Wagnermusik

Wagnermusik

Abends fuhr ich in Begleitung eines Freundes von Heidelberg nach Mannheim, um ein Scharivari zu hören – oder vielleicht eine Oper – sie heißt ›Lohengrin‹. Das Hämmern und Klopfen, das Sausen und Krachen war über alle Beschreibung. Es erregte mir einen unerträglich quälenden Schmerz, ganz ähnlich wie das Plombieren der Zähne beim Zahnarzt. Zwar hielt ich die vier Stunden bis zum Schluß aus, die Umstände nötigten mich dazu, aber die Erinnerung an dies endlos lange, erbarmungslose Leiden hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Das ich es schweigend ertragen mußte und mich dabei nicht vom Fleck rühren könnte, machte die Sache noch ärger. Ich war mit acht bis zehn fremden Personen beiderlei Geschlechts in einem umhegten Raum eingeschlossen und versuchte natürlich mich so viel wie möglich zu beherrschen, doch überkam mich dann und wann ein so namenloses Weh, das ich kaum imstande war, die Tränen zurückzuhalten. Wenn das Geheul, das Geschrei und Klagegestöhn der Sänger und das rasende Toben und Donnergetöse des ungeheuern Orchesters noch wilder und grimmiger wurde und sich zu immer höheren Höhen verstieg, hätte ich laut aufschluchzen mögen. Aber ich war nicht allein und die Fremden neben mir hätte ein solches Benehmen sicherlich überrascht; sie würden allerlei Bemerkungen darüber gemacht haben. Freilich mit Unrecht; denn, einen Menschen weinen zu sehen, dem man – um bildlich zu sprechen – bei lebendigem Leibe die Haut abzieht, sollte niemanden in Erstaunen setzen.

In der halbstündigen Pause am Ende des ersten Akts hätte ich hinausgehen und mich etwas erholen können, aber ich wagte es nicht, aus Furcht, fahnenflüchtig zu werden, was ich meinem Reisegefährten nicht antun wollte. Als dann gegen neun Uhr abermals eine Pause eintrat, hatte ich schon so viel durchgemacht, das ich keine Widerstandskraft mehr besaß. In Ruhe gelassen zu werden, war mein einziges Verlangen. Ich will nicht behaupten, das die übrigen Zuhörer meine Gefühle teilten, das war keineswegs der Fall. Ob sie für den Lärm von Natur eine besondere Vorliebe besaßen, oder ob sie sich mit der Zeit daran gewöhnt hatten, ihn schön zu finden, – jedenfalls gefiel er ihnen, das unterlag keinem Zweifel. Während das Getöse in vollem Gange war, saßen sie mit verzückten und wohlgefälligen Mienen da, wie Katzen, denen man den Rücken streichelt; kaum aber fiel der Vorhang, so stand die ganze ungeheure Menge wie ein Mann auf, und ein wahres Schneegestöber von wehenden Taschentüchern sauste durch die Luft, von Beifallsstürmen begleitet. Dies ging über mein Verständnis. Zudem waren die Logen und Ränge bis zum Schluß so voll wie sie es zu Anfang gewesen, und da sich nicht annehmen ließ, daß die Zuhörer alle nur gezwungen dablieben, mußte es ihnen wohl Vergnügen machen.

Was das Stück selbst betraf, so zeichnete es sich zwar durch prächtige Kostüme und Scenerieen aus, aber es enthielt merkwürdig wenig Handlung. Das heißt, es geschah in Wirklichkeit nichts, doch wurde viel über die Begebenheiten hin und her geredet und immer mit großer Aufregung. Man könnte es eine dramatisierte Erzählung nennen. Jeder Mitspieler trug eine Geschichte und eine Beschwerde vor, aber nicht ruhig und vernünftig, sondern auf eine höchst beleidigende, unbotmäßige Art und Weise. Ferner fiel mir auf, daß Tenor und Sopran sich nur selten in ihrer gewöhnlichen Manier dicht an die Rampen stellten, um mit vereinten Kräften und Stimmen zu trillern, die Arme nach einander auszustrecken, sie wieder zurückzuziehen, erst die rechte, dann die linke Hand auf die Brust zu drücken und sich dabei zu schütteln. Nein, jeder Lärmmacher besorgte seine Sache für sich allein; nach einander sangen sie ihre verschiedenen Anschuldigungen mit Begleitung des ganzen großen Orchesters. Wenn dies eine Weile gedauert hatte und man sich gerade mit der Hoffnung schmeichelte, sie würden sich nun verständigen und etwas weniger Spektakel machen, dann begann plötzlich ein Riesenchor, der aus lauter Tollhäuslern zusammengesetzt war, loszukreischen, und ich mußte zwei, oft auch drei Minuten lang alle Qualen noch einmal durchleben, die ich vor Jahren erlitten habe, als das Waisenhaus in N. in Brand geriet.

Diese lange und mit größter Anschaulichkeit durchgeführte Wiedergabe der gräßlichen Höllenpein ward nur durch einen einzigen kurzen Beigeschmack von Himmelsfrieden und Seligkeit unterbrochen – nämlich im dritten Akt, während ein prachtvoller Festzug auf der Bühne fort und fort rund um ging und der Hochzeitsmarsch ertönte. Dies war Musik für mein ungeschultes Ohr – göttliche Musik. Während der heilende Balsam jener lieblichen Töne meine wunde Seele überflutete, hätte ich fast alle vergangenen Qualen wieder erdulden mögen, um noch einmal diese süße Erquickung zu durchleben. Dabei wurde mir klar, mit welcher Schlauheit die Oper ihre Wirkung berechnet. Sie erregt so viele und schreckliche Leiden, daß die wenigen dazwischen gestreuten Freuden durch den Gegensatz aufs wunderbarste erhöht werden.

Nichts lieben die Deutschen so von ganzem Herzen wie die Oper. Sie werden durch Gewohnheit und Erziehung dahin geleitet. Auch wir Amerikaner können es ohne Zweifel eines Tages noch zu solcher Liebe bringen. Bis jetzt findet aber vielleicht unter fünfzig Besuchern der Oper einer wirklich Gefallen daran; von den übrigen neunundvierzig gehen viele, glaube ich, hin, weil sie sich daran gewöhnen möchten, und die andern, um mit Sachkenntnis davon reden zu können. Letztere summen gewöhnlich die Melodien vor sich hin, während sie auf der Bühne gesungen werden, um ihren Nachbarn zu zeigen, daß sie nicht zum erstenmal in der Oper sind. Sie verdienten dafür gehängt zu werden.

Drei bis vier Stunden auf einem Fleck zu bleiben, ist keine Kleinigkeit; einige von Wagners Opern zerschmettern aber das Trommelfell der Zuhörer sechs Stunden hintereinander. Die Leute sitzen da, freuen sich und wünschen, es dauerte noch länger. Mir sagte einmal eine deutsche Dame in München, Wagner gefiele keinem gleich bei der ersten Aufführung, man müsse ihn erst lieben lernen; dazu gehöre ein förmlicher Kursus, habe man den aber durchgemacht, so dürfe man auch sicher auf den Lohn rechnen; wer die Musik einmal lieben gelernt, verspüre einen solchen Hunger danach, das er nie genug bekommen könne; sechs Stunden Wagner sei gar nicht zu viel. Dieser Komponist, sagte sie, habe in der Musik eine völlige Umwälzung hervorgebracht, die alten Meister müßten sich einer nach dem anderen von ihm begraben lassen. Nach ihrer Ansicht bestand der Unterschied zwischen Wagners Opern und allen übrigen hauptsächlich darin, das sie nicht nur hie und da eingestreute Melodien enthielten, sondern, vom ersten Tone an, aus einer einzigen Melodie beständen. Das war mir überraschend und ich erwiderte, ich hätte der Aufführung einer seiner Schöpfungen beigewohnt und außer dem Hochzeitsmarsch wäre mir nichts darin wie Musik vorgekommen. Darauf riet sie mir, Lohengrin noch recht oft zu hören, dann würde ich mit der Zeit die endlose Melodie gewiß herausfühlen. Ich hatte schon auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie einem Menschen wohl zureden würde, sich jahrelang darin zu üben, Zahnschmerzen zu haben, um schließlich einen Genuß daran zu finden. Aber ich unterdrückte die Bemerkung.

Die Dame sprach auch von dem ersten Tenor, den sie am vergangenen Abend in einer Wagnerschen Oper gehört hatte. Sie war seines Lobes voll, pries seinen altbewährten Ruhm und zählte die Auszeichnungen auf, welche ihm von sämtlichen Fürstenhäusern Deutschlands zu teil geworden waren. Das setzte mich abermals in Erstaunen. Ich war nämlich bei jener Aufführung zugegen gewesen – vertreten durch meinen Reisebegleiter – und hatte die genauesten Beobachtungen angestellt.

»Aber, gnädige Frau,« erwiderte ich daher, »mein Vertreter hat sich mit eigenen Ohren überzeugt, daß jener Tenor gar nicht singt, sondern nur kreischt und heult – wie eine Hyäne.«

»Das ist wahr,« versetzte sie, »jetzt kann er nicht mehr singen; seit vielen Jahren hat er schon die Stimme verloren; aber früher sang er wahrhaft himmlisch. Deshalb kann auch das Theater kaum die Zuhörer fassen, wenn er auftritt. Jawohl, bei Gott, seine Stimme klang wunderschön – in jener alten Zeit.«

Dies offenbarte mir einen freundlichen Charakterzug der Deutschen, welcher alle Anerkennung verdient. Jenseits des Ozeans sind wir weniger hochherzig. Wenn bei uns ein Sänger die Stimme verloren hat, oder ein Springer seine Beine, so ist es mit der Gunst des Publikums für ihn vorbei. Nach meiner Erfahrung zu urteilen, – ich bin dreimal in der Oper gewesen, einmal in Hannover, einmal in Mannheim und einmal in München, wo ich mich vertreten ließ – scheinen die Deutschen diejenigen Sänger am liebsten zu hören, welche nicht mehr singen können.

Das ist durchaus keine Übertreibung. In Heidelberg war die ganze Stadt schon eine Woche lang im voraus außer sich vor Entzücken über den dicken Tenor gewesen, der in Mannheim auftrat. Seine Stimme klang aber täuschend, als kratze man mit einem Nagel auf einer Fensterscheibe. Das gaben die Heidelberger auch zu, aber in früherer Zeit, meinten sie, sei sein Gesang so herrlich gewesen wie kein anderer. Ähnlich ging es mir in Hannover. Der Herr, mit dem ich dort in der Oper war, strahlte förmlich vor Begeisterung.

»Sie werden den großen Mann sehen,« rief er, »in ganz Deutschland ist sein Ruhm verbreitet. Er bezieht eine Pension von der Regierung und braucht nur noch zweimal jährlich zu singen. Thut er das aber nicht, so wird ihm die Pension entzogen.« Als der bejahrte Tenor nun wirklich auftrat, war ich sehr enttäuscht. Wenn er hinter einem Schirm gestanden hätte, würde ich geglaubt haben, man schneide ihm gerade die Gurgel ab. Ich warf meinem Bekannten einen Blick zu, aber der schwelgte in Wonne, seine Augen funkelten vor Vergnügen. Als der Vorhang endlich fiel, erhob sich ein wahrer Beifallssturm, welcher kein Ende nehmen wollte, bis der gewesene Tenor dreimal wieder zum Vorschein gekommen war und seine Verbeugungen gemacht hatte. Mein Freund klatschte aus Leibeskräften mit, dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

»Entschuldigen Sie,« sagte ich, »aber nennen Sie das Gesang?«

»Nein, Gott im Himmel, das nicht – aber vor fünfundzwanzig Jahren, da konnte er singen! Jetzt singt er nicht mehr, er schreit nur. Wenn man einer Katze auf den Schwanz tritt, klingt es gerade so.«

 

Wir halten die Deutschen im allgemeinen für ein ruhiges, phlegmatisches Volk, aber das ist weit gefehlt. Sie sind warmherzig, heißblütig und folgen der Eingebung des Augenblicks. Man kann sie ebenso leicht zu Thränen rühren wie zum Lachen bringen. Ihre Treue ist unerschütterlich und wen sie einmal ins Herz geschlossen haben, von dessen Lobe fließt ihr Mund über und sie werden nicht müde, ihm zuzujubeln. Wir Amerikaner sind kalt und zurückhaltend im Vergleich mit ihnen.

Sonntagsheiligung in Deutschland

Sonntagsheiligung in Deutschland

Der schönste Tag auf dem Festland ist der Sonntag, ein freier, ein glücklicher Tag. Man kann dort den Sonntag auf hunderterlei Weise entheiligen, ohne eine Sünde zu begehen.

Wir arbeiten am Sonntag nicht, weil es gegen Gottes Gebot ist, die Deutschen ebensowenig. Wir ruhen am Sonntag, weil das Gebot es befiehlt. Die Deutschen ruhen auch. Aber in der Erklärung des Wortes ruhen liegt der ganze Unterschied. Bei den Deutschen bedeutet es am Sonntag genau dasselbe wie am Wochentag, nämlich: gieb dem Teil des Körpers Ruhe, der sie braucht und laß den übrigen Menschen thun, was er will. Der ermüdete Teil soll ausruhen – das muß durch alle Mittel gefördert werden. Wen also seine Pflichten die ganze Woche über ans Haus gefesselt haben, der ruht aus, wenn er am Sonntag spazieren geht; wer in der Woche nur ernste, inhaltschwere Dinge studiert hat, der erholt sich am Sonntag bei einer leichten Lektüre; wer sich in seinem Alltagsberuf meist mit Tod und Grab beschäftigen muß, der ruht am Sonntag, wenn er ins Theater geht und ein Paar Stunden lang über eine Komödie lacht; wer die Woche hindurch Bäume gefällt oder Gräben gezogen hat, der legt sich am Sonntag zu Hause ruhig hin. Ist deine Hand, dein Arm, dein Hirn, deine Zunge oder irgend ein anderes Glied unthätig gewesen, so ist es für dasselbe keine Erholung noch einen Tag länger nichts zu thun; war dagegen ein Glied durch Arbeit besonders angestrengt, so ist Ruhe seine rechte Feier.

Bei den Deutschen bedeutet also die Ruhe eine Erholung, Erneuerung, Wiederbelebung der erschöpften Kräfte. Wir schränken den Begriff viel zu sehr ein, indem wir allesamt auf gleiche Weise ruhen, nämlich uns still verhalten und zurückziehen, einerlei, ob das für die meisten eine Erholung ist oder nicht. Bei den Deutschen müssen Schauspieler, Pfarrer, und manche andere Leute am Sonntag arbeiten. Auch wir lassen unsere Prediger, Journalisten, Drucker etc. am Sonntag nicht ruhen und glauben, daß uns kein Teil der Schuld trifft. Ist es aber für den Drucker eine Sünde am Sonntag zu arbeiten, warum sollte es keine für den Pfarrer sein? Ich habe wenigstens nirgends gefunden, daß das Gebot zu seinen Gunsten eine Ausnahme macht. Wir kaufen und lesen die Morgenzeitung am Montag, die doch Sonntags gedruckt werden muß, und unterstützen dadurch die Sonntagsarbeit. Ich werde das aber nie mehr thun.

Die Deutschen heiligen den Sonntag damit, daß sie sich der Arbeit enthalten, wie das Gebot es befiehlt; wir thun das auch, aber wir enthalten uns zugleich des Vergnügens, was nicht geboten ist. Vielleicht übertreten wir das Gebot der Sonntagsruhe im eigentlichen Sinn, weil wir in den meisten Fällen nicht in Wahrheit ausruhen, sondern nur dem Namen nach.

Trauben- und Molkenkur

Trauben- und Molkenkur

Am Kursaal in Interlaken finden regelmäßig Konzerte im Freien statt; man geht dabei in den Gartenanlagen spazieren und hat Wein, Bier, Milch, Molken und Trauben zur Auswahl. Für gewisse Kranke, welche die Ärzte nicht wieder zurechtstutzen können, sind Molken und Trauben die nötigsten Bedürfnisse, um ihr Leben weiter zu fristen. Einer dieser abgestorbenen Geister machte mir mit trauriger, tonloser Stimme die Mitteilung, daß er sich überhaupt nur noch von Molken ernähre und dies Getränk über alles liebe, weshalb wisse er nicht. Ein anderer, den nur noch die Traubenkur vor dem Tode bewahrte, erzählte mir, es würden dazu nur Trauben verwandt, die einen bedeutenden medizinischen Gehalt hätten, so daß die Traubenärzte sie wie Pillen verschreiben und einnehmen ließen. Zu Anfang der Kur, wenn der Patient sich noch sehr schwach fühlt, beginnt er mit einer Traube vor dem Frühstück, drei während desselben, zwei zwischen den Mahlzeiten, fünf zum zweiten Frühstück, drei im Laufe des Nachmittags, sieben zum Mittagessen, vier zum Abendbrod und vor dem Schlafengehen ißt er dann noch als Zugabe eine halbe Traube. Allmählich steigert sich dann die Zahl, je nach Bedürfnis und Fähigkeit des Patienten, bis er nach und nach so weit kommt, daß er jede Sekunde eine Traube und den Tag über ein Stückfaß voll verzehrt.

Wer auf solche Weise geheilt wird, sagte mir der Kranke, verliere nie wieder die Gewohnheit so zu sprechen, als diktiere er einem langsamen Schreiber, weil er zwischen jedem Wort eine Pause macht, um in Gedanken eine Weintraube auszusaugen. Sich mit solchen Menschen zu unterhalten, erfordere viel Geduld. Wer dagegen auf die andere Methode gesund geworden sei, den unterscheide man leicht von der übrigen Menschheit, weil er immer beim zweiten Wort den Kopf in den Nacken wirft, um in Gedanken ein Glas Molken zu schlürfen. Fangen nun zwei solche Leute zusammen ein Gespräch an, so könne man beobachten, mit welcher Regelmäßigkeit und Ausdauer sie immer dieselben Pausen und Bewegungen machten. Ein Fremder würde sicherlich meinen, er habe zwei Automaten vor sich. Man hört und lernt doch wirklich die wunderbarsten Dinge auf Reisen, wenn man nur die richtigen Leute trifft, die einem ihre Erfahrungen mitteilen.

Der deutsche Portier

Der deutsche Portier

Der persische Prophet und Dichter Omar Khayam schrieb vor mehr als achthundert Jahren:

»In den vier Weltteilen giebt es viele, die gelehrte Bücher schreiben können, viele, die Armeen zu führen verstehen, auch viele, die imstande sind, große Reiche zu regieren, aber nur wenige, die wissen, wie man ein Gasthaus halten muß.«

Der Portier in den deutschen Hotels ist eine wunderbare Erfindung, eine höchst wertvolle Annehmlichkeit. Man erkennt ihn stets an seiner Uniform und wenn man ihn braucht ist er immer da, weil er seinen Posten an der Eingangsthür nicht verläßt. Er ist höflich wie ein Herzog; er spricht vier bis zehn Sprachen; er ist die sicherste Hilfe und Zuflucht in Zeiten der Not und Gefahr. Statt sich wie bei uns mit allem an den Hotel-Clerk zu wenden, geht man hier zum Portier. Bei uns setzt der Clerk seinen Stolz darein, alles zu wissen, hier thut es der Portier. Man fragt ihn, wenn der Zug abgeht – sofort erhält man die Antwort; man erkundigt sich bei ihm nach dem besten Arzt in der Stadt oder nach dem Droschkentarif; fragt ihn, wie viele Kinder der Major hat oder an welchen Tagen die Galerien geöffnet sind; ob man Eintrittskarten braucht, wo man sie erhält und was man dafür bezahlt; wann die Theater anfangen und wann sie aus sind, was für Stücke gespielt werden, wie hoch die Preise der Plätze sind; aber auch, was für Hüte man trägt, wie groß die Sterblichkeitsziffer im Durchschnitt ist oder wer Bill Patrones besiegt hat. Man mag ihn fragen was man will, in neun Fällen von zehn weiß er es und über den zehnten Fall verschafft er die gewünschte Auskunft im Handumdrehen. Er schreckt vor keiner Schwierigkeit zurück. Wenn ihm jemand sagt, er wolle von Hamburg über Jericho nach Peking reisen, sei aber über die Routen und Preise im unklaren, so überreicht der Portier ihm tags darauf ein Blatt Papier, auf dem die ganze Reise bis ins kleinste verzeichnet steht. Wer sich längere Zeit in Europa aufhält, wird zwar noch immer sagen, er verlasse sich auf die Vorsehung, aber bei näherer Betrachtung wird er bald die Entdeckung machen, dass er sich eigentlich auf den Portier verläßt. Diesem ist nichts verborgen was uns quält und bange macht; er weiß schon, was wir bedürfen, wenn wir es noch auf der Zunge haben, und sein Wort: »Ich werde es besorgen,« beruhigt uns schnell. Wer sich an einen amerikanischen Hotel-Clerk wendet, empfindet dabei eine gewisse Verlegenheit, er zaudert und fürchtet sich vor einer abschlägigen Antwort; beim Verkehr mit dem Portier ist davon keine Rede, die freudige Bereitwilligkeit, die er uns entgegenbringt, wirkt ermutigend und die Schnelligkeit, mit der er an die Ausführung unserer Wünsche geht, hat etwas wahrhaft Berauschendes. Je mehr Besorgungen man ihm aufbürdet, desto zufriedener zeigt er sich. Die natürliche Folge ist, dass man selber überhaupt nichts mehr tut. Der Portier holt die Droschke für uns, hilft uns einsteigen, sagt dem Kutscher, wohin er fahren soll, empfängt uns bei der Rückkehr wie einen lang und schmerzlich vermißten Sohn, bittet nur, dass wir uns um gar nichts kümmern, übernimmt es, sich mit dem Droschkenkutscher herumzuzanken und bezahlt ihn aus seiner eigenen Tasche. Er läßt uns Theater Billett holen und alles was wir möglicherweise wünschen können, es mag nun ein Arzt, ein Elefant oder eine Briefmarke sein. Schließlich giebt er uns noch bei der Abfahrt einen Untergebenen mit, der vom Kutscherbock steigt, uns an das Coupé bringt, die Fahrkarten kauft, die Koffer wiegen läßt, uns den Gepäckzettel übergiebt und versichert, daß alles schon auf der Rechnung steht und vorausbezahlt ist. In Amerika findet man nur in den besten Hotels der großen Städte solche vorzügliche, freundliche und bereitwillige Bedienung, aber in Europa hat man sie gerade so gut in den kleinsten Landstädtchen.

Wie läßt sich denn aber die rührende Hingebung des Portiers erklären? Auf sehr einfache Weise: er bekommt nur Trinkgelder und kein Gehalt. Die großen Hotels auf dem Kontinent stellen für geringen Lohn einen Kassierer an, aber der Portier muß dem Hotel eine Abgabe bezahlen. Diese Einrichtung ist sowohl für den Wirt als für das Publikum eine Ersparnis und sichert ihnen bessere Dienste, als wir nach unserem System erhalten. Ein amerikanischer Konsul hat mir erzählt, daß der Portier in einem großen Berliner Hotel jährlich fünftausend Dollars für seine Stelle bezahlt und trotzdem einen Reingewinn von sechstausend Dollars erzielt. Vielleicht würde das Amt des Portiers in einem unserer besuchtesten Hotels in Saratoga, Long Branch, New-York und anderen Hauptverkehrsplätzen noch einträglicher sein.

Als wir vor etwa zwölf Jahren das Trinkgeldersystem nach europäischem Muster bei uns einführten, hätten wir natürlich aufhören müssen, Gehalt zu bezahlen. Ich dächte, das ließe sich jetzt auch noch nachholen und dabei könnte zugleich der Portier eingeführt werden. Seit ich zuerst anfing, mich eingehend mit ihm zu beschäftigen, habe ich Gelegenheit gehabt, ihn in den größten Städten von Deutschland, der Schweiz und Italien zu beobachten. Je mehr ich aber von ihm gesehen habe, um so größer ist mein Wunsch geworden, ihm in Amerika zu begegnen, damit er auch bei uns ein Schutzengel für die Fremden werde, wie er es in Europa ist. Was vor achthundert Jahren als wahr galt, bestätigt sich noch heute: »Nur wenige wissen, wie man ein Gasthaus halten muß!«

Eine Rigibesteigung

Eine Rigibesteigung

Der Rigi kann per Eisenbahn, zu Pferde oder zu Fuß erstiegen werden, je nach Belieben des Reisenden. Ich und mein Freund warfen uns in Touristenanzüge und fuhren an einem herrlichen Morgen per Dampfboot den See hinauf. In Wäggis, einem Dorfe am Fuße des Berges, ¾ Stunden von Luzern, gingen wir ans Land.

Bald ging’s behaglich und stetig den schattigen Fußweg hinauf und unsere Zungen waren, wie gewöhnlich, bald in schönster Bewegung. Alles ließ sich herrlich an, und wir versprachen uns nicht wenig, sollten wir doch zum erstenmal den Genuß eines Sonnenaufgangs in den Alpen erleben; das war ja der Zweck unserer Tour. Wir hatten anscheinend keinen triftigen Grund zu eilen, unser Reisehandbuch hatte den Weg von Wäggis bis zum Gipfel als nur 3 ¼ Stunden weit angegeben. Anscheinend sage ich, weil uns Bädeker schon einmal angeführt hatte.

Als wir etwa eine halbe Stunde gegangen waren, kamen wir in die richtige Stimmung für das Unternehmen und trafen Anstalt zum Steigen, das heißt, wir mieteten einen Burschen zum Tragen der Alpenstöcke, Reisetaschen und Überzieher, wodurch wir die Hände frei bekamen.

Wahrscheinlich haben wir häufiger im schönen, schattigen Gras geruht, um ein paar Züge aus unseren Pfeifen zu thun, als unser Führer gewohnt war, denn plötzlich fuhr er uns mit der Frage an, ob wir ihn nach dem Tarif oder für’s Jahr mieten wollten. Wir sagten, er möge immer voran gehen, wenn er Eile habe. Er erwiderte, Eile habe er eigentlich nicht, doch möchte er den Berg hinauf kommen, so lange er noch jung sei. Wir sagten ihm, er möge nur vorausgehen, das Gepäck im obersten Hotel abgeben und unsere baldige Ankunft melden. Er meinte, Zimmer wolle er für uns schon bestellen; wenn aber alles voll sei, wolle er ein neues Hotel bauen lassen und dafür sorgen, daß Maler- und Gipserarbeit trocken wären, bis wir ankämen. Unter solchen spöttischen Bemerkungen verließ er uns und war bald unsern Augen entschwunden.

Um 6 Uhr waren wir schon ein gutes Stück in der Höhe und die Aussicht hatte an Reiz und Umfang bedeutend zugenommen. Bei einem kleinen Wirtshause machten wir Halt, genossen im Freien Brot, Käse und ein oder zwei Liter frischer Milch, und dazu das großartige Panorama; – dann setzten wir uns wieder in Bewegung.

Nach 10 Minuten begegneten wir einem Engländer mit heißem, kupferrotem Gesicht, der in mächtigen Sätzen den Berg herabstürmte, indem er sich an seinem Alpstock immer eine tüchtige Strecke vorwärts schwang. Atemlos und schweißtriefend hielt er bei uns an und fragte, wie weit es bis Wäggis drunten am See sei. –

»Drei Stunden!«

»Was? der See scheint ja so nahe, als ob man einen Kieselstein hineinwerfen könnte. Ist das ein Wirtshaus?«

»Ja.«

»Das ist recht! Ich kann es nicht noch einmal drei Stunden aushalten.«

Auf meine Frage, ob wir wohl nahe am Gipfel seien, rief er: »Meiner Treu! Ihr habt ja eben erst angefangen zu steigen!«

Ich schlug deshalb meinem Reisegenossen Harris vor, auch in besagtem Wirtshaus zu bleiben. Wir drehten um, ließen uns ein warmes Nachtessen bereiten und verlebten mit dem Engländer einen lustigen Abend.

Die deutsche Wirtin gab uns hübsche Zimmer und gute Betten, und ich und mein Freund legten uns nieder mit dem Entschluß, früh genug aufzustehen, um unsern ersten Sonnenaufgang in den Alpen nicht zu versäumen. Aber wir waren todmüde und schliefen wie Nachtwächter; folglich war es, als wir am Morgen erwachten und ans Fenster stürzten, für den Sonnenaufgang schon zu spät: – es war halb 12 Uhr. Das war ein harter Schlag, doch trösteten wir uns mit der Aussicht auf ein gutes Frühstück und beauftragten die Wirtin, den Engländer zu rufen; aber sie erzählte uns, daß dieser unter allerlei Verwünschungen schon bei Tagesanbruch auf und davon gegangen sei. Wir konnten nicht auf den Grund seiner Erregung kommen. Er hatte die Wirtin nach der Höhe des Wirtshauses über dem See genau gefragt und sie hatte 1495 Fuß angegeben; diese Zahl mußte ihn ganz außer Rand und Band gebracht haben, denn er habe hinzugefügt: »In einem Lande, wie diesem, können Narren und Reisehandbücher einem in 24 Stunden mehr Bären aufbinden als sonstwo in einem Jahre.«

Gegen Mittag nahmen wir den Weg wieder unter die Füße und strebten frischen gewaltigen Schrittes dem Gipfel zu. Als wir etwa 200 Meter marschiert waren und anhielten, um zu rasten, blickte ich beim Anzünden meiner Pfeife von ungefähr nach links und entdeckte in einiger Entfernung eine Rauchsäule, die wie ein langer schwarzer Wurm lässig den Berg hinaufkroch. Das konnte nur der Rauch einer Lokomotive sein. Auf unsere Ellbogen gestützt, stierten wir das uns völlig neue Mirakel dieser Bergbahn an. Es erschien unglaublich, daß das Ding schnurgerade aufwärts kriechen konnte auf einer schiefen Ebene, steil wie ein Dach; es geschah aber vor unsern Augen: ein leibhaftiges Wunder. –

Noch ein paar Stunden, und wir erreichten ein schönes zephyrumsäuseltes Hochthal, wo die Dächer der kleinen Sennhütten mit großen Steinen belegt waren, um sie am Grund und Boden festzuhalten, wenn die großen Stürme toben. Weit weg am andern Ufer des Sees konnten wir einige Dörfer erblicken und jetzt zum erstenmal ihre zwerghaften Häuser mit den Bergriesen vergleichen, an deren Fuße sie schliefen.

Wenn man sich inmitten eines solchen Dorfes befindet, kommt es einem ziemlich ausgedehnt vor und die Häuser erscheinen stattlich, selbst im Verhältnis zu den hereinragenden Bergen; aber von unserm hohen Platze aus, welch eine Veränderung! Die Berge erschienen massenhafter und großartiger, dagegen waren die Dörfer so klein geworden, beinahe unsichtbar und lagen so dicht am Boden, daß ich sie nur vergleichen kann mit winzigen Erdarbeiten von Ameisen, überschattet von dem himmelanstrebenden Bau eines Münsters. Die Dampfboote, welche drunten den See durchschnitten, erschienen in der Entfernung nur noch so groß wie Kinderspielzeug und vollends die Segel- und Ruderboote wie winzige Fahrzeuge, bestimmt für die Elfen, die in Lilienkelchen haushalten und auf Brummhummeln zu Hofe reiten.

Wir gingen weiter und stießen bald auf ein halbes Dutzend weidender Schafe unter dem Gischt eines Gießbaches, der wohl hundert Fuß hoch sich am Felsen herabstürzte. Doch horch! Ein melodisches »Lal … l … l … lal, … loil-lahi-o-o-o!« trifft unser Ohr. Wir hören zum erstenmal das berühmte Alpenjodeln inmitten der wilden Gebirgsgegend, in der es heimisch ist. Es ist jenes seltsame Gemisch von Bariton und Falsett, das wir zu Hause Tiroler Triller nennen.

Das Gejodel war hübsch und munter anzuhören und bald erschien der Jodler – ein Sennbub von 16 Jahren. In unserer Freude und Dankbarkeit gaben wir ihm einen Franken, damit er weiter jodle. Er jodelte und wir lauschten. Beim Weitergehen jodelte er uns großmütig außer Sicht. Ebenso der zweite, auf den wir eine Viertelstunde später stießen, und dem wir seine Kunst mit einem halben Franken bezahlten.

Von nun an begegneten wir alle zehn Minuten einem Jodler; dem ersten gaben wir 8 Cts., dem zweiten 6, dem dritten 4, dem vierten 1 Cts., Nummer 5, 6, 7 erhielten gar nichts! Für den Rest des Tages erkauften wir das Stillschweigen der übrigen Jodler mit 1 Fr. per Kopf. Man bekommt es unter solchen Umständen doch schließlich satt.

Zehn Minuten nach 6 Uhr erreichten wir die Kaltbadstation, wo ein geräumiges Hotel mit Verandas steht, die einen weiten Umblick auf Berge und Seen gestatten. Wir waren nicht so sehr ermüdet, aber, um am andern Morgen ja den Sonnenaufgang nicht zu verschlafen, machten wir unsere Mahlzeit so kurz als möglich und eilten zu Bett. Es war unaussprechlich angenehm, unsere steifen Glieder in den kühlfeuchten Betten auszustrecken. Und wie fest wir schliefen! Kein Schlaftrunk wirkt so trefflich, wie eine solche Alpenfußtour.

Morgens erwacht, waren wir beide mit einem Sprung aus den Federn und an den Fenstern; wir zerrten die Vorhänge zurück, erfuhren aber leider eine neue herbe Enttäuschung: Es war nämlich schon halb 4 Uhr mittags. In sehr mürrischer Laune kleideten wir uns an, wobei jeder dem andern die Schuld in die Schuhe schob. Harris meinte, wenn ich ihm gefolgt wäre und wir den Reisediener mitgenommen hätten, wäre uns dieser Sonnenaufgang nicht entgangen. Ich behauptete dagegen, daß dann einer von uns hätte aufbleiben müssen, um den Diener zu wecken, außerdem hätten wir Mühe genug mit uns selbst auf dieser Klettertour, auch ohne die Sorge für den Reisediener.

Das Frühstück regte unsere Lebensgeister wieder etwas an, besonders auch die beruhigende Versicherung im Bädeker, oben auf dem Rigi brauche der Reisende nicht besorgt zu sein, daß er den Sonnenaufgang verschlafe, er werde vielmehr bei Zeiten von einem Mann geweckt, der mit einem großen Alphorn von Zimmer zu Zimmer gehe und seinem Instrumente Töne entlocke, die Tote zu erwecken imstande seien; und noch eine andere Bemerkung des Reisehandbuches tröstete uns, die Versicherung nämlich, daß oben in den Rigi-Hotels die Gäste sich morgens nicht ganz anzukleiden brauchen, sondern sich einfach ihrer roten Bettteppiche bemächtigen und mit diesen, wie Indianer drapiert, ins Freie stürmen. O, das muß schön und romantisch sein! – 250 Personen auf dem windigen Gipfel gruppiert, mit fliegenden Haaren und wehenden roten Bettteppichen, in der feierlich ernsten Gegenwart der schneeigen Bergspitzen, beleuchtet von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, das muß ein herrlicher und denkwürdiger Anblick sein! Unter diesen Umständen war es fast ein Glück, kein Unglück, daß wir die frühern Sonnenaufgänge verfehlt hatten. Nach dem Reisehandbuch waren wir nun 3228 Fuß über dem Spiegel des Sees und konnten somit volle Zweidrittel unserer Wanderung als vollendet betrachten. Wir brachen l/4 nach 4 Uhr nachmittags von neuem auf; etwa hundert Schritte über dem Hotel verzweigte sich die Bahnlinie, der eine Arm ging gerade aufwärts den steilen Berg hinan, der andere bog nach rechts ab in ziemlich sanfter Steigung; wir folgten dem letzteren über eine Meile, bogen um eine Felsenecke und kamen in Sicht eines neuen hübschen Hotels. Wären wir gleich weitergegangen, so hätten wir den Gipfel erreicht, aber Harris wollte allerhand Erkundigungen einziehen. Er wurde belehrt – und zwar falsch, wie gewöhnlich, – daß wir umkehren und den andern Weg gehen müßten. Dies kostete uns eine schwere Menge Zeit.

Wir kletterten und kletterten; wir kamen wohl über vierzig Hügel, aber immer erschien ein neuer so groß wie die frühern. Es begann zu regnen; wir wurden durch und durch naß und es war bitter kalt. Dampfende Nebelwolken deckten bald den ganzen Abgrund zu; der Eisenbahndamm, auf welchen wir stießen, war unser einziger Wegweiser! Manchmal krochen wir längs desselben ein Stück weit fort, allein als sich der Nebel etwas zerteilte, bemerkten wir mit Schrecken, daß wir uns mit dem linken Ellbogen über einem bodenlosen Abgrund befanden, weshalb wir eiligst wieder den Bahndamm zu erreichen trachteten.

Die Nacht brach ein, rabenschwarz, nebelig und kalt. Etwa um 8 Uhr abends hob sich der Nebel etwas und ließ uns einen ziemlich undeutlichen Pfad erblicken, der links aufwärts führte. Diesen Weg einschlagend, waren wir eben weit genug weg vom Eisenbahndamm, um denselben nicht wieder finden zu können, als auch schon wieder eine Nebelwolke herabschoß und alles in undurchdringliches Dunkel hüllte.

Wir befanden uns an einem rauhen, dem Unwetter vollkommen preisgegebenen Ort, und waren genötigt, auf- und abzugehen, um uns warm zu machen, obgleich wir dadurch Gefahr liefen, gelegentlich in einem Abgrund zu verschwinden.

Um 9 Uhr machten wir die wichtige Entdeckung, daß wir jeden Pfad verloren hatten. Wir krochen auf Händen und Knieen umher, konnten ihn aber nicht mehr finden; somit setzten wir uns wieder in das nasse Gras und warteten das Weitere ab. Plötzlich jagte uns eine ungeheure dunkle Masse, die vor uns auftauchte, nicht geringen Schrecken ein; sie verschwand aber alsbald wieder im Nebel, es war, wie wir später erfuhren, das längst ersehnte Rigi-Kulm-Hotel, aber die nebelhafte Vergrößerung ließ es uns als den gähnenden Rachen eines tödlichen Abgrundes erscheinen.

Da saßen wir nun eine lange Stunde mit klappernden Zähnen und zitternden Knieen, den Rücken gegen den vermeintlichen Abgrund gekehrt, weil von dorther etwas Zugluft zu verspüren war. Dabei ereiferten wir uns leidenschaftlich, denn jeder wollte dem andern die Dummheit in die Schuhe schieben, den Bahnkörper verlassen zu haben. Nach und nach wurde der Nebel dünner und als Harris zufällig um sich blickte, stand das große, hell erleuchtete Hotel da, wo vorher der Abgrund gewesen war. Man konnte beinahe Fenster und Kamine zählen.

Unser erstes Gefühl war tiefer, unaussprechlicher Dank, unser zweites rasende Wut, weil das Hotel wahrscheinlich schon seit dreiviertel Stunden sichtbar gewesen war, während wir pudelnaß dasaßen und uns zankten.

Ja, es war das Rigi-Kulm-Hotel auf dem Gipfel des Rigi, und wir fanden dort die Zimmer, die unser Bursche für uns bestellt hatte, – allerdings bekamen wir zuvor die hochmütige Ungefälligkeit des Portiers und des sonstigen Dienstpersonals gründlich zu kosten.

Wir verschafften uns trockene Kleider, und während unser Abendbrot bereitet wurde, irrten wir einsam durch eine Anzahl höhlengleicher Wohnräume, von denen eines einen Ofen besaß. Dieser Ofen in einer Ecke des Zimmers war von einer lebendigen Wand der allerverschiedensten Menschenkinder umgeben. Da wir nun nicht ans Feuer herankommen konnten, wandelten wir in den arktischen Regionen der weiten Säle umher, unter einer Menge Menschen, die schweigend, in sich verloren und wie versteinert das Problem zu ergründen suchten, warum sie wohl solche Narren gewesen waren, hierher zu kommen. Einige davon waren Amerikaner, einige Deutsche, die weitaus überwiegende Mehrzahl aber waren Engländer. In einem der Räume drängte sich alles um die › Souvenirs du Righi‹, die dort feilgeboten werden. Ich wollte zuerst auch ein geschnitztes Falzbein mit Gemshorngriff mitnehmen; ich sagte mir jedoch, daß mir der Rigi mit seinen Annehmlichkeiten wohl auch ohnedies in guter Erinnerung bleiben würde, – und erstickte deshalb das Gelüste.

Das Abendessen erwärmte uns, und wir gingen sofort zu Bette – d. h. nachdem ich an Bädeker noch einige Zeilen geschrieben hatte. Derselbe ersucht nämlich die Touristen, ihn auf etwaige Irrtümer in seinem Reisehandbuch aufmerksam zu machen. Ich schrieb ihm, daß er sich, indem er den Weg von Wäggis bis zum Gipfel nur zu 3 ¼ Stunden angebe, just um drei Tage geirrt habe. Eine Antwort habe ich nie erhalten, auch ist im Buche nichts geändert worden – mein Brief muß also wohl verloren gegangen sein.

Wir waren so todmüde, daß wir sofort einschliefen und uns nicht regten noch bewegten, bis die herrlichen Töne des Alphorns uns weckten. Man kann sich denken, daß wir keine Zeit verloren, sondern schnell ein paar Kleidungsstücke überwarfen, uns in die praktischen roten Teppiche wickelten und unbedeckten Hauptes in den pfeifenden Wind hinausstürzten. Wir erblickten ein großes hölzernes Gerüste, gerade am höchsten Punkte der Spitze. Dorthin lenkten wir unsere Schritte, krochen die Stufen hinauf und standen da, erhaben über der weiten Welt, mit fliegenden Haaren und im Wind flatternden roten Teppichen.

»Mindestens fünfzehn Minuten zu spät!« sagte Harris mit trauriger Stimme, »die Sonne steht schon über dem Horizont.«

»Schadet nichts,« erwiderte ich, »es ist dennoch ein großartiger Anblick und wir wollen ihn noch weiter genießen, bis die Sonne höher steht.«

Einige Minuten waren wir tief ergriffen von dem wunderbaren Anblick und für alles andere tot. Die große, klare Sonnenscheibe stand jetzt dicht über einer unendlichen Anzahl weißer Zipfelmützen – bildlich gesprochen. Es war ein wogendes Chaos riesiger Bergmassen, die Spitzen geschmückt mit unvergänglichem Schnee und umflutet von der goldenen Pracht des zitternden Lichtes, während die glänzenden Sonnenstrahlen durch die Risse einer der Sonne vorgelagerten schwarzen Wolkenmasse, gleich Schwertern und Lanzen aufschossen zum Zenith.

Wir konnten nicht sprechen, ja kaum atmen; wir standen in trunkener Verzückung und sogen diese Schönheit ein, als Harris Plötzlich schrie: » Verd – sie geht ja unter!«

Wahrhaftig, wir hatten das Morgenhornblasen überhört, hatten den ganzen Tag geschlafen und waren erst am Blasen des Abendhorns aufgewacht: das war niederschmetternd.

Auf einmal sagte Harris: »Allem Anschein nach ist nicht die Sonne der Gegenstand die Aufmerksamkeit der unter uns versammelten Menschen, sondern wir, hier oben auf diesem Gerüst, in diesen eselhaften Teppichen. 250 fein gekleidete Herren und Damen starren uns an und kümmern sich kein Haar um Sonnenauf- oder Niedergang, so lange wir ihnen ein derartiges lächerliches Schauspiel bieten. Die ganze Gesellschaft will ja vor Lachen bersten und das junge Mädchen dort wird nächstens platzen. In meinem Leben ist mir kein solcher Mensch vorgekommen wie Sie!«

»Was habe ich denn gethan?« erwiderte ich erregt.

»Sie sind um halb 8 Uhr abends aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu sehen, ist das nicht genug!?«

»Und haben Sie nicht dasselbe gethan? möchte ich wissen; ich bin immer mit der Lerche aufgestanden, bis ich unter den versteinernden Einfluß Ihres ausgetrockneten Gehirns kam.«

»Schämen Sie sich nicht, in diesem Aufzug auf einem vierzig Fuß hohen Schaffot auf dem Gipfel der Alpen zu stehen, unter uns eine endlose Zuschauermenge? Ist das der Schauplatz für derartige Expektorationen?!« So ging der Streit in diesem Maskenanzug fort. Als die Sonne untergegangen war, schlichen wir uns ins Hotel zurück und wieder zu Bett. Wir begegneten dem Hornbläser auf dem Wege dahin, und er versprach, uns morgen sicher zu wecken.

Er hielt Wort, wir hörten das Alphorn und standen sofort auf; es war finster und kalt. Als ich nach dem Zündhölzchen umhertappend mit schlotternden Händen eine Anzahl Dinge zerbrach und zu Boden warf, wünschte ich, die Sonne möchte bei Tag aufgehen, wo es hell, warm und angenehm ist.

Es gelang uns endlich, uns bei dem zweifelhaften Licht zweier Kerzen anzukleiden; doch konnten wir mit unsern zitternden Händen nichts zuknöpfen; ich überlegte, wie viel glückliche Menschen in Europa, Asien, Amerika etc. jetzt friedlich in ihren Betten ruhten und nicht aufzustehen brauchten, um den Rigi-Sonnenaufgang zu sehen. In diesen Gedanken versunken, hatte ich etwas zu ausgiebig gegähnt, so daß ich mit einem meiner Zähne an einem Nagel über der Thür hängen blieb. Während ich auf einen Stuhl stieg um mich loszumachen, zog Harris die Vorhänge zurück und sagte – »O! welches Glück! wir brauchen ja nicht einmal das Zimmer zu verlassen – da unten liegen die Berge in ihrer ganzen Ausdehnung.«

Das war erfreulich; in der That, man konnte die großen Alpenmassen sich in unsichern Umrissen gegen das schwarze Firmament abheben und einen oder zwei Sterne durch das Morgengrauen schimmern sehen. Gut angekleidet und warm versorgt in den wollenen Teppichen stellten wir uns am Fenster auf mit brennenden Pfeifen und in unterhaltendem Geplauder, in behaglicher Erwartung eines Sonnenaufgangs bei Kerzenbeleuchtung. Nach und nach verbreitete sich ein leichtes ätherisches Licht in unmerklicher Zunahme über die luftigen Spitzen der Schneewüste, – doch auf einmal schien ein Stillstand eingetreten zu sein; ich sagte:

»Mit diesem Sonnenaufgang scheint es einen Haken zu haben. Es will nicht recht gehen. Was meinen Sie, daß schuld sei?«

»Ich weiß nicht, es macht den Eindruck, wie wenn irgendwo Feuer wäre. Ich sah nie solch einen Sonnenaufgang.«

»Nun, was mag wohl der Grund sein?«

Harris sprang jetzt mit einemmal auf und rief: – »Ich hab’s! Ich hab’s! wir sehen ja dorthin, wo gestern abend die Sonne unterging

»Vollkommen richtig! Warum haben Sie das nicht früher gemerkt? Jetzt haben wir wieder einen verfehlt; und alles durch Ihre Dummheit. Ja! Das sieht nur Ihnen gleich, eine Pfeife anzuzünden und den Sonnenaufgang im Westen zu erwarten.«

»Es sieht mir auch gleich, den Irrtum entdeckt zu haben; Sie hätten das doch nie gemerkt! Ich muß alle diese Dummheiten entdecken!«

»Sie machen sie alle! Aber wir wollen die Zeit nicht mit Streiten verlieren, vielleicht kommen wir doch noch rechtzeitig!« Allein es war zu spät, die Sonne war schon weit oben, als wir auf den Platz kamen. Wir begegneten der heimkehrenden Menge – Herren und Damen in allerlei komischer Bekleidung und mit frierenden Gesichtern.

Etwa ein Dutzend waren noch auf dem Platze. Sie suchten mit Reisehandbuch und Panorama jeden Berg zu bestimmen und die verschiedenen Namen und Formen ihrem Gedächtnis einzuprägen.

Es war ein betrübender Anblick.

Nach meiner Schätzung brauchten wir einen Tag, um zu Fuße nach Wäggis oder Bitznau zu kommen; soviel war aber sicher, daß wir mit der Bahn etwa eine Stunde brauchen würden und deshalb wählte ich das Letztere.

Eine herrliche Thalfahrt auf der schwindelnden Bergbahn, die uns eine Wunderwelt gleich einer Reliefkarte zu unsern Füßen ausgebreitet sehen ließ, bildete den würdigen Schluß unserer ereignisreichen Rigibesteigung mit ihrem verunglückten Sonnenaufgang. ‹

Ein Tischgespräch

Ein Tischgespräch

Auf unserer Schweizerreise waren wir, ich und mein Reisebegleiter Harris, einmal im ›Schweizerhof‹ in Luzern abgestiegen, wo wir ein Tischgespräch hatten, an das ich zeitlebens denken werde.

Man ging um 7-½ zur Tafel, an der sich eine Menge Angehöriger der verschiedensten Nationalitäten zusammenfanden; doch ließen sich an den ungeheuer langen Tischen besser Kleider als Menschen beobachten, da man die Gesichter meist nur in der Perspektive zu sehen bekam. Das Frühstück dagegen wurde an kleinen runden Tischen eingenommen, und wenn man das Glück hatte, einen Platz in der Mitte des Saales zu erhalten, konnte man so viele Gesichter studieren, als man wünschte.

Öfters versuchten wir zu erraten, zu welcher Nation die Leute, gehörten und dies gelang uns ziemlich gut, aber mit den Namen der Personen glückte es uns weniger; um diese zu raten, ist wahrscheinlich viele Übung nötig. So gaben wir dies denn auf und begnügten uns mit weniger schwierigen Versuchen.

Eines Morgens sagte ich: »Da sitzt eine Gesellschaft Amerikaner!«

»Ja,« meinte Harris – »aber aus welchem Staat?«

Ich nannte einen Staat, Harris einen andern! Daß das junge Mädchen, welches zu der Gesellschaft gehörte, sehr schön sei und sehr geschmackvoll gekleidet, darin waren wir einerlei Meinung, über ihr Alter jedoch konnten wir uns nicht einigen: ich meinte, sie sei achtzehn, Harris hielt sie für zwanzig. Wir ereiferten uns darüber und ich sagte schließlich, als ob es mein Ernst wäre: »Die Sache läßt sich ja sehr leicht entscheiden, – ich will hingehen und sie fragen.«

Harris erwiderte in spöttischem Ton: »Ja, das wird wohl das Beste sein. Du brauchst ja nur hinüberzugehen und mit der hier gebräuchlichen Formel zu sagen: ›Ich bin Amerikaner!‹ dann wird sie sich natürlich sehr freuen, dich zu sehen.« Dabei gab er mir zu verstehen, daß ich es wohl schwerlich wagen würde, sie anzureden.

»Ich habe nur so gedacht,« versetzte ich, »und es nicht im Ernst gemeint, aber du traust mir doch zu wenig Courage zu; ein Frauenzimmer macht mir nicht so leicht bange, und jetzt gehe ich hin und spreche mit dem Fräulein.«

Mein Vorhaben war sehr einfach: ich wollte sie höchst ehrerbietig anreden und um Entschuldigung bitten, wenn ihre große Ähnlichkeit mit einer frühern Bekannten mich getäuscht hätte. Wenn sie mir dann antwortete, der Name, den ich genannt habe, sei nicht der ihrige, so wollte ich mich abermals aufs höflichste entschuldigen, meine Verbeugung machen und mich wieder zurückziehen. Daraus konnte doch kein Unglück entstehen. – Ich ging also an den Tisch, verbeugte mich vor dem Herrn und wollte mich eben mit meiner Rede an sie wenden, als sie ausrief:

»Also habe ich mich doch nicht geirrt! – Ich sagte gleich zu John, daß Sie es waren; er wollte mir nicht glauben, aber ich wußte, daß ich recht hatte und sagte, Sie würden mich sehr bald erkennen und zu uns herüberkommen! Es freut mich sehr, daß Sie es gethan haben, denn wenn Sie fortgegangen wären, ohne mich zu erkennen, hätte ich das nicht für sehr schmeichelhaft gefunden. Bitte, setzen Sie sich doch! – Wie merkwürdig! – Sie sind wirklich der letzte Mensch, den ich erwartet hätte jemals wieder zu sehen!«

Das war eine Überraschung, die mich förmlich betäubte und nur einen Augenblick die Besinnung raubte. Indessen schüttelten wir uns herzlich die Hände und ich nahm neben ihr Platz; aber in einer solchen Klemme war ich wirklich noch nie gewesen. Mir dämmerte es dunkel, als ob ich die Züge des Mädchens schon einmal gesehen hätte, aber wo das gewesen war und welcher Name zu ihr gehörte, war mir gänzlich entfallen. Daher begann ich sogleich die Rede auf schweizer Landschaften zu bringen, um mich nicht zu verraten; allein es half nichts, sie ging ohne Umschweife auf die Dinge los, die sie näher interessierten.

»Nein, was das für eine Nacht war, als der Sturm die vorderen Boote mit wegriß! Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht!« sagte ich, aber ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, der Sturm hatte auch das Steuer, den Schornstein und den Kapitän selbst mit weggerissen, – dann wäre mir vielleicht ein Licht aufgegangen, wo ich die Fragerin hintun sollte.

»Und erinnern Sie sich, wie bange die arme Marie war?«

»Jawohl,« sagte ich, »nein, wie einem alles wieder gegenwärtig wird.«

Das wünschte ich zwar aufs innigste, aber es war wie aus meinem Gedächtnis weggeblasen! Das Klügste wäre gewesen, offen die Wahrheit zu gestehen, aber das konnte ich nicht übers Herz bringen, nachdem das junge Mädchen mir solches Lob gespendet, weil ich sie wieder erkannt hatte. So geriet ich denn immer tiefer hinein und hoffte vergebens auf einen rettenden Faden, um aus dem Labyrinth zu kommen.

Die Unerkennbare fuhr lebhaft fort: »Denken Sie, Georg hat doch noch Marie geheiratet!«

»Wirklich? Ist es möglich!« –

»Jawohl; er sagte, er glaube, daß ihr Vater viel mehr schuld gewesen sei, als sie selbst; und ich glaube, er hatte recht, meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich, es war ja ganz klar, ich habe es doch immer gesagt.«

»O nein, Sie waren ja anderer Meinung, wenigstens in jenem Sommer.«

»Im Sommer, da haben Sie ganz recht, aber im folgenden Winter sagte ich’s.«

»Nun, es stellte sich heraus, daß Marie gar nicht schuld war, sondern nur ihr Vater und der alte Darley.«

Um doch etwas zu erwidern, sagte ich:

»Ja, Darley habe ich immer als ein lästiges altes Geschöpf angesehen!«

»Das war er auch, aber trotz seiner Sonderbarkeiten waren sie ihm zärtlich zugethan; – wissen Sie noch, wie er immer versuchte, ins Haus zu kommen, sobald es nur im geringsten kalt war?«

Ich getraute mir nicht, weiter zu gehen. Offenbar war dieser Darley kein Zweifüßler, sondern irgend ein Vierfüßler, vielleicht ein Hund, möglicherweise ein Elefant. Da nun jedes Tier eine Haut hat, so fiel ich im Anschluß an ihre Frage mit der Bemerkung ein: »Und was er für ein Fell hatte!«

Diese Bemerkung mußte passen, denn sie sagte zustimmend: »Ja, ein sehr dickes – und erst seine Wolle!«

Das verblüffte mich, ich wußte nicht recht weiter und sagte nur:

»Ja, an Wolle fehlte es ihm nicht!«

»Einen Neger, mit solchem Wollhaar könnte man lange suchen,« meinte sie.

Das war ein Lichtblick, denn mir fing an schwül zu werden, und ich war froh, als sie fortfuhr:

»Er war doch selbst bequem genug einquartiert, aber wenn es kalt wurde, fand er sich stets bei der Familie ein und war nicht wieder aus dem Hause, zu bringen. Man sah ihm manches nach, weil er vor Jahren Tom das Leben gerettet hatte. Erinnern Sie sich noch an Tom?«

»Ganz deutlich, er war ein so hübscher Mensch!«

»Jawohl, und das Kind ein so niedliches Ding.«

»Ein hübscheres Kind habe ich nie gesehen.«

»Ich that nichts lieber, als mit ihm tändeln und spielen.«

»Und ich schaukelte es so gern auf den Knieen.«

»Sie haben ihm auch den Namen ausgesucht, – wie war es doch?«

Jetzt kam ich aufs Glatteis! Hätte ich nur des Kindes Geschlecht gewußt. Zum guten Glück fiel mir ein Name ein, der für alle Fälle paßte. Ich sagte:

»Es wurde Fränzchen genannt.«

»Nach einem Verwandten vermutlich. Aber dem verstorbenen, das ich nie gesehen habe, gaben Sie auch den Namen; wie hieß denn das?«

Da das Kind tot war und sie es nie gesehen hatte, dachte ich, man könnte auf gut Glück einen Namen wagen und so antwortete ich:

»Es hieß Thomas Heinrich!«

Sie wurde nachdenklich und sagte: »Das ist doch sonderbar – sehr sonderbar!«

Ich saß ganz still und der kalte Schweiß lief an mir herunter. Aber, so arg meine Verlegenheit war, so hoffte ich doch, mich aus der Klemme zu ziehen, wenn sie nur nicht noch mehr Namen von Kindern wissen wollte. – Ich war begierig, wo der nächste Blitz einschlug. Sie war noch mit dem Namen des letzten Kindes beschäftigt, sagte aber plötzlich:

»Es war recht schade, daß Sie gerade fort waren als mein Kind geboren wurde, sonst hätten Sie seinen Namen auch wählen müssen.«

»Ihr Kind? Sind Sie denn verheiratet?«

»Ich bin seit dreizehn Jahren verheiratet.«

»Getauft, meinen Sie wohl.«

»Nein, verheiratet, – dieser Knabe hier ist mein Sohn.«

»Das scheint ja ganz unglaublich, – fast unmöglich! Wenn Sie es nicht für unhöflich halten, möchte ich mir wirklich erlauben zu fragen, ob Sie älter als achtzehn sind?«

»Am Tag des Sturmes, von dem wir sprachen, war ich gerade neunzehn, das war mein Geburtstag.«

Dadurch wurde ich wenig klüger, da ich das Datum des Sturmes nicht wußte.

Ich dachte nach, was ich wohl Unverfängliches sagen könnte, um meinen Anteil an der Unterhaltung beizutragen und meinen Mangel an Erinnerungen weniger bemerklich zu machen. Aber nichts Unverfängliches wollte mir einfallen. Wenn ich sagte: ›Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert!‹ so war das riskiert; meinte ich dagegen: ›Sie sehen jetzt viel besser aus,‹ so ging das auch nicht. Eben wollte ich einen Ausfall auf das Wetter machen, als meine Landsmännin mir zuvorkam und rief:

»Wie habe ich mich gefreut, einmal wieder von den lieben alten Zeiten zu sprechen! Sie nicht auch?«

»Gewiß, eine solche halbe Stunde habe ich noch nie erlebt,« versetzte ich voll Gefühl und hätte mit Wahrheit hinzufügen können: ›Lieber wollte ich mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen, als sie noch einmal durchzumachen.‹ Ich war von Herzen dankbar, mit der Feuerprobe fertig zu sein und wollte mich eben verabschieden, als sie fortfuhr:

»Nur eins geht mir im Kopf herum!«

»Was denn?«

»Der Name des verstorbenen Kindes. Wie sagten Sie doch, daß es hieß?«

Jetzt war ich übel daran; ich hatte des Kindes Namen ganz vergessen, wie konnte ich ahnen, daß ich ihn noch einmal brauchen würde. Ich ließ mir nichts anmerken und sagte kühn:

»Joseph Wilhelm.«

Aber der Knabe neben mir verbesserte meinen Irrtum:

»Nein; Thomas Heinrich.«

Ich bedankte mich bei ihm und sagte: Ach ja, ich habe es mit einem andern Kind verwechselt, richtig, Thomas Heinrich hieß das arme Kind; Thomas, hm – nach dem großen Thomas Carlyle, und Heinrich – hm – nach Heinrich VIII., die Eltern waren sehr zufrieden mit den Namen.«

»Dadurch wird es nur noch sonderbarer,« murmelte meine schöne Freundin.

›Warum denn?«

»Weil die Eltern es immer Amalie Susanne nennen, wenn sie von ihm sprechen.«

Jetzt war meine Weisheit zu Ende; ich war wie auf den Mund geschlagen und wußte weder aus noch ein. Um die Sache fortzusetzen, hatte ich lügen müssen, und das wollte ich nicht. So saß ich denn stumm und ergeben da, und ließ mich von dem Feuer meiner eigenen Beschämung langsam zu Tode braten. Plötzlich aber lachte meine Gegnerin hell auf und sagte:

»Mir haben die Erinnerungen an alte Zeiten mehr Spaß gemacht als Ihnen. Ich merkte bald, daß Sie sich nur stellten, als ob Sie mich kennten, und nachdem ich mein Lob an Sie verschwendet hatte, beschloß ich, Sie zu strafen, was mir auch gelungen ist. Es war mir sehr angenehm, durch Sie Georg und Tom und Darley kennen zu lernen; denn ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört. Wenn man es nur richtig anzufangen weiß, kann man von Ihnen wirklich eine ganze Menge Neuigkeiten erfahren. Marie, und der Sturm, der die vorderen Boote wegriß, sind wahre Thatsachen, alles andere ist Dichtung. Marie war meine Schwester, ihr ganzer Name ist Marie X.; wissen Sie nun, wer ich bin?«

»Ja, jetzt erinnere ich mich Ihrer, – Sie sind gerade noch so hartherzig wie vor dreizehn Jahren auf dem Schiff, sonst würden Sie mich nicht so bestraft haben. Sie sind noch ganz wie Sie waren, von innen und von außen. Sie sehen ebenso jung aus wie damals, Ihre Schönheit ist unverändert und findet ihr Abbild in Ihrem prächtigen Knaben! – Und nun – wenn diese Worte Sie gerührt haben, lassen Sie uns Frieden schließen, denn ich bekenne mich für besiegt und überwunden.« Dies wurde zum Beschluß erhoben und auf der Stelle ausgeführt.

 

Als ich zu Harris zurückkam, sagte ich: »Nun siehst du, was Talent und Geschicklichkeit ausrichten können!«

»Bitte sehr, ich sehe, was riesige Unwissenheit und Einfalt zu thun imstande sind! Daß ein Mensch, der seine fünf Sinne bei sich hat, sich auf diese Weise fremden Leuten aufdrängt und eine halbe Stunde in sie hineinredet, so etwas ist noch nicht dagewesen! Was hast du ihnen nur gesagt?«

»Gar nichts Schlimmes! Ich habe das Mädchen gefragt, wie es hieße!«

»Meiner Treu, das sieht dir ähnlich! Du bist imstande, so etwas zu thun! Es war dumm von mir, – ich hätte nicht zugeben sollen, daß du hingehst, um dich zum Narren zu machen. Wer wie konnte ich mir vorstellen, daß du dich so weit vergessen würdest! Was werden die Leute von uns denken? Aber, wie hast du es gesagt? auf welche Weise? Ich hoffe, nicht ganz ohne Einleitung!«

»O nein, ich sagte: Mein Freund und ich, wir möchten gern wissen, wie Sie heißen, – wenn Sie nichts dagegen haben!«

»Nein, das war wirklich nicht mit der Thür ins Haus gefallen! – Du warst in der That von einer Höflichkeit, die dir Ehre macht, und ich danke dir noch besonders, daß du mich auch hineingemischt hast! Was that sie aber?«

»Gar nichts Ungewöhnliches! Sie nannte mir einfach ihren Namen.«

»Ist es möglich! – und zeigte auch gar keine Überraschung?«

»Doch – etwas hat sie gezeigt – vielleicht war es Überraschung – mir kam es aber vor, als sei es Freude.« »Sehr wahrscheinlich … es muß natürlich Freude gewesen sein – wie hätte sie sich auch nicht freuen sollen, von einem Fremden mit einer solchen Frage angefallen zu werden. – Was thatest du weiter?«

»Ich reichte ihr die Hand und sie schüttelte sie.«

»Das habe ich gesehen – ich traute meinen Augen kaum! Hat der Herr denn nicht gesagt, er würde dir den Hals umdrehen?«

»Nein, mir schien es, als ob sie sich alle freuten, meine Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird auch wohl der Fall gewesen sein; sie werden bei sich gedacht haben: dieser Ausstellungsgegenstand muß seinem Wärter entlaufen sein, wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen! Das ist die einzige Erklärung für ihre Sanftmütigkeit. – Du nahmst Platz – haben sie dich dazu aufgefordert?«

»Nein, ich dachte, sie hätten es vergessen.«

»Welchen sicheren Instinkt du hast! Was hast du noch gethan? Wovon hast du denn gesprochen?«

»Ich fragte das Mädchen, wie alt es wäre.«

»Nein, wirklich, dein Zartgefühl ist über alles Lob erhaben! Weiter – weiter – kümmere dich nicht um meine traurige Miene, – so sehe ich immer aus, wenn ich eine tiefe innere Freude empfinde. Sprich weiter! Sie gab dir ihr Alter an?«

»Ja, und dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, ihrer Großmutter, den übrigen Verwandten und von ihren eigenen Angelegenheiten.«

»Alles von selbst?«

»Nein, das nicht gerade. Ich stellte die Fragen und sie gab mir die Antworten.«

»Das ist ja himmlisch! Hast du nicht auch nach ihren politischen Ansichten gefragt?«

»Freilich – sie ist Demokratin und ihr Mann Republikaner.«

»Ihr Mann? Das Kind ist doch nicht verheiratet?«

»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«

»Hat sie auch Kinder?«

»Ja, sieben und ein halbes.«

»Das ist unmöglich!«

»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«

»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«

»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«

»Ja, vier; dies ist der vierte.«

»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«

»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«

»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien. Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«

»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«

»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«

»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«

»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«

»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«

»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren. – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –

»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«

Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –

Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.

Rezept für Schwarzwäldergeschichten

Rezept für Schwarzwäldergeschichten

Auf meiner Reise im Schwarzwald fand ich die Bauernhöfe und Dörfer ganz wie sie in den Schwarzwälder Dorfgeschichten beschrieben werden. Das erste echte Exemplar, das mir aufstieß, war die Behausung eines reichen Bauern und Mitglieds des Gemeinderats. Er war eine gewichtige Persönlichkeit im Lande und seine Frau natürlich nicht minder. Wer seine Tochter bekam, that den besten Fang weit in der Runde; vielleicht hat sie schon als Heldin eines Romans von Auerbach Unsterblichkeit erworben. Wenn sie in seinen Dorfgeschichten vorkommt, so würde ich sie gewiß leicht wieder erkennen an ihrem Schwarzwaldkostüm, ihrem sonnverbrannten Gesicht, der rundlichen Figur, den fetten Händen, dem schläfrigen Ausdruck, dem friedlichen Gemüt, den gar zu vollkommenen Füßen, dem bloßen Kopf und den flachsfarbenen Haarzöpfen, die am Rücken hinunterhängen. Das Haus wäre geräumig genug gewesen für ein Hotel, hundert Fuß lang, fünfzig breit, und vom Boden bis zur Dachrinne zehn Fuß hoch, aber von der Dachrinne bis zum Firste des mächtigen Daches waren gewiß noch vierzig Fuß, wenn nicht mehr. Dieses Dach, aus altem lehmgelbem und fußdickem Dachstroh, war bis auf wenige Stellen über und über mit üppig reicher grüner Vegetation bedeckt, die meist aus Moos bestand. Wo es ausgebessert war, hatte man dicke Lagen neuen goldgelben Strohs eingefügt; die weit vorspringenden Dachtraufen schienen das Haus unter ihren schirmenden Schutz zu nehmen. An der Giebelseite, nach der Straße zu, ungefähr zehn Fuß über dem Boden, lief ein schmaler Altan mit hölzernem Geländer am Hause entlang, auf den eine Reihe kleiner Fenster mit winzigen Scheiben hinausging. Darüber waren noch zwei oder drei andere kleine Fenster, eins dicht unter dem spitzen Giebel. Vor der Thür im Erdgeschoß lag ein riesiger Düngerhaufen, und durch eine offene Seitenthür im zweiten Stock erblickte man eine Kuh von hinten. Die ganze vordere Hälfte des Hauses schienen die Menschen, die Kühe und Hühner zu bewohnen, während die hintere Hälfte durch das Zugvieh und das Heu eingenommen wurde. Aber was den Blick am meisten anzog, waren die großen Düngerhaufen rings um das Haus. Ich wurde mit dieser Quelle der Fruchtbarkeit im Schwarzwald bald vertraut, und, ohne es zu wissen, verfiel ich bald in die Gewohnheit, die Lebensstellung eines Menschen nach diesem äußeren und sehr bedeutsamen Merkmal zu beurteilen. Manchmal dachte ich: Wer hier wohnt, ist ein armer Teufel, das ist klar! – Sah ich aber einen stattlichen Haufen, so sagte ich: Hier wohnt ein Bankier! und bei einem Landsitz, der von einem Alpengebirge von Dünger umgeben war, behauptete ich gar: Hier muß wohl ein Herzog wohnen.

In den Schwarzwaldgeschichten tritt dieser charakteristische Zug durchaus nicht genügend hervor. Der Dünger ist augenscheinlich der größte Schatz des Schwarzwälders, sein Geld und Gut, sein Juwel, sein Stolz, sein Schoßkind, das liebste Kunstwerk, das er besitzt; er trägt ihm Ehre und Ansehen, Neid und Hochachtung ein, und ist seine erste Sorge, wenn er sich anschickt, sein Testament zu machen.

Wenn die wahre Schwarzwaldgeschichte je geschrieben wird, muß das Rezept dazu etwa folgendermaße lauten:

Mast, ein reicher alter Bauer. Er hat große Reichtümer an Dünger geerbt, und sie durch eigenen Fleiß vermehrt. Im Bädeker stehen zwei Sternchen ** bei seinem Düngerhaufen. Das Bild, das ein Schwarzwaldmaler davon macht, ist ein Meisterstück. Sogar der König kommt, ihn zu sehen.

Gretchen Mast, seine Tochter und Erbin.

Paul Hoch, ein Nachbarsohn, wirbt scheinbar um Gretchens Hand – eigentlich begehrt er den Dünger. Hoch hat selbst mehrere Wagenladungen der Schwarzwaldmünze und ist daher eine schätzbare Partie, er ist jedoch niedrig gesinnt, habgierig und gefühllos, während Gretchen ganz Gefühl und Poesie ist. Sobald sein Düngerhaufen eine gewisse Größe erreicht hat, will ihm der Alte seine Tochter geben.

Hans Schmidt, Nachbarssohn, voll Gefühl und Poesie, liebt Gretchen, und Gretchen liebt ihn; aber er hat keinen Dünger! Der alte Mast verbietet ihm sein Haus. Er geht gebrochenen Herzens fort, um im Walde zu sterben, fern von der grausamen Welt – denn, sagt er voll Bitterkeit: Was ist der Mensch ohne Dünger? –

(Es vergehen sechs Monate.)

Paul Hoch kommt zum alten Mast und sagt: ›Endlich bin ich so reich, wie du verlangst, komm‘ und sieh den Haufen!‹

Der alte Mast beschaut ihn und ruft aus: ›Es genügt – nimm sie und seid glücklich!‹ –

(Es vergehen zwei Wochen.)

Die Hochzeitsgesellschaft versammelt sich im Wohnzimmer des alten Mast. – Paul Hoch ist gelassen und ruhig, Gretchen beweint ihr hartes Geschick. – Der Verwalter des alten Mast tritt ein.

Mast sagt zornig: ›Ich ließ dir drei Wochen Zeit, um zu entdecken, warum unsere Bücher nicht stimmen und zu beweisen, daß du mir nichts veruntreut hast. Die Zeit ist um – verschaffe mir das fehlende Gut, oder ich lasse dich als Dieb ins Gefängnis werfen!‹

Verwalter. ›Ich hab’s gefunden!‹ –

Der alte Mast. ›Wo steckt’s!‹ – Verwalter (mit tragischem Ernst): ›Im Düngerhaufen des Bräutigams! – Da steht der Dieb – sieh, wie er bleich wird und zittert!‹ – (Aufregung.)

Paul Hoch. ›Alles verloren!‹ – (fällt ohnmächtig über eine Kuh und wird gefesselt.)

Gretchen. »Ich bin gerettet!« – (fällt vor Freude in Ohnmacht über ein Kalb. Hans Schmidt, der gerade hereinstürzt, fängt sie in seinen Armen auf.)

Der alte Mast. »Was, du hier? – Schurke, laß das Mädchen los, und geh‘ mir aus den Augen!«

Hans (der fortfährt, das bewußtlose Mädchen zu stützen.) »Niemals, grausamer alter Mann! Wisse, daß selbst du meine gerechten Ansprüche jetzt anerkennen mußt!«

– »Was? Ansprüche! nenne sie!«

Hans. »So höre denn: die Welt hatte mich verstoßen; ich verließ die Welt, und suchte in der Waldeseinsamkeit den Tod, ohne ihn zu finden. Ich nährte mich von Wurzeln; und in der Bitterkeit meines Herzens verschmähte ich die süßen und grub nur nach den bittersten. – Drei Tage ist es her, da stieß ich beim Graben auf eine Düngergrube! – ich fand ein Golconda, einen unerschöpflichen Vorrat des köstlichsten Düngers. Ich habe so viel wie Ihr alle zusammen, und noch ganze Berge voll darüber. Haha! jetzt lacht dir Wohl das Herz im Leibe!« (Ungeheure Aufregung. Es werden Proben aus der Grube vorgezeigt.)

Der alte Mast. (voll Begeisterung:)»Wecke sie auf, schüttle sie tüchtig, edler junger Mann, sie ist dein!«

Die Hochzeit findet sogleich statt. Der Verwalter wird wieder in sein Amt und Gehalt eingesetzt; Paul Hoch aber ins Gefängnis geworfen.

Der Düngerkönig des Schwarzwalds erfreut sich bis in sein hohes Alter der Liebe seines Weibes und seiner siebenundzwanzig Kinder, sowie der noch größeren Wonne, von allen umher nach Kräften beneidet zu werden.

  1. Zwei Sternchen bei Bädeker bedeuten, daß etwas besonders sehenswert ist.

Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Beim Frühstück am nächsten Morgen eroberten sich die Zwillinge durch ihr liebenswürdiges Wesen, ihr höfliches und doch ungezwungenes Benehmen, rasch aller Herzen. Von Förmlichkeit und Befangenheit war bald keine Rede mehr, man verkehrte auf dem freundschaftlichsten Fuße mit einander. Tante Patsy nannte sie schon nach kürzester Frist beim Vornamen und gab sich keine Mühe zu verbergen, wie neugierig sie war. Näheres über ihre Vergangenheit zu erfahren, sobald sie sah, daß die Brüder sich mitteilsam zeigten. Aus ihren Aeußerungen ging hervor, daß sie in früher Jugend Armut und Mangel gekannt hatten, und im Laufe der Unterhaltung nahm die Witwe geschickt die Gelegenheit wahr ein Paar hierauf bezügliche Fragen einzuflechten. Sie wandte sich an den blonden Zwilling, der bei dem Bericht über ihre gemeinschaftlichen Erlebnisse gerade das Wort hatte, während der brünette sich ausruhte.

»Sie werden mich vielleicht unbescheiden finden, Herr Angelo, aber ich möchte gern wissen, wie es kam, daß Sie in Ihrer Kindheit so verlassen waren und in Not gerieten. Sollte es Ihnen jedoch irgendwie unangenehm sein, davon zu reden, so sagen Sie es mir bitte nicht.«

»Nein, es ist uns durchaus nicht unangenehm, Madam. Das Unglück, das uns traf, war freilich groß, aber niemand trug die Schuld. Unsere Eltern waren wohlhabende Leute drüben in Italien und wir ihre einzigen Kinder. Wir gehörten zum alten florentinischen Adel –« Rowenas Herz hüpfte, ihre Augen leuchteten, sie sperrte Mund und Nase auf – »und als der Krieg ausbrach, unterlag unseres Vaters Partei. Er konnte sich nur durch die Flucht retten, seine Güter wurden eingezogen, seine bewegliche Habe mit Beschlag belegt. So kamen wir denn nach Deutschland, fremd, ohne Freunde, an den Bettelstab gebracht. Wir zählten damals zehn Jahre, mein Bruder und ich, wir waren für unser Alter gut erzogen, auch sehr fleißig und lernbegierig. In der deutschen, französischen, spanischen und englischen Sprache besaßen wir ziemliche Kenntnisse, und was die Musik betrifft, so waren wir förmliche Wunderkinder – ich kann es wohl sagen, weil es die reine Wahrheit ist.

»Unser Vater überlebte sein Mißgeschick nur einen Monat, die Mutter folgte ihm bald ins Grab, und wir standen allein in der Welt. Die Eltern würden sich ein reichliches Einkommen gesichert haben, wenn sie sich entschlossen hätten, uns zur Schau zu stellen, man bot ihnen große Summen dafür; bei dem bloßen Gedanken jedoch empörte sich ihr Stolz – sie sagten, lieber wollten sie Hungers sterben. Sie hätten nie darein gewilligt, aber nach ihrem Tode mußten wir es doch thun, wir mochten wollen oder nicht. Um die Schulden abzutragen, welche durch ihre Krankheit und das Begräbnis entstanden waren, brachte man uns in ein sehr untergeordnetes Wandermuseum nach Berlin, wo wir das fehlende Geld verdienten. Es dauerte zwei Jahre, bis wir aus dieser Sklaverei befreit wurden; wir waren in ganz Deutschland umhergezogen, bekamen aber keinen Lohn, nicht einmal unseren Unterhalt. Von dem Geld für die Schaustellung erhielten wir nichts und mußten unser Brot erbetteln.

»Wie es uns weiter ging, Madam, ist bald erzählt. Als wir die Sklavenketten brachen, waren wir zwölf Jahre alt, doch in vieler Hinsicht schon selbstständig wie Männer. Aus unserer Erfahrung hatten wir manche wertvolle Belehrung geschöpft, hatten gelernt, für uns selbst zu sorgen, Schwindlern und Gaunern aus dem Wege zu gehen und unsere Angelegenheiten ohne fremde Hilfe so zu ordnen, daß wir Nutzen davon hatten. Jahrelang reisten wir hierhin und dorthin, übten uns in allerlei Sprachen, wurden mit ausländischen Sitten und Sehenswürdigkeiten vertraut und eigneten uns eine Bildung an, die ebenso umfassend wie vielseitig und ungewöhnlich war. Wir besuchten Venedig, London, Paris, Rußland, Indien, China, Japan –«

In diesem Augenblick steckte die schwarze Nancy ihren Kopf durch die Thür.

»Das Haus ist gestopft voll Leute, Missis,« rief sie, »es läßt ihnen keine Ruh, bis sie die Herren da zu sehen kriegen!« Nancy nickte mit dem Kopf nach den Zwillingen hin und zog sich dann wieder zurück.

Es war ein stolzer Moment in Tante Patsys Leben. Nichts hätte ihr größere Genugthuung gewähren können, als ihre schönen fremdländischen Vögel den Freunden und Nachbarn vorzustellen. Diese einfachen Leute hatten überhaupt kaum je einen Ausländer zu Gesicht bekommen und sicherlich keinen von so hohem Rang und vornehmer Abkunft. Doch waren die Gefühle der Witwe noch mäßig im Vergleich zu dem, was ihre Tochter empfand. Rowena glaubte Flügel zu haben, ihr Fuß berührte kaum noch den Boden. Mit diesem glorreichen Tage ging ja ein neues Leben an – eine hochromantische Zeit in der sonst so ereignislosen Geschichte des unbedeutenden Landstädtchens. Sie aber konnte an der Quelle all der Herrlichkeit sitzen und sich nach Herzenslust von der Flut umrauschen lassen, während die andern Mädchen nur von ferne zusehen und sie beneiden durften, ohne Teil an ihrem Glück zu haben.

Die Witwe war bereit, ihre Gäste zu empfangen, Rowena nicht minder, und die Fremdlinge gleichfalls. So schritten sie denn allesamt durch die Hausflur und traten – die Zwillinge voran – in die offene Thür des Besuchszimmers, aus dem ein leises Stimmengewirr ertönte. Am Eingang stellten sich die Zwillinge auf, die Witwe nahm neben Luigi Platz, Rowena an Angelos Seite, und nun begann der Vorbeimarsch und die Vorstellungen. Tante Patsy lächelte über das ganze Gesicht vor innerer Befriedigung, sie begrüßte die Vorüberziehenden zuerst und dann kam Rowena an die Reihe.

»Guten Tag, Schwester Cooper –« man schüttelte sich die Hand.

»Guten Tag, Bruder Higgins – Graf Luigi, erlauben Sie, daß ich Ihnen Herrn Higgins vorstelle –« abermaliges Händeschütteln – Higgins reißt die Augen weit auf und sagt: »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen,« worauf Graf Luigi mit höflichem Kopfneigen und verbindlichem Ton erwidert: »Sehr angenehm!«

»Guten Tag, Rowena –« man schüttelt sich die Hand.

»Guten Tag, Herr Higgins – darf ich Sie dem Grafen Angelo Capello vorstellen?« – nun folgt wieder das Händeschütteln und bewunderndes Anstarren. »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen;« Graf Angelo verneigt sich lächelnd, erwidert: »Sehr angenehm!« und Higgins geht weiter.

Die guten Leute waren sämtlich äußerst befangen und dabei ehrlich genug, es durchaus nicht verbergen zu wollen. Keiner von ihnen hatte je zuvor einen Herrn von Adel gesehen, auch jetzt erwarteten sie nichts dergleichen, der Titel war ihnen daher eine vollkommene Ueberraschung. Einige suchten sich in dieser schwierigen Lage damit zu helfen, daß sie ›Euer Gnaden‹ oder ›edler Lord‹ stammelten; die meisten aber wurden durch das fremdklingende Wort: ›Graf‹ völlig überwältigt. Sie verbanden damit eine unbestimmte Vorstellung von goldstrahlenden Hofgesellschaften, feierlichen Zeremonien und dem Königtum von Gottes Gnaden; so streckten sie denn nur verlegen die Hand hin und schritten stumm von dannen. Wie das aber bei einem derartigen Empfang regelmäßig vorkommt, so störte auch hier ab und zu einer der Anwesenden aus übermäßig freundlicher Gesinnung den Fortgang; er hielt den Zug auf, um sich zu erkundigen, wie die Stadt den Brüdern gefiele, wie lange sie zu bleiben gedächten, und ob die Ihrigen sich wohl befänden. Auch das Wetter mußte herhalten – es würde hoffentlich bald kühler werden, und was dergleichen mehr ist. Das war doch ein längeres Gespräch mit den Herrschaften, von dem man zu Hause erzählen konnte. Keiner sagte oder that jedoch irgend etwas Ungehöriges, und so wurde die große Angelegenheit auf anständige und höchst befriedigende Art zu Ende geführt.

Auf die feierliche Begrüßung folgte eine allgemeine Unterhaltung. Die Zwillinge gingen von einer Gruppe zur andern, plauderten behaglich und ungezwungen und ernteten großen Beifall; jedermann betrachtete sie mit Wohlgefallen und zollte ihnen Bewunderung. Die Witwe folgte ihrem Triumphzug mit stolzen Blicken und Rowena sagte von Zeit zu Zeit in vollster Befriedigung zu sich selbst: »Und sie gehören wirklich uns – uns ganz allein!«

Mutter und Tochter waren fortwährend in Anspruch genommen. Von allen Seiten bestürmte man sie mit eifrigen Erkundigungen über die Zwillinge und lauschte ihren Berichten in atemloser Spannung. Alle beide bekamen jetzt zum erstenmal einen Begriff davon, was das Wort Ruhm eigentlich zu bedeuten habe. Sie erkannten dessen ungeheuren Wert und lernten einsehen, warum die Menschen zu allen Zeiten jedes andere Glück, Geld und Gut, ja das Leben selbst gering geachtet hatten, um diese höchste und erhabenste Wonne zu empfinden. Napoleon und alle Leute seines Schlages waren ihnen nunmehr verständlich und in ihren Augen gerechtfertigt.

Als Rowena endlich ihre Pflicht im Besuchszimmer erfüllt hatte, ging sie die Treppe hinauf, um die Sehnsucht der dort versammelten Scharen zu befriedigen, denn die unteren Räume waren nicht groß genug, um alle zu fassen, die herbeiströmten. Wieder sah sie sich von wißbegierigen Fragern umringt, sie empfand die eigene Wichtigkeit und durfte sich im Ruhmesglanz sonnen. So ging der Vormittag seinem Ende zu, und Rowena fühlte mit Bangen, daß dies herrlichste Ereignis in ihrem Leben bald vorüber sein werde; es ließ sich auf keine Weise verlängern, und nie wieder konnte etwas geschehen, was sie so hoch beglücken würde. Sie tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, daß die Begebenheit in ihrer Art vollkommen gewesen war und nichts zu wünschen übrig ließ; die Erinnerung daran würde ihr ewig unvergeßlich bleiben. Wenn die Zwillinge nur jetzt noch irgend eine große That thun wollten, um das Werk zu krönen und sich die Bewunderung der Massen zu sichern – etwas, das alle blitzartig durchzucken und überraschen würde, dann, ja dann – –

In diesem Augenblick erschallte von unten ein gewaltiges, laut dröhnendes Bumbum – und alle liefen hin, um zu sehen, was es zu bedeuten habe. O Wunder – es waren die Zwillinge, die ein vierhändiges, klassisches Konzertstück in großem Stil auf dem Klavier zum Besten gaben. Rowenas Verlangen war gestillt, und sie freute sich von Herzensgrund.

Die fremden Jünglinge mußten lange an dem Instrument ausharren. Ihr prachtvolles Spiel erregte der Bürger Verwunderung und Entzücken in so hohem Maße, daß sie gar nicht genug davon bekommen konnten. Alle Musik, die sie je gehört hatten, war nichts als erbärmliche Stümperei ohne Geist und Anmut, im Vergleich zu diesen berauschenden Fluten melodischen Klanges. Es wurde ihnen klar, daß sie hier zum erstenmal im Leben echte Künstler vor sich hatten.

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Höchst ungern ging die Gesellschaft endlich auseinander, um sich wieder nach Hause zu begeben. Unterwegs waren alle Zungen geschäftig und man kam allgemein zu dem Schluß, daß so etwas in Dawson noch nicht dagewesen sei und sobald nicht wiederkehren werde. Im Laufe des Vormittags hatten die Zwillinge verschiedene Einladungen angenommen, auch bereitwillig zugesagt, daß sie bei einer geselligen Vereinigung zu wohlthätigen Zwecken einige Musikstücke vortragen wollten.

Von allen Seiten war man eifrig bemüht, sie mit offenen Armen zu empfangen, dem Richter Driscoll aber war das Glück am günstigsten, denn er durfte sie sogleich zu einer Spazierfahrt mitnehmen, um sie vor aller Welt sehen zu lassen. Sie stiegen zu ihm in seinen Einspänner, und während der Wagen die Hauptstraße hinunterrollte, liefen alle Schaulustigen an die Fenster und drängten sich auf dem Bürgersteig.

Driscoll zeigte den Fremden den neuen Friedhof und das Gefängnis, das Haus, wo der reichste Mann des Ortes wohnte, die Freimaurerloge, die Kapelle der Methodisten, die Kirche der Presbyterianer, und die Stelle, wo die Baptisten ihr Gotteshaus bauen wollten, sobald sie Geld genug beisammen hätten. Am Rathaus und am Schlachthaus fuhren sie vorbei, auch ließ der Richter ihnen zu Ehren die freiwillige Feuerwehr in Uniform aufziehen und ihre Spritzen probieren; die Gewehre der Bürgermiliz mußten die Zwillinge gleichfalls in Augenschein nehmen. Bei allen diesen Schaustellungen erging der Richter sich nach Herzenslust in begeisterten Reden, auch schien er ganz zufrieden mit dem Eindruck, den die Sehenswürdigkeiten auf die Fremdlinge machten, denn diese staunten über seine Bewunderung und stimmten ein, so gut sie konnten. Das wäre ihnen freilich leichter geworden, wenn sie nicht schon in verschiedenen andern Ländern fünfzehn- oder sechzehntausend Mal ganz ähnliche Dinge gesehen und erlebt hätten, so daß diese für sie nicht mehr den Reiz der Neuheit besaßen.

Jedenfalls that Driscoll sein Möglichstes zur Unterhaltung der Brüder, und wenn sie irgend einen Mangel empfanden, so lag die Schuld nicht an ihm. Er erzählte ihnen eine Menge lustiger Anekdoten und vergaß jedesmal den Hauptwitz dabei, doch den konnten sie ohne Mühe ergänzen, weil sie die meist sehr abgedroschenen Späße von Zeit zu Zeit immer wieder aufgetischt bekamen und zur Genüge kannten. Auch teilte er ihnen alle seine Titel und Würden mit und berichtete, was für ehrenvolle und einträgliche Stellen er früher bekleidet habe, als er noch Regierungsbeamter war; jetzt aber sei er Präsident des Klubs der Freidenker. Diese Gesellschaft habe man erst vor vier Jahren gegründet, doch zähle sie bereits zwei Mitglieder und ihr Bestand sei gesichert. Wenn die Zwillinge etwa Lust hätten, einer Versammlung beizuwohnen, würde er sie gegen Abend dazu abholen.

Das that er denn auch, und unterwegs erzählte er ihnen mancherlei über Querkopf Wilson, um sie zu seinen Gunsten zu stimmen, damit sie ihm freundlich entgegenkämen. Er erreichte diese Absicht vollkommen. Gleich der erste Eindruck, den Wilson auf die Brüder machte, war sehr vorteilhaft; noch höher stieg er aber in ihrer Achtung, als er vorschlug, man solle diesmal, aus Höflichkeit gegen die Fremden, die gewöhnlichen Beratungsgegenstände beiseite lassen und sich nur einer allgemeinen Unterhaltung widmen, die geeignet sei, freundschaftliche Beziehungen und ein gutes Einvernehmen unter ihnen zu fördern. Dieser Antrag wurde, nach erfolgter Abstimmung, zum Beschluß erhoben.

Die Stunde verging rasch unter lebhaftem Gespräch, und als die Zeit um war, hatte der bisher so vereinsamte und zurückgesetzte Wilson zwei gute Freunde gewonnen. Er bat die Zwillinge, ihn zu besuchen, sobald sie von der Gesellschaft loskommen könnten, zu der sie eingeladen waren, und sie versprachen es ihm mit Vergnügen.

Es war noch nicht spät am Abend, als sie sich nach seiner Wohnung auf den Weg machten. Wilson erwartete sie daheim und benützte die Zwischenzeit, um sich den Kopf über eine Angelegenheit zu zerbrechen, die an jenem Morgen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Sache verhielt sich folgendermaßen: Er war ungewöhnlich früh aufgestanden – schon bei Tagesanbruch – um etwas aus einer Stube jenseits des Ganges zu holen, der sein Haus in zwei Hälften teilte. Jene Stube war lange unbewohnt gewesen, sie hatte keine Vorhänge, und dort erblickte er durch das Fenster etwas, das ihm sehr auffällig war – nämlich eine junge Dame, welche sich an einem Orte befand, wo sie gar nicht hingehörte. Sie war im Hause des Richters Driscoll in dem Raume, der über dessen Wohn- und Studierzimmer lag, und wo, soviel Wilson wußte, Tom Driscoll seine Schlafstube hatte. Tom, der Richter, die verwitwete Frau Pratt und drei Dienstleute bildeten allein die Bewohner des Hauses. Was hatte also das Fräulein dort zu suchen, und wer konnte es sein?

Die beiden Gebäude waren nur durch den Hof von einander getrennt, den ein niedriger Zaun seiner ganzen Länge nach, von der vorderen Straße bis zu dem Hintergäßchen durchschnitt. Die Entfernung war nicht groß, und Wilson konnte das Mädchen deutlich sehen, weil in Toms Zimmer sowohl der Laden als das Fenster offen standen. Die Unbekannte trug ein sauberes, rosa und weiß gestreiftes Sommerkleid und einen rosa Schleier auf dem Hut; sie war eifrig beschäftigt, sich vor dem Spiegel allerlei Tanzschritte, Gangarten und Stellungen einzuüben. Das that sie mit ziemlicher Anmut und widmete der Sache ihre ganze Aufmerksamkeit. Wer konnte sie nur sein, und wie kam sie dort drüben ins Schlafzimmer? – Wilson hatte sich rasch so gestellt, daß er das Fräulein beobachten konnte, ohne Gefahr zu laufen, von ihr gesehen zu werden; er wartete lange in der Hoffnung, daß sie den Schleier lüften und ihm ihr Gesicht zeigen werde. Aber das war umsonst; nach etwa zwanzig Minuten verschwand sie plötzlich und kam nicht mehr zum Vorschein, obwohl er während einer halben Stunde seinen Platz behauptete.

Um die Mittagszeit sprach er im Hause des Richters vor und unterhielt sich mit Frau Pratt über das große Tagesereignis: die feierliche Vorstellung der beiden vornehmen Fremden bei Tante Patsy Cooper. Er erkundigte sich auch nach ihrem Neffen Tom, worauf sie sagte, er sei auf der Heimreise, sie erwarte ihn noch vor der Nacht zurück. Zugleich teilte sie ihm mit, wie sehr sie und der Richter sich gefreut hätten, aus Toms Briefen zu sehen, daß er sich eines höchst geordneten, anständigen Lebenswandels befleißige. Darüber hatte nun Wilson freilich im stillen seine eigenen Gedanken. Er mochte nicht geradezu fragen, ob bei ihnen Besuch im Hause wäre, aber er brauchte allerlei Wendungen, welche Frau Pratt Gelegenheit gegeben hätten, ihm ein Licht aufzustecken. Sie that das jedoch nicht, und so nahm er denn die Ueberzeugung mit fort, daß in ihrer Familie Dinge vor sich gingen, die er wisse, und von denen sie keine Ahnung habe.

Jetzt wartete er auf die Zwillinge und grübelte über das Rätsel nach, wer das Frauenzimmer sein könne und wie es am frühen Morgen in die Stube des jungen Driscoll geraten sei?

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Es wird jetzt Zeit, daß wir uns danach umsehen, was inzwischen aus Roxy geworden ist.

Als sie freigelassen wurde und fortging, um sich eine Stelle zu suchen, war sie fünfunddreißig Jahre alt. Sie fand einen guten Platz als zweites Stubenmädchen auf dem ›Großmogul‹, einem Dampfboot, das zwischen Cincinnati und New Orleans Handel trieb. Nachdem sie die Fahrt ein paarmal gemacht hatte, war sie mit allen ihren Obliegenheiten genau vertraut und ganz entzückt von dem regen Leben und Treiben auf dem Dampfer und der Unabhängigkeit, die sie genoß. Bald darauf wurde sie zum ersten Stubenmädchen befördert, machte sich sehr beliebt bei den Offizieren und war stolz darauf, daß sie ihr so freundlich begegneten und Spaß mit ihr trieben.

Acht Jahre lang hatte sie während neun Monaten stets auf dem ›Großmogul‹ gedient, und den Winter über auf dem Vicksburger Postschiff. Jetzt litt sie aber schon seit vielen Wochen an Rheumatismus in den Armen und konnte die Wäsche nicht mehr besorgen. So mußte sie denn ihren Abschied nehmen, doch ihr bangte nicht vor der Zukunft, sie war nicht unbemittelt – sogar reich nach ihrer Ansicht. Ganz regelmäßig hatte sie nämlich jeden Monat vier Dollars auf eine Bank in New Orleans getragen, um im Alter einen Sparpfennig zu haben. Das hatte sie sich von vornherein vorgenommen. »Einmal bin ich so dumm gewesen und hab‘ ’nem barfüßigen Nigger Schuh angezogen, damit er auf mir herumtreten kann,« sagte sie sich, »aber, so was thu‘ ich nicht wieder!« Fortan wollte sie von keinem Menschen mehr abhängig sein, wenn sich das durch harte Arbeit und Sparsamkeit erreichen ließe. Als das Boot am Kai von New Orleans anlegte, sagte sie den Gefährten auf dem ›Großmogul‹ Lebewohl und ging mit ihren Habseligkeiten ans Land.

Eine Stunde später war sie aber schon wieder da. Das Geschäftshaus hatte Bankerott gemacht, und ihre vierhundert Dollars mit verpufft. So war sie denn bettelarm, heimatlos und wenigstens fürs erste außer stande, zu arbeiten. Die Offiziere hatten Mitleid mit ihrer traurigen Lage, sie veranstalteten eine Sammlung und übergaben ihr eine kleine Summe; mit diesem Geld wollte sie nach ihrem Geburtsort gehen, wo sie Freunde unter den Negern hatte. Sie wußte recht gut, daß die Unglücklichen ihren Schicksalsgenossen am ehesten beistehen; die armen Gefährten ihrer Jugend würden sie sicher nicht Hungers sterben lassen.

In Cairo bestieg sie das kleine Paketboot, das den Ortsverkehr vermittelte und näherte sich nun immer mehr der Heimat. Ihre Gefühle gegen ihren Sohn hatten in der langen Zeit alle Bitterkeit verloren und sie konnte mit Gemütsruhe an ihn denken. Alles, was er ihr Böses zugefügt, suchte sie zu vergessen und sich nur an die Freundlichkeiten zu erinnern, die er ihr ab und zu erwiesen. Sie schmückte seine Gutthaten so lange aus, bis sie ihr in goldenem Licht erschienen und sie ordentlich anfing, sich nach ihm zu sehnen. Vielleicht hatte die Zeit ihn etwas milder gestimmt; wenn sie ihm schmeichelnd und unterwürfig nahte, wie eine Sklavin, – was sie natürlich thun mußte – so würde er sich am Ende freuen, seine alte, längst vergessene Wärterin wiederzusehen und sie gütig behandeln. Das wäre wunderschön und sie könnte sich damit leicht über ihre Schmerzen und alle Verluste trösten.

Bei dem Gedanken an ihre Armut fing sie an, ein neues Luftschloß zu bauen: vielleicht würde er ihr dann und wann eine Kleinigkeit geben, etwa einen Dollar monatlich; das wäre doch schon eine große, große Hilfe für sie.

Als das Boot in Dawson landete, hatte sie ihr früheres Selbst glücklich wiedergefunden; mit ihrer Schwermut war es vorbei, sie fühlte sich heiter und frohgelaunt. Es konnte ihr ja nicht fehlen; in mancher Küche würden die Dienstleute gern die Mahlzeit mit ihr teilen, auch heimlich Zucker, Aepfel und allerlei Leckerbissen entwenden und ihr nach Hause mitgeben, oder – was ihr ebenso lieb wäre – ein Auge zudrücken, wenn sie selbst lange Finger machte. Und dann die Kirche! – Sie war eine so eifrige, fromme Methodistin wie je und nicht etwa scheinheilig bei ihren Andachtsübungen, sondern wahr und aufrichtig. Wenn es ihr nicht an leiblichen Genüssen mangelte und sie wieder an ihrem alten Kirchenplatz in der Ecke sitzen und Amen sagen konnte – ja, dann wollte sie vollkommen glücklich sein und in Frieden weiter leben, bis an ihr seliges Ende.

Zu allererst suchte sie die Driscollsche Küche auf, wo man sie höchst feierlich und mit großer Begeisterung empfing. Ihre wunderbaren Reisen, die fremden Länder, die sie gesehen und die Abenteuer, die sie erlebt hatte, machten sie zu einer wahren Romanheldin. Die Neger lauschten voll Entzücken auf ihre erstaunlichen Berichte, unterbrachen sie alle Augenblicke mit neugierigen Fragen, mit Gelächter, Beifallsklatschen oder Ausrufen der Verwunderung, bis sie selbst gestehen mußte, daß es auf dieser Welt doch noch etwas Schöneres gäbe, als das Leben auf dem Dampfschiff, nämlich den Ruhm, welchen man erwirbt, wenn man heimkehrt und davon zu erzählen weiß. Ihre Zuhörer tischten ihr vom Mittagsmahl auf, soviel sie nur essen konnte und plünderten dann die Speisekammer, um ihren Handkorb zu füllen.

Tom war in St. Louis; die Haussklaven sagten, er hätte in den zwei letzten Jahren seine Zeit meistens dort zugebracht. Roxy stellte sich nun täglich ein und ließ sich allerlei über die Familie und ihre Angelegenheiten berichten. Einmal fragte sie auch, warum denn Tom soviel auswärts wäre, worauf der vermeintliche ›Schamber‹ erwiderte:

»Das kommt daher, weil’s dem alten Massa viel wohler ist, wenn der junge Massa seiner Wege geht. Er liebt ihn auch mehr, wenn er nicht in der Stadt ist, und giebt ihm jeden Monat fünfzig Dollars –«

»Nein – ist das wahr, Schamber – oder sagst du’s nur im Spaß?«

»Bewahre, Mammy, du kannst’s glauben, ich weiß es von Massa Tom selbst. Aber, liebste Zeit, genug ist’s doch nicht.«

»Was – nicht genug – weshalb denn nicht?«

»Das sollst du gleich hören, Mammy, wenn du’s wissen willst. ‚S ist nicht genug, weil Massa Tom um Geld spielt.«

Roxy schlug erstaunt die Hände zusammen, und Schamber fuhr fort:

»Der alte Massa ist dahinter gekommen, als er zweihundert Dollars für Massa Toms Spielschulden zahlen mußte. So wahr ich hier stehe, Mammy, es ist, wie ich dir’s sage.«

»Zwei – hundert – Dollars! Weißt du auch, was das heißt? – Zwei – hundert – Dollars! Du meine Güte – da könnt‘ man ja fast ’nen starken Neger aus zweiter Hand dafür kaufen. Du lügst mich doch nicht an, Söhnchen – wirst doch deine alte Mammy nicht belügen?«

»’S ist die reine Wahrheit – zweihundert Dollars – ich sag‘ dir’s ja und will’s beschwören. Jemine, wie ist der alte Massa gesprungen – gekocht hat er vor Wut und gleich ist er hingegangen und hat Massa Tom enterbt.«

Roxy riß die Augen weit auf und starrte ihn verblüfft an. »Ent – was?« fragte sie.

»Enterbt,« wiederholte Schamber, »sein Testament zerrissen.«

»Zerrissen – nicht möglich. Das würde er nie thun. Nimm das gleich zurück, du erbärmlicher, unechter Neger, den ich mit Kummer und Schmerzen geboren habe.«

Roxys schönstes Luftschloß – der monatliche Dollar aus Toms Tasche – stürzte vor ihren Augen zusammen. Das war ein entsetzliches Mißgeschick, der Gedanke schien ihr unerträglich.

»Hahaha!« lachte Schamber belustigt, »hört nur mal das. Wenn ich ein unechter Neger bin, was bist du dann wohl? Wir sind zwei unechte Weiße, weiter nichts – sehr gut nachgemacht noch dazu, hahaha aber als Neger ganz mißlungen – eben drum –«

»Schweig‘ still mit deinem Gewäsch, sonst kriegst du eins um die Ohren – erzähl‘ weiter von dem Testament. Sag‘, daß es nicht zerrissen ist, thu’s, Schatz, und ich will dir’s gedenken.«

»Na, also – ’s ist wieder ganz – man hat ein neues gemacht und Massa Tom ist noch, was er war. Aber, du brauchst dich nicht so drüber zu erhitzen, Mammy. Was geht’s denn dich an?«

»Mich soll’s nichts angehen? Wen denn sonst, bitte? Bin ich nicht seine Mutter gewesen, bis er fünfzehn Jahre alt war? Und nun soll mir’s gleich sein, wenn man ihn kahl und leer in die Welt ’naus jagt! Du weißt nichts von Muttergefühlen, Schamber, sonst thätst du nicht solchen Unsinn reden.«

»Also – der alte Massa hat ihm vergeben und das Papier noch mal geschrieben – ist dir’s nun recht?«

Ja, sie war ganz glücklich und zufrieden und weinte ein bißchen vor Freuden. Alle Tage erschien sie wieder, bis es endlich einmal hieß, Tom sei nach Hause gekommen. Sie zitterte ordentlich vor innerer Erregung, schickte auch sogleich zu ihm und ließ ihn bitten, er möchte seiner armen alten Negermammy die schreckliche Freude machen, daß sie ihn nur einmal sehen dürfe.

Tom lag träge auf dem Sofa ausgestreckt, als Schamber kam und die Botschaft brachte. Der alte Widerwille, den er gegen den armen Packesel und Beschützer seiner Knabenjahre empfand, hatte sich mit der Zeit nicht gemildert; sein Ingrimm und seine Erbitterung waren noch ebenso stark wie damals. Jetzt richtete er sich auf und starrte mit zornigem Blick in das hübsche Gesicht des jungen Burschen, dessen Namen und Geburtsrecht er gestohlen hatte, ohne es zu wissen. Lange sah er ihn unverwandt an, bis der Geängstigte so schreckensbleich geworden war, wie es sein Peiniger wollte.

»Was will das alte Tier?«

Die Bitte wurde in aller Demut wiederholt.

»Wer hat dir erlaubt hereinzukommen und mich mit den Anliegen einer elenden Negerin zu belästigen?«

Tom war aufgesprungen. Der junge Bursche, der vor ihm stand, zitterte heftig. Er wußte, was jetzt kommen würde, bog den Kopf zur Seite und hob als Schild den linken Arm in die Höhe. Ohne ein Wort zu sagen, holte Tom aus, und Schlag auf Schlag hagelte nun auf Kopf und Schultern des armen Menschen nieder, der die Hiebe geduldig hinnahm und nur »bitte, Massa Tom – o bitte, Massa Tom!« flehte. Nach dem siebenten Schlag rief Tom: »Umkehren – hinaus – marsch!« Er folgte hinterdrein, um seinem Opfer noch einen, zwei, drei derbe Fußtritte zu versetzen.

Der letzte Tritt beförderte den weißen Sklaven zur Thür hinaus; er hinkte fort und wischte sich die Augen mit seinem alten zerlumpten Aermel. »Schick‘ sie herauf!« schrie ihm Tom noch nach.

Dann warf er sich keuchend wieder auf den Sofa und brummte: »Der kam wie gerufen. Ich war zum überfließen voll schwerer Gedanken und brauchte jemand, an dem ich meine Galle auslassen konnte. Es hat mir gut gethan, ich fühle mich ordentlich erfrischt.«

Jetzt trat Toms Mutter ein; sie schloß die Thür hinter sich und näherte sich ihm mit all der kriechenden, schmeichlerischen Unterwürfigkeit, welche Furcht und Eigennutz den Worten und Gebärden des geborenen Sklaven verleihen können. Zwei Schritte von ihrem Sohn entfernt blieb sie stehen und erging sich in bewundernden Ausrufungen über seine schöne Gestalt und sein ganzes männliches Aussehen. Tom legte seinen Arm unter den Kopf und warf ein Bein über die Sofalehne, um gehörig gleichgültig zu erscheinen.

»Potztausend, wie du gewachsen bist, mein Herzchen. Ich hätt‘ dich wahrhaftig nicht wiedererkannt, Massa Tom. Sieh mich mal an. Kennst du denn die alte Roxy noch, deine Negermammy von früher? – Ja, nun kann ich mich hinlegen und in Frieden sterben, weil meine alten Augen –«

»Laß das Geschwätz – komm zur Sache. Was willst du hier?«

»Du meine Güte!. Noch immer derselbe Massa Tom, so spaßhaft und lustig mit der alten Mammy. Ich wußt’s ja ganz gewiß – –«

»Hörst du nicht – mach’s kurz und packe dich wieder! Was willst du von mir?«

Das war eine bittere Enttäuschung. Roxy hatte sich so lange damit ergötzt und erquickt und in den Gedanken eingewiegt, Tom würde sich freuen, seine alte Wärterin zu sehen und sie durch ein paar herzliche Worte stolz und überglücklich machen. Da vermochte sie es kaum zu fassen, daß ihr schöner Traum nichts als die Eitelkeit ihres thörichten Herzens und ein jammervoller Irrtum war. Erst nachdem sie zum zweitenmal hart angelassen worden, begriff sie, daß es kein Scherz sein sollte. Es kränkte sie tief; vor Scham und Herzeleid wußte sie nicht gleich, was nun zu thun sei. Ihre Brust hob und senkte sich, Thränen traten ihr in die Augen und in ihrer Ratlosigkeit beschloß sie, den Versuch zu machen, ihren Sohn um Unterstützung zu bitten, damit wenigstens ihr anderer Traum in Erfüllung ginge. Ohne weitere Ueberlegung flehte sie ihn an:

»O Massa Tom, der armen alten Mammy ist’s so schlecht ergangen, sie hat großes Unglück gehabt, jetzt sind nun gar ihre Arme gelähmt und sie kann nicht arbeiten. Gebt ihr doch einen Dollar – nur einen einzigen Dol –«

Tom sprang so rasch auf die Füße, daß die Bittstellerin erschrocken zusammenfuhr.

»Was sagst du – einen Dollar! Erwürgen könnte ich dich. Du willst hier um Geld betteln? Pack‘ dich auf der Stelle, mach‘ daß du fortkommst!«

Roxy zog sich langsam nach der Thür zurück. Auf halbem Wege blieb sie stehen und sagte voll Trauer:

»Massa Tom, ich hab‘ Euch gewartet und gepflegt, als Ihr klein wart, und hab‘ Euch ganz allein aufgezogen. Jetzt seid Ihr jung und reich, und ich bin arm und krank. Da kam ich her und dachte, Ihr würdet der alten Mammy helfen, auf dem kurzen Weg, den sie noch hat, bis sie im Grabe liegt, und – –«

Tom gefiel dieser Ton noch weniger als der zuerst angeschlagene, denn er weckte sozusagen die Stimme seines Gewissens. Er fiel ihr daher ins Wort und sagte, nicht schroff, aber mit großer Bestimmtheit, daß er nicht in der Lage wäre, ihr zu helfen, und sie nichts von ihm zu hoffen habe.

»Wollt Ihr denn gar nichts für mich thun, Massa Tom?«

»Nein. Jetzt geh‘ deiner Wege und belästige mich nicht länger.«

Roxy stand mit gesenktem Haupt in demütiger Haltung vor ihm. Da flammte die Erinnerung an alles alte Unrecht, das sie erlitten, wieder auf und brannte in ihrer Brust wie Feuer. Langsam hob sie den Kopf und richtete sich empor, so daß ihre mächtige Gestalt noch zu wachsen schien und sie unwillkürlich eine Herrschermiene annahm, die ihr alle Würde und Anmut ihrer entschwundenen Jugend zurückgab.

»Du hast’s gesprochen, das Wort,« sagte sie mit drohend erhobenem Finger. »Ich gab‘ dir ’ne Gelegenheit – du hast sie mit Füßen getreten. Soll sie dir wieder geboten werden, so mußt du auf die Kniee fallen und darum betteln

Tom durchrieselte es kalt, er wußte selbst nicht warum. Die feierliche Rede klang so unheimlich und verwirrte ihn. Doch that er, was unter den Umständen natürlich war, er antwortete mit einem Hohngelächter.

»Du willst mir noch eine Gnadenfrist gewähren – du! Soll ich nicht lieber jetzt gleich vor dir auf die Kniee fallen? Aber, nehmen wir einmal an, ich hätte keine Lust dazu – was wird dann wohl geschehen – das möchte ich wissen.«

»Was dann geschehen wird? – Ich geh‘, wie ich bin, zu deinem Onkel und sag‘ ihm haarklein alles, was ich von dir weiß.«

Toms Wangen wurden bleich und sie sah es. Wirre Gedanken jagten sich in seinem Hirn. »Woher soll sie es wissen? – Und doch – sie muß es entdeckt haben, man sieht’s ihr am Gesicht an. Seit drei Monaten erst ist das neue Testament gemacht und schon bin ich wieder bis an den Hals in Schulden und muß Himmel und Erde in Bewegung setzen, um mich vor Schmach und Verderben zu retten. Ich hoffte, es sollte mir glücken, die Sache zu vertuschen, wenn sich niemand hineinmischt, und nun ist dies Teufelsweib irgendwie dahinter gekommen. Wie viel sie wohl wissen mag? – O Jammer, man möchte rasend werden. Aber, ich muß suchen, ihr gütlich beizukommen – ein anderes Mittel giebt es nicht.«

Mit Mühe zwang er sich dazu, ein scherzhaftes Wesen anzunehmen, sein lustiges Lachen klang hohl und er sagte mit verstellter Munterkeit:

»Weißt du was, Roxy, alte Freunde wie wir zwei dürfen nicht mit einander zanken. Hier hast du deinen Dollar – nun sage mir, was du weißt.«

Er hielt ihr das Papiergeld als Köder hin, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Jetzt war die Reihe an ihr, seine Ueberredungskünste mit Verachtung zu strafen, und sie ließ die Gelegenheit nicht unbenutzt. Tom lernte einsehen, daß selbst eine frühere Sklavin der Schmach und Mißachtung eingedenk sein kann, mit der er ihre Schmeichelreden und Artigkeiten vergolten hatte. Sie genoß jetzt die Süßigkeit der Rache, als sie im Ton unversöhnlichen Ingrimms erwiderte:

»Was ich weiß, das will ich dir sagen: So viel, daß dein Onkel sein Vermächtnis in tausend Stücke reißen wird – und noch weit mehr – hörst du – noch weit mehr.«

Tom sah sie entsetzt an.

»Mehr?« fragte er. »Was soll das heißen? Was kann noch mehr geschehen?«

Roxy lachte spöttisch, warf den Kopf in die Höhe und stemmte die Arme in die Seiten. »Jawohl, ich kann mir’s denken,« sagte sie voller Hohn, »möchtest es gern wissen – für deinen elenden Dollar. Wozu sollt‘ ich’s dir verraten – du hast ja kein Geld. Deinem Onkel will ich’s sagen – ich thu’s auf der Stelle – der giebt mir fünf Dollars für die Neuigkeit mit tausend Freuden.«

Sie drehte ihm verächtlich den Rücken und wollte gehen. Tom geriet in furchtbare Angst, er hielt sie am Kleide fest und flehte sie an, noch zu warten. Da wandte sie sich wieder um.

»Siehst du wohl, hab‘ ich dir’s nicht gesagt?« rief sie mit stolzer Miene.

»Was denn – ich erinnere mich nicht. Was hättest du mir gesagt?«

»Du würdest vor mir auf die Kniee fallen und mich drum bitten.«

Einen Augenblick stand Tom wie erstarrt, dann sagte er keuchend vor Aufregung:

»O Roxy, du wirst doch deinem jungen Herrn so etwas Schreckliches nicht zumuten? Das kann dein Ernst nicht sein.«

»Du wirst schon sehen, ob’s mein Spaß oder Ernst ist. Hast du mich nicht geschimpft und fast angespieen, als ich hergekommen bin, ich armes Weib, in aller Demut, um dir zu sagen, wie groß und hübsch du geworden bist, und wie ich dich gewartet Hab‘ und dich gepflegt, wenn du krank warst und keine Mutter hattest außer mir, in der ganzen weiten Welt? Die arme alte Negerin wollte nur ’nen Dollar haben, um sich Speise zu kaufen – du aber hast sie geschmäht und gescholten – straf‘ dich Gott! Jetzt geb‘ ich dir noch eine Frist – nur ’ne halbe Sekunde lang – ’s ist deine letzte – hörst du?«

Tom fiel auf die Kniee.

»Hier lieg‘ ich vor dir, Roxy – und ich bitte und flehe dich an – sage mir’s jetzt.«

Die Tochter der unglücklichen Rasse, welche zwei Jahrhunderte lang Schmach und Schimpf ungesühnt erduldet hatte, schaute auf ihn herab und schien ihre Seele mit Wonne an dem Anblick zu sättigen. Dann sagte sie:

»So ist’s recht. Der schöne, weiße, junge Herr kniet vor dem armen Negerweib. – Das hab‘ ich immer noch gern mal sehen wollen, so lang ich leb‘. Nun kann meinetwegen der Erzengel Gabriel in sein Horn stoßen, wann er will – ich bin bereit … Steh‘ auf!«

Tom erhob sich.

»Strafe mich jetzt nicht noch härter, Roxy,« bat er demütig. »Das hab‘ ich alles verdient, aber nun sei gut und laß mich frei. Gehe nicht zum Onkel. Sage mir alles – ich gebe dir die fünf Dollars.«

»Jawohl, das sollst du auch, und damit ist’s noch lange nicht genug. – Aber, ich sag‘ dir’s nicht hier –«

»Um Himmels willen, warum denn nicht?«

»Fürchtest du dich vor dem Gespensterhaus?«

»N – nein.«

»Gut, also dann komm um zehn oder elf Uhr heute nacht dorthin; steig‘ die Leiter ‚rauf, die Treppe ist abgebrochen – da wirst du mich finden. Ich wohn‘ im Gespensterhaus, weil ich keinen anderen Unterschlupf hab‘.« – Sie ging nach der Thür, stand aber wieder still. »Gieb mir den Dollarschein.« Er reichte ihr das Papier, sie betrachtete es nachdenklich: »Vielleicht will die Bank auch nicht mehr zahlen,« murmelte sie und wollte gehen; vorher aber fragte sie noch: »Hast du einen Schluck Branntwein?«

»Ja, einen Tropfen.«

»Hol‘ mir’s.«

Er lief in sein Zimmer hinauf und kam mit einer Flasche zurück, die noch über die Hälfte voll war. Ihre Augen funkelten; sie führte die Flasche zum Munde, trank daraus und steckte sie dann unter ihr Tuch. »Die Sorte ist gut,« sagte sie, »das nehm‘ ich mit.«

Tom geleitete sie bis zur Thür, die er öffnete, worauf sie wie ein Grenadier in stolzer, aufrechter Haltung hinausmarschierte.