Sie, und auch Sie, mein wackerer Lieutenant, an den Grenzen des Polarmeeres wieder.«

Ende.

 

Inhalt.

Erstes Capitel. Ein schwimmendes Fort ….. 1 Zweites Capitel. Wo man sich befand ….. 14 Drittes Capitel. Ein Gang um die Insel ….. 27 Viertes Capitel. Ein Nachtlager ….. 41 Fünftes Capitel. Vom 25. Juli bis zum 20. August ….. 53 Sechstes Capitel. Zehn Tage Sturm ….. 67 Siebentes Capitel. Ein Feuer und ein Schrei ….. 78 Achtes Capitel. Ein Ausflug der Mrs. Paulina Barnett ….. 92 Neuntes Capitel. Kalumah’s Abenteuer ….. 108 Zehntes Capitel. Der Kamtschatka-Strom ….. 120 Elftes Capitel. Eine Mittheilung Jasper Hobson’s ….. 132 Zwölftes Capitel. Rettungsversuche ….. 144 Dreizehntes Capitel. Quer über das Eisfeld ….. 156 Vierzehntes Capitel. Die Wintermonate ….. 166 Fünfzehntes Capitel. Ein letzter Ausflug ….. 177 Sechzehntes Capitel. Thauwetter ….. 192 Siebenzehntes Capitel. Der Eissturz ….. 204 Achtzehntes Capitel. Alle Hände beschäftigt ….. 212 Neunzehntes Capitel. Das Behrings-Meer ….. 225 Zwanzigstes Capitel. In’s offene Meer ….. 236 Einundzwanzigstes Capitel. Die Insel wird zum Eiland ….. 244 Zweiundzwanzigstes Capitel. Die vier folgenden Tage ….. 252 Dreiundzwanzigstes Capitel. Auf einer Scholle ….. 256 Vierundzwanzigstes Capitel. Schluß ….. 273

Viertes Capitel.


Viertes Capitel.

Jasper Hobson hatte sich also bezüglich der Bruchstelle nicht getäuscht. Der Isthmus war durch die Stöße des Erdbebens getrennt worden. Westlich von der Insel zeigten sich keine Spuren des amerikanischen Festlandes, keine steilen Gestade, keine Vulkane mehr – allüberall nur Wasser!

Der jetzt durch die Südwestspitze der Insel gebildete Winkel ragte als scharf abgeschnittenes Cap hervor, welches, angenagt durch wärmere Gewässer und deren Anprall ausgesetzt, einer baldigen Zerstörung anheim fallen mußte.

Die Reisenden setzten ihren Weg längs der fast geraden und ziemlich genau von Westen nach Osten verlaufenden Bruchlinie fort. Die Fläche des Bruches selbst war so glatt, als rührte sie von einem schneidenden Werkzeuge her, und gestattete an manchen Stellen das Gefüge des Erdbodens zu erkennen. Das zur Hälfte aus Eis und zur Hälfte aus Erde und Sand bestehende Ufer tauchte gegen zehn Fuß hoch über das Wasser auf. An dem vollkommen steilen Abfalle verriethen mehrere ganz frische Stellen noch neuerliche Nachstürze. Sergeant Long wies sogar auf zwei bis drei kleine Eisschollen hin, welche eben in Auflösung begriffen waren. Durch die anbrandenden Wellen mußte das wärmere Wasser natürlich diesen Saum um so leichter benagen, da ihn die Zeit noch nicht, so wie die übrigen Küstenstriche, mit einer Art Mörtel aus Sand und Schnee bekleidet hatte; ein Umstand, der auch nicht zu besonderer Beruhigung diente.

Mrs. Paulina Barnett, Lieutenant Hobson und Sergeant Long wollten, bevor sie sich zur Ruhe begaben, die ganze südliche Kante der Insel untersuchen. Die Sonne, welche jetzt einen sehr verlängerten Bogen beschrieb, konnte vor elf Uhr nicht untergehen, und fehlte es demnach nicht an Tageslicht. Langsam zog die glänzende Scheibe über den westlichen Himmel, deren schräge Strahlen riesenhafte Schattenbilder vor die Füße der Wanderer warfen. Diese selbst kamen manchmal in lebhaftes Gespräch, manchmal aber traten lange Pausen ein, während der sie das Meer überschauten oder ihre Zukunft bedachten.

Es lag in Jasper Hobson’s Absicht, an der Washburn-Bai zu übernachten. An diesem Punkte rechnete er, wenn sich seine Voraussetzungen als richtig erwiesen, gegen achtzehn Meilen, das heißt die Hälfte der Rundreise, zurückgelegt zu haben. Wenn sich dann seine Begleiterin nach einigen Stunden der Ruhe von ihrer Anstrengung erholt hätte, gedachte er sich nach dem nördlichen Ufer zu wenden, und längs desselben nach Fort-Esperance zurück zu kehren.

Bei der Besichtigung des neuen Ufers zwischen der Walroß- und der Washburn-Bai ereignete sich nichts Besonderes. Um sieben Uhr Abends war Jasper Hobson nach dem Punkte gelangt, den er zum Uebernachten ausersehen hatte. Auch an dieser Seite zeigte sich dieselbe Veränderung; von der Washburn-Bai war nur noch die eine flachbogige Seite übrig, welche die Küste der Insel bildete. Diese erstreckte sich ohne nennenswerthe Unterbrechung bis zu einem »Cap Michel« genannten Vorsprunge in einer Länge von sieben Meilen. Dieser Theil der Insel schien durch den Bruch des Isthmus in keiner Weise gelitten zu haben. Lustig grünten Fichten- und Birkengruppen etwas landeinwärts; auch Pelzthiere sah man in ziemlicher Menge über die Ebene dahin laufen.

Mrs. Paulina Barnett und ihre beiden Begleiter hielten an dieser Stelle an. Waren ihre Blicke auch nach Norden hin beschränkt, so umfaßten sie doch nach Süden zu die volle Hälfte des Gesichtskreises. Die Sonne beschrieb einen so flachen Kreis, daß ihre von dem höheren Ufer im Westen aufgefangenen Strahlen nicht bis zur Washburn-Bai dringen konnten. Noch war es aber nicht Nacht, nicht einmal Dämmerung, denn das Strahlengestirn war noch nicht untergegangen.

»Herr Lieutenant, begann da der Sergeant im ernsthaftesten Tone der Welt, wenn jetzt durch ein Wunder eine Glocke ertönte, welche Stunde würde sie nach Ihrer Meinung schlagen?

– Die Stunde des Abendessens, Sergeant, entgegnete Jasper Hobson. Ich denke, Madame, Sie werden auch dieser Ansicht sein?

– Ganz und gar, bestätigte die Reisende; und da unser Tisch überall ist, wo wir uns niedersetzen, so wollen wir es sofort thun. Hier befindet sich gleich ein freilich etwas abgenutzter Moosteppich, den die Vorsehung eigens für uns ausgebreitet zu haben scheint.«

Die Provianttasche ward also geöffnet. Getrocknetes Fleisch und eine aus der Speisekammer der Mrs. Joliffe bezogene Hasenpastete bildeten nebst etwas Schiffszwieback die Speisekarte.

Eine Viertelstunde nach eingenommener Mahlzeit wandte sich Jasper Hobson noch einmal nach der südöstlichen Ecke der Insel zurück, während Mrs. Paulina Barnett am Fuße einer dürftigen, halb entästeten Tanne sitzen blieb, und der Sergeant sich mit der Einrichtung einer Lagerstätte für die Nacht beschäftigte.

Lieutenant Hobson wollte die Structur des Eisfeldes, welches die Insel bildete, untersuchen, und wenn möglich die Entstehungsweise desselben erforschen. An einer durch Einsturz entstandenen abschüssigen Stelle konnte er bis zum Meeresniveau hinabgelangen und von diesem Punkte aus bequem die steile Ufermauer betrachten.

An dieser Stelle stieg der Erdboden kaum drei Fuß über das Wasser heraus. Sein oberer Theil bestand aus einer dünnen Schicht von Erde und Sand, untermischt mit Trümmern von Muschelschalen. Den unteren Theil bildete eine zusammenhängende, sehr harte, fast metallähnlich gewordene Eislage, welche also unmittelbar die Humusdecke der Insel trug.

Diese Eisschicht überragte die Wasserfläche kaum um einen Fuß. An der frischen Schnittfläche waren die Einzelschichten des Eisfeldes deutlich zu unterscheiden. Die ganz horizontalen Ablagerungen schienen darauf hinzudeuten, daß die auf einander folgenden Frostperioden, denen sie ihre Entstehung verdankten, ein völlig ruhiges Wasser betroffen hatten.

Bekanntlich gefrieren Flüssigkeiten zuerst an ihrer Oberfläche; dauert der Frost dann länger an, so wächst die erste feste Schale von oben nach unten weiter. So ist der Vorgang wenigstens bei still stehendem Wasser. Bei fließendem dagegen hat man beobachtet, daß sich zuerst in der Tiefe Eisschollen bilden, welche später zur Oberfläche aufsteigen.

Für dieses Eisfeld, die Unterlage der Insel Victoria, aber war es nicht zweifelhaft, daß es am Ufer des Festlandes aus ruhigem Wasser entstanden sei, und drängte sich die Annahme auf, daß dasselbe an seiner unteren Fläche wegschmelzen werde. Gelangte es also in wärmere Gewässer, so mußte die Eisinsel an Dicke abnehmen, ihre Oberfläche dem entsprechend aber dem Niveau des Meeres näher kommen.

Hierin lag die größte Gefahr.

Jasper Hobson hatte, wie erwähnt, beobachtet, daß die feste, Unterlage der Insel, also der eigentliche Eisblock, die Wasserfläche nur um etwa einen Fuß überragte. Nun weiß man aber, daß eine Scholle höchstens zu vier Fünfteln in das Wasser einsinkt. Ein Eisfeld oder ein Eisberg hat demnach für jeden Fuß sichtbaren Durchmessers vier Fuß unter der Wasserfläche. Doch ist nicht zu übersehen, daß schwimmende Schollen je nach ihrer Bildung und Entstehungsweise eine verschiedene Dichtigkeit, also ein wechselndes specifisches Gewicht aufweisen. Solche aus Meerwasser nämlich sind poröser, undurchsichtig, je nach der Richtung der Lichtstrahlen von blauer oder grüner Färbung, und leichter, als die aus Süßwasser entstandenen. Ihre Oberfläche steigt also etwas höher über das Meeresniveau empor. Gewiß bestand nun der Untergrund der Insel Victoria aus einer Salzwasserscholle.

Brachte Jasper Hobson auch das Gewicht der mineralischen und vegetabilischen Decke derselben in Anschlag, so gelangte er zu dem Schlusse, daß ihr Durchmesser unter dem Meere nur etwa vier bis fünf Fuß betragen könne. Das wechselnde Relief der Insel, ihre verschiedenen Bodensenkungen und Erhebungen, ging offenbar nur der erdig-sandigen Oberfläche derselben an, und machte die Annahme wahrscheinlich, daß die schwimmende Insel nirgends tiefer, als höchstens fünf Fuß, eintauche.

Diese Ueberzeugung weckte in Jasper Hobson sehr ernste Sorgen! Nur fünf Fuß! War es, ohne von der Auflösung zu reden, welcher die Insel aus verschiedenen Ursachen unterliegen konnte, nicht anzunehmen, daß der geringste Anprall hinreichen werde, sie durch und durch zu spalten? – Daß eine heftige Bewegung des Wassers, etwa durch einen Sturm oder nur durch einen einzelnen starken Windstoß, sie in einzelne Schollen zersprengen und ihrer völligen Auflösung entgegen führen könnte? Wie sehnlich wünschte Lieutenant Hobson den Winter, den Frost, das Erstarren des Quecksilbers in der Thermometerkugel jetzt herbei! Nur die furchtbare Kälte der Polarländer und des arktischen Winters konnte die Grundlage der Insel fester und stärker machen, und gleichzeitig eine Verbindung zwischen ihr und dem Continente wieder herstellen.

Lieutenant Hobson kam nach dem Halteplatze zurück. Sergeant Long war damit beschäftigt, ein Nachtlager herzurichten, da er nicht unter freiem Himmel campiren wollte, obgleich Mrs. Paulina Barnett sich dabei beruhigt hätte. Er theilte Jasper Hobson seine Absicht mit, im Erdboden ein für drei Personen genügendes Eishaus auszuhöhlen, das ihnen gegen die Nachtkälte vollkommen Schutz gewähren sollte.

»Im Lande der Eskimos, sagte er, ist Nichts klüger, als zu leben wie ein Eskimo.«

Jasper Hobson stimmte zu, empfahl ihm aber, nicht zu tief in den Eisboden, dessen Dicke nur fünf Fuß betragen könne, hinein zu graben.

Sergeant Long ging an die Arbeit. Mit Hilfe der Axt und des Schneemessers hatte er bald das Erdreich bei Seite geschafft und eine Art Vorraum, der direct auf die Eisschicht stieß, ausgehöhlt. Dann nahm er diese mürbe Masse in Angriff, auf der Sand und Erde wohl Jahrhunderte hindurch geruht hatten.

Es bedurfte kaum einer Stunde, um diese unterirdische Zufluchtsstätte, oder vielmehr diese Höhle mit Eiswänden, welche die Wärme sehr gut zusammenhielt und demnach für wenige Stunden der Nacht eine hinreichende Wohnlichkeit darbot, auszuschachten.

Während Sergeant Long wie eine Termite arbeitete, gesellte sich Hobson zu seiner Reisegefährtin und theilte ihr die Resultate seiner Beobachtung der physikalischen Beschaffenheit der Insel mit, wobei er ihr die ernsten Befürchtungen nicht verhehlte, die jene Prüfung in ihm erregt hatte. Bei der geringen Stärke des Eisfeldes mußten in nicht ferner Zeit Sprünge und Brüche entstehen, deren Stelle eben so wenig vorher zu sehen, als sie selbst zu verhindern waren. Jeden Augenblick konnte die umherirrende Insel durch Veränderung ihres specifischen Gesammtgewichtes tiefer einsinken oder sich in mehr oder weniger zahlreiche Inselchen von nothwendig ephemerer Existenz zertheilen. Er hielt es demnach für angezeigt, daß sich die Bewohner von Fort-Esperance so wenig als möglich von der Factorei entfernten, um auf einem Punkte vereinigt mindestens das gleiche Geschick zu theilen.

Hier wurde das Gespräch plötzlich durch einen Aufschrei unterbrochen.

Mrs. Paulina Barnett und der Lieutenant erhoben sich sofort und blickten forschend rund umher.

Niemand war zu sehen.

Das Hilferufen verdoppelte sich.

»Das ist der Sergeant! Der Sergeant!« sagte Jasper Hobson.

Eiligst begab er sich, Mrs. Barnett hinter ihm her, nach der Lagerstätte.

Kaum angelangt an der klaffenden Mündung des Eishauses, gewahrte er den Sergeanten, der sich mit beiden Händen krampfhaft an seinem Messer hielt, das er in die Eiswand eingestoßen hatte, und mit lauter, aber völlig ruhiger Stimme um Hilfe rief.

Nur Kopf und Arme blieben noch von ihm sichtbar. Beim Aufhacken des Eises hatte der Boden plötzlich unter ihm nachgegeben, und er war bis an den Gürtel in’s Wasser gesunken.

»Aushalten!« rief ihm Jasper Hobson zu.

Den Einschnitt hinabgleitend gelangte er an den Rand der Oeffnung und reichte dem Sergeanten die Hand, welcher mit Hilfe dieses sicheren Stützpunktes aus dem Loche heraus kam.

»Mein Gott, Sergeant Long! rief Mrs. Paulina Barnett, was ist Ihnen widerfahren?

– Ei, Madame, erwiderte Long, der sich wie ein nasser Pudel schüttelte, das Eis brach unter mir und half mir zu einem unfreiwilligen Bade.

– Dann haben Sie aber, fragte Jasper Hobson, meine Mahnung, nicht zu tief zu graben, außer Acht gelassen?

– Entschuldigen Sie, Herr Lieutenant. Sie sehen, daß ich kaum fünfzehn Zoll in den Eisboden hinein war. Es ist nur anzunehmen, daß sich unter mir eine Blase, eine Art Höhlung befand, denn das Eis lag nicht auf dem Wasser auf, und ich brach durch wie durch eine Zimmerdecke. Hätte ich mich nicht an meinem Messer halten können, so konnte ich einfältiger Weise unter die Insel gerathen, und das wäre doch etwas unangenehm gewesen; nicht wahr, Madame?

– Sehr unangenehm, wackerer Sergeant!« antwortete die Reisende und bot dem braven Manne die Hand.

Sergeant Long’s abgegebene Erklärung war völlig richtig.

Aus irgend welchem Grunde, vielleicht in Folge der Entwickelung von Luft, bildete das Eis an dieser Stelle eine hohle Wölbung, und folglich hatte deren ohnehin nicht starke und durch das Schneemesser noch weiter geschwächte Decke unter dem Gewichte des Sergeanten nachgegeben.

Diese innere Gestaltung, welche sich gewiß an so manchen Punkten des Eisfeldes wiederholte, diente auch nicht zur besonderen Beruhigung. Wo war man nun sicher, den Fuß auf verläßlichen, festen Boden zu setzen? Konnte dieser nicht bei jeder Belastung einsinken? Nahm man noch hinzu, daß sich der grundlose Ocean unter jener dünnen Erd- und Sandkruste befand, welches noch so muthige Herz wäre dadurch nicht verzagt geworden?

Sergeant Long, der sich um das eben genommene Bad blutwenig kümmerte, wollte seine Mineurarbeiten an einer anderen Stelle frisch beginnen. Diesmal gab aber Mrs. Paulina Barnett ihre Zustimmung nicht, da es ihr nicht schwer ankam, eine Nacht ganz im Freien zuzubringen. Der Schutz des benachbarten Gehölzes würde ihr ebenso wie ihren Gefährten vollkommen genügen, und widersprach sie deshalb unbedingt der Wiederaufnahme einer so gefährlichen Arbeit. Sergeant Long mußte sich fügen und gehorchen.

Die Lagerstätte wurde demnach um etwa hundert Fuß vom Ufer nach rückwärts an eine kleine Bodenerhebung verlegt, wo sich einige vereinzelte Gruppen von Fichten und Weiden, welche zusammen den Namen eines Gehölzes noch nicht verdienten, erhoben. Um zehn Uhr Abends, gerade als die Sonne den Horizont, unter dem sie für wenige Stunden verschwinden sollte, noch streifte, loderte knisternd ein Feuer von dürren Aesten empor.

Dem Sergeant Long bot dasselbe eine herrliche Gelegenheit, seine Füße zu trocknen, von der er eiligst Gebrauch machte. Jasper Hobson verplauderte mit ihm die Zeit, bis die Dunkelheit an Stelle des Tageslichtes trat. Von Zeit zu Zeit mischte sich auch Mrs. Paulina Barnett in das Gespräch und suchte den Lieutenant von seinen etwas düsteren Gedanken abzulenken. Diese schöne Nacht, am Zenith so sternenreich wie alle Polarnächte, erschien einer Besänftigung des Geistes besonders günstig. Leise murmelte der Wind in den Gipfeln und das Meer an der Küste schien zu schlafen. Kaum erhoben sich langgedehnte Wellen auf seiner Fläche und verliefen sich geräuschlos am Ufersaume der Insel. Kein Schrei eines Vogels war in den Lüften, kein Laut von irgend einem Thiere auf der Ebene hörbar. Nur die vom Harze genährten Flammen brachen prasselnd aus den Tannenstämmchen hervor, und dann und wann unterbrach das Gemurmel der Stimmen, welche im Luftzug verhallten, das Schweigen der Nacht, das dadurch nur erhabener erschien.

»Wer möchte glauben, sagte da Mrs. Paulina Barnett, daß wir jetzt auf weitem Meere entführt werden? Wahrlich, Herr Hobson, jetzt habe ich Mühe, mir das richtig vorzustellen, denn uns erscheint das Meer unbeweglich, und doch treibt es uns mit unwiderstehlicher Gewalt dahin!

– Ja, Madame, antwortete Jasper Hobson, wenn der Boden dieses Fahrzeuges verläßlich wäre, wenn der Kiel dem Schiffe nicht über kurz oder lang mangeln müßte, wenn seine Planken nicht drohten, sich heut oder morgen zu öffnen, und wenn ich endlich wüßte, wohin es mich trägt, – dann, gestehe ich Ihnen, wäre ich auch nicht böse, den Ocean in dieser Weise zu befahren.

– Wahrlich, Herr Hobson, fuhr die Reisende fort, giebt es denn eine angenehmere Fortbewegung, als die unserige? Wir bemerken ja gar Nichts davon, da unsere Insel mit der Meeresströmung genau dieselbe Schnelligkeit besitzt. Entspricht das nicht vollkommen den Verhältnissen des Luftballons in der Höhe? Wie reizend müßte es sein, so mit seinem Hause, Garten, Parke, ja, mit dem ganzen Lande zu verreisen! Eine schwimmende Insel, darunter verstehe ich aber eine wirkliche Insel mit festem Grund und Boden, müßte doch das bequemste und herrlichste Fahrzeug abgeben, das nur zu erdenken wäre. Man berichtet von schwebenden Gärten; ei, warum soll man dereinst nicht schwimmende Parks herstellen, die uns nach jedem beliebigen Punkte der Erde dahintragen? Ihre Größe würde sie von dem Seegange ganz unabhängig und ihnen die Stürme unschädlich machen. Vielleicht wären bei günstigem Winde auch große Segel dabei zu benutzen. Welche Wunder der Vegetation entfalteten sich dann wohl vor den Blicken der Reisenden, wenn sie aus der gemäßigten Zone in die Tropenzone einträten! Sicher müßte man mit geschickten und über alle Meeresströmungen genau unterrichteten Lootsen sich in jeder beliebigen Breite erhalten und eines ewigen Frühlings erfreuen können!«

Jasper Hobson vermochte gegenüber diesen Traumbildern der enthusiastischen Mrs. Barnett ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Die kühne Frau ließ ihren Gedanken so liebenswürdig freien Lauf und glich so sehr der Insel Victoria, welche sich weiter bewegte und es doch nicht verrieth. Gewiß konnte man sich nach Lage der Sachen über diese eigenthümliche Art, die Meere zu durchziehen, nicht beklagen, wenn man davon absah, daß die Insel in jedem Augenblicke zu schmelzen und zu versinken drohte.

Die Nacht verstrich. Nach wenigen Stunden der Ruhe frühstückte man zum allgemeinen Wohlgefallen. Ein lebhaftes Feuer von dürrem Gesträuch erwärmte und belebte auch die Füße der Schläfer wieder, welche durch die Nachtkälte etwas erstarrt gewesen waren.

Um sechs Uhr Morgens begaben sich Mrs. Paulina Barnett, Lieutenant Hobson und Sergeant Long wieder auf den Weg.

Vom Cap Michael bis zum vormaligen Barnett-Hafen verlief die Küste fast geradlinig von Süden nach Norden und in einer Länge von fast elf Meilen. Sie bot nichts Besonderes und schien durch den Bruch des Isthmus nicht gelitten zu haben. Ein wenig rückwärts von dem im Allgemeinen niedrigen und ebenen Ufer brachte Sergeant Long auf Jasper Hobson’s Anordnung einige Merkzeichen an, um mit ihrer Hilfe spätere Veränderungen richtiger erkennen zu können.

Der Lieutenant wünschte Fort-Esperance noch denselben Abend wieder zu erreichen; Mrs. Paulina Barnett ihrerseits drängte es, ihre Genossen, ihre Freunde wieder zu sehen, und unter den obwaltenden Verhältnissen empfahl es sich auch nicht, die Abwesenheit des Chefs der Factorei weiter auszudehnen.

Man ging also schneller, verfolgte eine schräge Linie und kam gegen Mittag schon um das kleine Vorgebirge herum, welches vordem den Barnett-Hafen gegen die Ostwinde deckte.

Von hier bis nach Fort-Esperance war es etwa noch acht Meilen weit. Vor vier Uhr Nachmittags wurde diese Strecke zurückgelegt, und begrüßten die Hurrahs des Corporal Joliffe die Heimkehr der Reisenden.

Fünftes Capitel.


Fünftes Capitel.

Bei seiner Rückkehr in das Fort war es Jasper Hobson’s erste Sorge, Thomas Black über den Zustand der Colonie zu befragen.

Seit vierundzwanzig Stunden hatte keine merkbare

Veränderung stattgehabt, wohl aber befand sich die Insel, wie eine spätere Messung ergab, um einen Breitengrad südlicher und etwas westlicher, als vorher. Jetzt mochte sie in der Höhe des Eiscaps, einer kleinen Spitze von Nord-Georgia und zweihundert Meilen vom amerikanischen Festlande entfernt umherschwimmen. Die Schnelligkeit der Strömung schien hier etwas weniger groß zu sein, als in den östlicheren Theilen des Polarmeeres, doch trieb sie die Insel noch immer vorwärts, welche sich zu Jasper Hobson’s Leidwesen der Behrings-Straße unaufhaltsam näherte. Jetzt schrieb man erst den 24. Juli und auch ein langsamer Strom reichte wohl hin, sie binnen einem Monate durch die Meerenge in die erwärmten Gewässer des Pacifischen Oceans zu führen, in dem sie sich auflösen mußte, wie ein Stück Zucker in einem Glase Wasser.

Mrs. Paulina Barnett theilte Madge das Ergebniß ihrer Rundfahrt um die Insel mit, beschrieb ihr die streifige Lage der Schichten an der Bruchstelle des Isthmus, die auf fünf Fuß abgeschätzte Dicke des Eisfeldes unter Wasser, den Unfall Sergeant Long’s nebst dessen unfreiwilligem Bade, und legte ihr alle die Gründe vor, welche jeden Augenblick den Bruch oder die Versenkung der Eisscholle veranlassen könnten.

Indessen herrschte das Gefühl der vollkommensten Sicherheit in der Factorei. Den wackeren Insassen derselben war nie ein Gedanke daran gekommen, daß Fort-Esperance über einem Abgrunde schwebe und das Leben seiner Bewohner jede Minute in Gefahr sei. Allen ging es auf’s Beste. Das Wetter war schön, das Klima gesund und stärkend, und Männer und Frauen wetteiferten in froher Laune und strotzender Lebensfülle. Der kleine Michael wurde nun ganz reizend; er versuchte in der Umgebung des Forts seine ersten Schritte, und der ganz in ihn vernarrte Corporal Joliffe wollte ihm gar schon die Handhabung eines Gewehres und die Elemente der Soldatenschule lehren. O, welchen Kriegsmann hätte er in seinem Sohne erzogen, wenn Mrs. Joliffe ihm nur einen solchen schenkte; doch dafür war nur geringe Aussicht, und bis jetzt wenigstens verweigerte der Himmel hartnäckig dem Ehepaar jenen Segen, um den es ihn tagtäglich anflehte.

Den Soldaten fehlte es nicht an Beschäftigung. Mac Nap, der Zimmermann, und seine Werkleute, Petersen, Belcher, Garry, Pond und Hope, arbeiteten eifrig an dem zu erbauenden Schiffe, – ein lange dauerndes, schwieriges Werk, welches leicht noch mehrere Monate beanspruchen konnte. Da die Benutzung des Fahrzeuges aber doch erst für kommenden Sommer nach eingetretenem Thauwetter in Aussicht genommen war, versäumte man daneben auch nicht die Befriedigung der specielleren Bedürfnisse der Factorei. Jasper Hobson ließ Alles geschehen, als wäre der Fortbestand seines Etablissements für ewige Zeit gesichert, und hielt seine Leute fortdauernd in Unkenntniß der Sachlage. Mehr als einmal wurde hierüber zwischen denjenigen, welche man gewissermaßen den »Generalstab« der Insel nennen konnte, verhandelt. Mrs. Paulina Barnett und Madge stimmten niemals der Ansicht des Lieutenants in diesem Punkte völlig bei, sondern meinten, daß ihre thatkräftigen und entschlossenen Gefährten keine Leute seien zum vorzeitigen Verzweifeln, und der Schlag sie nur um so unerwarteter treffen müsse, wenn die Gefahren der Situation ein weiteres Verhehlen derselben unmöglich machten. Nichtsdestoweniger bestand Jasper Hobson auf seinem Urtheile, und wurde von Sergeant Long nur noch darin bekräftigt. Vielleicht hatten diese Beiden, denen bezüglich der Umstände und der Menschen die Erfahrung zur Seite stand, auch vollkommen Recht.

Die Arbeiten für die innere Einrichtung und die Vertheidigungsfähigkeit des Forts wurden ebenfalls fortgesetzt. Der durch neue Pfähle verstärkte und stellenweise erhöhte Palissadenkranz bildete eine sehr widerstandsfähige Umwallung; Mac Nap führte selbst eins seiner Lieblingsprojecte, welches auch die Zustimmung seines Chefs fand, aus, indem er an den vorspringenden Winkeln, welche die Umzäunung nach dem See zu bildete, kleine, spitze Wachtthürmchen errichtete. Corporal Joliffe seufzte fast nach dem Augenblicke, daß er dorthin die Wache zur Ablösung führen werde, wodurch die ganze Anlage erst den für ihn so herzerquickenden Anblick zu bieten versprach.

Nach Vollendung der Außenwerke construirte Mac Nap, gewitzigt durch die Strenge des verflossenen Winters, einen neuen Holzschuppen an der Seite des Hauptgebäudes rechts, und zwar so, daß man ihn von Letzterem aus, ohne sich der freien Luft aussetzen zu müssen, erreichen konnte, um das Brennmaterial immer in der Nähe der Consumenten zu haben. An der linken Seite erbaute er einen großen zur Soldatenwohnung bestimmten Raum, um das Feldbett in dem allgemeinen Saale zu räumen, der ferner nur zu den Mahlzeiten, Spielen und Arbeiten dienen sollte. Die neue Wohnung bezogen von nun an die drei Ehepaare in abgesonderten Zimmern und die übrigen Soldaten. Dazu wurde hinter dem Hause ein besonderes Pelzmagazin errichtet, wodurch der ganze Bodenraum frei ward, dessen Dachsparren und Balken eiserne Klammern in den Stand setzten, jedem neuen Angriffe zu trotzen.

Auch eine Capelle aus Holz wollte Mac Nap noch herstellen. Ursprünglich in Jasper Hobson’s Hauptplan mit aufgenommen, sollte sie die fertige Factorei noch vervollständigen, doch wurde ihr Bau bis zur nächsten Sommersaison vertagt.

Mit welcher Sorgfalt, welch‘ thätigem Eifer hätte Jasper Hobson unter anderen Verhältnissen alle Einzelheiten seines Etablissements verfolgt! Hätte er auf festem Grunde gebaut, wieviel Vergnügen hätte ihm dann das Aufwachsen dieser Häuser, Schuppen und Magazine gewährt! Und dazu noch das zukünftig ganz nutzlose Vorhaben, Cap Bathurst mit einem Werke zu krönen, welches die Sicherheit des Fort-Esperance so wesentlich erhöhen sollte! Das Fort-Esperance (Fort der Hoffnung)! Wie lastete jetzt dieser Name auf seinem Herzen! Cap Bathurst hatte ja für immer das amerikanische Festland verlassen, und Fort-Esperance hätte vielmehr Fort-Sans-Espoir (Fort ohne Hoffnung) heißen sollen!

Jene verschiedenen Arbeiten ließen keine Hand zum Feiern kommen. Der Bau des Schiffes schritt nach Vorschrift vorwärts. Nach Mac Nap’s Aufriß war es zu dreißig Tonnen Tragkraft berechnet und mußte geeignet werden, in der besseren Jahreszeit an zwanzig Passagiere wohl einige hundert Meilen weit zu führen. Der Zimmermann hatte glücklicher Weise einige krummgewachsene Bäume aufgefunden, welche zu den Rippen des Fahrzeuges verarbeitet wurden, und bald erhoben sich am Kiele der Vorder- und der Hintersteven auf der Werft am Fuße des Cap Bathurst.

Während die Zimmerleute mit Aexten, Sagen und Hohlbeilen arbeiteten, stellten die Jäger dem Tafelwilde, wie Rennthieren und Polarhasen, die in der Umgebung der Factorei in Menge vorkamen, eifrig nach. Der Lieutenant hatte Sabine und Marbre eingeschärft, sich niemals weit zu entfernen, wofür er ihnen als Grund angab, daß er vor vollkommener Fertigstellung der Factorei in der Umgebung keine Spuren zurückgelassen wissen wollte, welche irgend einen Feind herbeilocken könnten. In Wahrheit wollte Jasper Hobson freilich nur die Veränderungen, die die Halbinsel betroffen hatten, nicht bekannt werden lassen.

Eines Tages kam es sogar vor, daß Jasper Hobson, als Marbre die Frage an ihn gestellt hatte, ob es nicht Zeit sei, an der Walroß-Bai die Jagd auf jene Amphibien, die ein so vorzügliches Brennmaterial lieferten, wieder aufzunehmen, diesem lebhaft antwortete:

»Nein, das ist nutzlos, Marbre!«

Lieutenant Hobson wußte nur zu gut, daß die Walroß-Bai zweihundert Meilen im Süden zurückgeblieben war, und daß jene Thiere die Ufer der Insel nicht mehr besuchten.

Man darf indeß nicht glauben, daß er die Situation für ganz verzweifelt ansah. Davon war er weit entfernt, und hatte sich gegen Mrs. Paulina Barnett oder Sergeant Long mehrfach in diesem Sinne ausgesprochen. Er behauptete stets, daß die Insel so lange Widerstand leisten werde, bis der Winterfrost ihre Stärke wieder erhöhen und sie in seinem Laufe aufhalten müßte.

Nach seiner Umreisung der Insel hatte Jasper Hobson den Umfang seines neuen Gebietes genau gemessen. Derselbe betrug mehr als vierzig MeilenGegen zweiundfünfzig Kilometer oder sieben geographische Meilen., die Oberfläche aber mindestens einhundertundvierzig Quadratmeilen. Zur Vergleichung diene die Angabe, daß die Insel Victoria etwas größer war, als die Insel Helena, und etwa ebenso groß, als die Stadt Paris innerhalb der Befestigungslinie. Selbst wenn sie sich in mehrere Bruchstücke spaltete, konnten diese noch eine genügende Ausdehnung behalten, um eine Zeit lang bewohnbar zu sein.

Als Mrs. Paulina Barnett ihre Verwunderung über die Ausdehnung eines solchen Eisfeldes aussprach, führte ihr Lieutenant Hobson die Beobachtungen der Polarfahrer hierüber an. Nicht selten stießen Parry, Penny, Franklin und Andere bei ihren Reisen im Arktischen Oceane auf Eisschollen von hundert Meilen Länge und fünfzig Meilen Breite. Kapitän Kellet verließ sein Schiff auf einem Eisfelde von 3000 Quadratmeilen Oberfläche. Was war im Vergleich hiermit die Insel Victoria?

Immerhin konnte deren Größe hinreichend sein, um bis zum Winterfroste auszuhalten, bevor wärmere Strömungen ihre Grundlage schmolzen. Jasper Hobson setzte hierein gar keinen Zweifel und war nur tief betrübt über soviel nutzlose Bemühungen, so viel vergebliche Anstrengungen, so viele zerstörte Pläne, und darüber, daß sein der Erfüllung so naher Traum buchstäblich zu – Wasser werden sollte. Man sieht leicht ein, daß er für die eigentlichen Arbeiten kein besonderes Interesse haben konnte. Er ließ eben Alle gewähren, das war Alles!

Mrs. Paulina Barnett machte gute Miene zum bösen Spiele. Sie hielt ihre Begleiter ebenso zur Arbeit an, wie sie selbst daran theilnahm. Da sie die Sorge bemerkte, welche Mrs. Joliffe um ihre Sämereien hatte, stand sie ihr täglich rathend zur Seite. Sauerampher und Löffelkraut hatten eine reichliche Ernte ergeben, die man nicht zum kleinsten Theile dem Corporal verdankte, der mit der Ausdauer einer leibhaftigen Vogelscheuche das besäete Terrain gegen Tausende diebischer Schnäbel vertheidigte.

Die Zähmung der Rennthiere glückte vollkommen. Mehrere Weibchen warfen Junge, und der kleine Michael wurde zum Theil mit Rennthiermilch aufgezogen. Die ganze Heerde zählte nun gegen dreißig Köpfe. Die Thiere trieb man nach den Rasenflächen am Cap Bathurst auf die Weide, und sammelte auch einen Wintervorrath von kurzem, trockenem Grase an den Abhängen des Vorgebirges. Diese Rennthiere, welche gegen die Leute im Fort schon ganz zutraulich wurden, ließen sich übrigens leicht zähmen, liefen nicht aus der Umzäunung heraus, und manche von ihnen dienten beim Holztransport als Zugthiere vor den Schlitten.

Daneben fing man in der Nachbarschaft der Factorei noch eine ziemliche Anzahl derselben in der halbwegs zwischen dem Fort und dem Barnett- Hafen angelegten Fallgrube.

Im vorigen Jahre war ebenda, wie erzählt, ein riesiger Bär gefangen worden, jetzt fand man sehr häufig Rennthiere darin. Das Fleisch derselben wurde gesalzen, getrocknet und als Nahrungsmittel aufbewahrt. Wohl zwanzig jener Wiederkäuer gingen in die Falle.

In Folge der Bodengestaltung wurde dieselbe aber eines Tages plötzlich außer Gebrauch gesetzt, und als Jäger Marbre am 5. August von der Visitation zurückkam, trat er an Jasper Hobson heran, und sagte mit ganz eigenthümlichem Tone:

»Ich melde mich von der täglichen Visitation der Fallgrube zurück, Herr Lieutenant.

– Gut, Marbre, antwortete Jasper Hobson, Sie waren heute hoffentlich ebenso glücklich als gestern, und haben ein Paar Rennthiere darin vorgefunden?

– Nein, Herr Lieutenant … das nicht … entgegnete Marbre mit sichtbarer Verlegenheit.

– Wie? Ihre Falle hätte nicht den gewohnten Ertrag geliefert?

– Nein, und wenn heute ein Stück Wild hineingefallen wäre, müßte es sicherlich – ertrunken sein.

– Ertrunken? rief der Lieutenant und fixirte den Jäger mit unruhig forschendem Blicke.

– Ja, Herr Lieutenant, antwortete Marbre, der seinen Vorgesetzten aufmerksam im Auge behielt, die Grube ist voller Wasser.

– Ah, gut, fuhr Jasper Hobson in einem Tone fort, als lege er auf die Sache gar kein besonderes Gewicht, Sie wissen ja, daß die Grube zum Theil im Eise ausgebrochen war. Nun hat die Sonne die Wände abgeschmolzen, und dann …

– Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche, Herr Lieutenant, fiel Marbre ein, jenes Wasser kann aber nicht von geschmolzenem Eise herrühren.

– Weshalb nicht, Marbre?

– Weil es dann, wie Sie seiner Zeit erklärt haben, Süßwasser sein müßte; das Wasser in der Grube ist im Gegentheil aber salzig!«

So sehr sich Jasper Hobson sonst beherrschte, so erbleichte er jetzt doch leicht und hatte keine Erwiderung.

»Im Uebrigen, fügte der Jäger hinzu, wollte ich eine Sondirung vornehmen, um die Höhe des Wasserstandes zu erfahren, doch zu meiner großen Verwunderung, ich gestehe es, konnte ich keinen Grund finden.

– Nun wohl, Marbre, sagte Jasper Hobson, was ist dabei groß zu verwundern? Zwischen der Fallgrube und dem Meere wird durch einen Bodenspalt eine Verbindung eingetreten sein; das kommt manchmal vor, selbst bei dem festesten Boden. Darum beunruhigen Sie sich also nicht, mein wackerer Jäger. Verzichten Sie vorläufig auf die Benutzung der Falle, und beschränken sich auf die Aufstellung von Schlingen in den Umgebungen des Forts.«

Marbre legte grüßend die Finger an die Stirn, drehte sich auf den Fersen um und verließ den Lieutenant, nicht ohne einen eigentümlichen Blick aus seinen Chef zu werfen.

Nachdenklich verweilte Jasper Hobson einige Augenblicke. Es war das eine wichtige Neuigkeit, die er durch Marbre erfahren hatte. Offenbar war der Grund der Grube durch wärmeres Wasser geschmolzen, geborsten, und bildete nun die Oberfläche des Meeres den Grund der Fallgrube.

Jasper Hobson suchte den Sergeant Long auf, und machte ihm von dem Zufalle Mittheilung. Beide begaben sich unbemerkt von den Anderen nach der Uferstelle am Cap Bathurst, an der sie Marken angebracht hatten.

Sie sahen nach diesen.

Seit der letzten Beobachtung hatte sich das Niveau der Insel um sechs Zoll gesenkt!

»Wir gehen nach und nach unter, murmelte halblaut Sergeant Long; das Eisfeld schmilzt unter Wasser weg!

– O, der Winter! Der Winter!« rief Jasper Hobson, und stampfte den verwünschten Boden mit den Füßen.

Noch trat aber kein Vorzeichen der kalten Jahreszeit ein. Das Thermometer hielt sich im Mittel auf 15º über Null, und auch die wenigen Nachtstunden hindurch fiel das Quecksilber kaum um drei bis vier Grade.

Indessen wurden die Vorbereitungen für die zweite Durchwinterung eifrig fortgesetzt. Es mangelte ja an Nichts, und obgleich Fort-Esperance durch kein vom Kapitän Craventy entsendetes Detachement mit neuen Vorräthen versorgt worden war, durfte man doch den langen Stunden der Polarnacht mit vollkommener Ruhe entgegen sehen. Nur die Munition erheischte einige Sparsamkeit. An Spirituosen, von welchen übrigens nur ein sehr beschränkter Gebrauch gemacht wurde, und an dem an Ort und Stelle nicht zu ersetzenden Schiffszwieback war noch ein tüchtiger Vorrath vorhanden. Dazu hatte man für das consumirte frische Wild und conservirte Fleisch hinlänglichen Ersatz und erhielt diese reichliche und gesunde Nahrung, in Verbindung mit antiscorbutischer Pflanzenkost alle Mitglieder der kleinen Colonie bei bester Gesundheit.

In dem Walde, welcher die Ostseite der Lagune bekränzte, fällte man reichlich Holz für den Winterbedarf. Eine große Menge Weiden, Fichten und Tannen fielen unter dem Beile Mac Nap’s, und die gezähmten Rennthiere schleiften sie nach dem Schuppen. Der Zimmermann schonte die Waldung nicht; er mußte der Ansicht sein, daß das Holz dieser Insel, welche er noch für eine Halbinsel hielt, nie ausgehen könne, wozu ihn wohl der reiche Bestand an verschiedenen Baumarten in der Nachbarschaft des Cap Michael verleiten mochte.

Häufig war er ganz außer sich vor Freude und beglückwünschte den Lieutenant, dieses vom Himmel so gesegnete Gebiet erschlossen zu haben, auf dem das neue Etablissement zweifelsohne gedeihen müßte. Holz, Wild, Pelzthiere für die Magazine der Compagnie – Alles bot sich in Ueberfluß dar. Dazu eine Lagune zum Fischen, deren Ergebnisse die Tischfreuden durch angenehme Abwechselung erhöhten; Gras für die Hausthiere und »doppelter Sold für die Mannschaften«, hätte Corporal Joliffe sicher noch hinzugesetzt. War dieses Cap Bathurst also nicht ein bevorzugtes Stück Erde, dem kaum eine Gegend des Arktischen Continentes gleich kommen konnte? O gewiß, Lieutenant Hobson hatte eine glückliche Hand gehabt, und mußte der Vorsehung danken, ihn nach diesem Lande ohne Gleichen geführt zu haben.

Natürlich wurde in der kleinen Colonie die Herstellung der nöthigen Winterkleidung daneben nicht vernachlässigt. Das ganze weibliche Personal, auch Mrs. Joliffe, wenn sie aus der Küche abkommen konnte, arbeitete fleißig. Mrs. Paulina Barnett, welche ja wußte, daß man das Fort bald verlassen müsse, wollte für den Fall eines weiten Zuges bei strenger Winterkälte, über das Eis bis zum Festlande, Jedermann mit hinreichend schützender Kleidung versehen wissen. Voraussichtlich war in der langen Polarnacht einer furchtbaren Kälte Trotz zu bieten, und das viele Tage lang, wenn die Insel Victoria sich in großer Entfernung von der Küste festsetzte. Hunderte von Meilen unter solchen Verhältnissen zurückzulegen, stellten an Kleidung und Schuhwerk weitgehende Ansprüche. Die Reisende bemühte sich, nebst ihrer Madge, deshalb ernstlich um deren Vollendung. Das Pelzwerk, welches zu retten ja keinerlei Aussicht war, fand unter den verschiedensten Formen Verwendung. Man legte es z.B. doppelt, so daß die Kleidungsstücke innerlich und äußerlich eine Haarseite zeigten. Die Soldaten und deren Frauen mußten, wenn jene Zeit herankam, ebenso wie ihre Officiere, in den kostbarsten Pelzen einhergehen, um welche sie die reichsten Ladys und die verwöhntesten russischen Fürstinnen beneidet hätten.

Die Mrss. Raë, Mac Nap und Joliffe waren einigermaßen verwundert über diese Vergeudung der Schätze der Compagnie. Lieutenant Hobson’s Befehl lautete aber dahin, und ohnedem konnten ja die Zobelmarder, Wiesel, Bisamratten, Biber und Füchse jeder Zeit durch einige Flintenschüsse ersetzt werden. Als Mrs. Mac Nap überdies das kostbare Hermelinkleidchen sah, das Madge für ihr kleines Kind hergestellt hatte, erschien ihr die Sache gar nicht mehr so außerordentlich.

So enteilten die Tage bis Mitte August. Die Witterung war immer prächtig, und wenn auch dann und wann am Horizonte Nebel auftauchten, so sog die Sonne sie doch unverzüglich auf.

Tagtäglich bestimmte Lieutenant Hobson die Lage der Insel, entfernte sich aber immer weit genug, um von seinen Leuten nicht dabei bemerkt zu werden, da die so häufige Wiederholung dieser Beobachtung einen gewissen Verdacht nothwendig erregen mußte. Auch nahm er wiederholt verschiedene Theile der Insel in Augenschein, zum Glücke ohne wesentliche Veränderungen derselben zu bemerken.

Am 16. August befand sich die Insel Victoria unter 167° 27′ der Länge und 70° 49′ nördlicher Breite. Sie war seit einiger Zeit demnach wieder nach Süden zurückgegangen, doch ohne eine Annäherung an die Küste, welche hier auch selbst bogenförmig zurückwich, und deshalb immer noch gegen zweihundert Meilen nach Südosten entfernt blieb.

Den von der Insel seit dem Bruche des Isthmus oder genauer seit der letzten Thauperiode zurückgelegten Weg konnte man wohl auf elf- bis zwölfhundert Meilen veranschlagen.

Doch wie gering war diese Strecke gegenüber dem unermeßlichen Oceane? Hat man nicht Schiffe unter der Gewalt von Strömungen schon Tausende von Meilen verschlagen sehen, wie die »Resolute«, ein englisches Fahrzeug, die amerikanische Brigg »Advance« und den »Fox«, welche mit ihren Eisfeldern viele, viele Grade weit hinweg geführt wurden, bis der Winter sie in ihrem Unglückszuge aufhielt!

Zweiundzwanzigstes Capitel.


Zweiundzwanzigstes Capitel.

Die Nacht verlief ruhig. Jasper Hobson erhob sich zeitig, da er die Einschiffung der kleinen Colonie noch an dem nämlichen Tage veranlassen wollte, und ging nach der Lagune.

Noch wälzte sich ein dicker Nebel dahin, über dem man jedoch den hellen Sonnenschein gewahr wurde. Der Himmel war durch den Gewittersturm gereinigt worden, und der Tag versprach ziemlich warm zu werden.

Als Lieutenant Hobson an dem Binnenwasser anlangte, konnte er nicht einmal dessen Oberfläche übersehen, so dichte Nebelmassen lagerten noch darüber.

Da kamen ihm Mrs. Paulina Barnett, Madge und einige Andere nach.

Langsam stieg der Dunst empor und wich zusehends zurück, wobei er die Wasserfläche mehr und mehr bloßlegte. Von dem Flosse war aber noch nichts zu entdecken.

Plötzlich entführte ein Windstoß die letzten Nebelmassen.–

Kein Floß lag mehr am Ufer, kein See zeigte sich dem Auge – das unendliche Meer dehnte sich vor ihren Blicken aus.

Lieutenant Hobson vermochte seine Verzweiflung nicht mehr zu verbergen, und als er und seine Begleiter sich umdrehten und vergeblich den ganzen Horizont durchsuchten, entrang sich ihrer Brust ein greller Schrei – ihre Insel war nur noch ein Eiland!

Während der Nacht hatten sich sechs Siebentel des früheren Gebietes neben Cap Bathurst geräuschlos abgetrennt, in’s Meer versenkt und das frei gewordene Floß war in die offene See hinaus getrieben, ohne daß diejenigen, deren letzte Hoffnung es gewesen war, auch nur das Geringste davon bemerkten.

Wohl ergriff die Verzweiflung die armen Schiffbrüchigen, die über einem Abgrunde standen, der sie jeden Augenblick zu verschlingen drohte. Einige Soldaten wollten sich in’s Meer stürzen. Mrs. Paulina Barnett warf sich ihnen entgegen. Sie ließen ab, und Manchem traten die Thränen in’s Auge. Konnten die Unglücklichen bei dieser entsetzlichen Lage noch ein Fünkchen Hoffnung haben? Und wer malt sich die Stellung des Lieutenants mitten unter den halb verwirrt gewordenen Leuten aus? Einundzwanzig Personen auf einem Scholleneilande, das nur zu bald unter ihren Füßen schmelzen mußte! Mit jenem großen Theil der Insel waren alle bewaldeten Hügel verschwunden und kein Baum weiter vorhanden. Zum Ersatz verblieben höchstens noch einige Planken der vormaligen Gebäude, die aber zum Neubau eines Flosses, das Alle aufnehmen sollte, bestimmt unzureichend waren. Das Leben der Schiffbrüchigen hing also nur noch von der Dauer des Eilandes ab, welche sich auf wenige Tage berechnete, denn um die Zeit der Mitte des Juni hielt sich die Temperatur fast stets auf zwanzig Grad Wärme.

Schnell nahm Lieutenant Hobson noch eine wiederholte Untersuchung der Insel vor, um zu erfahren, ob es sich empfehlen möchte, einen anderen Theil des Ueberrestes zum Aufenthalt zu wählen, wenn die Eisdicke da länger auszuhalten verspräche. Mrs. Paulina Barnett und Madge begleiteten ihn dabei.

»Hoffst Du noch immer? fragte die Reisende ihre treue Gefährtin.

– Immer und ewig!« erwiderte Madge.

Mrs. Paulina Barnett gab keine Antwort. Eiligen Schrittes lief sie mit Jasper Hobson längs des Uferrandes hin. Die Küste von Cap Bathurst bis Cap Eskimo erwies sich in einer Ausdehnung von acht Meilen noch unversehrt. Von letzterem Punkte aus zog sich der Bruch in einer krummen Linie zur äußersten Spitze der Lagune und weiter in’s Innere hinein. Hier bildete demnach das Ufer der Lagune, welches nun die Meereswellen bespülten, die neue Küste. Von dem anderen Ende des Sees aus reichte die Spaltung bis nach einer Stelle zwischen Cap Bathurst und dem ehemaligen Barnett- Hafen. Die Insel repräsentirte also einen Streifen, dessen Breite kaum eine Meile betrug.

Von den hundertundzwanzig Quadratmeilen der früheren Oberfläche blieben jetzt noch zwanzig übrig.

Lieutenant Hobson beachtete mit peinlicher Sorgfalt die jetzige Gestaltung des Eilandes und fand, daß die Stelle der vormaligen Factorei noch immer die verläßlichste sei. Es erschien ihm deshalb rathsam, die jetzige Lagerstätte nicht aufzugeben, welche auch die Thiere durch Instinct noch beibehalten hatten.

Dennoch bemerkte man, daß eine beträchtliche Menge Wiederkäuer und Nager, so wie eine große Anzahl der weit umher revierenden Hunde mit dem größten Theil der Insel verschwunden waren, obgleich von ersteren nicht wenig noch vorhanden blieben. Der Bär trabte auf dem Eilande umher und streifte längs der Ufer, wie es die wilden Thiere im Käfig zu thun pflegen.

Gegen fünf Uhr Abends kehrte Lieutenant Hobson nebst seinen zwei Begleiterinnen zurück. In der so mangelhaften Wohnung befanden sich Alle, Männer und Frauen, versammelt; Keiner wollte noch Etwas sehen, Keiner etwas hören. Mrs. Joliffe machte ein Abendbrod zurecht. Der weniger als seine Kameraden niedergeschlagene Jäger Sabine ging ab und zu und suchte etwas frisches Wild herbeizuschaffen. Der Astronom saß in der Ecke und blickte unsicher und fast empfindungslos über das Meer hinaus. Es schien, als ob ihn Nichts mehr berührte.

Jasper Hobson theilte Allen seine Erfahrungen mit und versicherte sie, daß die zur Zeit benutzte Lagerstätte noch eine verhältnißmäßig größere Sicherheit böte, als jeder andere Küstenpunkt, auch empfahl er Allen, sich nun nicht mehr zu entfernen, denn schon traten halbwegs zwischen der Wohnstätte und dem Cap Eskimo die Vorzeichen weiterer Brüche zu Tage. Voraussichtlich mußte sich die Oberfläche der Insel also bald noch bedeutend verkleinern, und nichts, nichts war dagegen zu thun! Der Tag wurde sehr warm. Die zur Darstellung von Trinkwasser ausgegrabenen Schollen schmolzen ohne Mithilfe des Feuers. An steileren Uferstrecken flossen fortwährend Wasserstrahlen in’s Meer, und deutlich erkannte man eine allgemeine Senkung der ganzen Insel. Unaufhörlich nagte das wärmere Wasser an ihrer Basis.

Während der folgenden Nacht kam Niemand Schlaf in die Augen. Wer wäre auch zu schlummern im Stande gewesen, wenn er jede Minute die Oeffnung des Abgrundes unter sich fürchte, außer vielleicht das kleine Kind, das seine Mutter, die es nicht verlassen konnte, sorglos anlächelte?

Auch am 24. Juni stieg die Sonne am wolkenlosen Firmamente empor. Im Laufe der Nacht war weder eine Veränderung eingetreten, noch die Gestalt der Insel wesentlich anders geworden.

An demselben Tage verirrte sich ein Blaufuchs in die Wohnung, die er gar nicht wieder verlassen wollte, ebenso wie alle sonst vorkommenden Thiere bei der vormaligen Factorei umher schweiften und mehr eine Heerde Hausthiere zu sein schienen. Die Wolfsbanden fehlten allein der arktischen Fauna; offenbar war dieses Raubgesindel bei der Theilung der Insel auf dem abgetrennten Stücke mit weggeführt worden und im Wasser umgekommen. Wie von einer Ahnung gehalten, wich der Bär nicht mehr aus der Nähe des Cap Bathurst, wo auch die übrigen Pelzthiere seine Anwesenheit gar nicht zu fürchten schienen. Die Schiffbrüchigen selbst waren mit dem gigantischen Thiere ganz vertraut geworden und ließen ihn ohne Belästigung kommen und gehen. Die allgemeine Gefahr hatte eben alle Scheidewände zwischen den Menschen und den übrigen Geschöpfen niedergerissen.

Kurze Zeit vor Mittag sollten die Unglücklichen noch einmal freudig erregt und doch recht traurig enttäuscht werden.

Als der Jäger Sabine auf eine kleine Erhöhung stieg und von da aus das Meer überschaute, rief er plötzlich aus:

»Ein Schiff! Ein Schiff!«

Wie elektrisirt sprangen Alle nach dem Jäger zu; Lieutenant Hobson befragte ihn mit den Augen.

Sabine wies auf einen Punkt im Osten, der sich wie ein leichter weißer Hauch vom Horizont abhob. Ohne eine Silbe zu sprechen, starrten Alle dahin, und bald erkannte Jeder deutlich die Masten eines Schiffes.

Wahrscheinlich gehörte Letzteres einem Walfänger an; über die Sache selbst konnte man sich nicht täuschen, denn nach Verlauf einer Stunde wurde auch der Schiffsrumpf sichtbar.

Leider erschien dasselbe im Osten, d. h. auf der entgegengesetzten Seite von der, nach welcher das entführte Floß geschwommen sein mußte. Den Walfänger trieb nur der Zufall in diese Meerestheile, und durfte man sich nicht dem Glauben hingeben, daß er etwa nach Schiffbrüchigen suche, da ihm das leere Floß nicht begegnet war.

Jetzt handelte es sich um die Frage, ob man von jenem Schiffe aus das wenig über dem Wasser aufragende Eiland wahrnehmen und die Nothsignale erkennen würde, die man nach besten Kräften gab. Bei Hellem Tage war das nicht eben wahrscheinlich. Bei Nacht hätte man ein weithin sichtbares Feuer unterhalten können. Würde das Schiff aber nicht vor Einbruch der Nacht verschwunden sein? Auf jeden Fall machte man sich durch Zeichen und Gewehrschüsse bemerkbar.

Doch – das Schiff kam näher! Man erkannte einen Dreimaster, offenbar einen Walfischfänger aus Neu-Archangel, der nach Umsegelung der Halbinsel Alaska der Behrings-Straße zusteuerte. Er befand sich hinter dem Wind der Insel und fuhr mit dem halben Segelwerk nach Norden. Ein Seefahrer hätte es an der Segelstellung erkennen müssen, daß jenes Schiff nicht eigentlich auf die Insel zuhielt. Aber vielleicht bemerkte es diese?

»Wenn es uns gewahr wird, flüsterte Lieutenant Hobson dem Sergeant Long in’s Ohr, wenn es uns gewahr wird, sucht es zu entfliehen!«

Jasper Hobson hatte mit diesen Worten vielleicht recht. In diesen Meeren fürchten die Seefahrer Nichts mehr, als die Annäherung von Eisbergen und Eisinseln, an welche schwimmende Klippen sie in der Dunkelheit der Nacht so leicht stoßen können. Deshalb eilen sie, sobald ihnen selbige zu Gesicht kommen, ihre Richtung zu ändern. Würde jenes Schiff nicht dasselbe thun, wenn es das Eiland bemerkte?

Wahrscheinlich.

Keine Feder vermöchte den Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung zu schildern, den die Schiffbrüchigen zu erdulden hatten. Bis zwei Uhr Nachmittags konnten sie noch glauben, daß die Vorsehung endlich Mitleid mit ihnen habe, daß die Hilfe käme, daß die Rettung da sei. Immer hatte sich das Fahrzeug in schräger Richtung genähert. Jetzt war es nur noch sechs Meilen von dem Eilande entfernt. Man verdoppelte die Nothsignale, schoß so stark man konnte, erzeugte selbst einen möglichst dicken Rauch, indem man einige Planken von der Wohnung opferte….

Vergeblich. Entweder sah Niemand auf dem Schiffe das Eiland, oder es beeilte sich doch, demselben zu entgehen.

Um zweiundeinhalb Uhr wendete es ein wenig und entfernte sich nach Nordosten.

Eine Stunde nachher war es wiederum nur wie ein weißlicher Rauch zu sehen, und bald darauf vollkommen verschwunden.

Da stieß einer der Soldaten, Kellet, ein gellendes Gelächter aus. Man hätte glauben sollen, daß er wahnsinnig geworden sei.

Mrs. Paulina Barnett sah ihrer Madge gerade in’s Gesicht, so als wollte sie fragen, ob sie noch immer Hoffnung hege.

Madge wendete den Kopf ab.

Am Abend dieses unseligen Tages wurde wieder ein lauter Krach hörbar – der größte Theil des Eilandes löste sich los und verschwand im Meere. Laut schallte der Angstschrei der Thiere. Von der Insel war noch das Stückchen zwischen der früheren Wohnung und dem Cap Bathurst übrig!

Nun war sie zur – Scholle geworden!

Neunzehntes Capitel.


Neunzehntes Capitel.

Vom Packeise getrieben, war die Insel mit rasender Schnelligkeit bis in das Behrings-Meer gekommen, ohne in der gleichnamigen Meerenge an’s Land zu stoßen. Immer wich sie noch ab, gedrängt durch die unwiderstehliche Eiswand, die ihre Kraft der unterseeischen Strömung der Tiefe entlehnte; immer schob sie diese dem erwärmteren Wasser entgegen, das bald ihr Untergang werden mußte, jetzt, da das rettende Fahrzeug zertrümmert war!

Mrs. Paulina Barnett kam allmälig wieder zu sich und konnte nun über das vierundsiebenzigstündige Gefängniß in dem verschütteten Hause berichten.

Von der Plötzlichkeit des Eissturzes überrascht, waren Alle nach Thüren und Fenstern gesprungen. Kein Ausweg! Der Sand- und Erdhügel, welcher einige Augenblicke vorher noch Cap Bathurst hieß, lagerte über dem Hause. Fast gleichzeitig hörten die Gefangenen das Aufschlagen der ungeheuren Schollen, die das Packeis über die Factorei stürzte.

Nach kaum einer Viertelstunde merkten Mrs. Paulina Barnett und ihre Leidensgefährten, wie das Haus, nachdem es dem enormen Drucke von oben erfolgreich widerstanden, langsam durch den Boden der Insel einsank. Sein Untergrund verschwand, an dessen Stelle trat – das Wasser des Meeres!

Sich einiger in der Küche verbliebener Nahrungsmittel bemächtigen und nach dem Bodenraume entfliehen, war das Werk eines Augenblickes, die Folge eines unbestimmten Triebes der Selbsterhaltung. Und konnten die Unglücklichen denn ein Fünkchen Hoffnung bewahren? – Vorläufig schien wenigstens der Dachstuhl auszuhalten, über dem sich wahrscheinlich zwei Eisstücke gegen einander stemmten und ihn so vor dem Zerdrücktwerden bewahrten.

Immer hörten sie nach ihrer Flucht in den Bodenraum noch die riesigen Bruchstücke der Eislawine herunter poltern, und dazu stieg unter ihnen das drohende Wasser. Hier der Tod durch Erdrücken, dort durch Ertrinken!

Wie durch ein Wunder leistete das Dach ausreichenden Widerstand, und auch das Haus kam, nachdem es zu einer gewissen Tiefe eingesunken war, zum Stehen, doch stieg das Wasser im Bodenraum wohl einen Fuß hoch.

Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah und Thomas Black hatten sich bis in die Balkenkreuzungen hinein geflüchtet, zwischen denen sie so lange Stunden aushalten mußten, wobei die dienstfertige Kalumah immer bereit war, Einen oder dem Anderen etwas Nahrung durch das Wasser hindurch zuzutragen. Jeder Rettungsversuch erschien vergeblich, nur von außerhalb konnte ihnen Hilfe kommen.

Eine entsetzliche Lage! Nur mühsam vermochten sie noch in der an Sauerstoff armen und mit Kohlensäure überladenen Luft zu athmen – wenn ihre Rettung sich noch um einige Stunden verzögerte, so hätte Jasper Hobson nur noch Leichen vorgefunden.

Mrs. Paulina Barnett begriff bald, was geschehen war. Sie vermuthete, daß das Packeis über die Insel herein gebrochen sei, und schloß aus dem unter dem Hause rauschenden Wasser, daß diese widerstandslos nach Süden gedrängt werde. Hieraus erklärt es sich auch, warum sie nach wiedererlangtem Bewußtsein sogleich um sich blickte und jene wenigen Worte ausstieß, die nach dem Verluste des Schiffes eine so verhängnißvolle Bedeutung hatten.

In jenem Augenblicke fehlte aber allen Uebrigen die Zeit, sich nach dem umgebenden Meere umzusehen, nur für Eines hatten sie ein Verständniß, für die Rettung Derjenigen, die ihnen fast mehr als ihr eigenes Leben galt, und für die Madge’s, Kalumah’s und Thomas Black’s. Bis jetzt fehlte also, trotz aller überstandenen Prüfungen und Gefahren, noch Keiner von den Leuten, die Jasper Hobson wider seinen Willen zu einer so grauenvollen Lage geführt hatte.

Diese sollte sich aber bald noch weiter verschlimmern und das Ende der Katastrophe herbeiziehen, deren Lösung ja nicht mehr fern sein konnte.

Lieutenant Hobson beeilte sich, die Ortslage der Insel noch an demselben Tage aufzunehmen. Ein Verlassen der letzteren wurde nun nach Zerstörung des Fahrzeuges und Befreiung der Wasserfläche von ihrer Eisdecke zur Unmöglichkeit. An Stelle der Eisberge schwammen im Norden nur noch die Trümmer der Packeiswand, deren einstürzender Gipfel Cap Bathurst dem Boden gleich gemacht hatte, und deren tief eingetauchte Basis die Insel nach Süden zu drängte.

Bei Durchsuchung der Trümmer des Hauptgebäudes fand man glücklicher Weise die Instrumente und Karten, welche Thomas Black bei sich führte, unversehrt wieder auf. Zwar deckten Wolken den Himmel, doch erschien dann und wann die Sonne lange genug, so daß Lieutenant Hobson deren Höhe mit hinreichender Genauigkeit messen konnte.

Die Berechnung ergab, daß sich die Insel an diesem Tage, dem 12. Mai, unter 168° 12′ westl. Länge von Greenwich und unter 63° 27′ nördl. Breite befand. Der auf der Karte eingezeichnete Punkt lag dem Norton-Golf zwischen dem asiatischen Vorgebirge Tschaplin und dem amerikanischen Cap Stephens gegenüber, doch von beiden Küsten mehr als hundert Meilen entfernt.

»Wir müssen also darauf verzichten, an einem Continente anzulaufen? sagte da Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson, von dieser Seite ist jede Hoffnung geschwunden. Die Strömung reißt uns mit großer Schnelligkeit nach der offenen See hinaus, und können wir blos noch auf die Begegnung eines Walfängers rechnen, der in Sicht der Insel vorüber käme.

– Könnte uns indeß die Strömung, fragte die Reisende, wenn auch nicht gegen das Festland, so doch einer der Inseln im Behrings-Meere zutreiben?«

Wirklich schimmerte in dieser Möglichkeit noch eine schwache Hoffnung, an die sich die Halbverzweifelten anklammerten, wie der Ertrinkende an das schwächste Brett. An Inseln fehlte es ja nicht in jenen Theilen des Behrings-Meeres, da waren St. Laurent, St. Mathieu, Nouniwak, St. Paul, Georg u. a. m. Von St. Laurent, einer ziemlich umfangreichen Insel mit vielen benachbarten Eilanden, trennte die schwimmende Insel jetzt kein zu großer Zwischenraum, und beim Verfehlen jener durfte man noch auf den unterbrochenen Bogen der Aleuten rechnen, der das Behrings-Meer im Süden abschließt.

Ja, St. Laurent konnte zum Rettungshafen für die Verschlagenen werden! Und wenn nicht dieses, dann St. Mathieu oder die Gruppe kleiner Inseln, deren Mittelpunkt letztere bildet. Die Aleuten noch zu erreichen, war bei ihrer Entfernung von mehr als achthundert Meilen kaum zu erwarten. Vorher, lange vorher mußte die gleichsam untergrabene Insel Victoria von dem wärmeren Wasser gelöst, von den Strahlen der Sonne, die schon in das Zeichen der Zwillinge trat, geschmolzen sein.

Jedenfalls erschien diese Annahme begründet. In der That ist die Entfernung, bis zu welcher sich das Eis dem Aequator nähert, sehr veränderlich und kleiner in der südlichen, größer in der nördlichen Hemisphäre. Nicht gar selten begegnet man jenem noch in der Breite des Cap der Guten Hoffnung, d. h. etwa in der siebenunddreißigsten Parallele, während die dem Arktischen Meere entstammenden Eisberge noch niemals den vierzigsten Grad der Breite überschritten. Offenbar steht aber die Schmelzungsgrenze des Eises mit der Temperatur in bestimmtem Verhältnisse und hängt wesentlich von klimatischen Bedingungen ab. Nach langen Wintern tritt das Eis noch unter niedreren Breiten auf; bei frühzeitigem Thauwetter ist natürlich das Gegentheil der Fall.

So verhielt es sich aber bei dem zeitigen Frühlinge des Jahres 1861, welcher die Schmelzung der Insel Victoria um ebenso viel früher herbeiführen mußte. Schon färbte sich das Wasser des Behrings- Meeres grünlich und verlor sein bläuliches Aussehen, das ihm nach dem Berichte des Seefahrers Hudson bei Annäherung von Eisbergen eigenthümlich sein soll. Jetzt, da nun die Schaluppe fehlte, stand eine Katastrophe jeden Augenblick zu befürchten.

Jasper Hobson suchte eine solche dadurch abzuwenden, daß er ein hinreichend großes Floß zimmern ließ, um im Nothfalle die ganze kleine Colonie aufzunehmen und wohl oder übel nach dem Festlande überzuführen, oder wenigstens eine Zeit hindurch mit einiger Sicherheit See zu halten. Im Uebrigen wurde die Begegnung eines Schiffes mit jedem Tage wahrscheinlicher, da sich jetzt gewiß schon Walfänger nach dem Norden zu gehen anschickten. Mac Nap erhielt also Auftrag, ein geräumiges und festes Floß zu zimmern, welches sich schwimmend erhalten sollte, wenn die Insel Victoria unterginge.

Noch dringlicher erschien es aber, vorher irgend einen bewohnbaren Raum herzustellen, in dem die unglücklichen Insassen der Insel ein schützendes Unterkommen finden konnten. Als einfachster Ausweg bot sich da die Abräumung des vormaligen Soldatenhauses, dessen Wände noch benutzbar sein würden. Entschlossen gingen Alle an’s Werk, und schon nach wenigen Tagen war man im Stande, sich vor der Unbeständigkeit des regnerischen und stürmischen Klimas zu flüchten.

Auch im Hauptgebäude suchte man wiederholt nach und glückte es, aus den versenkten Zimmern verschiedene mehr oder minder nützliche Gegenstände, Werkzeuge, Waffen, Bettgeräthe, einige Meubles, die Ventilationspumpen, das Luftreservoir u.s.w. zu retten.

Am folgenden Tage, dem 13. Mai, mußte man jede Hoffnung aufgeben, bei der Infel St. Laurent anzulanden.

Die Lagenbestimmung lieferte den Beweis, daß die Insel weit östlich von jener vorübertrieb; wirklich stoßen die Strömungen ganz im Allgemeinen fast nie gegen ihre natürlichen Hindernisse, sondern umgehen diese eben, und Lieutenant Hobson erkannte bald, daß auf diesem Wege an eine Landung nicht zu denken sei. Die Aleuten-Inseln allein, welche wie ein riesiges Netz durch mehrere Längengrade vor dem Behrings-Meere im Bogen ausgespannt erscheinen, versprachen die Insel aufzuhalten; aber würde sie, wie erwähnt, so lange ausdauern? Jetzt flog sie zwar mit größter Schnelligkeit dahin, wie aber, wenn diese sich verminderte, wenn die drängenden Eisberge sich auf irgend eine Weise von ihr ablösten, vielleicht vorher zusammenschmolzen, da sie keine Erd- und Sandschicht vor der unmittelbaren Sonneneinwirkung schützte?

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Sergeant Long und der Meister Zimmermann behandelten diese Frage wiederholt und einigten sich unter Erwägung der tatsächlichen Verhältnisse in der Ansicht, daß die Insel in keinem Falle bis zu den Aleuten gelangen könne, ob sich nun ihre Bewegung verlangsame, sie aus dem Behrings-Strome heraus gedrängt werde oder unter dem zweifachen Angriff des Wassers und der Sonnenwärme untergehe.

Am 14. Mai griffen Meister Mac Nap und seine Leute ihr Werk an und begannen ein geräumiges Floß zu zimmern. Es handelte sich darum, dieses Bauwerk so hoch als möglich über das Wasserniveau hervortreten zu lassen, um es nach Kräften gegen Sturzseen zu sichern. Das Werk war jetzt kein leichtes, doch rief das nur den Eifer der Arbeiter wach. Glücklicher Weise hatte der Schmied Raë auch eine beträchtliche Menge eiserner Klammern wieder aufgefunden, die man einst von Fort-Reliance aus mitgenommen, und dienten dieselben dazu, die unteren Theile des Flosses sehr fest mit einander zu verbinden.

Die Stelle, auf der jenes erbaut wurde, verdient wohl einer Erwähnung. Einem Einfalle Jasper Hobson’s entsprachen folgende Maßnahmen Mac Nap’s: Statt nämlich große und kleine Holzstämme auf dem Erdboden richtig zu ordnen, geschah das gleich auf dem Wasser der Lagune. Die mit Schrauben- und Zapfenlöchern versehenen Bäume wurden in den kleinen See hinab befördert, wo man sie ohne Mühe handhaben konnte. Hiermit erreichte man zwei Vortheile, denn zunächst konnte der Zimmermann sofort über die Tragkraft und den Grad der Stabilität seiner Arbeit urtheilen, und dann schwamm auch das Floß schon, wenn die Insel einst unterging, und war nicht den Schwankungen und den etwaigen Stößen des geborstenen Bodens ausgesetzt, die ihm gefährlicher werden mußten, wenn es noch am Lande lag. Diese zwei sehr wohl zu erwägenden Gründe veranlaßten den Meister Zimmermann, auf obige Art und Weise vorzugehen.

Während dieser Arbeiten schweifte Jasper Hobson bald allein, bald in Begleitung der Mrs. Paulina Barnett am Ufer umher. Er beobachtete den Zustand des Meeres und die wechselnden Aushöhlungen der Küste, die das Meer ausnagte. Sein Auge glitt über den einsamen, verlassenen Horizont dahin, an dem sich auch im Norden keine Riesengestalt eines Eisberges mehr abzeichnete. Vergeblich suchte er, wie alle Schiffbrüchigen, »jenes rettende Fahrzeug, das nie erscheint«. Die Einsamkeit des Oceans unterbrach nur der Durchzug einiger Spritzfische, die sich in dem grünlichen Gewässer tummeln, wo es von Myriaden fast mikroskopischer Thierchen, ihrer wesentlichen Nahrung, wimmelt. Dazu schwammen Hölzer vorüber, verschiedene aus heißen Ländern entführte Arten, welche die großen Meeresströmungen bis hier hinauf trugen.

Eines Tages, es war am 16. Mai, gingen Mrs. Paulina Barnett und Madge zwischen Cap Bathurst und dem früheren Hafen bei schöner Witterung und warmer Luft spazieren. Schon seit geraumer Zeit verschwand jede Spur von Schnee von der Oberfläche der Insel. Nur die Eisstücken, welche die Schollenwand am Ufer aufgehäuft hatte, erinnerten noch an das Polarklima. Nach und nach schmolzen aber auch jene, Tag für Tag sprangen neue Wasserfälle von dem Gipfel und den Seitenwänden des Eishaufens, und voraussichtlich mußte die Sonne bald alle nur von der letzten Winterkälte verlötheten Massen gelockert und zerstört haben.

Die Insel Victoria bot wirklich einen seltsamen Anblick und hätte unter anderen Verhältnissen wohl das lebhafteste Interesse erweckt, als der Frühling sich daselbst mit ungewohnter Kraft äußerte und das Pflanzenleben sich unter diesen milderen Breiten mit wahrhafter Ueppigkeit entwickelte. Moose, kleine Blumen, Mrs. Joliffe’s Sämereien, Alles sproßte fröhlich empor, und nicht an der Menge der Pflanzen allein, sondern auch an ihrer lebhafteren Färbung erkannte man die vegetative Kraft des dem arktischen Klima entführten Bodens. Die sonst blassen, wasserblauen Blüthen schmückten sich mit wärmeren Farbentönen, alle Bäume und Gesträuche mit satterem Grün.

Ihre Knospen sprangen bei dem Wiedereintritt des Saftes, den eine Temperatur von manchmal + 20° in die Gefäße trieb. Die arktische Natur wandelte sich unter einem Breitengrade, der in Europa etwa dem von Christiania oder Stockholm entsprach, vollständig um.

Für die sich überall meldenden Naturkräfte hatte Mrs. Paulina Barnett jetzt freilich kein Auge. Vermochte sie in dem Zustande ihres vorübergehenden Wohnsitzes etwas zu ändern? – Konnte sie die schwimmende Insel wieder an die feste Erdrinde heften? Nein! In ihr regte sich nur das Vorgefühl der letzten Katastrophe, wie sie der Instinct vielleicht den Hunderten von Thieren verrieth, welche immer in der Nähe der Factorei umherschweiften. Diese Füchse, Zobelmarder, Hermeline, Luchse, Biber, Bisamthiere und Wiesel, welche die nahe drohende Gefahr ahnten und alle ihre Scheu zu verlieren schienen, alle schlossen sich ihren erklärten Feinden, den Menschen, an, so als ob sie von diesen Rettung erhofften. Sie zeigten eine stillschweigende, instinktive Anerkennung der menschlichen Überlegenheit, und das gerade jetzt, wo auch diese Überlegenheit so machtlos war!

Nein! Mrs. Paulina Barnett wollte von alledem nichts sehen; immer hingen ihre Blicke nur an jenem grausamen, grenzenlosen Meere, das mit dem Himmelshorizonte verschwamm.

»Meine arme Madge, sagte sie, in dieses Unglück habe ich Dich gebracht, Dich, die mir überallhin folgte und deren Ergebenheit und freundschaftliche Treue wohl ein anderes Loos verdient hätte! Kannst Du mir verzeihen?

– Es giebt Nichts auf der Welt, was ich Dir nicht verzeihen würde, meine Tochter, antwortete Madge; aber irgend Etwas nicht mit Dir zu theilen, das wäre mein Tod gewesen.

– Madge! Madge! rief die Reisende, wenn ich mit meinem Leben das aller jener Unglücklichen erkaufen könnte, ich würde es freudig hingeben.

– Du hast also keine Hoffnung mehr, meine Tochter? fragte Madge.

– O Gott, nein!« antwortete Mrs. Paulina Barnett, und fiel schluchzend ihrer Begleiterin in die Arme.

Für einen Augenblick kam das Weib doch in dieser so männlich angelegten Natur zum Durchbruch, und wer bliebe bei solchen Prüfungen auch stets von jeder Schwäche frei?

Mrs. Paulina Barnett ging das Herz über, und Thränen flossen aus ihren Augen.

Mit ihren Liebkosungen und Küssen suchte Madge sie zu trösten.

»Madge, bat die Reisende, den Kopf wieder erhebend, sage ihnen wenigstens nicht, daß ich geweint habe.

– Nein, nein, versicherte Madge, sie würden’s mir auch gar nicht glauben. Das war nur ein Augenblick des Kleinmuths! Auf, ermanne Dich, meine Tochter, Du unserer Aller Seele! Auf, auf, und fasse neuen Muth!

– Hoffst Du denn noch immer? rief Mrs. Paulina Barnett, und sah ihrer treuen Gefährtin tief in’s Auge.

– Ich hoffe immer!« antwortete einfach Madge. Und doch, war es denn möglich, sich noch einen Hoffnungsschimmer zu bewahren, als die Insel einige Tage später weit ab von der St. Mathieu-Gruppe vorüberschwamm und nun im ganzen Behrings-Meer kein Land mehr lag, das sie auf ihrem verderblichen Zuge hätte aufhalten können?

Zwanzigstes Capitel.


Zwanzigstes Capitel.

Die Insel Victoria trieb nun in dem ausgedehntesten Theile des Behrings-Meeres dahin, noch sechshundert Meilen von den ersten Aleuten, und mehr als zweihundert Meilen von der nächsten Küste an der Ostseite entfernt. Ihre Bewegung war noch immer eine sehr schnelle. Im Fall sich diese aber nur im Geringsten verminderte, erforderte es mindestens drei Wochen, bis sie jenen Inselgürtel erreichen konnte, der dieses Meer im Süden abschließt.

Würde diese Insel, deren Basis sich unter dem Einflusse des warmen Wassers, das schon eine Temperatur von + 10° hatte, täglich verminderte, so lange ausdauern? Konnte sich ihr Boden nicht jeden Augenblick aufthun?

Mit aller Macht drängte Jasper Hobson zur Vollendung des Flosses, dessen unterer Theil schon auf dem Wasser der Lagune schwamm. Mac Nap bestrebte sich, seinem Bauwerk die größtmöglichste Sicherheit zu geben, um es zu befähigen, im Nothfall auch länger einer bewegten See Stand zu halten, da man doch nicht darauf rechnen durfte, einem Walfänger zu begegnen, sondern bis zu den Aleuten- Inseln hinab zu fahren.

Noch immer hatte die Insel Victoria in ihrer allgemeinen Gestaltung keine auffällige Veränderung erfahren. Zwar zog man alltäglich auf Kundschaft aus, wagte sich aber nur mit größter Vorsicht von der Factorei weg, da jeden Augenblick ein Bruch des Bodens erfolgen und eine Zerstückelung der Insel das allgemeine Centrum von den Ausgegangenen trennen konnte, welche dann keine Hoffnung mehr hatten, ihre Gefährten je wiederzusehen.

Der tiefe Einschnitt in der Nähe des Cap Michael, welchen der Winterfrost wieder geschlossen hatte, that sich von Neuem auf und erstreckte sich jetzt eine halbe Meile landeinwärts bis nach dem vormaligen Paulina-Flusse. Es stand sogar zu befürchten, daß er dem Bett desselben nachgehen, und längs dieser, schon von Natur dünneren Linie aufbrechen würde. In diesem Falle mußte die ganze Küstenstrecke zwischen dem Cap Michael und dem Barnett-Hafen, d. h. ein ungeheures Stück von mehreren Quadratmeilen, verschwinden. Lieutenant Hobson empfahl also seinen Leuten, sich nicht unnöthig dorthin zu begeben, denn seiner Ansicht nach genügte wohl schon ein heftigerer Wellenschlag im Meere, um dieses Stück der Insel loszureißen.

Inzwischen führte man an verschiedenen Stellen Sondirungen aus, um diejenigen kennen zu lernen, welche in Folge ihrer Dicke der Auflösung den längsten Widerstand zu leisten versprachen. Die beträchtlichste Dicke fand man gerade in der Nähe des Cap Bathurst, an der Stelle der alten Factorei. wobei natürlich nicht der Durchmesser der Erd- und Sandschicht, denn auf diese war ja wenig Verlaß, sondern der der Eiskruste in Anschlag kam. Gewiß war das noch ein glücklicher Umstand. Die betreffenden Punkte wurden später offen gehalten, so daß man sich jeden Tag von der Stärkeabnahme der Basis der Insel zu überzeugen vermochte. Wenn diese Abnahme auch nur langsam vor sich ging, so machte sie doch Tag für Tag Fortschritte. Drei Wochen lang konnte die Insel, wenn man das immer wärmere Wasser, dem sie entgegen trieb, in Rechnung brachte, schwerlich noch aushalten.

Vom 19. bis zum 25. Mai trat schlechtes Wetter ein, und entfesselte sich ein heftiger Sturm. Vom Himmel leuchteten die Blitze und hallte der rollende Donner wieder. Das von starkem Nordwestwinde aufgewühlte Meer wogte in hohen Wellen, die der Insel gefährlich zu werden drohten. Die ganze kleine Colonie hielt sich zusammen und bereit, sich auf dem Flosse, das nun so ziemlich ausgebaut war, einzuschiffen. Man belud es sogar mit einigem Vorrat an Lebensmitteln und Trinkwasser, um auf jede Eventualität gefaßt zu sein.

Bei diesem Sturme fiel auch noch reichlicher Regen, ein warmer Platzregen, dessen große Tropfen tief in den Boden der Insel einschlugen, und welche bis zur Basis derselben dringen mußten. Durch jene Infiltrationen schmolz nun offenbar der Boden auch von oben her und außerdem schwemmten sie die überlagernden Schichten an manchen Punkten weg, so daß vorzüglich an kleinen Abhängen die Eiskruste zum Vorschein kam. Solche Stellen überdeckte man dann wieder sorgfältig mit Sand und Erde, um sie der Einwirkung der wärmeren Temperatur zu entziehen. Ohne diese Vorsicht wäre der Boden wohl bald wie ein Sieb durchlöchert gewesen. Auch an den bewaldeten Hügeln an den Ufern der Lagune richtete der Sturm einen unermeßlichen Schaden an. Sand und Erde wurden durch die Regenmassen fortgespült, und die ihren Halt verlierenden Bäume stürzten in großer Anzahl nieder. Binnen einer Nacht hatte sich das Aussehen jenes Theiles der Insel vollkommen verändert. Nur wenige Birkengruppen und vereinzelte Tannen hatten dem Sturme widerstanden. Auch hierin waren die Fortschritte der Zerstörung des ganzen Gebietes nicht zu verkennen, und doch vermochte die Kraft des Menschen nicht das Geringste dagegen. Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett, der Sergeant und alle Uebrigen sahen wohl ihre Insel nach und nach in Stücke gehen, Alle fühlten es wenigstens, außer vielleicht Thomas Black, der trüb und stumm dieser Welt nicht mehr anzugehören schien.

Während des Sturmes, am 23. Mai, wäre der Jäger Sabine, der bei dichtem Morgennebel ausgegangen war, fast in einem im Laufe der Nacht entstandenen Loche ertrunken, das sich an der Stelle des früheren Hauptgebäudes geöffnet hatte.

Bis jetzt schien bekanntlich das verschüttete und zu drei Viertheilen eingesunkene Haus zwischen der Eiskruste festgeklemmt gewesen zu sein. Jedenfalls hatte es aber der Wellenschlag des Meeres allmälig gelockert und die darüber gehäufte Last in den Abgrund hinabgedrückt. Erde und Sand rutschten in die entstandene Oeffnung nach, in der die schäumenden Meereswellen sichtbar wurden.

Sabine’s Kameraden, welche auf sein Hilferufen herbeieilten, gelang es noch, Jenen aus der Oeffnung heraus zu lootsen, an deren glatten Rändern er sich krampfhaft anklammerte, so daß er für dieses Mal mit einem unfreiwilligen Bade davon kam.

Bald darauf sah man auch Balken und Planken vom Hause, die unter der Insel hingeschwommen waren, vom Ufer seewärts treiben, wie Wrackstücke eines gescheiterten Schiffes. Das war die letzte vom Sturme angerichtete Verheerung, welche übrigens den Zusammenhalt der ganzen Insel in Frage stellte, da sie auch die inneren Theile derselben den Angriffen des Wassers preisgab, welches sie einem Krebse ähnlich nach und nach zerstörte.

Am Morgen des 25. Mai ging der Wind nach Nordost um. Der Sturmwind schwächte sich zur steifen Brise ab, der Regen ließ nach, und das Meer begann sich zu beruhigen. Friedlich verstrich die Nacht, und am anderen Tage glänzte die Sonne wieder am Himmel, so daß Jasper Hobson eine Ortsaufnahme vornehmen konnte. Diese ergab:

Breite 56° 13′; Länge 170° 23′.

Die Schnelligkeit der Insel war also eine außerordentliche, denn sie hatte fast achthundert Meilen seit den zwei Monaten zurück gelegt, als sie bei Anbruch des eigentlichen Thauwetters in der Behrings- Enge fest lag.

Diese eilige Vorwärtsbewegung erregte in Jasper Hobson wieder einige Hoffnung.

»Meine Freunde, sagte er unter Vorzeigung der Karte des Behrings-Meeres, sehen Sie hier die Aleuten? Jetzt sind sie nur noch zweihundert Meilen von uns entfernt – in acht Tagen dürften wir sie wohl erreichen.

– In acht Tagen, wiederholte Sergeant Long den Kopf schüttelnd, acht Tage sind eine lange Zeit!

– Ja, fügte Lieutenant Hobson hinzu, hätte unsere Insel den hundertachtundsechzigsten Meridian eingehalten, so könnte sie schon jetzt in dem Breitengrade jener Inseln sein. Offenbar treibt sie aber in Folge einer Abweichung des Behrings-Stromes mehr nach Südwesten.«

Diese Beobachtung war ganz richtig. Die Strömung führte die Insel weit ab von allen Ländern und vielleicht gar über die Aleuten hinaus, die sich nur bis zum hundertsiebenzigsten Meridian erstrecken.

Schweigend betrachtete Mrs. Paulina Barnett die Karte. Sie starrte auf den Bleistiftpunkt, der die Lage der Insel bezeichnete. Noch einmal überblickte sie die ganze von der Stelle ihres Winterlagers aus zurück gelegte Strecke, diesen Weg, den ein unglückliches Geschick oder vielmehr die unabänderliche Richtung der Strömungen zwischen so vielen Inseln hindurch und an den Küsten zweier Continente vorüber, ohne einen dieser Punkte zu berühren, vorgezeichnet hatte und der sich nun nach dem unendlichen Pacifischen Ocean hinaus fortsetzte.

So dachte sie in düsterer Träumerei versunken, aus der sie mit den Worten erwachte:

»Aber kann man unserer Insel denn in keiner Weise ihren Weg vorschreiben? Noch acht Tage solcher Schnelligkeit, und wir könnten vielleicht die letzte der Aleuten erreichen!

– Diese acht Tage ruhen in Gottes Hand! antwortete Lieutenant Hobson in ernstem Tone, wird Er sie uns noch schenken? Ich gestehe Ihnen ehrlich, Madame, jetzt kann uns die Rettung nur noch vom Himmel kommen.

– O, das ist mein Glaube auch, Herr Hobson, aber der Himmel will auch, daß man sich seiner Hilfe würdig macht. Ist nicht irgend etwas zu thun, irgend etwas zu versuchen, was noch von Nutzen sein könnte?«

Verneinend schüttelte Jasper Hobson den Kopf. Ihm winkte nur noch ein Rettungsanker, das Floß; aber sollte man sich auf diesem einschiffen, aus irgend welchem Material ein Segel herstellen, und so die amerikanische Küste zu gewinnen suchen?

Jasper Hobson befragte den Sergeant Long, den Zimmermann Mac Nap, auf dessen Urtheil er sehr viel gab, den Schmied Raë und die Jäger Sabine und Marbre. Nach Abwägung des Für und Wider einigte man sich dahin, die Insel nur zu verlassen, wenn man dazu gezwungen sein sollte. Wirklich stellte das Floß nur das letzte Hilfsmittel dar; das Floß, welches das Meer doch überfluthen mußte und dem die Schnelligkeit der von den Eisbergen nach Süden getriebenen Insel abging. Auch der Wind blies vorwiegend von Osten her und hätte das Fahrzeug gewiß eher in’s offene Meer hinaus verschlagen. Noch mußte man warten, immer warten, da die Insel den Aleuten zuschwamm. Näherte man sich dieser Inselgruppe, so würde man sehen, ob etwas zu thun sei.

Gewiß erschien das als das Klügste, und wenn die Schnelligkeit nicht abnahm, so mußte die Insel entweder an der Südgrenze des Behrings-Meeres aufgehalten sein, oder, südwestlich in den Stillen Ocean getrieben, rettungslos verloren gehen.

Das Mißgeschick, welches die Ueberwinternden schon seit langer Zeit verfolgte, sollte sie aber noch mit einem neuen Schlage treffen. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung, auf welche sie so sehnlich rechneten, sollte ihnen bald geraubt werden.

Wirklich unterlag die Insel Victoria in der Nacht vom 26. zum 27. Mai zum letzten Male einem Orientationswechsel, dessen Folgen sehr gewichtige waren. Sie machte eine halbe Drehung um sich selbst. Die von der Packeiswand übrig gebliebenen Schollenreste wurden ihr hierdurch nach Süden zu entführt.

Am Morgen sahen die Schiffbrüchigen, ein Name, der ihnen wohl mit Recht zukommt, die Sonne über Cap Eskimo aufgehen, und nicht am Horizonte über dem Barnett-Hafen.

Dort schwammen die durch das Thauwetter sehr verkleinerten, aber doch noch ganz beträchtlichen Eisberge, die sonst die Insel trieben, dahin, und verdeckten einen großen Theil des Gesichtskreises.

Worin bestanden aber jene gewichtigen Folgen des Lagenwechsels? Mußten sich die Eisberge nicht von der Insel, mit welcher kein festes Band sie verknüpfte, ablösen?

Jedem kam die Ahnung eines neuen Unglücks, und Jeder verstand, was der Soldat Kellet sagen wollte, als er ausrief:

»Noch vor heute Abend werden wir unsere Schraube eingebüßt haben!«

Kellet wollte damit sagen, daß diese Eisberge, welche nicht mehr hinter der Insel, sondern jetzt vor derselben waren, nicht zögern würden, sich von jener los zu lösen. Sie hatten ihr aber jene große Schnelligkeit mitgetheilt, da sie so tief in die unterseeische Strömung eintauchten, deren Kraft der flachen Insel offenbar abgehen mußte.

Ja! Der Soldat Kellet hatte nur zu recht. Die Insel befand sich jetzt in der Lage eines Schiffes, dessen Masten gekappt und dessen Schraube zerbrochen war.

Niemand antwortete auf jene Prophezeiung Kellet’s. Doch es verfloß kaum eine Viertelstunde, als sich ein schreckliches Krachen vernehmen ließ. Der Gipfel des Eisberges schwankte, die Masse löste sich, und wahrend die Insel sichtbar zurück blieb, enteilten die von dem unterseeischen Strome entführten Eismassen schnell nach Süden.

Drittes Capitel.


Drittes Capitel.

Von diesem Tage ab wurde beschlossen, die jedesmalige Lage, so wie es an Bord der Schiffe gebräuchlich ist, einzutragen, vorausgesetzt, daß der Zustand der Atmosphäre die Beobachtungen gestatte. War diese Insel Victoria denn im Grunde etwas Anderes, als ein Schiff, und zwar ein solches, welches ohne Segel und Steuer dem Zufall überlassen umherirrte?

Am anderen Tage constatirte Jasper Hobson nach Berechnung der geographischen Lage, daß die Insel ohne Veränderung der nördlichen Breite einige Meilen weiter nach Westen geführt worden war. Dem Zimmermann wurde nun Auftrag gegeben, unverzüglich an den Bau eines geräumigen Schiffes zu gehen. Jasper Hobson schützte dabei eine im nächsten Sommer zu unternehmende Entdeckungsreise längs der Küste bis zum russischen Amerika hin vor. Ohne weiter zu fragen, beschäftigte sich der Zimmermann mit der Auswahl der nöthigen Stämme und wählte als Werft eine seichte Uferstelle neben Cap Bathurst, um sein Bauwerk dereinst bequem in’s Meer bringen zu können.

Lieutenant Hobson wollte an demselben Tage sein Vorhaben, das Territorium, auf welchem er jetzt sammt seinen Gefährten gefangen war, zu untersuchen, ausführen. Da in der Gesammtform dieser Insel, welche unter dem Einflusse der wechselnden Wassertemperatur stand, wesentliche Veränderungen eintreten konnten, erschien es von Wichtigkeit, deren jetzige Form, Oberfläche und selbst deren Dicke an gewissen Stellen genau festzustellen. Die Bruchstelle, das heißt also wahrscheinlich der Isthmus, sollte sorgfältig untersucht werden, da an diesem frischen Bruche vielleicht die geschichtete Lage von Eis und Erde zu erkennen war, welche den Boden der Insel bildete.

An eben diesem Tage verdüsterte sich indeß die Atmosphäre, und ein von dickem Nebel begleiteter Sturm brach noch am Nachmittage los. Bald entlud sich der Himmel und fiel der Regen in Strömen. Große Hagelkörner schlugen auf das Dach des Hauses nieder, und dann und wann ließ sich sogar ein entfernter Donner – eine in diesen Breiten sehr ungewöhnliche Erscheinung – hören.

Lieutenant Hobson mußte seine Abreise verschieben und abwarten, bis der Aufruhr der Elemente sich gelegt hatte. Während des 20., 21. und 22. Juli trat aber in dem Zustande des Himmels keine Besserung ein. Bei dem heftigen Sturme donnerten die Wogen mit betäubendem Lärmen an die Küste. Flüssige Lawinen brachen sich mit solcher Gewalt am Cap Bathurst, daß man für dessen ohnehin sehr problematische Solidität fürchten mußte, insofern es sich ja überhaupt nur aus einer Anhäufung von Sand und Erde ohne sicheren Untergrund aufbaute. Wie waren die im offenen Meere diesem wüthenden Sturme ausgesetzten Schiffe zu beklagen? Auf der schwimmenden Insel fühlte man aber nichts von der Bewegung des Wassers, indem deren enorme Masse dem Zorne des Oceans widerstand.

In der Nacht vom 22. zum 23. Juli ließ der Sturm plötzlich nach. Eine steife, aus Nordosten wehende Brise verjagte die letzten am Horizonte aufgehäuften Dunstmassen. Das Barometer stieg um einige Linien, und die atmosphärischen Bedingungen schienen Lieutenant Hobson zum Antritt der kleinen Reise günstig.

Mrs. Paulina Barnett und der Sergeant sollten ihn bei dieser Erforschung begleiten. Eine Abwesenheit von ein bis zwei Tagen konnte den Bewohnern der Factorei nicht auffallen, und so versorgte man sich mit einer gewissen Menge gedörrten Fleisches, mit Schiffszwieback und einigen Flaschen Branntwein, wodurch die Reisetasche der Wanderer nicht allzu sehr belastet werden konnte. Noch waren die Tage sehr lang, und nur wenige Stunden über verschwand die Sonne unter dem Horizonte.

Ein Zusammenstoß mit gefährlichen Thieren hatte keine große Wahrscheinlichkeit für sich. Die Bären schienen von ihrem Instinct geführt, die Insel Victoria zur Zeit, als sie noch eine Halbinsel bildete, verlassen zu haben. Aus Vorsicht bewaffneten sich aber Jasper Hobson, der Sergeant und selbst Mrs. Paulina Barnett mit Gewehren. Der Lieutenant und sein Unterofficier trugen außerdem eine Axt und das Schneemesser bei sich, ohne welches ein Reisender in Polarländern überhaupt niemals ausgeht.

Für die Zeit der Abwesenheit des Lieutenant Hobson ging das Commando des Forts dem Range nach auf Corporal Joliffe, d.h. auf seine kleine Frau über, und Jasper Hobson wußte auch, daß er sich auf diese verlassen konnte. Auf Thomas Black war nicht mehr zu zählen, selbst wenn er sich nur einem derartigen Zuge anschließen sollte, doch versprach er wenigstens, während der Abwesenheit des Lieutenants das Meer im Norden zu beobachten und die Veränderungen zu notiren, die sich entweder in jenem oder in der Lagune der Insel vollziehen könnten.

Vielfach hatte Mrs. Paulina Barnett versucht, den armen Gelehrten wieder zur Vernunft zu bringen, doch wollte dieser von Nichts hören. Er hielt sich nicht ohne Grund für mystificirt von der Natur, und konnte derselben diese Mystification niemals verzeihen.

Nach manchem beim Abschied gewechselten Händedrucke verließen Mrs. Paulina Barnett und ihre Begleiter das Fort, wandten sich nach Westen und folgten dem vom Cap Bathurst bis zum Cap Eskimo sich hinziehenden langen Küstenstriche.

Es war acht Uhr Morgens. Die schrägen Strahlen der Sonne belebten die Küste mit falbem Lichte. Die hohle See glättete sich mehr und mehr; alle vom Sturm vertriebenen Vögel, wie die Fettgänse, Wasserscheuer, Taucherhühner und Sturmvögel kehrten zu Tausenden zurück. Ganze Züge Enten flatterten nach den Ufern des Barnett-Sees, ohne zu ahnen, daß sie Mrs. Joliffe’s Kochtopf gerade entgegen flogen. Einzelne Polarhasen, Zobelmarder, Bisamratten und Hermeline erhoben sich vor den Reisenden und entflohen, doch ohne zu große Eile.

Die Thiere schienen im Vorgefühle einer allgemeinen Gefahr die Gesellschaft der Menschen zu suchen.

»Sie wissen es recht gut, daß das Meer sie umschließt, sagte Jasper Hobson, und daß sie die Insel nicht verlassen können.

– Haben diese Nager, wie die Hasen und Andere, fragte Mrs. Paulina Barnett, nicht die Gewohnheit, vor Eintritt des Winters im Süden ein milderes Klima aufzusuchen?

– Ja, Madame, bestätigte Jasper Hobson, für dieses Mal werden sie aber, falls das Eis ihnen keinen Ausweg zu fliehen bietet, mit uns gefangen bleiben, und zum großen Theil durch Kälte und Hunger umkommen.

– Hoffentlich sollen jene Thiere, fügte Sergeant Long ein, uns noch durch die Nahrung, welche sie liefern, sehr nützlich sein und ist es ein wahres Glück für die Colonie, daß sie nicht darauf gekommen sind, vor dem Bruche des Isthmus zu entfliehen.

– Die Vögel werden uns aber zweifellos verlassen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Madame, erwiderte Jasper Hobson, alle diese Geflügelarten dürfte die erste Kälte vertreiben. Sie vermögen sehr weite Räume, ohne zu ermüden, zu durchfliegen, und werden, glücklicher als wir, das feste Land wieder erreichen können.

– Nun wohl, warum sollten wir uns ihrer nicht als Boten bedienen? warf da die Reisende ein.

– Das wäre ein Gedanke, sagte Jasper Hobson, ein prächtiger Gedanke. Einige hundert Vögel sind leicht zu fangen, an deren Hals wir ein Papier, welches das Geheimniß unserer Lage enthält, befestigen könnten. Schon im Jahre 1848 versuchte John Roß die Lage seiner Schiffe, Entreprise und Investigator, im Polarmeere den etwa Ueberlebenden von der Expedition Franklin’s durch ein analoges Mittel bekannt zu geben. Er fing einmal einige hundert weiße Füchse in Fallen, versah diese mit einem Halsbande von Kupfer, auf dem die nöthigen Notizen eingravirt waren, und jagte sie dann nach allen Richtungen auseinander.

– Und vielleicht sind einige dieser Boten den Schiffbrüchigen in die Hände gefallen? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Vielleicht, antwortete Jasper Hobson, jedenfalls erinnere ich mich, daß einer dieser Füchse, damals schon ein altes Thier, von dem Kapitän Hatteras bei Gelegenheit seiner Entdeckungsreise gefangen wurde. Dieser Fuchs trug noch das halb durchgescheuerte Halsband unter seinem weißen Pelzfelle versteckt. Was wir nun mit Vierfüßlern nicht auszuführen im Stande sind, das werden wir mit Vögeln ausführen.«

Unter solchem Geplauder und dem Entwerfen verschiedener Projecte für die Zukunft verfolgten die Drei die Küste der Insel, an der sie zunächst keine Veränderung vorfanden. Ueberall dieselben sehr abschüssigen und mit Sand und Erde bedeckten Ufer; auch zeigte sich kein Sprung, welcher eine neuerliche Veränderung im Umfang der Insel hätte vermuthen lassen.

Es war wohl weit mehr zu befürchten, daß der ungeheure Eisblock, wenn er in wärmere Strömungen gerieth, an seiner Basis und folglich an Dickedurchmesser abnähme, eine Hypothese, die Jasper Hobson mit Recht beunruhigte.

Um elf Uhr Morgens hatten die Forscher die acht Meilen, welche Cap Bathurst vom Cap Eskimo trennten, zurückgelegt. An dieser Stelle fanden sie noch die Spuren des Lagers, das die Familie Kalumah’s inne gehabt hatte. Von dem Schneehause war natürlich nichts übrig, doch erinnerten die kalte Asche und die umherliegenden Robbenknochen noch an den Durchzug der Eskimos.

Mrs. Paulina Barnett, Jasper Hobson und der Sergeant machten an dieser Stelle Halt, wollten jedoch die kurzen Stunden der Nacht an der Walroß-Bai, die man einige Stunden später zu erreichen hoffte, verbringen. Sie frühstückten also auf einer leichten, mit magerem und dünnem Grase bedeckten Bodenerhebung. Vor ihren Augen entrollte sich der schöne, glatte Meereshorizont. Kein Segel, kein Eisberg belebte diese weite Wasserwüste.

»Würden Sie sehr erstaunt sein, Herr Hobson, fragte Mrs. Paulina Barnett, wenn sich ein Fahrzeug jetzt Ihren Blicken zeigte?

– Sehr erstaunt, nein, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, aber ich gestehe, sehr erfreut würde ich sein. Während der guten Jahreszeit ist es nicht selten, daß Walfänger von der Behrings-Straße bis in diese Breiten vordringen, vorzüglich, seitdem der Arktische Ocean zum Fischbecken der Wale und Pottfische geworden ist. Wir schreiben jedoch den 23. Juli, und der Sommer ist schon weit vorgeschritten. Die ganze Fischerflotte ist jetzt ohne Zweifel am Kotzebue-Golfe, am Eingange der Meerenge versammelt. Die Walfänger mißtrauen, und das mit Recht, den Überraschungen des Polarmeeres. Sie fürchten das Eis und sind besorgt, etwa davon eingeschlossen zu werden. Gerade diese Eisberge aber, diese Eisströme und dieser Schollenwall, – die Gegenstände der Furcht aller Uebrigen, gerade diese wünschen wir mit größter Sehnsucht herbei. –

– Sie werden auch kommen, Herr Lieutenant, fiel Sergeant Long ein, nur Geduld; bevor zwei Monate in’s Land sind, werden die Wellen des Meeres nicht mehr an das Cap Eskimo schlagen.

– Das Cap Eskimo! sagte lächelnd Mrs. Paulina Barnett, ist aber dieser Name, sind nicht alle die Benennungen, welche wir den Buchten und Spitzen der Halbinsel gegeben hatten, nun etwas verfrüht? Den Barnett-Hafen und den Paulina-Fluß haben wir schon eingebüßt, wer weiß, ob nicht auch Cap Eskimo und die Walroß-Bai an die Reihe kommen?

– Sie werden auch dahin gehen, Madame, antwortete Jasper Hobson, sowie nach ihnen die ganze Insel Victoria, da sie Nichts mehr an das Festland bindet, und ihr Untergang vom Schicksal vorausbestimmt ist. Dieses Ende erscheint unvermeidlich, und haben wir uns bezüglich der geographischen Nomenclatur unnöthige Kosten verursacht. Zum Glück sind unsere Benennungen von der Königlichen Gesellschaft noch nicht angenommen worden, und der ehrenwerthe Roderick MurchisonDer Zeit Präsident der Königlich Geographischen Gesellschaft. wird deshalb keinen Namen aus seinen Karten zu streichen haben.

– Und doch einen einzigen! bemerkte der Sergeant.

– Welchen? fragte Jasper Hobson.

– Das Cap Bathurst, erwiderte Jener.

– Wirklich, Sie haben Recht, Sergeant, Cap Bathurst ist nun aus der Polar-Kartographie zu löschen!«

Zwei Stunden hatten zum Ausruhen genügt. Um ein Uhr Mittags brach die kleine Gesellschaft wieder auf.

Als Jasper Hobson Cap Eskimo schon verlassen wollte, warf er einen letzten Blick auf das umgebende Meer. Da aber Nichts seine Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte, schloß er sich Mrs. Paulina Barnett, welche mit dem Sergeanten schon voraus war, an.

»Madame, begann er, Sie haben die Familie Eingeborener, welche wir eben hier früher antrafen, es war wohl kurz vor dem Ende des Winters, doch nicht vergessen?

– Nein, Herr Hobson, entgegnete die Reisende, der guten kleinen Kalumah erinnere ich mich noch heute recht gern. Sie versprach sogar, uns in Fort-Esperance wieder aufzusuchen, ein Versprechen, welches ihr nun zu halten unmöglich ist. Doch weshalb stellen Sie diese Frage an mich?

– Weil ich mich eines Umstandes entsinne, eines Umstandes, auf welchen ich damals kein besonderes Gewicht legte, der sich jetzt aber meiner Erinnerung aufdrängt.

– Und dieser wäre?

– Erinnern Sie sich eines gewissen unruhigen Erstaunens, welches die Eskimos an den Tag legten, als sie am Fuße des Cap Bathurst eine Factorei errichtet sahen?

– Vollkommen, Herr Hobson.

– Entsinnen Sie sich auch, daß ich mich gern verständlich zu machen suchte, um die Gedanken der Eingeborenen zu enträthseln, es aber leider nicht vermochte?

– Recht gut.

– Nun, sagte Lieutenant Hobson, jetzt wird mir ihr Kopfschütteln erklärlicher. Jene Eskimos kannten aus Ueberlieferungen, aus Erfahrung oder sonst welchem Grunde die Natur und den Ursprung der Halbinsel Victoria. Sie wußten, daß wir auf keinem festen Grunde gebaut hatten. Da die Sachen aber ohne Zweifel seit Jahrhunderten ebenso standen, ahnten sie auch keine drohende Gefahr und haben sich deshalb nicht deutlicher erklärt.

– Das kann wohl der Fall sein, Herr Hobson, antwortete Mrs. Paulina Barnett, gewiß war der Verdacht ihrer Genossen der Kalumah aber unbekannt, denn das arme Kind würde nicht angestanden haben, uns denselben mitzutheilen.«

Hierin stimmte auch Lieutenant Hobson der Ansicht Mrs. Paulina Barnett’s vollkommen zu.

»Man muß gestehen, sagte da der Sergeant, daß es ein rechtes Unglück ist, uns gerade zu der Zeit auf der Halbinsel anzusiedeln, als sie sich vom Continente losriß, um durch die Meere zu irren; denn lange, wahrscheinlich sehr lange Zeit wird dort Alles in gleichem Zustande gewesen sein, vielleicht Jahrhunderte hindurch!

– Sagen Sie tausend und abertausend Jahre, Sergeant Long, erwiderte Jasper Hobson, bedenken Sie nur, daß die Pflanzenerde, welche wir augenblicklich unter unseren Füßen haben, erst Zelle für Zelle durch den Wind hierher geführt werden mußte; daß dieser Sand Körnchen für Körnchen hierhergeflogen ist! Ueberdenken Sie den Zeitraum, der einst nöthig war, aus den Samen der Tannen, Birken und anderer Gewächse, Bäume und Sträucher entstehen und sich auch wieder vermehren zu lassen! Das Eis, auf dem wir wandeln, könnte wohl schon vor dem Auftreten des Menschen auf der Erde an den Continent gelöthet worden sein!

– Nun, rief Sergeant Long, dann konnte es auch noch ein paar Jahrhunderte warten, bevor es sich in’s Weite aufmachte, dieses wunderliche Eis. Wie manche Unruhe, wie manche Gefahren vielleicht, wären uns erspart geblieben!«

Diese sehr richtige Reflexion des Sergeant Long beendete das Gespräch, und man setzte seinen Weg rüstig fort.

Vom Cap Eskimo bis zur Walroß-Bai verlief die Küste ziemlich genau von Norden nach Süden, etwa in der Richtung des hundertundsiebenundfünfzigsten Meridianes. Nach rückwärts sah man in einer Entfernung von vier bis fünf Meilen das spitze Ende der Lagune, welche im Strahle der Sonne widerglänzte, und etwas weiter die letzten bewaldeten Erhöhungen, deren Grün ihre Gewässer zierte. Mit rauschendem Flügelschlage zogen einige Pfeiferadler durch die Lüfte. Zahlreiche Pelzthiere, wie Marder, Wiesel und Hermeline, die in sandigen Aushöhlungen halb versteckt oder zwischen magerem Gebüsch verborgen waren, schauten die Reisenden an. Sie schienen zu wissen, daß sie nichts von deren Gewehren zu fürchten hatten. Auch einige Biber bemerkte Jasper Hobson, die in der Irre herumliefen und sich nicht auszufinden wußten, seit der kleine Fluß verschwunden war. Ohne Hütten zu ihrem Schutze und ohne Wasserlauf, um neue Dörfer daran zu errichten, stand es ihnen bevor, durch den Frost umzukommen, sobald die strenge Winterkälte eintrat. Ebenso erkannte Sergeant Long eine Bande Wölfe, welche durch die Ebene stürmte. Man war demnach veranlaßt, zu glauben, daß eine ganze Menagerie der Pelzthiere auf der schwimmenden Insel gefangen sei, und mußten die Raubthiere, wenn der Winter ihren Hunger reizte und sie ihre Nahrung in wärmeren Klimaten doch nicht zu suchen vermochten, den Insassen des Fort-Esperance unzweifelhaft sehr gefährlich werden.

Nur die weißen Bären schienen der Fauna der Insel abzugehen – ein Umstand, über den man sich gewiß nicht zu beklagen hatte. Hinter einer Gruppe Birken glaubte zwar Sergeant Long eine weiße ungeheure Masse in langsamer Bewegung zu erblicken, kam aber, als er genauer nachsah, zu der Ueberzeugung, daß er sich getäuscht habe.

Dieser Theil der Küste, welcher an die Walroß-Bai grenzte, stieg nur sehr wenig über das Niveau des Meeres auf. Da und dort lag es fast in gleicher Ebene mit der Wasserfläche, und schäumend rollten die letzten Ausläufer der Wellen, wie über einen sanften Uferabhang, über ihre Oberfläche. Es schien zu befürchten, daß sich der Erdboden an diesem Theile der Insel schon seit einiger Zeit gesenkt habe; da man aber genaue Merkzeichen nicht besaß, war es unmöglich, eine Veränderung zu erkennen, oder deren Umfang abzuschätzen. –

Jasper Hobson bedauerte, nicht vor der Abweichung des Cap Bathurst solche Zeichen angebracht zu haben, die ihm gestattet hätten, die verschiedenen Senkungen und Vertiefungen der Küste zu messen. Er beschloß aber diese Maßregel sofort nach der Rückkehr auszuführen.

Es ist erklärlich, daß unsere drei Reisenden bei diesen Untersuchungen nicht allzu schnell vorwärts kamen. Oft hielt man an, prüfte den Boden, suchte nach, ob sich irgend wo ein Sprung an der Küste gebildet habe, und dabei drangen die Forscher manchmal eine halbe Meile weit in das Land ein. An gewissen Stellen gebrauchte Sergeant Long die Vorsicht, Weiden- und Birkenstöcke in den Boden zu stecken, welche für die Zukunft als Visirpunkte vorzüglich an den tiefer liegenden Theilen, deren Haltbarkeit zweifelhaft war, dienen sollten. Hier mußte es also leicht sein, spätere Veränderungen zu erkennen.

Inzwischen ging man vorwärts und gegen drei Uhr befand sich die Walroß-Bai nur noch etwa drei Meilen weit im Süden entfernt. Schon von hier aus konnte Jasper Hobson die Mrs. Paulina Barnett auf die Veränderung aufmerksam machen, welche der Bruch des Isthmus, in der That ein Vorgang von tiefgehendstem Einfluß, hervorgerufen hatte.

Früher zeigte sich der südwestliche Horizont durch eine lange Linie rundlicher Erhöhungen abgeschlossen, die das Ufer der großen Bai Liverpool bildeten, – jetzt umrahmte das Wasser den endlosen Horizont. Das Festland war verschwunden. An der Stelle selbst, an der der Bruch stattgefunden hatte, endete die Insel Victoria mit einem schroffen Winkel. Ging man um diesen herum, so mußte das Meer, welches jetzt diese ganze Linie umspülte, die sonst als fester Boden zwischen der Walroß- und der Washburn-Bai lag, sichtbar werden.

Nicht ohne tiefe Bewegung betrachtete Mrs. Paulina Barnett den neuen Anblick; sie hatte ihn zwar erwartet, und doch klopfte ihr heftig das Herz. Suchend schweiften ihre Augen nach dem Lande, das jetzt am Horizonte fehlte, jenes Land, das nun über zweihundert Meilen hinter ihnen lag, und sie glaubte es zu fühlen, daß ihr Fuß nicht mehr auf amerikanischen Boden trat. Für empfindsame Seelen ist es wohl unnöthig, hierbei zu verweilen, doch verdient es erwähnt zu werden, daß Jasper Hobson und selbst der Sergeant die Gemüthsbewegung der Reisenden theilten. Alle beeilten ihre Schritte, um den scharfen Winkel ganz zu erreichen, der noch im Süden vor ihnen lag, und an dem sich der Erdboden etwas hob. Die Schicht von Erde und Sand war allda etwas stärker, was sich ja leicht aus der Nachbarschaft dieses Gebietstheiles und des wirklichen Festlandes erklärte. Die Dicke der Eiskruste und der Erdschichten an dieser Verbindungsstelle machte es auch verständlich, wie der Isthmus so lange hatte halten können, bis ein geologisches Ereigniß dessen Bruch herbeiführte. Das Erdbeben vom 8. Januar hatte den amerikanischen Continent nur wenig erschüttert, sein Stoß aber hingereicht, die Halbinsel, welche nun den Launen des Oceans preisgegeben war, abzubrechen.

Um vier Uhr endlich wurde der Winkel erreicht. Die von einer Ausbuchtung des festen Landes gebildete Walroß-Bai existirte nicht mehr. Sie war bei dem Continente verblieben.

»Meiner Treu, Madame, sagte ernsthaft Sergeant Long zu der Reisenden, es war gut, daß wir ihr nicht den Namen der «Paulina Barnett’s-Bai» gegeben hatten.

– Ja wirklich, erwiderte die Dame, und ich fange an zu glauben, daß ich für geographische Nomenclatur eine unselige Pathin bin!«

Einundzwanzigstes Capitel.


Einundzwanzigstes Capitel.

Drei Stunden später waren auch die letzten Reste der Packeiswand aus dem Gesichtskreise verschwunden, welche Schnelligkeit den Beweis lieferte, daß die Insel jetzt wohl ganz ohne Bewegung verharrte. Es erklärte sich diese Erscheinung dadurch, daß die Strömung, mit der sie vorher dahin trieb, sich nur in größerer Tiefe, aber nicht auf der Oberfläche des Wassers bewegte.

Die Vergleichung zwischen der Mittagsbeobachtung dieses und des folgenden Tages ergab nur eine Ortsveränderung von kaum einer Meile!

Nun gab es nur noch eine Rettung, eine einzige! – Die Aufnahme der Schiffbrüchigen durch einen Walfänger, ob Jene nun so lange auf der Insel blieben oder das Floß diese nach ihrem Untergänge schon ersetzt hatte.

Die Insel Victoria befand sich zur Zeit übrigens unter 54° 33′ der Breite und 177° 19′ der Länge, mehrere hundert Meilen von den Aleuten, dem nächstgelegenen Lande entfernt.

Lieutenant Hobson rief seine Leute noch einmal zusammen, um gemeinschaftlich mit ihnen zu berathen, was zu thun sei.

Alle stimmten in der Ansicht überein, bis zur Schmelzung der Insel auf derselben auszuharren, deren Ausdehnung sie gegen den Wellenschlag unempfindlich machte; häuften sich dann die Anzeichen der nahenden Zerstörung, so sollte sich die ganze kleine Colonie auf dem Floß einschiffen.

Letzteres war nun vollendet. Mac Nap erbaute darauf einen Kajütenraum, eine Art Zwischendeck, in welchem das ganze Personal der Colonie eine Zuflucht finden konnte. Auch einen Mast, der im Nothfalle aufzurichten war, hatte man nebst dem Zubehör an Segelwerk längst vorgerichtet. Bei der Festigkeit des ganzen Bauwerks, und mit Unterstützung günstigen Windes durfte man wohl auf die Rettung der ganzen Gesellschaft durch dasselbe hoffen.

»Nichts ist dem unmöglich, sagte Mrs. Paulina Barnett, der den Winden befiehlt und die Wogen beherrscht!«

Jasper Hobson hatte den Vorrath an Lebensmitteln durchsehen lassen, der keinen Ueberfluß mehr aufwies, nachdem der Eissturz ihn so wesentlich vermindert hatte; dagegen fehlte es an Wiederkäuern und Nagethieren nicht, die an dem üppigen Moos- und Graswuchs der Insel reichliche Nahrung fanden. Da es nöthig erschien, den Abgang an conservirtem Fleisch zu ersetzen, so schossen die Jäger einige Rennthiere und Polarhasen.

Die Gesundheit Aller hielt sich im Ganzen recht gut. Von dem letzten milden Winter hatten sie nur wenig gelitten und waren ihre Körperkräfte trotz der heftigsten Gemüthsbewegungen nicht erschüttert worden. Dennoch sahen sie nicht ohne die trübsten Ahnungen dem Augenblicke entgegen, in dem sie die Insel Victoria, oder richtiger, in dem jene sie selbst verlassen würde. Sie erschraken vor dem Gedanken, auf diesem grenzenlosen Meere und das auf einem Stück Holz zu schwimmen, welches dem Seegange machtlos preisgegeben war. Selbst bei erträglich gutem Wetter mußten die Wellen darüber schlagen und ihre Lage sehr peinlich gestalten. Man bedenke hierbei, daß sie eben keine Seeleute, keine Habitués des Meeres, die sich sorglos einem schwachen Brette anvertrauen, sondern Soldaten waren, und nur an die festen Landgebiete der Compagnie gewöhnt. Zwar trug sie nur eine zerbrechliche, auf dünner Eisscholle ruhende Insel, doch hatte sie einen Erdboden und auf diesem eine grünende Vegetation mit Bäumen und Strauchwerk, die Thiere bewohnten sie gleichzeitig mit ihnen, ihre vollkommene Indifferenz gegen der Seegang ließ sie als unbeweglich ansehen. Ja, sie liebten diese Insel Victoria, ihren Aufenthalt fast zwei Jahre hindurch; diese Insel, die sie so oft nach allen Richtungen durchstreift, die sie angesäet hatten, und welche schon so vielen Umwälzungen erfolgreich widerstand. Nur mit Wehmuth würden sie dieselbe verlassen, und das nur dann erst, wenn jene unter ihren Füßen entwich.

Dem Lieutenant Hobson waren diese Anschauungen nicht fremd und fand er sie sehr natürlich. Er kannte das Widerstreben, mit dem seine Leute das Floß besteigen würden, aber die Verhältnisse drängten zuletzt doch wohl dazu, und konnte die Insel in dem erwärmten Meerwasser ja jeden Augenblick schmelzen, wenigstens ließen sich die drohenden Vorzeichen dieses Endes nicht verkennen.

Das Floß maß auf jeder Seite etwas über dreißig Fuß, bot demnach eine Oberfläche von fast tausend Quadratfuß. Seine Plattform überragte das Wasser nur um zwei Fuß, und die Seiten- Wände ringsum schützten es wohl gegen die ganz kleinen Wellen, während es auf der Hand lag, daß eine nur irgend bewegtere See darüber hinweg gehen mußte. In der Mitte des Flosses hatte der Meister Zimmermann ein kleines Häuschen errichtet, das wohl zwanzig Personen bergen konnte. Rund um dasselbe waren Behälter für die Lebensmittel und das Trinkwasser angebracht und das Ganze mittels Eisenklammern fest mit der Plattform verbunden. Der dreißig Fuß hohe Mast stützte sich an diesen Oberbau, und hielten diesen von den Ecken des Apparates auslaufende Strickleitern. Dieser Mast sollte ein viereckiges Segel erhalten, das natürlich nur dienen konnte, wenn der Wind von rückwärts her wehte. Von irgend einer anderen Takelage mußte bei diesem primitiven Fahrzeuge, das auch nur ein sehr unzulängliches Steuerruder führte, gänzlich abgesehen werden.

So war Mac Nap’s Floß beschaffen, von dem zwanzig Personen, oder bei Hinzurechnung des Kindes, einundzwanzig, ihre Rettung erhofften. Ruhig schwamm es, von starker Leine gehalten, am Ufer der Lagune. Wohl war es mit mehr Sorgfalt gebaut, als Schiffbrüchige durch den plötzlichen Untergang ihres Schiffes auf ein solches zu verwenden vermögen, aber immerhin blieb es doch nur ein Floß.

Schon der 1. Juni brachte wieder neues Unheil. Der Soldat Hope hatte aus der Lagune zu Küchenzwecken Wasser schöpfen wollen. Mrs. Joliffe kostete dasselbe und fand es salzig. Sie rief Hope zurück und sagte ihm, sie habe Süßwasser, aber kein Seewasser verlangt.

Hope erwiderte ihr, daß er dasselbe aus der Lagune geholt habe. Hieraus entspann sich ein lebhafteres Gespräch, welches Jasper Hobson herbeilockte. Bei den Versicherungen Hope’s entfärbte er sich ein wenig und begab sich eiligst nach der Lagune …

Ihr Gewässer erwies sich vollkommen salzig! Offenbar war der Boden derselben weggeschmolzen und das Meerwasser durch die Oeffnung eingedrungen.

Als sich diese Nachricht verbreitete, erfaßte zuerst Alle ein lebhafter Schrecken.

»Kein Trinkwasser mehr!« riefen die armen Leute.

Nach dem Paulina-Flusse verloren sie nun auch den Barnett-See!

Der Lieutenant beeilte sich indeß, die erschreckten Gemüther zu beruhigen.

»An Eis fehlt es uns ja nicht, meine Freunde, sagte er. Macht Euch keine Angst. Wir brauchen nur einige Stücken unserer Insel einzuschmelzen, und ich, hoffe wir werden sie nicht ganz austrinken«, fügte er mit einem Versuche zu lächeln hinzu.

Wirklich verliert das Salzwasser sowohl beim Verdampfen als auch beim Gefrieren alle Mineralbestandtheile, die es in Lösung hielt. Man grub also, wenn man so sagen darf, einige Eisblöcke aus der Erde und schmolz diese nicht nur für den täglichen Gebrauch, sondern auch zur Füllung der Behälter auf dem Flosse ein.

Dieser neue Wink, den die Natur hiermit gegeben hatte, durfte indeß nicht unbeachtet bleiben. Unzweifelhaft löste sich die Insel an ihrer Basis auf, und jener Einbruch des Meerwassers wurde für sie zur beschleunigenden Gefahr. Der Boden konnte nun jede Minute in Stücke gehen, und Jasper Hobson gestattete seinen Leuten nicht mehr sich zu entfernen, da sie leicht von den Uebrigen getrennt und in die offene See hinaus getrieben werden konnten.

Auch die Thiere schienen ein Vorgefühl der ganz nahen Gefahr zu haben und drängten sich um die alte Factorei herum. Seit dem Verschwinden des süßen Wassers bemerkte man, daß sie an den aus dem Boden gehobenen Eisstücken leckten. Sie schienen beunruhigt, manche wie toll geworden, und vorzüglich die Wölfe, welche bandenweise herankamen und mit lautem Gebell wieder das Weite suchten. Die Pelzthiere hielten immer nahe der Stelle des versunkenen Hauses aus; der Bär trottete umher, ebenso friedfertig den Thieren, wie den Menschen gegenüber. Auch er erschien wie aus Instinct unruhig, und hätte gern Schutz gefunden gegen eine Gefahr, die er voraus empfand und nicht abwenden konnte.

Die bis jetzt sehr zahlreichen Vögel verminderten sich. Während der letzten Tage wanderten starke Züge von solchen, deren Flügelkraft ihnen gestattete, einen sehr weiten Raum zu durcheilen, wie z. B. die Schwäne, nach Süden aus, wo sie auf den Aleuten den nächsten Ruhepunkt finden mußten. Ihren Weggang beobachteten Mrs. Paulina Barnett und Madge, die sich eben am Ufer befanden und daraus nicht die beste Aussicht für die nächste Zukunft prophezeiten.

»Ausreichende Nahrung finden diese Vögel auf der Insel, sagte Mrs. Paulina, und sie verlassen dieselbe dennoch! Das hat seinen guten Grund, meine arme Madge.

– Ja, erwiderte diese, sie nehmen ihren Vortheil wahr. Doch wenn sie uns damit einen Wink gegeben, so sollten wir diesen zu benutzen suchen. Mir scheint es dazu auch, als ob die übrigen Thiere unruhiger wären, als je vorher.«

Noch an diesem Tage ließ Jasper Hobson einen großen Theil der Lebensmittel und Lagergeräthe nach dem Flosse schaffen. Auch beschloß man, daß sich Alle auf demselben einschiffen sollten.

Gerade jetzt war aber das Meer sehr wild und auf diesem kleinen Mittelländischen Meere, das die See nun an Stelle der Lagune bildete, wogte das Wasser heftig auf und nieder. Die in dem verhältnißmäßig engen Raume gefangenen Wellen brachen sich donnernd am Ufer. Das Bild glich einem Sturme auf dem See, oder vielmehr auf diesem meerestiefen Abgrunde. Das Floß schwankte furchtbar, und in Massen stürzten die Fluthen über dasselbe hinweg, so daß man sich genöthigt sah, die begonnene Beladung mit dem Nothwendigsten wieder einzustellen.

Unter diesen Verhältnissen widersprach auch Jasper Hobson der Ansicht seiner Leute nicht weiter. Besser erschien es, noch eine Nacht ruhig auf der Erde zu verbringen und die Einschiffung nach Beruhigung des Meeres wieder fortzusetzen.

Die Nacht verlief übrigens besser, als man zu hoffen gewagt hatte. Der Wind legte sich und das Meer wurde ruhiger. Es war nur ein Gewittersturm gewesen, der mit jener den elektrischen Meteoren eigenthümlichen Geschwindigkeit vorüber ging. Um acht Uhr Abends war die See fast wieder glatt und nur plätschernd hörte man noch die Wellenbewegung in der Lagune.

Unzweifelhaft konnte die Insel einer allmäligen Auflösung nicht entgehen, doch erschien eine solche günstiger, als ein plötzlicher Bruch derselben, wie er bei einem Sturme und seinen bergehohen Wogen so leicht stattfinden konnte.

Dem Gewitter folgte ein leichter Nebel, der aber mit der Nacht an Dichtigkeit zunahm. Von Norden aus heranziehend, bedeckte er den größten Theil der Insel.

Noch vor Schlafengehen untersuchte Jasper Hobson die Taue des Flosses, welche um starke Birkenstamme geschlungen waren. Aus Vorsicht wickelte er sie noch einmal herum. Das Schlimmste, was geschehen konnte, war nun eine Entführung des Flosses über die Lagune, aber diese hatte ja keinen so großen Umfang, daß es sich deshalb den Blicken hätte entziehen können.

Dreizehntes Capitel.


Dreizehntes Capitel.

Am 22. November endlich begann das Unwetter etwas nachzulassen, und binnen wenig Stunden schwieg der Sturm vollkommen. Der Wind sprang nach Norden um, während das Thermometer einige Grade fiel. Einige Zugvögel verschwanden. Vielleicht konnte man nun hoffen, daß endlich die Temperatur bleibend sein würde, wie sie dieser Jahreszeit in so hohen Breiten entsprach. Wie sehr bedauerten die Ansiedler am Cap Bathurst, daß die Kälte nicht der der vergangenen Wintersaison gleich kam, in der sie – 52° erreichte.

Jasper Hobson beschloß mit dem Verlassen der Insel Victoria nicht zu zögern, und am Vormittag des 22. noch war die kleine Colonie bereit, von Fort-Esperance und der Insel wegzuziehen, welche letztere nun mit dem allgemeinen Eisfelde verschmolzen und an demselben verlöthet war, so daß sie durch eine sechshundert Meilen lange Strecke mit dem amerikanischen Continent zusammen hing. Um elf und ein halb Uhr Vormittags gab Lieutenant Hobson bei grauer, aber ruhiger Luft, welche ein prächtiges Nordlicht vom Horizont bis zum Zenith durchleuchtete, den Befehl zum Aufbruch. Die Hunde waren vor die Schlitten gespannt. Je drei Paare zahmer Rennthiere zogen die Lastschlitten, und schweigend wandte man sich in der Richtung nach Cap Michael, – nach dem Punkte hin, an welchem die eigentliche Insel verlassen werden sollte.

Die Karawane folgte zuerst dem Saum des bewaldeten Hügels östlich vom Barnett-See; an dem ersten Ziele angelangt, drehte sich Jeder noch einmal zurück, um Cap Bathurst, das man auf Nimmerwiederkehr verließ, zum letzten Male zu sehen. Beim Schein des Nordlichtes zeichneten sich einige vom Schnee verunstaltete Spitzen ab, und zwei oder drei weiße Linien verriethen die Umzäunung der Factorei. Einer der da oder dort weiter hervorstehenden Grundbalken, ein leichter aufwirbelnder Rauch, der letzte Athem eines Feuers, das für immer verlöschen sollte, – das war Fort-Esperance, das war das Etablissement, welches so viel jetzt unnütze Arbeit und Mühe gekostet hatte!

»Leb‘ wohl! Leb‘ wohl! Du, unser armes Haus im Norden!« sagte Mrs. Paulina Barnett mit einer Handbewegung zum Abschied.

Nachher nahmen Alle traurig und schweigend den Weg wieder auf.

In einer Stunde war man, nach Umgehung des Einschnittes, den die unzureichende Winterkälte noch nicht vollkommen geschlossen hatte, am Cap Michael angekommen. Bis hierher ging die Reise ohne zu große Schwierigkeit von Statten, denn der Boden der Insel Victoria bot eine verhältnismäßig ebene Oberfläche. Ganz anders sollte sich das auf dem eigentlichen Eisfelde gestalten, denn dieses war unter dem enormen Drucke des Packeises aus Norden zu Eisbergen und Spitzhügeln erhüben, zwischen denen es um den Preis der größten Mühe und der äußersten Anstrengung einen gangbaren Weg aufzusuchen galt.

Einige Meilen legte man bis zum Abend dieses Tages auf dem Eisfelde zurück und machte die Lagerstätten für die Nacht zurecht. Zu dem Ende wurden nach Art der Eskimos oder der Indianer Nordamerikas »Schneehäuser« in den Eisstücken ausgehöhlt. Erfolgreich und geschickt arbeiteten die Schneemesser, und um acht Uhr schlüpfte, nach einer aus gedörrtem Fleische bestehenden Abendmahlzeit, das ganze Personal der Factorei in die zugerichteten Löcher, welche weit wärmer sind, als man glauben sollte.

Vor dem Einschlafen aber hatte Mrs. Paulina Barnett den Lieutenant gefragt, ob er Wohl die bis jetzt zurückgelegte Strecke abzuschätzen im Stande sei.

»Ich denke, wir werden nicht mehr als zehn Meilen gemacht haben, antwortete Jasper Hobson.

– Zehn von sechshundert! entgegnete die Reisende, darnach würden wir also zwei Monate brauchen, um die Entfernung zu durchmessen, die uns von Amerika trennt!

– Zwei Monate und vielleicht noch mehr, Madame, erwiderte Jasper Hobson, aber wir können eben nicht schneller gehen. Jetzt reisen wir nicht, wie im vorigen Jahre, über die beeisten Flächen zwischen Fort-Reliance und Cap Bathurst, sondern über das formlose Eisfeld, das durch den Druck der Massen verschoben ist, und uns einen leichten Weg nirgends bieten wird. Ich versehe mich der größten Schwierigkeiten bei diesem Versuche und wünsche nur, daß wir sie zu überwältigen vermögen. Jedenfalls ist es nicht das Wichtigste, schnell anzukommen, sondern nur bei guter Gesundheit, und ich würde mich glücklich schätzen, beim Appell in Fort-Reliance keinen meiner Leute fehlen zu sehen. Gebe der Himmel, daß wir nur wenigstens in drei Monaten irgend einen Punkt der amerikanischen Küste erreichen, und schon dafür würden wir ihm zum Danke für seine Gnade verpflichtet sein!«

Die Nacht verlief ohne Unfall; Jasper Hobson hatte aber, da er nicht schlief, an der Stelle, wo das Lager aufgeschlagen war, etwas Knistern von übler Vorbedeutung zu hören geglaubt, welches auf einen mangelhaften Zusammenhang der einzelnen Schollen hinwies. Offenbar mochte das Eisfeld in feiner ganzen Fläche noch nicht genügend verbunden sein, woraus auch die Vermuthung hervorging, daß sich an manchen Stellen klaffende Spalten finden würden, ein sehr übler Umstand, der jede Communication mit dem Festlande unsicher machte. Uebrigens hatte Lieutenant Hobson noch vor der Abreise wohl bemerkt, daß das Pelzwild und die Raubthiere der Insel Victoria die Umgebung der Factorei noch nicht verlassen hatten, um in südlicheren Gegenden einen minder rauhen Winter aufzusuchen, was nur auf Hindernisse, welche ihr Instinct ihnen verrieth, zurück zu führen sein dürfte. Dennoch handelte Jasper Hobson mit allem Vorbedacht, als er versuchte, die kleine Colonie über das Eisfeld zu leiten. Jedenfalls mußte vor dem künftigen Thauwetter ein Versuch gemacht werden; ob dieser nun gelang, oder ob man würde umkehren müssen – sicher hatte Jasper Hobson damit seine Pflicht gethan.

Am anderen Tage, am 23. November, kam das Detachement nicht einmal zehn Meilen nach Osten zu vorwärts. Das furchtbar zerklüftete Eisfeld zeigte an seiner Schichtung, daß sich mehrere Eisbänke über einander geschoben hatten. Durch den unwiderstehlichen Druck des Packeises erklärte sich auch das Zusammenstoßen von Eisbergen, die Aufhäufung einzelner Schollen, und eine Erscheinung, wie von machtloser Hand verlorene Berge, welche in dieser Gegend zerstreut lagen und bei ihrem Sturze zersplittert waren. Eine aus Schlitten und Zugthieren bestehende Karawane konnte nun ohne Zweifel über diese Blöcke nicht hinweg, und ebenso unmöglich erschien es, sie mit der Axt oder dem Schneemesser zu durchbrechen. Einzelne dieser Eisberge bildeten die sonderbarsten Formen, und zusammen machten sie wohl den Eindruck einer vollkommen eingestürzten Stadt. Eine gute Anzahl starrten drei- bis vierhundert Fuß über die Oberfläche hervor, und auf ihrem Gipfel hingen enorme Massen in gefahrdrohendem Gleichgewicht, für die eine Erschütterung, ein Stoß, ja vielleicht nur eine Luftbewegung hinreichte, sie als Lawinen hinabzudonnern.

In der Nähe solcher Eisberge war also die größte Vorsicht nöthig, und deshalb auch der Befehl ergangen, an solchen gefährlichen Stellen nicht einmal laut zu sprechen oder die Zugthiere durch Peitschenknallen anzufeuern. Diese Maßregeln darf man nicht für übertrieben halten, denn hier konnte die geringste Unklugheit die traurigsten Folgen haben.

Bei Umgehung derartiger Hindernisse und der Aufsuchung gangbarer Durchlässe verlor man sehr viel Zeit, erschöpfte sich in unmäßigen Anstrengungen, und gewann bei zehn Meilen Umweg oft kaum eine Meile in der gewünschten Richtung. Auf jeden Fall fehlte aber dem Fuße der feste Boden niemals. Am 24. dagegen thürmten sich ihnen andere Hindernisse entgegen, an deren Ueberwindung Jasper Hobson wohl verzweifeln mußte.

Nachdem man nämlich eine erste Schollenmauer überschritten hatte, die sich etwa zwanzig Meilen von der Insel Victoria befand, traf das Detachement auf ein weniger unebenes Eisfeld, dessen einzelne Theile keinem so furchtbaren Drucke unterlegen zu haben schienen. Hier aber wurden Jasper Hobson und seine Gefährten auch sehr bald von breiten Spalten aufgehalten, die noch nicht übereist waren. Die Temperatur erschien verhältnißmäßig warm und las man am Thermometer nur 1° unter Null ab. Dazu ist es bekannt, daß Salzwasser weniger leicht gefriert als süßes, folglich konnte das Meer hierbei nicht fest werden. Alle Eistheile, welche die Schollenwand und die anliegenden Flächen zusammensetzten, waren aus höheren Breiten herabgetrieben und nährten sich gewissermaßen von ihrer eigenen Kalte. Dieser südlichere Theil des Arktischen Oceans zeigte sich noch nicht gleichmäßig gefroren, und daneben fiel ein warmer Regen, der nur neue Elemente der Auflösung herbeiführte.

An diesem Tage sah sich das Detachement vor einer solchen Spalte absolut aufgehalten, in der bei bewegtem Wasser Eisschollen umher schwammen, und die bei einer Länge von mehreren Meilen höchstens hundert Fuß in der Breite maß.

Zwei Stunden lang zog man, in der Hoffnung, das Ende zu finden, an der westlichen Seite dieses Spaltes hinab. Vergeblich; man mußte Halt machen und das Nachtlager Herrichten.

Noch eine Viertelmeile ging Jasper Hobson mit, dem Sergeant Long an der endlosen Oeffnung weiter und verwünschte die Milde dieses Winters, die ihm so viel Uebles zufügte.

»Darüber hinweg müssen wir unbedingt, sagte Sergeant Long, denn an dieser Stelle können wir doch nicht bleiben.

– Gewiß, antwortete der Lieutenant, und wir werden darüber wegkommen, indem mir entweder im Norden oder im Süden die offene Stelle umgehen. Nach dieser hier werden aber andere auftreten, die wir wiederum umgehen müssen, und so mag sich das auf Hunderte von Meilen fortsetzen, so lange diese unbestimmte und bedauernswerthe Temperatur anhält.

– Nun, Herr Lieutenant, so werden wir vor dem Wiederaufbrechen den Weg auskundschaften müssen, sagte der Sergeant.

– Ja wohl ist das nöthig, erwiderte entschlossen Jasper Hobson, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, nach fünf- und sechshundert Meilen langen Umwegen noch nicht die Hälfte der Strecke, die uns von der amerikanischen Küste trennt, zurück gelegt zu haben. Bevor wir weiter ziehen, muß die Oberfläche des Eisfeldes untersucht werden, und das werde ich sogleich ausführen.«

Ohne weitere Worte entledigte sich Jasper Hobson eines Theils seiner Kleidung, warf sich in das eisige Wasser und erreichte als rüstiger Schwimmer mit wenigen Stößen das andere Ufer, worauf er bald hinter den Eisbergen verschwand.

Einige Stunden später kam er erschöpft nach der Lagerstätte zurück, wohin Sergeant Long voraus gegangen war. Der Lieutenant nahm diesen und Mrs. Paulina Barnett bei Seite und theilte ihnen mit, daß das Eisfeld – ungangbar sei.

»Vielleicht, setzte er hinzu, könnte ein einzelner Mensch zu Fuß, ohne Schlitten und Gepäck darüber hinweg kommen, eine Karawane vermag das aber nicht! Nach Osten zu sind die Spalten noch häufiger, und jetzt wäre uns ein Schiff nützlicher als die Schlitten, um das Festland zu erreichen.

– Wenn ein einzelner Mann, bemerkte Sergeant Long, im Stande ist, hindurch zu gelangen, so wird Einer von uns es unternehmen und uns Hilfe zu bringen versuchen müssen.

– Ich hatte den Gedanken daran … fiel Lieutenant Hobson ein.

– Sie, Herr Hobson?

– Sie, Herr Lieutenant?«

Diese beiden gleichzeitigen Antworten bewiesen, wie unerwartet dieser Vorschlag war, und für wie unpassend er gehalten wurde! Er, der Chef der Expedition, wollte abreisen! Wollte Diejenigen verlassen, die seiner Obhut anvertraut waren, wenn es auch nur geschah, um in ihrem Interesse sich größeren Gefahren auszusetzen. Nein! Das war nicht möglich. Jasper Hobson bestand auch nicht auf seinen Worten.

»Ja, meine Freunde, sagte er, ich verstehe Sie, ich werde Sie nicht verlassen, es ist jedoch ebenso unnütz, daß ein Anderer diesen Versuch wage. Er könnte keinen Erfolg haben, würde unterwegs umkommen oder, wenn Thauwetter einträte, das Grab finden, das sich unter seinen Füßen öffnet. Nehmen wir auch an, er käme bis nach Neu-Archangel, wie sollte er uns Hilfe leisten? Etwa ein Schiff miethen, um uns aufzusuchen? – Das Schiff würde erst nach Eintritt des Thauwetters von Nutzen sein. Wer weiß aber vorher, wo sich dann etwa die Insel Victoria befinden möchte, welche in das Polarmeer oder durch die Behrings-Straße getrieben sein könnte?

– Sie haben recht, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long, bleiben wir beisammen, und soll ein Schiff unsere Rettung sein, nun, so steht uns Mac Nap’s Fahrzeug zur Verfügung, und wenn wir am Cap Bathurst sind, haben wir wenigstens auf kein solches erst zu warten.«

Ohne sich in das Gespräch zu mischen, hatte Mrs. Paulina Barnett zugehört. Auch ihr erschien es einleuchtend, daß man bei der Unmöglichkeit des Zuges über das Eisfeld nur auf das Schiff des Zimmermanns rechnen könne, und unverzagt den Eintritt des Thauwetters abwarten müsse.

»Und Ihre Ansicht, Herr Hobson? fragte sie.

– Ist die, nach der Insel Victoria umzukehren.

– Rückwärts also, und stehe der Himmel uns bei!«

Das ganze Personal der Colonie wurde zusammengerufen und ihm die Mittheilung gemacht, den Rückzug anzutreten.

Der erste Eindruck der Worte Jasper Hobson’s war natürlich kein allzu guter. Die armen Leute hatten so bestimmt gehofft, mit diesem Zuge über das Eis wieder heim zu kommen, daß ihre Enttäuschung fast an Verzweiflung grenzte. Dennoch erklärten sie sich sofort bereit, zu gehorchen.

Jasper Hobson unterrichtete sie ferner über das Resultat der Nachforschung, welche er eben angestellt hatte.

Er bewies ihnen, daß die Hindernisse sich nach Osten zu häuften, und daß es unter jeder Bedingung unthunlich sei, mit dem ganzen Material der Karawane hindurch zu dringen, das doch bei einer auf mehrere Monate berechneten Reise unentbehrlich erschien.

»Augenblicklich, fügte er hinzu, sind wir von jeder Verbindung mit der amerikanischen Küste abgeschnitten, und wenn wir trotz der größten Beschwerden es erzwingen wollten, weiter nach Osten vorzudringen, würden wir Gefahr laufen, nicht einmal wieder zur Insel zurück zu können, die doch unser letzter, unser einziger Zufluchtsort bleibt. Ueberraschte uns das Thauwetter noch auf dem Eisfelde, so wären wir rettungslos verloren. Ich verhehle Euch die Wahrheit nicht, meine Freunde, aber ich male auch nicht zu schwarz. Ich weiß, daß ich zu entschlossenen Männern spreche, welche ihrerseits überzeugt sind, daß ich nicht der Mann bin, vorzeitig zurück zu weichen; aber ich wiederhole: wir stehen hier vor der Unmöglichkeit!«

Die Soldaten bewahrten ein unerschütterliches Zutrauen zu ihrem Chef. Sie kannten seinen Muth, seine Energie, und wenn er aussprach, daß man nicht vorwärts könne, so war der Weg unbedingt unmöglich.

Man entschloß sich demnach zur Rückkehr nach Fort-Esperance, welche überdies unter den ungünstigsten Umständen nur sich ging. Das Wetter war geradezu abscheulich. Ein heftiger Wind jagte über das Eisfeld. Der Regen fiel in Strömen, und dazu stelle man sich die Schwierigkeit vor, sich oft in tiefer Dunkelheit durch dieses Labyrinth von Eisbergen zu winden!

Die kleine Gesellschaft brauchte nicht weniger als vier Tage und vier Nächte bis zur Ankunft bei der Insel. Mehrere Schlitten verunglückten sammt den Zugthieren in offenen Spalten. Doch hatte Lieutenant Hobson, Dank seiner Klugheit, das Glück, keinen seiner Leute zum Opfer fallen zu sehen. Aber welche Mühe, welche Gefahren, welche Zukunft bot sich den Unglücklichen dar, die Zu einer zweiten Ueberwinterung auf der schwimmenden Insel verurtheilt warm!