Trauben- und Molkenkur

Trauben- und Molkenkur

Am Kursaal in Interlaken finden regelmäßig Konzerte im Freien statt; man geht dabei in den Gartenanlagen spazieren und hat Wein, Bier, Milch, Molken und Trauben zur Auswahl. Für gewisse Kranke, welche die Ärzte nicht wieder zurechtstutzen können, sind Molken und Trauben die nötigsten Bedürfnisse, um ihr Leben weiter zu fristen. Einer dieser abgestorbenen Geister machte mir mit trauriger, tonloser Stimme die Mitteilung, daß er sich überhaupt nur noch von Molken ernähre und dies Getränk über alles liebe, weshalb wisse er nicht. Ein anderer, den nur noch die Traubenkur vor dem Tode bewahrte, erzählte mir, es würden dazu nur Trauben verwandt, die einen bedeutenden medizinischen Gehalt hätten, so daß die Traubenärzte sie wie Pillen verschreiben und einnehmen ließen. Zu Anfang der Kur, wenn der Patient sich noch sehr schwach fühlt, beginnt er mit einer Traube vor dem Frühstück, drei während desselben, zwei zwischen den Mahlzeiten, fünf zum zweiten Frühstück, drei im Laufe des Nachmittags, sieben zum Mittagessen, vier zum Abendbrod und vor dem Schlafengehen ißt er dann noch als Zugabe eine halbe Traube. Allmählich steigert sich dann die Zahl, je nach Bedürfnis und Fähigkeit des Patienten, bis er nach und nach so weit kommt, daß er jede Sekunde eine Traube und den Tag über ein Stückfaß voll verzehrt.

Wer auf solche Weise geheilt wird, sagte mir der Kranke, verliere nie wieder die Gewohnheit so zu sprechen, als diktiere er einem langsamen Schreiber, weil er zwischen jedem Wort eine Pause macht, um in Gedanken eine Weintraube auszusaugen. Sich mit solchen Menschen zu unterhalten, erfordere viel Geduld. Wer dagegen auf die andere Methode gesund geworden sei, den unterscheide man leicht von der übrigen Menschheit, weil er immer beim zweiten Wort den Kopf in den Nacken wirft, um in Gedanken ein Glas Molken zu schlürfen. Fangen nun zwei solche Leute zusammen ein Gespräch an, so könne man beobachten, mit welcher Regelmäßigkeit und Ausdauer sie immer dieselben Pausen und Bewegungen machten. Ein Fremder würde sicherlich meinen, er habe zwei Automaten vor sich. Man hört und lernt doch wirklich die wunderbarsten Dinge auf Reisen, wenn man nur die richtigen Leute trifft, die einem ihre Erfahrungen mitteilen.

Der deutsche Portier

Der deutsche Portier

Der persische Prophet und Dichter Omar Khayam schrieb vor mehr als achthundert Jahren:

»In den vier Weltteilen giebt es viele, die gelehrte Bücher schreiben können, viele, die Armeen zu führen verstehen, auch viele, die imstande sind, große Reiche zu regieren, aber nur wenige, die wissen, wie man ein Gasthaus halten muß.«

Der Portier in den deutschen Hotels ist eine wunderbare Erfindung, eine höchst wertvolle Annehmlichkeit. Man erkennt ihn stets an seiner Uniform und wenn man ihn braucht ist er immer da, weil er seinen Posten an der Eingangsthür nicht verläßt. Er ist höflich wie ein Herzog; er spricht vier bis zehn Sprachen; er ist die sicherste Hilfe und Zuflucht in Zeiten der Not und Gefahr. Statt sich wie bei uns mit allem an den Hotel-Clerk zu wenden, geht man hier zum Portier. Bei uns setzt der Clerk seinen Stolz darein, alles zu wissen, hier thut es der Portier. Man fragt ihn, wenn der Zug abgeht – sofort erhält man die Antwort; man erkundigt sich bei ihm nach dem besten Arzt in der Stadt oder nach dem Droschkentarif; fragt ihn, wie viele Kinder der Major hat oder an welchen Tagen die Galerien geöffnet sind; ob man Eintrittskarten braucht, wo man sie erhält und was man dafür bezahlt; wann die Theater anfangen und wann sie aus sind, was für Stücke gespielt werden, wie hoch die Preise der Plätze sind; aber auch, was für Hüte man trägt, wie groß die Sterblichkeitsziffer im Durchschnitt ist oder wer Bill Patrones besiegt hat. Man mag ihn fragen was man will, in neun Fällen von zehn weiß er es und über den zehnten Fall verschafft er die gewünschte Auskunft im Handumdrehen. Er schreckt vor keiner Schwierigkeit zurück. Wenn ihm jemand sagt, er wolle von Hamburg über Jericho nach Peking reisen, sei aber über die Routen und Preise im unklaren, so überreicht der Portier ihm tags darauf ein Blatt Papier, auf dem die ganze Reise bis ins kleinste verzeichnet steht. Wer sich längere Zeit in Europa aufhält, wird zwar noch immer sagen, er verlasse sich auf die Vorsehung, aber bei näherer Betrachtung wird er bald die Entdeckung machen, dass er sich eigentlich auf den Portier verläßt. Diesem ist nichts verborgen was uns quält und bange macht; er weiß schon, was wir bedürfen, wenn wir es noch auf der Zunge haben, und sein Wort: »Ich werde es besorgen,« beruhigt uns schnell. Wer sich an einen amerikanischen Hotel-Clerk wendet, empfindet dabei eine gewisse Verlegenheit, er zaudert und fürchtet sich vor einer abschlägigen Antwort; beim Verkehr mit dem Portier ist davon keine Rede, die freudige Bereitwilligkeit, die er uns entgegenbringt, wirkt ermutigend und die Schnelligkeit, mit der er an die Ausführung unserer Wünsche geht, hat etwas wahrhaft Berauschendes. Je mehr Besorgungen man ihm aufbürdet, desto zufriedener zeigt er sich. Die natürliche Folge ist, dass man selber überhaupt nichts mehr tut. Der Portier holt die Droschke für uns, hilft uns einsteigen, sagt dem Kutscher, wohin er fahren soll, empfängt uns bei der Rückkehr wie einen lang und schmerzlich vermißten Sohn, bittet nur, dass wir uns um gar nichts kümmern, übernimmt es, sich mit dem Droschkenkutscher herumzuzanken und bezahlt ihn aus seiner eigenen Tasche. Er läßt uns Theater Billett holen und alles was wir möglicherweise wünschen können, es mag nun ein Arzt, ein Elefant oder eine Briefmarke sein. Schließlich giebt er uns noch bei der Abfahrt einen Untergebenen mit, der vom Kutscherbock steigt, uns an das Coupé bringt, die Fahrkarten kauft, die Koffer wiegen läßt, uns den Gepäckzettel übergiebt und versichert, daß alles schon auf der Rechnung steht und vorausbezahlt ist. In Amerika findet man nur in den besten Hotels der großen Städte solche vorzügliche, freundliche und bereitwillige Bedienung, aber in Europa hat man sie gerade so gut in den kleinsten Landstädtchen.

Wie läßt sich denn aber die rührende Hingebung des Portiers erklären? Auf sehr einfache Weise: er bekommt nur Trinkgelder und kein Gehalt. Die großen Hotels auf dem Kontinent stellen für geringen Lohn einen Kassierer an, aber der Portier muß dem Hotel eine Abgabe bezahlen. Diese Einrichtung ist sowohl für den Wirt als für das Publikum eine Ersparnis und sichert ihnen bessere Dienste, als wir nach unserem System erhalten. Ein amerikanischer Konsul hat mir erzählt, daß der Portier in einem großen Berliner Hotel jährlich fünftausend Dollars für seine Stelle bezahlt und trotzdem einen Reingewinn von sechstausend Dollars erzielt. Vielleicht würde das Amt des Portiers in einem unserer besuchtesten Hotels in Saratoga, Long Branch, New-York und anderen Hauptverkehrsplätzen noch einträglicher sein.

Als wir vor etwa zwölf Jahren das Trinkgeldersystem nach europäischem Muster bei uns einführten, hätten wir natürlich aufhören müssen, Gehalt zu bezahlen. Ich dächte, das ließe sich jetzt auch noch nachholen und dabei könnte zugleich der Portier eingeführt werden. Seit ich zuerst anfing, mich eingehend mit ihm zu beschäftigen, habe ich Gelegenheit gehabt, ihn in den größten Städten von Deutschland, der Schweiz und Italien zu beobachten. Je mehr ich aber von ihm gesehen habe, um so größer ist mein Wunsch geworden, ihm in Amerika zu begegnen, damit er auch bei uns ein Schutzengel für die Fremden werde, wie er es in Europa ist. Was vor achthundert Jahren als wahr galt, bestätigt sich noch heute: »Nur wenige wissen, wie man ein Gasthaus halten muß!«

Die Ameise

Die Ameise

Auf einer Wanderung im badischen Schwarzwald verfolgte ich einmal mit Aufmerksamkeit die Ameise bei ihrer emsigen Arbeit. Ich entdeckte jedoch nichts Neues an ihr, und besonders nichts, was mir eine höhere Meinung von ihr beigebracht hätte.

Mir scheint, daß die Ameise außerordentlich überschätzt wird, besonders was ihren Verstand betrifft. Ich habe sie nun schon manchen Sommer hindurch beobachtet, während ich etwas Besseres hätte thun können, und bis jetzt habe ich noch keine einzige gesehen, die bei ihrer Arbeit auch nur den geringsten Sinn und Verstand gezeigt hätte.

Ich meine natürlich nur die gemeine Ameise, denn mit den merkwürdigen afrikanischen Arten, welche Abgeordnete wählen, stehende Heere haben, Sklaven halten und über Religion streiten, habe ich keinen Verkehr gehabt. Was der Naturforscher von ihnen erzählt, mag alles wahr sein, aber in Bezug auf die gewöhnliche Ameise bin ich fest überzeugt, daß uns vieles aufgebunden wird.

Ihren Fleiß will ich durchaus nicht bestreiten: in der ganzen Welt arbeitet niemand so angestrengt als sie, nur ihre Hohlköpfigkeit habe ich an ihr auszusetzen. Betrachten wir sie einmal, wenn sie auf Beute ausgeht. Sie hat einen Fang gethan; aber was macht sie dann? Geht sie etwa nach Hause? Durchaus nicht, gerade im Gegenteil; sie weiß nicht mehr, wo ihre Wohnung ist und kann sie nicht finden, wenn sie auch kaum drei Fuß davon entfernt ist. Sie thut einen Fang, habe ich gesagt; aber es ist gewöhnlich etwas, das weder ihr noch sonst jemand vom geringsten Nutzen sein kann; gewöhnlich ist das Ding zehnmal so groß, als es sein sollte, sie faßt es gerade am unbequemsten Ende an und hebt es mit aller Gewalt in die Höhe, – dann trägt sie es fort, nicht nach Hause, sondern in entgegengesetzter Richtung, nicht ruhig und bedächtig, sondern mit rasender Elle, bei der sie ihre Kräfte unnütz vergeudet. Sie rennt gegen einen Kieselstein und anstatt ihn zu umgehen, klettert sie rückwärts hinauf, zerrt ihre Beute hinter sich her, kugelt auf der andern Seite hinunter, springt wütend auf, schüttelt sich den Staub aus den Kleidern, wischt sich die Hände ab und greift gierig nach ihrem Eigentum, stößt es hierhin und dorthin, schiebt es jetzt vor sich her, dreht sich dann um und zerrt es weiter, mit immer wilderer Gebärde, bis sie es plötzlich wieder hoch in die Luft hebt und nach einer ganz neuen Richtung fortrennt. Nun stößt sie auf eine Pflanze, es fällt ihr aber gar nicht ein herumzugehen – nein, sie muß hinaufklettern, bis oben in die Spitze und noch dazu ihren ganz wertlosen Besitz hinter sich dreinziehen, was ungefähr eben so klug ist, als wenn ich einen Sack Mehl von Heidelberg nach Paris über den Straßburger Kirchturm schleppen wollte. Wenn sie hinaufkommt, sieht sie, daß sie nicht am rechten Ort ist, wirft einen flüchtigen Blick auf die Gegend, klettert oder kugelt hinunter und nimmt einen neuen Anlauf – wie gewöhnlich in einer andern Richtung.

Nach Verlauf einer halben Stunde, kaum sechs Zoll von ihrem Ausgangspunkt entfernt, hält sie plötzlich still und legt ihre Last nieder; sie hat in dieser Zeit die ganze Umgegend zwei Meter in der Runde durchlaufen und ist über alle Steine und Pflanzen geklettert, die ihr in den Weg kamen. Jetzt wischt sie sich den Schweiß von der Stirn, streckt die Glieder und eilt dann ebenso ziellos und in so wahnsinniger Hast davon wie zuvor. Während sie im Zickzack umherläuft, stößt sie abermals auf ihre frühere Beute; sie erinnert sich nicht, sie je vorher erblickt zu haben, sieht sich nach dem Wege um, der nicht nach Hause führt, packt ihren Fund an und trägt ihn fort. Sie macht genau dieselben Abenteuer noch einmal durch und als sie endlich still hält, um auszuruhen, kommt eine Freundin des Weges. Diese findet offenbar, daß das vorjährige Heuschreckenbein – das ist nämlich die Beute – eine sehr wertvolle Eroberung ist und sie bietet nun ihre Hilfe an, um die Fracht nach Hause zu schaffen. Mit höchst weisem Entschluß ergreifen sie jetzt die beiden äußersten Enden des Heuschreckenbeins und beginnen es aus Leibeskräften nach den zwei entgegengesetzten Richtungen zu zerren. Nun ruhen sie aus und halten Rat: etwas muß nicht in der Ordnung sein, aber sie können nicht begreifen, was es ist. Von neuem machen sie sich daran, gerade wie zuvor und mit demselben Ergebnis; nun schiebt eine die Schuld des Mißerfolgs auf die andere, sie werden hitzig und es kommt zu Thätlichkeiten; sie ringen zusammen und verbeißen sich in einander, dann rollen und wälzen sie sich auf dem Boden umher, bis eine ein Horn oder ein Bein verliert. Hierauf versöhnen sie sich und machen sich auf dieselbe unsinnige Weise wiederum ans Werk; aber die verkrüppelte Ameise befindet sich im Nachteil, wie sehr sie auch zerrt, die andere schleppt die Beute weg und sie obendrein. Anstatt loszulassen, bleibt sie hängen, so daß ihr die Haut geschunden wird, so oft ein Hindernis im Wege liegt. So wird denn das Heuschreckenbein noch einmal auf demselben Platz herumgezerrt, um endlich an dem nämlichen Punkt zu landen, wo es zuerst gelegen hat. Die zwei keuchenden Ameisen betrachten es nachdenklich und kommen zu dem Schluß, daß dürre Heuschreckenbeine eigentlich ein schlechter Besitz sind, worauf denn jede nach einer anderen Richtung läuft, um zu sehen, ob sie nicht einen alten Nagel finden kann oder sonst etwas, was schwer genug ist, um einen Zeitvertreib zu gewähren und zugleich wertlos genug, um die Begierde einer Ameise zu reizen.

Auf einem Bergabhang im Schwarzwald sah ich eine Ameise, die diese ganze Arbeit mit einer toten Spinne durchmachte, welche mehr als zehnmal so schwer war wie sie.

Die Spinne war nicht ganz tot, hatte aber keine Widerstandskraft mehr, ihr runder Körper war etwa so groß wie eine Erbse. Die kleine Ameise, welche bemerkte, daß ich ihr zusah, nahm die Spinne auf den Rücken, krallte sich an ihrer Kehle fest, hob sie in die Höhe und trug sie gewaltsam fort; sie stolperte über kleine Steine, raffte sich wieder auf, trat auf die Beine der Spinne, zog sie rückwärts weiter, schob sie vor sich her, schleppte sie sechs Zoll hohe Steine hinauf, statt diese zu umgehen, erkletterte Pflanzen, die zwanzigmal so hoch waren wie sie und sprang von oben herunter; dann ließ sie die Spinne endlich auf dem Wege liegen, wo sich jede andere Ameise ihrer bemächtigen konnte, die thöricht genug war, sie zu begehren. Ich habe die Strecke ausgemessen, welche das einfältige Ding zurückgelegt hat, und bin zu dem Schluß gekommen, daß, was diese Ameise innerhalb zwanzig Minuten verrichtet hat, verhältnismäßig dasselbe ist, als wenn ein Mensch zwei achthundert Pfund schwere Pferde zusammenkoppelt und sie achtzehnhundert Fuß weit trägt, meist über hohe Steinblöcke, unterwegs mit ihnen Höhen erklimmt wie 300 Fuß hohe Kirchtürme und sich in Abgründe stürzt wie der Niagara, bis er die Pferde zuletzt auf einem offenen Platz niedersetzt und sie ohne Wächter zurückläßt, während er irgend ein anderes unsinniges Kraftstück probiert, um seiner Eitelkeit zu fröhnen.

Die Wissenschaft hat neuerdings entdeckt, daß die Ameise keinen Wintervorrat anlegt; dies wird sie um einen großen Teil ihres litterarischen Ruhmes bringen. Sie arbeitet nur, wenn jemand zusieht, besonders jemand, der ein naturforscherähnliches Ansehen hat und Notizen zu machen scheint. Der sprichwörtliche Fleiß der Ameise läuft also beinahe auf Betrügerei heraus, so daß sie als Beispiel für Sonntagsschulen hinfort nicht mehr zu gebrauchen ist. Sie hat nicht einmal Verstand genug, um gesunde Nahrung von schädlicher zu unterscheiden; bei solcher Unwissenheit wird sie die Achtung der Welt gänzlich verscherzen. Sie kann nicht um einen Baumstumpf herumgehen und sich dann wieder nach Hause finden; das streift an Blödsinn, und sobald diese Thatsache feststeht, werden verständige Leute die Ameise nicht länger bewundern. Ihr vielgepriesener Fleiß ist nichts als Eitelkeit und hat keinerlei Zweck, da sie nie etwas nach Hause trägt, was sie herumschleppt. Damit geht auch noch der letzte Rest ihres guten Rufes und ihr Hauptnutzen als sittliches Beispiel verloren. Es übersteigt doch wirklich alle Begriffe, daß so viele Nationen Jahrhunderte lang nicht hinter die Schliche der Ameise gekommen sind, während es doch ganz auf der Hand liegt, daß sie die Leute nur zum besten hat!

Die Ameise ist stark, aber ich habe an demselben Tag noch etwas Stärkeres gesehen, und zwar in der Pflanzenwelt. Ein Fliegenschwamm – jener Pilz, der in einer Nacht aufschießt – hatte eine feste Lage von Tannennadeln und Erdreich, die etwa doppelt so viel Umfang hatte als er, in die Höhe gehoben, und trug sie, wie die Säule das Wetterdach! Demnach hätten zehntausend Fliegenschwämme Kraft genug, um einen Mann zu heben, – aber, wozu sollte das nützen? –

Eine Episode in Baden-Baden

Eine Episode in Baden-Baden

Kein Land der Welt besitzt wohl eine solche Menge von Heilquellen wie Deutschland! Manche dieser Brunnen sind für ein Leiden gut, manche für ein anderes; ja, es giebt besondere Leiden, die man durch die vereinten Kräfte und Tugenden der verschiedenen Heilquellen zu bekämpfen vermag. So trinkt z. B. der Patient gegen eine gewisse Krankheitserscheinung, das naturwarme Wasser von Baden-Baden, in welchem er einen Theelöffel voll Karlsbader Salz auflöst. – Eine solche Dosis vergißt man nicht allzuschnell! –

Dieses heiße Wasser wird aber nicht etwa verkauft! o nein, man geht in die große Trinkhalle und steht da herum, zuerst auf einem Bein, dann auf dem andern, während zwei oder drei Mädchen dicht daneben mit irgend einer Näharbeit sitzen, ohne die geringste Notiz von der Anwesenheit des Patienten zu nehmen, den sie als Luft betrachten.

Allmählich erhebt sich eins von diesen Brunnenmädchen mühsam und beginnt sich zu recken, – sie reckt ihre Fäuste und ihren ganzen Körper gen Himmel, bis ihre Fersen den Boden nicht mehr berühren, und gähnt dabei zu ihrer Erholung auf so herzhafte Weise, daß ihr ganzes Gesicht hinter ihrer Oberlippe verschwindet, und man beobachten kann, wie sie inwendig beschaffen ist; – endlich schließt sich ihr Schlund langsam, Fäuste und Fersen kommen wieder herunter und sie selbst thut einige matte Schritte vorwärts. Sie wirft nun einen verächtlichen Blick auf den Patienten, holt ein Glas heißes Wasser herauf und setzt es so fern wie möglich von ihm hin. Fragt er dann:

›Was bin ich schuldig?‹ so giebt sie ihm mit ausstudierter Gleichgültigkeit die bettelhafte Antwort: »Nach Beliebe!«

Durch diesen bettelhaften Kunstgriff, womit sie sich an die Großmut des Fremden wendet, der sich auf ein einfaches kaufmännisches Geschäft gefaßt gemacht hat, gießt sie Öl in die Flamme seines erwachenden Ärgers. Er thut, als hätte er ihre Antwort nicht gehört und fragt wieder:

»Was bin ich schuldig?« und sie erwidert ebenso ruhig und gleichgültig:

»Nach Beliebe!«

Jetzt würde der Ärger losbrechen, wenn der Fremde nicht den Entschluß faßte, sich zu bezwingen und mit äußerlicher Ruhe die Frage so lange zu wiederholen, bis das Mädchen eine andere Antwort giebt, oder mindestens ein weniger gleichgültiges Wesen annimmt. Wenn daher sein Fall dem meinigen gleicht, so stehen die beiden wie die Narren einander gegenüber und führen mit scheinbarer Kälte, indem sie sich sanftmütig anschauen, die folgende höchst eintönige Unterhaltung:

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

»Was bin ich schuldig?«

»Nach Beliebe!«

Was ein anderer an meiner Stelle gethan haben würde, weiß ich nicht, aber an diesem Punkt angelangt, gab ich es auf! Ihr steinerner Ausdruck, ihr hochmütiges und gleichgültiges Wesen trugen den Sieg davon, und ich streckte mein Gewehr! Da ich wußte, daß sie gewöhnlich von selbständigen Charakteren, die sich nicht um die Meinung einer Spülmagd kümmern, zehn Pfennige erhält, und zwanzig Pfennige von moralischen Feiglingen, so legte ich ein silbernes Markstück vor sie hin und versuchte sie mit folgender sarkastischer Rede zu Boden zu schmettern:

»Wenn das nicht genug ist, so begeben Sie sich gefälligst Ihrer erhabenen Würde, um es mir zu sagen!«

Es gelang mir nicht! Sie würdigte mich keines Blickes, hob nur langsam die Münze auf, und nahm sie zwischen die Zähne – um zu prüfen, ob es gutes Geld wäre. Dann wandte sie mir den Rücken und wackelte zu ihrem früheren Sitz zurück, nachdem sie zuvor das Geldstück in eine offene Schublade hatte gleiten lassen. So blieb sie Siegerin bis zuletzt!

Ich habe die Art und Weise dieses Brunnenmädchens genau beschrieben, weil sie viele ihresgleichen hat.

Eine Rigibesteigung

Eine Rigibesteigung

Der Rigi kann per Eisenbahn, zu Pferde oder zu Fuß erstiegen werden, je nach Belieben des Reisenden. Ich und mein Freund warfen uns in Touristenanzüge und fuhren an einem herrlichen Morgen per Dampfboot den See hinauf. In Wäggis, einem Dorfe am Fuße des Berges, ¾ Stunden von Luzern, gingen wir ans Land.

Bald ging’s behaglich und stetig den schattigen Fußweg hinauf und unsere Zungen waren, wie gewöhnlich, bald in schönster Bewegung. Alles ließ sich herrlich an, und wir versprachen uns nicht wenig, sollten wir doch zum erstenmal den Genuß eines Sonnenaufgangs in den Alpen erleben; das war ja der Zweck unserer Tour. Wir hatten anscheinend keinen triftigen Grund zu eilen, unser Reisehandbuch hatte den Weg von Wäggis bis zum Gipfel als nur 3 ¼ Stunden weit angegeben. Anscheinend sage ich, weil uns Bädeker schon einmal angeführt hatte.

Als wir etwa eine halbe Stunde gegangen waren, kamen wir in die richtige Stimmung für das Unternehmen und trafen Anstalt zum Steigen, das heißt, wir mieteten einen Burschen zum Tragen der Alpenstöcke, Reisetaschen und Überzieher, wodurch wir die Hände frei bekamen.

Wahrscheinlich haben wir häufiger im schönen, schattigen Gras geruht, um ein paar Züge aus unseren Pfeifen zu thun, als unser Führer gewohnt war, denn plötzlich fuhr er uns mit der Frage an, ob wir ihn nach dem Tarif oder für’s Jahr mieten wollten. Wir sagten, er möge immer voran gehen, wenn er Eile habe. Er erwiderte, Eile habe er eigentlich nicht, doch möchte er den Berg hinauf kommen, so lange er noch jung sei. Wir sagten ihm, er möge nur vorausgehen, das Gepäck im obersten Hotel abgeben und unsere baldige Ankunft melden. Er meinte, Zimmer wolle er für uns schon bestellen; wenn aber alles voll sei, wolle er ein neues Hotel bauen lassen und dafür sorgen, daß Maler- und Gipserarbeit trocken wären, bis wir ankämen. Unter solchen spöttischen Bemerkungen verließ er uns und war bald unsern Augen entschwunden.

Um 6 Uhr waren wir schon ein gutes Stück in der Höhe und die Aussicht hatte an Reiz und Umfang bedeutend zugenommen. Bei einem kleinen Wirtshause machten wir Halt, genossen im Freien Brot, Käse und ein oder zwei Liter frischer Milch, und dazu das großartige Panorama; – dann setzten wir uns wieder in Bewegung.

Nach 10 Minuten begegneten wir einem Engländer mit heißem, kupferrotem Gesicht, der in mächtigen Sätzen den Berg herabstürmte, indem er sich an seinem Alpstock immer eine tüchtige Strecke vorwärts schwang. Atemlos und schweißtriefend hielt er bei uns an und fragte, wie weit es bis Wäggis drunten am See sei. –

»Drei Stunden!«

»Was? der See scheint ja so nahe, als ob man einen Kieselstein hineinwerfen könnte. Ist das ein Wirtshaus?«

»Ja.«

»Das ist recht! Ich kann es nicht noch einmal drei Stunden aushalten.«

Auf meine Frage, ob wir wohl nahe am Gipfel seien, rief er: »Meiner Treu! Ihr habt ja eben erst angefangen zu steigen!«

Ich schlug deshalb meinem Reisegenossen Harris vor, auch in besagtem Wirtshaus zu bleiben. Wir drehten um, ließen uns ein warmes Nachtessen bereiten und verlebten mit dem Engländer einen lustigen Abend.

Die deutsche Wirtin gab uns hübsche Zimmer und gute Betten, und ich und mein Freund legten uns nieder mit dem Entschluß, früh genug aufzustehen, um unsern ersten Sonnenaufgang in den Alpen nicht zu versäumen. Aber wir waren todmüde und schliefen wie Nachtwächter; folglich war es, als wir am Morgen erwachten und ans Fenster stürzten, für den Sonnenaufgang schon zu spät: – es war halb 12 Uhr. Das war ein harter Schlag, doch trösteten wir uns mit der Aussicht auf ein gutes Frühstück und beauftragten die Wirtin, den Engländer zu rufen; aber sie erzählte uns, daß dieser unter allerlei Verwünschungen schon bei Tagesanbruch auf und davon gegangen sei. Wir konnten nicht auf den Grund seiner Erregung kommen. Er hatte die Wirtin nach der Höhe des Wirtshauses über dem See genau gefragt und sie hatte 1495 Fuß angegeben; diese Zahl mußte ihn ganz außer Rand und Band gebracht haben, denn er habe hinzugefügt: »In einem Lande, wie diesem, können Narren und Reisehandbücher einem in 24 Stunden mehr Bären aufbinden als sonstwo in einem Jahre.«

Gegen Mittag nahmen wir den Weg wieder unter die Füße und strebten frischen gewaltigen Schrittes dem Gipfel zu. Als wir etwa 200 Meter marschiert waren und anhielten, um zu rasten, blickte ich beim Anzünden meiner Pfeife von ungefähr nach links und entdeckte in einiger Entfernung eine Rauchsäule, die wie ein langer schwarzer Wurm lässig den Berg hinaufkroch. Das konnte nur der Rauch einer Lokomotive sein. Auf unsere Ellbogen gestützt, stierten wir das uns völlig neue Mirakel dieser Bergbahn an. Es erschien unglaublich, daß das Ding schnurgerade aufwärts kriechen konnte auf einer schiefen Ebene, steil wie ein Dach; es geschah aber vor unsern Augen: ein leibhaftiges Wunder. –

Noch ein paar Stunden, und wir erreichten ein schönes zephyrumsäuseltes Hochthal, wo die Dächer der kleinen Sennhütten mit großen Steinen belegt waren, um sie am Grund und Boden festzuhalten, wenn die großen Stürme toben. Weit weg am andern Ufer des Sees konnten wir einige Dörfer erblicken und jetzt zum erstenmal ihre zwerghaften Häuser mit den Bergriesen vergleichen, an deren Fuße sie schliefen.

Wenn man sich inmitten eines solchen Dorfes befindet, kommt es einem ziemlich ausgedehnt vor und die Häuser erscheinen stattlich, selbst im Verhältnis zu den hereinragenden Bergen; aber von unserm hohen Platze aus, welch eine Veränderung! Die Berge erschienen massenhafter und großartiger, dagegen waren die Dörfer so klein geworden, beinahe unsichtbar und lagen so dicht am Boden, daß ich sie nur vergleichen kann mit winzigen Erdarbeiten von Ameisen, überschattet von dem himmelanstrebenden Bau eines Münsters. Die Dampfboote, welche drunten den See durchschnitten, erschienen in der Entfernung nur noch so groß wie Kinderspielzeug und vollends die Segel- und Ruderboote wie winzige Fahrzeuge, bestimmt für die Elfen, die in Lilienkelchen haushalten und auf Brummhummeln zu Hofe reiten.

Wir gingen weiter und stießen bald auf ein halbes Dutzend weidender Schafe unter dem Gischt eines Gießbaches, der wohl hundert Fuß hoch sich am Felsen herabstürzte. Doch horch! Ein melodisches »Lal … l … l … lal, … loil-lahi-o-o-o!« trifft unser Ohr. Wir hören zum erstenmal das berühmte Alpenjodeln inmitten der wilden Gebirgsgegend, in der es heimisch ist. Es ist jenes seltsame Gemisch von Bariton und Falsett, das wir zu Hause Tiroler Triller nennen.

Das Gejodel war hübsch und munter anzuhören und bald erschien der Jodler – ein Sennbub von 16 Jahren. In unserer Freude und Dankbarkeit gaben wir ihm einen Franken, damit er weiter jodle. Er jodelte und wir lauschten. Beim Weitergehen jodelte er uns großmütig außer Sicht. Ebenso der zweite, auf den wir eine Viertelstunde später stießen, und dem wir seine Kunst mit einem halben Franken bezahlten.

Von nun an begegneten wir alle zehn Minuten einem Jodler; dem ersten gaben wir 8 Cts., dem zweiten 6, dem dritten 4, dem vierten 1 Cts., Nummer 5, 6, 7 erhielten gar nichts! Für den Rest des Tages erkauften wir das Stillschweigen der übrigen Jodler mit 1 Fr. per Kopf. Man bekommt es unter solchen Umständen doch schließlich satt.

Zehn Minuten nach 6 Uhr erreichten wir die Kaltbadstation, wo ein geräumiges Hotel mit Verandas steht, die einen weiten Umblick auf Berge und Seen gestatten. Wir waren nicht so sehr ermüdet, aber, um am andern Morgen ja den Sonnenaufgang nicht zu verschlafen, machten wir unsere Mahlzeit so kurz als möglich und eilten zu Bett. Es war unaussprechlich angenehm, unsere steifen Glieder in den kühlfeuchten Betten auszustrecken. Und wie fest wir schliefen! Kein Schlaftrunk wirkt so trefflich, wie eine solche Alpenfußtour.

Morgens erwacht, waren wir beide mit einem Sprung aus den Federn und an den Fenstern; wir zerrten die Vorhänge zurück, erfuhren aber leider eine neue herbe Enttäuschung: Es war nämlich schon halb 4 Uhr mittags. In sehr mürrischer Laune kleideten wir uns an, wobei jeder dem andern die Schuld in die Schuhe schob. Harris meinte, wenn ich ihm gefolgt wäre und wir den Reisediener mitgenommen hätten, wäre uns dieser Sonnenaufgang nicht entgangen. Ich behauptete dagegen, daß dann einer von uns hätte aufbleiben müssen, um den Diener zu wecken, außerdem hätten wir Mühe genug mit uns selbst auf dieser Klettertour, auch ohne die Sorge für den Reisediener.

Das Frühstück regte unsere Lebensgeister wieder etwas an, besonders auch die beruhigende Versicherung im Bädeker, oben auf dem Rigi brauche der Reisende nicht besorgt zu sein, daß er den Sonnenaufgang verschlafe, er werde vielmehr bei Zeiten von einem Mann geweckt, der mit einem großen Alphorn von Zimmer zu Zimmer gehe und seinem Instrumente Töne entlocke, die Tote zu erwecken imstande seien; und noch eine andere Bemerkung des Reisehandbuches tröstete uns, die Versicherung nämlich, daß oben in den Rigi-Hotels die Gäste sich morgens nicht ganz anzukleiden brauchen, sondern sich einfach ihrer roten Bettteppiche bemächtigen und mit diesen, wie Indianer drapiert, ins Freie stürmen. O, das muß schön und romantisch sein! – 250 Personen auf dem windigen Gipfel gruppiert, mit fliegenden Haaren und wehenden roten Bettteppichen, in der feierlich ernsten Gegenwart der schneeigen Bergspitzen, beleuchtet von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, das muß ein herrlicher und denkwürdiger Anblick sein! Unter diesen Umständen war es fast ein Glück, kein Unglück, daß wir die frühern Sonnenaufgänge verfehlt hatten. Nach dem Reisehandbuch waren wir nun 3228 Fuß über dem Spiegel des Sees und konnten somit volle Zweidrittel unserer Wanderung als vollendet betrachten. Wir brachen l/4 nach 4 Uhr nachmittags von neuem auf; etwa hundert Schritte über dem Hotel verzweigte sich die Bahnlinie, der eine Arm ging gerade aufwärts den steilen Berg hinan, der andere bog nach rechts ab in ziemlich sanfter Steigung; wir folgten dem letzteren über eine Meile, bogen um eine Felsenecke und kamen in Sicht eines neuen hübschen Hotels. Wären wir gleich weitergegangen, so hätten wir den Gipfel erreicht, aber Harris wollte allerhand Erkundigungen einziehen. Er wurde belehrt – und zwar falsch, wie gewöhnlich, – daß wir umkehren und den andern Weg gehen müßten. Dies kostete uns eine schwere Menge Zeit.

Wir kletterten und kletterten; wir kamen wohl über vierzig Hügel, aber immer erschien ein neuer so groß wie die frühern. Es begann zu regnen; wir wurden durch und durch naß und es war bitter kalt. Dampfende Nebelwolken deckten bald den ganzen Abgrund zu; der Eisenbahndamm, auf welchen wir stießen, war unser einziger Wegweiser! Manchmal krochen wir längs desselben ein Stück weit fort, allein als sich der Nebel etwas zerteilte, bemerkten wir mit Schrecken, daß wir uns mit dem linken Ellbogen über einem bodenlosen Abgrund befanden, weshalb wir eiligst wieder den Bahndamm zu erreichen trachteten.

Die Nacht brach ein, rabenschwarz, nebelig und kalt. Etwa um 8 Uhr abends hob sich der Nebel etwas und ließ uns einen ziemlich undeutlichen Pfad erblicken, der links aufwärts führte. Diesen Weg einschlagend, waren wir eben weit genug weg vom Eisenbahndamm, um denselben nicht wieder finden zu können, als auch schon wieder eine Nebelwolke herabschoß und alles in undurchdringliches Dunkel hüllte.

Wir befanden uns an einem rauhen, dem Unwetter vollkommen preisgegebenen Ort, und waren genötigt, auf- und abzugehen, um uns warm zu machen, obgleich wir dadurch Gefahr liefen, gelegentlich in einem Abgrund zu verschwinden.

Um 9 Uhr machten wir die wichtige Entdeckung, daß wir jeden Pfad verloren hatten. Wir krochen auf Händen und Knieen umher, konnten ihn aber nicht mehr finden; somit setzten wir uns wieder in das nasse Gras und warteten das Weitere ab. Plötzlich jagte uns eine ungeheure dunkle Masse, die vor uns auftauchte, nicht geringen Schrecken ein; sie verschwand aber alsbald wieder im Nebel, es war, wie wir später erfuhren, das längst ersehnte Rigi-Kulm-Hotel, aber die nebelhafte Vergrößerung ließ es uns als den gähnenden Rachen eines tödlichen Abgrundes erscheinen.

Da saßen wir nun eine lange Stunde mit klappernden Zähnen und zitternden Knieen, den Rücken gegen den vermeintlichen Abgrund gekehrt, weil von dorther etwas Zugluft zu verspüren war. Dabei ereiferten wir uns leidenschaftlich, denn jeder wollte dem andern die Dummheit in die Schuhe schieben, den Bahnkörper verlassen zu haben. Nach und nach wurde der Nebel dünner und als Harris zufällig um sich blickte, stand das große, hell erleuchtete Hotel da, wo vorher der Abgrund gewesen war. Man konnte beinahe Fenster und Kamine zählen.

Unser erstes Gefühl war tiefer, unaussprechlicher Dank, unser zweites rasende Wut, weil das Hotel wahrscheinlich schon seit dreiviertel Stunden sichtbar gewesen war, während wir pudelnaß dasaßen und uns zankten.

Ja, es war das Rigi-Kulm-Hotel auf dem Gipfel des Rigi, und wir fanden dort die Zimmer, die unser Bursche für uns bestellt hatte, – allerdings bekamen wir zuvor die hochmütige Ungefälligkeit des Portiers und des sonstigen Dienstpersonals gründlich zu kosten.

Wir verschafften uns trockene Kleider, und während unser Abendbrot bereitet wurde, irrten wir einsam durch eine Anzahl höhlengleicher Wohnräume, von denen eines einen Ofen besaß. Dieser Ofen in einer Ecke des Zimmers war von einer lebendigen Wand der allerverschiedensten Menschenkinder umgeben. Da wir nun nicht ans Feuer herankommen konnten, wandelten wir in den arktischen Regionen der weiten Säle umher, unter einer Menge Menschen, die schweigend, in sich verloren und wie versteinert das Problem zu ergründen suchten, warum sie wohl solche Narren gewesen waren, hierher zu kommen. Einige davon waren Amerikaner, einige Deutsche, die weitaus überwiegende Mehrzahl aber waren Engländer. In einem der Räume drängte sich alles um die › Souvenirs du Righi‹, die dort feilgeboten werden. Ich wollte zuerst auch ein geschnitztes Falzbein mit Gemshorngriff mitnehmen; ich sagte mir jedoch, daß mir der Rigi mit seinen Annehmlichkeiten wohl auch ohnedies in guter Erinnerung bleiben würde, – und erstickte deshalb das Gelüste.

Das Abendessen erwärmte uns, und wir gingen sofort zu Bette – d. h. nachdem ich an Bädeker noch einige Zeilen geschrieben hatte. Derselbe ersucht nämlich die Touristen, ihn auf etwaige Irrtümer in seinem Reisehandbuch aufmerksam zu machen. Ich schrieb ihm, daß er sich, indem er den Weg von Wäggis bis zum Gipfel nur zu 3 ¼ Stunden angebe, just um drei Tage geirrt habe. Eine Antwort habe ich nie erhalten, auch ist im Buche nichts geändert worden – mein Brief muß also wohl verloren gegangen sein.

Wir waren so todmüde, daß wir sofort einschliefen und uns nicht regten noch bewegten, bis die herrlichen Töne des Alphorns uns weckten. Man kann sich denken, daß wir keine Zeit verloren, sondern schnell ein paar Kleidungsstücke überwarfen, uns in die praktischen roten Teppiche wickelten und unbedeckten Hauptes in den pfeifenden Wind hinausstürzten. Wir erblickten ein großes hölzernes Gerüste, gerade am höchsten Punkte der Spitze. Dorthin lenkten wir unsere Schritte, krochen die Stufen hinauf und standen da, erhaben über der weiten Welt, mit fliegenden Haaren und im Wind flatternden roten Teppichen.

»Mindestens fünfzehn Minuten zu spät!« sagte Harris mit trauriger Stimme, »die Sonne steht schon über dem Horizont.«

»Schadet nichts,« erwiderte ich, »es ist dennoch ein großartiger Anblick und wir wollen ihn noch weiter genießen, bis die Sonne höher steht.«

Einige Minuten waren wir tief ergriffen von dem wunderbaren Anblick und für alles andere tot. Die große, klare Sonnenscheibe stand jetzt dicht über einer unendlichen Anzahl weißer Zipfelmützen – bildlich gesprochen. Es war ein wogendes Chaos riesiger Bergmassen, die Spitzen geschmückt mit unvergänglichem Schnee und umflutet von der goldenen Pracht des zitternden Lichtes, während die glänzenden Sonnenstrahlen durch die Risse einer der Sonne vorgelagerten schwarzen Wolkenmasse, gleich Schwertern und Lanzen aufschossen zum Zenith.

Wir konnten nicht sprechen, ja kaum atmen; wir standen in trunkener Verzückung und sogen diese Schönheit ein, als Harris Plötzlich schrie: » Verd – sie geht ja unter!«

Wahrhaftig, wir hatten das Morgenhornblasen überhört, hatten den ganzen Tag geschlafen und waren erst am Blasen des Abendhorns aufgewacht: das war niederschmetternd.

Auf einmal sagte Harris: »Allem Anschein nach ist nicht die Sonne der Gegenstand die Aufmerksamkeit der unter uns versammelten Menschen, sondern wir, hier oben auf diesem Gerüst, in diesen eselhaften Teppichen. 250 fein gekleidete Herren und Damen starren uns an und kümmern sich kein Haar um Sonnenauf- oder Niedergang, so lange wir ihnen ein derartiges lächerliches Schauspiel bieten. Die ganze Gesellschaft will ja vor Lachen bersten und das junge Mädchen dort wird nächstens platzen. In meinem Leben ist mir kein solcher Mensch vorgekommen wie Sie!«

»Was habe ich denn gethan?« erwiderte ich erregt.

»Sie sind um halb 8 Uhr abends aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu sehen, ist das nicht genug!?«

»Und haben Sie nicht dasselbe gethan? möchte ich wissen; ich bin immer mit der Lerche aufgestanden, bis ich unter den versteinernden Einfluß Ihres ausgetrockneten Gehirns kam.«

»Schämen Sie sich nicht, in diesem Aufzug auf einem vierzig Fuß hohen Schaffot auf dem Gipfel der Alpen zu stehen, unter uns eine endlose Zuschauermenge? Ist das der Schauplatz für derartige Expektorationen?!« So ging der Streit in diesem Maskenanzug fort. Als die Sonne untergegangen war, schlichen wir uns ins Hotel zurück und wieder zu Bett. Wir begegneten dem Hornbläser auf dem Wege dahin, und er versprach, uns morgen sicher zu wecken.

Er hielt Wort, wir hörten das Alphorn und standen sofort auf; es war finster und kalt. Als ich nach dem Zündhölzchen umhertappend mit schlotternden Händen eine Anzahl Dinge zerbrach und zu Boden warf, wünschte ich, die Sonne möchte bei Tag aufgehen, wo es hell, warm und angenehm ist.

Es gelang uns endlich, uns bei dem zweifelhaften Licht zweier Kerzen anzukleiden; doch konnten wir mit unsern zitternden Händen nichts zuknöpfen; ich überlegte, wie viel glückliche Menschen in Europa, Asien, Amerika etc. jetzt friedlich in ihren Betten ruhten und nicht aufzustehen brauchten, um den Rigi-Sonnenaufgang zu sehen. In diesen Gedanken versunken, hatte ich etwas zu ausgiebig gegähnt, so daß ich mit einem meiner Zähne an einem Nagel über der Thür hängen blieb. Während ich auf einen Stuhl stieg um mich loszumachen, zog Harris die Vorhänge zurück und sagte – »O! welches Glück! wir brauchen ja nicht einmal das Zimmer zu verlassen – da unten liegen die Berge in ihrer ganzen Ausdehnung.«

Das war erfreulich; in der That, man konnte die großen Alpenmassen sich in unsichern Umrissen gegen das schwarze Firmament abheben und einen oder zwei Sterne durch das Morgengrauen schimmern sehen. Gut angekleidet und warm versorgt in den wollenen Teppichen stellten wir uns am Fenster auf mit brennenden Pfeifen und in unterhaltendem Geplauder, in behaglicher Erwartung eines Sonnenaufgangs bei Kerzenbeleuchtung. Nach und nach verbreitete sich ein leichtes ätherisches Licht in unmerklicher Zunahme über die luftigen Spitzen der Schneewüste, – doch auf einmal schien ein Stillstand eingetreten zu sein; ich sagte:

»Mit diesem Sonnenaufgang scheint es einen Haken zu haben. Es will nicht recht gehen. Was meinen Sie, daß schuld sei?«

»Ich weiß nicht, es macht den Eindruck, wie wenn irgendwo Feuer wäre. Ich sah nie solch einen Sonnenaufgang.«

»Nun, was mag wohl der Grund sein?«

Harris sprang jetzt mit einemmal auf und rief: – »Ich hab’s! Ich hab’s! wir sehen ja dorthin, wo gestern abend die Sonne unterging

»Vollkommen richtig! Warum haben Sie das nicht früher gemerkt? Jetzt haben wir wieder einen verfehlt; und alles durch Ihre Dummheit. Ja! Das sieht nur Ihnen gleich, eine Pfeife anzuzünden und den Sonnenaufgang im Westen zu erwarten.«

»Es sieht mir auch gleich, den Irrtum entdeckt zu haben; Sie hätten das doch nie gemerkt! Ich muß alle diese Dummheiten entdecken!«

»Sie machen sie alle! Aber wir wollen die Zeit nicht mit Streiten verlieren, vielleicht kommen wir doch noch rechtzeitig!« Allein es war zu spät, die Sonne war schon weit oben, als wir auf den Platz kamen. Wir begegneten der heimkehrenden Menge – Herren und Damen in allerlei komischer Bekleidung und mit frierenden Gesichtern.

Etwa ein Dutzend waren noch auf dem Platze. Sie suchten mit Reisehandbuch und Panorama jeden Berg zu bestimmen und die verschiedenen Namen und Formen ihrem Gedächtnis einzuprägen.

Es war ein betrübender Anblick.

Nach meiner Schätzung brauchten wir einen Tag, um zu Fuße nach Wäggis oder Bitznau zu kommen; soviel war aber sicher, daß wir mit der Bahn etwa eine Stunde brauchen würden und deshalb wählte ich das Letztere.

Eine herrliche Thalfahrt auf der schwindelnden Bergbahn, die uns eine Wunderwelt gleich einer Reliefkarte zu unsern Füßen ausgebreitet sehen ließ, bildete den würdigen Schluß unserer ereignisreichen Rigibesteigung mit ihrem verunglückten Sonnenaufgang. ‹

Ein Tischgespräch

Ein Tischgespräch

Auf unserer Schweizerreise waren wir, ich und mein Reisebegleiter Harris, einmal im ›Schweizerhof‹ in Luzern abgestiegen, wo wir ein Tischgespräch hatten, an das ich zeitlebens denken werde.

Man ging um 7-½ zur Tafel, an der sich eine Menge Angehöriger der verschiedensten Nationalitäten zusammenfanden; doch ließen sich an den ungeheuer langen Tischen besser Kleider als Menschen beobachten, da man die Gesichter meist nur in der Perspektive zu sehen bekam. Das Frühstück dagegen wurde an kleinen runden Tischen eingenommen, und wenn man das Glück hatte, einen Platz in der Mitte des Saales zu erhalten, konnte man so viele Gesichter studieren, als man wünschte.

Öfters versuchten wir zu erraten, zu welcher Nation die Leute, gehörten und dies gelang uns ziemlich gut, aber mit den Namen der Personen glückte es uns weniger; um diese zu raten, ist wahrscheinlich viele Übung nötig. So gaben wir dies denn auf und begnügten uns mit weniger schwierigen Versuchen.

Eines Morgens sagte ich: »Da sitzt eine Gesellschaft Amerikaner!«

»Ja,« meinte Harris – »aber aus welchem Staat?«

Ich nannte einen Staat, Harris einen andern! Daß das junge Mädchen, welches zu der Gesellschaft gehörte, sehr schön sei und sehr geschmackvoll gekleidet, darin waren wir einerlei Meinung, über ihr Alter jedoch konnten wir uns nicht einigen: ich meinte, sie sei achtzehn, Harris hielt sie für zwanzig. Wir ereiferten uns darüber und ich sagte schließlich, als ob es mein Ernst wäre: »Die Sache läßt sich ja sehr leicht entscheiden, – ich will hingehen und sie fragen.«

Harris erwiderte in spöttischem Ton: »Ja, das wird wohl das Beste sein. Du brauchst ja nur hinüberzugehen und mit der hier gebräuchlichen Formel zu sagen: ›Ich bin Amerikaner!‹ dann wird sie sich natürlich sehr freuen, dich zu sehen.« Dabei gab er mir zu verstehen, daß ich es wohl schwerlich wagen würde, sie anzureden.

»Ich habe nur so gedacht,« versetzte ich, »und es nicht im Ernst gemeint, aber du traust mir doch zu wenig Courage zu; ein Frauenzimmer macht mir nicht so leicht bange, und jetzt gehe ich hin und spreche mit dem Fräulein.«

Mein Vorhaben war sehr einfach: ich wollte sie höchst ehrerbietig anreden und um Entschuldigung bitten, wenn ihre große Ähnlichkeit mit einer frühern Bekannten mich getäuscht hätte. Wenn sie mir dann antwortete, der Name, den ich genannt habe, sei nicht der ihrige, so wollte ich mich abermals aufs höflichste entschuldigen, meine Verbeugung machen und mich wieder zurückziehen. Daraus konnte doch kein Unglück entstehen. – Ich ging also an den Tisch, verbeugte mich vor dem Herrn und wollte mich eben mit meiner Rede an sie wenden, als sie ausrief:

»Also habe ich mich doch nicht geirrt! – Ich sagte gleich zu John, daß Sie es waren; er wollte mir nicht glauben, aber ich wußte, daß ich recht hatte und sagte, Sie würden mich sehr bald erkennen und zu uns herüberkommen! Es freut mich sehr, daß Sie es gethan haben, denn wenn Sie fortgegangen wären, ohne mich zu erkennen, hätte ich das nicht für sehr schmeichelhaft gefunden. Bitte, setzen Sie sich doch! – Wie merkwürdig! – Sie sind wirklich der letzte Mensch, den ich erwartet hätte jemals wieder zu sehen!«

Das war eine Überraschung, die mich förmlich betäubte und nur einen Augenblick die Besinnung raubte. Indessen schüttelten wir uns herzlich die Hände und ich nahm neben ihr Platz; aber in einer solchen Klemme war ich wirklich noch nie gewesen. Mir dämmerte es dunkel, als ob ich die Züge des Mädchens schon einmal gesehen hätte, aber wo das gewesen war und welcher Name zu ihr gehörte, war mir gänzlich entfallen. Daher begann ich sogleich die Rede auf schweizer Landschaften zu bringen, um mich nicht zu verraten; allein es half nichts, sie ging ohne Umschweife auf die Dinge los, die sie näher interessierten.

»Nein, was das für eine Nacht war, als der Sturm die vorderen Boote mit wegriß! Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht!« sagte ich, aber ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, der Sturm hatte auch das Steuer, den Schornstein und den Kapitän selbst mit weggerissen, – dann wäre mir vielleicht ein Licht aufgegangen, wo ich die Fragerin hintun sollte.

»Und erinnern Sie sich, wie bange die arme Marie war?«

»Jawohl,« sagte ich, »nein, wie einem alles wieder gegenwärtig wird.«

Das wünschte ich zwar aufs innigste, aber es war wie aus meinem Gedächtnis weggeblasen! Das Klügste wäre gewesen, offen die Wahrheit zu gestehen, aber das konnte ich nicht übers Herz bringen, nachdem das junge Mädchen mir solches Lob gespendet, weil ich sie wieder erkannt hatte. So geriet ich denn immer tiefer hinein und hoffte vergebens auf einen rettenden Faden, um aus dem Labyrinth zu kommen.

Die Unerkennbare fuhr lebhaft fort: »Denken Sie, Georg hat doch noch Marie geheiratet!«

»Wirklich? Ist es möglich!« –

»Jawohl; er sagte, er glaube, daß ihr Vater viel mehr schuld gewesen sei, als sie selbst; und ich glaube, er hatte recht, meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich, es war ja ganz klar, ich habe es doch immer gesagt.«

»O nein, Sie waren ja anderer Meinung, wenigstens in jenem Sommer.«

»Im Sommer, da haben Sie ganz recht, aber im folgenden Winter sagte ich’s.«

»Nun, es stellte sich heraus, daß Marie gar nicht schuld war, sondern nur ihr Vater und der alte Darley.«

Um doch etwas zu erwidern, sagte ich:

»Ja, Darley habe ich immer als ein lästiges altes Geschöpf angesehen!«

»Das war er auch, aber trotz seiner Sonderbarkeiten waren sie ihm zärtlich zugethan; – wissen Sie noch, wie er immer versuchte, ins Haus zu kommen, sobald es nur im geringsten kalt war?«

Ich getraute mir nicht, weiter zu gehen. Offenbar war dieser Darley kein Zweifüßler, sondern irgend ein Vierfüßler, vielleicht ein Hund, möglicherweise ein Elefant. Da nun jedes Tier eine Haut hat, so fiel ich im Anschluß an ihre Frage mit der Bemerkung ein: »Und was er für ein Fell hatte!«

Diese Bemerkung mußte passen, denn sie sagte zustimmend: »Ja, ein sehr dickes – und erst seine Wolle!«

Das verblüffte mich, ich wußte nicht recht weiter und sagte nur:

»Ja, an Wolle fehlte es ihm nicht!«

»Einen Neger, mit solchem Wollhaar könnte man lange suchen,« meinte sie.

Das war ein Lichtblick, denn mir fing an schwül zu werden, und ich war froh, als sie fortfuhr:

»Er war doch selbst bequem genug einquartiert, aber wenn es kalt wurde, fand er sich stets bei der Familie ein und war nicht wieder aus dem Hause, zu bringen. Man sah ihm manches nach, weil er vor Jahren Tom das Leben gerettet hatte. Erinnern Sie sich noch an Tom?«

»Ganz deutlich, er war ein so hübscher Mensch!«

»Jawohl, und das Kind ein so niedliches Ding.«

»Ein hübscheres Kind habe ich nie gesehen.«

»Ich that nichts lieber, als mit ihm tändeln und spielen.«

»Und ich schaukelte es so gern auf den Knieen.«

»Sie haben ihm auch den Namen ausgesucht, – wie war es doch?«

Jetzt kam ich aufs Glatteis! Hätte ich nur des Kindes Geschlecht gewußt. Zum guten Glück fiel mir ein Name ein, der für alle Fälle paßte. Ich sagte:

»Es wurde Fränzchen genannt.«

»Nach einem Verwandten vermutlich. Aber dem verstorbenen, das ich nie gesehen habe, gaben Sie auch den Namen; wie hieß denn das?«

Da das Kind tot war und sie es nie gesehen hatte, dachte ich, man könnte auf gut Glück einen Namen wagen und so antwortete ich:

»Es hieß Thomas Heinrich!«

Sie wurde nachdenklich und sagte: »Das ist doch sonderbar – sehr sonderbar!«

Ich saß ganz still und der kalte Schweiß lief an mir herunter. Aber, so arg meine Verlegenheit war, so hoffte ich doch, mich aus der Klemme zu ziehen, wenn sie nur nicht noch mehr Namen von Kindern wissen wollte. – Ich war begierig, wo der nächste Blitz einschlug. Sie war noch mit dem Namen des letzten Kindes beschäftigt, sagte aber plötzlich:

»Es war recht schade, daß Sie gerade fort waren als mein Kind geboren wurde, sonst hätten Sie seinen Namen auch wählen müssen.«

»Ihr Kind? Sind Sie denn verheiratet?«

»Ich bin seit dreizehn Jahren verheiratet.«

»Getauft, meinen Sie wohl.«

»Nein, verheiratet, – dieser Knabe hier ist mein Sohn.«

»Das scheint ja ganz unglaublich, – fast unmöglich! Wenn Sie es nicht für unhöflich halten, möchte ich mir wirklich erlauben zu fragen, ob Sie älter als achtzehn sind?«

»Am Tag des Sturmes, von dem wir sprachen, war ich gerade neunzehn, das war mein Geburtstag.«

Dadurch wurde ich wenig klüger, da ich das Datum des Sturmes nicht wußte.

Ich dachte nach, was ich wohl Unverfängliches sagen könnte, um meinen Anteil an der Unterhaltung beizutragen und meinen Mangel an Erinnerungen weniger bemerklich zu machen. Aber nichts Unverfängliches wollte mir einfallen. Wenn ich sagte: ›Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert!‹ so war das riskiert; meinte ich dagegen: ›Sie sehen jetzt viel besser aus,‹ so ging das auch nicht. Eben wollte ich einen Ausfall auf das Wetter machen, als meine Landsmännin mir zuvorkam und rief:

»Wie habe ich mich gefreut, einmal wieder von den lieben alten Zeiten zu sprechen! Sie nicht auch?«

»Gewiß, eine solche halbe Stunde habe ich noch nie erlebt,« versetzte ich voll Gefühl und hätte mit Wahrheit hinzufügen können: ›Lieber wollte ich mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen, als sie noch einmal durchzumachen.‹ Ich war von Herzen dankbar, mit der Feuerprobe fertig zu sein und wollte mich eben verabschieden, als sie fortfuhr:

»Nur eins geht mir im Kopf herum!«

»Was denn?«

»Der Name des verstorbenen Kindes. Wie sagten Sie doch, daß es hieß?«

Jetzt war ich übel daran; ich hatte des Kindes Namen ganz vergessen, wie konnte ich ahnen, daß ich ihn noch einmal brauchen würde. Ich ließ mir nichts anmerken und sagte kühn:

»Joseph Wilhelm.«

Aber der Knabe neben mir verbesserte meinen Irrtum:

»Nein; Thomas Heinrich.«

Ich bedankte mich bei ihm und sagte: Ach ja, ich habe es mit einem andern Kind verwechselt, richtig, Thomas Heinrich hieß das arme Kind; Thomas, hm – nach dem großen Thomas Carlyle, und Heinrich – hm – nach Heinrich VIII., die Eltern waren sehr zufrieden mit den Namen.«

»Dadurch wird es nur noch sonderbarer,« murmelte meine schöne Freundin.

›Warum denn?«

»Weil die Eltern es immer Amalie Susanne nennen, wenn sie von ihm sprechen.«

Jetzt war meine Weisheit zu Ende; ich war wie auf den Mund geschlagen und wußte weder aus noch ein. Um die Sache fortzusetzen, hatte ich lügen müssen, und das wollte ich nicht. So saß ich denn stumm und ergeben da, und ließ mich von dem Feuer meiner eigenen Beschämung langsam zu Tode braten. Plötzlich aber lachte meine Gegnerin hell auf und sagte:

»Mir haben die Erinnerungen an alte Zeiten mehr Spaß gemacht als Ihnen. Ich merkte bald, daß Sie sich nur stellten, als ob Sie mich kennten, und nachdem ich mein Lob an Sie verschwendet hatte, beschloß ich, Sie zu strafen, was mir auch gelungen ist. Es war mir sehr angenehm, durch Sie Georg und Tom und Darley kennen zu lernen; denn ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört. Wenn man es nur richtig anzufangen weiß, kann man von Ihnen wirklich eine ganze Menge Neuigkeiten erfahren. Marie, und der Sturm, der die vorderen Boote wegriß, sind wahre Thatsachen, alles andere ist Dichtung. Marie war meine Schwester, ihr ganzer Name ist Marie X.; wissen Sie nun, wer ich bin?«

»Ja, jetzt erinnere ich mich Ihrer, – Sie sind gerade noch so hartherzig wie vor dreizehn Jahren auf dem Schiff, sonst würden Sie mich nicht so bestraft haben. Sie sind noch ganz wie Sie waren, von innen und von außen. Sie sehen ebenso jung aus wie damals, Ihre Schönheit ist unverändert und findet ihr Abbild in Ihrem prächtigen Knaben! – Und nun – wenn diese Worte Sie gerührt haben, lassen Sie uns Frieden schließen, denn ich bekenne mich für besiegt und überwunden.« Dies wurde zum Beschluß erhoben und auf der Stelle ausgeführt.

 

Als ich zu Harris zurückkam, sagte ich: »Nun siehst du, was Talent und Geschicklichkeit ausrichten können!«

»Bitte sehr, ich sehe, was riesige Unwissenheit und Einfalt zu thun imstande sind! Daß ein Mensch, der seine fünf Sinne bei sich hat, sich auf diese Weise fremden Leuten aufdrängt und eine halbe Stunde in sie hineinredet, so etwas ist noch nicht dagewesen! Was hast du ihnen nur gesagt?«

»Gar nichts Schlimmes! Ich habe das Mädchen gefragt, wie es hieße!«

»Meiner Treu, das sieht dir ähnlich! Du bist imstande, so etwas zu thun! Es war dumm von mir, – ich hätte nicht zugeben sollen, daß du hingehst, um dich zum Narren zu machen. Wer wie konnte ich mir vorstellen, daß du dich so weit vergessen würdest! Was werden die Leute von uns denken? Aber, wie hast du es gesagt? auf welche Weise? Ich hoffe, nicht ganz ohne Einleitung!«

»O nein, ich sagte: Mein Freund und ich, wir möchten gern wissen, wie Sie heißen, – wenn Sie nichts dagegen haben!«

»Nein, das war wirklich nicht mit der Thür ins Haus gefallen! – Du warst in der That von einer Höflichkeit, die dir Ehre macht, und ich danke dir noch besonders, daß du mich auch hineingemischt hast! Was that sie aber?«

»Gar nichts Ungewöhnliches! Sie nannte mir einfach ihren Namen.«

»Ist es möglich! – und zeigte auch gar keine Überraschung?«

»Doch – etwas hat sie gezeigt – vielleicht war es Überraschung – mir kam es aber vor, als sei es Freude.« »Sehr wahrscheinlich … es muß natürlich Freude gewesen sein – wie hätte sie sich auch nicht freuen sollen, von einem Fremden mit einer solchen Frage angefallen zu werden. – Was thatest du weiter?«

»Ich reichte ihr die Hand und sie schüttelte sie.«

»Das habe ich gesehen – ich traute meinen Augen kaum! Hat der Herr denn nicht gesagt, er würde dir den Hals umdrehen?«

»Nein, mir schien es, als ob sie sich alle freuten, meine Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird auch wohl der Fall gewesen sein; sie werden bei sich gedacht haben: dieser Ausstellungsgegenstand muß seinem Wärter entlaufen sein, wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen! Das ist die einzige Erklärung für ihre Sanftmütigkeit. – Du nahmst Platz – haben sie dich dazu aufgefordert?«

»Nein, ich dachte, sie hätten es vergessen.«

»Welchen sicheren Instinkt du hast! Was hast du noch gethan? Wovon hast du denn gesprochen?«

»Ich fragte das Mädchen, wie alt es wäre.«

»Nein, wirklich, dein Zartgefühl ist über alles Lob erhaben! Weiter – weiter – kümmere dich nicht um meine traurige Miene, – so sehe ich immer aus, wenn ich eine tiefe innere Freude empfinde. Sprich weiter! Sie gab dir ihr Alter an?«

»Ja, und dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, ihrer Großmutter, den übrigen Verwandten und von ihren eigenen Angelegenheiten.«

»Alles von selbst?«

»Nein, das nicht gerade. Ich stellte die Fragen und sie gab mir die Antworten.«

»Das ist ja himmlisch! Hast du nicht auch nach ihren politischen Ansichten gefragt?«

»Freilich – sie ist Demokratin und ihr Mann Republikaner.«

»Ihr Mann? Das Kind ist doch nicht verheiratet?«

»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«

»Hat sie auch Kinder?«

»Ja, sieben und ein halbes.«

»Das ist unmöglich!«

»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«

»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«

»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«

»Ja, vier; dies ist der vierte.«

»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«

»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«

»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien. Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«

»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«

»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«

»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«

»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«

»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«

»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren. – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –

»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«

Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –

Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.

Rezept für Schwarzwäldergeschichten

Rezept für Schwarzwäldergeschichten

Auf meiner Reise im Schwarzwald fand ich die Bauernhöfe und Dörfer ganz wie sie in den Schwarzwälder Dorfgeschichten beschrieben werden. Das erste echte Exemplar, das mir aufstieß, war die Behausung eines reichen Bauern und Mitglieds des Gemeinderats. Er war eine gewichtige Persönlichkeit im Lande und seine Frau natürlich nicht minder. Wer seine Tochter bekam, that den besten Fang weit in der Runde; vielleicht hat sie schon als Heldin eines Romans von Auerbach Unsterblichkeit erworben. Wenn sie in seinen Dorfgeschichten vorkommt, so würde ich sie gewiß leicht wieder erkennen an ihrem Schwarzwaldkostüm, ihrem sonnverbrannten Gesicht, der rundlichen Figur, den fetten Händen, dem schläfrigen Ausdruck, dem friedlichen Gemüt, den gar zu vollkommenen Füßen, dem bloßen Kopf und den flachsfarbenen Haarzöpfen, die am Rücken hinunterhängen. Das Haus wäre geräumig genug gewesen für ein Hotel, hundert Fuß lang, fünfzig breit, und vom Boden bis zur Dachrinne zehn Fuß hoch, aber von der Dachrinne bis zum Firste des mächtigen Daches waren gewiß noch vierzig Fuß, wenn nicht mehr. Dieses Dach, aus altem lehmgelbem und fußdickem Dachstroh, war bis auf wenige Stellen über und über mit üppig reicher grüner Vegetation bedeckt, die meist aus Moos bestand. Wo es ausgebessert war, hatte man dicke Lagen neuen goldgelben Strohs eingefügt; die weit vorspringenden Dachtraufen schienen das Haus unter ihren schirmenden Schutz zu nehmen. An der Giebelseite, nach der Straße zu, ungefähr zehn Fuß über dem Boden, lief ein schmaler Altan mit hölzernem Geländer am Hause entlang, auf den eine Reihe kleiner Fenster mit winzigen Scheiben hinausging. Darüber waren noch zwei oder drei andere kleine Fenster, eins dicht unter dem spitzen Giebel. Vor der Thür im Erdgeschoß lag ein riesiger Düngerhaufen, und durch eine offene Seitenthür im zweiten Stock erblickte man eine Kuh von hinten. Die ganze vordere Hälfte des Hauses schienen die Menschen, die Kühe und Hühner zu bewohnen, während die hintere Hälfte durch das Zugvieh und das Heu eingenommen wurde. Aber was den Blick am meisten anzog, waren die großen Düngerhaufen rings um das Haus. Ich wurde mit dieser Quelle der Fruchtbarkeit im Schwarzwald bald vertraut, und, ohne es zu wissen, verfiel ich bald in die Gewohnheit, die Lebensstellung eines Menschen nach diesem äußeren und sehr bedeutsamen Merkmal zu beurteilen. Manchmal dachte ich: Wer hier wohnt, ist ein armer Teufel, das ist klar! – Sah ich aber einen stattlichen Haufen, so sagte ich: Hier wohnt ein Bankier! und bei einem Landsitz, der von einem Alpengebirge von Dünger umgeben war, behauptete ich gar: Hier muß wohl ein Herzog wohnen.

In den Schwarzwaldgeschichten tritt dieser charakteristische Zug durchaus nicht genügend hervor. Der Dünger ist augenscheinlich der größte Schatz des Schwarzwälders, sein Geld und Gut, sein Juwel, sein Stolz, sein Schoßkind, das liebste Kunstwerk, das er besitzt; er trägt ihm Ehre und Ansehen, Neid und Hochachtung ein, und ist seine erste Sorge, wenn er sich anschickt, sein Testament zu machen.

Wenn die wahre Schwarzwaldgeschichte je geschrieben wird, muß das Rezept dazu etwa folgendermaße lauten:

Mast, ein reicher alter Bauer. Er hat große Reichtümer an Dünger geerbt, und sie durch eigenen Fleiß vermehrt. Im Bädeker stehen zwei Sternchen ** bei seinem Düngerhaufen. Das Bild, das ein Schwarzwaldmaler davon macht, ist ein Meisterstück. Sogar der König kommt, ihn zu sehen.

Gretchen Mast, seine Tochter und Erbin.

Paul Hoch, ein Nachbarsohn, wirbt scheinbar um Gretchens Hand – eigentlich begehrt er den Dünger. Hoch hat selbst mehrere Wagenladungen der Schwarzwaldmünze und ist daher eine schätzbare Partie, er ist jedoch niedrig gesinnt, habgierig und gefühllos, während Gretchen ganz Gefühl und Poesie ist. Sobald sein Düngerhaufen eine gewisse Größe erreicht hat, will ihm der Alte seine Tochter geben.

Hans Schmidt, Nachbarssohn, voll Gefühl und Poesie, liebt Gretchen, und Gretchen liebt ihn; aber er hat keinen Dünger! Der alte Mast verbietet ihm sein Haus. Er geht gebrochenen Herzens fort, um im Walde zu sterben, fern von der grausamen Welt – denn, sagt er voll Bitterkeit: Was ist der Mensch ohne Dünger? –

(Es vergehen sechs Monate.)

Paul Hoch kommt zum alten Mast und sagt: ›Endlich bin ich so reich, wie du verlangst, komm‘ und sieh den Haufen!‹

Der alte Mast beschaut ihn und ruft aus: ›Es genügt – nimm sie und seid glücklich!‹ –

(Es vergehen zwei Wochen.)

Die Hochzeitsgesellschaft versammelt sich im Wohnzimmer des alten Mast. – Paul Hoch ist gelassen und ruhig, Gretchen beweint ihr hartes Geschick. – Der Verwalter des alten Mast tritt ein.

Mast sagt zornig: ›Ich ließ dir drei Wochen Zeit, um zu entdecken, warum unsere Bücher nicht stimmen und zu beweisen, daß du mir nichts veruntreut hast. Die Zeit ist um – verschaffe mir das fehlende Gut, oder ich lasse dich als Dieb ins Gefängnis werfen!‹

Verwalter. ›Ich hab’s gefunden!‹ –

Der alte Mast. ›Wo steckt’s!‹ – Verwalter (mit tragischem Ernst): ›Im Düngerhaufen des Bräutigams! – Da steht der Dieb – sieh, wie er bleich wird und zittert!‹ – (Aufregung.)

Paul Hoch. ›Alles verloren!‹ – (fällt ohnmächtig über eine Kuh und wird gefesselt.)

Gretchen. »Ich bin gerettet!« – (fällt vor Freude in Ohnmacht über ein Kalb. Hans Schmidt, der gerade hereinstürzt, fängt sie in seinen Armen auf.)

Der alte Mast. »Was, du hier? – Schurke, laß das Mädchen los, und geh‘ mir aus den Augen!«

Hans (der fortfährt, das bewußtlose Mädchen zu stützen.) »Niemals, grausamer alter Mann! Wisse, daß selbst du meine gerechten Ansprüche jetzt anerkennen mußt!«

– »Was? Ansprüche! nenne sie!«

Hans. »So höre denn: die Welt hatte mich verstoßen; ich verließ die Welt, und suchte in der Waldeseinsamkeit den Tod, ohne ihn zu finden. Ich nährte mich von Wurzeln; und in der Bitterkeit meines Herzens verschmähte ich die süßen und grub nur nach den bittersten. – Drei Tage ist es her, da stieß ich beim Graben auf eine Düngergrube! – ich fand ein Golconda, einen unerschöpflichen Vorrat des köstlichsten Düngers. Ich habe so viel wie Ihr alle zusammen, und noch ganze Berge voll darüber. Haha! jetzt lacht dir Wohl das Herz im Leibe!« (Ungeheure Aufregung. Es werden Proben aus der Grube vorgezeigt.)

Der alte Mast. (voll Begeisterung:)»Wecke sie auf, schüttle sie tüchtig, edler junger Mann, sie ist dein!«

Die Hochzeit findet sogleich statt. Der Verwalter wird wieder in sein Amt und Gehalt eingesetzt; Paul Hoch aber ins Gefängnis geworfen.

Der Düngerkönig des Schwarzwalds erfreut sich bis in sein hohes Alter der Liebe seines Weibes und seiner siebenundzwanzig Kinder, sowie der noch größeren Wonne, von allen umher nach Kräften beneidet zu werden.

  1. Zwei Sternchen bei Bädeker bedeuten, daß etwas besonders sehenswert ist.

Viertes Kapitel.

Viertes Kapitel.

In ihrem weiteren Verlauf muß auch unsere Geschichte dem Tausch Rechnung tragen, den Roxana vorgenommen hat. Wir können nicht umhin, den wirklichen Erben ›Schamber‹ zu nennen, und dem kleinen Sklaven, der ihm sein Geburtsrecht genommen hat, den Namen Thomas à Becket beizulegen. Doch kürzen wir diesen zum täglichen Gebrauch in ›Tom‹ ab, wie es seine Umgebung that.

Der kleine Tom war ein böses Kind, seit er den falschen Namen trug. Er weinte ohne Ursache, bekam alle Augenblicke einen Anfall von leidenschaftlichem Zorn, kreischte und brüllte aus Leibeskräften und hielt dann plötzlich den Atem an. Wer kennt nicht diese üble Gewohnheit des zahnenden Säuglings, der vor Unbehagen schreit, was seine Lunge vermag, dann in Krämpfe verfällt und sich bei der Anstrengung, wieder Luft zu bekommen, lautlos krümmt und windet. Seine Lippen werden blau und der starre Mund steht offen, während am untern Rand des roten Gaumens ein winziges Zähnchen zum Vorschein kommt. Hat dann die entsetzliche Stille so lange gedauert, bis man überzeugt ist, daß dem Kinde der Atem auf immer vergangen sei, so stürzt die Wärterin herzu und spritzt ihm Wasser ins Gesicht. O Wunder! im Nu füllt sich die Lunge wieder, ein Geschrei, Gekreisch oder Geheul trifft das lauschende Ohr, und je nachdem der Zuhörer gestimmt ist, macht er seinen Gefühlen mit einem derben Fluch oder mit einem ›Gott sei Dank‹ Luft.

Der kleine Tom kratzte jeden, der ihm zu nahe kam, mit den Nägeln oder schlug ihn mit seiner Kinderklapper. Er schrie nach Wasser, bis man es ihm gab, warf dann den Becher samt Inhalt zu Boden und schrie wieder. Jede seiner Launen wurde befriedigt, mochten sie noch so beunruhigend und lästig sein, auch durfte er alles essen, was er verlangte, besonders Dinge, die ihm den Magen verdarben.

Als er alt genug wurde, um auf den Füßen zu stehen, die ersten Worte zu lallen und seine Hände zu gebrauchen, war er eine noch ärgere Plage als je zuvor. Von dem Moment an, da er die Augen aufthat, hatte Roxy keine Ruhe mehr. Er verlangte nach allem und jedem, was er sah. »Hab’n,« schrie er, und das galt als Befehl. Brachte man es ihm, so geriet er in Zorn und wehrte es mit den Händen ab: »Nicht hab’n, nicht hab’n«; nahm man es aber fort, so brüllte er wieder wie besessen: »Hab’n, hab’n, hab’n!« und Roxy mußte in Windeseile herbeispringen, um es ihm zurückzugeben, ehe er noch Zeit hatte, in Krämpfe zu geraten, wie er beabsichtigte.

Sein liebstes Spielzeug war die Feuerzange, weil ihm sein ›Vater‹ verboten hatte, sie anzurühren, damit er nicht Fenster und Möbel zerschlüge. Kaum hatte aber Roxy den Rücken gekehrt, so wackelte er zu der Zange hin. »Mögen,« sagte er und schielte seitwärts, ob Roxy ihn wohl sähe, »hab’n,« schrie er dann, abermals verstohlen um sich blickend. »Mein is,« fuhr er fort und zuletzt: »Nehm’s!« – da hatte er die Beute. Dann ward die schwere Waffe erhoben – ein Krach, ein Gekreisch, und die Katze hinkte eilig auf drei Beinen davon. Roxy kam meist noch gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie die Lampe oder eine Fensterscheibe in tausend Stücke ging.

Tom ward gestreichelt und liebkost, Schamber ging leer aus. Tom bekam alle Leckerbissen, Schamber aß Maisbrei und sauere Milch, ohne Zucker. Deshalb wurde Tom ein schwächliches Kind und Schamber ein kräftiger Junge. Tom zeigte sich herrisch und widerspenstig, Schamber dagegen sanft und fügsam.

Trotz ihres gesunden Menschenverstandes, ihrer praktischen Tüchtigkeit, war Roxy als Mutter eine vollkommene Thörin und ganz vernarrt in ihren Sohn – ja, mehr als das: Durch die von ihr verübte Täuschung hatte sie ihn zu ihrem Gebieter gemacht; sie sah sich genötigt, dies Verhältnis äußerlich aufrecht zu erhalten und war fortwährend eifrig bemüht, dies durch ihr Benehmen kund zu thun. So fleißig und getreulich übte sie sich in der Unterthänigkeit, daß ihr deren Formen sehr bald zur Gewohnheit wurden. Die Folgen blieben nicht aus: Was anfänglich nur dazu dienen sollte, andere zu täuschen, führte mit der Zeit zum Selbstbetrug; die geheuchelte Ehrfurcht wurde zur wirklichen Ehrerbietung, die scheinbare Willfährigkeit zu völliger Unterjochung. Der kleine, ursprünglich kaum merkbare Abstand zwischen der vorgeblichen Sklavin und dem falschen Herrn, erweiterte sich allmählich zu einem tiefen, klaffenden Schlund, an dessen Rande auf einer Seite Roxy in ihrer Selbsttäuschung stand, und auf der andern ihr Sohn, den sie nicht mehr als unberufenen Eindringling, sondern als ihren anerkannten, rechtmäßigen Gebieter betrachtete. Sie liebte, fürchtete und verehrte ihn zu gleicher Zeit und vergaß in der Abgötterei, die sie mit ihm trieb, gänzlich, wer sie war und was er gewesen.

Der kleine Tom durfte Schamber schlagen, puffen und kratzen, so viel ihm beliebte, er wurde doch nicht gescholten, und Schamber merkte bald, daß es vorteilhafter für ihn war, wenn er die Mißhandlung schweigend ertrug, statt sich zu wehren. Nur ein paarmal, als es ihm zu arg wurde, hatte er sich dagegen empört und den Kampf aufgenommen, aber das kam ihm im Hauptquartier sehr teuer zu stehen. Zwar nicht von Roxys Seite, denn, wenn sie ihn auch scharf dafür anfuhr, daß er vergaß, wo er hingehörte und was er seinem jungen Herrn schuldig war, so bekam er doch zur Strafe von ihr höchstens eine Maulschelle. Nein, Percy Driscoll selbst übernahm das Strafamt. Er machte Schamber klar, daß er unter keinen Umständen das Recht habe, die Hand gegen seinen kleinen Gebieter zu erheben.

Dreimal überschritt Schamber dies Verbot, und erhielt dafür dreimal von dem Manne, der sein Vater war und es nicht wußte, eine so verständliche Tracht Schläge, daß er sich fürderhin Toms grausame Behandlung in aller Demut gefallen ließ und keine weiteren Versuche anstellte, sich ihr zu entziehn.

 

Außerhalb des Hauses sah man die beiden Kinder während ihrer ganzen Knabenzeit fortwährend beisammen. Schamber war sehr stark für sein Alter, weil er grobe Kost erhielt und schwere Hausarbeit thun mußte; auch stand er im Kampfe seinen Mann, denn er bekam reichliche Uebung. Tom ließ sich von ihm gegen die weißen Knaben verteidigen, die er nicht leiden konnte und vor denen er Angst hatte. Schamber diente ihm als beständige Leibgarde; er mußte ihn zur Schule begleiten, ihn abholen und in der Freistunde auf dem Spielplatz als sein Beschützer auftreten. Er stand beim Faust- und Ringkampf zuletzt in so gefürchtetem Ruf, daß Tom mit ihm hätte die Kleider wechseln und ›in Frieden von dannen reiten‹ können, wie Sir Kay, der Ritter von Artus Tafelrunde, in Lanzelots Rüstung.

In allen Spielen war er geschickt und wohlbewandert. Tom versah ihn z. B. mit den nötigen Murmeln, aber, wenn Schamber gewann, nahm er ihm alle Kugeln wieder fort. Schamber bekam Toms abgelegte Kleider; mochten aber seine Stiefel und Handschuhe noch so löcherig, die Hosen noch so dünn und durchgesessen sein, man sah ihn im Winter stets den Schlitten heraufziehen, in dem Tom warm eingehüllt saß und sich fahren ließ. Der kleine Diener kam natürlich nie auf den Schlitten. Auch Schneemänner und Festungen baute er nach Toms Anweisung; er durfte ihm als Zielscheibe dienen, wenn Tom Lust bekam, zu schneeballen, doch den Wurf zu erwidern war ihm nicht gestattet. Er trug Tom die Schlittschuhe nach dem Fluß, schnallte sie ihm an und trabte dann hinter ihm her auf dem Eis, um zur Hand zu sein, sobald er gebraucht wurde; aber daß er selbst einmal Schlittschuh laufen möchte, davon war keine Rede.

Im Sommer galt es als ein Hauptvergnügen für die Knaben in Dawson, den Landleuten, die zu Markte fuhren, Aepfel, Pfirsiche und Melonen aus dem Obstwagen zu stibitzen, hauptsächlich, weil sie dabei Gefahr liefen, mit dem Peitschenstiel des Fuhrmanns eins um die Ohren zu bekommen. Tom beteiligte sich stark an solchen Räubereien – schickte jedoch seinen Stellvertreter. Schamber besorgte das Stehlen und bekam zum Lohn dafür die Pfirsichsteine, Apfelbutzen und Melonenschalen.

Beim Schwimmen nahm Tom zum Schutz Schamber immer mit in den Fluß und behielt ihn in seiner Nähe. Hatte er genug, so schlüpfte er ans Land und machte Knoten in Schambers Hemd, die er ins Wasser tauchte, damit sie schwer wieder aufzuknüpfen wären. Nun zog er sich an und saß lachend daneben, während der nackte Junge, vor Kälte klappernd, mit den Zähnen an den festen Knoten zerrte.

Daß Tom seinem armen Gefährten so übel mitspielte, entstand teils aus seiner natürlichen Bosheit, teils aus Haß und Mißgunst, weil Schamber ihm sowohl an Mut und Körperkraft als an mancherlei Geschicklichkeit weit überlegen war. Tom konnte nicht tauchen, ohne fürchterliches Kopfweh zu bekommen, für Schamber war es eine Leichtigkeit und das reine Vergnügen. Eines Tages sah ihm eine Schar weißer Knaben zu, wie er, vom Heck eines Boots aus, Purzelbäume ins Wasser schoß; ihr lautes Beifallsklatschen ärgerte Tom so sehr, daß er das Boot weiter vorschob, während Schamber gerade in der Luft schwebte, so daß dieser mit dem Kopf auf den Bretterboden schlug. Während er nun bewußtlos dalag, benützten mehrere von Toms früheren Gegnern die längst ersehnte Gelegenheit und prügelten den falschen Erben so unbarmherzig durch, daß er sich später nur von Schamber gestützt mühsam nach Hause schleppen konnte.

Als die beiden Knaben im sechzehnten Jahre standen, wollte Tom auch einmal seine Schwimmkunst zeigen, wurde aber von einem Krampf befallen und dem Ertrinken nahe, schrie er um Hilfe. Die Buben von Dawson pflegten sich häufig einen Spaß daraus zu machen – besonders wenn ein Fremder in der Nähe war – zu thun, als ob sie ertrinken müßten und nach Hilfe zu rufen; kam nun der Fremde in rasender Eile herbei, so fuhr der Spaßvogel fort zu zappeln und zu schreien, bis der Retter dicht bei ihm war, dann schlug er eine höhnische Lache auf und schwamm gleichmütig davon, während die andern Buben den Gefoppten nach Herzenslust verspotteten. Tom hatte den Streich noch nie versucht, und als nun sein Hilferuf ertönte, hielt es niemand für Ernst. Nur Schamber glaubte, daß sein Herr wirklich in Gefahr sei, deshalb schwamm er herbei und kam leider noch zu rechter Zeit, um ihm das Leben zu retten.

Das stieß dem Faß den Boden aus. Tom hatte schon viel ertragen, aber, daß er nun auf immer vor aller Welt einem Neger zu Dank verpflichtet sein sollte, überstieg seine Kräfte. Er erging sich in Schimpf- und Scheltworten, weil Schamber ihm nicht vom Leibe geblieben sei und ›vorgab‹ zu glauben, Tom habe im Ernst nach Hilfe gerufen, während man doch ganz vernagelt dumm sein müßte, um nicht zu sehen, daß er nur Spaß treiben wollte.

Toms Feinde aber, die diesmal in großer Schar versammelt waren, drehten jetzt den Spieß um. Sie lachten ihn aus, nannten ihn Hasenherz, Lügner, Duckmäuser und was dergleichen Liebesnamen mehr waren. Auch kündigten sie ihm an, daß Schamber von jetzt ab in der ganzen Stadt nicht anders als ›Tom Driscolls Negerpappy‹ heißen sollte, denn er habe ihn so gut wie neu geboren und ihm das Leben geschenkt.

Wütend über den Spott und Hohn schrie Tom:

»Schlag‘ ihnen den Schädel ein, Schamber – schlag‘ ihnen den Schädel ein! – Was stehst du da mit den Händen in den Hosentaschen?«

»Aber, Massa Tom, ’s sind ihrer so viele –« wagte Schamber einzuwenden.

»Thu‘, was ich dir sage.«

»Bitte, Massa Tom, zwingt mich nicht! Es sind ihrer wirklich zu viele, da kann ich –«

Im nächsten Augenblick war Tom auf ihn zugestürzt und hatte ihm sein Taschenmesser zwei oder dreimal in die Brust gestoßen, bevor die andern ihn fortreißen und den Verwundeten in Sicherheit bringen konnten. Schamber war zwar schwer, aber nicht gefährlich verletzt; wäre die Klinge nur etwas länger gewesen, so würde seine Laufbahn damals ihr Ende erreicht haben.

Was Roxy betraf, so hatte ihr Tom schon längst gezeigt, ›wo sie hingehörte‹. Seit Jahren wagte sie nicht mehr, ihm Schmeichelnamen zu geben oder ihn zu liebkosen. Das alles war ihm widerwärtig von einer ›Negerin‹, und er riet ihr, ihm nicht zu nahe zu kommen, sonst würde es ihr übel ergehen. Allmählich hörte ihr Herzblatt ganz auf, ihr Sohn zu sein; sie sah dies Verhältnis spurlos verschwinden. Nur der Gebieter war noch übrig geblieben, und er herrschte durchaus nicht mit milder Hand. Von dem Ehrenplatz, welcher der Mutter gebührt, sah sie sich herabgestoßen und zur elenden Sklavin erniedrigt. Ein tiefer Abgrund hatte sich zwischen ihnen aufgethan. Tom benützte sie nur noch wie ein Hausgerät zu seiner Bequemlichkeit; sie war ein mißachtetes, willenloses Opfer, und jeder Laune seiner boshaften Natur hilflos preisgegeben.

Oft fand sie nachts keinen Schlaf, mochte sie auch noch so abgearbeitet und völlig erschöpft sein. Was sie den Tag über von ihrem Sohn erlitten, ließ ihr keine Ruhe; in ihr kochte es vor Wut und Ingrimm.

»Geschlagen hat er mich, und ich hatte doch keine Schuld,« grollte sie, – »ins Gesicht geschlagen vor allen Leuten. Er nennt mich nur Negerdirne, Weibsbild, und was es sonst für Schimpfnamen giebt – und ich thu‘ doch, was ich kann. Herrgott, was hab‘ ich alles für ihn gethan – mir allein verdankt er sein Glück – und das ist mein Lohn!«

Manchmal, wenn er ihr irgend eine Schmach zugefügt hatte, die sie mehr als gewöhnlich kränkte und empörte, faßte sie den Plan, sich zu rächen und schwelgte in dem Gedanken, ihn vor aller Welt als Betrüger und Sklaven bloßzustellen. Aber mitten in der Wonne dieses Schauspiels, das ihr die Einbildungskraft vormalte, ergriff sie eine entsetzliche Furcht. Er besaß zu große Gewalt und sie hatte keine Beweise – gerechter Himmel, wenn es nun damit endete, daß man sie als Sklavin den Fluß hinunter schickte!

So kam denn von allen ihren Entwürfen keiner zur Ausführung und sie mußte die Absicht endlich aufgeben. Sie hätte rasend werden mögen vor ohnmächtiger Wut gegen das Schicksal und gegen sich selbst! Warum war sie auch an jenem verhängnisvollen Septembertage eine solche Närrin gewesen und hatte sich nicht einen Zeugen verschafft, der für sie auftreten konnte an dem Tage, da sie seiner bedurfte, um ihr nach Rache durstendes Herz zu befriedigen?

Und doch – sobald Tom einmal gut und freundlich gegen sie war, wie das in seltenen Fällen geschah, so heilten alle ihre Wunden und sie fühlte sich stolz und glücklich. Das war ja ihr Sohn, ein armer Neger von Geburt, der als Herr unter den Weißen auftrat, um sie für alle Missethaten zu strafen, die sie an ihrer Rasse verübt hatten.

Im Herbst jenes Jahres – man schrieb 1845 – fanden in Dawson zwei große Leichenbegängnisse statt. Zuerst begrub man den Oberst Cecil Burleigh Essex und dann Herrn Percy Driscoll. Auf dem Totenbette hatte letzterer noch der Sklavin Roxana die Freiheit geschenkt und seinen vermeintlichen Sohn, den er abgöttisch liebte, feierlich seinem Bruder, dem Richter, und dessen Frau zur Obhut übergeben. Das kinderlose Ehepaar freute sich darüber. Leute, die keine Kinder haben, sind in diesem Punkt nicht sehr anspruchsvoll.

Einen Monat vorher hatte Richter Driscoll seinen Bruder eines Tages aufgesucht, weil er beabsichtigte, den Sklaven Schamber zu kaufen. Es war ihm zu Ohren gekommen, daß Tom seinen Vater bereden wollte, den Knaben flußabwärts zu schicken, und er wünschte dies Aergernis zu vermeiden, da er wußte, wie ungünstig es allgemein beurteilt wurde, wenn man mit Haussklaven auf solche Weise verfuhr, ohne daß ein zwingender Grund vorlag.

Percy Driscoll hatte alles an das Gelingen seiner großen Landspekulation gesetzt, allein, er starb, ohne seinen Zweck zu erreichen. Kaum war er ins Grab gestiegen, so brach die ganze Herrlichkeit zusammen, und der bisher so beneidete junge Erbe und Glückspilz ward zum Bettler. Aber es brachte ihm keinen Schaden; sein Onkel versprach ihm, er solle nach seinem Tode der Erbe seines gesamten Vermögens werden, und damit tröstete sich Tom.

Roxy hatte nun keine Heimat mehr; sie beschloß deshalb bei Freunden und Bekannten die Runde zu machen und ihnen Lebewohl zu sagen, denn sie wollte fortreisen, um die Welt zu sehen – das heißt, eine Stelle als Stubenmädchen auf einem Dampfschiff annehmen. Eine höhere Befriedigung des Ehrgeizes gab es nicht für ihre Rasse und ihr Geschlecht.

Den letzten Besuch stattete sie dem schwarzen Riesen Jasper ab, der gerade Querkopf Wilsons Holzvorrat für den Winter spaltete. Wilson unterhielt sich eben mit ihm, als Roxy kam, und er fragte sie, ob es ihr nicht schwer würde, fortzugehen und die Knaben zu verlassen. Aus Spaß bot er ihr an, er wolle eine Reihe von Abdrücken ihrer Fingerspitzen bis zum zwölften Jahr für sie zum Andenken abzeichnen. Doch sie machte gleich ein ernsthaftes Gesicht, – es ging ihr im Kopf herum, ob er wohl einen Argwohn hege – und antwortete, sie möchte lieber keine Abdrücke haben.

»Oho,« dachte Wilson, »der Tropfen Negerblut, den sie in ihren Adern hat, macht sie abergläubisch; sie meint, ich treibe allerlei Teufelswerk und Hexenkünste mit meinen Glasplättchen. Wenn mir recht ist, kam sie einmal sogar mit einem alten Hufeisen in der Hand zu mir; möglich, daß es nur ein Zufall war, doch möchte ich es bezweifeln.«

Fünftes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Die Frau des Richters Jork Driscoll genoß die Freude, den unvergleichlichen Tom ihr eigen zu nennen, noch zwei Jahre lang – zeitweise war das Glück wohl nicht ganz ungetrübt, aber es beseligte sie doch. Dann starb sie, aber ihr Gatte setzte mit Hilfe seiner kinderlosen Schwester, der verwitweten Frau Pratt, das Verhältnis zu Tom in alter Weise fort. Tom wurde zu seiner vollsten Zufriedenheit gehätschelt, verwöhnt und verzogen – wenigstens in der Regel. Das ging so weiter, bis er neunzehn Jahre alt war, dann schickte man ihn nach Yale auf die Universität. Er hatte vorher alle mögliche Nachhilfe erhalten, doch zeichnete er sich dort in keiner Weise aus. Zwei Jahre blieb er in Yale, dann wurde ihm die Anstrengung zu viel und er kam nach Hause.

Aeußerlich hatte er sich entschieden zum Vorteil verändert; sein Wesen war nicht mehr schroff und mürrisch, sondern verbindlich, glatt und geschmeidig. Zwar liebte er es, insgeheim oder auch offen, spöttische Redensarten fallen zu lassen, welche die Leute an ihrer verwundbarsten Stelle trafen, doch that er es stets mit einer halb gutmütigen, halb unschuldigen Miene, so daß ihm niemand etwas vorwerfen konnte, und er sich keine Ungelegenheiten machte. Seine Trägheit war noch ebenso groß wie früher, und da er nicht den mindesten Wunsch zeigte, sich nach einem Beruf umzusehen, schloß man allgemein, daß er es für das beste halte, aus seines Onkels Tasche zu leben, bis dieser ihm einmal den Platz räumen würde. Ein paar neue Gewohnheiten hatte er auch mitgebracht – das Trinken betrieb er ziemlich offenkundig, das Spielen aber nur heimlich. Daß er sich auf kein Glücksspiel einlassen durfte, wo es seinem Onkel zu Ohren kommen konnte, wußte er recht gut.

Die jungen Leute von Dawson, Toms Altersgenossen, denen sein neumodischer Schliff ein Aergernis war, mieden seinen Umgang. Vielleicht hätten sie ihn unbehelligt gelassen, wäre er in gewissen Grenzen geblieben; aber er zog Handschuhe an, und das konnten und wollten sie nicht dulden. Auch trug er einen so ausgesucht feinen, städtischen Anzug nach neuestem Stil und Schnitt, daß er seine Mitbürger dadurch aufs höchste reizte und sie es als absichtliche Kränkung ansahen. Ihm dagegen machte die Aufregung, in die er alle Welt versetzte, den größten Spaß, und er stolzierte von früh bis spät in heiterster Laune durch den ganzen Ort. Die jungen Leute wußten sich aber zu helfen, sie gingen zu einem Schneider, der sich gleich an die Arbeit machte, und als Tom am nächsten Morgen wieder in seinem Staat erschien, wackelte der alte, schwarze, verwachsene Glockenzieher von Dawson auf Schritt und Tritt hinter ihm her. Man hatte den Mann mit Kleidern aus brennend rotem Vorhangskattun nach dem Muster von Toms Anzug ausstaffiert, und er äffte dessen Ziererei in Gang und Manieren nach, so gut er konnte.

Da strich Tom die Segel und kleidete sich in Zukunft nach einheimischer Sitte. Das Leben in dem schläfrigen Landstädtchen sagte ihm jedoch gar nicht mehr zu, seit er ein lustigeres Treiben kennen gelernt hatte, und es wurde ihm täglich langweiliger. So unternahm er denn kleine Ausflüge nach St. Louis, um sich eine Abwechslung zu verschaffen. Dort fand er Gefährten, die zu ihm paßten, Vergnügungen nach seinem Geschmack, und in gewisser Beziehung eine größere Freiheit, als er zu Hause haben konnte. Diese Besuche in St. Louis wurden während der nächsten zwei Jahre immer häufiger, und sein Aufenthalt dort verlängerte sich mehr und mehr. Er verlor viel Geld im Spiel und machte Schulden, die ihn eines schönen Tages in große Verlegenheit bringen konnten – was auch wirklich geschah.

York Driscoll hatte im Jahre 1850 sein Richteramt niedergelegt und sich von allen Berufsgeschäften zurückgezogen. Er lebte jetzt schon seit drei Jahren in behaglicher Muße als Präsident des Freidenker-Klubs, dessen einziges Mitglied Querkopf Wilson war. Die allwöchentlichen Beratungen dieser Gesellschaft bildeten nunmehr das Hauptlebensinteresse des alten Rechtsgelehrten. Wilson selber verharrte noch immer in seiner Dunkelheit und war seither auf der Leiter des Glücks keine Stufe höher gestiegen. Die verhängnisvolle Bemerkung über den Hund, die er vor dreiundzwanzig Jahren gemacht hatte, vernichtete alle seine Hoffnungen.

Driscoll war sein Freund und behauptete, er besäße hervorragende Geistesgaben. Das hielt man aber für eine Grille des alten Richters; die öffentliche Meinung ließ sich nicht dadurch beeinflussen und zwar aus gutem Grunde. Hätte Driscoll sich damit begnügt, einfach die Thatsache festzustellen, so würde das ohne Zweifel eine günstige Wirkung gehabt haben, er wollte jedoch Beweise beibringen, und das war ein Mißgriff.

Seit einigen Jahren hatte Wilson zu seiner Privatbelustigung ein wunderliches Tagebuch geführt, eine Art Kalender, in welchem zu jedem Datum ein kurzer Ausspruch angeblicher Weltweisheit, meist in humoristischer Form beigefügt war. Driscoll fand, daß diese komischen Einfälle und harmlosen Sticheleien sehr schlau und treffend ausgedrückt waren und als er eines Tages eine Handvoll solcher Zettel in der Tasche hatte, las er einigen angesehenen Bürgern Proben davon vor. Die guten Leute hatten aber keinen Sinn für Humor – so etwas ging über ihren Verstand. Sie machten zu den scherzhaften Kleinigkeiten eine ernste Miene und erklärten mit großer Bestimmtheit, niemand habe daran gezweifelt, daß David Wilson ein Querkopf sei, wäre es aber je der Fall gewesen, so würde durch diese Kundgebung aller Ungewißheit ein für allemal ein Ende gemacht. So geht es immer in der Welt: Ein Feind kann dem Menschen zwar erheblichen Schaden zufügen, aber ihn völlig zu Grunde zu richten, das vermag nur ein gutmütiger, unkluger Freund. Von da ab war der alte Richter noch zärtlicher gegen Wilson gesinnt als früher und blieb unerschütterlich bei seiner Ueberzeugung, daß der Kalender sehr geistreich wäre.

 

Driscoll durfte ein Freidenker sein, und doch seine gesellschaftliche Stellung behaupten. Weil er das höchste Ansehen in der Gemeinde genoß, ließ man ihn seine besonderen Wege gehen, und sich ausdenken, was und wie viel er wollte. Wilson, dem andern Mitglied des von ihm gestifteten Klubs, gewährte man das gleiche Vorrecht, aber nur, weil er nach allgemeiner Schätzung eine Null war, und niemand den geringsten Wert darauf legte, was er dachte und that. Man war ihm wohlgesinnt und hieß ihn überall willkommen, aber zu irgend welcher Bedeutung brachte er es nicht.

 

Proben aus Querkopf Wilsons Kalender:

Adam war bloß ein Mensch – damit ist alles erklärt. Ihn gelüstete nicht nach dem Apfel um des Apfels willen, es reizte ihn nur, zu thun was verboten war. Die Schlange hätte man verbieten sollen, nicht den Apfel – dann würde Adam die Schlange gegessen haben.

 

Durch den armseligsten Witz, mit dem man jemand lächerlich macht, läßt sich auch der beste Leumund zerstören. Nehmt zum Beispiel den Esel – sein Charakter ist beinahe makellos, er hat unter allen Tieren zweiter Klasse die herrlichste Gemütsart, aber, weil man ihn ins Lächerliche zu ziehen pflegt, ist er in Verruf gekommen. Statt daß ich mich geschmeichelt fühlen sollte, wenn man mich einen Esel nennt, weiß ich nicht recht, woran ich bin.

 

Mit den ›besonderen Fügungen‹ ist es eine eigene Sache: man weiß nie recht, wem sie zu gute kommen sollen. Bei der Geschichte vom Propheten Elias, den Bären und den Kindern zum Beispiel, hatten es die Bären viel besser als der Prophet, denn sie durften die Kinder fressen.

Wie heilig ist doch die Freundschaft! So süß, so beständig, so ausdauernd ist kein anderes Gefühl. Sie bleibt uns treu bis ans Lebensende – wenn wir sie nicht bitten, uns Geld zu borgen.

 

Mutig sein, heißt die Furcht überwinden und beherrschen, nicht von Natur furchtlos sein. Wer nicht ein gut Teil Feigheit in sich hat, den kann man füglich nicht tapfer nennen, es wäre eine ganz falsche Anwendung des Wortes. Den besten Beweis dafür liefert – der Floh. Wäre völlige Furchtlosigkeit gleichbedeutend mit Mut, so müßte man ihn für das tapferste Geschöpf Gottes erklären. Er verfolgt dich mit seinen Angriffen, ob du nächst oder schläfst, trotzdem du ihm an Kraft und Größe so weit überlegen bist, wie die vereinigten Heere der Welt einem zarten Säugling. Tag und Nacht lebt der Floh in beständiger Gefahr angesichts des drohenden Todes, doch fürchtet er sich so wenig, wie jemand der in eine Stadt kommt, die vor tausend Jahren vom Erdbeben bedroht war. Wenn wir von Helden wie Clive, Nelson und Blücher sagen: »sie kannten keine Furcht«, so sollten wir immer auch den Floh mit erwähnen, und ihn an die Spitze stellen. –

 

Wenn du zornig bist, zähle bis vier; bist du sehr zornig, so fluche.

 

Alle sagen, wie traurig es ist, daß uns der Tod nicht erspart bleibt! – Klingt das nicht seltsam im Munde von Leuten, denen das Leben nicht erspart geblieben ist?

 

Nichts bedarf so sehr der Reform, als die Gewohnheiten anderer Leute.

 

Der Narr spricht: »Lege deine Eier nicht alle in einen Korb!« – was nichts anderes heißen soll als: »Verteile dein Geld und deine Wachsamkeit,« – Aber der Weise sagt »–»Lege alle deine Eier in einen Korb – und dann gieb recht acht auf den Korb.«

 

Was sollte wohl daraus werden, wenn alle Menschen gleicher Ansicht wären? Nur wo jeder eine andere Meinung hat, sind Pferderennen möglich.

 

Es giebt wenige Dinge, die unleidlicher sind und mehr ärgern, als ein gutes Beispiel.

 

Selbst der klarste und vollkommenste Indizienbeweis kann auf Täuschung beruhen und muß mit großer Vorsicht aufgenommen werden. Das läßt sich sehr deutlich an jedem Bleistift sehen, der von irgend einer Frau gespitzt worden ist. Hat man Zeugen, so werden diese aussagen, daß sie die Spitze mit einem Messer gemacht hat, urteilt man aber nur nach der Beschaffenheit des Bleistifts, so würde man meinen, sie hätte es mit den Zähnen gethan!

 

Wenn du einen halbverhungerten Hund findest und ihm zu fressen giebst, so beißt er dich nicht. Dies ist der Hauptunterschied zwischen einem Hunde und einem Menschen.

 

1.  April. Dies ist der Tag, der uns daran erinnern soll, was wir an den übrigen dreihundertvierundsechzig Tagen sind.

 

Versuchen wir, so zu leben, daß bei unserem Tode sogar der Leichenbestatter trauert.

 

Die Entdeckung von Amerika war schon sehr wunderbar, aber noch viel wunderbarer wäre es gewesen, wenn man es nicht entdeckt hätte.

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Die Witwe Cooper, welche von jedermann aufs liebevollste ›Tante Patsy‹ genannt wurde, wohnte in einem hübschen, sauber gehaltenen Häuschen, zusammen mit ihrer Tochter Rowena, die neunzehn Jahre alt, liebenswürdig, schwärmerisch und sehr hübsch war, doch im übrigen für uns nicht in Betracht kommt. Rowena besaß auch noch ein paar jüngere Brüder, mit denen wir uns aber auch nicht weiter zu beschäftigen brauchen.

Die Witwe hatte ein großes Gastzimmer, das sie an einen einzelnen Herrn zu vermieten pflegte, den sie womöglich auch beköstigte; aber jetzt stand das Zimmer zu ihrem Leidwesen schon über ein Jahr leer. Die Sache war nicht ohne Wichtigkeit, denn ihr Einkommen reichte gerade nur für den täglichen Bedarf der Familie aus; jeder kleine Aufwand mußte mit dem Mietsgeld bestritten werden. Doch jetzt endlich, an einem glühend heißen Junitage, kam das Glück, und die lange Wartezeit war zu Ende. Auf ihre ewige Zeitungsanzeige hin hatte sich ein Bewerber gefunden, und nicht einmal jemand hier am Orte – o nein, der Brief kam von weither, aus der unbekannten großen Welt, die im Norden lag – er war aus St. Louis datiert. Tante Patsy saß auf ihrer Veranda, schaute traumverloren den dahin rollenden Wellen des mächtigen Mississippi nach und freute sich ihres Lebens. Es war aber auch ein ganz besonderer Glücksfall, denn sie sollte statt eines Mieters deren zwei bekommen.

Nachdem sie ihren Kindern den Brief vorgelesen hatte, war Rowena fortgehüpft, um der Sklavin Nancy zu sagen, daß sie das Zimmer putzen und lüften sollte, und die Knaben liefen gleich in die Stadt, weil sie die große Neuigkeit überall verkünden mußten. Das öffentliche Interesse war bei der Sache mit im Spiel, und die Leute würden es sehr übel vermerkt haben, hätte man sie nicht davon benachrichtigt. Nicht lange, so kam Rowena wieder; sie glühte über und über vor freudiger Erregung und bat, den Brief noch einmal lesen zu dürfen. Sein Wortlaut war folgender:

»Sehr geehrte Frau!

Zufällig ist uns Ihre Anzeigt zu Gesicht gekommen, und wir – mein Bruder und ich – möchten das Zimmer mieten, das Sie zu vergeben haben. Wir sind Zwillinge, vierundzwanzig Jahre alt und von Geburt Italiener. Doch haben wir lange in verschiedenen Ländern von Europa gelebt und sind jetzt schon seit mehreren Jahren in den Vereinigten Staaten. Wir heißen Luigi und Angelo Capello. – Sie rechnen zwar nur auf einen Gast, geehrte Frau, wenn Sie uns aber gestatten wollen für zwei zu bezahlen, werden wir Ihnen gewiß nicht lästig fallen. Nächsten Donnerstag gedenken wir einzutreffen.«

»Italiener! Wie romantisch! Stelle dir’s nur ‚mal vor, Mama – noch nie ist ein Italiener hier in der Stadt gewesen und alle werden vor Neugierde brennen, sie zu sehen – aber sie gehören uns – uns ganz allein! Welche Ueberraschung, welches Glück!«

»Ja, sie werden viel Aufsehen machen.«

»Das will ich meinen! Die ganze Stadt wird auf dem Kopf stehen. Denke nur – in Europa sind sie gewesen und überall. Solche große Reisende kennt man hier gar nicht. Meinst du wohl, daß sie auch Prinzen und Könige gesehen haben?«

»Wie soll ich das wissen – aber sie werden so wie so alles in Aufregung bringen.«

»O, natürlich. Luigi – Angelo! Was für schöne Namen, wie vornehm und ausländisch das klingt – ganz anders als Jones und Robinson. Am Donnerstag kommen sie, und heute ist erst Dienstag, da müssen wir noch schrecklich lange warten. – Ach, dort macht Herr Richter Driscoll eben das Thor auf. Er hat gewiß auch davon gehört; ich will ihm die Hausthür öffnen.«

Driscoll brachte die besten Glückwünsche und war voller Neugierde. Der Brief wurde vorgelesen und besprochen. Bald stellte sich auch der Amtsrichter Robinson ein und das Lesen und Besprechen begann von neuem. Dies war erst der Anfang. Nun folgten die Nachbarn und Nachbarinnen in langer Reihe; das Kommen und Gehen wollte kein Ende nehmen bis zum Abend und den ganzen Mittwoch und Donnerstag über. Immer wieder wurde der Brief vorgelesen, bis er ganz abgegriffen war. Jedermann bewunderte die höfliche und freundliche Ausdrucksweise, den gefälligen, gewandten Stil; alle waren voll Anteil und gespannter Erwartung, die Familie Cooper wußte sich kaum zu fassen vor Freude und Stolz.

Damals hielten die Dampfer ihre Ankunftszeit bei der Ebbe nie regelmäßig ein. An dem bewußten Donnerstag war das Dampfboot um zehn Uhr abends noch nicht da; den ganzen Tag über hatten die Leute umsonst am Landungsplatz gewartet, und zuletzt wurden sie von einem heftigen Gewitterregen nach Hause getrieben, ohne daß sie die berühmten Fremdlinge zu Gesicht bekommen hatten.

Es schlug elf Uhr. Das Coopersche Haus war das einzige in der ganzen Stadt, wo noch Licht brannte. Der Regen strömte und der Donner grollte, während die besorgte Familie wartete und hoffte. Endlich vernahm man ein Klopfen an der Hausthür und alle sprangen auf. Zwei Neger traten ein, jeder mit einem Koffer auf der Schulter und gingen die Treppe hinauf nach dem Gastzimmer. Ihnen folgten die Zwillinge – wahrlich, so schöne, feingekleidete und vornehm aussehende junge Herren hatte man hier im Westen noch nie erblickt! Einer war etwas blonder als der andere, aber im übrigen das genaue Abbild seines Bruders.