Einundzwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Langsam schleppten sich die Wochen dahin; niemand besuchte die Brüder im Gefängnis außer ihrem Verteidiger und der Tante Patsy Cooper. Endlich kam der Tag der Gerichtsverhandlung; es war der schwerste Tag in Wilsons Leben, denn trotz seiner unausgesetzten Bemühungen hatte er auch nicht die leiseste Spur des fehlenden Mitverschworenen entdeckt. Ob die Bezeichnung ›Mitverschworener‹ für jene unbekannte Persönlichkeit überhaupt die richtige war, schien ihm allerdings zweifelhaft. Er hatte sie eben stillschweigend gewählt, obwohl er nie begreifen konnte, warum die Zwillinge nicht gleichfalls entflohen und verschwunden waren, statt auf dem Schauplatz des Mordes zurückzubleiben und sich festnehmen zu lassen.

Scharen von Menschen strömten nach dem Gerichtshause; das Gedränge dort war groß, und man konnte voraussehen, daß es bis zum Schluß der Verhandlung nicht abnehmen würde, denn nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch auf viele Meilen im Umkreis, sprach man im Volke von nichts anderem. Neben Pembroke Howard, dem Staatsanwalt, hatten die nächsten Anverwandten ihre Plätze; dort saß Frau Pratt in tiefer Trauer, und Tom mit dem Kreppstreifen um den Hut. Hinter ihnen nahmen die zahlreichen Freunde der Familie die ersten Bänke ein.

Zu dem Verteidiger der Zwillinge hielt sich niemand, außer ihrer armen, alten, tiefbetrübten Wirtin! Sie saß an Wilsons Seite und machte ein so freundliches Gesicht, wie sie irgend konnte. Im Negerwinkel hatte sich Schamber eingefunden, desgleichen Roxy, die ihren Kaufbrief in der Tasche trug. Es war ihr teuerstes Besitztum, von dem sie sich weder bei Tag noch bei Nacht trennen mochte. Als Tom in sein Erbe gekommen war, hatte er ihr ein Monatsgeld von fünfunddreißig Dollars ausgesetzt und geäußert, sie müßten beide den Zwillingen dankbar sein, die sie reich gemacht hätten. Darüber war Roxy aber in so großen Zorn geraten, daß Tom sich wohl hütete, die Bemerkung noch einmal zu machen. Der alte Richter, sagte sie, sei gegen ihren Sohn viel tausendmal zu gut gewesen und ihr selbst hätte er sein Leben lang nichts zu leide gethan. Sie wäre ganz wild vor Wut über die beiden ausländischen Teufel, die ihn umgebracht hätten und würde nicht eher wieder ruhig schlafen, bis sie am Galgen hingen. Sobald ihnen das Urteil gesprochen wäre, wollte sie laut ›Hurrah‹ schreien, daß die Wände davon wiederhallten, und wenn sie der Bezirksrichter auch ein Jahr lang dafür ins Gefängnis steckte.

Pembroke Howard trug als Staatsanwalt die öffentliche Anklage in kurzen Worten vor. Er machte sich anheischig, durch eine zusammenhängende Kette von Beweisen überzeugend darzuthun, daß der Hauptangeklagte den Mord begangen habe, teils aus Rache und teils um sein eigenes Leben vor Gefahr zu schützen. Sein Bruder aber sei bei dem Verbrechen zugegen gewesen und habe dadurch seine Zustimmung und Mitschuld kundgethan. Dieser Meuchelmord, einem tückischen, verworfenen Gemüt entsprungen, sei die verruchteste That, die eine feige Hand nur begehen könne. Sie habe das Herz einer liebenden Schwester gebrochen und das Glück eines jungen Neffen zerstört, der dem Toten so teuer gewesen sei wie ein eigener Sohn. Zahlreiche Freunde beklagten ihren unersetzlichen Verlust, und die ganze Stadt trauere um ihren trefflichsten Bürger. Deshalb fordere das Gesetz für den Frevel die höchste zulässige Strafe, die auch ohne Zweifel an dem hier gegenwärtigen Uebelthäter in aller Strenge vollzogen werden würde. Das übrige, was er noch zu sagen habe, wolle er für seine Schlußbemerkung aufsparen.

Der Redner war heftig bewegt und mit ihm das ganze Haus. Als er wieder Platz nahm, brachen Frau Pratt und einige ihrer Freundinnen in Thränen aus, und mancher haßerfüllte Blick flog zu den unglücklichen Gefangenen hinüber.

Ein Zeuge nach dem andern wurde nun aufgerufen und eingehend befragt, aber ihr Kreuzverhör war kurz, weil Wilson wohl wußte, daß sie nichts auszusagen hatten, was sich für die Verteidigung verwerten ließ. Der Querkopf wurde von aller Welt bedauert, denn in diesem Prozeß konnte er für seine kaum erst begonnene Laufbahn keine Lorbeeren pflücken.

Mehrere Zeugen versicherten bei ihrem Eide, sie hätten den Richter Driscoll in öffentlicher Versammlung sagen hören, daß die Brüder ihr verlorenes Dolchmesser schon wiederfinden würden, wenn sie es brauchen wollten, um jemand damit umzubringen. Das war nichts Neues, doch wurde man jetzt inne, auf wie traurige Weise sich die Prophezeiung erfüllt hatte. Es machte großen Eindruck auf alle Gemüter, und über den ganzen Gerichtssaal lagerte sich eine tiefe Stille, als die unheilvollen Worte wiederholt wurden.

Nun erhob sich der Staatsanwalt wieder und sagte, er wisse aus seinem letzten Gespräch mit dem Richter Driscoll, daß der Herr Verteidiger, als Ueberbringer einer Herausforderung seitens des Hauptangeklagten, zu ihm gekommen wäre. Der Richter habe sich jedoch geweigert, einem Menschen, der eines Mordes schuldig sei, auf dem Felde der Ehre Genugthuung zu geben. Anderswo, habe er bedeutsam hinzugefügt, wäre er zum Kampfe bereit. Vermutlich habe man den Angeklagten gewarnt und benachrichtigt, daß er bei der ersten Begegnung darauf gefaßt sein müsse, entweder den Richter selbst zu töten oder sich von ihm über den Haufen schießen zu lassen. Wenn der Herr Verteidiger gegen die Richtigkeit dieser Angaben nichts einzuwenden hätte, würde es nicht erforderlich sein, ihn als Zeuge zu vernehmen. Wilson erwiderte darauf, er wolle die Thatsachen nicht bestreiten.

(»Mit Wilsons Verteidigung sieht es windig aus« – diese und ähnliche Bemerkungen wurden im Saale geflüstert.)

Frau Pratt sagte aus, sie habe keinen Schrei gehört und wisse nicht, wovon sie aufgewacht sei; vielleicht hätte das Geräusch rascher Schritte, die sich der Vorderthür näherten, sie geweckt. Als sie im Nachtkleide in den Gang hinausstürzte, hörte sie Fußtritte auf der Haupttreppe und andere, die ihr folgten, während sie nach dem Wohnzimmer eilte. Dort fand sie die Angeklagten bei ihrem ermordeten Bruder. (Sie brach in Schluchzen aus; im Saal entstand große Bewegung.) Die Personen, die hinter ihr dreinkamen, fügte sie noch hinzu, seien Herr Rogers und Herr Buckstone gewesen.

In dem Kreuzverhör, das Wilson mit ihr vornahm, erwiderte sie, die Zwillinge hätten ihre Unschuld beteuert und versichert, sie seien auf einem Spaziergang begriffen gewesen und in das Haus geeilt, weil sie einen lauten Hilfeschrei gehört hatten, als sie noch eine gute Strecke entfernt waren. Auf Verlangen der Brüder habe sie selbst, sowie die beiden Herren, die Hände und Kleider der Zwillinge besichtigt und keine Blutflecken an ihnen gefunden.

Rogers und Buckstone bestätigten diese Angaben.

Sodann wurde die Auffindung des Dolchmessers durch Zeugen erhärtet. Um festzustellen, daß es genau mit der Beschreibung übereinstimme und dieselbe Waffe sei, für deren Wiedererlangung eine Belohnung ausgesetzt worden, verlas man die betreffende Anzeige. Es folgten nun noch mehrere unbedeutende Einzelheiten, und damit war die Begründung der Anklage geschlossen.

Wilson erklärte, er werde drei Zeuginnen beibringen – die drei Fräulein Clarkson – welche ein paar Minuten, nachdem man das Hilfegeschrei vernommen, einem verschleierten Mädchen begegnet seien, das sich durch das hintere Hofthor aus dem Driscoll’schen Anwesen entfernte. Ihre Aussage, verbunden mit gewissen Indizienbeweisen, die er dem Gerichtshof vorlegen wolle, würde Richter und Geschworene überzeugen, daß noch eine Person an dem Verbrechen beteiligt sei, deren man bis jetzt nicht habhaft geworden, und daß es sich als eine Forderung der Gerechtigkeit gegen seine Klienten empfehlen würde, das Verfahren auszusetzen, bis die fragliche Person zur Stelle sei. In Anbetracht der späten Stunde bitte er das Verhör der drei Zeuginnen bis zum nächsten Morgen vertagen zu dürfen.

Die Menge strömte aus dem Gerichtshause und zerstreute sich in einzelne, aufgeregte Gruppen, welche unter sich die Vorgänge bei der Verhandlung mit dem lebhaftesten Interesse besprachen. Alle schienen einen höchst befriedigenden und genußreichen Tag verlebt zu haben, außer den Angeklagten, ihrem Verteidiger und ihrer alten Freundin. Diese waren ziemlich niedergeschlagen und hatten wenig Hoffnung. Als Tante Patsy den Zwillingen Gute Nacht sagen und Mut zusprechen wollte, mußte sie mitten im Satz abbrechen, weil ihr die Stimme versagte.

Obgleich sich Tom für vollkommen sicher hielt, hatte er sich bei der feierlichen Eröffnung der Gerichtssitzung eines gewissen unbehaglichen Gefühls doch nicht erwehren können, denn er war äußerst schreckhaft von Natur. Sobald es jedoch offenbar wurde, auf wie schwachen Füßen Wilsons Verteidigung stand, fühlte er sich wieder beruhigt, ja, er frohlockte innerlich. Mit einem Anflug spöttischen Bedauerns für den Verteidiger, verließ er den Gerichtssaal. »Die Clarksons sind in der Hintergasse einem unbekannten Frauenzimmer begegnet,« sagte er bei sich, » mehr weiß er nicht vorzubringen. Ich will ihm meinetwegen ein paar Jahrhunderte Zeit lassen, um die Person zu entdecken. Sie selbst ist nicht mehr vorhanden, ihre Kleider sind verbrannt und die Asche in die Winde verstreut, – wahrhaftig, er wird leichte Arbeit haben, sie aufzufinden!« Wieder und wieder pries er seine kluge Erfindungsgabe, durch die er sich gegen jede Entdeckung, ja sogar gegen den geringsten Verdacht vollständig gesichert hatte.

»In solchen Fällen übersieht man fast regelmäßig irgend eine Kleinigkeit – eine geringfügige Spur bleibt zurück und ermöglicht die Entdeckung; aber hier ist auch nicht die leiseste Andeutung mehr vorhanden. Ebenso gut könnte man den Zug eines Vogels verfolgen wollen, der bei Nacht durch die Luft fliegt. Wer die Spur des Vogels in der Luft finden kann, wenn er davongeflogen ist, der und kein anderer wird auch meine Bahnen aufzuspüren wissen und den Mörder des Richters entdecken. Daß diese Arbeit gerade dem armen Querkopf Wilson aufgebürdet wird, ist wirklich ein tragikomisches Verhängnis. Wie muß er sich quälen und abhaspeln mit der Verfolgung der Unbekannten, die nirgendwo ist, während ihm der rechte Mann die ganze Zeit über am Ellbogen sitzt.« Je mehr er die Lage der Dinge überdachte, um so mehr fiel ihm ihre spaßhafte Seite auf. Endlich sagte er: »Mit dem Frauenzimmer will ich ihn hänseln, bis an sein Lebensende. So oft ich ihn in Gesellschaft treffe, frage ich ihn mit der unschuldigsten Miene von der Welt: ›Wie steht’s, Querkopf – hast du ihre Fährte gefunden?‹ Das wird ihm so ärgerlich sein, wie früher meine Erkundigung nach seiner ungeborenen Anwaltspraxis.« Er hätte laut auflachen mögen, doch das ging nicht an, es waren Leute zugegen und er trauerte ja um seinen Onkel. Aber das Vergnügen wollte er sich doch machen, heute abend bei Wilson vorzusprechen, um zu sehen, welche Pein ihm seine aussichtslose Verteidigung bereitete. Vielleicht konnte er das eine oder andere Wort des Bedauerns und Mitleids einfließen lassen, so daß der Querkopf vollends außer sich geriete.

Wilson hatte sich kein Abendbrot bringen lassen, ihm war alle Eßlust vergangen. Er holte seine ›Protokolle‹ mit den Fingerabdrücken sämtlicher Mädchen und Frauen hervor und starrte sie wohl über eine Stunde in düsterm Schweigen an, um sich zu überzeugen, ob er nicht doch vielleicht die Spuren jenes verdächtigen Mädchens übersehen haben könne. Aber es war alles vergebens. Endlich lehnte er sich in den Stuhl zurück, verschränkte die Hände über dem Kopf und überließ sich finstern, unfruchtbaren Gedanken.

Noch spät am Abend trat Tom Driscoll bei ihm ein, setzte sich und sagte in munterem Ton:

»Was sehe ich! Du hast zum Trost dein altes Steckenpferd aus der Zeit deiner Verkennung und Zurücksetzung wieder aufgenommen!« Er griff nach einem der Gläser und hielt es ans Licht, um es genau zu betrachten. »Verliere nur den Mut nicht, altes Haus! Weil deine neue Sonnenscheibe Flecken hat, brauchst du doch nicht gleich alles aufzugeben und den unnützen Kinderkram vorzuholen. So etwas geht vorbei, und dann bist du wieder obenauf.« – Er legte das Glasplättchen hin. »Hast du denn gedacht, du müßtest immer Erfolg haben?«

»O nein, durchaus nicht,« erwiderte Wilson mit einem Seufzer; »aber ich kann nicht glauben, daß Luigi deinen Onkel getötet hat, und er thut mir von Herzen leid. Es macht mich ganz schwermütig, und dir würde es ebenso gehen, wenn du kein Vorurteil gegen die jungen Leute hättest.«

»Das ist noch sehr die Frage,« sagte Tom mit finsterer Miene, denn ihm fiel der Fußtritt wieder ein, den er erhalten hatte. »Es ist wahr, ich bin ihnen wenig Dank schuldig, wenn ich daran denke, wie mich der Braune an jenem Abend behandelt hat. Aber Vorurteil hin – Vorurteil her – ich kann sie nun einmal nicht ausstehen, und wenn ihnen nach Verdienst geschieht, werde ich mir keine grauen Haare um sie wachsen lassen.«

Wieder nahm er ein Glasplättchen in die Hand und besichtigte es. »Wahrhaftig, da steht der Name der alten Roxy darunter! Willst du denn die Königspaläste auch mit den Abdrücken von Negerpfoten verzieren? Nach dem Datum zu urteilen, war ich sieben Monate alt, als das gemacht wurde; sie pflegte und wartete mich damals zusammen mit ihrem Negerjungen. Bei ihrem Daumen geht eine Linie quer über den Abdruck. Woher kommt das wohl?« Tom reichte Wilson das Plättchen hin.

»Von irgend einem alten vernarbten Riß oder Schnitt,« antwortete dieser seinem Quälgeist in abgespanntem Ton, »man findet das häufig.« Er nahm das Glas gleichgültig zur Hand und hielt es gegen die Lampe. Plötzlich wich alles Blut aus seinem Gesicht, seine Hand zitterte und er starrte mit förmlich verglastem Blick auf die glatte Fläche vor seinen Augen.

»Um alles in der Welt, was ist denn mit dir los, Wilson, willst du in Ohnmacht fallen?«

Tom holte ihm rasch ein Glas Wasser, aber Wilson fuhr schaudernd davor zurück.

»Nein, nein,« rief er, »fort damit!« Seine Brust hob und senkte sich, er bewegte den Kopf schwerfällig hin und her, wie jemand, der einen betäubenden Schlag erhalten hat. Endlich sagte er: »Ich glaube, mir wird wohler werden, wenn ich mich zu Bette lege; ich habe mich heute zu sehr angestrengt und mich vielleicht schon seit einigen Tagen überarbeitet.«

»Dann will ich gehen und dich in Ruhe lassen, Gute Nacht, altes Haus!« Beim Abschied konnte Tom jedoch eine letzte Stichelrede nicht unterdrücken: »Nimm dir’s nicht so zu Herzen; immer gewinnen thut keiner. Du wirst schon noch jemand an den Galgen bringen.«

»Jawohl, und ich lüge nicht,« murmelte Wilson vor sich hin als er allein war, »wenn ich sage, es thut mir leid, daß ich mit dir den Anfang machen muß, trotzdem du ein so elender Hund bist!«

Er raffte sich zusammen, trank ein Glas kalten Whisky und ging wieder an die Arbeit. Die neuen Fingerabdrücke, die Tom unabsichtlich auf Roxys Glasplatte zurückgelassen hatte, brauchte er bei seinem geübten Auge nicht erst mit den Spuren auf dem Griff des Dolchmessers zu vergleichen. Er beschäftigte sich mit andern Dingen und brummte dabei von Zeit zu Zeit: »Narr, der ich war! – Nur an ein Mädchen habe ich gedacht – ein Mann in Frauenkleidern ist mir nicht eingefallen.« Zuerst suchte er die Platte heraus, die Toms Fingerabdrücke im Alter von zwölf Jahren trug, dann das ›Protokoll‹ des Säuglings von sieben Monaten; beide Gläser legte er neben einander und fügte das dritte mit dem Abdruck hinzu, den der junge Mensch soeben gemacht hatte, ohne es zu wissen.

»So, jetzt ist die Sammlung vollständig,« sagte er im Ton der Befriedigung und setzte sich hin, um alles mit Muße in Augenschein zu nehmen. Aber dies Vergnügen war nur von kurzer Dauer. Er schaute die drei Glasplatten mit unverwandtem Blick an und war ganz starr vor Erstaunen. Endlich legte er sie hin und rief ärgerlich: »Hol’s der Henker! Das geht über meine Begriffe. Die Kinderplatte stimmt nicht mit den beiden andern!«

Wohl eine halbe Stunde lang ging er im Zimmer auf und ab und zerbrach sich den Kopf über das Rätsel. Dann suchte er zwei andere Gläser hervor, setzte sich und dachte eine Weile hin und her. »Es nützt nichts,« murmelte er, »ich kann es nicht verstehen. Sie stimmen nicht überein, und doch will ich darauf schwören, daß Namen und Datum richtig sind, deshalb müßten sie natürlich gleich sein. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht ein einziges Mal bei der Unterschrift geirrt. Es ist das wunderbarste Geheimnis, das mir je vorgekommen.«

Er war jetzt ganz erschöpft vor Müdigkeit und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Erst wollte er ausschlafen und dann noch einmal versuchen, das Geheimnis zu ergründen. Eine Stunde mochte er wohl in unruhigem Schlummer gelegen haben, dann erwachte er allmählich wieder zum Bewußtsein und richtete sich schläfrig im Bett in die Höhe. »Was träumte mir nur eben?« fragte er und suchte sich zu besinnen. »Es war mir doch, als hätte mein Traum die Lösung des Rät– –«

Mit einem Sprung war er mitten im Zimmer. Ohne den Satz zu beenden, lief er zum Tisch, machte Licht an und holte seine Glasplatten. Ein einziger rascher Blick genügte ihm.

»Es ist so, wie ich dachte,« rief er. »Himmel, was für eine Enthüllung! Und dreiundzwanzig Jahre lang hat kein Mensch eine Ahnung davon gehabt!«

Fünfzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Während Wilson die Vertreter der demokratischen Partei höflich hinausbegleitete, trat zur nämlichen Zeit Pembroke Howard drüben in das Nachbarhaus, um Bericht zu erstatten. Der alte Richter saß hoch aufgerichtet im Lehnstuhl und erwartete ihn mit ernster Miene.

»Nun, Howard – was für Nachricht bringst du?«

»Die beste, die man sich wünschen kann.«

»Der Italiener nimmt die Herausforderung an, nicht wahr?« Driscolls Auge blitzte in froher Kampfeslust.

»Jawohl, mit dem größten Eifer.«

»Wirklich? – nun das freut mich – das gefällt mir. Wann soll das Duell stattfinden?«

»Jetzt gleich. Auf der Stelle. Noch heute abend. Ein herrlicher, ein ganz vortrefflicher Mensch!«

»Ein wahrer Prachtsjunge! Es ist ja eine Ehre und Freude, sich mit dem jungen Mann zu schießen. Gehe nur schnell zu ihm und bringe alles ins reine – sage auch, ich lasse mich ihm bestens empfehlen. Wahrhaftig, du hast ganz recht – ein vortrefflicher Mensch!«

»Ehe noch eine Stunde vergeht, findest du ihn auf dem wüsten Platz zwischen Wilsons Wohnung und dem Gespensterhaus; ich bringe auch meine eigenen Pistolen mit,« sagte Howard davoneilend.

In erregter und doch befriedigter Stimmung ging der Richter eine Weile im Zimmer auf und ab; plötzlich stand er aber betroffen still – er dachte an Tom. Zweimal näherte er sich seinem Schreibpult und wandte wieder um, endlich faßte er einen Entschluß.

»Vielleicht ist dies meine letzte Nacht auf Erden,« sagte er nachdenklich; »ich darf die Sache nicht dem Zufall überlassen. Er ist ein unwürdiger Mensch, ein großer Nichtsnutz – aber, zum Teil bin ich selbst schuld daran. Mein Bruder hat ihn mir auf dem Totenbette anvertraut, und statt ihn streng zu erziehen und einen Mann aus ihm zu machen, habe ich ihm durch übermäßige Nachsicht geschadet. Wenn ich ihn nun zu guterletzt verstoße, so füge ich zu meiner Pflichtversäumnis nur noch ein neues Unrecht hinzu. Schon einmal habe ich mich mit ihm ausgesöhnt, und diesmal würde ich ihn erst einer langen und schweren Prüfung unterwerfen, bevor er meine Verzeihung erhielte. Allein, der Ausgang des Duells ist ungewiß. Deshalb will ich mein Testament wieder aufsetzen. Bleibe ich am Leben, so verberge ich es vor ihm; er soll nichts davon erfahren. Ich sage ihm nicht eher etwas, bis er sich gründlich bessert und ich sehe, daß seine Sinnesänderung von Dauer ist.«

Nun griff der Richter unverweilt zur Feder und machte den vermeintlichen Neffen wieder zum Erben seines Vermögens. Er war noch mit dieser Aufgabe beschäftigt, als Tom vom langen, trostlosen Umherirren ermüdet, das Haus betrat. Auf den Fußzehen an der Thür des Wohnzimmers vorbeischleichend, warf er einen flüchtigen Blick hinein und sah zu seinem Schrecken den Onkel am Schreibpult sitzen. Was konnte das bedeuten, zu so ungewöhnlich später Stunde? Tom durchrieselte es kalt. Ging das Schriftstück, das hier verfaßt wurde, vielleicht ihn selber an? – Höchst wahrscheinlich. Vielleicht war ein neues Unheil im Werke. Jedenfalls mußte er das Papier zu sehen bekommen, mochte daraus werden, was wollte. Jetzt hörte er Schritte und verbarg sich schnell, um unbemerkt zu bleiben. Es war Pembroke Howard. Da mußte etwas Besonderes vorgehen.«

»Alles in Ordnung,« sagte Howard mit großer Befriedigung. »Er ist mit seinem Bruder und dem Wundarzt auf den Kampfplatz gegangen – auch Wilson ist dabei, als sein Sekundant. Ich habe alles mit ihm verabredet. Fünfzehn Meter Abstand. Jeder soll drei Schüsse abfeuern.«

»Gut. Und der Mond?«

»Beinahe tageshell. Man kann deutlich auf die Entfernung sehen. Die Nacht ist warm und windstill, es rührt sich kein Hauch.«

»Vortrefflich, ganz ausgezeichnet. – Hier, Pembroke, lies das Papier und gieb mir deine Unterschrift als Zeuge.«

Howard las das Testament, schrieb seinen Namen darunter und schüttelte dem Richter kräftig die Hand.

»Recht so, York,« sagte er, »ich wußte es ja, daß du es thun würdest. Du konntest den armen Burschen unmöglich seinem Schicksal überlassen. Ohne Beruf im Leben und ohne Mittel wäre er sicher zu Grunde gegangen. Das hättest du nicht übers Herz gebracht, schon um seines toten Vaters willen.«

»Ich thu’s dem Andenken seines Vaters zuliebe. Du weißt ja, wie Percy und ich an einander hingen. Aber höre – Tom soll nichts davon wissen, außer wenn ich heute nacht falle.«

»Ich verstehe dich und will das Geheimnis bewahren.«

Die beiden Freunde begaben sich auf den Kampfplatz, nachdem der Richter zuvor das Testament fortgelegt hatte. Einen Augenblick später hielt Tom es bereits in Händen. All sein Elend war auf einmal vorbei, er fühlte sich wie neugeboren. Sorgfältig legte er das Papier wieder an den nämlichen Platz zurück, sperrte den Mund auf und schwang den Hut, einmal, zweimal, dreimal um den Kopf herum, was ein dreifaches, donnerndes Hurrah bedeuten sollte, doch kam kein Laut über seine Lippen. Vor freudiger Erregung hielt er lange, stumme Selbstgespräche, die er dann und wann durch ein neues, ebenso unhörbares Hurrahgeschrei unterbrach.

»Das Vermögen ist wieder mein,« sagte er bei sich, »aber ich verrate niemand, daß ich etwas davon weiß. Nun soll es mir nicht noch einmal verloren gehen, dafür will ich schon Sorge tragen. Ich gewöhne mir das Spielen und Trinken ab – ich brauche ja nur an keinen Ort mehr zu gehen, wo man derlei treibt. Das ist das sicherste Mittel, ich hätte es auch schon längst anwenden können, aber ich wollte nicht. Doch jetzt steht die Sache ganz anders. Er hat mir solchen Schrecken eingejagt, daß ich jeder Gefahr ausweichen will. Zwar habe ich mir den ganzen Abend vorgeredet, ich könnte ihn wieder herumbringen, falls ich mir rechte Mühe gebe, doch war das im Grunde genommen höchst zweifelhaft und machte mir schreckliche Sorge. Redet der Alte nicht von selbst über das Testament, so darf ich mir nichts merken lassen. Querkopf Wilson möchte ich es gern sagen, aber am Ende ist es besser, ich schweige auch gegen ihn.«

Wieder schwenkte er seinen Hut in der Luft.

»Nun bin ich ein anderer Mensch,« sagte er, »und diesmal wird die Besserung anhalten.«

Mitten in seinem Jubel fiel ihm plötzlich ein, daß Wilson ihm die Möglichkeit genommen hatte, das indische Messer zu versetzen oder zu verkaufen. Er sah sich außer stande, seine Gläubiger zu befriedigen, und wenn sie ihn verklagten, was dann? – Seine Freude war mit einem Schlage vorbei; jammernd und stöhnend über sein Mißgeschick, schlich er aus dem Wohnzimmer und schleppte sich die Treppe hinauf. In trostloser Stimmung saß er oben in seiner Stube; Luigis Dolchmesser wollte ihm gar nicht aus dem Sinn.

»Als ich noch glaubte, die Steine wären Glas und das Elfenbein Knochen, war mir das Ding gleichgiltig,« dachte er, »denn es konnte mir nicht aus der Not helfen. Aber jetzt ist es mir von höchstem Wert und macht mich zugleich totunglücklich. Es ist wie ein Sack voll Gold, der sich in meinen Händen zu Staub und Asche verwandelt. Wie leicht könnte es mir Hilfe bringen – und doch muß ich zu Grunde gehen. Ich ertrinke, während der Rettungsgürtel dicht neben mir liegt. Andere Leute haben Glück, ich dagegen werde förmlich verfolgt vom Unheil. Wenn ich nur an Querkopf Wilson denke – sogar seine Laufbahn nimmt jetzt einen Aufschwung, ich möchte wohl wissen, womit er das verdient hat! Ihm öffnet sich ein neuer Weg, aber statt froh darüber zu sein, weiß er nichts besseres, als mich in die Enge zu treiben. Die ganze Welt ist so niederträchtig und selbstsüchtig – am liebsten wäre ich tot. Er hielt die Scheide des Dolches an das Licht, daß die Juwelen funkelten und blitzten, aber der Glanz, an dem er sein Auge erfreuen wollte, war ihm nur ein Stich ins Herz. »Ich darf Roxy nichts von dem Messer sagen,« überlegte er, »sie ist zu tollkühn und wäre im stande, die Steine herauszubrechen, um sie zu verkaufen, – man würde sie einfach festnehmen, den Ursprung der Juwelen entdecken und –« rasch verbarg er den Dolch; ihm schauderte bei dem Gedanken. An allen Gliedern zitternd, blickte er verstohlen um sich, wie ein Missethäter, der glaubt, daß ihm die Verfolger schon auf den Fersen sind.

»Sollte er versuchen zu schlafen? – O nein, für ihn gab es keinen Schlummer; sein Unglück war zu quälend, zu unerträglich. Er brauchte jemand, der seine Bekümmernis teilte. Roxy sollte mit ihm trauern – er wollte zu ihr gehen.

In der Ferne ließen sich wiederholt Schüsse hören, aber das machte keinen Eindruck auf Tom, es war nichts Ungewöhnliches. Er ging zur Hinterthür hinaus und an Wilsons Wohnung vorüber. Als er durch den Heckenweg kam, sah er mehrere Personen über den unbebauten Platz auf Wilsons Haus zugehen. Es waren die Duellanten, die vom Kampfe zurückkehrten; Tom glaubte sie zu erkennen, wünschte jedoch eine Begegnung zu vermeiden, deshalb duckte er sich rasch hinter einen Zaun, bis er die Gesellschaft aus dem Gesicht verlor.

Roxy war in der besten Laune.

»Wo kommst du her, Kind?« fragte sie, »warst du nicht mit dabei?«

»Wobei denn?«

»Bei dem Duell!«

»Ist hier ein Duell gewesen?«

»Versteht sich. Der alte Richter hat sich mit einem Zwilling geschossen.«

»Du meine Güte! – Also, deshalb hat er das Testament wieder gemacht,« überlegte er im stillen; »der Gedanke, daß er fallen könnte, hat seinen Zorn gegen mich besänftigt. Das war es auch, was Howard und er so eifrig mit einander beredet haben!… O, wenn ihn der Zwilling nur totgeschossen hätte, dann wäre meine Qual auf einmal aus gewesen.«

»Was murmelst du da vor dich hin, Schamber? Wo warst du denn? Hast du von dem Duell gar nichts gewußt?«

»Kein Sterbenswort. Der Alte verlangte, ich sollte mich mit dem Grafen Luigi schlagen, doch da kam er an den Unrechten. Nun hat er wahrscheinlich selbst die Familienehre wieder zusammenflicken wollen.«

Er fand diesen Einfall höchst lächerlich und begann nun alle Einzelheiten seines Gesprächs mit dem Richter zu erzählen, auch wie entsetzt und außer sich der Alte gewesen war, daß ein Glied seiner Familie so feige sein könne. Beim Schluß des Berichts blickte er zu Roxana auf und bekam keinen geringen Schrecken, als er sah, wie sie in leidenschaftlicher Erregung mit fliegendem Atem dastand, während ein Ausdruck bodenloser Verachtung in ihren finstern Mienen lag.

»Der Mann hat dir ’nen Fußtritt gegeben, und du hast dich geweigert, mit ihm zu kämpfen, statt heilfroh zu sein über die Gelegenheit? Und du schämst dich gar nicht, vor mich hinzutreten und mir zu sagen, was ich für ’nen jammervollen erbärmlichen Furchthasen in die Welt gesetzt hab‘? Mir wird übel und weh davon. Es muß der Nigger sein, der in dir steckt. Du bist über und über weiß, bis auf ein einziges, winziges Stückchen, aber dies winzige schwarze Teilchen ist deine Seele. Die ist keinen Pfifferling wert, man thäte ihr noch zu viel Ehre an, wenn man sie mit ’ner Schaufel auf den Kehricht würfe. Du schändest deine Geburt. Was würde dein Vater von dir denken – er muß sich ja im Grabe ‚rumdrehn.«

Die letzten Worte machten Tom rasend vor Wut. Er sagte sich, daß wenn sein Vater noch am Leben wäre und ein Mordstahl ihn erreichen könnte, er seiner Mutter schon beweisen wollte, wie genau er wisse, was er dem Mann schuldig sei und wie gern er ihm alles heimzahlen würde, selbst auf Gefahr seines Lebens. Doch hielt er es bei Roxys augenblicklicher Stimmung für geraten, solche Gedanken nicht laut werden zu lassen.

»Was du mit deinem Essex-Blut gemacht hast, ist mir ein Rätsel. Aber das ist nicht etwa das einzige, edle Blut in dir. Mein Urururgroßvater und dein Ururururgroßvater war der alte Kapitän John Smith, der vornehmste Mann, den Altvirginien je gesehen hat. Seine Urahne aber aus ältester Zeit war Pocahontas, die Indianer-Königin, und ihr Mann war ein Negerkönig drunten in Afrika. Und bei solcher Abkunft stehst du da, fürchtest dich vor ’nem Zweikampf und entehrst deinen ganzen Stamm, als wärst du ’n elender gemeiner Hund. Ja, ja, das kommt von dem Nigger, der in dir steckt.«

Sie nahm auf ihrer Kiste Platz und versank in tiefes Sinnen. Tom saß schweigend dabei und störte sie nicht; wenn es ihm auch manchmal an der nötigen Klugheit fehlte, so doch nicht unter solchen Umständen. Der Sturm in Roxanas Innern war schwer zu beruhigen, doch legte er sich allmählich, nur von Zeit zu Zeit machte sie sich noch in einem Ausruf Luft, der dem fernen Grollen des Donners glich. »Nicht einmal an den Fingernägeln sieht man ihm den Neger an,« murmelte sie, »und da zeigt sich ’s doch immer am ersten – nur seine Seele ist schwarz gefärbt!«

Zuletzt wurde sie ganz still, und Tom nahm mit Vergnügen wahr, daß sich ihre Miene aufheiterte. Er kannte ihre verschiedenen Stimmungen genau genug, um zu wissen, daß sie nun bald wieder bei guter Laune sein würde. Zugleich fiel ihm auf, daß sie von Zeit zu Zeit mit dem Finger unwillkürlich ihre Nase berührte.

»Aber Mammy,« sagte er, sie näher betrachtend, »von deiner Nasenspitze ist ja die Haut herunter, wie geht das zu?«

Sie brach in ein schallendes Gelächter aus. Ein solches Lachen aus vollem, ungeteiltem Herzen ist eine Himmelsgabe, wie sie Gott niemand verliehen hat, außer den heiligen Engeln droben, und den armen, gequälten und zerschlagenen schwarzen Sklaven auf Erden.

»Das kommt von dem Duell,« rief sie, »ich hab‘ mitgethan.«

»Was? Hat dich etwa eine Kugel gestreift?«

»Jawohl, das will ich meinen.«

»Ist es möglich! Aber wie konnte das geschehen?«

»Ganz einfach. Ich sitze hier im Dunkeln und bin etwas eingenickt. Auf einmal – bumbum – knallt ein Schuß ganz in der Nähe. Da laufe ich nach der andern Seite, um zu sehen, was los ist, und stelle mich an das alte Fenster ohne Rahmen, das nach Querkopf Wilsons Haus geht – bei mir oben war’s dunkel, aber unten im hellen Mondschein steht einer von den Zwillingen – der braune war’s – und flucht ganz leise vor sich hin, die Kugel war ihm nämlich in die Schulter gedrungen. Doktor Claypool hatte ihn eben in der Mache und Querkopf Wilson half ihm dabei. Ein paar Schritte weiter aber stand der alte Richter Driscoll mit Pem Howard, die warteten, bis die andern fertig waren. Gleich darauf gaben sie das Zeichen, und – bums – gingen die Pistolen wieder los. ›Auweh!‹ rief der Zwilling, er war an der Hand getroffen, die Kugel aber flog in den Holzstoß unterm Fenster – ich hab’s gehört. Beim dritten Schuß rief der Zwilling wieder Auweh! und ich mußt‘ es ihm nachmachen. Die Kugel traf ihn am Backenknochen, kam hier heraufgehopst, prallte am Fenster ab, fuhr mir quer übers Gesicht und streifte mir die Haut von der Nasenspitze. Wär‘ ich nur ’nen Zoll näher gewesen, sie hätt‘ mir die ganze Nase mitgenommen und mich verunstaltet. Hier ist die Kugel, ich hab‘ sie gesucht und gefunden.«

»Bist du gar nicht vom Fenster fortgegangen?«

»So ’ne dumme Frage! Natürlich nicht. Bekommt man etwa alle Tage ein Duell zu sehen?«

»Du warst ja aber gerade in der Schußlinie. Hast du denn keine Furcht gehabt?«

Roxy lachte verächtlich.

»Furcht! Die Smith-Pocahontas fürchten nichts, und Kugeln erst gar nicht.«

»An Mut fehlt’s ihnen nicht, scheint mir, aber an Vorsicht desto mehr. Ich wäre da nicht stehen geblieben.«

»Das glaub‘ ich dir gern.«

»Ist denn sonst niemand verletzt?«

»Du hörst ja, es hat uns alle getroffen, außer dem Doktor, dem blonden Zwilling und den Sekundanten. Richter Driscoll ist nicht verwundet, aber ich hörte Querkopf sagen, die Kugel habe ihm ’nen Büschel Haare weggerissen.«

»O Jammer,« dachte Tom bei sich, »wie leicht hätte aller meiner Not ein Ende gemacht werden können. Nun er am Leben geblieben ist, wird er noch alles herausbekommen und mich an den ersten besten Sklavenhändler verkaufen – er würde sich gewiß nicht lange besinnen.« Zu Roxana gewandt, fuhr er in dumpfer Verzweiflung fort:

»Mutter, wir sind in einer furchtbaren Klemme.«

»Aber Kind,« rief sie mit stockendem Atem, »was erschreckst du mich denn so? Ist etwa ein Unglück geschehen?«

»Ja – etwas habe ich dir noch gar nicht gesagt: Als ich mich nicht mit dem Grafen schießen wollte, hat der Alte das Testament wieder zerrissen und –«

Roxana wurde leichenblaß. »Nun ist es vorbei mit dir – auf immer und ewig. Das ist das Ende vom Lied. Wir müssen beide Hungers sterben.«

»So warte doch nur und laß mich ausreden. Als er sich zu dem Duell entschlossen hatte, fiel ihm ein, daß er mir nicht mehr vergeben könne, falls es ihm das Leben kostete. So schrieb er denn sein Testament noch einmal – ich habe es gesehen, es ist ganz in Ordnung. Aber –«

»Dem Herrgott sei Dank, dann sind wir gerettet und alles ist wieder gut. Was brauchst du aber herzukommen und mir solchen Schrecken einzujagen, wenn –«

»So unterbrich mich doch nicht immer! – Mit der Beute von neulich kann ich meine Schulden kaum zur Hälfte decken, und wenn die Gläubiger nicht warten wollen – nun, du weißt ja, was dann geschieht.«

Roxana stützte das Kinn in die Hand und befahl ihrem Sohn zu schweigen, damit sie sich die Sache ruhig überlegen könne. Nach einer Weile sagte sie mit Nachdruck:

»Du mußt jetzt gewaltig auf deiner Hut sein, hörst du wohl. Er ist noch am Leben, und giebst du ihm den geringsten Grund zur Unzufriedenheit, so zerreißt er das Testament wieder und ’s ist zum letztenmal. Drum mußt du dich in den nächsten Tagen von deiner besten Seite zeigen, du mußt furchtbar brav sein und alles thun, damit er wieder Vertrauen zu dir faßt. Auch bei der alten Tante Pratt mußt du dich einschmeicheln – sie meint es nur zu gut mit dir, und der Richter hält große Stücke auf sie. Ist das geschehen, so gehst du nach St. Louis, damit du ihre Gunst nicht wieder verlierst. Dort machst du ’nen Vertrag mit den Gläubigern. Du sagst ihnen, der Alte wird nicht lange mehr leben – das ist ja auch wahr – und du wirst ihnen Zinsen zahlen, hohe Zinsen – zehn pro – wie nennt man’s doch?»

»Zehn Prozent den Monat?«

»Das ist’s. Nun verkaufst du deine Beute, ganz wenig auf einmal und bezahlst damit die Zinsen. Wie lange wird das reichen?«

»Ich glaube, es wird genug sein, um die Zinsen fünf oder sechs Monate lang zu zahlen.«

»Dann läßt sich’s machen. Stirbt er auch nicht in sechs Monaten, das thut nichts zur Sache. Die Vorsehung wird schon weiter sorgen. Es kann alles gut gehen, wenn du dich ordentlich aufführst. Und daß du auf geradem Wege bleibst,« fuhr sie fort, ihn mit strengem Blick musternd, »dafür werd‘ ich sorgen.« Er lachte und meinte, er würde es versuchen und sich alle Mühe geben. Aber das genügte ihr nicht.

»Von versuchen ist keine Rede mehr,« sagte sie mit ernster Stimme, »hier handelt’s sich um thun. Du stiehlst keine Stecknadel wieder, weil das jetzt gefährlich ist, auch gehst du mir nie mehr in schlechte Gesellschaft – nicht ein einziges Mal, hörst du wohl? Du trinkst auch keinen Tropfen mehr und rührst keine Karte wieder an. Das alles sollst du nicht versuchen, sondern wirklich thun. Und damit ich weiß, daß es geschieht, geh‘ ich auch nach St. Louis. Du kommst dort jeden Tag zu mir, daß ich sehen kann, wie’s um dich steht. Thust du aber nicht alles genau, wie ich’s dir sage, bist du mir auch nur ein einziges Mal zuwider – so geh‘ ich ohne viel Federlesens in die Stadt zurück, sage dem alten Richter, daß du ein Neger bist und ein Sklave – und liefere ihm die Beweise.« Sie hielt einen Augenblick inne, um den Eindruck ihrer Worte zu beobachten und fragte dann: »Glaubst du auch, daß ich thun werde, was ich sage, Schamber?«

Tom war jetzt in sehr ernster Stimmung. Aller Leichtsinn schien von ihm gewichen, als er erwiderte:

»Ja, Mutter. Ich weiß auch, daß ich jetzt neue Saiten aufziehen und mich ein- für allemal bessern muß. Keiner Versuchung will ich mehr nachgeben, und in Zukunft ein anderer Mensch werden.«

»Gut, dann geh‘ nach Hause und fang‘ gleich damit an.«

Sechzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

So viele Aufregungen waren in dem guten Dawson noch nie vorgekommen. Bisher hatte man friedlich geschlafen, jetzt fand man kaum Zeit, einmal einzunicken, denn Schlag auf Schlag folgten einander die größten Ereignisse und unerhörtesten Ueberraschungen. Freitag morgen: erstes Auftreten wirklicher Edelleute von Geburt, großer Empfang bei Tante Patsy Cooper und geheimnisvoller Raubzug. Freitag abend: der Erbe des vornehmsten Bürgers der Stadt erhält in Gegenwart von vierhundert Zuschauern einen theatralischen Fußtritt; Samstag morgen: der jahrelang unterschätzte Querkopf Wilson erscheint als praktizierender Rechtsanwalt vor der Oeffentlichkeit. Samstag abend: Duell zwischen dem ersten Bürger und dem hochadligen Fremdling.

Auf das Duell waren die Leute vielleicht stolzer als auf alle übrigen Begebenheiten zusammengenommen. Daß die Stadt der Schauplatz einer solchen Waffenthat gewesen war, betrachtete man als die höchste Ehre. Die beiden Kämpfer standen in den Augen ihrer Mitbürger auf dem Gipfel des Ruhms, ihre Namen waren in aller Munde, überall ward ihr Lob verkündet. Auch die übrigen bei dem Duell Beteiligten durften sich der öffentlichen Anerkennung erfreuen, und Querkopf Wilson war plötzlich zu einer hochangesehenen Persönlichkeit geworden. Als er am Samstag abend die Kandidatur zur Bürgermeisterwahl annahm, war der Ausgang höchst ungewiß. Am Sonntag morgen war er ein gemachter Mann und sein Erfolg gesichert.

Die Zwillinge genossen jetzt eine begeisterte Verehrung; jedermann war beflissen, ihnen Liebe und Freundschaft zu erweisen. Täglich wurden sie bald in diesem, bald in jenem Hause zu Mittag und Abend eingeladen; sie knüpften viele neuen Beziehungen an und erweiterten ihren Bekanntenkreis nach verschiedenen Seiten. Durch ihre wunderbaren musikalischen Leistungen entzückten sie alle Welt, und manchmal gaben sie auch aus dem reichen Vorrat ihrer ungewöhnlichen Talente etwas anderes für die gesellige Unterhaltung zum besten, womit sie großen Eindruck machten. Sie fühlten sich so wohl in Dawson, daß sie beschlossen, sich um das Bürgerrecht zu bewerben, und das reizende Städtchen ihr Lebtag nicht wieder zu verlassen. Das war der Höhepunkt des Glücks. Als sie den Antrag stellten, erhob sich die ganze Einwohnerschaft wie ein Mann und gab ihre Zustimmung und ihren Beifall kund. Dann schlug man den Zwillingen vor, sich zur Aufnahme in den Gemeinderat zu melden, da eine Neuwahl bevorstand, und als sie darauf eingingen, war die öffentliche Meinung vollständig befriedigt.

Für Tom Driscoll waren alle diese Ereignisse eine schwere Kränkung; sie gingen ihm tief zu Herzen und bereiteten ihm Qual und Pein. Er haßte die Zwillinge alle beide, den einen wegen des bewußten Fußtritts und den andern, weil er der Bruder seines Beleidigers war.

Von Zeit zu Zeit wunderten sich die Leute, daß weder von dem Dieb, noch von dem Dolchmesser und den andern gestohlenen Sachen das geringste verlautete; niemand vermochte Licht in das Dunkel zu bringen. Fast eine Woche war vergangen und noch immer blieb die ärgerliche Angelegenheit ein unlösbares Rätsel. Am Samstag trafen sich Konstabler Blake und Querkopf Wilson auf der Straße, und Tom Driscoll gesellte sich noch rechtzeitig zu ihnen, um die Unterhaltung zu eröffnen.

»Sie sehen sehr angegriffen aus, Blake,« sagte er, »haben Sie irgend einen Verdruß gehabt? Ist’s Ihnen vielleicht bei den geheimen Polizeigeschäften nicht nach Wunsch ergangen? Man sagt, Ihre Leistungen auf diesem Felde sollen ganz ungewöhnlich sein« – Blake fühlte sich sehr geschmeichelt, worauf Toni rasch hinzufügte: »für einen Polizisten vom Lande.« Das ärgerte den Konstabler gewaltig und er gab sich keine Mühe, es zu verbergen.

»Jawohl,« antwortete er in gereiztem Ton, »ich gelte etwas unter meinen Berufsgenossen, trotzdem ich ein ›Polizist vom Lande‹ bin.«

»O, bitte tausendmal um Entschuldigung, das fuhr mir nur so heraus. Ich wollte Sie eigentlich nach der alten Frau fragen, die so viele Diebereien verübt hat und nach der Sie fahndeten; wissen Sie, die Alte mit dem krummen Rücken, deren Sie in kürzester Frist habhaft werden wollten. Nicht wahr, Sie haben das Weib schon eingefangen? Ich wußte ja, daß es so kommen würde, denn leeres Prahlen ist nicht Ihre Sache.«

»Der Henker hole das alte Weib!«

»Was – also ist sie noch nicht im Gewahrsam?«

»Nein, es war nicht menschenmöglich, sie festzunehmen, sonst hätte es mir gelingen müssen.«

»Das thut mir wirklich leid um Ihretwillen, Blake, denn, wenn sich ein Polizeibeamter so zuversichtlich ausspricht, und hernach–«

»O, seien Sie ganz außer Sorgen – auch die Stadt braucht sich nicht zu beunruhigen. Die Diebin entgeht mir nicht – verlassen Sie sich darauf. Ich kenne ihre Fährte; die Spuren, die ich gefunden habe – –«

»Wirklich! Aber sollten Sie sich nicht doch einen alten erfahrenen Detektiv von St. Louis kommen lassen, der Ihnen hilft, die Spuren zu verfolgen, damit sie nicht in die Irre gehen oder – –«

»Ich bin selber alt und erfahren genug und brauche niemandes Beistand. Es wird keine Woche – hm – keinen Monat vergehen, bis ich sie habe – das will ich beschwören.«

»Kommt Zeit, kommt Rat,« sagte Tom gelassen. »Aber sie soll ja wohl ziemlich alt sein und alte Leute leben oft nicht so lange Zeit, wie der vorsichtige Detektiv braucht, um alle Fäden in die Hand zu bekommen und seine heimliche Jagd zu beginnen.« Blake wurde rot vor Zorn über den Spott; ehe er aber eine passende Erwiderung gefunden hatte, wandte sich Tom zu Wilson und fragte in gleichgültigstem Tone:

»Wer hat denn die Belohnung bekommen, David?«

Wilson biß sich auf die Lippen; jetzt kam die Reihe an ihn.

»Welche Belohnung?«

»Eine war ja wohl auf den Dieb gesetzt und die andere auf das Dolchmesser.«

»Hm,« antwortete Wilson zaudernd und in sichtlicher Verlegenheit, »ich weiß nicht, wie es kommt, aber bis jetzt hat sich noch niemand darum beworben.«

Tom sagte verwundert: »Das ist doch höchst merkwürdig.«

»Wenn es aber einmal der Fall ist, läßt sich’s nicht ändern,« entgegnete Wilson etwas ärgerlich.

»Gewiß. Ich dachte nur, du hättest ein Mittel erfunden und einen neuen Plan ausgeheckt, um die veralteten und unwirksamen Methoden der – –«

Er unterbrach sich und fuhr zu dem Konstabler gewandt, fort: »Nicht wahr, Blake, Sie hatten es auch so verstanden, als brauche man die Verfolgung der alten Frau nicht weiter fortzusetzen?«

Der Konstabler war froh, daß nun jemand anders statt seiner in den Schraubstock kam.

»Meiner Seel‘,« rief er, »Wilson hat gesagt, es würden nicht drei Tage vergehn, bis er den Dieb hätte, samt den gestohlenen Sachen, und das ist jetzt fast eine Woche her. Damals behauptete ich gleich, kein Dieb oder Diebsgenosse würde so dumm sein, etwas zu verkaufen oder zu versetzen, weil er doch wissen müßte, daß der Pfandleiher sich beide Belohnungen verschaffen könne, wenn er ihn samt seiner Beute auf die Polizei brächte. Es war der beste Gedanke, der mir jemals gekommen ist!«

»Sie würden wohl anderer Meinung sein,« entgegnete Wilson in gereiztem Ton, »wenn Sie meinen ganzen Plan kennten und nicht nur ein Bruchstück.«

»Je nun,« meinte Blake nachdenklich, »ich war eben von Anfang an überzeugt, daß Sie mit den zwei Belohnungen nichts ausrichten würden, und bisher habe ich auch recht behalten.«

»Meinetwegen – lassen wir’s dabei, bis auf weiteres. Mein Plan hat wenigstens ebensoviel Erfolg gehabt als Ihre eigenen Maßregeln, das werden Sie zugeben.«

Der Konstabler hatte nicht gleich eine schlagende Antwort bei der Hand; er räusperte sich nur unzufrieden und schwieg.

Seit jenem Abend, an dem Wilson einen Teil seiner Absichten kund gethan, hatte sich Tom fortwährend den Kopf zerbrochen, um den ganzen Plan zu erraten. Da ihm das nicht gelang, beschloß er der klugen Roxana den Fall zur Entscheidung vorzulegen. Sie dachte eine Weile nach und gab dann ihr Urteil ab. Was sie gesagt hatte, leuchtete Tom sehr ein; jetzt aber wollte er die Probe machen und dabei Wilsons Gesichtsausdruck beobachten.

»Daß du kein Narr bist, David,« sagte er gedankenvoll, »ist ja vor kurzer Zeit entdeckt worden. Deshalb wird auch wohl der Plan, den du entworfen hast, nicht gerade unsinnig sein, wenn auch Blake anderer Meinung ist. Du brauchst ihn nicht zu verraten, aber laß mich dir sagen, wie ich mir die Sache denke: Du hast fünfhundert Dollars für Rückgabe des Messers und fünfhundert für den Fang des Diebes ausgesetzt. Ich will einmal annehmen, daß die erste Belohnung öffentlich ausgeschrieben und die zweite den Pfandleihern nur durch einen Privatbrief mitgeteilt worden ist, dann – –«

Blake schlug sich auf den Schenkel, daß es klatschte. »Donnerwetter, Querkopf, so muß es sein. Er ist hinter dein Geheimnis gekommen. Warum mir das nur nicht von selbst eingefallen ist!«

Wilson sagte sich, daß jeder Mensch, dem es nicht an Verstand fehlte, schließlich den Plan erraten mußte. Daß Blake den Kunstgriff nicht herausgefunden hatte, nahm ihn nicht wunder, aber Toms Scharfsinn überraschte ihn. »Es steckt doch mehr hinter ihm als ich dachte,« überlegte er, äußerte aber nichts dergleichen.

»Auf diese Weise,« fuhr Tom fort, »merkt es der Dieb nicht, wenn er in die Falle läuft. Er bringt oder schickt das Dolchmesser, sagt, er habe es billig gekauft oder auf der Straße gefunden und fordert die Belohnung. Natürlich würde man ihn festnehmen – nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Ohne allen Zweifel. – Sage einmal, Wilson, hast du das Dolchmesser je gesehen?«

»Nein.«

»Hat irgend einer von deinen Bekannten es in Augenschein genommen?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Nun, dann begreift ich wohl, warum dein Plan mißglückt ist.«

»Was soll das heißen, Tom, worauf willst du hinaus?« fragte Wilson, dem es unbehaglich zu Mute wurde.

»Ich meine, es giebt überhaupt gar kein solches Messer.«

»Meiner Treu, Wilson,« rief Blake, »ich möchte gleich tausend Dollars wetten – wenn ich sie hätte – daß Tom Driscoll es getroffen hat.«

Wilson stieg das Blut zu Kopfe. War es möglich, daß die Fremden ihn wirklich zum besten gehabt hatten? – Der Schein sprach gegen sie, das ließ sich nicht leugnen. Aber was sollten sie damit bezwecken?

– Er warf diese Frage auf.

»Nun,« sagte Tom, »du selbst würdest vielleicht keinen Wert auf solche Dinge legen, aber sie sind fremd in der Stadt und müssen sich erst die Gunst der Leute erwerben. Muß es ihnen nicht schmeicheln, wenn sie sich als Lieblinge eines orientalischen Fürsten aufspielen können – ohne daß es sie was kostet? Verleiht es ihnen keine Wichtigkeit, wenn sie hier in unserem armen Städtchen glänzende Belohnungen von tausend Dollars ausschreiben, – die sie nie zu bezahlen brauchen? – Verlaß dich darauf, Wilson, wäre das Messer überhaupt vorhanden, so hättest du es zum Vorschein gebracht. Entweder giebt es also gar kein solches Messer, oder es ist noch in ihrem Besitz. Ich meinesteils glaube, daß sie das Dolchmesser einmal irgendwo gesehen haben. So schnell und geschickt hätte Angelo es nicht aufs Papier zeichnen können, wenn die ganze Sache nur auf Erfindung beruhte. Natürlich kann ich nicht schwören, sie hätten es nie gehabt, aber, daß es noch in ihrem Besitz ist, wenn sie es überhaupt mit hierher gebracht haben – dafür will ich mich verbürgen.«

»Was Tom sagt, klingt sehr einleuchtend,« meinte Blake, »das läßt sich nicht bestreiten.«

»Schaffen Sie nur die alte Frau zur Stelle, Blake, und wenn sie Ihnen das Messer nicht abliefern kann, so halten Sie Haussuchung bei den Zwillingen.«

Nach diesen Worten schlenderte Tom fort und Wilson blieb in sehr gedrückter Stimmung zurück. Er wußte nicht recht, was er denken sollte. Den Zwillingen sein Vertrauen zu entziehen, fiel ihm schwer, und er beschloß, es nicht auf einen so unbestimmten Verdacht hin zu thun; jedenfalls wollte er sich die Sache erst reiflich überlegen.

»Was halten Sie denn davon, Blake?« fragte er.

»Ich muß gestehen, ich teile Toms Ansicht: sie haben das Messer überhaupt nicht gehabt, oder, wenn sie es hatten, so haben sie es noch.«

Die beiden Männer trennten sich.

»Ich glaube, daß sie es gehabt haben,« dachte Wilson im Weitergehen. »Wäre es ihnen gestohlen, so hätte mein Plan es wieder ans Licht gebracht, das steht fest. Demnach müssen sie es noch in Händen haben.«

 

Tom hatte dieses wichtige Gespräch begonnen, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Er hoffte nur Blake und Wilson etwas zu ärgern und sich auf ihre Kosten lustig zu machen. Beim Abschied aber triumphierte er innerlich. Durch den reinsten Glücksfall und ohne jegliche Anstrengung seinerseits waren ihm ein paar köstliche Dinge gelungen: er hatte die beiden Männer an ihrem wundesten Fleck getroffen und gesehen, wie sie sich krümmten; er hatte in Wilsons zuckersüße Gefühle für die Zwillinge einen Tropfen Wermut gegossen – den bittern Geschmack sollte er nicht so bald los werden – und, was ihn am meisten freute: es war ihm geglückt, die verhaßten Fremden von ihrer Höhe zu stürzen. Blake würde ohne Zweifel die Neuigkeit weiter herumtragen, nach Art des Detektivs, und bevor noch acht Tage um waren, würde sich jedermann den Zwillingen gegenüber ins Fäustchen lachen, weil sie für eine Kostbarkeit, die sie entweder niemals besessen oder niemals verloren hatten, großartige Belohnungen aussetzten. Tom war wirklich ausnehmend mit sich zufrieden.

Die ganze Woche über hatte er sich zu Hause musterhaft aufgeführt. Dem Onkel und der Tante war so etwas noch gar nicht vorgekommen; sie fanden nicht das geringste an ihm zu tadeln.

Am Samstag abend sagte er zu dem Richter: »Mir liegt etwas schwer auf dem Herzen, Onkel, und da ich bald fortreise, und man nie weiß, ob man sich wiedersieht, ertrage ich es nicht länger. Du hast glauben müssen, daß ich mich aus Furcht nicht mit dem italienischen Abenteurer schlagen wollte. Es kam mir so überraschend, und ich habe vielleicht einen falschen Vorwand gewählt, um davon los zu kommen, aber kein Ehrenmann, der von ihm wüßte, was ich weiß, würde sich auf einen Zweikampf mit ihm einlassen.«

»So? – Und was wäre denn das?«

»Graf Luigi bekennt selbst, daß er einen Mord begangen hat.«

»Unglaublich!«

»Es ist die reine Wahrheit. Wilson entdeckte es in den Linien seiner Hand. Er sagte es ihm auf den Kopf zu und trieb ihn so in die Enge, daß der Graf es eingestehen mußte. Beide Zwillinge baten uns jedoch auf den Knieen, das Geheimnis nicht zu verraten und gelobten, sich hier am Ort nichts zu Schulden kommen zu lassen. Es war ein so peinlicher Auftritt, daß wir unser Ehrenwort gaben, die Sache geheim zu halten, solange sie ihr Versprechen nicht brächen. Du hättest es auch gethan, Onkel.«

»Da hast du ganz recht, mein Junge. Ein Geheimnis, das einem Menschen auf solche Weise entrissen worden ist, sollte als sein Eigentum betrachtet und heilig gehalten werden. Ich kann dich nur loben, und bin stolz auf dich. Doch ich wollte,« fügte er traurig hinzu, »mir hätte die Schande erspart bleiben können, einem Mörder auf dem Feld der Ehre zu begegnen.«

»Es ließ sich nicht ändern, Onkel. Hätte ich gewußt. daß du ihn fordern wolltest, so würde ich es für meine Pflicht gehalten haben, mein gegebenes Wort zu brechen, um das Duell zu verhindern. Aber Wilson konnte man es füglich nicht zumuten, daß er reden sollte.«

»Nein; Wilson hat ganz recht gethan, ich mache ihm durchaus keinen Vorwurf. Tom, Tom, du nimmst mir eine Last von der Seele; es hat mich im tiefsten Innern geschmerzt, als ich entdeckt zu haben meinte, daß ein Glied meiner Familie sich als Feigling erwies.«

»Du kannst dir denken, wie viel es mich gekostet hat, diese Rolle zu spielen.«

»Jawohl, mein armer Junge. Und wie schwer muß es dir geworden sein, die ganze Zeit lang unter einem so ungerechten Verdacht zu stehen. Aber jetzt ist alles wieder gut und der Schaden geheilt. Du hast mir meine Gemütsruhe zurückgegeben und die deinige wiedergewonnen, wir hatten beide genug gelitten.«

Der alte Mann versank eine Weile in tiefe Gedanken; als er aufblickte, lag ein Ausdruck der Befriedigung in seinen Zügen. »Daß der Mörder mir den Schimpf angethan hat, sich mir auf dem Felde der Ehre gegenüberzustellen, als sei er meinesgleichen, ist eine Sache, die noch ins Reine gebracht werden muß, aber nicht jetzt. Erst nach dem Wahltag will ich Abrechnung mit ihm halten. Ich weiß ein Mittel, wie ich die Brüder schon vorher zu Grunde richten kann, und das will ich zuerst anwenden. Keiner von beiden soll gewählt werden, dafür bürge ich. Ist auch sicher noch nichts davon an die Oeffentlichkeit gedrungen, daß er ein Mörder ist?«

»Nein – ich weiß es ganz gewiß.«

»Diese Karte behalte ich also einstweilen in der Hand. Am Wahltag werde ich eine Andeutung von der Rednerbühne fallen lassen, daß ihnen der Boden unter den Füßen brennen soll.«

»Das wird ihnen den Garaus machen.«

»Ja, aber daneben müssen auch die Wähler gehörig bearbeitet werden. Sobald die Zeit kommt, solltest du das bei dem Volk unter der Hand besorgen. Du kannst dabei etwas draufgehen lassen, ich werde dich mit Geld versehen.«

Eine neue Aussicht über die verhaßten Zwillinge zu siegen! Wahrlich, es war ein Glückstag für Tom. Er bekam Lust, noch einen letzten Pfeil nach demselben Ziel abzuschießen.

»Du hast doch von dem wunderbaren indischen Messer gehört, Onkel, über das die Zwillinge solchen Lärm gemacht haben? Weißt du – bis jetzt hat sich auch nicht die geringste Spur davon entdeckt. Man munkelt bereits allerlei in der Stadt, und die Leute schwatzen und lachen darüber ohne Ende. Einige glauben, daß es überhaupt nie ein solches Messer gegeben hat, und andere meinen, die Zwillinge hätten das Dolchmesser besessen und besäßen es noch. Ich habe das heute wenigstens von zwanzig verschiedenen Seiten gehört.«

Also, wie gesagt, die Thatsache läßt sich nicht leugnen: Tom stand am Schluß der Woche, nach seiner tadellosen Aufführung wieder in hoher Gunst bei dem Onkel und der Tante.

Auch seine Mutter war mit ihm zufrieden. Im stillen dachte sie sogar, daß sie anfinge, ihn lieb zu haben, aber das sagte sie nicht laut. Sie befahl ihm jetzt nach St. Louis zu gehen, wohin sie ihm auf dem Fuße folgen werde. Zuletzt zerschlug sie ihre Branntweinflasche und sagte:

»De siehst du’s selbst! Deine Mammy will dir kein böses Beispiel geben, sie wird schon sorgen, daß du nicht vom geraden Weg abkommst. Du darfst nicht wieder in schlechte Gesellschaft geraten, hab‘ ich gesagt; deshalb bleibst du in meiner Gesellschaft, da bist du am besten aufgehoben. Nun mach‘, daß du zum Thor hinauskommst!«

Noch am selben Abend begab sich Tom an Bord eines vorüberfahrenden Dampfboots und nahm seinen schweren Reisesack voll gestohlener Sachen mit. Er schlief den Schlaf der Ungerechten, der oft ruhiger und fester ist als die andere Sorte; das wissen wir aus der Geschichte der Henkersnacht von Millionen Spitzbuben. Aber, als er am Morgen aufwachte, war ihm das Glück untreu geworden. Ein zweiter Dieb hatte ihm, während er schlief, seinen Raub wieder abgenommen und war damit auf einer Zwischenstation ans Land gegangen.

Siebenzehntes Kapitel.

Siebenzehntes Kapitel.

Als Roxana in St. Louis ankam, fand sie ihren Sohn so voller Jammer und Verzweiflung, daß es ihr zu Herzen ging und alle mütterlichen Gefühle sich mächtig in ihr regten. Er war jetzt gänzlich zu Grunde gerichtet, nichts konnte ihn vom drohenden Untergang retten. Mehr braucht eine Mutter nicht, um ihr Kind zu lieben. Doch Tom schrak zurück vor den Beweisen ihrer Zärtlichkeit. Sie war eine Negerin, und es erhöhte nur noch seine Abneigung gegen die verachtete Rasse, daß er ihr selber angehörte.

Roxana überhäufte ihn nach Herzenslust mit Liebkosungen, wobei er sich sehr unbehaglich fühlte. Ihre Versuche, ihn zu trösten, waren alle vergebens. Bald wurden ihm ihre Vertraulichkeiten so unerträglich, daß er sich schon aufraffen wollte, um zu verlangen, sie solle sich in ihren Gefühlsäußerungen beschränken oder sie ganz unterdrücken. Aber er hatte Angst vor ihr und war froh, als sie jetzt von selbst mit den Liebesbezeugungen aufhörte und nachzudenken begann, um einen Rettungsplan zu finden. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf und sagte zu Toms unaussprechlicher Freude, sie wisse jetzt einen Ausweg.

»Hör‘ meinen Plan – der gelingt, du sollst’s‘ sehen. Daß ich ’ne Negerin bin, merkt jeder, wenn ich spreche. Ich bin sechshundert Dollars wert. Nimm mich, verkauf mich und zahl‘ deine Spielschulden.«

Tom riß die Augen weit auf, er glaubte nicht recht gehört zu haben. Eine Weile war er wie betäubt, dann sagte er:

»Willst du dich als Sklavin verkaufen lassen, um mich zu retten?«

»Bist du nicht mein Sohn? Alles thut ’ne Mutter für ihr Kind. Es giebt nichts, was ’ne weiße Mutter nicht für ihr Kind thäte. Wie kommt das? Uns‘ Herrgott hat sie so geschaffen. Und wie steht’s mit ’ner Negermutter? Die hat der liebe Gott auch gemacht. Inwendig sind alle Mütter gleich – Ich laß mich als Sklavin verkaufen, und nach’m Jahr zahlst du’s Lösegeld für deine alte Mammy. Wie du’s machen sollst, sag‘ ich dir noch. – Das ist mein Plan.«

Tom schöpfte neue Hoffnung, sein Kleinmut war gewichen.

»Mammy,« sagte er, »das ist wirklich zu lieb von dir – offengestanden –«

»Sag’s noch ‚mal, sag’s immer zu! Kann’s einen größeren Lohn auf Erden geben – nein, ’s ist übergenug. Ach Gottchen, wenn ich fort bin von hier, und ich mich abrackere, und sie mich schimpfen und schlagen, dann denk‘ ich, daß du das irgendwo sagst, und dann halt‘ ich’s schon aus.«

»Schon recht. Ich will’s noch einmal sagen und nicht aufhören, es zu wiederholen, Mammy. Aber, wie kann ich dich verkaufen? Du bist ja freigelassen.«

»Ach, das schadet nichts. Die Weißen nehmen’s nicht so genau. Setz‘ nur einen Zettel auf, weißt du, so ’ne Verkaufsanzeige – und schick ihn weit ins Innere, irgendwo nach Kentucky, unterzeichne ein paar Namen, und schreib‘, du hättest Geld nötig und wolltest mich billig hergeben. Du sollst sehen, ’s geht ganz von selbst. Fahr‘ mit mir ein Stück ins Land hinein und bring‘ mich auf’n Pachtgut. Dort fragen die Leute nicht erst viel hin und her, wenn sie ’nen guten Handel machen können.«

Tom fälschte einen Kaufbrief und kam mit einem Baumwollpflanzer aus Arkansas überein, daß er ihm etwas mehr als sechshundert Dollars zahlen sollte. Für den Preis verkaufte er seine Mutter. Hätte diese gewußt, daß sie flußabwärts, in einen der gefürchteten Sklavenstaaten verkauft werden sollte, dann würde sie gewiß nicht eingewilligt haben. Es war nicht Toms Absicht gewesen, solchen Verrat zu begehen; aber der Zufall hatte ihm den Mann in den Weg geführt, und so brauchte er nicht erst lange im Lande herumzufahren, um einen Käufer zu suchen, der vielleicht erst allerlei Erkundigungen eingezogen hätte. Der Pflanzer vom Süden dagegen sparte sich alle Fragen, denn Roxy gefiel ihm ausnehmend; auch versicherte er Tom, sie solle zuerst gar nichts davon merken, wohin sie geraten sei. Entdeckte sie es dann auch später, so hätte sie sich schon eingelebt und würde sich zufrieden geben. Tom beschwichtigte seine etwaigen Bedenken mit dem Vorwande, daß es doch für Roxy von ungeheuerm Vorteil sei, einen Herrn zu bekommen, der so großes Gefallen an ihr fände, wie der Pflanzer, und es dauerte nicht lange, so hatte er sich halb und halb eingeredet, er thäte Roxy einen heimlichen Dienst damit, daß er sie ›flußabwärts‹ verkaufte. »Es ist ja nur auf ein Jahr,« sagte er sich immer wieder. »In einem Jahr schicke ich ihr das Lösegeld, bei diesem Gedanken wird sie sich beruhigen.« Was konnte der kleine Betrug denn eigentlich schaden? Schließlich würde die Sache doch ein für alle Teile befriedigendes Ende nehmen.

Auf beiderseitiges Uebereinkommen war in Roxys Gegenwart nur immer von des Käufers Pachtgut im Norden die Rede, das so freundlich gelegen sei, und wo sich die Sklaven so wohl befänden. Die arme Roxy wurde auf diese Weise gänzlich getäuscht; es fiel ihr auch nicht im Traum ein, daß ihr Sohn solche Tücke gegen eine Mutter üben könnte, die sich freiwillig ihm zuliebe in die Sklaverei begab. Welcher Art diese Sklaverei auch sein mochte, ob leicht oder schwer, ob von kurzer oder langer Dauer – jedenfalls brachte sie ein ungeheures Opfer. Mit tausend Thränen und Liebkosungen nahm sie unter vier Augen Abschied von Tom und folgte dann ihrem künftigen Gebieter, zwar schweren Herzens, aber doch stolz auf das, was sie that, und froh, daß sie im stande war, es zu vollbringen.

Tom befriedigte seine Gläubiger und beschloß, sich streng an die Vorschriften zu halten, die ihm zur Richtschnur für seine Besserung dienten, damit er sich nie wieder der Gefahr aussetzte, enterbt zu werden. Dreihundert Dollars behielt er noch übrig; der Plan seiner Mutter ging dahin, daß er diese Summe sicher verwahren und regelmäßig die Hälfte seines Monatsgeldes dazu thun sollte. Mit dem so gewonnenen Kapital konnte er ihr nach einem Jahr die Freiheit zurückkaufen.

Eine ganze Woche lang fand er keinen ruhiger Schlaf, weil die Niederträchtigkeit, die er gegen seine ahnungslose Mutter begangen hatte, auf dem erbärmlichen Rest seines Gewissens lastete; dann aber begann er sich wieder behaglich zu fühlen und konnte bald so gut schlafen, wie andere Uebelthäter auch.

Als das Boot eines Abends mit Roxy von St. Louis abfuhr, stand sie an dem untern Geländer hinter dem Radkasten. Die Thränen trübten ihren Blick, doch sie schaute nach Tom aus, bis er unter der Menge am Ufer verschwand; dann sah sie nicht mehr ins Weite, sondern setzte sich auf eine Rolle Tauwerk und schluchzte bis tief in die Nacht hinein. Ohne Zweifel würde sie sonst gemerkt haben, daß sie nicht den Strom aufwärts fuhr. Hatte sie doch jahrelang auf einem Dampfboot in Dienst gestanden – wie wäre ihr das entgangen? Als sie endlich nach der schmutzigen Koje im Zwischendeck hinunterging, die neben der klappernden Maschine lag, konnte sie nicht schlafen, sondern wartete nur bekümmerten Herzens auf den dämmernden Morgen.

Sobald es hell wurde, stand sie auf und nahm teilnahmlos oben wieder auf dem Tauwerk Platz. Die Wellen brachen sich an manchem Baumstamm im Fluß und die Strömung, die in derselben Richtung ging wie das Boot, hätte ihr leicht eine Thatsache verraten können, die sie mit Schauder erfüllen mußte, doch sie gab nicht acht darauf, weil ihr zu viel andere Dinge im Sinn lagen. Endlich aber weckte eine stärkere Brandung in nächster Nähe sie aus ihrer Versunkenheit; sie sah empor, und ihr geübtes Auge erkannte sogleich, nach welcher Seite die Flut trieb. Einen Moment starrte sie wie versteinert in den Strom hinaus, dann ließ sie den Kopf auf die Brust sinken und stöhnte laut:

»O, du grundgütiger Gott im Himmel, erbarm‘ dich meiner armen Seele – ich bin flußabwärts verkauft

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Die langen Sommerwochen schlichen träge dahin, dann aber begann eine politische Wahlschlacht, die mit großem Eifer eröffnet wurde, und bei der die Gemüter sich mehr und mehr erhitzten. Die Zwillinge stürzten sich über Hals und Kopf hinein, denn ihre Eigenliebe kam mit ins Spiel. Auf die maßlose Gunst, die man ihnen zu Anfang von allen Seiten entgegengebracht hatte, war ein sehr natürlicher Rückschlag erfolgt. Außerdem aber fing man an sich hier und da zuzuflüstern, es sei doch höchst seltsam, daß ihr wunderbares Dolchmesser nicht wieder zum Vorschein komme. – Ob es wirklich so wertvoll sei? – Ob es denn überhaupt je vorhanden gewesen? – Dabei blinzelten die Leute einander verständnisvoll zu, kicherten und stießen sich mit den Ellbogen – lauter Dinge, die ihren Einfluß auf das große Publikum nicht verfehlten. Die Zwillinge waren der Ansicht, daß ein günstiges Wahlergebnis sie wieder zu Ehren bringen, eine Niederlage ihnen dagegen einen Schaden zufügen werde, der nicht wieder gut zu machen sei. Deshalb strengten sie alle ihre Kräfte an, aber der Richter Driscoll und Tom arbeiteten ihnen mit ebenso großem Eifer entgegen, besonders während der letzten Tage vor der Abstimmung. Tom hatte sich zwei Monate lang so musterhaft betragen, daß sein Onkel ihm jetzt nicht nur Geld anvertraute, um den Wählern die richtige Ueberzeugung beizubringen, sondern er gestattete ihm jetzt sogar, sich die Summen selbst aus dem eisernen Schrank im Studierzimmer herauszunehmen.

Richter Driscoll hielt die Schlußrede in dem ganzen Wahlfeldzug und trat dabei als Widersacher der beiden Fremden auf. Die Wirkung, die er erzielte, war geradezu vernichtend. Er strömte ganze Fluten von Hohn und Spott über sie aus und zwang die große Massenversammlung zu lautem Gelächter und Beifallsklatschen. Nachdem er ihre glänzenden Titel erbarmungslos der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, nannte er sie Abenteurer, Marktschreier, Helden der Schaubude, verkleidete Barbiergesellen, herumziehende Leierkastenmänner, denen ihr Affe abhanden gekommen sei, und Hausierer, die sich als vornehme Herren aufspielten. Zuletzt machte er eine Pause; er schwieg ganz still, bis die Zuhörer vor Erwartung den Atem anhielten, und schoß dann seinen tödlichsten Pfeil ab. Er that es mit eisiger Ruhe und legte auf die letzten Worte noch einen ganz besonderen Nachdruck. Die ausgeschriebene Belohnung für das verlorene Dolchmesser, sagte er, sei nichts als Schwindel und leeres Gewäsch, der Eigentümer würde schon wissen, wo es zu finden wäre, sobald er nur einmal Veranlassung hätte, einen Menschen umzubringen.

Damit stieg Driscoll von der Rednerbühne herab, aber nicht unter dem gewöhnlichen Zuruf und Beifallklatschen seiner Partei. Eine dumpfe, lautlose Stille herrschte in der erstaunten Versammlung.

Die seltsame Schlußbemerkung des Richters verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt und erregte das ungeheuerste Aufsehen. Jeder fragte, was sie wohl zu bedeuten habe, aber man fragte und verwunderte sich vergeblich. Driscoll äußerte zwar, er wisse, wovon er rede, erklärte sich aber nicht deutlicher. Tom versicherte, er habe keine Ahnung, was seines Onkels Worte heißen sollten, und so oft man Wilson um seine Ansicht fragte, half er sich damit, daß er den Spieß umkehrte und den Frager bat, ihm doch seine Meinung darüber zu sagen.

Wilsons Wahl ging durch, aber die Zwillinge erlitten eine gänzliche Niederlage; sie sahen sich von aller Welt verlassen, und kein Mensch nahm sich mehr ihrer an. Tom konnte nun hochbeglückt nach St. Louis zurückkehren.

In Dawson war man infolge dieser Ereignisse sehr der Ruhe bedürftig und eine Woche lang blieb auch alles still. Doch herrschte immerhin eine gewisse Aufregung in den Gemütern, denn Gerüchte von einem neuen Duell schwirrten durch die Luft. Der alte Driscoll hatte sich während der Wahlbewegung überanstrengt, aber man versicherte, sobald er wieder wohl genug sei, werde ihm Graf Luigi eine Herausforderung schicken.

Die Brüder zogen sich ganz von allem Verkehr zurück und grämten sich in der Stille über ihre Demütigung. Sie vermieden es sorgfältig, den Leuten zu begegnen und gingen nur spät abends aus, um frische Luft zu schöpfen, wenn es leer und einsam auf den Straßen war.

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Am Freitag nach der Wahl war Regenwetter in St. Louis. Es strömte vom Morgen bis zum Abend, was nur vom Himmel herunter wollte, gerade als hätte der Regen sich vorgenommen, die rußgeschwärzte Stadt weiß zu waschen, was ihm freilich nicht gelang. Gegen Mitternacht kam Tom Driscoll bei dem stärksten Guß aus dem Theater nach seiner Wohnung zurück; er machte seinen Schirm zu, um die Hausthür zu öffnen, als er sie aber hinter sich schließen wollte, merkte er, daß noch jemand eintrat, vermutlich ein anderer Mieter. Der Unbekannte machte die Thür zu und stieg nach ihm die Treppe hinauf. Als Tom seine Stubenthür im Dunkeln gefunden hatte, zündete er drinnen das Gas an, pfiff leise eine Melodie vor sich hin und drehte sich gemächlich um. Da sah er einen Mann, der ihm den Rücken zukehrte und eben die Thür hinter ihm abschloß; Tom hörte auf zu pfeifen, ihm ward unbehaglich zu Mute. Jetzt wandte sich der Mann zu ihm hin, seine alten schäbigen Kleider waren ganz durchweicht und trieften vom Regen, unter seinem abgetragenen Schlapphut starrte ein schwarzes Gesicht hervor. Tom geriet in entsetzliche Angst, er wollte den Eindringling hinausjagen, aber er konnte kein Glied rühren, die Worte blieben ihm in der Kehle stecken und der andere kam ihm zuvor.

»Mach‘ keinen Lärm,« sagte er mit unterdrückter Stimme, »ich bin deine Mutter.«

Wie vom Blitz getroffen sank Tom auf einen Stuhl.

»Es war schändlich von mir und niederträchtig,« stieß er keuchend hervor, »aber ich glaubte, daß es so am besten wäre – gewiß und wahrhaftig.«

Roxana stand eine Weile regungslos da und sah stumm auf ihn herab, während er, sich vor Scham windend, bald unzusammenhängende Selbstanklagen murmelte, bald jammervolle Versuche anstellte, sein Verbrechen zu erklären und zu beschönigen. Dann setzte sie sich und nahm den Hut ab, so daß ihr langes braunes Haar ihr in dichten, wirren Strähnen über die Schultern fiel.

»Dein Verdienst ist’s nicht, wenn mein Haar nicht grau geworden ist,« sagte sie klagend.

»Ich weiß es, o, ich weiß es – ich bin ein Schurke. Aber ich hielt es für das beste, das schwöre ich. Es war ein Irrtum, aber wirklich, ich dachte, ich könnte nichts besseres thun.«

Roxy begann leise vor sich hin zu weinen und zu schluchzen, dazwischen stieß sie auch Worte aus, aber sie klangen wie Jammerlaute, nicht wie ein zorniger Vorwurf.

»’Nen Menschen nach’m Süden verkaufen – flußabwärts – das beste! – Keinem Hund thät‘ ich’s an. Ganz gebrochen und abgemergelt bin ich – ich kann nicht mal mehr wütend werden, wie früher, wenn man mich geschimpft hat und mit Füßen getreten. Wie’s kommt, weiß ich nicht – mir fehlt scheint’s die Kraft. Kummer liegt mir jetzt näher als Zorn, ich hab‘ zu viel auszustehen gehabt das wird’s wohl sein.«

Ihre Klagen hätten Tom zu Herzen gehen müssen, aber, wenn das der Fall war, so wurde seine Rührung von einem stärkeren Gefühl verschlungen. Die entsetzliche Angst, die auf ihm gelastet hatte, war gewichen, sein gebrochener Mut begann sich neu zu beleben, und seine niedrige Seele atmete auf wie erlöst. Doch schwieg er wohlweislich still und wagte nicht die leiseste Aeußerung zu thun. Eine Weile ward kein Wort gesprochen, man hörte nur, wie draußen der Regen an die Scheiben klatschte, wie der Wind heulte und stöhnte; ab und zu ließ Roxana ein leises Schluchzen hören, das immer seltener wurde und zuletzt ganz verstummte. Dann begann sie wieder zu reden:

»Das Licht ist zu hell. Mach‘ es dunkler. Immer noch mehr. Wer verfolgt wird, mag kein Licht leiden. So ist’s genug, ich brauch‘ nur zu sehen, wo du bist. Jetzt erzähl‘ ich, wie mir’s ergangen ist – ich mach’s so kurz ich kann – und dann werd‘ ich dir sagen, was du thun sollst. – Der Mann, der mich gekauft hat, war nicht schlecht für ’nen Pflanzer. Hätt‘ er seinen Willen haben können, so wär‘ ich ’ne Haussklavin in der Familie gewesen und hätt’s gut gehabt. Aber seine Frau war vom Norden und gar nicht hübsch; sie konnt‘ mich von vornherein nicht leiden, und so wurd‘ ich ins Sklavenquartier geschickt und mußt‘ auf dem Feld arbeiten. Aber dem Weib war auch das nicht genug in ihrer schändlichen Eifersucht; sie steckt sich hinter den Aufseher, und der holt mich ‚raus, eh‘ noch der Morgen graut, läßt mich den ganzen Tag schaffen, bis es dunkel wird und giebt mir seine Peitsche zu kosten, so oft ich’s nicht den Stärksten gleichthu‘. Er kam auch aus dem Norden, aus Neuengland, und was das heißen will, weiß jeder Sklave im Süden. Die verstehen’s, wie man ’nen Neger zu Tode quält und ihm den Rücken blutig schlägt, daß die Striemen fingerdick aufschwellen. Zuerst legte der Massa noch ein gutes Wort ein für mich beim Aufseher, aber da ging mir’s schlecht – das Weib kam dahinter, und nun setzt‘ es Hiebe, wo ich ging und stand – ohne Gnad‘ und Barmherzigkeit.«

In Toms Innern kochte es vor Wut – gegen das Weib des Pflanzers. »Der Henker hole die verdammte Närrin,« fluchte er heimlich, »hätte sie sich nicht eingemischt, wäre alles gut gegangen.«

Der Ingrimm stand ihm im Gesicht geschrieben, und ein Blitz, der in diesem Augenblick das düstere Zimmer taghell erleuchtete, ließ Roxana in seinen Zügen lesen. Sie freute sich darüber, denn bewies dieser Ausdruck nicht, daß ihr Kind das Leiden der Mutter mit empfand und ihre Peiniger verwünschte? – und daran hatte sie stark gezweifelt. Aber der helle Freudenschein verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war und es ward dunkel in ihr. »Er hat mich flußabwärts verkauft,« sagte sie sich, »sein Mitleid verfliegt wie Spreu, es hat keinen Bestand.«

Dann nahm sie ihren Bericht wieder auf:

»Zehn Tage sind’s her, da sagt‘ ich zu mir: lange halt‘ ich’s nicht mehr aus; die höllische Arbeit, die vielen Schläge werden mich umbringen, eh‘ noch ein paar Wochen vorbei sind – so totmatt und elend war mir zu Mut. Wenn das Leben so weiter gehen sollt‘, wär‘ ich viel lieber gestorben, mir war alles einerlei. Ist man erst so weit, dann gilt’s einem auch gleich, was man thut. Da war ein armes, kleines Negermädchen, zehn Jahr alt, die war gut zu mir und hatte keine Mammy und wir hatten uns beide lieb. Sie kam aufs Feld und wollte mir ’ne gebratene Kartoffel zustecken, aus Mitleid, weil sie wußte, daß ich nicht satt zu essen kriegte. Doch der Aufseher ertappt sie dabei, und schlägt sie mit seinem Stock über’n Rücken, der so dick war wie’n Besenstiel, daß sie zu Boden fällt und sich vor Schmerz krümmt und windet. Ich konnt’s nicht mit ansehen. Die ganze Hölle tobte in mir – ich riß dem Mann den Stock aus der Hand und schlug ihn nieder. Da lag er ächzend und fluchend, er rührte kein Glied mehr. Die Neger waren zum Tod erschrocken und kamen und wollten ihm helfen. Ich sprang auf sein Pferd, und fort ging’s zum Fluß wie der Wind. Was mir geschehen würde, wußt‘ ich wohl. Der Mann hätt‘ mich zu Tode geschunden, sobald er wieder auf den Beinen war, wenn’s der Massa zugab. Oder, sie hätten mich weiter flußabwärts verkauft – und das kommt auf eins ‚raus. Da sprang ich lieber ins Wasser und macht‘ meiner Not ein Ende. Es war schon dämmerig geworden und in zwei Minuten kam ich zum Fluß. Da lag ein Kahn am Land, und ich sag‘ zu mir: ›Was soll ich mich ertränken, wenn ich nicht muß‹ und bind‘ das Pferd an’n Baumstamm, stoß‘ den Kahn ins Wasser, fahr‘ immer am steilen Ufer hin und bet‘ zu unserm Herrgott, daß die Nacht mich schnell zudeckt. Ich hatt‘ ’nen guten Vorsprung, denn das große Haus liegt drei Meilen vom Fluß; bis die Neger auf den Arbeitspferden hinkamen und wieder zurück, war es längst dunkel. Sie ritten gewiß nicht zu schnell, um mir Zeit zu lassen. Bei Nacht konnten sie die Pferdespur nicht finden, erst am Morgen würden sie sehen, welchen Weg ich genommen hatte, und lügen würden die Neger auch, so viel sie nur konnten.

Also, die Nacht kam, und ich fuhr immer weiter auf dem Fluß; zwei Stunden lang ruderte ich noch, dann hatt‘ ich keine Angst mehr, ließ mich forttreiben im Strom und dacht‘ mir aus, was ich thun wollte, wenn ich nicht ins Wasser springen müßt‘. Ich machte viele Pläne und überlegte alles hin und her, wie ich so still im Kahn saß. Es mocht‘ wohl bald nach Mitternacht sein und ich war fünfzehn oder zwanzig Meilen gefahren, da sah ich die Lichter von’m Dampfer, der am Ufer lag, es war aber keine Werft da und keine Stadt. Beim Sternenschein konnt‘ ich die Form der Schornsteine erkennen und – o, du meine Güte, auf einmal meint ich doch, ich müßt‘ aus der Haut fahren vor Freude. Es war ja der ›Großmogul ‹, auf dem ich acht Jahre lang Stubenmädchen gewesen bin und der Handel trieb zwischen Cincinnati und New Orleans. Ich fuhr mit dem Kahn dicht ‚ran – aber nirgends rührte sich was. Nur unten im Maschinenraum hört‘ ich ein Geklopf und Gehämmer. Da wußt‘ ich, ’s war was an der Maschine zerbrochen. Ich geh‘ ans Land, laß meinen Kahn treiben und späh‘ nach dem Dampfer hin, bis ich ans Laufbrett komm‘ und an Bord gehen kann. ‚S war ganz unmenschlich heiß. Auf dem Vorderdeck lagen die Leute lang ausgestreckt, der zweite Maat, Jim Bangs, saß auf der Beting, mit dem Kopf in’n Händen und schlief. So hält er immer die Kapitänswache. Und der alte Steuermann Billy Hatch war auf der Kajütentreppe eingenickt. Ich kannte sie alle und Herrje, wie froh war ich! ›Jetzt soll nur der alte Massa kommen und mich fangen‹ dacht‘ ich, ›hier bin ich unter Freunden.‹ Mitten durch geh‘ ich an ihnen vorbei, bis ans Geländer der Damenkajüte und setz‘ mich grad‘ auf denselben Stuhl, wo ich wohl hundertmillionenmal gesessen hab‘. ‚S war mir, als wär‘ ich wieder daheim.

»Keine Stunde währt’s, da bimmelt die Glocke und das Dampfboot wird flott gemacht. Es geht nach St. Louis hinauf, denn das wüßt‘ ich, daß der ›Großmogul‹ jetzt dort anlegt. Die Sonne war grad‘ aufgegangen, da fuhren wir an unserer Pflanzung vorbei, und ich seh‘ ’ne Schar Neger und Weiße am Ufer hin- und herlaufen. Die gaben sich große Mühe mich zu finden, aber mir machte das wenig Sorge.

»Um die Zeit kam Sally Jackson – die jetzt nicht mehr zweites Stubenmädchen war, sondern erstes – ans Schiffsgeländer, und freute sich sehr, mich wiederzusehen und die Offiziere auch. Als ich sagte, man hätt‘ mich geraubt und flußabwärts verkauft, sammelten sie zwanzig Dollars und schenkten sie mir, und Sally gab mir gute Kleider. Wir landeten hier und ich ging gleich nach deiner alten Wohnung und kam dann in dies Haus; man sagte mir, du wärst fort, könntest aber alle Tage wiederkommen. Da wollt‘ ich lieber nicht nach Dawson fahren, ich hätt‘ dich sonst verfehlt.

»Als ich nun letzten Montag in der Vierten Straße an ’ner Schenke vorbeikomm‘, wo sie die Zettel ankleben, wenn ein Neger entlaufen ist, – da seh‘ ich meinen Massa. Ich dacht‘, ich sollt‘ in die Erde sinken. Er stand mit dem Rücken nach mir und sprach mit ’nem Mann, dem gab er solchen Neger-Zettel. Die entlaufene Negerin, das war ich und er setzte wohl ’ne Belohnung für sie aus – was meinst du – hab‘ ich nicht recht?«

Tom war allmählich in immer grauenvollere Angst geraten. »Ich bin verloren,« dachte er, »mag die Sache sich wenden wie sie will. Der Pflanzer sagte mir, der ganze Kauf käme ihm verdächtig vor. Ein Fahrgast vom ›Großmogul‹ hätte ihm geschrieben, Roxy sei auf dem Dampfer hierher gekommen, und alle an Bord wüßten, wie sich die Sache verhielte. Daß sie nicht nach einem Freistaat geflohen sei, sei schlimm für mich, und wenn ich ihm nicht rasch behilflich wäre, sie wiederzufinden, wollte er mich schon in die Klemme bringen. Anfangs glaubte ich die ganze Geschichte nicht. Meiner Mutter konnte ich’s nicht zutrauen, daß sie so gefühllos sein würde, wieder herzukommen, da sie doch wissen mußte, welcher Gefahr sie mich aussetzte. Und nun ist sie doch hier! – Wäre ich nur nicht so dumm gewesen, ihm zu geloben, daß ich ihm helfen würde, sie zu suchen. Ich hab’s ihm ganz ruhig versprochen, weil ich mir einbildete, es könnte nichts schaden. Wenn ich sie ihm nun ausliefere, so wird sie – aber, wie kann ich’s ändern? Thue ich’s nicht, so muß ich das Geld zahlen und wo soll ich’s hernehmen? – Könnte ich ihn nicht zwingen, mir zu schwören, daß er sie von jetzt ab gut behandeln wird – sie sagt ja selbst, er ist kein böser Mensch, und wenn er verspräche, daß sie nie wieder überarbeitet und schlecht genährt werden soll oder –«

Ein greller Blitz beleuchtete Toms bleiches Gesicht; man las die quälenden Gedanken in seinen verzerrten Zügen.

»Dreh‘ das Gaslicht auf, damit ich dich besser sehen kann,« befahl jetzt Roxana mit scharfem Ton, obgleich ihre Stimme bebte. »So – nun laß dich mal betrachten. Du siehst ja so weiß aus wie dein Hemd, Schamber. – Hast du den Mann gesehen? Hat er dich aufgesucht?«

»I – ja.«

»Wann?«

»Montag mittag.«

»War er mir auf der Spur?«

»Er – glaubte und hoffte es. Hier ist der Zettel, den du gesehen hast.« Tom nahm ihn aus der Tasche.

»Lies ihn mir vor.«

Sie keuchte vor Aufregung und in ihren Augen lag ein düsterer Glanz, der Tom nicht ganz verständlich war – ihm jedoch bedrohlich schien. Auf dem Zettel sah man den gewöhnlichen rohen Holzschnitt, der eine laufende Negerin mit dem Turban auf dem Kopf darstellte, welche ein Bündel an einem Stock über der Schulter trug. Darüber stand in großen Buchstaben geschrieben: Hundert Dollars Belohnung. Tom las die Anzeige laut vor – wenigstens den Teil, der Roxanas Beschreibung enthielt, sowie die Adresse ihres Herrn in St. Louis und diejenige seines Agenten in der Vierten Straße. Die Stelle aber, welche besagte, daß die Bewerber um die Belohnung sich auch an Herrn Thomas Driscoll wenden könnten, unterdrückte er klüglich.

»Gieb mir den Zettel!«

Tom hatte ihn eben zusammengefaltet, um ihn in die Tasche zu stecken. Es lief ihm kalt über den Rücken, doch sagte er mit der gleichgültigsten Miene von der Welt:

»Wozu? Du kannst ihn ja doch nicht lesen. Was soll er dir nützen?«

»Gieb mir den Zettel!« Tom that es; doch merkte sie ihm sein Zögern an. »Hast du mir auch alles vorgelesen?«

»Jawohl, gewiß.«

»Halt‘ die Hand in die Höhe und schwöre mir’s.«

Nachdem Tom auch dies gethan hatte, steckte Roxana das Papier sorgfältig ein. Die ganze Zeit über verwandte sie jedoch kein Auge von Toms Gesicht.

»Du lügst!« sagte sie.

»Weshalb sollte ich denn wohl lügen?«

»Das weiß ich nicht – aber du lügst – wenigstens glaub‘ ich’s. Doch darum handelt’s sich jetzt nicht. Als ich den Mann sah, bekam ich solchen Schreck, ich könnt‘ kaum noch auf den Beinen, stehen. Dann gab ich ’nem Neger einen Dollar für die Kleider hier, und seitdem bin ich in kein Haus mehr gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht. Ich schwärzte mein Gesicht und verbarg mich tags im Keller von ’nem alten abgebrannten Haus und nachts kroch ich zwischen die Zuckerfässer und Kornsäcke auf der Werft und stahl was ich brauchte, um meinen Hunger zu stillen. Was zu kaufen getraut‘ ich mir nicht und bin schier verschmachtet. Auch hierher dürft‘ ich mich erst heut wagen, in dieser Regennacht, wo kaum ein Mensch unterwegs ist. Seit es dunkel wurde, hab‘ ich drüben in der Gasse gestanden und gewartet, daß du vorbeikommen solltest. Und nun bin ich hier.«

Sie verlor sich eine Weile in Gedanken, dann fragte sie:

»Letzten Montag mittag hast du den Mann gesehen?«

»Ja.«

»Ich sah ihn am selben Nachmittag. Nicht wahr, er hat dich aufgesucht?«

»Ja.«

»Hat er dir gleich den Zettel gegeben?«

»Nein, damals war er noch nicht gedruckt.«

Roxana warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Hast du ihm nicht geholfen, die Schrift aufzusetzen?« Tom war innerlich wütend, daß er sich so dumm verschnappt hatte und suchte es wieder gut zu machen, indem er sagte, er erinnere sich jetzt, daß der Mann ihm den Zettel doch am Montag mittag gegeben habe.

»Jetzt lügst du wieder,« sagte Roxana. Dann richtete sie sich hoch empor. »Ich will dir ’ne Frage vorlegen, der kannst du nicht ausweichen,« fuhr sie fort. »Du weißt, daß er mich verfolgt, und wenn du fortläufst, statt hier zu bleiben und ihm zu helfen, so argwöhnt er sicher, daß etwas mit dem Handel nicht in Ordnung ist. Dann erkundigt er sich nach dir, man weist ihn an deinen Onkel, der liest den Zettel und sieht, daß du ’ne freie Negerin flußabwärts verkauft hast. Du kennst deinen Onkel. Er zerreißt sein Testament auf der Stelle und jagt dich zum Haus ’naus. Nun sag‘ mal, wie steht’s: Hast du dem Mann nicht gesagt, ich würd‘ gewiß hierher kommen, dann wolltest du’s schon so einrichten, daß er mich in ’ne Falle locken und fangen könnt‘?«

Tom sah ein, daß weder Lügen noch Ausreden ihm mehr helfen würden – er saß fest wie im Schraubstock und konnte sich nicht rühren. Sein Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an und er sagte mit verbissenem Ingrimm:

»Was hätte ich denn anders thun können? Du siehst ja selbst, daß ich in seiner Gewalt war und mir kein Ausweg blieb.«

Roxy durchbohrte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Was du thun konntest? – An deiner eigenen Mutter konntest du zum Judas werden, um deine erbärmliche Haut zu retten! Sollte man’s für möglich halten! Kein Hund wär’s im stande. Du bist das niederträchtigste, elendeste Geschöpf, was die Sonne bescheint. Und ich hab‘ dich geboren! –« dabei spie sie ihn an.

Tom machte keinen Versuch sich aufzulehnen. Nach kurzer Ueberlegung fuhr Roxy fort:

»Jetzt werd‘ ich dir sagen, was du thun sollst: Du giebst dem Mann das Geld, das du in Verwahrung hast, und bittest ihn, auf den Rest zu warten, bis du ihn vom Richter Driscoll holen kannst, um mich loszukaufen.«

»Schockschwerenot! Wo denkst du hin? Von meinem Onkel soll ich dreihundert und etliche Dollars fordern? Was könnte ich ihm denn sagen, wozu ich sie brauche, he?«

Roxys Antwort kam in klaren, bestimmten Worten:

»Du sagst ihm, daß du mich verkauft hast, um deine Spielschulden zu zahlen, daß du ein Schurke bist, der mich belogen hat, und ich dich zwinge, das Geld zu schaffen, um mich wieder frei zu machen.«

»Bist du denn ganz von Sinnen? – Er würde ja sein Testament in tausend Fetzen reißen das mußt du doch wissen.«

»Ja, ich weiß es.«

»Und du glaubst, daß ich dumm genug sein werde, zu ihm zu gehen?«

»Von glauben ist nicht mehr die Rede – ich weiß, du wirst’s thun. Ich weiß es – weil kein Zweifel ist, daß, wenn du das Geld nicht beibringst, ich selbst zu ihm gehe. Dann wird er dich flußabwärts verkaufen, und du kannst sehen, wie dir’s behagt.«

Zitternd vor Erregung stand Tom auf und schritt nach der Thür; sein Auge hatte einen bösen Blick. Er sagte, er müsse einen Moment ins Freie gehen, in der Stickluft des Zimmers könne er es nicht mehr aushalten. Draußen werde es ihm klarer im Kopf werden, da wolle er überlegen, was zu thun sei. Roxy lächelte ingrimmig über seinen vergeblichen Versuch, die Thür zu öffnen.

»Ich hab‘ den Schlüssel, Söhnchen – setz‘ dich nur wieder,« sagte sie. Du brauchst gar nicht erst zu überlegen, was du thun willst – ich weiß schon, was du thust.«

In hilfloser Verzweiflung saß Tom da und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Nach einer Weile fragte Roxy: »Ist der Mensch hier im Haus?«

Tom sah sie erstaunt an: »Hier! Wie kommst du darauf?«

»Durch dich. Frische Luft schöpfen – ja wohl! Die Bosheit steht dir im Gesicht geschrieben. Du bist der erbärmlichste Hund, den je – aber das hab‘ ich dir schon mal gesagt. – Also, heut ist Freitag. Du verabredest mit dem Mann, daß du fortgehen willst, das Geld zu holen und Dienstag oder Mittwoch damit zurückkommst. Verstehst du mich?«

»Ja,« antwortete Tom mit finsterer Miene.

»Und wenn du den neuen Kaufbrief hast, in dem steht, daß ich wieder frei bin, schickst du ihn gleich an Herrn Querkopf Wilson, und schreibst auf den Umschlag, er soll ihn behalten, bis ich komm‘. Hörst du?« »Ja.«

»Das ist also abgemacht. Jetzt setz‘ deinen Hut auf und nimm den Regenschirm.«

»Wozu?«

»Weil du mich bis zur Werft begleiten sollst. Siehst du dies Messer? Ich trag’s bei mir seit dem Tag, als ich den Mann sah; zugleich mit den Kleidern hab‘ ich’s mir gekauft. Wenn er mich fangen würde, wollt‘ ich mich damit umbringen. Nun geh‘ voran, aber vorsichtig; und wenn du hier im Haus ein Zeichen giebst, oder jemand dich auf der Straße anredet, stoß‘ ich dich mit dem Messer nieder. Glaubst du mir, Schamber, daß ich thu‘, was ich sag‘?«

»Laß doch die langweilige Frage. Ich weiß, daß dein Wort gilt!«

»Ja, ganz anders wie deins. Nun mach‘ das Licht aus und komm – hier ist der Schlüssel.«

Kein Mensch folgte ihnen. Tom erbebte jedesmal, wenn ein verspäteter Wanderer an ihnen vorüberstreifte und glaubte schon den kalten Stahl im Rücken zu fühlen. Roxy blieb ihm dicht auf den Fersen, um ihn nicht aus ihrem Bereich zu lassen. So gingen sie über eine Meile weiter, bis in eine ganz öde Gegend der menschenleeren Werft; da trennten sie sich bei strömendem Regen in der Dunkelheit.

Während des Heimwegs stürmten hundert schwere Gedanken und wilde Pläne auf Tom ein, zuletzt kam er jedoch zu dem trübseligen Schluß: »Es giebt nur den einen Ausweg – ich muß ihr den Willen thun. Aber etwas anders werde ich die Sache doch anfangen. Ich will nicht um das Geld bitten und mich zu Grunde richten – ich will es dem alten Geizhals stehlen.«

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Mit der kleinen Summe Geldes, die Wilson bei seiner Ankunft besaß, kaufte er eins der letzten Häuschen am äußersten Westende der Stadt. Von dem Driscollschen Wohnhaus trennte ihn nur ein großer, mit Gras bewachsener Hof, den ein Lattenzaun in zwei Hälften teilte. Sein Geschäftsbureau mietete er unten in der Stadt und hing ein Blechschild heraus, auf dem zu lesen stand:

David Wilson,
Rechtsanwalt und Notar.
Ausfertigung von gerichtlichen Urkunden, Kostenanschlägen
u. s. w.

Aber jene erste unglückselige Bemerkung hinderte sein Fortkommen als Advokat gänzlich. Es stellten sich keine Klienten ein. So nahm er denn das Schild nach einer Weile wieder herunter und hing es mit veränderter Inschrift an seinem eigenen Hause auf. Er bot jetzt dem Publikum seine bescheidenen Dienste als Landmesser, Buchhalter und Rechnungsführer an. Gelegentlich bekam er auch Arbeit: ein Feld zu vermessen oder die Bücher eines Kaufmanns in Ordnung zu bringen. Mit echt schottischer Geduld und Ausdauer nahm er sich vor, seinem ungünstigen Ruf zum Trotze es doch noch einmal zu einer Anwaltspraxis zu bringen. Der arme Mensch konnte freilich nicht voraussehen, welche jahrelange Mühsal ihn das kosten würde.

Er hatte natürlich großen Ueberfluß an müßiger Zeit, aber das lastete nicht schwer auf ihm; denn für jede neue Erfindung auf geistigem Gebiet interessierte er sich eifrig und stellte sofort die darauf bezüglichen Versuche bei sich daheim an. Zu seinen besonderen Liebhabereien gehörte es, die Linien der menschlichen Hand zu entziffern. Er hatte auch noch ein anderes Steckenpferd, das er anscheinend nur zur Unterhaltung betrieb, denn den eigentlichen Zweck desselben wollte er niemand erklären, auch gab er ihm keinen Namen. Seine Liebhabereien – das hatte er bald herausgefunden – trugen nur noch mehr dazu bei, ihn in den Ruf eines Querkopfs zu bringen, und so hütete er sich wohl, zu viel davon laut werden zu lassen. Das Steckenpferd ohne Namen war eine Sammlung von Abdrücken der Fingerspitzen verschiedener Leute. In seiner Rocktasche führte Wilson immer einen flachen Kasten bei sich, welcher innen Falze hatte, in denen fünf Zoll breite Glasplättchen steckten. Auf jedem der Gläser war unten ein Stück weißes Papier aufgeklebt. Nun bat er irgend jemand, sich mit der Hand durchs Haar zu fahren, (wodurch sich etwas von dessen natürlicher Fettigkeit den Fingern mitteilte) und zuerst den Daumen, dann jede einzelne Fingerspitze der Reihe nach auf einem Glasplättchen abzudrücken. Auf dem Zettel unter den fünf schwachen Fettflecken, die so entstanden, verzeichnete er genau Namen, Jahr und Datum, z. B.: John Smith, rechte Hand – nahm dann den Abdruck von Smiths linker Hand auf einer andern Glasplatte und notierte auch dies pünktlich auf dem weißen Zettel. Beide Gläser kamen nun wieder in den Kasten und wurden Wilsons Sammlung einverleibt. Er nannte sie seine ›Protokolle‹ und war oft stundenlang, ja bis tief in die Nacht hinein beschäftigt, sie mit der größten Genauigkeit zu prüfen und zu untersuchen. Ob er aber irgend etwas darin entdeckte, und was das möglicherweise sein konnte, verriet er niemand. Manchmal zeichnete er auch eins der so gewonnenen, zarten, verschlungenen Muster des obersten Fingergliedes auf Papier und machte dann eine riesige Vergrößerung davon mit Hilfe des Storchschnabels, so daß er das Gewebe der geschweiften Linien ganz ohne Mühe nach Belieben betrachten konnte. An einem drückend heißen Nachmittag – es war der erste Juli 1830 – saß er in seinem Studierzimmer, das, nach Westen gelegen, auf eine Anzahl leerer Baustellen hinausging. Neben ihm lag ein Stoß Rechnungsbücher, die er in Ordnung bringen sollte. Ein Gespräch, das draußen geführt wurde, störte ihn bei der Arbeit. Die beiden Personen mußten nicht dicht beisammen sein, denn sie schrieen einander laut zu.

»Sag‘ mal, Roxy, was macht dein Kleiner, gedeiht er gut?« tönte es von fern her.

»Das will ich meinen, und du, Jasper, bist du auch auf dem Strumpf?« schrie es in nächster Nähe.

»Na, es macht sich, kann nicht klagen. Bald komm ich zu dir, Roxy, ich will dich freien.«

»Untersteh‘ dich, du abscheulicher Schmutzfink! Hahaha! Das fehlte mir noch, mich mit so ’nem schwarzen Nigger abzugeben wie du einer bist. Der alten Tante Cooper ihre Nancy hat dir wohl den Laufpaß gegeben?« Roxys sorgloses Gelächter schallte wieder hell durch die Luft.

»Bist eifersüchtig, Roxy! Wahrhaftig ja – hahaha! Hab’s erraten, du Dirne!«

»Oho, was du dir nicht einbild’st! – Gieb nur acht, daß dein Dünkel nicht nach innen schlägt, sonst bringt er dich noch um. Wenn du mir gehören thätest, verkaufte ich dich lieber heut wie morgen flußabwärts – du treibst’s zu bunt. Wart‘ nur, ich sag‘ deinem Herrn, er soll’s thun, sobald ich ihn seh‘.«

So ging dies leere müßige Geschwätz noch endlos fort, denn die beiden fanden ihr Wortgefecht sehr unterhaltend und witzig und waren stolz auf die schlagfertigen Antworten, die sie gaben.

Wilson trat ans Fenster, um das Paar näher zu betrachten. Bis das Geplapper aufgehört hatte, konnte er doch nicht arbeiten.

Drüben auf dem Bauplatz in der glühenden Sonne saß Jasper, ein junger kohlschwarzer Neger von prächtigem Wuchs, auf einem Schiebkarren. Statt seinem Geschäft nachzugehen, ruhte er erst ein Stündchen aus, um zum Beginn der Arbeit Kräfte zu sammeln. Vor Wilsons Veranda aber stand Roxy neben dem nach Landessitte geflochtenen Kinderwagen, worin ihre beiden Pflegebefohlenen, jeder an einem Ende, einander gegenüber saßen. Nach Roxys Redeweise zu urteilen, hätte man sie für eine Schwarze halten sollen, aber da irrte man sich gewaltig. Was etwa farbig an ihr war – höchstens der sechzehnte Teil – das sah man nicht. Ihre hohe Gestalt, ihre stolze Miene und Haltung machten einen majestätischen Eindruck; in jeder Bewegung, jeder Gebärde prägte sich edle Anmut und Würde aus. Sie war sehr weiß und zart, die Wangen rosig angehaucht von Kraft und Gesundheit, auch hatte sie ein wohlgeformtes, kluges, anziehendes Gesicht, charakterfeste ausdrucksvolle Züge, braune, feuchtschimmernde Augen und schönes braunes Haar, dessen üppige Fülle sie jedoch unter einem buntkarierten Tuch verbarg, das sie turbanartig um den Kopf gebunden trug. Ihr Benehmen unter ihresgleichen war frei und ungezwungen, doch dabei etwas herrisch und von oben herab; aber natürlich war sie in Gegenwart weißer Leute die Demut und Fügsamkeit selbst.

Dem Ansehen nach war Roxy wirklich so weiß, wie man nur irgend sein konnte, aber ihr eines farbiges Sechzehntel schlug alle anderen fünfzehn Sechzehntel aus dem Felde und machte sie zur Negerin, zur verkäuflichen Sklavin. An ihrem Kinde war sogar nur ein Zweiunddreißigstel farbig, aber es galt dennoch nach Gesetz und Sitte für einen Neger und Sklaven. Es harte blaue Augen und blonde Locken, wie sein kleiner weißer Altersgenosse; aber selbst der Vater des weißen Knaben, der sich nur wenig um die Kinder bekümmerte, konnte sie an der Kleidung unterscheiden: der kleine Weiße trug ein feines, reich mit Falbeln besetztes Musselinkleidchen und ein Korallenhalsband, während der andere keinerlei Schmuck besaß und nur ein grobes leinenes Hemd anhatte, das ihm kaum bis zu den Knieen reichte. Der weiße Knabe hieß Thomas à Becket Driscoll, der andere Valet de Chambre, ohne Vatersnamen – den durfte kein Sklave führen. Roxana hatte die Benennung irgendwo aufgeschnappt; der Klang gefiel ihr, und da sie glaubte, es sei ein Rufname, beglückte sie ihren Liebling damit. Natürlich wurde er bald in ›Schamber‹ abgekürzt.

Wilson hatte Roxy schon öfters gesehen, und als sich das Wortgeplänkel zu Ende neigte, trat er vors Haus, um ein paar Abdrücke zu sammeln. Sobald Jasper ihn gewahrte, gab er seinen Müßiggang auf und ging eifrig an die Arbeit, während Wilson die Kinder in Augenschein nahm.

»Wie alt sind sie, Roxy?« fragte er.

»Beide gleich alt, – gerade fünf Monat. Am ersten Februar geboren.«

»Ein paar nette Kerlchen. Einer so hübsch wie der andere.«

Roxy lachte vor Vergnügen übers ganze Gesicht und zeigte ihre weißen Zähne. »Schönen Dank, Massa Wilson, wie gut von Ihnen, das zu sagen, denn einer ist ja bloß ein Neger, wissen Sie. Der niedlichste kleine Neger von der Welt, sag‘ ich immer, aber natürlich nur, weil es meiner ist.«

»Wie unterscheidest du sie denn, Roxy, wenn sie keine Kleider anhaben?«

Sie brach in ein ungeheures Gelächter aus.

»O, ich kenne sie schon von einander; aber Massa Percy – da wett‘ ich drauf – der könnte sie nicht unterscheiden – um keinen Preis, nein, nein.«

Wilson plauderte noch ein Weilchen fort, dann nahm er einen Abdruck von Roxys Fingerspitzen für seine Sammlung – rechte Hand und linke Hand – auf zwei Glasplättchen, schrieb Namen und Datum auf den Zettel und machte es mit den Händchen der Kleinen ebenso.

Zwei Monate später, am dritten September, ließ er sich die Abdrücke des Dreiblatts noch einmal geben. Bei Kindern pflegte er in kürzeren Pausen die Aufnahmen vorzunehmen, bei älteren Leuten in Pausen von einigen Jahren.

Tags darauf – das heißt am vierten September – fand ein Ereignis statt, das einen tiefen Eindruck auf Roxana machte. Herr Driscoll vermißte abermals eine kleine Summe Geldes – womit angedeutet werden soll, daß das nichts Neues war, sondern sich schon mehrmals wiederholt hatte; es geschah bereits zum vierten Mal.

Driscoll verlor endlich die Geduld. Er war kein hartherziger Mann; Sklaven und andere Tiere behandelte er stets mit Milde, gegen irrende Brüder von seiner eigenen Rasse zeigte er sogar große Nachsicht. Aber Unredlichkeit verabscheute er, und offenbar war ein Dieb im Hause. Es konnte nur einer seiner Neger sein. Da galt es scharfe Maßregeln zu ergreifen. Er rief die Dienerschaft zusammen, welche außer Roxy noch aus drei Personen, einem Mann, einer Frau und einem zwölfjährigen Knaben bestand; verwandtschaftliche Beziehung hatten sie nicht zu einander.

»Ich habe euch alle schon mehrmals gewarnt, aber es ist umsonst gewesen. Diesmal will ich Ernst machen. Der Dieb wird verkauft. Wer von euch ist der Schuldige?«

Es schauderte ihnen bei dieser Drohung; hier waren sie gut aufgehoben, jeder Wechsel brachte höchst wahrscheinlich eine Verschlechterung. Alle leugneten standhaft. Niemand hatte etwas gestohlen – wenigstens kein Geld – vielleicht ein Stückchen Zucker oder Kuchen, einen Löffel Honig oder dergleichen, worauf es Massa Percy nicht weiter ankam – aber kein Geld – auch nicht einen Cent. Sie beteuerten es mit großer Zungengeläufigkeit, allein Herr Driscoll ließ sich nicht rühren. »Nenne den Dieb!« war alles, was er jedem mit strenger Stimme erwiderte.

Thatsächlich waren alle schuldig, außer Roxana, die zwar argwöhnte, daß die andern den Diebstahl begangen hatten, es aber nicht gewiß wußte. Ihr graute, wenn sie bedachte, wie nahe daran sie selbst gewesen war, das Geld zu nehmen; nur der Bußtag in der Methodistenkirche der Farbigen vor vierzehn Tagen hatte sie noch im letzten Augenblick davor behütet. Gerade am Tage nach diesem Gottesdienst, während sie noch ihrer Sündenvergebung eingedenk und stolz auf ihre Seelenreinheit war, hatte ihr Herr ein paar Dollars offen auf seinem Pult herumliegen lassen, und als sie mit dem Staubtuch dorthin kam, geriet sie in schwere Versuchung. Eine Weile sah sie das Geld mit steigendem Groll von der Seite an.

»O, der dumme Bußtag,« rief sie dann, »hätte man ihn doch bis morgen verschoben!«

Um dem Versucher nicht zu erliegen, deckte sie ein Buch darüber und der Mammon fiel einem der anderen Sklaven zu. Sie brachte dies Opfer, weil sie noch zu sehr unter dem Eindruck der religiösen Handlung stand. Als Beispiel für spätere Fälle sollte es durchaus nicht gelten; in ein bis zwei Wochen war sie wieder weltklug und nahm es weniger streng mit der Frömmigkeit, und wenn das nächste Mal ein paar Dollars so verlassen dalagen, würde sie sich gern ihrer erbarmen.

War sie denn schlecht von Natur oder überhaupt schlimmer als ihre Rasse im allgemeinen? Keineswegs. Die Farbigen befanden sich im Kampf ums Dasein in großem Nachteil gegenüber den weißen Brüdern und hielten es daher nicht für Sünde, ihre Bedrücker gelegentlich etwas auszuplündern – versteht sich nur in kleinem Maßstab; sie stahlen gewöhnlich nur unbedeutende Dinge. Eßwaren entwendeten sie aus der Speisekammer, so oft sie nur konnten, einen messingnen Fingerhut, eine Scheibe Wachs, einen Sack voll Schmirgel, ein Papier mit Nähnadeln, einen silbernen Löffel, einen Dollarschein, Bänder, allerlei Putz oder andere ziemlich wertlose Gegenstände, hielten sie für gute Beute. Sie fanden durchaus kein Unrecht darin, sich dergleichen anzueignen und gingen ohne die geringsten Gewissensbisse mit dem geraubten Gut in der Tasche zur Kirche, um dort voll aufrichtiger Frömmigkeit so laut zu singen und zu beten, wie sie nur konnten. Jede Räucherkammer auf dem Lande mußte fest verschlossen und verriegelt sein, denn selbst der farbige Diakonus verschmähte es nicht, einen Schinken mitzunehmen, wenn die Vorsehung ihm im Traume oder auf andere Weise kundthat, wo ein solcher leckerer Gegenstand einsam am Nagel hing und nach einem Freunde schmachtete. Hätten aber auch hundert Schinken dagehangen, der Diakonus würde nur einen genommen haben – das heißt, nicht zwei auf einmal. In kalten Nächten pflegte ein mitleidiger schwarzer Gauner den Hennen, die auf einem Baum Nachtruhe hielten, ein gewärmtes Brett unter die erstarrten Klauen zu schieben. Schläfrig setzte sich dann ein Huhn mit dankbarem Glucksen auf das behagliche Plätzchen, der Gauner aber steckte den Vogel unbekümmert in seinen Sack und verzehrte ihn später mit Vergnügen. Er war fest überzeugt, daß er dem weißen Manne, der ihm täglich ein unschätzbares Gut – seine Freiheit – raubte, ruhig diese Kleinigkeit entwenden dürfe, ohne damit eine Sünde zu begehen, die Gott ihm am Tage des Gerichts zurechnen werde.

»Nenne den Dieb!«

Driscoll hatte es schon zum vierten Mal mit rauher Stimme gerufen. Jetzt fügte er eine schreckliche Drohung hinzu:

»Ich gebe euch noch eine Minute Zeit« – er zog seine Uhr heraus. »Wenn ihr nach Ablauf derselben nicht gesteht, verkaufe ich euch alle vier – aber nicht hier am Ort, sondern nach Süden – flußabwärts

Das hieß so viel als zur Hölle verdammt werden, kein Missouri-Neger zweifelte daran. Roxy konnte sich kaum aufrecht halten, sie wurde leichenblaß; die andern fielen auf die Kniee wie vom Blitz getroffen, Thränen stürzten aus ihren Augen, sie hoben flehend die Hände empor, und alle drei riefen wie aus einem Munde:

»Ich hab’s gethan!«

»Ich hab’s gethan!«

»Ich hab’s gethan!« – »Gnade, Massa, Gnade! – Herrgott erbarme dich über uns arme Neger!«

Driscoll steckte seine Uhr ein. »Nun gut,« sagte er, »ich will euch hier verkaufen, obwohl ihr es nicht verdient. Von Rechts wegen sollte ich euch den Fluß hinunter schicken.«

Die Schuldigen warfen sich in überschwenglichem Dankgefühl vor ihm auf den Boden, küßten ihm die Füße und versicherten, sie würden seine Güte nun und nimmermehr vergessen und ihr Leben lang für ihn beten. Sie meinten das ganz aufrichtig, denn, hatte er nicht wie ein Gott seine mächtige Hand ausgereckt und die Pforten der Hölle vor ihnen verschlossen? – Er selbst wußte, daß er eine edle, hochherzige That vollbracht hatte und war innerlich stolz auf seine Großmut. Am Abend schrieb er den Vorfall in sein Tagebuch, damit sein Sohn ihn in späteren Jahren lesen könnte und durch sein Beispiel angetrieben würde, ebenfalls Güte und Menschlichkeit walten zu lassen.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Tom warf sich wieder auf das Sofa und preßte die Hände an seine pochenden Schläfen. Die Ellbogen auf das Knie gestützt, wiegte er sich laut stöhnend hin und her.

»Ich habe vor einer erbärmlichen Negerin gekniet,« murmelte er mit verbissener Wut. »Schon vorher glaubte ich den äußersten Grad von Erniedrigung erreicht zu haben – aber das war nichts im Vergleich. Nun – eine Gewißheit bleibt mir wenigstens – es ist freilich nur ein leidiger Trost – tiefer kann ich nicht noch fallen, eine größere Schmach giebt es nicht.«

Doch das war eine voreilige Behauptung.

Als er um zehn Uhr an jenem Abend die Leiter im Gespensterhaus erklomm, sah er bleich und schwach aus, und ihm war elend zu Mute. Roxy hatte ihn kommen hören; sie stand an der Stubenthür und wartete auf ihn.

Das zweistöckige Blockhaus lag unbenutzt da, seit vor einigen Jahren das Gerücht entstanden war, es sei darin nicht geheuer. Niemand wollte mehr dort wohnen, bei Nacht vermied man die Gegend ängstlich, auch am hellen Tage machten die meisten Leute lieber einen weiten Bogen, um nicht in die Nähe des gefürchteten Gespensterhauses zu kommen. Mit der Zeit war es in Verfall geraten und drohte einzustürzen, da man keinerlei Ausbesserung vornahm; es stand etwa dreihundert Meter von Querkopf Wilsons Haus entfernt, als letztes Gebäude nach dieser Seite hin, dazwischen war nichts als unbebautes Land.

Tom folgte Roxy in die Stube hinein. In einer Ecke lag eine Schütte reines Stroh, auf dem sie schlief; ihre ärmlichen, aber sauber gehaltenen Kleidungsstücke hingen an der Wand, eine Blechlaterne warf hier und da kleine Lichtflecke auf den Boden, einige alte leere Kisten, die verstreut umherstanden, ersetzten die Stühle. Nachdem sie beide Platz genommen hatten, begann Roxy:

»Ich mach‘ kein langes Federlesen und komm‘ jetzt gleich zur Sache; vom Geld reden wir nachher – ich hab’s nicht eilig. Was glaubst du wohl, daß ich dir sagen will?«

»Nun du – du – o Roxy, mache mir’s doch nicht so schwer. Schieß los und sage, daß du irgendwie dahinter gekommen bist, in welche Klemme ich mich gebracht habe durch thörichten Leichtsinn und Ausschweifung.«

»Leichtsinn – Ausschweifung – i bewahre! Das ist rein gar nichts im Vergleich zu dem, was ich weiß.«

Tom starrte sie mit offenem Munde an: »Aber Roxy, was soll denn das heißen?«

Sie stand auf und blickte düster und erbarmungslos, wie das Schicksal selbst, auf ihn herab.

»Ich will dir’s sagen – und ’s ist die lauterste Wahrheit. Du bist so wenig mit dem alten Massa Driscoll verwandt wie ich selbst – daß du’s nur weißt.« Ihr Auge flammte auf in wildem Triumph.

»Was!«

»Jawohl – und damit ist’s noch nicht genug. Du bist ein Nigger – als Sklave geboren und nichts anderes als ein Nigger und Sklave bis zu dieser Stunde. Wenn ich den Mund aufthu‘, verkauft dich der alte Massa Driscoll nach dem Süden, flußabwärts, bevor noch zwei Tage um sind.«

»Was faselst du da, du erbärmliche alte Hexe, es ist eine verdammte Lüge!«

»Die reine Gotteswahrheit ist’s – meiner Seel‘, ich lüge nicht. Glaub‘ mir’s nur – du bist mein Sohn

»Du Teufelsweib!«

»Und der arme Junge, den du heut‘ gestoßen und geschlagen hast, der ist Percy Driscolls Sohn und dein Herr!«

»Du Ungeheuer!«

»Sein Name ist Tom Driscoll und du heißt Valet de Schamber, ’nen Familiennamen hast du nicht, weil den kein Neger hat!«

Tom sprang auf, griff nach einem Holzscheit und hob es drohend empor, aber seine Mutter lachte nur höhnisch.

»Setz‘ dich hin, du Gelbschnabel,« sagte sie. »Glaubst du, ich fürcht‘ mich vor dir und deinesgleichen? Wenn du könntest, jagtest du mir ’ne Kugel in’n Rücken – das säh‘ dir ganz gleich – ich kenn‘ dich durch und durch. Bring‘ mich nur um – dir nützt’s doch nichts – alles ist aufgeschrieben und in sichern Händen. Der Mann, der’s in Verwahrung hat, weiß auch, wer der Rechte ist, an den er sich halten muß, wenn mir ein Leids geschieht. – Du meine Güte, denkst du denn, deine Mutter ist ebenso erzdumm wie du? Das bilde dir nur nicht ein. Jetzt setz‘ dich dorthin, betrag‘ dich anständig und steh‘ nicht eher wieder auf, bis ich dir’s sage!«

Tom war wie rasend vor ohnmächtiger Wut. Eine Weile tobte er noch und stürmte im Zimmer umher, endlich schien er zu einem festen Entschluß zu kommen.

»Es ist alles nur Unsinn und Faselei,« sagte er so bestimmt er konnte. »Gehe nur hin und versuche es, mich zu verderben; ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen.«

Ohne ein Wort der Erwiderung nahm Roxy die Laterne vom Nagel und schritt nach der Thür. Der kalte Angstschweiß trat Tom auf die Stirne.

»Komm wieder, Roxy, komm wieder!« jammerte er. »Es war nicht mein Ernst, ich will es nie mehr sagen, ich nehme alles zurück? Sei nur gut, Roxy, und bleibe hier.«

Das Weib stand einen Augenblick still und befahl dann in strengem Ton:

»Eins muß jetzt ganz aufhören, Valet de Schamber. Du darfst mich nicht mehr Roxy nennen, als wärest du meinesgleichen. So reden Kinder nicht mit der Mutter. Du sagst Ma oder Mammy zu mir, wie sich’s gehört – wenigstens wenn niemand dabei ist. – Sag’s!«

Mühsam brachte Tom das Wort heraus.

»So ist’s recht. Vergiß das nicht wieder, sonst soll dir’s übel bekommen. Also – du hast eben versprochen, du wirst es nie mehr Lüge und Unsinn nennen? Nun gut – ich warne dich: hör‘ ich’s noch einmal aus deinem Munde, so hast du’s zum letztenmal gesagt. Auf der Stelle geh‘ ich dann zum Richter Driscoll, sag‘ ihm, wer du bist und geb‘ ihm die Beweise. Glaubst du mir das alles, Schamber?«

»O,« stöhnte Tom, »ja, ich glaube es – ich weiß es nur zu gut!«

Roxys Triumph war vollständig, das stand außer Frage. Zwar hätte sie ihre Behauptung keinem Menschen gegenüber beweisen können, und die schriftliche Aufzeichnung war ganz erlogen, aber sie wußte, mit wem sie es zu thun hatte und der Erfolg entsprach vollkommen ihrer Erwartung.

Im Bewußtsein ihres herrlichen Sieges nahm sie mit stolzer Haltung wieder auf der alten Kiste Platz, als wäre es ein Thron.

»Nun also, Schamber, – reden wir jetzt von Geschäften; mit der Narretei ist’s aus. Du kriegst fünfzig Dollars monatlich – davon zahlst du die Hälfte deiner alten Mammy. Heraus damit!«

Aber Tom hatte auf der Gotteswelt nichts als sechs Dollars. Die gab er ihr und versprach, vom neuen Monat an ihre Forderung zu erfüllen.

»Wie groß sind deine Schulden, Schamber?«

»Fast dreihundert Dollars,« sagte Tom schaudernd.

»Wie denkst du sie zu bezahlen?«

Tom stöhnte laut. »Das weiß ich nicht; was fragst du mich nach so schrecklichen Dingen?«

Aber sie ließ sich nicht abweisen und trieb ihn immer mehr in die Enge, bis er sich zu einem Geständnis bequemte. Vor vierzehn Tagen, während alle Welt glaubte, er sei in St. Louis, hatte er einen förmlichen Raubzug gegen seine Mitbürger unternommen. Er war verkleidet umhergeschlichen und hatte allerlei Wertsachen aus Privathäusern entwendet. Die Beute, welche er fortschickte, genügte aber noch nicht, um soviel Geld dafür zu lösen, als er brauchte, und doch getraute er sich, bei der Aufregung, die in der Stadt herrschte, jetzt nicht, das Wagnis zu wiederholen.

Seine Mutter billigte das Unternehmen und bot ihm ihre Hilfe an, allein das erschreckte ihn nur. Mit ängstlichem Stammeln brachte er endlich die Bitte vor, sie möge die Stadt verlassen. Er würde sich dann wohler und sicherer fühlen und den Kopf höher halten können. Zu seiner freudigen Ueberraschung unterbrach sie ihn, als er noch weitere Gründe anführen wollte, und erklärte sich mit diesem Vorschlag ganz einverstanden. Sie sagte, es wäre ihr einerlei, wo sie wohnte, wenn sie nur das Kostgeld regelmäßig ausgezahlt erhielte; doch werde sie nicht weit fortgehen, und einmal im Monat nach dem Gespensterhaus kommen, um ihr Geld in Empfang zu nehmen.

»Seit vielen langen Jahren hab‘ ich dich verabscheut, aber jetzt hass‘ ich dich nicht mehr so arg,« sagte sie. »Alles hatt‘ ich für dich gethan – dich ausgetauscht, dir ’ne gute Familie und ’nen vornehmen Namen gegeben, dich zu ’nem reichen, weißen Herrn gemacht, der seine Kleider im Laden kauft – und was war mein Dank? – Verachtet hast du mich immerzu, mich vor den Leuten gescholten und geschmäht, mich fort und fort dran erinnert, daß ich ’ne Negerin bin – und – und –«

Sie brach in Schluchzen aus und konnte nicht weiter reden.

»Aber,« sagte Tom, »ich wußte doch nicht, daß du meine Mutter bist, und übrigens – –«

»Sei nur still davon, man kann’s nicht mehr ändern, ich will’s vergessen. Doch, gieb acht, daß du mich nie mehr daran erinnerst,« fügte sie drohend hinzu, »sonst geht dir’s schlecht.«

Als sie sich trennten, sagte Tom noch im süßesten Ton, der ihm zu Gebote stand: »Mammy, hättest du vielleicht nichts dagegen, mir zu sagen, wer mein Vater war?«

Wenn er geglaubt hatte, die Frage würde sie in Verlegenheit setzen, so irrte er sich gewaltig. Roxy richtete sich stolz empor.

»Ich soll was dagegen haben?« erwiderte sie. »Nein, ganz und garnichts. Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen, das sag‘ ich dir. Er gehörte zu den vornehmsten Leuten der ganzen Stadt, zu den besten Familien von altvirginischer Herkunft. Das Geschlecht ist allerwege so gut wie die Driscolls und Howards.« Sie warf sich noch mehr in die Brust und fuhr mit Nachdruck fort: »Kannst du dich noch auf Oberst Cecil Burleigh Essex besinnen, der im selben Jahr starb, wie der Pappy von deinem jungen Herrn Tom Driscoll? Alle hohen Beamten, Freimaurer und Aeltesten der Kirchen kamen und folgten ihm zu Grabe; so ’ne schöne Leiche hat die Stadt noch nie zu sehen bekommen. – Das war der Mann.«

Sie sprach mit so hohem Selbstgefühl und war so begeistert von der Erinnerung, daß ihr ganzer Jugendreiz auf einmal zurückkehrte und ihre Haltung eine stattliche Würde annahm, die man fast königlich hätte nennen können, wäre die Umgebung nur ein wenig besser damit im Einklang gewesen.

»Kein anderer Neger hier am Ort ist so hochgeboren wie du. Nun geh‘ deiner Wege und trag‘ den Kopf so hoch wie du willst – du hast das Recht dazu, verlaß dich drauf.«

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

In der folgenden Nacht schreckte Tom von Zeit zu Zeit plötzlich aus dem Schlafe auf, und sein erster Gedanke war: »Welches Glück, es ist nur ein Traum!« Aber jedesmal fiel er stöhnend wieder in die Kissen zurück und murmelte: »Ein Nigger! Ich bin ein Nigger! O, wäre ich doch tot!«

Als er im Morgengrauen munter wurde, wiederholte sich diese entsetzliche Qual abermals, und er beschloß, dem trügerischen Schlafe nicht mehr zu vertrauen; er wollte wach bleiben und mit sich zu Rate gehen. Allerlei bittere Gedanken stiegen in ihm auf und wanderten ziellos hierhin und dorthin. »Warum sind Neger und Weiße erschaffen worden? Was hat der erste ungeborene Neger verschuldet, daß er zu seinem Fluch in die Welt gesetzt wurde? Weshalb macht man einen so grauenvollen Unterschied zwischen den Weißen und Farbigen? … Wie hart erscheint mir des Negers Geschick heute morgen! – und doch ist bis gestern abend ein solcher Gedanke noch nie in meinen Kopf gekommen.« So sann er ächzend und seufzend wohl über eine Stunde lang.

Dann kam ›Schamber‹, um in unterwürfiger Haltung zu melden, daß das Frühstück bald fertig wäre. ›Tom‹ wurde feuerrot, als er sah, wie der junge vornehme Weiße vor ihm, dem Neger, im Staube kroch und ihn Massa nannte.

»Geh‘ mir aus den Augen,« schrie er ihn an, und als jener sich entfernt hatte, murmelte er: »Eigentlich hat mir der arme Kerl nichts zu Leide gethan, aber sein Anblick ist mir unerträglich. Er ist ja der junge Herr Driscoll, und ich bin ein – o, wäre ich doch tot!«

 

Ein großer vulkanischer Ausbruch in den Tropen, bei dem die Erde bebt, Staubwolken die Luft verdunkeln und die Fluten sich emportürmen, verwandelt die Landschaft ringsum bis zur Unkenntlichkeit. Die Niederung wird zur Hochfläche, Berge zu Thälern; wo sich die Wüste dehnte, glänzt ein See, und statt grüner, lachender Wiesen, sehen wir eine dürre Steppe. Auf ähnliche Weise hatte die furchtbare Katastrophe, welche über Tom hereingebrochen war, seine bisherige Umgebung in moralischer Beziehung verändert: Was ihm bisher als niedrig gegolten, ward zu den Wolken erhoben, und was er für unantastbar angesehen, lag, unter der Asche früherer Herrlichkeit begraben, in Trümmern vor ihm.

Tagelang wanderte er an einsamen Orten umher, tief in Gedanken versunken und bemüht, seinen verlorenen Halt wiederzufinden. Es wollte ihm nicht gelingen. Wenn er einen Bekannten traf, wich plötzlich seine lebenslange Gewohnheit auf geheimnisvolle Weise von ihm – er streckte nicht unwillkürlich die Hand aus, um des Freundes Hand zu schütteln – sein Arm hing schlaff herab. Es war der ›Neger‹ in ihm, der ihn an seine Niedrigkeit mahnte, er wurde rot und schämte sich. Drückte ihm dann der weiße Freund die Hand, so war der ›Neger‹ in ihm überrascht und verwirrt. Ganz von selbst trat der ›Neger‹ demütig beiseite und machte dem weißen Raufbold oder Bummler auf der Straße Platz. Und als Rowena, die Geliebte seines Herzens, die er im stillen anbetete, ihn einlud, ins Haus zu kommen, stammelte der Neger in ihm eine verlegene Entschuldigung, denn er fürchtete sich, mit hochgebietenden weißen Leuten an einem Tische zu sitzen, wie ihresgleichen. Der ›Neger‹ in ihm schlich ängstlich lauernd umher und argwöhnte Mißtrauen oder die Gefahr der Entdeckung in jedem Wort, jeder Miene und Gebärde. So fremdartig und verändert war Toms Benehmen, daß es den Leuten auffiel und sie sich umdrehten und ihm nachsahen, wenn er vorüber war. Dann wandte auch er den Blick – ganz gegen seinen Willen, aber er konnte nicht anders – und sah den verwunderten Ausdruck in diesem oder jenem Gesicht. – Von namenloser Furcht gepackt, suchte er, so rasch er konnte, die Einsamkeit auf. Wie ein gehetztes Wild floh er über Berg und Thal. »Der Fluch, der auf Ham lastet, verfolgt mich,« dachte er bei sich selber.

Am meisten waren ihm die Mahlzeiten verhaßt. Der ›Neger‹ in ihm schämte sich, mit den Weißen zusammen zu speisen, ihm bangte fortwährend davor, entdeckt zu werden. »Was ist denn mit dir los?« fragte Richter Driscoll einmal, »du machst ja ein so erbärmliches Gesicht wie ein Nigger.« Da erwiderte Tom, er fühle sich unwohl und stand rasch vom Tische auf. So mag es dem heimlichen Mörder zu Mute sein, wenn der Ankläger spricht: »Du bist der Mann!«

Vor der zärtlichen Besorgnis und den Liebkosungen seiner angeblichen ›Tante‹ hatte er ein wahres Grauen und wich ihnen so viel wie möglich aus. Gegen seinen vermeintlichen ›Onkel‹ erwachte ein förmlicher Haß in seinem Herzen, der immer mehr zunahm; denn Tom sagte sich: »er ist ein Weißer und ich bin sein Eigentum, sein Haustier, seine Ware; er kann mich verkaufen, so gut wie seinen Hund.«

Eine ganze Woche lang bildete sich Tom ein, daß sein Charakter von Grund aus verändert sei. Doch er kannte sich selber schlecht. Zwar hatten seine Ansichten in mancher Beziehung eine völlige Wandlung erfahren, die sich nie wieder rückgängig machen ließ, aber die Hauptzüge seines Charakters waren sich doch gleich geblieben und konnten nicht anders werden. Unter dem Einfluß einer großen geistigen und moralischen Erschütterung hatte es zwar äußerlich den Anschein gewonnen, als habe er mit seinem bisherigen Treiben völlig gebrochen, aber, als sich nach einer Weile der Sturm legte, verfiel er wieder in die alten Sitten und Gewohnheiten. Allmählich kehrte er auch zu seiner leichtfertigen und oberflächlichen Gesinnung und Redeweise zurück, und keiner seiner Bekannten hätte in ihm irgend einen Zug entdecken können, der ihn von dem nichtsnutzigen Tom aus früherer Zeit unterschied.

Es stellte sich bald heraus, daß jener Beutezug, den er unternommen hatte, doch ergiebiger gewesen war, als er zu hoffen gewagt. Der Ertrag genügte, um seine Spielschulden zu bezahlen, und so ging die Gefahr einer Enthüllung seines Thuns und der abermaligen Vernichtung des Testaments glücklich vorüber. Mit seiner Mutter kam er ziemlich gut aus. Zwar vermochte sie noch nicht, ihn zu lieben, weil, wie sie es ausdrückte, ›nichts an ihm war‹, aber ihrer Natur nach brauchte sie irgend jemand, den sie beherrschen konnte, und dazu war er gut genug. Durch ihren starken Charakter und ihr streitbares, gebieterisches Wesen erregte sie Toms Bewunderung, obgleich er mehr Proben davon erhielt, als er zu seiner Annehmlichkeit bedurfte. In der Regel bestand aber ihre Unterhaltung aus allerlei Klatsch und Geschwätz über die Privatangelegenheiten der besten Familien von Dawson, in deren Küchen sie regelmäßig ihre Ernte hielt, so oft sie zur Stadt kam. Das gefiel Tom, denn es war ganz nach seinem Geschmack. Sie stellte sich immer pünktlich ein, um die Hälfte seines Monatsgeldes zu holen; bei dieser Gelegenheit trafen sie jedesmal im Gespensterhaus zusammen und plauderten eine Weile. Auch in der Zwischenzeit machte sie ihm ab und zu dort einen Besuch.

Manchmal fuhr Tom nun auch wieder auf ein paar Wochen nach St. Louis, und eines Tages unterlag er abermals der Versuchung zum Glücksspiel. Er gewann eine Menge Geld, verlor es aber wieder und noch eine beträchtliche Summe obendrein, die er versprach, so bald als möglich aufzutreiben.

Zu dem Zweck plante er einen neuen Beutezug in Dawson. Seine Räubereien an einem fremden Orte zu unternehmen, kam ihm nicht in den Sinn, denn er hätte sich nicht in ein Haus hineingewagt, ohne daß er die Aus- und Eingänge genau kannte und mit den Gewohnheiten der Familie vertraut war.

Am Mittwoch vor der Ankunft der Zwillinge begab er sich verkleidet in das Gespensterhaus, nachdem er seiner Tante Pratt geschrieben hatte, er käme erst in zwei Tagen. Dort hielt er sich bei seiner Mutter versteckt, und ging erst am Freitag früh, ehe es hell wurde, nach dem Driscollschen Hause. Durch die Hinterthür gelangte er in sein Zimmer, wo er den Spiegel und sonstige Toilettengegenstände benützen wollte. Er trug einen Anzug von seiner Mutter, nebst schwarzem Schleier und Handschuhen und unter dem Arm ein Bündel mit Mädchenkleidern, die er zu dem Streifzug anzulegen dachte. Jetzt dämmerte der Morgen: er war mit der Verkleidung fertig und wollte eben das Zimmer verlassen, als er durch das Fenster drüben Querkopf Wilson sah, der ihn ohne Zweifel ebenfalls erblickt hatte. Nun übte er sich, um Wilson zu täuschen, eine Weile in allerlei Schritten und graziösen Stellungen vor dem Spiegel, trat dann rasch in den Hintergrund, legte die erste Verkleidung wieder an, wartete noch geraume Zeit und ging dann die Treppe hinunter und zur Hinterpforte hinaus. Er wollte auf dem Schauplatz seiner beabsichtigten Thaten Umschau halten. Doch war ihm unbehaglich zu Mute. Zwar glaubte er nicht, daß Wilson, wenn er noch auf der Lauer war, ein armes, altes Weib beachten werde, das früh am Morgen aus der Hinterthür des Nachbarhauses kam, deshalb hatte er Roxys Kleid wieder angezogen und schlich in gebückter Haltung einher. Wie aber, wenn nun Wilson doch Verdacht geschöpft hätte und ihm heimlich folgte? – Bei dem Gedanken wurde es Tom bald heiß bald kalt; er beschloß den Raubzug aufzugeben und eilte auf den verborgensten Wegen nach dem Gespensterhaus zurück. Seine Mutter war fort, doch kam sie im Laufe des Vormittags wieder und brachte die Nachricht von der großartigen Empfangsfeierlichkeit bei Patsy Cooper. Leicht überredete sie ihren Sohn, daß dies eine besondere Fügung des Himmels sei, die sie sich gar nicht besser wünschen könnten. So unternahm Tom doch noch den Streifzug und brachte reichliche Beute mit, während alle Bewohner bei Frau Cooper waren. Durch den Erfolg ermutigt, wurde er so tollkühn, daß er den Raub nur rasch seiner Mutter übergab, die in einem Hintergäßchen auf ihn wartete, und dann selbst dem Empfang der Zwillinge beiwohnte. Auch dort im Hause vermehrte er seine Beute noch um verschiedene Wertsachen.

 

Nach dieser langen Abschweifung sind wir jetzt wieder an dem Punkt unserer Erzählung angekommen, bei dem wir Querkopf Wilson verließen. Er saß an jenem Freitag-Abend zu Hause, wartete auf die Ankunft der Zwillinge und zerbrach sich den Kopf über das Mädchen, das er am Morgen in Tom Driscolls Schlafzimmer gesehen hatte. Soviel er aber auch hin und her riet und nachsann und sich verwunderte, er brachte es doch nicht heraus, wer das leichtsinnige Geschöpf wohl sein könnte.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Als die Zwillinge eingetroffen waren, kam die Unterhaltung gleich in Fluß; man plauderte lebhaft und behaglich, und der neu geschlossene Freundschaftsbund befestigte sich mehr und mehr. Auf Verlangen holte Wilson seinen Kalender herbei und las den Brüdern ein paar Stellen vor, denen sie aufrichtigen Beifall spendeten. Dies freute den Verfasser so sehr, daß er ihnen gern die Bitte gewährte, eine Handvoll Blätter mitnehmen und zu Hause lesen zu dürfen. Auf ihren weiten Reisen hatten sie die Erfahrung gemacht, daß es drei Arten giebt, sich die Gunst eines Schriftstellers zu erwerben, welche eine Stufenleiter gegenseitiger Anerkennung bilden: Erstens: man sagt ihm, man habe eins seiner Bücher gelesen. Zweitens: man versichert, man kenne seine sämtlichen Werke. Drittens: man bittet ihn um sein neuestes Buch im Manuskript. 1 Auf die erste Art gewinnt man seine Achtung, auf die zweite seine Bewunderung und auf die dritte erobert man sein ganzes Herz. Die Zwillinge waren beflissen gewesen, gleich die beste von diesen Methoden anzuwenden.

Nicht lange, so wurde ihr Gespräch unterbrochen. Der junge Tom Driscoll trat ein und ließ sich vorstellen. Als die Brüder aufstanden und ihm die Hand schüttelten, that er, als sähe er sie zum erstenmal. Aber das war nur Schein, er hatte sie schon bei der Empfangsfeier von weitem erblickt, während er das Haus bestahl. Auf die Brüder machte er den Eindruck eines hübschen Menschen mit glattem Gesicht und geschmeidigen, aalgleichen Bewegungen, die nicht ungraziös waren. Angelo fand seine Augen schön, Luigi sah einen verschleierten und listigen Ausdruck darin. Angelo gefiel die freie Ungezwungenheit seiner Art zu sprechen, Luigi fand sie nicht gerade angenehm. Angelo hielt ihn für einen ganz netten jungen Mann, Luigi war noch nicht mit sich einig darüber. Toms erster Beitrag zu der Unterhaltung bestand in einer Frage, die er wohl schon hundertmal im fröhlichsten, gutmütigsten Ton an Wilson gerichtet hatte. Sie verursachte diesem stets ein etwas peinliches Gefühl, denn sie berührte eine geheime Wunde; diesmal aber gab sie ihm einen ordentlichen Stich ins Herz, weil die Fremden zugegen waren.

»Nun, wie steht’s mit der Anwaltspraxis? Hast du schon einen Prozeß geführt?«

Wilson biß sich auf die Lippen und erwiderte so gleichgültig wie möglich: »Nein – noch nicht.«

Als Richter Driscoll den Zwillingen Wilsons Lebensgeschichte erzählte, hatte er seine Rechtsgelehrsamkeit aus zarter Rücksicht beiseite gelassen.

»Wilson ist nämlich Advokat, meine verehrten Herren,« erklärte Tom mit verbindlicher Miene, »doch praktiziert er im Augenblick nicht.«

Der Spott kränkte Wilson, aber er nahm sich zusammen und sagte, ohne seine Erregung blicken zu lassen:

»Ganz richtig – ich praktiziere nicht. Mir ist noch kein Prozeß übertragen worden, und ich habe mir mein Brot zwanzig Jahre lang mühselig mit der Durchsicht von Rechnungsbüchern verdienen müssen. Nicht einmal in dieser Beschäftigung bekam ich hier am Orte so viele Aufträge, als ich gewünscht hätte. Aber, daß ich die Rechtswissenschaft gründlich studiert und nichts versäumt habe, um mich zu einem tüchtigen Anwalt auszubilden, ist nicht minder wahr. In deinem Alter, Tom, hatte ich bereits meinen Beruf erwählt, und wäre jederzeit imstande gewesen, ihn auszuüben. Vielleicht wird mir nie die Gelegenheit dazu geboten, tritt aber der Fall noch ein, so soll es an mir nicht fehlen, denn ich habe meine Rechtsstudien alle die Jahre her ununterbrochen fortgesetzt.«

Tom hatte den Hieb wohl gefühlt, aber er ließ sich nicht einschüchtern. »Bravo,« rief er, »gesprochen wie ein Mann – das gefällt mir. Wie wär’s, wenn ich dich zu meinem Geschäftsträger machte,« fuhr er lachend fort. »Deine Rechtspraxis und meine Geschäfte würden sich so ziemlich die Wage halten, meinst du nicht auch, David?«

»Es giebt allerlei Geschäfte –« versetzte Wilson. Er dachte an das Fräulein in Toms Zimmer, und hatte schon vor, den jungen Menschen wegen seines heimlichen und verwerflichen Treibens zur Rede zu setzen, doch kam er wieder davon zurück. »Nein,« unterbrach er sich, »was ich sagen wollte, ist kein Gegenstand für eine allgemeine Unterhaltung.«

»Dann lassen wir es besser auf sich beruhen. Du wolltest mir gewiß noch einen zweiten Rippenstoß geben, reden wir lieber von etwas anderem: Was macht denn dein geheimnisvolles Steckenpferd neuerdings? Weißt du, deine ›Protokolle‹, wie du sie nennst. Wilson hat nämlich den Plan, das gewöhnliche Fensterglas aus der Mode zu bringen und durch Scheiben zu ersetzen, die mit Abdrücken fettiger Finger verziert sind. Er wird steinreich werden, wenn er seine Erfindung an alle gekrönten Häupter Europas zum Schmuck für ihre sämtlichen Paläste verkauft. – Zeige uns doch einmal deinen Schatz, David.«

Wilson brachte drei Glasplättchen herbei. »Ich bitte die Herren, sich mit der rechten Hand durchs Haar zu fahren, wodurch sich etwas von der natürlichen Fettigkeit den Fingern mitteilt – und jede einzelne Fingerspitze der Reihe nach auf das Glas zu drücken. Alle feinen Linien in der Haut zeichnen sich dann genau darauf ab und verwischen sich nicht wieder, wenn sie nicht durch die Berührung mit einem rauhen Gegenstand ausgelöscht werden. Du zuerst, Tom!«

»Ich dächte, du hättest den Abdruck meiner Finger schon ein- oder zweimal genommen.«

»Ja? aber beim letztenmal warst du noch ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren.«

»Das stimmt. Seitdem habe ich mich natürlich ganz verändert, und die gekrönten Häupter sollen ja wohl die mannigfachsten Verzierungen auf ihre Fensterscheiben bekommen.«

Er fuhr sich mit der Hand durch sein kurzgeschorenes Haar und drückte dann jeden Finger einzeln auf das Glas. Angelo benützte ein anderes Plättchen zu dem gleichen Zweck, und zuletzt Luigi ein drittes. Nun fügte Wilson noch Namen und Datum bei und bewahrte die Glasplättchen wieder auf.

»Eigentlich wollte ich nichts sagen,« meinte Tom lachend, »aber, wenn dir’s auf Verschiedenartigkeit ankommt, so hast du jetzt eben ein Glas unnütz vergeudet. Die Fingerabdrücke des einen Zwillings sind genau wie die des anderen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen,« sagte Wilson und nahm wieder Platz, »mir ist’s so wie so lieber, wenn ich sie beide habe.«

»Aber, wie steht’s denn, David,« fuhr Tom fort, »früher hast du doch auch aus der Hand gewahrsagt, wenn du die Abdrücke nahmst? – Er ist nämlich ein Allerweltsgenie – eine Größe ersten Ranges, ein tiefsinniger Gelehrter, der hier am Ort verkümmert, ein Prophet, der nur so viel gilt, wie alle Propheten im Vaterlande – hier fragt kein Mensch nach seiner Weisheit und man nennt seinen Schädel ein Museum voll komischer Einfälle – nicht wahr, David, so ist’s! Doch einerlei – er wird schon noch sein Glück machen – ein gläsernes Glück mit Fettabdrücken – hahaha! Wirklich, die Wahrsagerei ist famos – lassen Sie ihn nur einmal Ihren Handteller betrachten! Wer für sein Geld nicht genug hat, bekommt es an der Kasse zurückbezahlt. Er liest, was drin geschrieben steht, als wäre es ein Buch und sagt einem nicht nur sechs Dutzend Dinge voraus, die geschehen werden, sondern auch fünfzig oder sechzigtausend, die nicht eintreffen. Komm, David, zeige den Herren, was für einen wunderbaren Tausendkünstler unsere Stadt besitzt, ohne daß wir es ahnen.«

Für Wilson war dies spöttische und nicht sehr rücksichtsvolle Geschwätz eine arge Pein, und das that den Zwillingen in der Seele weh. Sie urteilten ganz richtig, daß sie ihm die größte Wohlthat erweisen würden, wenn sie die Sache ernsthaft behandelten und Toms Neckereien unbeachtet ließen, deshalb sagte Luigi:

»Wir haben auf unsern Reisen öfters Beispiele von Handwahrsagerei erlebt und uns selbst davon überzeugt, wie erstaunliche Dinge sie zu leisten vermag. Sie ist eine Wissenschaft – wie sollte man sie wohl anders nennen, und zwar eine der tiefsinnigsten. – Im Orient zum Beispiel –«

»Dies Taschenspielerkunststück eine Wissenschaft!« – rief Tom mit verwunderter, ungläubiger Miene. »Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein.«

»Mein völliger Ernst. Vor vier Jahren hat man uns unser Schicksal aus der Hand geweissagt, als ob es dort geschrieben stände.«

»So meinen Sie also wirklich, daß etwas an der Sache ist?« fragte Tom, dessen Unglaube schon zu wanken begann.

»Versteht sich,« fiel jetzt Angelo ein. »Die Schilderung unserer Charaktere zum Beispiel stimmte in allen Einzelheiten; wir hätten kaum noch etwas hinzuzufügen gewußt. Auch wurden mehrere denkwürdige Thatsachen aus unserer Vergangenheit enthüllt, von denen keiner der Anwesenden das Geringste wissen konnte.«

»Das ist ja die reinste Zauberei,« rief Tom mit immer wachsendem Interesse. »Und was man Ihnen von der Zukunft vorausgesagt hat, ist auch eingetroffen?«

»Im allgemeinen ja – so ziemlich,« sagte Luigi. »Zwei oder drei der Hauptereignisse jedenfalls; das allerwichtigste sogar noch im selben Jahre. Auch von den unbedeutenden Prophezeiungen haben sich einige bereits erfüllt, und die andern großen oder kleinen können mit der Zeit noch wahr werden – vielleicht gehen sie auch nie in Erfüllung, doch gestehe ich, daß mich das mehr überraschen würde, als wenn das Gegenteil eintritt.«

Die Worte machten einen tiefen Eindruck auf Tom, aller Mutwillen war ihm vergangen.

»Höre, David,« sagte er im Ton der Entschuldigung, »du mußt nicht etwa denken, daß ich deine Wissenschaft herabsetzen wollte; es machte mir nur Spaß, dich ein wenig damit aufzuziehen. Bitte, laß dir doch einmal ihre Handflächen zeigen. Nicht wahr, du thust mir den Gefallen.«

»Jawohl, gern, wenn du es wünschest; aber, du weißt ja, ich habe nie Gelegenheit gehabt, mich ganz mit der Kunst vertraut zu machen und will auch nicht als Sachverständiger gelten. Wenn ein vergangenes, wichtiges Ereignis sehr deutlich in den Linien der Hand geschrieben steht, kann ich es meist erkennen, aber, was geringfügiger ist, entgeht mir oft – natürlich nicht immer, jedoch häufig. Wenn es aber gilt, in der Zukunft zu lesen, so bin ich meiner Sache nicht recht sicher. Ich spreche beinahe, als ob ich die Handwahrsagerei lebhaft betreibe, doch das ist durchaus nicht der Fall. In den letzten sechs Jahren habe ich kaum ein halbes Dutzend Hände untersucht. Die Leute fingen an, sich darüber lustig zu machen, und da ließ ich die Kunst einschlafen, um dem Gerede ein Ende zu machen. Wenn es Ihnen recht ist, Graf Luigi, will ich einmal einen Versuch mit Ihrer Vergangenheit machen – glückt mir der, dann – doch nein, an die Zukunft will ich mich überhaupt nicht wagen; das sollte wirklich nur ein ganz Kundiger thun.«

Als er Luigis Hand nahm, sagte Tom: »Warte einen Augenblick, David, – sieh noch nicht hin! Hier, Graf Luigi, ist Papier und Bleistift. Schreiben Sie die Prophezeiung auf, von der Sie sagten, es sei die allerwichtigste gewesen und sie habe sich noch im nämlichen Jahr erfüllt. Dann geben Sie mir den Zettel, damit ich sehen kann, ob David das Erlebnis in Ihrer Hand entdeckt.«

Luigi schrieb eine Zeile, faltete das Papier zusammen und reichte es Tom mit den Worten: »Wenn er es findet, werde ich Sie auffordern, das Geschriebene vorzulesen.«

Nun begann Wilson seine Untersuchung von Luigis Handfläche. Er folgte den Lebenslinien, den Herz- und Kopflinien und beobachtete auch alle die feineren und zarteren Merkmale und Verzweigungen genau, die sich spinnwebartig nach allen Seiten ausbreiteten. Dann befühlte er den fleischigen Ballen am Daumen, merkte auf dessen Form, strich von der Wurzel des kleinen Fingers bis zum Handgelenk hinunter, untersuchte jeden Finger besonders nach Größe, Gestalt und Verhältnis zu den anderen, auch ihre natürliche Lage im Zustand der Ruhe. Die Anwesenden schauten seinem Verfahren mit der größten Spannung zu, sie steckten die Köpfe zusammen, beugten sich über Luigis Hand, und keiner unterbrach die Stille mit einem Laut. Schließlich wiederholte Wilson die Untersuchung noch einmal von Anfang an und verkündete zugleich das Ergebnis.

Er entwarf eine genaue Schilderung von Luigis Charakter und Gemütsart, beschrieb seine Geschmacksrichtung, seine Zu- und Abneigungen, seine natürlichen Anlagen und Absonderlichkeiten, so daß Luigi oft die Lippen zusammenkniff und die andern lachten. Beide Zwillinge erklärten jedoch, daß jeder Zug richtig sei und alle Angaben zuträfen.

Hierauf ging Wilson zu Luigis Lebensgeschichte über. Er verfuhr dabei nur zögernd und mit großer Vorsicht; langsam strich er mit den Fingern über die Hauptlinien der inneren Hand und hielt zuweilen bei einem Kreuzpunkt oder einem besonderen Kennzeichen still, um die ganze Stelle sorgfältig zu durchforschen. Einige Thatsachen aus Luigis Vergangenheit, die er aufzählte, erwiesen sich als richtig, und die Untersuchung ward fortgesetzt. Auf einmal sah Wilson überrascht in die Höhe.

»Hier stoße ich auf ein Ereignis, von dem Sie vielleicht nicht wünschen würden – –«

»Sprechen Sie es nur aus,« sagte Luigi gutmütig, »es wird mich nicht in Verlegenheit bringen, verlassen Sie sich darauf.«

Aber Wilson zögerte noch immer und schien nicht recht zu wissen, was er thun sollte.

»Es ist wirklich eine zu heikle Sache,« sagte er endlich. »Ich möchte sie lieber aufschreiben oder Ihnen ins Ohr flüstern, damit Sie selbst entscheiden, ob man davon reden soll oder nicht.«

»Das wird am besten sein,« versetzte Luigi, »schreiben Sie es nieder.«

Wilson warf einige Worte auf ein Stück Papier, das er Luigi reichte. Dieser las sie für sich und sagte dann zu Tom:

»Sehen Sie nach, was auf Ihrem Zettel steht, Herr Driscoll.«

Tom las laut:

»Man prophezeite mir, daß ich einen Menschen umbringen würde. Der Spruch ging in Erfüllung, noch ehe das Jahr vorüber war.«

»Nun lesen Sie auch dies!«

» Sie haben jemand umgebracht, ob es aber ein Mann, eine Frau oder ein Kind ist, kann ich nicht ermitteln,« las Tom mit Verwunderung. »Aber, das ist ja unerhört, das geht über alle Begriffe,« rief er in großer Erregung. »Die eigene Hand eines Menschen ist sein ärgster Todfeind – sie führt ein Verzeichnis über die schlimmsten und verborgensten Geheimnisse seines Lebens und ist stets bereit, sie dem ersten besten Schwarzkünstler, der des Weges kommt, treulos zu verraten. Warum lassen Sie denn aber auch Ihre Hand ansehen, wenn etwas so Schreckliches darin geschrieben steht?«

»O, das macht mir nichts aus,« versetzte Luigi gelassen. »Ich hatte meine guten Gründe, den Mann zu töten und bereue es keineswegs.«

»Weshalb thaten Sie es denn?«

»Es war ein Ding der Notwendigkeit.«

»Ich will Ihnen sagen, wie es kam, da mein Bruder mit der Sprache zögert,« rief jetzt Angelo eifrig. »Er tötete ihn, um mir das Leben zu retten; es war eine edle That, die das Licht nicht zu scheuen braucht.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht,« bestätigte Wilson, »wer so etwas um seines Bruders willen vollbringt, darf sich dessen wohl rühmen.«

Luigi schüttelte den Kopf. »Es klingt zwar alles sehr schön, was ihr da sagt, aber mit der Selbstlosigkeit, dem Heldentum und Edelmut ist’s nicht weit her. Vergeßt nur nicht, daß ich Angelos Leben retten mußte, weil sonst auch meines bedroht war. Würde der Mann mich etwa nicht umgebracht haben, nachdem er meinen Bruder getötet hatte? Also habe ich mir selbst das Leben gerettet.«

»Ja, so sprichst du immer,« rief Angelo, »aber ich kenne dich und glaube, du hast gar nicht an dich selbst gedacht. Die Waffe, mit der Luigi den Mann getötet hat, bewahre ich als Andenken und will sie Ihnen einmal zeigen. Sie hat durch dies Ereignis noch an Interesse gewonnen, aber schon ehe sie in Luigis Hände kam, hatte sie ihre Geschichte. Ein großer indischer Prinz, der Gaikowar von Baroda, in dessen Familienbesitz sie sich seit zwei oder drei Jahrhunderten befand, hat sie Luigi geschenkt. Schon manchem, der jenem Hause feindlich gesinnt oder lästig war, mag damit der Garaus gemacht worden sein. Es ist ein absonderliches Ding, ganz anders geformt als ein gewöhnliches Dolchmesser. Ich will Ihnen gleich eine Zeichnung davon machen.« Er nahm ein Blatt Papier und warf rasch eine Skizze hin. »So ungefähr sieht es aus – die breite, mörderische Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser. Die Namen oder Abzeichen seiner Besitzer sind der Reihe nach darin eingegraben. Luigis Namen und unser Wappen ließ ich selbst in lateinischer Schrift hinzufügen. Ganz eigentümlich ist auch der Griff; er besteht aus massivem, spiegelglattem Elfenbein, ist rund, vier bis fünf Zoll lang und so dick wie das Handgelenk eines starken Mannes. Das Ende ist abgeplattet, damit der Daumen darauf ruhen kann, wenn man das Dolchmesser emporhebt, um zuzustoßen. Der Gaikowar zeigte uns, wie man es handhaben muß, als er es Luigi gab, und noch in derselben Nacht stieß ihm mein Bruder einen seiner Leute mit dem Messer nieder. Die Scheide ist mit prachtvollen Edelsteinen von großem Werte reich verziert und würde Ihnen vielleicht noch besser gefallen als die Waffe selbst.«

Als Tom das hörte, dachte er bei sich: »Wie gut, daß ich hergekommen bin; ich hätte das Dolchmesser um einen Pappenstiel verkauft, weil ich die Edelsteine für gewöhnliches Glas hielt.«

»Erzählen Sie doch weiter,« bat Wilson, »wir sind begierig, etwas von dem Ueberfall zu erfahren. Wie ging es denn dabei zu?«

»Das Messer war einzig und allein schuld daran. Ein eingeborener Diener schlich sich des Nachts in unser Zimmer im Palast, um es zu stehlen, ohne Zweifel wegen der kostbaren Steine auf der Scheide, die ein ganzes Vermögen wert sind. Es lag unter Luigis Kopfkissen und wir waren beide im Bett. Ich schlief, Luigi aber wachte, und beim düstern Schein des Nachtlichts, das im Zimmer brannte, glaubte er die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, die sich dem Lager näherte. Er zog das Messer aus der Scheide und rüstete sich zur Gegenwehr. Decken und Betttücher brauchte er nicht erst zurückzuschlagen, denn bei der großen Hitze hatten wir keine. Plötzlich richtete sich jener Eingeborene neben dem Bette auf und beugte sich über mich; in seiner erhobenen Rechten funkelte ein Dolch, mit dem er nach meiner Kehle zielte. Doch rasch packte Luigi den Mann am Handgelenk, warf ihn zu Boden und stieß ihm das scharfe Messer ins Genick. – Das ist die ganze Geschichte.«

Die Zuhörer holten tief Atem, und man sprach noch eine Weile über den schrecklichen Vorfall. Dann griff Wilson nach Toms Hand.

»Laß doch einmal sehen, Tom,« sagte er, »ob bei dir nicht irgend eine kleine, verborgene Heimlichkeit zu entdecken wäre. Zufällig habe ich deine Handfläche noch nie besichtigt. – Oho! –«

Tom hatte ihm rasch die Hand entzogen und sah ganz bestürzt aus.

»Er wird ordentlich rot,« rief Luigi.

»So?« erwiderte Tom heftig und warf ihm einen bösen Blick zu, »aber doch wenigstens nicht, weil ich ein Mörder bin!«

Luigis dunkle Augen flammten; ehe er jedoch etwas thun oder sagen konnte, rief Tom schon mit ängstlicher Hast: »O, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, ich habe das gar nicht sagen wollen, es fuhr mir nur so heraus. Es thut mir wirklich sehr, sehr leid – nicht wahr, Sie verzeihen mir?«

Wilson kam ihm zu Hilfe und suchte die Sache friedlich beizulegen, so gut er konnte. Das gelang ihm auch vollkommen, so weit es die Zwillinge betraf; denn ihnen war die unangenehme Lage, in die Wilson durch die rohen Worte seines Gastes geraten war, peinlicher als die Beleidigung selbst. Auf Tom hatte aber Wilsons Vermittlung keine so günstige Wirkung. Zwar stellte er sich möglichst unbefangen, und man merkte ihm auch äußerlich keine Verstimmung an, aber im Grunde grollte er doch den drei Zeugen seiner Unhöflichkeit. Es verdroß ihn, daß sie überhaupt zugegen gewesen waren und seine Worte beachtet hatten, und dabei vergaß er fast, sich über seinen eigenen Mangel an Lebensart zu ärgern. Doch bald geschah etwas, wodurch seine Gemütsverfassung wieder behaglicher und menschenfreundlicher wurde. Die Zwillinge fingen nämlich unter sich Streit an; es war zwar nur ein unbedeutender Wortwechsel, aber sie erhitzten sich doch in kurzer Zeit gewaltig gegen einander. Tom hatte große Freude daran und that was er konnte, um das Feuer zu schüren, natürlich mit Vorsicht, und indem er sich den Anschein gab, als wünsche er es zu dämpfen. Bald entfachte sich die Glut mit seiner Hilfe mehr und mehr, und vielleicht hätte er im nächsten Augenblick die Genugthuung gehabt, die Flamme emporlodern zu sehen, wäre der Auftritt nicht durch ein Klopfen an der Thür unterbrochen worden. Diese Störung kam ihm ebenso ungelegen, wie sie Wilson angenehm war.

Der neue Ankömmling, dem Wilson die Thür öffnete, war ein gutmütiger, handfester und ungebildeter Irländer von mittleren Jahren, Namens John Buckstone, ein großer Politiker im kleinen, der an allen öffentlichen Angelegenheiten einen hervorragenden Anteil nahm. Gerade jetzt war die Stadt in voller Aufregung wegen der herrschenden Meinungsverschiedenheit über den Genuß berauschender Getränke. Die Rum-Partei kämpfte einen erbitterten Kampf mit der Anti-Rum-Partei. Buckstone gehörte zu ersterer und war abgesandt worden, um die Zwillinge aufzusuchen und sie einzuladen, einer Massenversammlung der Rum-Partei beizuwohnen. Er richtete seine Botschaft aus und fügte hinzu, daß die Bundesbrüder sich schon in der großen Halle des Markthauses versammelten. Luigi folgte der Aufforderung bereitwillig, Angelo dagegen nur zögernd, denn er liebte weder ein großes Gedränge, noch konnte er den starken, amerikanischen Branntwein vertragen. Auch neigte er dem Mäßigkeitsverein zu.

Als die Zwillinge sich mit Buckstone entfernten, schloß sich ihnen Tom Driscoll unaufgefordert an. Schon von weitem konnte man die lange Reihe der Fackeln hin- und herschwanken sehen, die sich die Hauptstraße hinunter bewegten; die Pauken dröhnten, die Zimbeln schmetterten, die Querpfeifen quiekten, und fernes Hurrahgeschrei schallte an ihr Ohr. Eben stiegen die letzten Teilnehmer am Zuge die Treppe des Markthauses hinauf, als die Zwillinge sich dem Gebäude näherten; sie fanden die Halle schon dicht gedrängt voll von Menschen, die Fackeln rauchten und überall herrschte Lärm und Begeisterung.

Buckstone führte die Brüder auf die Rednerbühne, wohin ihnen Tom Driscoll gleichfalls folgte, und stellte sie dem Präsidenten vor, während die Menge sie mit lautem Zuruf willkommen hieß. Als der Lärm sich etwas gelegt hatte, forderte der Vorsitzende die Anwesenden auf: »die erlauchten Gäste damit zu begrüßen, daß wir sie alsbald zu Mitgliedern unserer glorreichen Vereinigung – dem Paradies der Freien und dem Verderben der Sklaven – durch allgemeines Handaufheben erwählen.«

Dieser rednerische Erguß öffnete die Schleusen der Begeisterung von neuem; die Wahl erfolgte mit Einstimmigkeit und donnerndem Beifall. Dann vernahm man stürmische Rufe: »Feuchtet sie an! Feuchtet sie an! Sie sollen uns Bescheid thun!«

Jedem Zwilling wurde ein Glas Whisky gereicht. Luigi schwenkte es in der Luft und setzte es dann an die Lippen, während Angelo das seinige hinstellte. Wieder erhob sich ein Geschrei.

»Was soll das bedeuten? Was ist mit dem andern los? Warum will der Blonde uns nicht zutrinken? Wie sollen wir das verstehen?«

Der Vorsitzende zog Erkundigungen ein und erstattete der Versammlung Bericht:

»Wir haben einen unglücklichen Irrtum begangen, meine Herren. Es stellt sich heraus, daß Graf Angelo Capello unsere Ueberzeugung nicht teilt. Er ist eigentlich ein Mäßigkeitsvereinler und hat gar nicht die Absicht gehabt, Mitglied bei uns zu werden. Deshalb wünscht er, daß wir über seine Wahl noch einmal abstimmen. Ich bitte die Herren, dies in Erwägung zu ziehen.«

Nun entstand ein gellendes Gelächter, in das sich lautes Murren und Pfeifen mischte; doch gelang es dem Präsidenten durch den kräftigen Gebrauch der Glocke die Ruhe einigermaßen wiederherzustellen. Ein Mann aus der Menge ergriff das Wort und sagte, daß der Mißgriff zwar sehr zu bedauern sei, doch ließe er sich unmöglich bei der heutigen Zusammenkunft wieder gut machen. Nach den Statuten könne das erst in der nächsten, regelmäßigen Sitzung geschehen. Er wolle keinen Antrag stellen, da das nicht erforderlich sei, doch wünsche er, den Herrn Grafen im Namen des Hauses um Entschuldigung zu bitten und ihn zu versichern, daß die ›Söhne der Freiheit‹ alles thun würden, um ihm seine zeitweilige Mitgliedschaft so angenehm wie möglich zu machen.

Die Rede wurde mit schallendem Beifall aufgenommen. »Ganz einverstanden!« tönte es von allen Seiten. »Mäßigkeitsvereinler oder nicht – er ist doch ein guter Kerl! Laßt ihn leben! Bringt ihm ein Hoch aus, leert die Gläser!«

Auf der Rednerbühne wurden Gläser herumgereicht, man trank auf Angelos Gesundheit und die ganze Versammlung brüllte im Chor:

Hoch soll er leben,
Hoch soll er leben,
Hoch soll er leben.
Dreimal hoch!!!

Tom Driscoll trank auch; es war sein zweites Glas, denn er hatte Angelos Glas geleert, sobald dieser es hinstellte. Der doppelte Trunk machte ihn sehr lustig, sogar unbändig ausgelassen; er begann sich aufs lebhafteste an allem zu beteiligen, was geschah und sich besonders beim Pfeifen und Johlen, sowie durch allerlei schnöde Bemerkungen hervorzuthun.

Der Präsident, der eben eine Ansprache beginnen wollte, stand noch vorn an der Rampe, ihm zur Seite die Zwillinge. Die wunderbare Aehnlichkeit der beiden Brüder brachte Tom Driscoll darauf, einen Witz zu machen; er trat vor und wandte sich mit trunkener Dreistigkeit an die Versammlung:

»Jungens,« rief er, »ich stelle den Antrag: der da soll schweigen und das lebendige Vielliebchen neben ihm eine Rede vom Stapel lassen.«

Der komische Vergleich der Zwillinge mit einem Vielliebchen gefiel den Anwesenden, die in ein donnerndes Gelächter ausbrachen. Luigis feuriges Gemüt ertrug jedoch die Beleidigung, die ihm in Gegenwart von vierhundert Fremden angethan wurde, nicht mit Gelassenheit. Seine ganze Natur empörte sich dagegen, die Sache ruhig hinzunehmen, ohne auf der Stelle Wiedervergeltung zu üben. Kochend vor Wut trat er mit ein paar Schritten hinter den ahnungslosen Witzbold, holte aus und versetzte ihm mit wahrer Riesenkraft einen so gewaltigen Fußtritt, daß Tom geradeswegs über die Rampe hinweggeschleudert wurde und den ›Söhnen der Freiheit‹ in der vorderen Reihe auf die Köpfe fiel.

Selbst in völlig nüchternem Zustand ist es keinem Menschen angenehm, wenn er ganz harmlos dasteht und plötzlich so ein lebendiges Wurfgeschoß auf ihn losgelassen wird. Wer aber einen Rausch hat, kann dergleichen gar nicht vertragen. Die ›Söhne der Freiheit‹, auf deren Köpfen Tom landete, hatten alle schon etwas über den Durst getrunken, es gab überhaupt in der ganzen Versammlung kaum jemand, der nicht zu tief ins Glas geschaut hatte. So wurde denn Tom mit Entrüstung sofort auf die Köpfe der nächsten Reihe weiterbefördert, die ihn wieder auf die Hintermänner ablud und zugleich mit den vorderen ›Söhnen der Freiheit‹, von denen er auf sie geworfen worden war, eine wütende Schlägerei begann. Das ging so weiter, von einer Bank zur andern, bis Tom, auf seinem stürmischen Fluge durch die Luft, die Thür erreichte. Hinter ihm tobten, rauften, fluchten und wetterten alle in wildem Durcheinander. Eine Reihe brennender Fackeln nach der andern wurde bei dem Handgemenge auf den Boden geworfen, und bald erscholl noch lauter als der betäubende Lärm der Präsidentenglocke, als das Gebrüll der zornigen Stimmen und das Krachen der zertrümmerten Bänke, der entsetzliche Schreckensruf: » Feuer!«

Sogleich hörte der Kampf auf, das Fluchen verstummte; einen Augenblick herrschte lautlose Stille, nichts regte sich, wo eben noch der Sturm gerast hatte. Im nächsten Moment aber kam mit einem Schlage wieder Leben und Thatkraft in die Menge. Es entstand ein Wogen, Drängen und Schwanken hierhin und dorthin. Wer konnte, suchte einen Ausweg durch Thür oder Fenster, das Gewühl wurde bald weniger dicht und die Massen lichteten sich.

So schnell war die Feuerwehr wohl noch nie zur Hand gewesen; sie brauchte freilich nicht weit zu gehen, denn ihr Standquartier war in einem Anbau des Markthauses. Von ihren zwei Abteilungen hatte eine die Spritze, die andere Haken und Feuerleitern zu verwalten. Eine Hälfte jeder Abteilung gehörte zur Rum-Partei, die andere Hälfte zur Anti-Rum-Partei, das hielt man damals für recht und billig. Die Anti-Rum-Leute, die gerade im Quartier herumlungerten, waren zahlreich genug, um die Leitern und Spritzen zu bedienen. In zwei Minuten hatten sie ihre Helme und roten Hemden angelegt, denn ohne die Berufsuniform rückten sie niemals aus.

Als nun die Massenversammlung im oberen Stock über Hals und Kopf durch die lange Reihe der Fenster sprang und sich auf das Dach der Arkaden flüchtete, empfingen die Retter sie mit einem mächtigen Wasserstrahl, der einige vom Dach herunterspülte und die übrigen fast ersäufte. Aber immerhin war das Wasser dem Feuer vorzuziehen, deshalb sprangen fortwährend neue Scharen durch die Fenster und wurden erbarmungslos so lange durchweicht, bis das Haus sich völlig geleert hatte. Dann stiegen die Feuerwehrleute in den Saal hinauf und überfluteten ihn mit einer Wassermasse, die genügt hätte, um ein vierzigmal so großes Feuer zu löschen. Eine so schöne Gelegenheit sich zu zeigen, kommt für die Feuerwehr einer kleinen Stadt selten vor und muß gut ausgenützt werden. Alle anständigen und urteilsfähigen Bürger des Ortes versicherten sich deshalb nicht mehr gegen Feuerschaden, sondern gegen die Feuerwehr.

  1. Wohlverstanden – im Manuskript! Leute, die den Autor um sein gedrucktes Buch angehen, pflegen von diesem und seinem Verleger scheel angesehen zu werden. M. T.