Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

In der folgenden Nacht schreckte Tom von Zeit zu Zeit plötzlich aus dem Schlafe auf, und sein erster Gedanke war: »Welches Glück, es ist nur ein Traum!« Aber jedesmal fiel er stöhnend wieder in die Kissen zurück und murmelte: »Ein Nigger! Ich bin ein Nigger! O, wäre ich doch tot!«

Als er im Morgengrauen munter wurde, wiederholte sich diese entsetzliche Qual abermals, und er beschloß, dem trügerischen Schlafe nicht mehr zu vertrauen; er wollte wach bleiben und mit sich zu Rate gehen. Allerlei bittere Gedanken stiegen in ihm auf und wanderten ziellos hierhin und dorthin. »Warum sind Neger und Weiße erschaffen worden? Was hat der erste ungeborene Neger verschuldet, daß er zu seinem Fluch in die Welt gesetzt wurde? Weshalb macht man einen so grauenvollen Unterschied zwischen den Weißen und Farbigen? … Wie hart erscheint mir des Negers Geschick heute morgen! – und doch ist bis gestern abend ein solcher Gedanke noch nie in meinen Kopf gekommen.« So sann er ächzend und seufzend wohl über eine Stunde lang.

Dann kam ›Schamber‹, um in unterwürfiger Haltung zu melden, daß das Frühstück bald fertig wäre. ›Tom‹ wurde feuerrot, als er sah, wie der junge vornehme Weiße vor ihm, dem Neger, im Staube kroch und ihn Massa nannte.

»Geh‘ mir aus den Augen,« schrie er ihn an, und als jener sich entfernt hatte, murmelte er: »Eigentlich hat mir der arme Kerl nichts zu Leide gethan, aber sein Anblick ist mir unerträglich. Er ist ja der junge Herr Driscoll, und ich bin ein – o, wäre ich doch tot!«

 

Ein großer vulkanischer Ausbruch in den Tropen, bei dem die Erde bebt, Staubwolken die Luft verdunkeln und die Fluten sich emportürmen, verwandelt die Landschaft ringsum bis zur Unkenntlichkeit. Die Niederung wird zur Hochfläche, Berge zu Thälern; wo sich die Wüste dehnte, glänzt ein See, und statt grüner, lachender Wiesen, sehen wir eine dürre Steppe. Auf ähnliche Weise hatte die furchtbare Katastrophe, welche über Tom hereingebrochen war, seine bisherige Umgebung in moralischer Beziehung verändert: Was ihm bisher als niedrig gegolten, ward zu den Wolken erhoben, und was er für unantastbar angesehen, lag, unter der Asche früherer Herrlichkeit begraben, in Trümmern vor ihm.

Tagelang wanderte er an einsamen Orten umher, tief in Gedanken versunken und bemüht, seinen verlorenen Halt wiederzufinden. Es wollte ihm nicht gelingen. Wenn er einen Bekannten traf, wich plötzlich seine lebenslange Gewohnheit auf geheimnisvolle Weise von ihm – er streckte nicht unwillkürlich die Hand aus, um des Freundes Hand zu schütteln – sein Arm hing schlaff herab. Es war der ›Neger‹ in ihm, der ihn an seine Niedrigkeit mahnte, er wurde rot und schämte sich. Drückte ihm dann der weiße Freund die Hand, so war der ›Neger‹ in ihm überrascht und verwirrt. Ganz von selbst trat der ›Neger‹ demütig beiseite und machte dem weißen Raufbold oder Bummler auf der Straße Platz. Und als Rowena, die Geliebte seines Herzens, die er im stillen anbetete, ihn einlud, ins Haus zu kommen, stammelte der Neger in ihm eine verlegene Entschuldigung, denn er fürchtete sich, mit hochgebietenden weißen Leuten an einem Tische zu sitzen, wie ihresgleichen. Der ›Neger‹ in ihm schlich ängstlich lauernd umher und argwöhnte Mißtrauen oder die Gefahr der Entdeckung in jedem Wort, jeder Miene und Gebärde. So fremdartig und verändert war Toms Benehmen, daß es den Leuten auffiel und sie sich umdrehten und ihm nachsahen, wenn er vorüber war. Dann wandte auch er den Blick – ganz gegen seinen Willen, aber er konnte nicht anders – und sah den verwunderten Ausdruck in diesem oder jenem Gesicht. – Von namenloser Furcht gepackt, suchte er, so rasch er konnte, die Einsamkeit auf. Wie ein gehetztes Wild floh er über Berg und Thal. »Der Fluch, der auf Ham lastet, verfolgt mich,« dachte er bei sich selber.

Am meisten waren ihm die Mahlzeiten verhaßt. Der ›Neger‹ in ihm schämte sich, mit den Weißen zusammen zu speisen, ihm bangte fortwährend davor, entdeckt zu werden. »Was ist denn mit dir los?« fragte Richter Driscoll einmal, »du machst ja ein so erbärmliches Gesicht wie ein Nigger.« Da erwiderte Tom, er fühle sich unwohl und stand rasch vom Tische auf. So mag es dem heimlichen Mörder zu Mute sein, wenn der Ankläger spricht: »Du bist der Mann!«

Vor der zärtlichen Besorgnis und den Liebkosungen seiner angeblichen ›Tante‹ hatte er ein wahres Grauen und wich ihnen so viel wie möglich aus. Gegen seinen vermeintlichen ›Onkel‹ erwachte ein förmlicher Haß in seinem Herzen, der immer mehr zunahm; denn Tom sagte sich: »er ist ein Weißer und ich bin sein Eigentum, sein Haustier, seine Ware; er kann mich verkaufen, so gut wie seinen Hund.«

Eine ganze Woche lang bildete sich Tom ein, daß sein Charakter von Grund aus verändert sei. Doch er kannte sich selber schlecht. Zwar hatten seine Ansichten in mancher Beziehung eine völlige Wandlung erfahren, die sich nie wieder rückgängig machen ließ, aber die Hauptzüge seines Charakters waren sich doch gleich geblieben und konnten nicht anders werden. Unter dem Einfluß einer großen geistigen und moralischen Erschütterung hatte es zwar äußerlich den Anschein gewonnen, als habe er mit seinem bisherigen Treiben völlig gebrochen, aber, als sich nach einer Weile der Sturm legte, verfiel er wieder in die alten Sitten und Gewohnheiten. Allmählich kehrte er auch zu seiner leichtfertigen und oberflächlichen Gesinnung und Redeweise zurück, und keiner seiner Bekannten hätte in ihm irgend einen Zug entdecken können, der ihn von dem nichtsnutzigen Tom aus früherer Zeit unterschied.

Es stellte sich bald heraus, daß jener Beutezug, den er unternommen hatte, doch ergiebiger gewesen war, als er zu hoffen gewagt. Der Ertrag genügte, um seine Spielschulden zu bezahlen, und so ging die Gefahr einer Enthüllung seines Thuns und der abermaligen Vernichtung des Testaments glücklich vorüber. Mit seiner Mutter kam er ziemlich gut aus. Zwar vermochte sie noch nicht, ihn zu lieben, weil, wie sie es ausdrückte, ›nichts an ihm war‹, aber ihrer Natur nach brauchte sie irgend jemand, den sie beherrschen konnte, und dazu war er gut genug. Durch ihren starken Charakter und ihr streitbares, gebieterisches Wesen erregte sie Toms Bewunderung, obgleich er mehr Proben davon erhielt, als er zu seiner Annehmlichkeit bedurfte. In der Regel bestand aber ihre Unterhaltung aus allerlei Klatsch und Geschwätz über die Privatangelegenheiten der besten Familien von Dawson, in deren Küchen sie regelmäßig ihre Ernte hielt, so oft sie zur Stadt kam. Das gefiel Tom, denn es war ganz nach seinem Geschmack. Sie stellte sich immer pünktlich ein, um die Hälfte seines Monatsgeldes zu holen; bei dieser Gelegenheit trafen sie jedesmal im Gespensterhaus zusammen und plauderten eine Weile. Auch in der Zwischenzeit machte sie ihm ab und zu dort einen Besuch.

Manchmal fuhr Tom nun auch wieder auf ein paar Wochen nach St. Louis, und eines Tages unterlag er abermals der Versuchung zum Glücksspiel. Er gewann eine Menge Geld, verlor es aber wieder und noch eine beträchtliche Summe obendrein, die er versprach, so bald als möglich aufzutreiben.

Zu dem Zweck plante er einen neuen Beutezug in Dawson. Seine Räubereien an einem fremden Orte zu unternehmen, kam ihm nicht in den Sinn, denn er hätte sich nicht in ein Haus hineingewagt, ohne daß er die Aus- und Eingänge genau kannte und mit den Gewohnheiten der Familie vertraut war.

Am Mittwoch vor der Ankunft der Zwillinge begab er sich verkleidet in das Gespensterhaus, nachdem er seiner Tante Pratt geschrieben hatte, er käme erst in zwei Tagen. Dort hielt er sich bei seiner Mutter versteckt, und ging erst am Freitag früh, ehe es hell wurde, nach dem Driscollschen Hause. Durch die Hinterthür gelangte er in sein Zimmer, wo er den Spiegel und sonstige Toilettengegenstände benützen wollte. Er trug einen Anzug von seiner Mutter, nebst schwarzem Schleier und Handschuhen und unter dem Arm ein Bündel mit Mädchenkleidern, die er zu dem Streifzug anzulegen dachte. Jetzt dämmerte der Morgen: er war mit der Verkleidung fertig und wollte eben das Zimmer verlassen, als er durch das Fenster drüben Querkopf Wilson sah, der ihn ohne Zweifel ebenfalls erblickt hatte. Nun übte er sich, um Wilson zu täuschen, eine Weile in allerlei Schritten und graziösen Stellungen vor dem Spiegel, trat dann rasch in den Hintergrund, legte die erste Verkleidung wieder an, wartete noch geraume Zeit und ging dann die Treppe hinunter und zur Hinterpforte hinaus. Er wollte auf dem Schauplatz seiner beabsichtigten Thaten Umschau halten. Doch war ihm unbehaglich zu Mute. Zwar glaubte er nicht, daß Wilson, wenn er noch auf der Lauer war, ein armes, altes Weib beachten werde, das früh am Morgen aus der Hinterthür des Nachbarhauses kam, deshalb hatte er Roxys Kleid wieder angezogen und schlich in gebückter Haltung einher. Wie aber, wenn nun Wilson doch Verdacht geschöpft hätte und ihm heimlich folgte? – Bei dem Gedanken wurde es Tom bald heiß bald kalt; er beschloß den Raubzug aufzugeben und eilte auf den verborgensten Wegen nach dem Gespensterhaus zurück. Seine Mutter war fort, doch kam sie im Laufe des Vormittags wieder und brachte die Nachricht von der großartigen Empfangsfeierlichkeit bei Patsy Cooper. Leicht überredete sie ihren Sohn, daß dies eine besondere Fügung des Himmels sei, die sie sich gar nicht besser wünschen könnten. So unternahm Tom doch noch den Streifzug und brachte reichliche Beute mit, während alle Bewohner bei Frau Cooper waren. Durch den Erfolg ermutigt, wurde er so tollkühn, daß er den Raub nur rasch seiner Mutter übergab, die in einem Hintergäßchen auf ihn wartete, und dann selbst dem Empfang der Zwillinge beiwohnte. Auch dort im Hause vermehrte er seine Beute noch um verschiedene Wertsachen.

 

Nach dieser langen Abschweifung sind wir jetzt wieder an dem Punkt unserer Erzählung angekommen, bei dem wir Querkopf Wilson verließen. Er saß an jenem Freitag-Abend zu Hause, wartete auf die Ankunft der Zwillinge und zerbrach sich den Kopf über das Mädchen, das er am Morgen in Tom Driscolls Schlafzimmer gesehen hatte. Soviel er aber auch hin und her riet und nachsann und sich verwunderte, er brachte es doch nicht heraus, wer das leichtsinnige Geschöpf wohl sein könnte.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Als die Zwillinge eingetroffen waren, kam die Unterhaltung gleich in Fluß; man plauderte lebhaft und behaglich, und der neu geschlossene Freundschaftsbund befestigte sich mehr und mehr. Auf Verlangen holte Wilson seinen Kalender herbei und las den Brüdern ein paar Stellen vor, denen sie aufrichtigen Beifall spendeten. Dies freute den Verfasser so sehr, daß er ihnen gern die Bitte gewährte, eine Handvoll Blätter mitnehmen und zu Hause lesen zu dürfen. Auf ihren weiten Reisen hatten sie die Erfahrung gemacht, daß es drei Arten giebt, sich die Gunst eines Schriftstellers zu erwerben, welche eine Stufenleiter gegenseitiger Anerkennung bilden: Erstens: man sagt ihm, man habe eins seiner Bücher gelesen. Zweitens: man versichert, man kenne seine sämtlichen Werke. Drittens: man bittet ihn um sein neuestes Buch im Manuskript. 1 Auf die erste Art gewinnt man seine Achtung, auf die zweite seine Bewunderung und auf die dritte erobert man sein ganzes Herz. Die Zwillinge waren beflissen gewesen, gleich die beste von diesen Methoden anzuwenden.

Nicht lange, so wurde ihr Gespräch unterbrochen. Der junge Tom Driscoll trat ein und ließ sich vorstellen. Als die Brüder aufstanden und ihm die Hand schüttelten, that er, als sähe er sie zum erstenmal. Aber das war nur Schein, er hatte sie schon bei der Empfangsfeier von weitem erblickt, während er das Haus bestahl. Auf die Brüder machte er den Eindruck eines hübschen Menschen mit glattem Gesicht und geschmeidigen, aalgleichen Bewegungen, die nicht ungraziös waren. Angelo fand seine Augen schön, Luigi sah einen verschleierten und listigen Ausdruck darin. Angelo gefiel die freie Ungezwungenheit seiner Art zu sprechen, Luigi fand sie nicht gerade angenehm. Angelo hielt ihn für einen ganz netten jungen Mann, Luigi war noch nicht mit sich einig darüber. Toms erster Beitrag zu der Unterhaltung bestand in einer Frage, die er wohl schon hundertmal im fröhlichsten, gutmütigsten Ton an Wilson gerichtet hatte. Sie verursachte diesem stets ein etwas peinliches Gefühl, denn sie berührte eine geheime Wunde; diesmal aber gab sie ihm einen ordentlichen Stich ins Herz, weil die Fremden zugegen waren.

»Nun, wie steht’s mit der Anwaltspraxis? Hast du schon einen Prozeß geführt?«

Wilson biß sich auf die Lippen und erwiderte so gleichgültig wie möglich: »Nein – noch nicht.«

Als Richter Driscoll den Zwillingen Wilsons Lebensgeschichte erzählte, hatte er seine Rechtsgelehrsamkeit aus zarter Rücksicht beiseite gelassen.

»Wilson ist nämlich Advokat, meine verehrten Herren,« erklärte Tom mit verbindlicher Miene, »doch praktiziert er im Augenblick nicht.«

Der Spott kränkte Wilson, aber er nahm sich zusammen und sagte, ohne seine Erregung blicken zu lassen:

»Ganz richtig – ich praktiziere nicht. Mir ist noch kein Prozeß übertragen worden, und ich habe mir mein Brot zwanzig Jahre lang mühselig mit der Durchsicht von Rechnungsbüchern verdienen müssen. Nicht einmal in dieser Beschäftigung bekam ich hier am Orte so viele Aufträge, als ich gewünscht hätte. Aber, daß ich die Rechtswissenschaft gründlich studiert und nichts versäumt habe, um mich zu einem tüchtigen Anwalt auszubilden, ist nicht minder wahr. In deinem Alter, Tom, hatte ich bereits meinen Beruf erwählt, und wäre jederzeit imstande gewesen, ihn auszuüben. Vielleicht wird mir nie die Gelegenheit dazu geboten, tritt aber der Fall noch ein, so soll es an mir nicht fehlen, denn ich habe meine Rechtsstudien alle die Jahre her ununterbrochen fortgesetzt.«

Tom hatte den Hieb wohl gefühlt, aber er ließ sich nicht einschüchtern. »Bravo,« rief er, »gesprochen wie ein Mann – das gefällt mir. Wie wär’s, wenn ich dich zu meinem Geschäftsträger machte,« fuhr er lachend fort. »Deine Rechtspraxis und meine Geschäfte würden sich so ziemlich die Wage halten, meinst du nicht auch, David?«

»Es giebt allerlei Geschäfte –« versetzte Wilson. Er dachte an das Fräulein in Toms Zimmer, und hatte schon vor, den jungen Menschen wegen seines heimlichen und verwerflichen Treibens zur Rede zu setzen, doch kam er wieder davon zurück. »Nein,« unterbrach er sich, »was ich sagen wollte, ist kein Gegenstand für eine allgemeine Unterhaltung.«

»Dann lassen wir es besser auf sich beruhen. Du wolltest mir gewiß noch einen zweiten Rippenstoß geben, reden wir lieber von etwas anderem: Was macht denn dein geheimnisvolles Steckenpferd neuerdings? Weißt du, deine ›Protokolle‹, wie du sie nennst. Wilson hat nämlich den Plan, das gewöhnliche Fensterglas aus der Mode zu bringen und durch Scheiben zu ersetzen, die mit Abdrücken fettiger Finger verziert sind. Er wird steinreich werden, wenn er seine Erfindung an alle gekrönten Häupter Europas zum Schmuck für ihre sämtlichen Paläste verkauft. – Zeige uns doch einmal deinen Schatz, David.«

Wilson brachte drei Glasplättchen herbei. »Ich bitte die Herren, sich mit der rechten Hand durchs Haar zu fahren, wodurch sich etwas von der natürlichen Fettigkeit den Fingern mitteilt – und jede einzelne Fingerspitze der Reihe nach auf das Glas zu drücken. Alle feinen Linien in der Haut zeichnen sich dann genau darauf ab und verwischen sich nicht wieder, wenn sie nicht durch die Berührung mit einem rauhen Gegenstand ausgelöscht werden. Du zuerst, Tom!«

»Ich dächte, du hättest den Abdruck meiner Finger schon ein- oder zweimal genommen.«

»Ja? aber beim letztenmal warst du noch ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren.«

»Das stimmt. Seitdem habe ich mich natürlich ganz verändert, und die gekrönten Häupter sollen ja wohl die mannigfachsten Verzierungen auf ihre Fensterscheiben bekommen.«

Er fuhr sich mit der Hand durch sein kurzgeschorenes Haar und drückte dann jeden Finger einzeln auf das Glas. Angelo benützte ein anderes Plättchen zu dem gleichen Zweck, und zuletzt Luigi ein drittes. Nun fügte Wilson noch Namen und Datum bei und bewahrte die Glasplättchen wieder auf.

»Eigentlich wollte ich nichts sagen,« meinte Tom lachend, »aber, wenn dir’s auf Verschiedenartigkeit ankommt, so hast du jetzt eben ein Glas unnütz vergeudet. Die Fingerabdrücke des einen Zwillings sind genau wie die des anderen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen,« sagte Wilson und nahm wieder Platz, »mir ist’s so wie so lieber, wenn ich sie beide habe.«

»Aber, wie steht’s denn, David,« fuhr Tom fort, »früher hast du doch auch aus der Hand gewahrsagt, wenn du die Abdrücke nahmst? – Er ist nämlich ein Allerweltsgenie – eine Größe ersten Ranges, ein tiefsinniger Gelehrter, der hier am Ort verkümmert, ein Prophet, der nur so viel gilt, wie alle Propheten im Vaterlande – hier fragt kein Mensch nach seiner Weisheit und man nennt seinen Schädel ein Museum voll komischer Einfälle – nicht wahr, David, so ist’s! Doch einerlei – er wird schon noch sein Glück machen – ein gläsernes Glück mit Fettabdrücken – hahaha! Wirklich, die Wahrsagerei ist famos – lassen Sie ihn nur einmal Ihren Handteller betrachten! Wer für sein Geld nicht genug hat, bekommt es an der Kasse zurückbezahlt. Er liest, was drin geschrieben steht, als wäre es ein Buch und sagt einem nicht nur sechs Dutzend Dinge voraus, die geschehen werden, sondern auch fünfzig oder sechzigtausend, die nicht eintreffen. Komm, David, zeige den Herren, was für einen wunderbaren Tausendkünstler unsere Stadt besitzt, ohne daß wir es ahnen.«

Für Wilson war dies spöttische und nicht sehr rücksichtsvolle Geschwätz eine arge Pein, und das that den Zwillingen in der Seele weh. Sie urteilten ganz richtig, daß sie ihm die größte Wohlthat erweisen würden, wenn sie die Sache ernsthaft behandelten und Toms Neckereien unbeachtet ließen, deshalb sagte Luigi:

»Wir haben auf unsern Reisen öfters Beispiele von Handwahrsagerei erlebt und uns selbst davon überzeugt, wie erstaunliche Dinge sie zu leisten vermag. Sie ist eine Wissenschaft – wie sollte man sie wohl anders nennen, und zwar eine der tiefsinnigsten. – Im Orient zum Beispiel –«

»Dies Taschenspielerkunststück eine Wissenschaft!« – rief Tom mit verwunderter, ungläubiger Miene. »Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein.«

»Mein völliger Ernst. Vor vier Jahren hat man uns unser Schicksal aus der Hand geweissagt, als ob es dort geschrieben stände.«

»So meinen Sie also wirklich, daß etwas an der Sache ist?« fragte Tom, dessen Unglaube schon zu wanken begann.

»Versteht sich,« fiel jetzt Angelo ein. »Die Schilderung unserer Charaktere zum Beispiel stimmte in allen Einzelheiten; wir hätten kaum noch etwas hinzuzufügen gewußt. Auch wurden mehrere denkwürdige Thatsachen aus unserer Vergangenheit enthüllt, von denen keiner der Anwesenden das Geringste wissen konnte.«

»Das ist ja die reinste Zauberei,« rief Tom mit immer wachsendem Interesse. »Und was man Ihnen von der Zukunft vorausgesagt hat, ist auch eingetroffen?«

»Im allgemeinen ja – so ziemlich,« sagte Luigi. »Zwei oder drei der Hauptereignisse jedenfalls; das allerwichtigste sogar noch im selben Jahre. Auch von den unbedeutenden Prophezeiungen haben sich einige bereits erfüllt, und die andern großen oder kleinen können mit der Zeit noch wahr werden – vielleicht gehen sie auch nie in Erfüllung, doch gestehe ich, daß mich das mehr überraschen würde, als wenn das Gegenteil eintritt.«

Die Worte machten einen tiefen Eindruck auf Tom, aller Mutwillen war ihm vergangen.

»Höre, David,« sagte er im Ton der Entschuldigung, »du mußt nicht etwa denken, daß ich deine Wissenschaft herabsetzen wollte; es machte mir nur Spaß, dich ein wenig damit aufzuziehen. Bitte, laß dir doch einmal ihre Handflächen zeigen. Nicht wahr, du thust mir den Gefallen.«

»Jawohl, gern, wenn du es wünschest; aber, du weißt ja, ich habe nie Gelegenheit gehabt, mich ganz mit der Kunst vertraut zu machen und will auch nicht als Sachverständiger gelten. Wenn ein vergangenes, wichtiges Ereignis sehr deutlich in den Linien der Hand geschrieben steht, kann ich es meist erkennen, aber, was geringfügiger ist, entgeht mir oft – natürlich nicht immer, jedoch häufig. Wenn es aber gilt, in der Zukunft zu lesen, so bin ich meiner Sache nicht recht sicher. Ich spreche beinahe, als ob ich die Handwahrsagerei lebhaft betreibe, doch das ist durchaus nicht der Fall. In den letzten sechs Jahren habe ich kaum ein halbes Dutzend Hände untersucht. Die Leute fingen an, sich darüber lustig zu machen, und da ließ ich die Kunst einschlafen, um dem Gerede ein Ende zu machen. Wenn es Ihnen recht ist, Graf Luigi, will ich einmal einen Versuch mit Ihrer Vergangenheit machen – glückt mir der, dann – doch nein, an die Zukunft will ich mich überhaupt nicht wagen; das sollte wirklich nur ein ganz Kundiger thun.«

Als er Luigis Hand nahm, sagte Tom: »Warte einen Augenblick, David, – sieh noch nicht hin! Hier, Graf Luigi, ist Papier und Bleistift. Schreiben Sie die Prophezeiung auf, von der Sie sagten, es sei die allerwichtigste gewesen und sie habe sich noch im nämlichen Jahr erfüllt. Dann geben Sie mir den Zettel, damit ich sehen kann, ob David das Erlebnis in Ihrer Hand entdeckt.«

Luigi schrieb eine Zeile, faltete das Papier zusammen und reichte es Tom mit den Worten: »Wenn er es findet, werde ich Sie auffordern, das Geschriebene vorzulesen.«

Nun begann Wilson seine Untersuchung von Luigis Handfläche. Er folgte den Lebenslinien, den Herz- und Kopflinien und beobachtete auch alle die feineren und zarteren Merkmale und Verzweigungen genau, die sich spinnwebartig nach allen Seiten ausbreiteten. Dann befühlte er den fleischigen Ballen am Daumen, merkte auf dessen Form, strich von der Wurzel des kleinen Fingers bis zum Handgelenk hinunter, untersuchte jeden Finger besonders nach Größe, Gestalt und Verhältnis zu den anderen, auch ihre natürliche Lage im Zustand der Ruhe. Die Anwesenden schauten seinem Verfahren mit der größten Spannung zu, sie steckten die Köpfe zusammen, beugten sich über Luigis Hand, und keiner unterbrach die Stille mit einem Laut. Schließlich wiederholte Wilson die Untersuchung noch einmal von Anfang an und verkündete zugleich das Ergebnis.

Er entwarf eine genaue Schilderung von Luigis Charakter und Gemütsart, beschrieb seine Geschmacksrichtung, seine Zu- und Abneigungen, seine natürlichen Anlagen und Absonderlichkeiten, so daß Luigi oft die Lippen zusammenkniff und die andern lachten. Beide Zwillinge erklärten jedoch, daß jeder Zug richtig sei und alle Angaben zuträfen.

Hierauf ging Wilson zu Luigis Lebensgeschichte über. Er verfuhr dabei nur zögernd und mit großer Vorsicht; langsam strich er mit den Fingern über die Hauptlinien der inneren Hand und hielt zuweilen bei einem Kreuzpunkt oder einem besonderen Kennzeichen still, um die ganze Stelle sorgfältig zu durchforschen. Einige Thatsachen aus Luigis Vergangenheit, die er aufzählte, erwiesen sich als richtig, und die Untersuchung ward fortgesetzt. Auf einmal sah Wilson überrascht in die Höhe.

»Hier stoße ich auf ein Ereignis, von dem Sie vielleicht nicht wünschen würden – –«

»Sprechen Sie es nur aus,« sagte Luigi gutmütig, »es wird mich nicht in Verlegenheit bringen, verlassen Sie sich darauf.«

Aber Wilson zögerte noch immer und schien nicht recht zu wissen, was er thun sollte.

»Es ist wirklich eine zu heikle Sache,« sagte er endlich. »Ich möchte sie lieber aufschreiben oder Ihnen ins Ohr flüstern, damit Sie selbst entscheiden, ob man davon reden soll oder nicht.«

»Das wird am besten sein,« versetzte Luigi, »schreiben Sie es nieder.«

Wilson warf einige Worte auf ein Stück Papier, das er Luigi reichte. Dieser las sie für sich und sagte dann zu Tom:

»Sehen Sie nach, was auf Ihrem Zettel steht, Herr Driscoll.«

Tom las laut:

»Man prophezeite mir, daß ich einen Menschen umbringen würde. Der Spruch ging in Erfüllung, noch ehe das Jahr vorüber war.«

»Nun lesen Sie auch dies!«

» Sie haben jemand umgebracht, ob es aber ein Mann, eine Frau oder ein Kind ist, kann ich nicht ermitteln,« las Tom mit Verwunderung. »Aber, das ist ja unerhört, das geht über alle Begriffe,« rief er in großer Erregung. »Die eigene Hand eines Menschen ist sein ärgster Todfeind – sie führt ein Verzeichnis über die schlimmsten und verborgensten Geheimnisse seines Lebens und ist stets bereit, sie dem ersten besten Schwarzkünstler, der des Weges kommt, treulos zu verraten. Warum lassen Sie denn aber auch Ihre Hand ansehen, wenn etwas so Schreckliches darin geschrieben steht?«

»O, das macht mir nichts aus,« versetzte Luigi gelassen. »Ich hatte meine guten Gründe, den Mann zu töten und bereue es keineswegs.«

»Weshalb thaten Sie es denn?«

»Es war ein Ding der Notwendigkeit.«

»Ich will Ihnen sagen, wie es kam, da mein Bruder mit der Sprache zögert,« rief jetzt Angelo eifrig. »Er tötete ihn, um mir das Leben zu retten; es war eine edle That, die das Licht nicht zu scheuen braucht.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht,« bestätigte Wilson, »wer so etwas um seines Bruders willen vollbringt, darf sich dessen wohl rühmen.«

Luigi schüttelte den Kopf. »Es klingt zwar alles sehr schön, was ihr da sagt, aber mit der Selbstlosigkeit, dem Heldentum und Edelmut ist’s nicht weit her. Vergeßt nur nicht, daß ich Angelos Leben retten mußte, weil sonst auch meines bedroht war. Würde der Mann mich etwa nicht umgebracht haben, nachdem er meinen Bruder getötet hatte? Also habe ich mir selbst das Leben gerettet.«

»Ja, so sprichst du immer,« rief Angelo, »aber ich kenne dich und glaube, du hast gar nicht an dich selbst gedacht. Die Waffe, mit der Luigi den Mann getötet hat, bewahre ich als Andenken und will sie Ihnen einmal zeigen. Sie hat durch dies Ereignis noch an Interesse gewonnen, aber schon ehe sie in Luigis Hände kam, hatte sie ihre Geschichte. Ein großer indischer Prinz, der Gaikowar von Baroda, in dessen Familienbesitz sie sich seit zwei oder drei Jahrhunderten befand, hat sie Luigi geschenkt. Schon manchem, der jenem Hause feindlich gesinnt oder lästig war, mag damit der Garaus gemacht worden sein. Es ist ein absonderliches Ding, ganz anders geformt als ein gewöhnliches Dolchmesser. Ich will Ihnen gleich eine Zeichnung davon machen.« Er nahm ein Blatt Papier und warf rasch eine Skizze hin. »So ungefähr sieht es aus – die breite, mörderische Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser. Die Namen oder Abzeichen seiner Besitzer sind der Reihe nach darin eingegraben. Luigis Namen und unser Wappen ließ ich selbst in lateinischer Schrift hinzufügen. Ganz eigentümlich ist auch der Griff; er besteht aus massivem, spiegelglattem Elfenbein, ist rund, vier bis fünf Zoll lang und so dick wie das Handgelenk eines starken Mannes. Das Ende ist abgeplattet, damit der Daumen darauf ruhen kann, wenn man das Dolchmesser emporhebt, um zuzustoßen. Der Gaikowar zeigte uns, wie man es handhaben muß, als er es Luigi gab, und noch in derselben Nacht stieß ihm mein Bruder einen seiner Leute mit dem Messer nieder. Die Scheide ist mit prachtvollen Edelsteinen von großem Werte reich verziert und würde Ihnen vielleicht noch besser gefallen als die Waffe selbst.«

Als Tom das hörte, dachte er bei sich: »Wie gut, daß ich hergekommen bin; ich hätte das Dolchmesser um einen Pappenstiel verkauft, weil ich die Edelsteine für gewöhnliches Glas hielt.«

»Erzählen Sie doch weiter,« bat Wilson, »wir sind begierig, etwas von dem Ueberfall zu erfahren. Wie ging es denn dabei zu?«

»Das Messer war einzig und allein schuld daran. Ein eingeborener Diener schlich sich des Nachts in unser Zimmer im Palast, um es zu stehlen, ohne Zweifel wegen der kostbaren Steine auf der Scheide, die ein ganzes Vermögen wert sind. Es lag unter Luigis Kopfkissen und wir waren beide im Bett. Ich schlief, Luigi aber wachte, und beim düstern Schein des Nachtlichts, das im Zimmer brannte, glaubte er die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, die sich dem Lager näherte. Er zog das Messer aus der Scheide und rüstete sich zur Gegenwehr. Decken und Betttücher brauchte er nicht erst zurückzuschlagen, denn bei der großen Hitze hatten wir keine. Plötzlich richtete sich jener Eingeborene neben dem Bette auf und beugte sich über mich; in seiner erhobenen Rechten funkelte ein Dolch, mit dem er nach meiner Kehle zielte. Doch rasch packte Luigi den Mann am Handgelenk, warf ihn zu Boden und stieß ihm das scharfe Messer ins Genick. – Das ist die ganze Geschichte.«

Die Zuhörer holten tief Atem, und man sprach noch eine Weile über den schrecklichen Vorfall. Dann griff Wilson nach Toms Hand.

»Laß doch einmal sehen, Tom,« sagte er, »ob bei dir nicht irgend eine kleine, verborgene Heimlichkeit zu entdecken wäre. Zufällig habe ich deine Handfläche noch nie besichtigt. – Oho! –«

Tom hatte ihm rasch die Hand entzogen und sah ganz bestürzt aus.

»Er wird ordentlich rot,« rief Luigi.

»So?« erwiderte Tom heftig und warf ihm einen bösen Blick zu, »aber doch wenigstens nicht, weil ich ein Mörder bin!«

Luigis dunkle Augen flammten; ehe er jedoch etwas thun oder sagen konnte, rief Tom schon mit ängstlicher Hast: »O, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, ich habe das gar nicht sagen wollen, es fuhr mir nur so heraus. Es thut mir wirklich sehr, sehr leid – nicht wahr, Sie verzeihen mir?«

Wilson kam ihm zu Hilfe und suchte die Sache friedlich beizulegen, so gut er konnte. Das gelang ihm auch vollkommen, so weit es die Zwillinge betraf; denn ihnen war die unangenehme Lage, in die Wilson durch die rohen Worte seines Gastes geraten war, peinlicher als die Beleidigung selbst. Auf Tom hatte aber Wilsons Vermittlung keine so günstige Wirkung. Zwar stellte er sich möglichst unbefangen, und man merkte ihm auch äußerlich keine Verstimmung an, aber im Grunde grollte er doch den drei Zeugen seiner Unhöflichkeit. Es verdroß ihn, daß sie überhaupt zugegen gewesen waren und seine Worte beachtet hatten, und dabei vergaß er fast, sich über seinen eigenen Mangel an Lebensart zu ärgern. Doch bald geschah etwas, wodurch seine Gemütsverfassung wieder behaglicher und menschenfreundlicher wurde. Die Zwillinge fingen nämlich unter sich Streit an; es war zwar nur ein unbedeutender Wortwechsel, aber sie erhitzten sich doch in kurzer Zeit gewaltig gegen einander. Tom hatte große Freude daran und that was er konnte, um das Feuer zu schüren, natürlich mit Vorsicht, und indem er sich den Anschein gab, als wünsche er es zu dämpfen. Bald entfachte sich die Glut mit seiner Hilfe mehr und mehr, und vielleicht hätte er im nächsten Augenblick die Genugthuung gehabt, die Flamme emporlodern zu sehen, wäre der Auftritt nicht durch ein Klopfen an der Thür unterbrochen worden. Diese Störung kam ihm ebenso ungelegen, wie sie Wilson angenehm war.

Der neue Ankömmling, dem Wilson die Thür öffnete, war ein gutmütiger, handfester und ungebildeter Irländer von mittleren Jahren, Namens John Buckstone, ein großer Politiker im kleinen, der an allen öffentlichen Angelegenheiten einen hervorragenden Anteil nahm. Gerade jetzt war die Stadt in voller Aufregung wegen der herrschenden Meinungsverschiedenheit über den Genuß berauschender Getränke. Die Rum-Partei kämpfte einen erbitterten Kampf mit der Anti-Rum-Partei. Buckstone gehörte zu ersterer und war abgesandt worden, um die Zwillinge aufzusuchen und sie einzuladen, einer Massenversammlung der Rum-Partei beizuwohnen. Er richtete seine Botschaft aus und fügte hinzu, daß die Bundesbrüder sich schon in der großen Halle des Markthauses versammelten. Luigi folgte der Aufforderung bereitwillig, Angelo dagegen nur zögernd, denn er liebte weder ein großes Gedränge, noch konnte er den starken, amerikanischen Branntwein vertragen. Auch neigte er dem Mäßigkeitsverein zu.

Als die Zwillinge sich mit Buckstone entfernten, schloß sich ihnen Tom Driscoll unaufgefordert an. Schon von weitem konnte man die lange Reihe der Fackeln hin- und herschwanken sehen, die sich die Hauptstraße hinunter bewegten; die Pauken dröhnten, die Zimbeln schmetterten, die Querpfeifen quiekten, und fernes Hurrahgeschrei schallte an ihr Ohr. Eben stiegen die letzten Teilnehmer am Zuge die Treppe des Markthauses hinauf, als die Zwillinge sich dem Gebäude näherten; sie fanden die Halle schon dicht gedrängt voll von Menschen, die Fackeln rauchten und überall herrschte Lärm und Begeisterung.

Buckstone führte die Brüder auf die Rednerbühne, wohin ihnen Tom Driscoll gleichfalls folgte, und stellte sie dem Präsidenten vor, während die Menge sie mit lautem Zuruf willkommen hieß. Als der Lärm sich etwas gelegt hatte, forderte der Vorsitzende die Anwesenden auf: »die erlauchten Gäste damit zu begrüßen, daß wir sie alsbald zu Mitgliedern unserer glorreichen Vereinigung – dem Paradies der Freien und dem Verderben der Sklaven – durch allgemeines Handaufheben erwählen.«

Dieser rednerische Erguß öffnete die Schleusen der Begeisterung von neuem; die Wahl erfolgte mit Einstimmigkeit und donnerndem Beifall. Dann vernahm man stürmische Rufe: »Feuchtet sie an! Feuchtet sie an! Sie sollen uns Bescheid thun!«

Jedem Zwilling wurde ein Glas Whisky gereicht. Luigi schwenkte es in der Luft und setzte es dann an die Lippen, während Angelo das seinige hinstellte. Wieder erhob sich ein Geschrei.

»Was soll das bedeuten? Was ist mit dem andern los? Warum will der Blonde uns nicht zutrinken? Wie sollen wir das verstehen?«

Der Vorsitzende zog Erkundigungen ein und erstattete der Versammlung Bericht:

»Wir haben einen unglücklichen Irrtum begangen, meine Herren. Es stellt sich heraus, daß Graf Angelo Capello unsere Ueberzeugung nicht teilt. Er ist eigentlich ein Mäßigkeitsvereinler und hat gar nicht die Absicht gehabt, Mitglied bei uns zu werden. Deshalb wünscht er, daß wir über seine Wahl noch einmal abstimmen. Ich bitte die Herren, dies in Erwägung zu ziehen.«

Nun entstand ein gellendes Gelächter, in das sich lautes Murren und Pfeifen mischte; doch gelang es dem Präsidenten durch den kräftigen Gebrauch der Glocke die Ruhe einigermaßen wiederherzustellen. Ein Mann aus der Menge ergriff das Wort und sagte, daß der Mißgriff zwar sehr zu bedauern sei, doch ließe er sich unmöglich bei der heutigen Zusammenkunft wieder gut machen. Nach den Statuten könne das erst in der nächsten, regelmäßigen Sitzung geschehen. Er wolle keinen Antrag stellen, da das nicht erforderlich sei, doch wünsche er, den Herrn Grafen im Namen des Hauses um Entschuldigung zu bitten und ihn zu versichern, daß die ›Söhne der Freiheit‹ alles thun würden, um ihm seine zeitweilige Mitgliedschaft so angenehm wie möglich zu machen.

Die Rede wurde mit schallendem Beifall aufgenommen. »Ganz einverstanden!« tönte es von allen Seiten. »Mäßigkeitsvereinler oder nicht – er ist doch ein guter Kerl! Laßt ihn leben! Bringt ihm ein Hoch aus, leert die Gläser!«

Auf der Rednerbühne wurden Gläser herumgereicht, man trank auf Angelos Gesundheit und die ganze Versammlung brüllte im Chor:

Hoch soll er leben,
Hoch soll er leben,
Hoch soll er leben.
Dreimal hoch!!!

Tom Driscoll trank auch; es war sein zweites Glas, denn er hatte Angelos Glas geleert, sobald dieser es hinstellte. Der doppelte Trunk machte ihn sehr lustig, sogar unbändig ausgelassen; er begann sich aufs lebhafteste an allem zu beteiligen, was geschah und sich besonders beim Pfeifen und Johlen, sowie durch allerlei schnöde Bemerkungen hervorzuthun.

Der Präsident, der eben eine Ansprache beginnen wollte, stand noch vorn an der Rampe, ihm zur Seite die Zwillinge. Die wunderbare Aehnlichkeit der beiden Brüder brachte Tom Driscoll darauf, einen Witz zu machen; er trat vor und wandte sich mit trunkener Dreistigkeit an die Versammlung:

»Jungens,« rief er, »ich stelle den Antrag: der da soll schweigen und das lebendige Vielliebchen neben ihm eine Rede vom Stapel lassen.«

Der komische Vergleich der Zwillinge mit einem Vielliebchen gefiel den Anwesenden, die in ein donnerndes Gelächter ausbrachen. Luigis feuriges Gemüt ertrug jedoch die Beleidigung, die ihm in Gegenwart von vierhundert Fremden angethan wurde, nicht mit Gelassenheit. Seine ganze Natur empörte sich dagegen, die Sache ruhig hinzunehmen, ohne auf der Stelle Wiedervergeltung zu üben. Kochend vor Wut trat er mit ein paar Schritten hinter den ahnungslosen Witzbold, holte aus und versetzte ihm mit wahrer Riesenkraft einen so gewaltigen Fußtritt, daß Tom geradeswegs über die Rampe hinweggeschleudert wurde und den ›Söhnen der Freiheit‹ in der vorderen Reihe auf die Köpfe fiel.

Selbst in völlig nüchternem Zustand ist es keinem Menschen angenehm, wenn er ganz harmlos dasteht und plötzlich so ein lebendiges Wurfgeschoß auf ihn losgelassen wird. Wer aber einen Rausch hat, kann dergleichen gar nicht vertragen. Die ›Söhne der Freiheit‹, auf deren Köpfen Tom landete, hatten alle schon etwas über den Durst getrunken, es gab überhaupt in der ganzen Versammlung kaum jemand, der nicht zu tief ins Glas geschaut hatte. So wurde denn Tom mit Entrüstung sofort auf die Köpfe der nächsten Reihe weiterbefördert, die ihn wieder auf die Hintermänner ablud und zugleich mit den vorderen ›Söhnen der Freiheit‹, von denen er auf sie geworfen worden war, eine wütende Schlägerei begann. Das ging so weiter, von einer Bank zur andern, bis Tom, auf seinem stürmischen Fluge durch die Luft, die Thür erreichte. Hinter ihm tobten, rauften, fluchten und wetterten alle in wildem Durcheinander. Eine Reihe brennender Fackeln nach der andern wurde bei dem Handgemenge auf den Boden geworfen, und bald erscholl noch lauter als der betäubende Lärm der Präsidentenglocke, als das Gebrüll der zornigen Stimmen und das Krachen der zertrümmerten Bänke, der entsetzliche Schreckensruf: » Feuer!«

Sogleich hörte der Kampf auf, das Fluchen verstummte; einen Augenblick herrschte lautlose Stille, nichts regte sich, wo eben noch der Sturm gerast hatte. Im nächsten Moment aber kam mit einem Schlage wieder Leben und Thatkraft in die Menge. Es entstand ein Wogen, Drängen und Schwanken hierhin und dorthin. Wer konnte, suchte einen Ausweg durch Thür oder Fenster, das Gewühl wurde bald weniger dicht und die Massen lichteten sich.

So schnell war die Feuerwehr wohl noch nie zur Hand gewesen; sie brauchte freilich nicht weit zu gehen, denn ihr Standquartier war in einem Anbau des Markthauses. Von ihren zwei Abteilungen hatte eine die Spritze, die andere Haken und Feuerleitern zu verwalten. Eine Hälfte jeder Abteilung gehörte zur Rum-Partei, die andere Hälfte zur Anti-Rum-Partei, das hielt man damals für recht und billig. Die Anti-Rum-Leute, die gerade im Quartier herumlungerten, waren zahlreich genug, um die Leitern und Spritzen zu bedienen. In zwei Minuten hatten sie ihre Helme und roten Hemden angelegt, denn ohne die Berufsuniform rückten sie niemals aus.

Als nun die Massenversammlung im oberen Stock über Hals und Kopf durch die lange Reihe der Fenster sprang und sich auf das Dach der Arkaden flüchtete, empfingen die Retter sie mit einem mächtigen Wasserstrahl, der einige vom Dach herunterspülte und die übrigen fast ersäufte. Aber immerhin war das Wasser dem Feuer vorzuziehen, deshalb sprangen fortwährend neue Scharen durch die Fenster und wurden erbarmungslos so lange durchweicht, bis das Haus sich völlig geleert hatte. Dann stiegen die Feuerwehrleute in den Saal hinauf und überfluteten ihn mit einer Wassermasse, die genügt hätte, um ein vierzigmal so großes Feuer zu löschen. Eine so schöne Gelegenheit sich zu zeigen, kommt für die Feuerwehr einer kleinen Stadt selten vor und muß gut ausgenützt werden. Alle anständigen und urteilsfähigen Bürger des Ortes versicherten sich deshalb nicht mehr gegen Feuerschaden, sondern gegen die Feuerwehr.

  1. Wohlverstanden – im Manuskript! Leute, die den Autor um sein gedrucktes Buch angehen, pflegen von diesem und seinem Verleger scheel angesehen zu werden. M. T.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Im Staate Missouri, auf dem rechten Ufer des Mississippi, liegt die Stadt, welche der Schauplatz dieser Geschichte ist. Sie heißt Dawson, und man muß von St. Louis bis dahin noch sechs Stunden mit dem Dampfboot stromabwärts fahren.

Der Ort bestand im Jahre 1830 aus einer Anzahl freundlicher ein- oder zweistöckiger, weißgetünchter Häuser, die über und über mit einem Gewirre von Schlingrosen, Jelängerjelieber und vielfarbigen Winden bedeckt waren. Zu jeder dieser hübschen Heimstätten gehörte auch ein Vorgärtchen mit weiß angestrichenem Staketenzaun. Dort blühten Goldlack, Stockrosen, Federnelken, Balsaminen und anders altmodische Blumen in üppiger Fülle, während auf den Fensterbrettern Holzkästen mit Moosrosen prangten und Geranien in Blumentöpfen ihr feuriges Rot mit der zarteren Farbe der Schlingrosen mischten, die an der Mauer in die Höhe kletterten. Wenn draußen auf dem Blumenbrett neben Kästen und Töpfen noch Raum war, so lag – falls die Sonne schien – sicher eine Katze da. Lang ausgestreckt, schlief sie in wohligem Behagen mit einer Pfote an der Nase und wärmte sich den weichen Pelz. Dies war der offenkundigste Beweis und ein unfehlbares Zeichen, daß in dem Hause Glück und Zufriedenheit wohnten; natürlich mußte die Katze aber gut gefüttert, wohl versorgt und in Ehren gehalten sein. Eine Familie, die sich keine Katze hält, kann in vollkommener Gemütlichkeit leben, aber welches Mittel hat sie, es vor der Welt kund zu thun?

Auf beiden Seiten war der gepflasterte Bürgersteig in der ganzen Länge der Straßen am äußeren Rand mit Akazien eingefaßt, deren Stämme eine hölzerne Schutzvorrichtung hatten. Die Bäume spendeten im Sommer Schatten und im Frühling süßen Duft, wenn sie ihre reichen Blütensträuße aufthaten. Das Geschäftsleben der Stadt beschränkte sich ganz auf die Hauptstraße, die etwas vom Fluß entfernt, mit diesem in gleicher Richtung lief. In jedem ihrer Häuserviertel ragten zwei oder drei mehrstöckige, steinerne Warenhäuser hoch über die aus Holz gebauten, dazwischen liegenden Kaufläden empor. Erhob sich ein Windstoß, so wurden die schwingenden Aushängeschilder längs der ganzen Straße knarrend hin- und herbewegt. Die blau und weiß gestreifte schräge Stange mit dem Becken, war das Abzeichen der Barbierläden in Dawson, und an einer Ecke stand hoch aufgerichtet ein unangestrichener Pfahl, der von oben bis unten mit allerlei Blechwaren, Töpfen, Tiegeln und Pfannen bekränzt war, die im Winde laut klapperten, um anzuzeigen, daß hier der erste Klempner der Stadt sein Geschäft betrieb.

Das klare Wasser des Stromes bespülte die vordersten Häuser des Ortes, welcher sich dann einen Abhang hinaufzog und sich immer weiter zerstreute. Die letzten Gebäude reichten bis an den Fuß der steil emporragenden Berge, die bis zum Gipfel dicht bewaldet waren und die Stadt im Halbkreis umgaben.

Viele Dampfboote kamen etwa jede Stunde stromaufwärts und -abwärts vorbeigefahren. Die Schiffe der kleinen Cairo- und der kleinen Memphislinie legten immer an, aber die großen Dampfer von New-Orleans hielten nur gelegentlich, um Grüße zu tauschen oder Passagiere und Frachtgüter aufzunehmen. Ebenso machten es die zahlreichen Fahrzeuge, die von rechts und links aus den Nebenflüssen kamen – aus dem Illinois, dem Missouri, dem oberen Mississippi, dem Ohio, dem Monongahela, dem Tennessee, dem Roten Fluß, dem Weißen Fluß und wie sie alle heißen. Diese Dampfer waren nach den verschiedensten Orten unterwegs und versorgten mit ihrer Ladung sämtliche Gemeinwesen am Ufer des Mississippi. Durch ein neunfach wechselndes Klima, von den nördlichen Fällen bei St. Anthony, bis in das glühend heiße New-Orleans hinunter, brachten sie allen Anwohnern, was zu ihrer Notdurft und jeder nur erdenklichen Bequemlichkeit erforderlich war.

Die Bewohner von Dawson hielten sich Sklaven, welche die einträgliche Schweinezucht besorgen und das fruchtbare Getreideland ringsum bebauen mußten. Es war eine ruhige, wohlhäbige und zufriedene Stadt, vor fünfzig Jahren erbaut und in zwar langsamem, aber stetigem Wachstum begriffen. Ihr angesehenster Bürger, Jork Leicester Driscoll, zählte etwa vierzig Jahre und war Richter am Bezirksgericht. Stolz auf seine vornehme, altvirginische Abkunft, strebte er stets, es seinen Vorfahren gleich zu thun, nicht nur in betreff der Gastlichkeit, sondern auch durch sein etwas förmliches, würdevolles Wesen. Er war freigebig und gerecht, auch genoß er die größte Hochachtung und Liebe seiner Mitbürger. Sein ganzes Trachten ging dahin, ein Edelmann zu sein ohne Furcht und Tadel. Das war seine einzige Religion, der er unverbrüchlich treu blieb. Von Haus aus wohlhabend, vermehrte er seinen Besitz noch mit der Zeit, und es fehlte ihm und seiner Frau nur eines, um ganz glücklich zu sein: sie hatten keine Kinder. Je mehr Jahre dahinflossen, um so sehnlicher wünschten sie einen solchen Schatz ihr eigen zu nennen, aber der Segen blieb aus und ihr Verlangen ward nicht erfüllt.

Im Hause dieses Ehepaares lebte noch Frau Rahel Pratt, Herrn Driscolls verwitwete Schwester, gleichfalls kinderlos und tief bekümmert darüber. Die Frauen waren gute einfache Menschen, die ihre Pflicht thaten und ihren Lohn in einem ruhigen Gewissen und der Anerkennung ihrer Gemeindegenossen fanden. Sie gehörten zur presbyterianischen Kirche, während der Richter ein Freidenker war.

Ein anderer Abkömmling aus einer der ersten Familien von Alt-Virginien war Pembroke Howard, der Rechtsanwalt, etwa vierzigjährig und unverheiratet, ein wackerer, stattlicher Herr, der streng auf Ehre und Ansehen hielt und in aller Höflichkeit bereit war, jeden, der an irgend etwas, das er gesagt oder gethan hatte, den geringsten Anstoß nahm, vor seine Klinge zu fordern oder ihm mit jeder beliebigen Schieß- oder Hiebwaffe Genugthuung zu geben. Er stand bei aller Welt in Gunst und war der beste Freund des Richters.

Ferner erwähnen wir den Oberst Cecil Burleigh Essex, auch einen furchtbar vornehmen Herrn aus den Südstaaten, aber mit ihm haben wir weiter nichts zu schaffen.

Percy Northumberland Driscoll, ein um fünf Jahre jüngerer Bruder des Richters, war verheiratet. Seiner Ehe entsproßten auch mehrere Kinder, die aber leider von Masern, Kroup und Scharlachfieber befallen wurden und dadurch dem Doktor Gelegenheit gaben, seine wirksamen, vorsintflutlichen Arzneimittel anzuwenden. Da wurden die Wiegen wieder leer. Uebrigens war der Bruder des Richters ein wohlhabender Mann, auch ein kluger Kopf in spekulativen Geschäften, und sein Besitzstand wuchs.

Am ersten Februar 1830 wurden in seinem Hause zwei Knäblein geboren, eins gehörte ihm und das andere einer seiner Sklavinnen, der zwanzigjährigen Roxana, meist Roxy genannt. Diese stand schon am selben Tage wieder auf und hatte alle Hände voll zu thun, denn sie mußte beide Neugeborenen versorgen. Frau Percy Driscoll starb, ehe noch eine Woche um war, und die Pflege und Wartung der Kleinen wurde ausschließlich Roxy anvertraut. Sie konnte dabei ganz nach eigenem Gutdünken verfahren, denn Herr Driscoll vertiefte sich bald wieder in seine Geschäftsangelegenheiten und ließ sie thun, was sie wollte.

Im Laufe desselben Monats Februar hatte sich auch ein neuer Einwohner in Dawson niedergelassen. Dies war David Wilson, ein junger Mann von schottischer Abstammung, der aus seiner Geburtsstadt im Staate New-York nach jener abgelegenen Gegend gewandert kam, um sein Glück zu suchen. Er hatte eine höhere Bildungsanstalt durchgemacht und dann noch mehrere Jahre auf einer der Rechtsschulen Neuenglands studiert. Fünfundzwanzig Jahre alt, nicht hübsch, mit sandfarbenem Haar und einem Gesicht voll Sommersprossen, machte er doch einen angenehmen Eindruck. Seine klugen blauen Augen schauten offen und freimütig drein und sie konnten zuweilen recht schalkhaft zwinkern.

Seine Laufbahn in Dawson wäre gewiß gleich beim Anbeginn vom Glück begünstigt gewesen, hätte er nicht schon am ersten Tage eine unselige Bemerkung gemacht, welche die Leute gegen ihn einnahm. Er befand sich eben im Gespräch mit mehreren Bürgern, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, als ein unsichtbarer Hund ein so widerwärtiges Gekläff, Geknurre und Geheul begann, daß man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte. Da sagte der junge Wilson vor sich hin, wie jemand, der laut zu denken pflegt:

»Wenn mir doch die Hälfte von dem Hund gehörte!«

»Weshalb denn?« fragte einer.

»Damit ich den Teil, der mein wäre, umbringen könnte.«

Die Leute sahen ihm neugierig forschend und ängstlich ins Gesicht, aber sein Ausdruck verriet ihnen nichts – sie fanden keine Erklärung darin. Einer nach dem andern schlich beiseite, als ob es ihm unheimlich würde in Wilsons Nähe. Unter sich kamen sie dann wieder zusammen und besprachen den Vorfall mit einander.

»Der scheint mir ein Narr zu sein,« sagte einer.

»Er ist ein Narr, verlaßt euch drauf,« meinte ein anderer.

»Wie einfältig, zu sagen, er wollte, daß ihm der Hund zur Hälfte gehörte,« fiel der dritte ein. »Was glaubt er denn, der Tropf, daß aus dem Rest des Tieres wird, wenn er seinen Anteil umbringt? Meint er etwa, es wird am Leben bleiben?«

»Natürlich muß er das gedacht haben, sonst wäre er der größte Schafskopf. Hätte er vorausgesehen, daß wenn er seine Hälfte umbrächte, der andere Teil auch stürbe, so müßte er auch wissen, daß man ihn dafür ganz ebenso verantwortlich machen würde, als ob er die fremde Hälfte statt seiner eigenen tot geschlagen hätte. – Nun – habe ich recht oder unrecht?«

»Versteht sich, ganz recht,« erscholl es einstimmig und dann bestätigte jeder einzelne, was er von ihm hielt.

»Meiner Ansicht nach ist der Mensch nicht bei Sinnen,« sprach der erste.

»Jedenfalls hat er einen Knacks,« ließ sich der zweite hören.

Nummer drei sagte: »Ein rechter Einfaltspinsel!«

»Freilich,« bestätigte Nummer vier, »das Muster von einem Hansnarren.«

»Ich halte ihn für einen echten Dämelack,« äußerte Numero fünf. »Wer anderer Meinung ist, dem bleibt es unbenommen, aber, das ist meine Auffassung.«

»Ganz einverstanden, werte Herren,« versicherte Numero sechs. »Ein Esel, wie er im Buche steht. Ja, ich glaube, es ist nicht zu viel behauptet, wenn ich sage, daß er der größte Querkopf ist, den ich im Leben gesehen habe. Ja, ja, – ein Querkopf, wie es keinen zweiten giebt – und dabei bleibt’s.«

So war denn Wilsons Urteil gesprochen. Die Geschichte flog wie ein Lauffeuer durch die Stadt, sie war in aller Munde. Ehe noch eine Woche verging, hatte er seinen Taufnamen verloren und hieß statt dessen nur noch der ›Querkopf‹. Mit der Zeit wurde er allgemein geschätzt und beliebt, aber der Spitzname hatte sich schon so fest eingenistet, daß er ihn nicht wieder los wurde. Er war nun einmal von Anfang an für einen Narren erklärt worden und der Spruch ließ sich weder drehen noch wenden. Zwar hatte die Bezeichnung bald keine feindselige oder unfreundliche Bedeutung mehr, aber sie haftete ihm dauernd an, volle zwanzig Jahre lang.