Sechzehntes Kapitel
So viele Aufregungen waren in dem guten Dawson noch nie vorgekommen. Bisher hatte man friedlich geschlafen, jetzt fand man kaum Zeit, einmal einzunicken, denn Schlag auf Schlag folgten einander die größten Ereignisse und unerhörtesten Ueberraschungen. Freitag morgen: erstes Auftreten wirklicher Edelleute von Geburt, großer Empfang bei Tante Patsy Cooper und geheimnisvoller Raubzug. Freitag abend: der Erbe des vornehmsten Bürgers der Stadt erhält in Gegenwart von vierhundert Zuschauern einen theatralischen Fußtritt; Samstag morgen: der jahrelang unterschätzte Querkopf Wilson erscheint als praktizierender Rechtsanwalt vor der Oeffentlichkeit. Samstag abend: Duell zwischen dem ersten Bürger und dem hochadligen Fremdling.
Auf das Duell waren die Leute vielleicht stolzer als auf alle übrigen Begebenheiten zusammengenommen. Daß die Stadt der Schauplatz einer solchen Waffenthat gewesen war, betrachtete man als die höchste Ehre. Die beiden Kämpfer standen in den Augen ihrer Mitbürger auf dem Gipfel des Ruhms, ihre Namen waren in aller Munde, überall ward ihr Lob verkündet. Auch die übrigen bei dem Duell Beteiligten durften sich der öffentlichen Anerkennung erfreuen, und Querkopf Wilson war plötzlich zu einer hochangesehenen Persönlichkeit geworden. Als er am Samstag abend die Kandidatur zur Bürgermeisterwahl annahm, war der Ausgang höchst ungewiß. Am Sonntag morgen war er ein gemachter Mann und sein Erfolg gesichert.
Die Zwillinge genossen jetzt eine begeisterte Verehrung; jedermann war beflissen, ihnen Liebe und Freundschaft zu erweisen. Täglich wurden sie bald in diesem, bald in jenem Hause zu Mittag und Abend eingeladen; sie knüpften viele neuen Beziehungen an und erweiterten ihren Bekanntenkreis nach verschiedenen Seiten. Durch ihre wunderbaren musikalischen Leistungen entzückten sie alle Welt, und manchmal gaben sie auch aus dem reichen Vorrat ihrer ungewöhnlichen Talente etwas anderes für die gesellige Unterhaltung zum besten, womit sie großen Eindruck machten. Sie fühlten sich so wohl in Dawson, daß sie beschlossen, sich um das Bürgerrecht zu bewerben, und das reizende Städtchen ihr Lebtag nicht wieder zu verlassen. Das war der Höhepunkt des Glücks. Als sie den Antrag stellten, erhob sich die ganze Einwohnerschaft wie ein Mann und gab ihre Zustimmung und ihren Beifall kund. Dann schlug man den Zwillingen vor, sich zur Aufnahme in den Gemeinderat zu melden, da eine Neuwahl bevorstand, und als sie darauf eingingen, war die öffentliche Meinung vollständig befriedigt.
Für Tom Driscoll waren alle diese Ereignisse eine schwere Kränkung; sie gingen ihm tief zu Herzen und bereiteten ihm Qual und Pein. Er haßte die Zwillinge alle beide, den einen wegen des bewußten Fußtritts und den andern, weil er der Bruder seines Beleidigers war.
Von Zeit zu Zeit wunderten sich die Leute, daß weder von dem Dieb, noch von dem Dolchmesser und den andern gestohlenen Sachen das geringste verlautete; niemand vermochte Licht in das Dunkel zu bringen. Fast eine Woche war vergangen und noch immer blieb die ärgerliche Angelegenheit ein unlösbares Rätsel. Am Samstag trafen sich Konstabler Blake und Querkopf Wilson auf der Straße, und Tom Driscoll gesellte sich noch rechtzeitig zu ihnen, um die Unterhaltung zu eröffnen.
»Sie sehen sehr angegriffen aus, Blake,« sagte er, »haben Sie irgend einen Verdruß gehabt? Ist’s Ihnen vielleicht bei den geheimen Polizeigeschäften nicht nach Wunsch ergangen? Man sagt, Ihre Leistungen auf diesem Felde sollen ganz ungewöhnlich sein« – Blake fühlte sich sehr geschmeichelt, worauf Toni rasch hinzufügte: »für einen Polizisten vom Lande.« Das ärgerte den Konstabler gewaltig und er gab sich keine Mühe, es zu verbergen.
»Jawohl,« antwortete er in gereiztem Ton, »ich gelte etwas unter meinen Berufsgenossen, trotzdem ich ein ›Polizist vom Lande‹ bin.«
»O, bitte tausendmal um Entschuldigung, das fuhr mir nur so heraus. Ich wollte Sie eigentlich nach der alten Frau fragen, die so viele Diebereien verübt hat und nach der Sie fahndeten; wissen Sie, die Alte mit dem krummen Rücken, deren Sie in kürzester Frist habhaft werden wollten. Nicht wahr, Sie haben das Weib schon eingefangen? Ich wußte ja, daß es so kommen würde, denn leeres Prahlen ist nicht Ihre Sache.«
»Der Henker hole das alte Weib!«
»Was – also ist sie noch nicht im Gewahrsam?«
»Nein, es war nicht menschenmöglich, sie festzunehmen, sonst hätte es mir gelingen müssen.«
»Das thut mir wirklich leid um Ihretwillen, Blake, denn, wenn sich ein Polizeibeamter so zuversichtlich ausspricht, und hernach–«
»O, seien Sie ganz außer Sorgen – auch die Stadt braucht sich nicht zu beunruhigen. Die Diebin entgeht mir nicht – verlassen Sie sich darauf. Ich kenne ihre Fährte; die Spuren, die ich gefunden habe – –«
»Wirklich! Aber sollten Sie sich nicht doch einen alten erfahrenen Detektiv von St. Louis kommen lassen, der Ihnen hilft, die Spuren zu verfolgen, damit sie nicht in die Irre gehen oder – –«
»Ich bin selber alt und erfahren genug und brauche niemandes Beistand. Es wird keine Woche – hm – keinen Monat vergehen, bis ich sie habe – das will ich beschwören.«
»Kommt Zeit, kommt Rat,« sagte Tom gelassen. »Aber sie soll ja wohl ziemlich alt sein und alte Leute leben oft nicht so lange Zeit, wie der vorsichtige Detektiv braucht, um alle Fäden in die Hand zu bekommen und seine heimliche Jagd zu beginnen.« Blake wurde rot vor Zorn über den Spott; ehe er aber eine passende Erwiderung gefunden hatte, wandte sich Tom zu Wilson und fragte in gleichgültigstem Tone:
»Wer hat denn die Belohnung bekommen, David?«
Wilson biß sich auf die Lippen; jetzt kam die Reihe an ihn.
»Welche Belohnung?«
»Eine war ja wohl auf den Dieb gesetzt und die andere auf das Dolchmesser.«
»Hm,« antwortete Wilson zaudernd und in sichtlicher Verlegenheit, »ich weiß nicht, wie es kommt, aber bis jetzt hat sich noch niemand darum beworben.«
Tom sagte verwundert: »Das ist doch höchst merkwürdig.«
»Wenn es aber einmal der Fall ist, läßt sich’s nicht ändern,« entgegnete Wilson etwas ärgerlich.
»Gewiß. Ich dachte nur, du hättest ein Mittel erfunden und einen neuen Plan ausgeheckt, um die veralteten und unwirksamen Methoden der – –«
Er unterbrach sich und fuhr zu dem Konstabler gewandt, fort: »Nicht wahr, Blake, Sie hatten es auch so verstanden, als brauche man die Verfolgung der alten Frau nicht weiter fortzusetzen?«
Der Konstabler war froh, daß nun jemand anders statt seiner in den Schraubstock kam.
»Meiner Seel‘,« rief er, »Wilson hat gesagt, es würden nicht drei Tage vergehn, bis er den Dieb hätte, samt den gestohlenen Sachen, und das ist jetzt fast eine Woche her. Damals behauptete ich gleich, kein Dieb oder Diebsgenosse würde so dumm sein, etwas zu verkaufen oder zu versetzen, weil er doch wissen müßte, daß der Pfandleiher sich beide Belohnungen verschaffen könne, wenn er ihn samt seiner Beute auf die Polizei brächte. Es war der beste Gedanke, der mir jemals gekommen ist!«
»Sie würden wohl anderer Meinung sein,« entgegnete Wilson in gereiztem Ton, »wenn Sie meinen ganzen Plan kennten und nicht nur ein Bruchstück.«
»Je nun,« meinte Blake nachdenklich, »ich war eben von Anfang an überzeugt, daß Sie mit den zwei Belohnungen nichts ausrichten würden, und bisher habe ich auch recht behalten.«
»Meinetwegen – lassen wir’s dabei, bis auf weiteres. Mein Plan hat wenigstens ebensoviel Erfolg gehabt als Ihre eigenen Maßregeln, das werden Sie zugeben.«
Der Konstabler hatte nicht gleich eine schlagende Antwort bei der Hand; er räusperte sich nur unzufrieden und schwieg.
Seit jenem Abend, an dem Wilson einen Teil seiner Absichten kund gethan, hatte sich Tom fortwährend den Kopf zerbrochen, um den ganzen Plan zu erraten. Da ihm das nicht gelang, beschloß er der klugen Roxana den Fall zur Entscheidung vorzulegen. Sie dachte eine Weile nach und gab dann ihr Urteil ab. Was sie gesagt hatte, leuchtete Tom sehr ein; jetzt aber wollte er die Probe machen und dabei Wilsons Gesichtsausdruck beobachten.
»Daß du kein Narr bist, David,« sagte er gedankenvoll, »ist ja vor kurzer Zeit entdeckt worden. Deshalb wird auch wohl der Plan, den du entworfen hast, nicht gerade unsinnig sein, wenn auch Blake anderer Meinung ist. Du brauchst ihn nicht zu verraten, aber laß mich dir sagen, wie ich mir die Sache denke: Du hast fünfhundert Dollars für Rückgabe des Messers und fünfhundert für den Fang des Diebes ausgesetzt. Ich will einmal annehmen, daß die erste Belohnung öffentlich ausgeschrieben und die zweite den Pfandleihern nur durch einen Privatbrief mitgeteilt worden ist, dann – –«
Blake schlug sich auf den Schenkel, daß es klatschte. »Donnerwetter, Querkopf, so muß es sein. Er ist hinter dein Geheimnis gekommen. Warum mir das nur nicht von selbst eingefallen ist!«
Wilson sagte sich, daß jeder Mensch, dem es nicht an Verstand fehlte, schließlich den Plan erraten mußte. Daß Blake den Kunstgriff nicht herausgefunden hatte, nahm ihn nicht wunder, aber Toms Scharfsinn überraschte ihn. »Es steckt doch mehr hinter ihm als ich dachte,« überlegte er, äußerte aber nichts dergleichen.
»Auf diese Weise,« fuhr Tom fort, »merkt es der Dieb nicht, wenn er in die Falle läuft. Er bringt oder schickt das Dolchmesser, sagt, er habe es billig gekauft oder auf der Straße gefunden und fordert die Belohnung. Natürlich würde man ihn festnehmen – nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Ohne allen Zweifel. – Sage einmal, Wilson, hast du das Dolchmesser je gesehen?«
»Nein.«
»Hat irgend einer von deinen Bekannten es in Augenschein genommen?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Nun, dann begreift ich wohl, warum dein Plan mißglückt ist.«
»Was soll das heißen, Tom, worauf willst du hinaus?« fragte Wilson, dem es unbehaglich zu Mute wurde.
»Ich meine, es giebt überhaupt gar kein solches Messer.«
»Meiner Treu, Wilson,« rief Blake, »ich möchte gleich tausend Dollars wetten – wenn ich sie hätte – daß Tom Driscoll es getroffen hat.«
Wilson stieg das Blut zu Kopfe. War es möglich, daß die Fremden ihn wirklich zum besten gehabt hatten? – Der Schein sprach gegen sie, das ließ sich nicht leugnen. Aber was sollten sie damit bezwecken?
– Er warf diese Frage auf.
»Nun,« sagte Tom, »du selbst würdest vielleicht keinen Wert auf solche Dinge legen, aber sie sind fremd in der Stadt und müssen sich erst die Gunst der Leute erwerben. Muß es ihnen nicht schmeicheln, wenn sie sich als Lieblinge eines orientalischen Fürsten aufspielen können – ohne daß es sie was kostet? Verleiht es ihnen keine Wichtigkeit, wenn sie hier in unserem armen Städtchen glänzende Belohnungen von tausend Dollars ausschreiben, – die sie nie zu bezahlen brauchen? – Verlaß dich darauf, Wilson, wäre das Messer überhaupt vorhanden, so hättest du es zum Vorschein gebracht. Entweder giebt es also gar kein solches Messer, oder es ist noch in ihrem Besitz. Ich meinesteils glaube, daß sie das Dolchmesser einmal irgendwo gesehen haben. So schnell und geschickt hätte Angelo es nicht aufs Papier zeichnen können, wenn die ganze Sache nur auf Erfindung beruhte. Natürlich kann ich nicht schwören, sie hätten es nie gehabt, aber, daß es noch in ihrem Besitz ist, wenn sie es überhaupt mit hierher gebracht haben – dafür will ich mich verbürgen.«
»Was Tom sagt, klingt sehr einleuchtend,« meinte Blake, »das läßt sich nicht bestreiten.«
»Schaffen Sie nur die alte Frau zur Stelle, Blake, und wenn sie Ihnen das Messer nicht abliefern kann, so halten Sie Haussuchung bei den Zwillingen.«
Nach diesen Worten schlenderte Tom fort und Wilson blieb in sehr gedrückter Stimmung zurück. Er wußte nicht recht, was er denken sollte. Den Zwillingen sein Vertrauen zu entziehen, fiel ihm schwer, und er beschloß, es nicht auf einen so unbestimmten Verdacht hin zu thun; jedenfalls wollte er sich die Sache erst reiflich überlegen.
»Was halten Sie denn davon, Blake?« fragte er.
»Ich muß gestehen, ich teile Toms Ansicht: sie haben das Messer überhaupt nicht gehabt, oder, wenn sie es hatten, so haben sie es noch.«
Die beiden Männer trennten sich.
»Ich glaube, daß sie es gehabt haben,« dachte Wilson im Weitergehen. »Wäre es ihnen gestohlen, so hätte mein Plan es wieder ans Licht gebracht, das steht fest. Demnach müssen sie es noch in Händen haben.«
Tom hatte dieses wichtige Gespräch begonnen, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Er hoffte nur Blake und Wilson etwas zu ärgern und sich auf ihre Kosten lustig zu machen. Beim Abschied aber triumphierte er innerlich. Durch den reinsten Glücksfall und ohne jegliche Anstrengung seinerseits waren ihm ein paar köstliche Dinge gelungen: er hatte die beiden Männer an ihrem wundesten Fleck getroffen und gesehen, wie sie sich krümmten; er hatte in Wilsons zuckersüße Gefühle für die Zwillinge einen Tropfen Wermut gegossen – den bittern Geschmack sollte er nicht so bald los werden – und, was ihn am meisten freute: es war ihm geglückt, die verhaßten Fremden von ihrer Höhe zu stürzen. Blake würde ohne Zweifel die Neuigkeit weiter herumtragen, nach Art des Detektivs, und bevor noch acht Tage um waren, würde sich jedermann den Zwillingen gegenüber ins Fäustchen lachen, weil sie für eine Kostbarkeit, die sie entweder niemals besessen oder niemals verloren hatten, großartige Belohnungen aussetzten. Tom war wirklich ausnehmend mit sich zufrieden.
Die ganze Woche über hatte er sich zu Hause musterhaft aufgeführt. Dem Onkel und der Tante war so etwas noch gar nicht vorgekommen; sie fanden nicht das geringste an ihm zu tadeln.
Am Samstag abend sagte er zu dem Richter: »Mir liegt etwas schwer auf dem Herzen, Onkel, und da ich bald fortreise, und man nie weiß, ob man sich wiedersieht, ertrage ich es nicht länger. Du hast glauben müssen, daß ich mich aus Furcht nicht mit dem italienischen Abenteurer schlagen wollte. Es kam mir so überraschend, und ich habe vielleicht einen falschen Vorwand gewählt, um davon los zu kommen, aber kein Ehrenmann, der von ihm wüßte, was ich weiß, würde sich auf einen Zweikampf mit ihm einlassen.«
»So? – Und was wäre denn das?«
»Graf Luigi bekennt selbst, daß er einen Mord begangen hat.«
»Unglaublich!«
»Es ist die reine Wahrheit. Wilson entdeckte es in den Linien seiner Hand. Er sagte es ihm auf den Kopf zu und trieb ihn so in die Enge, daß der Graf es eingestehen mußte. Beide Zwillinge baten uns jedoch auf den Knieen, das Geheimnis nicht zu verraten und gelobten, sich hier am Ort nichts zu Schulden kommen zu lassen. Es war ein so peinlicher Auftritt, daß wir unser Ehrenwort gaben, die Sache geheim zu halten, solange sie ihr Versprechen nicht brächen. Du hättest es auch gethan, Onkel.«
»Da hast du ganz recht, mein Junge. Ein Geheimnis, das einem Menschen auf solche Weise entrissen worden ist, sollte als sein Eigentum betrachtet und heilig gehalten werden. Ich kann dich nur loben, und bin stolz auf dich. Doch ich wollte,« fügte er traurig hinzu, »mir hätte die Schande erspart bleiben können, einem Mörder auf dem Feld der Ehre zu begegnen.«
»Es ließ sich nicht ändern, Onkel. Hätte ich gewußt. daß du ihn fordern wolltest, so würde ich es für meine Pflicht gehalten haben, mein gegebenes Wort zu brechen, um das Duell zu verhindern. Aber Wilson konnte man es füglich nicht zumuten, daß er reden sollte.«
»Nein; Wilson hat ganz recht gethan, ich mache ihm durchaus keinen Vorwurf. Tom, Tom, du nimmst mir eine Last von der Seele; es hat mich im tiefsten Innern geschmerzt, als ich entdeckt zu haben meinte, daß ein Glied meiner Familie sich als Feigling erwies.«
»Du kannst dir denken, wie viel es mich gekostet hat, diese Rolle zu spielen.«
»Jawohl, mein armer Junge. Und wie schwer muß es dir geworden sein, die ganze Zeit lang unter einem so ungerechten Verdacht zu stehen. Aber jetzt ist alles wieder gut und der Schaden geheilt. Du hast mir meine Gemütsruhe zurückgegeben und die deinige wiedergewonnen, wir hatten beide genug gelitten.«
Der alte Mann versank eine Weile in tiefe Gedanken; als er aufblickte, lag ein Ausdruck der Befriedigung in seinen Zügen. »Daß der Mörder mir den Schimpf angethan hat, sich mir auf dem Felde der Ehre gegenüberzustellen, als sei er meinesgleichen, ist eine Sache, die noch ins Reine gebracht werden muß, aber nicht jetzt. Erst nach dem Wahltag will ich Abrechnung mit ihm halten. Ich weiß ein Mittel, wie ich die Brüder schon vorher zu Grunde richten kann, und das will ich zuerst anwenden. Keiner von beiden soll gewählt werden, dafür bürge ich. Ist auch sicher noch nichts davon an die Oeffentlichkeit gedrungen, daß er ein Mörder ist?«
»Nein – ich weiß es ganz gewiß.«
»Diese Karte behalte ich also einstweilen in der Hand. Am Wahltag werde ich eine Andeutung von der Rednerbühne fallen lassen, daß ihnen der Boden unter den Füßen brennen soll.«
»Das wird ihnen den Garaus machen.«
»Ja, aber daneben müssen auch die Wähler gehörig bearbeitet werden. Sobald die Zeit kommt, solltest du das bei dem Volk unter der Hand besorgen. Du kannst dabei etwas draufgehen lassen, ich werde dich mit Geld versehen.«
Eine neue Aussicht über die verhaßten Zwillinge zu siegen! Wahrlich, es war ein Glückstag für Tom. Er bekam Lust, noch einen letzten Pfeil nach demselben Ziel abzuschießen.
»Du hast doch von dem wunderbaren indischen Messer gehört, Onkel, über das die Zwillinge solchen Lärm gemacht haben? Weißt du – bis jetzt hat sich auch nicht die geringste Spur davon entdeckt. Man munkelt bereits allerlei in der Stadt, und die Leute schwatzen und lachen darüber ohne Ende. Einige glauben, daß es überhaupt nie ein solches Messer gegeben hat, und andere meinen, die Zwillinge hätten das Dolchmesser besessen und besäßen es noch. Ich habe das heute wenigstens von zwanzig verschiedenen Seiten gehört.«
Also, wie gesagt, die Thatsache läßt sich nicht leugnen: Tom stand am Schluß der Woche, nach seiner tadellosen Aufführung wieder in hoher Gunst bei dem Onkel und der Tante.
Auch seine Mutter war mit ihm zufrieden. Im stillen dachte sie sogar, daß sie anfinge, ihn lieb zu haben, aber das sagte sie nicht laut. Sie befahl ihm jetzt nach St. Louis zu gehen, wohin sie ihm auf dem Fuße folgen werde. Zuletzt zerschlug sie ihre Branntweinflasche und sagte:
»De siehst du’s selbst! Deine Mammy will dir kein böses Beispiel geben, sie wird schon sorgen, daß du nicht vom geraden Weg abkommst. Du darfst nicht wieder in schlechte Gesellschaft geraten, hab‘ ich gesagt; deshalb bleibst du in meiner Gesellschaft, da bist du am besten aufgehoben. Nun mach‘, daß du zum Thor hinauskommst!«
Noch am selben Abend begab sich Tom an Bord eines vorüberfahrenden Dampfboots und nahm seinen schweren Reisesack voll gestohlener Sachen mit. Er schlief den Schlaf der Ungerechten, der oft ruhiger und fester ist als die andere Sorte; das wissen wir aus der Geschichte der Henkersnacht von Millionen Spitzbuben. Aber, als er am Morgen aufwachte, war ihm das Glück untreu geworden. Ein zweiter Dieb hatte ihm, während er schlief, seinen Raub wieder abgenommen und war damit auf einer Zwischenstation ans Land gegangen.