Eine Geschichte ohne Ende

Eine Geschichte ohne Ende

Abends, wenn wir Männer uns nach dem öden, einförmigen Tageslauf im Rauchzimmer erfrischen wollten, vertrieben wir uns manchmal die Zeit damit, unvollendete Geschichten zu vervollständigen. Das heißt, jemand erzählte eine Geschichte bis auf das Ende und die andern versuchten den Schluß aus eigener Erfindung zu ergänzen. Wenn jeder, der wollte, seine Lesart zum besten gegeben hatte, fügte der erste Erzähler den ursprünglichen Schluß hinzu und überließ uns die Wahl. Manchmal gefiel uns eines der neuen Enden besser als das alte. Eine Geschichte jedoch, mit der wir uns am eifrigsten und längsten beschäftigten, hatte überhaupt keinen Schluß, man konnte daher auch keinen Vergleich anstellen, ob eine unserer Erfindungen besser gewesen wäre. Der Erzähler sagte, er könne die einzelnen Tatsachen nur bis zu einem gewissen Punkte berichten, weiter wisse er selber nichts. Er hätte die Geschichte vor fünfundzwanzig Jahren gelesen, sei aber unterbrochen worden, ehe er ans Ende kam. Nun wolle er demjenigen, der einen befriedigenden Schluß dazu fände, fünfzig Dollars geben; wir möchten Richter aus unserer Mitte wählen, die zu entscheiden hätten, wem der Preis gebühre. Das taten wir und gingen der Geschichte wacker zu Leibe; aber, obgleich wir uns dies und jenes Ende ausdachten, so verwarfen die Richter doch alles, was vorgebracht wurde – und sie hatten recht. Einen befriedigenden Schluß für diese Geschichte hätte nur der Verfasser selbst möglicherweise finden können, und wenn ihm das gelungen ist, so möchte ich wohl wissen wie. Ihr Inhalt ist etwa folgender:

John Brown, ein guter, sanfter, ängstlicher und schüchterner Mensch von einunddreißig Jahren, wohnte in einem friedlichen Dorfe des Staates Missouri, wo er das Amt eines Vorstands der presbyterianischen Sonntagsschule bekleidete. Das war an sich nichts Großes, aber doch das Einzige, womit er in die Öffentlichkeit trat. Er betrieb es mit Treue und Eifer und war in aller Bescheidenheit stolz darauf. Jedermann kannte seine große Menschenfreundlichkeit und die Leute sagten, er sei ganz aus Güte und Schüchternheit zusammengesetzt. Auf seine Hilfe könne man immer rechnen, wo sie gebraucht werde und auch auf seine Schüchternheit, mochte sie am Platze sein oder nicht.

Mary Taylor, ein sittsames, liebenswürdiges und schönes Mädchen von dreiundzwanzig Jahren, war sein ein und alles, und auch ihr Herz gehörte ihm fast ganz. Noch schwankte sie zwar, ob sie ihm ihr Jawort geben sollte, aber er war doch voller Hoffnung. Ihre Mutter hatte im Anfang allerlei Einwendungen gehabt; jetzt neigte sie sich zu seinen Gunsten. Offenbar hatte sein warmes Interesse für ihre beiden Schützlinge und seine Beisteuer zu deren Unterhalt ihr Herz gerührt und erobert. Diese Schützlinge waren nämlich zwei alte einsame Schwestern, die in einer Holzhütte an einem entlegenen Kreuzweg, vier Meilen weit von Frau Taylors Farm wohnten. Eine der Schwestern war irrsinnig und manchmal sogar gewalttätig, aber das kam nicht häufig vor.

Eines Tages glaubte Brown, daß der rechte Augenblick für den entscheidenden Antrag gekommen sei. Er nahm allen Mut zusammen und beschloß, der Mutter, um sie günstig zu stimmen, die doppelte Summe wie gewöhnlich zu überreichen. War erst ihr Widerstand gebrochen, so durfte er eines schnellen Sieges gewiß sein.

An einem schönen Sonntagnachmittag machte er sich also bei mildem Sommerwetter auf den Weg, gehörig ausstaffiert, wie es die Gelegenheit verlangte. Er war ganz in weiße Leinwand gekleidet, trug ein blaues Band als Krawatte und enge Lackstiefel; sein Einspänner war der feinste aus dem ganzen Mietstall, mit einer nagelneuen, weißleinenen Wagendecke, deren breiter, gestickter Rand an Schönheit und Kunst seinesgleichen suchte.

Schon war er vier Meilen gefahren, als er in einsamer Gegend über eine hölzerne Brücke kam; da flog ihm der Strohhut vom Kopfe, fiel in den Fluß und wurde stromabwärts getrieben, bis er an einem Balken hängen blieb. Brown besann sich, was er tun sollte; den Hut mußte er wiederbekommen, das verstand sich von selbst, aber wie ließ sich das bewerkstelligen?

Da kam ihm ein Gedanke. Die Straße war menschenleer, nichts regte sich. Ja, er wollte es wagen. Nachdem er sein Tier an den Rain geführt hatte, wo es nach Belieben grasen konnte, zog er sich aus, legte seine Kleider in den Wagen, streichelte dem Pferde den Hals, zum Zeichen beiderseitigen Wohlwollens, und eilte zum Fluß. Er schwamm nach dem Balken und gelangte rasch wieder in Besitz seines Hutes; als er aber ans Ufer zurückkehrte, waren Pferd und Wagen fort.

Der Schrecken fuhr ihm in alle Glieder. Da er aber sah, wie das Pferd im Schritt den Weg weiter verfolgte, trabte er hinterdrein. »Halt, halt,« rief er, »warte mein gutes Tier!« Aber so oft er nahe genug herankam und sich im Sprung auf den Wagen schwingen wollte, lief das Pferd schneller und vereitelte sein Bemühen. In Todesangst rannte der nackte Mann immer weiter, jeden Augenblick fürchtend, einen Menschen zu Gesicht zu bekommen. Er bat, er beschwor das Tier stillzustehen; aber erst als er nicht mehr weit von Frau Taylors Behausung war, gelang es ihm endlich, in den Wagen zu springen. Rasch warf er das Hemd über, band seine Krawatte um, schlüpfte in den Rock und langte nach den – aber ach, zu spät! Er setzte sich plötzlich nieder und zog die Wagendecke in die Höhe, denn er sah jemand durch das Hoftor kommen – eine Frau, wie ihm schien. Eilig lenkte er das Pferd zur Linken auf den Kreuzweg. Der war schnurgerade und von allen Seiten sichtbar, aber in einiger Entfernung kam eine Waldecke, wo die Straße eine scharfe

Krümmung machte. Er pries sich glücklich, als er die Stelle erreicht hatte, ließ das Pferd im Schritt gehen und langte nach den Ho – aber leider wiederum zu spät.

Gerade als er um die Ecke bog, stieß er auf Frau Enderby, Frau Glossop, Frau Taylor und Mary, die zu Fuß einherkamen und sehr müde und aufgeregt schienen. Sie traten an den Wagen, schüttelten Brown die Hand und versicherten alle zusammen aufs lebhafteste, wie froh sie wären ihn zu sehen und was für ein Glück es sei, daß er da wäre. Frau Enderby fügte mit großem Nachdruck hinzu:

»Mag es auch wie ein Zufall aussehen, daß er gerade jetzt kommt, so halte ich es doch für eine Sünde, das anzunehmen – nein, er ist uns gewißlich vom Himmel gesendet.«

Alle waren gerührt und Frau Glossop flüsterte mit ehrfurchtsvoller Scheu:

»Da hast du ein wahres Wort gesprochen, Sarah Enderby. Es ist kein Zufall, sondern die Vorsehung hat es so gewollt. Als Engel hat sie ihn uns geschickt; er kommt als ein Retter und Befreier. Nun soll mir noch jemand sagen, daß es keine besonderen Fügungen des Himmels gibt; wir haben hier den klarsten Beweis vor uns.«

»Ja,« fiel Frau Taylor begeistert ein, »das ist auch meine Überzeugung. Wahrhaftig, John Brown, ich könnte vor Ihnen niederknieen und Sie anbeten. Fühlten Sie es nicht im Herzen – trieb Sie nicht eine innere Stimme hierher? O, ich konnte den Saum Ihrer Wagendecke küssen.«

Er brachte kein Wort heraus; Scham und Furcht lähmten ihm die Zunge.

»Mag man die Sache betrachten wie man will, Julia Glossop,« fuhr Frau Taylor fort, »in allem läßt sich die Hand der Vorsehung sichtbarlich erkennen. Gegen Mittag sahen wir den Rauch aufsteigen. ›Die Hütte der alten Schwestern brennt, Julia‹, sagte ich. Nicht wahr, du kannst es bezeugen?«

»Jawohl, Nancy, ich stand dicht bei dir und habe es deutlich gehört. Du warst ganz blaß geworden und sahst so weiß aus wie hier die Wagendecke.«

»Kein Wunder! Und dann rief ich Mary zu, der Knecht solle gleich das Gefährt anspannen, wir müßten den Ärmsten zu Hilfe eilen. Aber der war aufs Land gefahren, um seine Angehörigen zu besuchen. Ich hatte ihm selbst erlaubt, über den Sonntag zu bleiben, es jedoch ganz vergessen. So gingen wir denn zu Fuß und trafen Sarah unterwegs.«

»Ja, und ich ging mit euch,« fiel Frau Enderby ein. »Wir fanden die Hütte in Asche liegen; die Irrsinnige hatte sie in Brand gesteckt. Die beiden alten Geschöpfe waren so schwach und hinfällig, daß wir sie nicht mitnehmen konnten. Mir führten sie an einen schattigen Platz, machten es ihnen behaglich so gut es ging und zerbrachen uns den Kopf, wie wir es anfangen sollten, um sie bis nach Nancys Haus zu schaffen. Da brach ich das Schweigen, und wißt ihr noch, was ich gesagt habe? ›Wir wollen es der Vorsehung anheimstellen!‹ Ja, das waren meine Worte.«

»Richtig, das hatte ich ganz vergessen. So wahr ich lebe, du hast es gesagt. Wie wunderbar!«

»Dann sind wir zusammen zwei Meilen weit bis zu Mosleys gegangen, aber wir fanden niemand zu Hause, alle waren im Feldgottesdienst. Wir kamen die zwei Meilen zurück und dann noch eine Meile hieher. Und nun schickt uns die Vorsehung Hilfe in der Not, das seht ihr ja selbst.«

Alle blickten einander an, hoben die Hände empor und riefen wie aus einem Munde:

»Es ist zu wunderbar!«

»Wie wollen wir es nun aber machen?« fragte Frau Glossop. »Soll Herr Brown die alten Schwestern einzeln zu Frau Taylor fahren oder sie alle beide auf einmal in den Wagen setzen und das Pferd am Zügel führen?«

Brown holte tief Atem. »Ja, das ist recht schwierig zu entscheiden,« meinte Frau Enderby. »Wir sind alle todmüde, und wenn Herr Brown die beiden schwachen Geschöpfe in den Wagen heben soll, so muß eine von uns mitgehen und ihm helfen; allein bringt er das nicht fertig.«

»Wie wär’s denn aber, wenn ich mit Herrn Brown hinführe?« sagte Frau Taylor, »und ihr andern ginget nach meinem Haus, um alles in Bereitschaft zu setzen? Wir heben die eine Alte zusammen in den Wagen und fahren mit ihr –«

»Wer wird denn aber unterdessen auf die andere acht geben?« fragte Frau Enderby. »Sie kann doch nicht allein im Walde bleiben – die Irrsinnige schon gar nicht. Bis man hin- und zurückkommt dauert’s gute anderthalb Stunden.«

Alle hatten sich, um auszuruhen, neben den Wagen ins Gras gesetzt und dachten schweigend nach, um einen Ausweg zu finden.

»Jetzt hab‘ ich’s,« rief endlich Frau Enderby, frohlockend. »Daß wir nicht mehr zu Fuß gehen können ist klar; seit Mittag haben wir neun Meilen zurückgelegt ohne einen Bissen zu essen – vier Meilen hin, zwei Meilen zu Mosley macht sechs, und dann noch bis hierher – es ist kaum zu glauben! Also, eine von uns muß mit Herrn Brown hinfahren und mit einer Alten zurückkommen; Brown leistet der andern Gesellschaft. Die übrigen gehen nach Nancys Wohnung, ruhen sich aus und warten; dann fährt eine von uns zurück, holt die andere Alte, und Herr Brown geht zu Fuß.«

»Vortrefflich,« riefen die Damen, »das können wir tun, so läßt sich’s machen!«

Frau Enderbys Plan ward sehr gelobt, und um ihren Scharfsinn zu ehren, beschloß man, daß sie zuerst mit Brown zurückfahren solle. Glücklich und leichten Herzens standen alle vom Rasen auf, strichen ihre Kleider glatt und schickten sich zur Heimkehr an, während Frau Enderby schon den Fuß auf den Wagentritt setzte, um einzusteigen. Da endlich konnte Brown Worte finden und stieß keuchend hervor:

»Bitte, rufen Sie die Damen zurück – ich fühle mich unwohl – ich kann nicht zu Fuß gehen – es ist mir völlig unmöglich.«

»O, lieber Herr Brown, Sie sehen wirklich ganz blaß aus! Weshalb habe ich das nur nicht gleich bemerkt? Kommt alle zurück, hört ihr? Herr Brown ist krank. Ach, es tut mir so leid. Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, o nein, mir fehlt nichts, ich fühle mich nur in letzter Zeit zu schwach – sonst hat es gar nichts auf sich.«

Die Damen kehrten um und waren voller Teilnahme und Mitgefühl. Auch machten sie sich bittere Vorwürfe, weil ihnen Browns blasses Aussehen nicht sofort aufgefallen war. Augenblicklich entwarfen sie einen neuen Plan und kamen bald überein, daß es sich so am allerbesten machen würde: Zuerst wollten sie alle zu Frau Taylor gehen; dort sollte sich Herr Brown im Wohnzimmer auf das Sofa legen und sich von Mary und ihrer Mutter pflegen lassen, während die andern Damen erst eine der alten Schwestern abholten und dann die andere, welcher eine von ihnen inzwischen Gesellschaft geleistet hatte, und –

Unter solchen Beratungen waren sie zu dem Pferde getreten und schickten sich an, den Wagen zu wenden. Aber in der höchsten Gefahr fand Brown die Stimme wieder und das war seine Rettung.

»Meine Damm,« sagte er, »Sie übersehen einen Umstand, der den Plan unausführbar macht. Wenn Sie die eine alte Schwester nach Hause bringen und jemand mit der andern dort bleibt, so sind drei Personen an Ort und Stelle, wenn eine von Ihnen zurückkommt, um die andere Alte zu holen. Aber drei haben nicht Platz im Wagen und jemand muß doch kutschieren.«

»Ganz recht, so ist es,« riefen alle in großer Bestürzung.

»Was sollen wir nur anfangen?« sagte Frau Glossop seufzend; »eine so verwickelte Geschichte ist mir noch nie vorgekommen. Die Sache mit dem Wolf, der Ziege und dem Kohlkopf ist dagegen nur ein Kinderspiel.«

Ganz ermattet setzten sie sich abermals nieder, um sich aufs neue das Hirn zu zermartern und einen Ausweg zu suchen. Mary hatte bisher noch keinen Vorschlag gemacht, endlich tat sie aber den Mund auf:

»Ich bin jung, stark und gut zu Fuße,« sagte sie, »auch habe ich jetzt eine Weile ausgeruht. Bringt Herrn Brown in unser Haus und sorgt für ihn – man sieht ihm ja an, wie sehr er der Pflege bedarf. Inzwischen will ich die beiden Alten behüten, in einer halben Stunde kann ich dort sein. Ihr andern aber führt unsern ersten Plan aus und paßt auf, bis ein Wagen auf der Landstraße vorbeifährt, den schickt ihr hin und laßt uns alle drei holen. Die Pächter kommen jetzt bald aus der Stadt zurück, da braucht ihr nicht lange zu warten. Der alten Polly will ich schon zureden, daß sie Geduld hat und guten Mutes bleibt – bei der Irrsinnigen ist das nicht nötig.«

Der Plan ward reiflich erwogen und gut befunden; etwas Besseres ließ sich unter den Umständen nicht tun, und den beiden Alten wurde gewiß die Zeit schon lang. Brown fühlte sich wie erlöst und von Herzen dankbar. Wenn er nur erst auf der Landstraße war, wollte er schon Mittel und Wege finden, dem Unheil zu entgehen.

»Die Abendkühle wird früh hereinbrechen,« sagte jetzt Frau Taylor, »und die armen Abgebrannten haben nichts, um sich zu erwärmen. Nimm die Wagendecke mit, liebes Kind, das ist wenigstens ein Notbehelf.«

»Das kann ich ja tun, Mutter, wenn du meinst,« versetzte Mary. Sie trat zum Wagen und streckte die Hand nach der Decke aus –

 

Weiter ging die Geschichte nicht. Der Passagier, der sie uns erzählte, sagte, er sei vor fünfundzwanzig Jahren, als er sie im Eisenbahnwagen las, an diesem Punkt unterbrochen worden, weil der Zug von einer Brücke ins Wasser stürzte.

Zuerst glaubten wir, es würde ein Leichtes sein, die Geschichte zu Ende zu bringen und gingen sehr zuversichtlich ans Werk. Bald stellte sich jedoch heraus, daß die Sache keineswegs so einfach war, sondern im Gegenteil höchst verworren und schwierig. Daran war Browns Charakter schuld – seine Großmut und Güte, verbunden mit außerordentlicher Schüchternheit und Befangenheit, besonders in Gegenwart von Damen. Ferner kam seine Liebe zu Mary mit ins Spiel, die zwar sehr hoffnungsvoll, aber noch keineswegs der Erhörung sicher war – das heißt, gerade in einem Stadium, wo die größte Vorsicht geboten schien, um weder einen Mißgriff zu begehen, noch Anstoß zu erregen. Und es galt die Mutter zu berücksichtigen, die noch schwankte, ob sie einwilligen solle, und die sich vielleicht jetzt oder nie gewinnen ließ, wenn man sie geschickt zu behandeln wußte. Im Walde warteten die beiden hilflosen Alten – ihr Schicksal und Browns künftiges Lebensglück hing von der nächsten Sekunde ab. Mary streckte die Hand nach der Wagendecke aus; es war keine Zeit zu verlieren.

Natürlich konnte der Preis nur jemand zuerkannt werden, der die Sache zu einem glücklichen Ende brachte. Browns Ansehen bei den Damen durfte nicht geschmälert, seine Selbstlosigkeit nicht in Frage gestellt, sein Anstandsgefühl nicht verletzt werden. Er mußte helfen die beiden Alten aus dem Walde zu holen, so daß man ihn als ihren Wohltäter pries, sein Lob in aller Munde war und sein Name mit Stolz und Freude genannt wurde.

Wir versuchten es so einzurichten; aber auf allen Seiten stellten sich uns unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Natürlich würde Brown aus Scham und Befangenheit die Wagendecke nicht hergeben wollen. Dies mußten Mary und ihre Mutter übel nehmen, und auch die anderen Damen würden sich sehr darüber verwundern, denn ein solches Benehmen, wo es den unglücklichen Alten zu helfen galt, paßte nicht zu Browns Charakter; er war ja als Engel vom Himmel gesandt und konnte unmöglich so eigennützig handeln. Hätte man eine Erklärung von ihm verlangt, so wäre er viel zu schüchtern gewesen, um die Wahrheit zu bekennen, und aus Mangel an Übung und Erfindungsgeist würde ihm keine glaubhafte Lüge eingefallen sein.

Wir arbeiteten bis drei Uhr morgens an dem schwierigen Problem herum; aber noch immer langte Mary nach der Wagendecke. Da gaben wir es auf und ließen sie weiter die Hand danach ausstrecken. – Nun kann sich der Leser selbst das Vergnügen machen, zu entscheiden, was aus der Sache geworden ist.

Eduard Jackson und Vanderbilt

Eduard Jackson und Vanderbilt

Schon einige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges erkannten einsichtige Leute an deutlichen Zeichen, daß die Stadt Memphis in Tennessee bald ein großer Stapelplatz für den Tabakhandel werden würde. Memphis hatte ein Werftboot zum Löschen der Güter, an welches die einlaufenden Dampfer anlegten. Aller Warenverkehr zwischen den Schiffen und dem Ufer ging über das breite Deck des Werftbootes hinüber und herüber. Zur Aufsicht war dabei eine Anzahl junger Beamter angestellt, die natürlich während einiger Stunden sehr viel zu tun hatten, aber den Rest des Tages müßig gingen und sich sterblich langweilten. In ihrem Jugendübermut griffen sie mit Wonne nach dem ersten besten Zeitvertreib und fanden ihr Hauptvergnügen darin, einander irgend welchen Schabernack zu spielen. Zur Zielscheibe ihrer Späße wählten sie meist ihren Kameraden Eduard Jackson, der selbst nie jemand etwas zu leide tat und sich leicht anführen ließ, weil er alles aufs Wort glaubte.

Eines Tages teilte er den Gefährten seinen Plan für die Ferien mit. Er wollte in diesem Jahre weder auf die Jagd noch auf den Fischfang gehen, sondern mit dem Sümmchen, das er von seinen vierzig Dollars Monatsgehalt erspart hatte, eine Reise nach New York machen.

Das war ein großartiges Unternehmen; etwa so merkwürdig wie heutzutage eine Reise um die Welt. Zuerst glaubten die jungen Leute, Ed sei ein wenig übergeschnappt; als sie aber sahen, daß es sein Ernst war, kamen sie sofort überein, daß man die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen dürfe, ohne ihm einen Streich zu spielen. Es fand eine geheime Beratung statt und bald war der Plan fertig. Man beschloß, daß einer der Verschwörer einen Empfehlungsbrief für Ed an Kommodore Vanderbilt, den berühmten New Yorker Millionär, verfassen solle. Das ließ sich ohne Schwierigkeit ausführen, auch konnte man Ed leicht überreden den Brief abzugeben. Aber, was er bei seiner Rückkehr nach Memphis tun würde, war eine ernstere Frage. Bisher hatte er zwar in seiner Gutherzigkeit alle Späße geduldig ertragen, diese waren jedoch harmlos gewesen und nicht dazu angetan ihn öffentlich zu beschämen. Das grausame Spiel aber, welches die Kameraden jetzt vorhatten, konnte ihnen gefährlich werden. Er war ein Südländer und er würde sicherlich die Verschwörer vor Wut umbringen wollen, sobald sie ihm in die Hände fielen! Den Plan aufzugeben war aber unmöglich. Der herrliche Spaß mußte ausgeführt werden, mochte daraus werden was wollte.

So wurde denn der Empfehlungsbrief mit aller Sorgfalt und Ausführlichkeit in durchaus freundschaftlichem Tone entworfen und ›Alfred Fairchild‹ unterschrieben. Der Überbringer – hieß es darin – sei der beste Freund vom Sohne des Briefstellers, ein wackerer junger Mann und trefflicher Charakter, den der Kommodore mit Wohlwollen aufnehmen möge. »Vielleicht,« – so fuhr der Schreiber fort – »hast du mich, deinen alten Schulkameraden, in den langen Jahren ganz vergessen, doch wird mein Andenken sofort wieder bei dir lebendig werden, wenn ich dich daran erinnere, wie wir an jenem Abend den Obstgarten des alten Stevenson zusammen geplündert haben. Weißt du noch, wie er auf der Straße hinter uns dreinlief und wir querfeldein rannten, durch das Hintergäßchen zurückkamen und uns bei seiner eigenen Köchin die gestohlenen Apfel für einen Hut voll Dampfnudeln eintauschten? Und dann damals, als wir – –« So ging es in dem Briefe immer weiter; alle möglichen erfundenen Namen früherer Schulgefährten und ihre gemeinsamen lustigen Streiche und Abenteuer wurden auf die anschaulichste und geschickteste Weise hineingeflochten.

Als nun der junge Fairchild seinen Kameraden mit großer Ernsthaftigkeit fragte, ob er einen Brief an Kommodore Vanderbilt zu haben wünsche, war Eduard Jackson sehr erstaunt, wie sich nicht anders erwarten ließ.

»Was,« rief er, »du kennst den großen Vanderbilt?!«

»Ich nicht, aber mein Vater. Sie waren zusammen auf der Schule. Wenn du willst, könnte ich meinen Vater schon bitten, dir einen Empfehlungsbrief zu schreiben. Ich weiß, er tut es mir zuliebe; in drei Tagen hast du ihn in Händen.«

Ed fand kaum Worte um seine Freude und Erkenntlichkeit auszudrücken. Als die drei Tage um waren, erhielt er das Empfehlungsschreiben und reiste ab, nachdem er noch allen ein herzliches Lebewohl gesagt und Fairchild dankbar die Hand gedrückt hatte. Als er fort war, wollten sich die Kameraden im Jubel über den gelungenen Spaß zuerst vor Lachen ausschütten, dann aber stiegen allerlei Zweifel in ihnen auf, ob die Täuschung nicht schlimme Folgen haben könne, und sie gerieten in eine recht kleinlaute Stimmung.

Bald nach seiner Ankunft in New York begab sich der junge Jackson nach dem Geschäftshaus von Kommodore Vanderbilt und ward in ein großes Vorzimmer geführt, wo ein paar Dutzend Leute geduldig harrten, bis die Reihe an sie käme, auf zwei Minuten bei dem Millionär vorgelassen zu werden. Ein Diener verlangte Jacksons Visitenkarte und erhielt statt dessen den Brief.

Gleich darauf ward Ed in das Privatbüro geführt. Herr Vandervilt war allein und hielt den offenen Brief in der Hand.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr – hm –«

»Jackson.«

»Richtig – also, bitte Herr Jackson, setzen Sie sich. Nach der Einleitung zu urteilen kommt dieser Brief von einem Jugendfreunde. Sie entschuldigen wohl – ich will nur rasch sehen, was er enthält. Da steht, wir hätten – ja aber, wer schreibt denn das?« Er wandte das Blatt und sah nach der Unterschrift. »Alfred Fairchild – hm – Fairchild – der Name ist mir nicht erinnerlich. Kein Wunder – wie viele

tausend Namen habe ich mit der Zeit vergessen. Und er weiß das alles noch – hm – hm – aber das ist wirklich gut – ein köstlicher Spaß! Ganz deutlich erinnere ich mich nicht daran – nur eine leise Ahnung habe ich noch, aber es wird mir wohl alles wieder einfallen. Ja wahrhaftig, mir ist als sähe ich es vor mir – nur undeutlich – aber doch – es ist ja auch schon so lange her – auf einige von den Namen besinne ich mich nicht genau – aber es wird mir ganz warm ums Herz dabei, als hätte ich meine verlorene Jugend wieder! – Doch zu Gefühlen ist jetzt keine Zeit, das Alltagsleben verlangt sein Recht – das Geschäft eilt und die Leute draußen warten – ich will mir den Schluß für heute nacht versparen, wenn ich zu Bett gehe – und von meinen Jugendtagen träumen. – Wenn Sie Fairchild wiedersehen – habe ich ihn nicht damals Alf genannt? – so danken Sie ihm herzlich in meinem Namen und sagen Sie ihm, daß sein Brief mich mitten in meiner Arbeitslast ordentlich erfrischt und verjüngt hat. Er soll mich stets bereit finden, für ihn oder einen seiner Freunde alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Sie aber, lieber Jackson, sind mein Gast. Bleiben Sie nur noch ein Weilchen hier sitzen, bis ich die Leute, die mich sprechen wollen, abgefertigt habe, dann gehen wir zusammen nach Hause. Verlassen Sie sich auf mich, mein Sohn, ich werde schon für Sie sorgen.«

Ed blieb eine Woche da und war glückselig. Er hatte keine Ahnung davon, daß Vanderbilts scharfes Auge ihn täglich beobachtete, um seine Gaben und Kräfte genau zu prüfen. In seinem Hochgenuß schrieb er gar nicht nach Hause, sondern sparte alles auf, um es den Gefährten bei der Heimkehr brühwarm zu erzählen.

Zweimal erinnerte er in größter Bescheidenheit daran, daß sein Besuch wohl jetzt lange genug gewährt habe; doch der Kommodore erwiderte nur: »Nein, gehen Sie noch nicht – ich will Ihnen schon sagen, wann es Zeit ist.«

Damals war Vanderbilt gerade mit seinen gewaltigsten Kombinationen beschäftigt, welche darauf ausgingen, die verschiedenen kleinen, zerstreuten Eisenbahnen in ein einheitliches System zu bringen und dem ungewiß schwankenden Handel und Verkehr einen festen Mittelpunkt zu geben. Unter anderm hatte sein weitschauender Blick auch die bereits erwähnten, wunderbar günstigen Konjunkturen für die Entwicklung eines großartigen Tabakhandels in Memphis erspäht, die er für seine Zwecke auszubeuten gedachte.

Als eine Woche um war, rief der Kommodore den jungen Jackson zu sich. »Sie können nun abreisen,« sagte er. »Aber zuvor möchte ich noch einmal mit Ihnen von geschäftlichen Dingen reden: In betreff jener Tabakangelegenheit sind Sie vollkommen unterrichtet; Sie wissen, daß ich das Geschäft machen will, weil ich es für vorteilhaft halte; auch in meine darauf bezüglichen Pläne habe ich Sie eingeweiht. Ihren Charakter und Ihre Fähigkeiten kenne ich jetzt so genau wie Sie sich selber kennen – vielleicht besser. Ich brauche einen zuverlässigen Mann, der imstande ist, die Verwaltung einer so wichtigen Sache zu übernehmen und mich in Memphis zu vertreten. Diese Stelle habe ich für Sie bestimmt.«

»Für mich!«

»Ja. Sie werden natürlich als mein Vertreter ein hohes Gehalt beziehen, das sich mit der Zeit steigern kann. Auch müssen Sie eine Anzahl Gehilfen haben; gehen Sie bei der Wahl sorgfältig zu Werke, stellen Sie nur brauchbare Leute an; wenn Sie tüchtige Freunde haben, geben Sie diesen den Vorzug. Nun leben Sie wohl, mein Sohn, und danken Sie Alf, daß er Sie mir geschickt hat.«

Sobald Ed in Memphis angekommen war, eilte er nach der Werft, denn er brannte vor Verlangen, den Gefährten die große Nachricht zu verkünden und ihnen nochmals für den Brief an Herrn Vanderbilt zu danken. Es war Mittagszeit, die Sonne glühend heiß und die Werft wie ausgestorben. Als Ed sich jedoch zwischen den Warenballen durchdrängte, sah er unter einem Schattendach eine Gestalt in weißem Leinwandanzug auf den Kornsäcken ausgestreckt im Schlummer liegen.

»Das ist ja Charley Fairchild,« rief er erfreut, trat hinzu und legte die Rechte zärtlich auf des Schläfers Schulter. Dieser rieb sich die Augen, blickte auf, ward totenblaß, glitt von den Säcken herunter und lief davon wie der Wind.

Ed sah ihm verwundert nach. Hatte Fairchild plötzlich den Verstand verloren? Was bedeutete diese schnelle Flucht? Langsam und nachdenklich schritt er nach dem Werftboot hin: als er an einem Haufen Frachtgüter vorbeikam, sah er zwei der Kameraden in heiterm Gespräch beisammen stehen. Kaum hatten sie ihn erkannt, so verstummte ihr Lachen, sie stoben auseinander und sprangen wie gehetzt über Ballen und Fässer davon. Ed wußte nicht, ob er wache oder träume und fand keine Erklärung für dies wunderliche Benehmen. Auf dem Werftboot angekommen, lehnte er sich gedankenvoll an das Geländer. Da stürzte plötzlich eine weiße Gestalt an ihm vorbei und sprang über Bord; prustend und keuchend tauchte sie wieder auf und eine Stimme rief:

»Geh‘ fort! Tu mir nichts! Ich bin’s nicht gewesen. Wahrhaftig, ich hab’s nicht getan!«

»Was soll denn das heißen? So komm doch herauf! Warum lauft ihr alle vor mir davon, ich habe doch nichts verbrochen!«

»Ja, bist du denn gar nicht böse auf uns?«

»Bewahre – weshalb? Ich denke nicht daran.«

»Der Tausend,« brummte der junge Mann im Wasser, »der Mensch hat Lunte gerochen und den Brief gar nicht abgegeben! Na, meinetwegen, ich werde mich hüten die Geschichte zur Sprache zu bringen.« Mit triefenden Kleidern kam er wieder an Bord gestiegen und schüttelte Ed die Hand. Nun schlichen auch die übrigen Verschwörer – bis an die Zähne bewaffnet – einer nach dem andern herbei. Als sie die friedliche Lage der Dinge erkannten, feierten sie gleichfalls ein Wiedersehen.

Auf alle Fragen Eds, was ihr sonderbares Benehmen ihm gegenüber zu bedeuten habe, antworteten sie ausweichend, es sei nur ein Spaß gewesen, und jeder dachte bei sich: »Er hat den Brief nicht abgegeben, und diesmal sind wir die Angeführten. Aber zum Glück weiß er es nicht, und keiner von uns wird dumm genug sein, es ihm zu sagen.«

Nun sollte aber Ed von der Reise erzählen. Er ließ ein paar Flaschen Wein auf Deck bringen und als sie alle gemütlich beisammen saßen und die Zigarren brannten, begann er seinen Bericht:

»Als ich Herrn Vanderbilt den Brief übergab –«

»Donnerwetter!«

»Was ist denn los – was erschreckt ihr mich so?«

»Ach nichts – es fuhr uns nur eben heraus.«

»Nun, wie gesagt, als ich den Brief übergab –«

»Hast du ihn wirklich abgegeben?«

Sie sahen einander ganz verblüfft an und hörten dann Eds Mitteilungen mit offenem Munde zu. Die wunderbare Geschichte benahm ihnen schier den Atem, sie waren stumm vor Staunen und zwei Stunden lang saßen sie wie versteinert da, ohne einen Laut von sich zu geben. Endlich war Ed Jackson bis zum Schluß seines Romans gekommen.

»Und euch, Jungens,« sagte er, »verdanke ich das alles; dafür will ich mich auch erkenntlich zeigen. Welcher Mensch hat wohl je so gute Freunde gehabt! Jeder von euch bekommt eine Stelle, denn ihr seid tüchtige Kerls, wenn ihr auch dann und wann einen schlechten Spaß macht. Dich aber, Charley Fairchild, ernenne ich zu meinem ersten Gehilfen, weil ich weiß, was du für ein kluger Geschäftsmann bist und weil du mir den Brief verschafft hast. Auch möchte ich damit deinem Vater eine Freude machen, der den Brief geschrieben hat und Herrn Vanderbilt, an den er gerichtet war. Und nun stoßt alle mit mir an, auf das Wohl des großen Mannes! Hoch soll er leben, dreimal hoch!«

Die Tabakspekulation hatte einen glänzenden Erfolg und so war auch hier der rechte Mann zur rechten Zeit erschienen, trotzdem er erst hatte von weither kommen müssen und nur mit Hilfe eines Schabernacks entdeckt worden war.

Mein Reisegefährte, der Reformator

Mein Reisegefährte, der Reformator

Es war im Frühjahr 1893; ich reiste nach Chicago, um die Weltausstellung zu sehen, sah sie zwar nicht, aber mein Ausflug war doch nicht ganz fruchtlos – ich fand Ersatz für die Ausstellung. In New York machte ich die Bekanntschaft eines Majors von der Armee, der mir sagte, er wolle ebenfalls nach Chicago gehen; wir verabredeten uns, die Reise zusammen zu machen. Ich hatte vorher noch etwas in Boston zu tun, aber das machte ihm nichts; er sagte, er wolle den Umweg machen und mitkommen. Er war ein schöner Mann, von einem Körperbau wie ein Gladiator, indes seine Manieren waren ruhig, seine Sprache war sanft und hatte etwas Überzeugendes an sich. Er war ein unterhaltender Gesellschafter, aber ungemein ruhig; dazu ohne jeglichen Sinn für Humor. Er nahm Interesse an allem, was um ihn herum vorging, allein sein Gleichmut war unerschütterlich; nichts brachte ihn aus der Ruhe, nichts regte ihn auf.

Bevor indessen der Tag zu Ende war, bemerkte ich, daß er tief im Innern trotz all seiner Ruhe eine Leidenschaft hatte – eine Leidenschaft für die Abstellung kleiner Mißstände im öffentlichen Leben. Er schwärmte für Bürgerpflicht – das war sein Steckenpferd. Er war der Meinung, jeder Bürger der Republik müsse sich selber als nichtamtlichen und unbesoldeten Polizisten betrachten und über den Gesetzen und ihrer Beobachtung treue Wacht halten. Seiner Ansicht nach waren die Rechte der Allgemeinheit auf wirksame Weise nur zu wahren und zu schützen, wenn jeder Bürger für sein Teil dazu half, daß jeder Verstoß, der zu seiner persönlichen Kenntnis kam, verhindert oder bestraft wurde.

Der Gedanke war gut; mir wollte nur scheinen, als ob man dabei fortwährend Unannehmlichkeiten haben müsse und nichts andres mehr zu tun habe, als pflichtwidrig handelnde kleine Beamte absetzen zu lassen, um vielleicht zum Dank dafür bloß ausgelacht zu werden. Aber er sagte nein, ich wäre auf dem Holzweg; es läge keine Veranlassung vor, irgend jemand absetzen zu lassen, ja es dürfe überhaupt niemand entlassen werden; das wäre gänzlich verfehlt – nein, man müßte den Mann reformieren und für die von ihm bekleidete Stelle brauchbar machen.

»Da muß man also den Sünder erst zur Anzeige bringen und dann den Vorgesetzten bitten, ihn nicht zu entlassen, sondern ihm nur einen tüchtigen Rüffel zu geben und ihn zu behalten?«

»Nein, so ist es nicht gemeint; Sie dürfen ihn überhaupt nicht anzeigen, denn damit bringen Sie sein täglich Brot in Gefahr. Sie könnten so tun, als ob Sie ihn anzeigen wollten – wenn alles andre nichts hilft. Aber nur im äußersten Notfall. Das ist schon eine Art von Gewalt, und Gewalt taugt nicht. Diplomatie – das hilft! Wenn nun jemand Takt besitzt – wenn er Diplomatie anwendet …«

Seit zwei Minuten waren wir vor einem Telegraphenschalter gestanden, und die ganze Zeit über hatte der Major sich bemüht, die Aufmerksamkeit eines der jungen Beamten zu erregen; aber von denen hatte keiner Zeit, weil sie alle Maulaffen feil hielten. Schließlich machte sich der Major bemerklich und bat einen von ihnen, ihm sein Telegramm abzunehmen. Er bekam zur Antwort:

»Sie können wohl ’ne Minute warten, was?«

Und der junge Mann sah wieder aus dem Fenster.

Der Major sagte ja, er hätte es nicht so eilig. Dann schrieb er ein zweites Telegramm:

»Präsident der Western Union Telegraph Company. Bitte, speisen Sie heute abend bei mir. Kann Ihnen etwas davon erzählen, wie in einem Ihrer Büros der Dienst gehandhabt wird.«

Der junge Mann, der eben vorher so schnippisch geantwortet hatte, streckte die Hand aus und nahm das Telegramm; als er es las, wurde er ganz blaß und begann sich zu entschuldigen. Er sagte, er würde seine Stellung verlieren, wenn dieses furchtbare Telegramm abginge, und vielleicht bekäme er keine andre wieder. Wenn es ihm nur noch diesmal so hinginge, so würde er in Zukunft keinen Anlaß zur Klage mehr geben. Daraufhin wurde der Friede geschlossen.

Als wir weitergingen, sagte der Major:

»Nun, sehen Sie, das war Diplomatie – und Sie haben bemerkt, wie sie wirkte. Es hätte gar keinen Zweck gehabt, Lärm zu machen, wie die Leute fortwährend tun – der junge Mensch kann einem mit gleicher Münze heimzahlen, und man zieht fast immer den kürzeren dabei und ärgert sich bloß über sich selber. Aber, wie Sie gesehen haben, gegen Diplomatie kann er nichts machen. Freundliche Worte und Diplomatie – das sind die Werkzeuge, mit denen man arbeiten muß.«

»Ja, ich verstehe; aber nicht jeder ist in so günstiger Lage, wie Sie in diesem Fall. Es steht eben nicht jedermann auf so vertrautem Fuß mit dem Präsidenten der Western Union.«

»Ich kenne den Präsidenten gar nicht – ich benutzte ihn nur zu diplomatischen Zwecken. Es geschieht zu seinem und zum allgemeinen Besten. Also nichts Böses dabei.«

Ich fragte zögernd und mit bedenklichem Gesicht: »Ist es aber überhaupt wohl jemals recht oder anständig, zu lügen?«

Die gelinde Selbstüberhebung, die in der Frage lag, beachtete er nicht, sondern antwortete mit unerschütterlich ernster Einfachheit:

»Ja, zuweilen. Wenn man lügt, um jemand Schaden zu tun oder um sich selber einen Vorteil zu verschaffen, so ist das nicht zu rechtfertigen. Wenn man dagegen lügt, um einem Nebenmenschen beizustehen oder um des allgemeinen Besten willen – oh, das ist ganz was andres! Das weiß ja jedes Kind. Aber ganz abgesehen von den Methoden – Sie sehen das Ergebnis. Der junge Mensch wird jetzt ein brauchbarer und höflicher Beamter werden. Er hatte ein gutes Gesicht. Es lohnte sich, ihn zu retten, – um seiner Mutter, wenn nicht um seiner selbst willen. Natürlich hat er eine Mutter – auch Schwestern. Hol‘ der Henker die Leute, die das fortwährend vergessen. Wissen Sie, ich habe nie in meinem Leben ein Duell gehabt – nicht ein einzigesmal –, obwohl ich so gut wie andre Leute Herausforderungen erhielt. Ich sah immer meines Gegners unschuldige Frau oder Mutter oder Kinderchen zwischen ihm und mir stehen. Sie hatten ja nichts getan – ich konnte doch nicht ihre Herzen brechen.«

Er verbesserte im Lauf des Tages eine hübsche Menge Mißstände, und stets ohne Reibung, stets mit einer feinem und zartfühlenden ›Diplomatie‹, die keinen Stachel zurückließ. Seine Leistungen bereiteten ihm so viel Glückseligkeit und Zufriedenheit, daß ich ihn um seinen Beruf beneidete und mich vielleicht auch darin versucht haben würde, wenn ich die notwendigen Abweichungen von der Wahrheit mit ebensolcher Zuversicht aus meinem Munde hervorbringen könnte, wie es mir mittels einer Feder und hinter der Deckung einer Druckerpresse nach einiger Übung wohl möglich wäre.

Als wir am späten Abend mit der Straßenbahn wieder in die Stadt hineinfuhren, kamen drei Radaubrüder in den Wagen und begannen nach rechts und links mit unflätigen Späßen und Flüchen um sich zu werfen. Die Passagiere, zum Teil Frauen und Kinder, hatten Angst, und kein Mensch wagte, den Knoten entgegenzutreten oder ein Wort zu erwidern; der Schaffner versuchte es mit gütlichem Zureden, aber die Rauhbeine gaben ihm einfach Schimpfworte zurück und lachten ihn aus. Sehr bald sah ich dem Major an, daß er hier einen Fall seiner Spezialität vor sich hatte; augenscheinlich musterte er in Gedanken seinen Vorrat von diplomatischen Mitteln. Ich sah mit Bestimmtheit voraus, daß ein derartiger Versuch ihm nur Spott und Hohn, vielleicht sogar noch Schlimmeres einbringen würde; aber bevor ich ihm diese Bemerkung zuflüstern konnte, sagte er bereits in gleichmütigem und leidenschaftslosem Ton:

»Schaffner, Sie müssen die Schweine ’nausschmeißen. Ich will Ihnen dabei helfen.«

Das hatte ich nicht erwartet. Schnell wie der Blitz fuhren die drei Knoten auf ihn los, aber kein einziger kam an ihn heran. Er teilte drei Faustschläge aus, wie man sie außerhalb eines Preisboxerringes zu sehen nicht erwarten konnte, und die drei Kerle blieben liegen, wo sie hingefallen waren. Der Major schleifte sie hinaus und warf sie von der Plattform des einen Moment haltenden Wagens hinunter; hierauf fuhren wir weiter.

Ich war erstaunt; erstaunt darüber, daß ein Lamm so vorgehen konnte; erstaunt über die von ihm entfaltete Kraft und über das klare und allgemeinverständliche Ergebnis; erstaunt über die gewandte und geschäftsmäßige Art, wie er das Ganze gemacht hatte. Die Situation hatte ihre humoristische Seite, insofern ich den ganzen Tag über von diesem schlagfertigen Herrn fortwährend Vorträge über sanfte Überredung und freundliche Diplomatie angehört hatte. Ich hätte ihn gern darauf hingewiesen und einige Sarkasmen darüber angebracht; aber als ich ihn ansah, merkte ich, daß das keinen Zweck haben würde. Auf seinem ruhigen und zufriedenen Gesicht lag keine Ahnung von Humor; er würde mich nicht verstanden haben. Als wir auf einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen waren, sagte ich zu ihm:

»Das war ein tüchtiger diplomatischer Streich, oder vielmehr es waren drei tüchtige diplomatische Streiche.«

»Das? Das war keine Diplomatie. Sie sind völlig auf dem Holzweg. Diplomatie ist ganz was andres. Damit ist bei der Sorte nichts auszurichten; sie würden’s nicht verstehen. Nein, das war keine Diplomatie, es war Gewalt.«

»Da Sie das Wort nennen, so – ja, ich glaube, Sie können vielleicht recht haben.«

»Vielleicht? Natürlich habe ich recht. Es war eben Gewalt!«

»Ich glaube selber, es hatte den äußeren Anschein. Versuchen Sie oft, Leute auf diese Art zu bessern?«

»O nein, das kommt beinahe nie vor. Nicht öfter, als jedes halbe Jahr einmal im Durchschnitt.«

»Die Leute werden doch mit dem Leben davonkommen?«

»Mit dem Leben davonkommen? Na, natürlich! Sie sind ganz außer Gefahr. Ich weiß, wie und wohin ich zu schlagen habe. Sie haben wohl bemerkt, daß ich nicht unter die Kinnlade schlug. Das würde sie getötet haben.«

Ich glaubte das. Ich bemerkte – und nach meiner Meinung war es ein ganz guter Witz –, er sei den ganzen Tag über ein Lamm gewesen, habe sich aber jetzt auf einmal zum Bock entwickelt, zum Sturmbock; aber er sagte mit freundlicher Offenheit und Unbefangenheit: nein, ein Sturmbock sei ganz was andres und jetzt nicht mehr im Gebrauch. Das war, um aus der Haut zu fahren, und ich wäre beinahe mit der Antwort herausgeplatzt, er habe von Witz nicht mehr Ahnung als ein Trampeltier. Ich hatte das Wort tatsächlich schon auf der Zunge, aber ich sagte es doch nicht, denn mir fiel ein, daß die Sache keine Eile habe, und ich es ebensogut ein andermal telephonisch abmachen könne.

Am nächsten Nachmittag fuhren wir nach Boston. Die Rauchabteilung im Salonwagen war voll, und wir gingen daher in das gewöhnliche Rauchcoupé. Drüben auf der andern Seite des Wagenganges, auf dem vordersten Sitz, saß ein bescheiden aussehender alter Mann – dem Anschein nach ein Landmann – mit bleichem, kränklichem Gesicht und hielt mit dem Fuß die Tür offen, um frische Luft zu bekommen. Auf einmal kam polternd ein großer Bremser herein; bei der Tür blieb er stehen, warf dem Landmann einen ganz wütenden Blick zu und schlug mit solcher Kraft die Tür zu, daß der alte Mann beinahe seine Stiefelsohle eingebüßt hätte. Dann machte er sich an seine Verrichtungen. Mehrere von den Passagieren lachten, und der alte Herr sah ganz beschämt und traurig drein.

Ein Weilchen darauf kam der Schaffner durch, und der Major hielt ihn an und stellte in seiner gewöhnlichen höflichen Weise die Frage:

»Schaffner, wo beschwert man sich über unangemessenes Betragen eines Bremsers? Bei Ihnen?«

»Sie können ihn in New Haven anzeigen, wenn Sie das wollen. Was hat er getan?«

Der Major erzählte die Geschichte. Sie schien den Schaffner zu amüsieren. Er sagte mit einer ganz kleinen Beimischung von Sarkasmus zu seinen köstlichen Worten:

»Wenn ich Sie recht verstehe, so sagte der Bremser nichts?«

»Nein, das tat er nicht.«

»Aber er sah den Herrn wütend an, sagten Sie?«

»Ja.«

»Und er warf in unhöflicher Weise die Tür zu?«

»Ja.«

»Und das ist alles, nicht wahr?«

»Ja, das ist alles.«

Der Schaffner lächelte freundlich und sagte:

»Na, wenn Sie ihn anzeigen wollen, meinetwegen; aber ich sehe nicht recht, wohin das führen könnte. Wenn ich recht begriffen habe, so wollen Sie vorbringen, der Bremser habe den alten Herrn hier beleidigt. Man wird Sie fragen, was er gesagt habe. Sie werden antworten, gesagt habe er überhaupt nichts. Dann wird man jedenfalls fragen, wie Sie von einer Beleidigung sprechen können, wenn der Mann, wie Sie selber zugeben, kein Wort gesagt hat.«

Ein Beifallsgemurmel belohnte den Schaffner für seine knappen und bündigen Schlußfolgerungen. Das machte ihm Vergnügen – man konnte es seinem Gesicht ansehen.

Aber der Major war unerschüttert. Er sagte:

»Ja, da haben Sie einen schreienden Übelstand im ganzen Beschwerdewesen berührt. Die Eisenbahnbehörden – wie übrigens auch das Publikum und allem Anschein nach Sie selber – wissen gar nicht, daß es auch Beleidigungen gibt, die nicht in Worten bestehen. Darum wendet sich niemand an die höchste Stelle und beschwert sich wegen Beleidigungen in Manieren, Gebärden, Blicken und so weiter, und trotzdem berühren solche zuweilen empfindlicher als Worte. Sie tun bitterlich weh, weil sie unfaßbar sind und weil der Beleidiger, wenn er von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt wird, immer sagen kann, es sei ihm nicht im Traum eingefallen, irgend jemand beleidigen zu wollen. Mir scheint, die Behörden sollten das Publikum dringend ersuchen, auch Beleidigungen und Unhöflichkeiten, die nicht in Worten ausgedrückt waren, zur Anzeige zu bringen.«

Der Schaffner lachte und sagte:

»Na, das hieße denn doch die Fürsorge fürs Publikum recht weit treiben!«

»Aber nicht zu weit, glaube ich. Ich will diesen Fall in New Haven zur Sprache bringen, und ich habe so eine Ahnung, daß man mir dankbar dafür sein wird.«

Des Kondukteurs Gesicht verlor etwas von seinem freundlichen Ausdruck, oder vielmehr es wurde vollkommen kühl und ernst, als der Mann wegging. Ich sagte:

»Sie wollen doch nicht wirklich wegen so einer Lappalie Lärm schlagen?«

»Es ist keine Lappalie. So etwas sollte stets angezeigt werden. Es ist eine öffentliche Angelegenheit, und kein Bürger hat das Recht, darüber hinwegzusehen. Aber ich werde mich über diesen Fall gar nicht zu beschweren brauchen.«

»Wieso?«

»Es wird nicht nötig sein. Diplomatie wird alles in Ordnung bringen. Sie werden schon sehen.«

Nach einiger Zeit kam der Schaffner wieder durch den Wagen; als er beim Major war, beugte er sich zu ihm herüber und sagte:

»’s ist alles in Ordnung. Sie brauchen den Mann nicht anzuzeigen. Er ist mir verantwortlich, und wenn er’s noch einmal tut, will ich ihm einen Rüffel geben.«

Der Major antwortete herzlich:

»Nun, so gefällt’s mir. Glauben Sie nicht, ich hätte aus Rachsucht so gesprochen, ich tat’s aus Pflichtgefühl, weiter nichts. Mein Schwager ist einer von den Direktoren der Bahn, und wenn er erfährt, daß Sie den Bremser das nächstemal, wenn er einen harmlosen alten Mann gröblich beleidigt, ganz gehörig vornehmen wollen, so wird ihn das freuen, darauf können Sie sich verlassen.«

Der Schaffner sah nicht so heiter drein, wie man vielleicht hätte erwarten können; er machte im Gegenteil den Eindruck, als ob ihm recht unbehaglich zu Mute wäre. Er dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Ich meine, irgend ‚was sollte gleich jetzt auf der Stelle mit ihm geschehen. Ich will ihn entlassen.«

»Ihn entlassen? Was sollte das für einen Zweck haben? Glauben Sie nicht, es wäre vernünftiger, ihm bessere Manieren beizubringen und ihn zu behalten?«

»Hm, da liegt was drin … Was würden Sie vorschlagen?«

»Er beleidigte den alten Herrn in Gegenwart all dieser Herrschaften. Wie wär’s, wenn Sie ihn hereinkommen ließen, daß er in ihrer Gegenwart Abbitte tut?«

»Ich werde ihn sofort schicken. Und ich möchte noch eins bemerken: Wenn alle Leute es so machten wie Sie und solche Sachen sofort bei mir meldeten, anstatt ihren Ärger bei sich zu behalten und nachher herumzulaufen und auf die Eisenbahnen zu schimpfen, so sollten Sie mal sehen, wie schnell sich alles ändern würde. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Der Bremser kam und leistete Abbitte. Als er wieder hinaus war, sagte der Major:

»Sehen Sie wohl, wie einfach und leicht das war? Der gewöhnliche Bürger würde nichts ausgerichtet haben – der Schwager eines Direktors bringt alles fertig, was er nur will.«

»Aber sind Sie wirklich der Schwager von einem der Direktoren?«

»Immer. Immer, wenn das öffentliche Interesse es erfordert. Ich habe einen Schwager in allen Direktionen – überall. Das erspart mir endlose Verdrießlichkeiten.«

»Es ist eine recht ausgebreitete Verwandtschaft.«

»Ja; ich habe ihrer mehr als dreihundert.«

»Wird die Verwandtschaft niemals von einem Schaffner angezweifelt?«

»Es ist mir noch niemals vorgekommen; auf mein Ehrenwort: niemals!«

»Warum ließen Sie ihn denn nicht, wie er’s wollte, den Bremser fortjagen? Sie wissen, daß der Mensch es verdiente?«

Der Major antwortete – und in seinem Tone lag wirklich ein an ihm ganz ungewohnter Anflug von Ungeduld:

»Wenn Sie bloß mal einen Augenblick nachdenken wollten, so würden Sie eine solche Frage nicht stellen. Ist ein Bremser ein Hund, und kann man ihn nicht anders erziehen wie einen Hund? Er ist ein Mensch und hat wie ein Mensch um seinen Lebensunterhalt zu ringen. Und er hat stets eine Schwester oder eine Mutter oder Weib und Kinder zu erhalten. Immer – Ausnahmen gibt es nicht. Wenn Sie ihm seinen Lebensunterhalt nehmen, so nehmen Sie auch den ihrigen weg – und was haben sie Ihnen getan? Nichts. Und was hat es für Zweck, einen unhöflichen Bremser fortzujagen und einen andern anzustellen, der gerade so ist wie er? Es wäre eine Unklugheit. Sehen Sie denn nicht ein, daß es das einzig Vernünftige ist, den Bremser zu bessern und ihn zu behalten? Das ist doch klar.«

Während der ferneren Fahrt hatten wir bloß noch ein Erlebnis. Zwischen Hartfort und Springfield kam mit dem üblichen Gebrüll der Buchhandlungsjunge durch den Wagen; er hatte einen ganzen Arm voll Bücher und Zeitungen und ließ ein dickes Heft einem schlafenden Herrn in den Schoß fallen, so daß er ganz erschrocken emporfuhr. Er war sehr ärgerlich, und er sowie zwei Freunde ergingen sich in sehr hitzigen Reden über den Frevel. Sie ließen den Salonwagenschaffner kommen, trugen ihm den Fall vor und verlangten, der Junge müsse durchaus fortgejagt werden. Die drei Beschwerdeführer waren reiche Holyoker Kaufleute, und der Schaffner hatte offenbar ziemliche Angst vor ihnen. Er suchte sie zu beschwichtigen und setzte ihnen auseinander, der Junge stehe nicht unter seiner Machtbefugnis, sondern sei Angestellter der Eisenbahnbuchhandlung. Aber all sein Reden nutzte ihm nichts.

Hierauf erbot sich der Major freiwillig, für den Beschuldigten zu zeugen. Er sagte:

»Ich habe alles mitangesehen. Sie, meine Herren, haben nicht übertreiben wollen, haben es aber doch getan. Der Junge hat nichts weiter getan, als was die Bahnzugjungen alle tun. Wenn Sie wünschen, daß er anständigere Manieren annimmt und sich bessert, so bin ich mit Ihnen einverstanden und bereit, Ihnen bei diesen Bemühungen zu helfen; aber es ist nicht recht, ihn einfach wegzujagen, ohne ihm eine Möglichkeit der Besserung zu geben.«

Aber sie waren ärgerlich und wollten von einem Vergleich nichts wissen. Sie wären gut bekannt mit dem Präsidenten der Boston- und Albany-Gesellschaft, sagten sie, und wollten den nächsten Tag alles andere liegen lassen, um nach Boston zu gehen und dem Jungen zu zeigen, wer sie wären.

Der Major sagte, da wollte er auch dabei sein, und er würde alles tun, was in seinen Kräften stände, um den Jungen zu retten. Einer von den Herren sah ihn von oben bis unten an und sagte:

»Da kommt es also offenbar darauf hinaus, wer den größten Einfluß beim Präsidenten der Gesellschaft hat. Kennen Sie Herrn Bliß persönlich?«

Der Major sagte in aller Ruhe:

»Ja; er ist mein Oheim.«

Die Wirkung war zufriedenstellend. Ein paar Minuten lang herrschte ein peinliches Schweigen. Dann fingen sie an einzulenken und halbe Zugeständnisse zu machen, daß sie wohl etwas zu hastig und überempfindlich gewesen seien. Und bald war alles wieder friedlich und gemütlich, und es wurde beschlossen, die Sache fallen zu lassen und dem Jungen sein Brot (mit Butter) zu lassen.

Der Präsident der Eisenbahngesellschaft war natürlich nicht des Majors Oheim – nur für diesen Tag und diesen Zug adoptiert!

Auf der Rückreise erlebten wir gar nichts: wahrscheinlich, weil wir mit einem Nachtzug fuhren und den ganzen Weg über schliefen.

Am Samstagabend fuhren wir mit der Pennsylvaniabahn von New York ab. Nach dem Frühstück am andern Morgen gingen wir in den Salonwagen, fanden es aber dort öde und ungemütlich. Es waren nur ein paar Leute drin und nichts los. Hierauf gingen wir in den kleinen Rauchabteil des Salonwagens und fanden dort drei Herren. Zwei von ihnen schimpften über eine Vorschrift der Bahnverwaltung: daß nämlich Sonntags in den Zügen nicht Karten gespielt werden dürfte. Sie hatten ein unschuldiges Spielchen gemacht, und es war ihnen verboten worden, weiter zu spielen. Der Fall interessierte unsern Major. Er sagte zu dem dritten Herrn:

»Hatten Sie etwas gegen das Spielen einzuwenden?«

»Durchaus nicht. Ich bin Professor an der Yale-Universität und ein religiöser Mann, aber das geht mir zu weit.«

Hierauf sagte der Major zu den beiden andern:

»Sie können ganz nach freiem Belieben Ihr Spiel wieder aufnehmen, meine Herren; niemand hier hat etwas dagegen einzuwenden.«

Einer von ihnen wollte es nicht riskieren; aber der andere meinte, er wolle gern wieder anfangen, wenn der Major mit ihm spiele. Sie legten also einen Überzieher über ihre Knie, und das Spiel nahm seinen Fortgang. Ziemlich bald nachher kam der Salonwagenschaffner herein und sagte in scharfem Tone:

»Hoho, meine Herren, das geht nicht! Stecken Sie die Karten ein – es ist nicht erlaubt.«

Der Major war gerade beim Mischen. Er mischte ruhig weiter und sagte:

»Auf wessen Befehl ist es verboten?«

»Das ist mein Befehl. Ich verbiete es.«

Der Major fing an zu geben und fragte:

»Ist die Idee von Ihnen?«

»Was für ’ne Idee?«

»Die Idee, das Kartenspielen an Sonntagen zu verbieten.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Von wem dann?«

»Von der Gesellschaft.«

»Dann geht ja eigentlich der Befehl nicht von Ihnen, sondern von der Gesellschaft aus. Stimmt das?«

»Ja. Aber Sie hören ja nicht auf zu spielen; ich muß Sie ersuchen, daß Sie augenblicklich aufhören.«

»Übereilung ist zu nichts gut und tut oft Schaden. Wer ermächtigte die Gesellschaft, einen solchen Befehl zu erlassen?«

»Mein werter Herr, das geht mich gar nichts an, und …«

»Aber Sie vergessen, daß Sie nicht der einzige sind, der hier in Betracht kommt. Vielleicht geht es mich sehr nahe an. Ja, es ist in der Tat für mich eine Sache von sehr großer Bedeutung. Ich kann eine gesetzmäßige Vorschrift meines Landes nicht verletzen, ohne mich selber zu entehren; ich kann keinen Menschen und keiner Gesellschaft erlauben, meine Freiheit mit ungesetzlichen Vorschriften einzuschränken – was Eisenbahnverwaltungen fortwährend zu tun versuchen – ohne meine Bürgerwürde zu entehren. Ich komme daher auf meine Frage zurück: auf welche Autorität hin hat die Verwaltung diesen Befehl erlassen?«

»Das weiß ich nicht. Das ist ihre Sache!«

»Meine auch. Ich zweifle, ob die Gesellschaft überhaupt ein Recht hat, eine derartige Vorschrift zu erlassen. Die Bahn führt durch verschiedene Staaten. Wissen Sie, in welchem Staat wir augenblicklich sind, und wie die gesetzlichen Vorschriften dieses Staates in Bezug auf das Kartenspielen am Sonntag lauten?«

»Diese gesetzlichen Vorschriften gehen mich nichts an, wohl aber die Befehle meiner Gesellschaft. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß dies Spielen aufhört, meine Herren, und es muß aufhören!«

»Kann sein; aber trotzdem brauchen wir uns nicht zu übereilen. In Gasthäusern schlagen sie gewisse Vorschriften in den Zimmern an, aber stets führen sie dabei Paragraphen aus den Staatsgesetzen an. Hier sehe ich nichts derart angeschlagen. Bitte, weisen Sie Ihre Berechtigung nach und lassen Sie uns zum Schluß kommen, denn Sie sehen selber, daß Sie das Spiel aufhalten.«

»So etwas habe ich nicht, aber ich habe meine Befehle, und das genügt. Diesen Befehlen muß gehorcht werden.«

»Wir wollen nicht zu hastig in unsern Folgerungen sein. Es wird besser sein, wenn wir die Sache ohne Hitze und ohne Hast untersuchen und uns erst mal ansehen, wie es steht, bevor einer von uns einen Mißgriff macht – denn wenn die Freiheiten eines Bürgers der Vereinigten Staaten beschnitten werden, so ist das ein viel ernsteres Ding, als Sie und die Bahnverwaltungen zu ahnen scheinen, und ich für meine Person lasse es mir nicht gefallen, wenn der Betreffende mir nicht die Berechtigung seines Vorgehens nachweist. Nu …«

»Mein werter Herr, wollen Sie Ihre Karten hinlegen?«

»Alles zu seiner Zeit – vielleicht. Es kommt darauf an. Sie sagen, diesem Befehl muß gehorcht werden. Muß. Das ist ein starkes Wort. Sie sehen selber, wie stark es ist. Eine vernünftige Verwaltung wird Sie – natürlich! – nicht mit einem so drastischen Befehl bewaffnen, ohne eine Buße auf jede Verletzung der Vorschrift zu legen. Sonst könnte es leicht ein toter Buchstabe und ein lächerlicher Befehl bleiben. Wieviel beträgt die Buße für Übertretung dieses Gesetzes?«

»Buße? Davon habe ich niemals etwas gehört.«

»Unfraglich müssen Sie sich irren. Ihre Gesellschaft befiehlt Ihnen, hier hereinzukommen und in schroffer Weise eine unschuldige Unterhaltung zu verbieten, und gibt Ihnen kein Mittel an die Hand, um dem Befehl Geltung zu verschaffen? Sehen Sie nicht ein, daß das Unsinn ist? Was tun Sie denn, wenn Leute sich weigern, dem Befehl zu gehorchen? Nehmen Sie ihnen die Karten weg?«

»Nein.«

»Weisen Sie den Frevler auf der nächsten Haltestelle aus dem Zug?«

»Na, das können wir doch natürlich nicht, wenn einer seine Fahrkarte hat!«

»Verklagen Sie ihn vor Gericht?«

Der Schaffner schwieg: augenscheinlich war er verwirrt. Der Major gab neue Karten und sagte:

»Sie sehen selber, daß Sie hilflos sind und daß die Gesellschaft Sie in eine lächerliche Stellung gebracht hat. Man überträgt Ihnen das Amt, eine anmaßende Vorschrift durchzuführen, Sie machen das mit Lärmen und Toben, und wenn Sie näher zusehen, so finden Sie, daß Sie kein Mittel haben, sich Gehorsam zu erzwingen.«

Hierauf sagte der Schaffner mit kühler Würde:

»Meine Herren, Sie haben den Befehl gehört, und damit habe ich meine Schuldigkeit getan. Ob Sie dem Befehl nachkommen oder nicht, das werden Sie machen, wie’s Ihnen gutdünkt.« Damit wandte er sich zum Gehen.

»Bitte, warten Sie doch noch. Die Sache ist noch nicht zu Ende. Ich glaube, Sie irren sich, wenn Sie meinen, Ihre Schuldigkeit getan zu haben; aber wenn das wirklich der Fall ist, so habe ich jetzt selber eine Schuldigkeit zu erfüllen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Werden Sie meinen Ungehorsam bei der Direktion in Pittsburg zur Anzeige bringen?«

»Nein. Wozu auch?«

»Sie müssen mich anzeigen, oder ich werde Sie anzeigen!«

»Anzeigen – weswegen?«

»Wegen Ungehorsams gegen die Befehle Ihrer Gesellschaft, indem Sie nicht unserm Spiel Einhalt getan haben. Als Bürger habe ich die Pflicht, den Eisenbahngesellschaften beizustehen, daß ihre Angestellten den Dienst ordentlich versehen.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Ja, in vollem Ernst. Ich habe nichts gegen Sie als Menschen, aber ich muß Ihnen als Beamten den Vorwurf machen, daß Sie Ihren Befehl nicht ausgeführt haben, und wenn Sie mich nicht anzeigen, muß ich Sie anzeigen. Und das werde ich auch tun.«

Der Schaffner sah ganz verblüfft drein und dachte einen Augenblick nach; dann rief er:

»Ich habe mich da, wie’s scheint, selber in eine nette Patsche gebracht. Das Ganze ist ja ein großer Kuddelmuddel; ich werde absolut nicht mehr klug daraus. So was ist mir noch niemals vorgekommen. Die Leute haben sich stets gefügt und nie ein Wort gesagt, daher habe ich auch gar nicht bemerkt, wie lächerlich der dumme Befehl ohne Strafbestimmungen ist. Ich wünsche niemand anzuzeigen, wünsche aber auch selber nicht angezeigt zu werden – um Gottes willen, davon könnte ich ja endlose Scherereien haben! Bitte, spielen Sie nur ruhig weiter – spielen Sie den ganzen Tag, wenn Sie Lust haben –, und reden wir nicht mehr davon!«

»Nein, ich habe bloß diesen Platz hier eingenommen, um die Rechte dieses Herrn hier zu vertreten – jetzt kann er selbst weiterspielen. Doch bevor Sie gehen – wollen Sie mir nicht vielleicht sagen, weshalb nach ihrer Meinung die Gesellschaft diese Vorschrift erlassen hat?«

»Der Grund für die Vorschrift ist vollkommen klar und einfach; sie ist erlassen aus Rücksicht auf die Gefühle, ich meine die religiösen Gefühle der Mitfahrenden. Es ist vielen unter ihnen peinlich, wenn durch Kartenspielen auf den Eisenbahnen der Sonntag entheiligt wird.«

»So dachte ich mir’s auch. Sie finden nichts dabei, den Sonntag durch Reisen zu entheiligen, aber sie wollen nicht dulden, daß andre Leute …«

»Wahrhaftig, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf diesen Gedanken war ich noch nie gekommen. Aber es ist wirklich eine alberne Vorschrift, wenn man genauer zusieht.«

In diesem Augenblick kam der Zugführer herzu und wollte sehr von oben herab das Kartenspielen untersagen, aber der Schaffner nahm ihn auf die Seite, um ihm den Fall auseinanderzusetzen. Wir hörten kein Wort mehr von der Geschichte.

In Chicago lag ich elf Tage lang krank zu Bett und bekam daher von der Weltausstellung keinen Schimmer zu sehen, denn ich war genötigt, nach dem Osten zurückzukehren, sobald ich wieder reisefertig war. Am Tage vor unserer Abreise bestellte der Major eine Salonabteilung in einem Schlafwagen und bezahlte den Preis dafür. Ich hatte also einen bequemen großen Raum zur Verfügung; als wir aber auf dem Bahnhof ankamen, stellte sichs heraus, daß aus Versehen unser Wagen nicht angehängt worden war. Der Schaffner hatte einen Abteil für uns freigehalten – mehr könne er nicht tun, sagte er. Aber der Major sagte, wir hätten es nicht so eilig und wollten warten, bis der Wagen angehängt sei. Hierauf antwortete der Schaffner mit freundlicher Ironie:

»Mag sein, daß Sie es nicht eilig haben, wie Sie soeben sagten, aber wir haben’s eilig. Bitte, einsteigen, meine Herren, einsteigen! Lassen Sie uns nicht warten!«

Aber der Major wollte nicht einsteigen und ließ auch nicht zu, daß ich es tat. Er verlangte seinen Wagen und sagte, er müsse ihn haben. Dies machte den vor Geschäftigkeit schwitzenden Schaffner ungeduldig, und er rief:

»Wir haben unser möglichstes getan – Unmögliches können wir nicht fertig bringen. Sie werden diesen Abteil nehmen oder gar keinen. Es ist ein Versehen vorgekommen, und das kann nicht in diesem letzten Augenblick wieder gutgemacht werden. So etwas kommt ab und zu vor, und man kann nichts andres tun, als sich so gut wie möglich darein zu finden. Andre Leute machend auch so.«

»Ach ja, das ist es eben! Hätten sie auf ihren Rechten bestanden, so würden Sie jetzt nicht versuchen, die meinigen so mir nichts dir nichts unter die Füße zu treten. Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Ihnen unnötiger Weise Verlegenheiten zu bereiten, aber es ist meine Pflicht, den nächsten, dem das Gleiche passieren könnte, vor derartigem zu bewahren. Ich muß also meinen Wagen haben. Sonst werde ich in Chicago warten und die Eisenbahngesellschaft wegen Verletzung des mit mir abgeschlossenen Vertrages verklagen.«

»Die Gesellschaft verklagen? Wegen so einer Kleinigkeit?«

»Gewiß.«

»Ist das wirklich Ihre Absicht?«

»Allerdings.«

Der Schaffner sah den Major mit einem erstaunt prüfenden Blick an; dann sagte er:

»Donnerwetter, so ‚was! Das war noch nicht da – ist mir noch niemals vorgekommen. Aber ich will darauf schwören, Sie täten’s. Hören Sie, ich will den Bahnhofsvorsteher holen.«

Der Bahnhofsvorsteher war nicht wenig ärgerlich – auf den Major, nicht auf den Mann der das Versehen gemacht hatte. Er war ziemlich kurz angebunden und stellte sich auf den gleichen Standpunkt wie anfangs der Schaffner; aber das rührte den Artilleristen durchaus nicht; er bestand mit seiner freundlichen Ruhe darauf, er müsse seinen Wagen haben. Offenbar lag in diesem Fall der ganze Vorteil des Rechts nur auf der einen Seite, und zwar auf der des Majors. Der Stationsvorsteher gab sein ärgerliches Wesen auf und wurde höflich; er bat sogar halb und halb um Entschuldigung. Dies war eine gute Eröffnung von Vergleichshandlungen, und der Major gab nun auch etwas nach. Er sagte, er wolle auf die bestellte und bezahlte Salonabteilung verzichten, aber eine Salonabteilung müsse er haben. Nach einigem Suchen wurde eine gefunden, deren Inhaber sich überreden ließ; er vertauschte sie mit unserm Sonderabteil und wir fuhren endlich ab.

Am Abend besuchte der Schaffner uns und war freundlich und höflich und zuvorkommend. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander und wurden schließlich gut Freund. Er sagte, er wünsche, das Publikum beschwerte sich öfter – das würde von guter Wirkung sein. Man könnte nicht erwarten, daß die Bahnverwaltungen den Reisenden gegenüber ihre Schuldigkeit täten, solange nicht die Reisenden sich selber darum bekümmerten.

Ich hoffte, wir hätten jetzt auf unsrer Reise genug reformiert, aber dem war nicht so. Am andern Morgen bestellte der Major, als wir im Speisewagen saßen, ein gebratenes Huhn. Der Kellner sagte:

»Es steht nicht auf der Speisekarte, Herr; wir servieren nichts, was nicht auf der Karte steht.«

»Der Herr da drüben ißt Huhn.«

»Ja, das ist aber ‚was andres. Er ist Betriebsdirektor bei der Gesellschaft.«

»Dann muß ich erst recht gebratenes Huhn haben. Solche Unterscheidung liebe ich nicht. Bitte schnell – bringen Sie mir ein gebratenes Huhn!«

Der Kellner kam mit dem Steward, und dieser setzte leise und höflich dem Major auseinander, es ließe sich unmöglich machen – es wäre gegen die Vorschrift, und die Vorschrift laute auf das strengste.

»Sehr wohl; dann müssen Sie sie entweder unparteiisch anwenden oder sie unparteiisch brechen. Sie müssen dem Herrn sein Huhn wegnehmen oder mir auch eins bringen.«

Der Steward wußte nicht, was er machen sollte. Er begann eine unzusammenhängende Erklärung vom Stapel zu lassen, und in diesem Augenblick kam der Schaffner vorbei und fragte, wo’s fehle. Der Steward setzte ihm auseinander, da wäre ein Herr, der durchaus ein Huhn haben wollte, obwohl das doch gegen die Vorschrift wäre und jenes Gericht nicht auf der Speisekarte stände. Der Schaffner sagte:

»Halten Sie sich an Ihre Vorschrift – eine andre Wahl gibts nicht für Sie. Aber warten Sie ‚mal ’nen Augenblick – ist das der Herr?« Dann lachte er und fuhr fort: »Lassen Sie lieber Ihre Vorschriften – ich rate Ihnen – und ich weiß warum –, geben Sie ihm alles, was er verlangt, und wenn Sie’s nicht haben, so lassen Sie den Zug halten und besorgen Sie’s.«

Der Major aß das Huhn, aber er sagte mir, er täte es nur aus Pflichtgefühl und des Prinzips wegen, denn eigentlich möge er Huhn gar nicht.

Ich verfehlte allerdings die Weltausstellung, aber ich lernte dafür ein paar diplomatische Kunstgriffe kennen, die sich mir und dem Leser vielleicht im Laufe der Zeit als bequem und praktisch erweisen werden.