Siebenzehntes Kapitel.

Siebenzehntes Kapitel.

Als Roxana in St. Louis ankam, fand sie ihren Sohn so voller Jammer und Verzweiflung, daß es ihr zu Herzen ging und alle mütterlichen Gefühle sich mächtig in ihr regten. Er war jetzt gänzlich zu Grunde gerichtet, nichts konnte ihn vom drohenden Untergang retten. Mehr braucht eine Mutter nicht, um ihr Kind zu lieben. Doch Tom schrak zurück vor den Beweisen ihrer Zärtlichkeit. Sie war eine Negerin, und es erhöhte nur noch seine Abneigung gegen die verachtete Rasse, daß er ihr selber angehörte.

Roxana überhäufte ihn nach Herzenslust mit Liebkosungen, wobei er sich sehr unbehaglich fühlte. Ihre Versuche, ihn zu trösten, waren alle vergebens. Bald wurden ihm ihre Vertraulichkeiten so unerträglich, daß er sich schon aufraffen wollte, um zu verlangen, sie solle sich in ihren Gefühlsäußerungen beschränken oder sie ganz unterdrücken. Aber er hatte Angst vor ihr und war froh, als sie jetzt von selbst mit den Liebesbezeugungen aufhörte und nachzudenken begann, um einen Rettungsplan zu finden. Nach einer Weile stand sie plötzlich auf und sagte zu Toms unaussprechlicher Freude, sie wisse jetzt einen Ausweg.

»Hör‘ meinen Plan – der gelingt, du sollst’s‘ sehen. Daß ich ’ne Negerin bin, merkt jeder, wenn ich spreche. Ich bin sechshundert Dollars wert. Nimm mich, verkauf mich und zahl‘ deine Spielschulden.«

Tom riß die Augen weit auf, er glaubte nicht recht gehört zu haben. Eine Weile war er wie betäubt, dann sagte er:

»Willst du dich als Sklavin verkaufen lassen, um mich zu retten?«

»Bist du nicht mein Sohn? Alles thut ’ne Mutter für ihr Kind. Es giebt nichts, was ’ne weiße Mutter nicht für ihr Kind thäte. Wie kommt das? Uns‘ Herrgott hat sie so geschaffen. Und wie steht’s mit ’ner Negermutter? Die hat der liebe Gott auch gemacht. Inwendig sind alle Mütter gleich – Ich laß mich als Sklavin verkaufen, und nach’m Jahr zahlst du’s Lösegeld für deine alte Mammy. Wie du’s machen sollst, sag‘ ich dir noch. – Das ist mein Plan.«

Tom schöpfte neue Hoffnung, sein Kleinmut war gewichen.

»Mammy,« sagte er, »das ist wirklich zu lieb von dir – offengestanden –«

»Sag’s noch ‚mal, sag’s immer zu! Kann’s einen größeren Lohn auf Erden geben – nein, ’s ist übergenug. Ach Gottchen, wenn ich fort bin von hier, und ich mich abrackere, und sie mich schimpfen und schlagen, dann denk‘ ich, daß du das irgendwo sagst, und dann halt‘ ich’s schon aus.«

»Schon recht. Ich will’s noch einmal sagen und nicht aufhören, es zu wiederholen, Mammy. Aber, wie kann ich dich verkaufen? Du bist ja freigelassen.«

»Ach, das schadet nichts. Die Weißen nehmen’s nicht so genau. Setz‘ nur einen Zettel auf, weißt du, so ’ne Verkaufsanzeige – und schick ihn weit ins Innere, irgendwo nach Kentucky, unterzeichne ein paar Namen, und schreib‘, du hättest Geld nötig und wolltest mich billig hergeben. Du sollst sehen, ’s geht ganz von selbst. Fahr‘ mit mir ein Stück ins Land hinein und bring‘ mich auf’n Pachtgut. Dort fragen die Leute nicht erst viel hin und her, wenn sie ’nen guten Handel machen können.«

Tom fälschte einen Kaufbrief und kam mit einem Baumwollpflanzer aus Arkansas überein, daß er ihm etwas mehr als sechshundert Dollars zahlen sollte. Für den Preis verkaufte er seine Mutter. Hätte diese gewußt, daß sie flußabwärts, in einen der gefürchteten Sklavenstaaten verkauft werden sollte, dann würde sie gewiß nicht eingewilligt haben. Es war nicht Toms Absicht gewesen, solchen Verrat zu begehen; aber der Zufall hatte ihm den Mann in den Weg geführt, und so brauchte er nicht erst lange im Lande herumzufahren, um einen Käufer zu suchen, der vielleicht erst allerlei Erkundigungen eingezogen hätte. Der Pflanzer vom Süden dagegen sparte sich alle Fragen, denn Roxy gefiel ihm ausnehmend; auch versicherte er Tom, sie solle zuerst gar nichts davon merken, wohin sie geraten sei. Entdeckte sie es dann auch später, so hätte sie sich schon eingelebt und würde sich zufrieden geben. Tom beschwichtigte seine etwaigen Bedenken mit dem Vorwande, daß es doch für Roxy von ungeheuerm Vorteil sei, einen Herrn zu bekommen, der so großes Gefallen an ihr fände, wie der Pflanzer, und es dauerte nicht lange, so hatte er sich halb und halb eingeredet, er thäte Roxy einen heimlichen Dienst damit, daß er sie ›flußabwärts‹ verkaufte. »Es ist ja nur auf ein Jahr,« sagte er sich immer wieder. »In einem Jahr schicke ich ihr das Lösegeld, bei diesem Gedanken wird sie sich beruhigen.« Was konnte der kleine Betrug denn eigentlich schaden? Schließlich würde die Sache doch ein für alle Teile befriedigendes Ende nehmen.

Auf beiderseitiges Uebereinkommen war in Roxys Gegenwart nur immer von des Käufers Pachtgut im Norden die Rede, das so freundlich gelegen sei, und wo sich die Sklaven so wohl befänden. Die arme Roxy wurde auf diese Weise gänzlich getäuscht; es fiel ihr auch nicht im Traum ein, daß ihr Sohn solche Tücke gegen eine Mutter üben könnte, die sich freiwillig ihm zuliebe in die Sklaverei begab. Welcher Art diese Sklaverei auch sein mochte, ob leicht oder schwer, ob von kurzer oder langer Dauer – jedenfalls brachte sie ein ungeheures Opfer. Mit tausend Thränen und Liebkosungen nahm sie unter vier Augen Abschied von Tom und folgte dann ihrem künftigen Gebieter, zwar schweren Herzens, aber doch stolz auf das, was sie that, und froh, daß sie im stande war, es zu vollbringen.

Tom befriedigte seine Gläubiger und beschloß, sich streng an die Vorschriften zu halten, die ihm zur Richtschnur für seine Besserung dienten, damit er sich nie wieder der Gefahr aussetzte, enterbt zu werden. Dreihundert Dollars behielt er noch übrig; der Plan seiner Mutter ging dahin, daß er diese Summe sicher verwahren und regelmäßig die Hälfte seines Monatsgeldes dazu thun sollte. Mit dem so gewonnenen Kapital konnte er ihr nach einem Jahr die Freiheit zurückkaufen.

Eine ganze Woche lang fand er keinen ruhiger Schlaf, weil die Niederträchtigkeit, die er gegen seine ahnungslose Mutter begangen hatte, auf dem erbärmlichen Rest seines Gewissens lastete; dann aber begann er sich wieder behaglich zu fühlen und konnte bald so gut schlafen, wie andere Uebelthäter auch.

Als das Boot eines Abends mit Roxy von St. Louis abfuhr, stand sie an dem untern Geländer hinter dem Radkasten. Die Thränen trübten ihren Blick, doch sie schaute nach Tom aus, bis er unter der Menge am Ufer verschwand; dann sah sie nicht mehr ins Weite, sondern setzte sich auf eine Rolle Tauwerk und schluchzte bis tief in die Nacht hinein. Ohne Zweifel würde sie sonst gemerkt haben, daß sie nicht den Strom aufwärts fuhr. Hatte sie doch jahrelang auf einem Dampfboot in Dienst gestanden – wie wäre ihr das entgangen? Als sie endlich nach der schmutzigen Koje im Zwischendeck hinunterging, die neben der klappernden Maschine lag, konnte sie nicht schlafen, sondern wartete nur bekümmerten Herzens auf den dämmernden Morgen.

Sobald es hell wurde, stand sie auf und nahm teilnahmlos oben wieder auf dem Tauwerk Platz. Die Wellen brachen sich an manchem Baumstamm im Fluß und die Strömung, die in derselben Richtung ging wie das Boot, hätte ihr leicht eine Thatsache verraten können, die sie mit Schauder erfüllen mußte, doch sie gab nicht acht darauf, weil ihr zu viel andere Dinge im Sinn lagen. Endlich aber weckte eine stärkere Brandung in nächster Nähe sie aus ihrer Versunkenheit; sie sah empor, und ihr geübtes Auge erkannte sogleich, nach welcher Seite die Flut trieb. Einen Moment starrte sie wie versteinert in den Strom hinaus, dann ließ sie den Kopf auf die Brust sinken und stöhnte laut:

»O, du grundgütiger Gott im Himmel, erbarm‘ dich meiner armen Seele – ich bin flußabwärts verkauft

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Die langen Sommerwochen schlichen träge dahin, dann aber begann eine politische Wahlschlacht, die mit großem Eifer eröffnet wurde, und bei der die Gemüter sich mehr und mehr erhitzten. Die Zwillinge stürzten sich über Hals und Kopf hinein, denn ihre Eigenliebe kam mit ins Spiel. Auf die maßlose Gunst, die man ihnen zu Anfang von allen Seiten entgegengebracht hatte, war ein sehr natürlicher Rückschlag erfolgt. Außerdem aber fing man an sich hier und da zuzuflüstern, es sei doch höchst seltsam, daß ihr wunderbares Dolchmesser nicht wieder zum Vorschein komme. – Ob es wirklich so wertvoll sei? – Ob es denn überhaupt je vorhanden gewesen? – Dabei blinzelten die Leute einander verständnisvoll zu, kicherten und stießen sich mit den Ellbogen – lauter Dinge, die ihren Einfluß auf das große Publikum nicht verfehlten. Die Zwillinge waren der Ansicht, daß ein günstiges Wahlergebnis sie wieder zu Ehren bringen, eine Niederlage ihnen dagegen einen Schaden zufügen werde, der nicht wieder gut zu machen sei. Deshalb strengten sie alle ihre Kräfte an, aber der Richter Driscoll und Tom arbeiteten ihnen mit ebenso großem Eifer entgegen, besonders während der letzten Tage vor der Abstimmung. Tom hatte sich zwei Monate lang so musterhaft betragen, daß sein Onkel ihm jetzt nicht nur Geld anvertraute, um den Wählern die richtige Ueberzeugung beizubringen, sondern er gestattete ihm jetzt sogar, sich die Summen selbst aus dem eisernen Schrank im Studierzimmer herauszunehmen.

Richter Driscoll hielt die Schlußrede in dem ganzen Wahlfeldzug und trat dabei als Widersacher der beiden Fremden auf. Die Wirkung, die er erzielte, war geradezu vernichtend. Er strömte ganze Fluten von Hohn und Spott über sie aus und zwang die große Massenversammlung zu lautem Gelächter und Beifallsklatschen. Nachdem er ihre glänzenden Titel erbarmungslos der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, nannte er sie Abenteurer, Marktschreier, Helden der Schaubude, verkleidete Barbiergesellen, herumziehende Leierkastenmänner, denen ihr Affe abhanden gekommen sei, und Hausierer, die sich als vornehme Herren aufspielten. Zuletzt machte er eine Pause; er schwieg ganz still, bis die Zuhörer vor Erwartung den Atem anhielten, und schoß dann seinen tödlichsten Pfeil ab. Er that es mit eisiger Ruhe und legte auf die letzten Worte noch einen ganz besonderen Nachdruck. Die ausgeschriebene Belohnung für das verlorene Dolchmesser, sagte er, sei nichts als Schwindel und leeres Gewäsch, der Eigentümer würde schon wissen, wo es zu finden wäre, sobald er nur einmal Veranlassung hätte, einen Menschen umzubringen.

Damit stieg Driscoll von der Rednerbühne herab, aber nicht unter dem gewöhnlichen Zuruf und Beifallklatschen seiner Partei. Eine dumpfe, lautlose Stille herrschte in der erstaunten Versammlung.

Die seltsame Schlußbemerkung des Richters verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt und erregte das ungeheuerste Aufsehen. Jeder fragte, was sie wohl zu bedeuten habe, aber man fragte und verwunderte sich vergeblich. Driscoll äußerte zwar, er wisse, wovon er rede, erklärte sich aber nicht deutlicher. Tom versicherte, er habe keine Ahnung, was seines Onkels Worte heißen sollten, und so oft man Wilson um seine Ansicht fragte, half er sich damit, daß er den Spieß umkehrte und den Frager bat, ihm doch seine Meinung darüber zu sagen.

Wilsons Wahl ging durch, aber die Zwillinge erlitten eine gänzliche Niederlage; sie sahen sich von aller Welt verlassen, und kein Mensch nahm sich mehr ihrer an. Tom konnte nun hochbeglückt nach St. Louis zurückkehren.

In Dawson war man infolge dieser Ereignisse sehr der Ruhe bedürftig und eine Woche lang blieb auch alles still. Doch herrschte immerhin eine gewisse Aufregung in den Gemütern, denn Gerüchte von einem neuen Duell schwirrten durch die Luft. Der alte Driscoll hatte sich während der Wahlbewegung überanstrengt, aber man versicherte, sobald er wieder wohl genug sei, werde ihm Graf Luigi eine Herausforderung schicken.

Die Brüder zogen sich ganz von allem Verkehr zurück und grämten sich in der Stille über ihre Demütigung. Sie vermieden es sorgfältig, den Leuten zu begegnen und gingen nur spät abends aus, um frische Luft zu schöpfen, wenn es leer und einsam auf den Straßen war.

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Am Freitag nach der Wahl war Regenwetter in St. Louis. Es strömte vom Morgen bis zum Abend, was nur vom Himmel herunter wollte, gerade als hätte der Regen sich vorgenommen, die rußgeschwärzte Stadt weiß zu waschen, was ihm freilich nicht gelang. Gegen Mitternacht kam Tom Driscoll bei dem stärksten Guß aus dem Theater nach seiner Wohnung zurück; er machte seinen Schirm zu, um die Hausthür zu öffnen, als er sie aber hinter sich schließen wollte, merkte er, daß noch jemand eintrat, vermutlich ein anderer Mieter. Der Unbekannte machte die Thür zu und stieg nach ihm die Treppe hinauf. Als Tom seine Stubenthür im Dunkeln gefunden hatte, zündete er drinnen das Gas an, pfiff leise eine Melodie vor sich hin und drehte sich gemächlich um. Da sah er einen Mann, der ihm den Rücken zukehrte und eben die Thür hinter ihm abschloß; Tom hörte auf zu pfeifen, ihm ward unbehaglich zu Mute. Jetzt wandte sich der Mann zu ihm hin, seine alten schäbigen Kleider waren ganz durchweicht und trieften vom Regen, unter seinem abgetragenen Schlapphut starrte ein schwarzes Gesicht hervor. Tom geriet in entsetzliche Angst, er wollte den Eindringling hinausjagen, aber er konnte kein Glied rühren, die Worte blieben ihm in der Kehle stecken und der andere kam ihm zuvor.

»Mach‘ keinen Lärm,« sagte er mit unterdrückter Stimme, »ich bin deine Mutter.«

Wie vom Blitz getroffen sank Tom auf einen Stuhl.

»Es war schändlich von mir und niederträchtig,« stieß er keuchend hervor, »aber ich glaubte, daß es so am besten wäre – gewiß und wahrhaftig.«

Roxana stand eine Weile regungslos da und sah stumm auf ihn herab, während er, sich vor Scham windend, bald unzusammenhängende Selbstanklagen murmelte, bald jammervolle Versuche anstellte, sein Verbrechen zu erklären und zu beschönigen. Dann setzte sie sich und nahm den Hut ab, so daß ihr langes braunes Haar ihr in dichten, wirren Strähnen über die Schultern fiel.

»Dein Verdienst ist’s nicht, wenn mein Haar nicht grau geworden ist,« sagte sie klagend.

»Ich weiß es, o, ich weiß es – ich bin ein Schurke. Aber ich hielt es für das beste, das schwöre ich. Es war ein Irrtum, aber wirklich, ich dachte, ich könnte nichts besseres thun.«

Roxy begann leise vor sich hin zu weinen und zu schluchzen, dazwischen stieß sie auch Worte aus, aber sie klangen wie Jammerlaute, nicht wie ein zorniger Vorwurf.

»’Nen Menschen nach’m Süden verkaufen – flußabwärts – das beste! – Keinem Hund thät‘ ich’s an. Ganz gebrochen und abgemergelt bin ich – ich kann nicht mal mehr wütend werden, wie früher, wenn man mich geschimpft hat und mit Füßen getreten. Wie’s kommt, weiß ich nicht – mir fehlt scheint’s die Kraft. Kummer liegt mir jetzt näher als Zorn, ich hab‘ zu viel auszustehen gehabt das wird’s wohl sein.«

Ihre Klagen hätten Tom zu Herzen gehen müssen, aber, wenn das der Fall war, so wurde seine Rührung von einem stärkeren Gefühl verschlungen. Die entsetzliche Angst, die auf ihm gelastet hatte, war gewichen, sein gebrochener Mut begann sich neu zu beleben, und seine niedrige Seele atmete auf wie erlöst. Doch schwieg er wohlweislich still und wagte nicht die leiseste Aeußerung zu thun. Eine Weile ward kein Wort gesprochen, man hörte nur, wie draußen der Regen an die Scheiben klatschte, wie der Wind heulte und stöhnte; ab und zu ließ Roxana ein leises Schluchzen hören, das immer seltener wurde und zuletzt ganz verstummte. Dann begann sie wieder zu reden:

»Das Licht ist zu hell. Mach‘ es dunkler. Immer noch mehr. Wer verfolgt wird, mag kein Licht leiden. So ist’s genug, ich brauch‘ nur zu sehen, wo du bist. Jetzt erzähl‘ ich, wie mir’s ergangen ist – ich mach’s so kurz ich kann – und dann werd‘ ich dir sagen, was du thun sollst. – Der Mann, der mich gekauft hat, war nicht schlecht für ’nen Pflanzer. Hätt‘ er seinen Willen haben können, so wär‘ ich ’ne Haussklavin in der Familie gewesen und hätt’s gut gehabt. Aber seine Frau war vom Norden und gar nicht hübsch; sie konnt‘ mich von vornherein nicht leiden, und so wurd‘ ich ins Sklavenquartier geschickt und mußt‘ auf dem Feld arbeiten. Aber dem Weib war auch das nicht genug in ihrer schändlichen Eifersucht; sie steckt sich hinter den Aufseher, und der holt mich ‚raus, eh‘ noch der Morgen graut, läßt mich den ganzen Tag schaffen, bis es dunkel wird und giebt mir seine Peitsche zu kosten, so oft ich’s nicht den Stärksten gleichthu‘. Er kam auch aus dem Norden, aus Neuengland, und was das heißen will, weiß jeder Sklave im Süden. Die verstehen’s, wie man ’nen Neger zu Tode quält und ihm den Rücken blutig schlägt, daß die Striemen fingerdick aufschwellen. Zuerst legte der Massa noch ein gutes Wort ein für mich beim Aufseher, aber da ging mir’s schlecht – das Weib kam dahinter, und nun setzt‘ es Hiebe, wo ich ging und stand – ohne Gnad‘ und Barmherzigkeit.«

In Toms Innern kochte es vor Wut – gegen das Weib des Pflanzers. »Der Henker hole die verdammte Närrin,« fluchte er heimlich, »hätte sie sich nicht eingemischt, wäre alles gut gegangen.«

Der Ingrimm stand ihm im Gesicht geschrieben, und ein Blitz, der in diesem Augenblick das düstere Zimmer taghell erleuchtete, ließ Roxana in seinen Zügen lesen. Sie freute sich darüber, denn bewies dieser Ausdruck nicht, daß ihr Kind das Leiden der Mutter mit empfand und ihre Peiniger verwünschte? – und daran hatte sie stark gezweifelt. Aber der helle Freudenschein verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war und es ward dunkel in ihr. »Er hat mich flußabwärts verkauft,« sagte sie sich, »sein Mitleid verfliegt wie Spreu, es hat keinen Bestand.«

Dann nahm sie ihren Bericht wieder auf:

»Zehn Tage sind’s her, da sagt‘ ich zu mir: lange halt‘ ich’s nicht mehr aus; die höllische Arbeit, die vielen Schläge werden mich umbringen, eh‘ noch ein paar Wochen vorbei sind – so totmatt und elend war mir zu Mut. Wenn das Leben so weiter gehen sollt‘, wär‘ ich viel lieber gestorben, mir war alles einerlei. Ist man erst so weit, dann gilt’s einem auch gleich, was man thut. Da war ein armes, kleines Negermädchen, zehn Jahr alt, die war gut zu mir und hatte keine Mammy und wir hatten uns beide lieb. Sie kam aufs Feld und wollte mir ’ne gebratene Kartoffel zustecken, aus Mitleid, weil sie wußte, daß ich nicht satt zu essen kriegte. Doch der Aufseher ertappt sie dabei, und schlägt sie mit seinem Stock über’n Rücken, der so dick war wie’n Besenstiel, daß sie zu Boden fällt und sich vor Schmerz krümmt und windet. Ich konnt’s nicht mit ansehen. Die ganze Hölle tobte in mir – ich riß dem Mann den Stock aus der Hand und schlug ihn nieder. Da lag er ächzend und fluchend, er rührte kein Glied mehr. Die Neger waren zum Tod erschrocken und kamen und wollten ihm helfen. Ich sprang auf sein Pferd, und fort ging’s zum Fluß wie der Wind. Was mir geschehen würde, wußt‘ ich wohl. Der Mann hätt‘ mich zu Tode geschunden, sobald er wieder auf den Beinen war, wenn’s der Massa zugab. Oder, sie hätten mich weiter flußabwärts verkauft – und das kommt auf eins ‚raus. Da sprang ich lieber ins Wasser und macht‘ meiner Not ein Ende. Es war schon dämmerig geworden und in zwei Minuten kam ich zum Fluß. Da lag ein Kahn am Land, und ich sag‘ zu mir: ›Was soll ich mich ertränken, wenn ich nicht muß‹ und bind‘ das Pferd an’n Baumstamm, stoß‘ den Kahn ins Wasser, fahr‘ immer am steilen Ufer hin und bet‘ zu unserm Herrgott, daß die Nacht mich schnell zudeckt. Ich hatt‘ ’nen guten Vorsprung, denn das große Haus liegt drei Meilen vom Fluß; bis die Neger auf den Arbeitspferden hinkamen und wieder zurück, war es längst dunkel. Sie ritten gewiß nicht zu schnell, um mir Zeit zu lassen. Bei Nacht konnten sie die Pferdespur nicht finden, erst am Morgen würden sie sehen, welchen Weg ich genommen hatte, und lügen würden die Neger auch, so viel sie nur konnten.

Also, die Nacht kam, und ich fuhr immer weiter auf dem Fluß; zwei Stunden lang ruderte ich noch, dann hatt‘ ich keine Angst mehr, ließ mich forttreiben im Strom und dacht‘ mir aus, was ich thun wollte, wenn ich nicht ins Wasser springen müßt‘. Ich machte viele Pläne und überlegte alles hin und her, wie ich so still im Kahn saß. Es mocht‘ wohl bald nach Mitternacht sein und ich war fünfzehn oder zwanzig Meilen gefahren, da sah ich die Lichter von’m Dampfer, der am Ufer lag, es war aber keine Werft da und keine Stadt. Beim Sternenschein konnt‘ ich die Form der Schornsteine erkennen und – o, du meine Güte, auf einmal meint ich doch, ich müßt‘ aus der Haut fahren vor Freude. Es war ja der ›Großmogul ‹, auf dem ich acht Jahre lang Stubenmädchen gewesen bin und der Handel trieb zwischen Cincinnati und New Orleans. Ich fuhr mit dem Kahn dicht ‚ran – aber nirgends rührte sich was. Nur unten im Maschinenraum hört‘ ich ein Geklopf und Gehämmer. Da wußt‘ ich, ’s war was an der Maschine zerbrochen. Ich geh‘ ans Land, laß meinen Kahn treiben und späh‘ nach dem Dampfer hin, bis ich ans Laufbrett komm‘ und an Bord gehen kann. ‚S war ganz unmenschlich heiß. Auf dem Vorderdeck lagen die Leute lang ausgestreckt, der zweite Maat, Jim Bangs, saß auf der Beting, mit dem Kopf in’n Händen und schlief. So hält er immer die Kapitänswache. Und der alte Steuermann Billy Hatch war auf der Kajütentreppe eingenickt. Ich kannte sie alle und Herrje, wie froh war ich! ›Jetzt soll nur der alte Massa kommen und mich fangen‹ dacht‘ ich, ›hier bin ich unter Freunden.‹ Mitten durch geh‘ ich an ihnen vorbei, bis ans Geländer der Damenkajüte und setz‘ mich grad‘ auf denselben Stuhl, wo ich wohl hundertmillionenmal gesessen hab‘. ‚S war mir, als wär‘ ich wieder daheim.

»Keine Stunde währt’s, da bimmelt die Glocke und das Dampfboot wird flott gemacht. Es geht nach St. Louis hinauf, denn das wüßt‘ ich, daß der ›Großmogul‹ jetzt dort anlegt. Die Sonne war grad‘ aufgegangen, da fuhren wir an unserer Pflanzung vorbei, und ich seh‘ ’ne Schar Neger und Weiße am Ufer hin- und herlaufen. Die gaben sich große Mühe mich zu finden, aber mir machte das wenig Sorge.

»Um die Zeit kam Sally Jackson – die jetzt nicht mehr zweites Stubenmädchen war, sondern erstes – ans Schiffsgeländer, und freute sich sehr, mich wiederzusehen und die Offiziere auch. Als ich sagte, man hätt‘ mich geraubt und flußabwärts verkauft, sammelten sie zwanzig Dollars und schenkten sie mir, und Sally gab mir gute Kleider. Wir landeten hier und ich ging gleich nach deiner alten Wohnung und kam dann in dies Haus; man sagte mir, du wärst fort, könntest aber alle Tage wiederkommen. Da wollt‘ ich lieber nicht nach Dawson fahren, ich hätt‘ dich sonst verfehlt.

»Als ich nun letzten Montag in der Vierten Straße an ’ner Schenke vorbeikomm‘, wo sie die Zettel ankleben, wenn ein Neger entlaufen ist, – da seh‘ ich meinen Massa. Ich dacht‘, ich sollt‘ in die Erde sinken. Er stand mit dem Rücken nach mir und sprach mit ’nem Mann, dem gab er solchen Neger-Zettel. Die entlaufene Negerin, das war ich und er setzte wohl ’ne Belohnung für sie aus – was meinst du – hab‘ ich nicht recht?«

Tom war allmählich in immer grauenvollere Angst geraten. »Ich bin verloren,« dachte er, »mag die Sache sich wenden wie sie will. Der Pflanzer sagte mir, der ganze Kauf käme ihm verdächtig vor. Ein Fahrgast vom ›Großmogul‹ hätte ihm geschrieben, Roxy sei auf dem Dampfer hierher gekommen, und alle an Bord wüßten, wie sich die Sache verhielte. Daß sie nicht nach einem Freistaat geflohen sei, sei schlimm für mich, und wenn ich ihm nicht rasch behilflich wäre, sie wiederzufinden, wollte er mich schon in die Klemme bringen. Anfangs glaubte ich die ganze Geschichte nicht. Meiner Mutter konnte ich’s nicht zutrauen, daß sie so gefühllos sein würde, wieder herzukommen, da sie doch wissen mußte, welcher Gefahr sie mich aussetzte. Und nun ist sie doch hier! – Wäre ich nur nicht so dumm gewesen, ihm zu geloben, daß ich ihm helfen würde, sie zu suchen. Ich hab’s ihm ganz ruhig versprochen, weil ich mir einbildete, es könnte nichts schaden. Wenn ich sie ihm nun ausliefere, so wird sie – aber, wie kann ich’s ändern? Thue ich’s nicht, so muß ich das Geld zahlen und wo soll ich’s hernehmen? – Könnte ich ihn nicht zwingen, mir zu schwören, daß er sie von jetzt ab gut behandeln wird – sie sagt ja selbst, er ist kein böser Mensch, und wenn er verspräche, daß sie nie wieder überarbeitet und schlecht genährt werden soll oder –«

Ein greller Blitz beleuchtete Toms bleiches Gesicht; man las die quälenden Gedanken in seinen verzerrten Zügen.

»Dreh‘ das Gaslicht auf, damit ich dich besser sehen kann,« befahl jetzt Roxana mit scharfem Ton, obgleich ihre Stimme bebte. »So – nun laß dich mal betrachten. Du siehst ja so weiß aus wie dein Hemd, Schamber. – Hast du den Mann gesehen? Hat er dich aufgesucht?«

»I – ja.«

»Wann?«

»Montag mittag.«

»War er mir auf der Spur?«

»Er – glaubte und hoffte es. Hier ist der Zettel, den du gesehen hast.« Tom nahm ihn aus der Tasche.

»Lies ihn mir vor.«

Sie keuchte vor Aufregung und in ihren Augen lag ein düsterer Glanz, der Tom nicht ganz verständlich war – ihm jedoch bedrohlich schien. Auf dem Zettel sah man den gewöhnlichen rohen Holzschnitt, der eine laufende Negerin mit dem Turban auf dem Kopf darstellte, welche ein Bündel an einem Stock über der Schulter trug. Darüber stand in großen Buchstaben geschrieben: Hundert Dollars Belohnung. Tom las die Anzeige laut vor – wenigstens den Teil, der Roxanas Beschreibung enthielt, sowie die Adresse ihres Herrn in St. Louis und diejenige seines Agenten in der Vierten Straße. Die Stelle aber, welche besagte, daß die Bewerber um die Belohnung sich auch an Herrn Thomas Driscoll wenden könnten, unterdrückte er klüglich.

»Gieb mir den Zettel!«

Tom hatte ihn eben zusammengefaltet, um ihn in die Tasche zu stecken. Es lief ihm kalt über den Rücken, doch sagte er mit der gleichgültigsten Miene von der Welt:

»Wozu? Du kannst ihn ja doch nicht lesen. Was soll er dir nützen?«

»Gieb mir den Zettel!« Tom that es; doch merkte sie ihm sein Zögern an. »Hast du mir auch alles vorgelesen?«

»Jawohl, gewiß.«

»Halt‘ die Hand in die Höhe und schwöre mir’s.«

Nachdem Tom auch dies gethan hatte, steckte Roxana das Papier sorgfältig ein. Die ganze Zeit über verwandte sie jedoch kein Auge von Toms Gesicht.

»Du lügst!« sagte sie.

»Weshalb sollte ich denn wohl lügen?«

»Das weiß ich nicht – aber du lügst – wenigstens glaub‘ ich’s. Doch darum handelt’s sich jetzt nicht. Als ich den Mann sah, bekam ich solchen Schreck, ich könnt‘ kaum noch auf den Beinen, stehen. Dann gab ich ’nem Neger einen Dollar für die Kleider hier, und seitdem bin ich in kein Haus mehr gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht. Ich schwärzte mein Gesicht und verbarg mich tags im Keller von ’nem alten abgebrannten Haus und nachts kroch ich zwischen die Zuckerfässer und Kornsäcke auf der Werft und stahl was ich brauchte, um meinen Hunger zu stillen. Was zu kaufen getraut‘ ich mir nicht und bin schier verschmachtet. Auch hierher dürft‘ ich mich erst heut wagen, in dieser Regennacht, wo kaum ein Mensch unterwegs ist. Seit es dunkel wurde, hab‘ ich drüben in der Gasse gestanden und gewartet, daß du vorbeikommen solltest. Und nun bin ich hier.«

Sie verlor sich eine Weile in Gedanken, dann fragte sie:

»Letzten Montag mittag hast du den Mann gesehen?«

»Ja.«

»Ich sah ihn am selben Nachmittag. Nicht wahr, er hat dich aufgesucht?«

»Ja.«

»Hat er dir gleich den Zettel gegeben?«

»Nein, damals war er noch nicht gedruckt.«

Roxana warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Hast du ihm nicht geholfen, die Schrift aufzusetzen?« Tom war innerlich wütend, daß er sich so dumm verschnappt hatte und suchte es wieder gut zu machen, indem er sagte, er erinnere sich jetzt, daß der Mann ihm den Zettel doch am Montag mittag gegeben habe.

»Jetzt lügst du wieder,« sagte Roxana. Dann richtete sie sich hoch empor. »Ich will dir ’ne Frage vorlegen, der kannst du nicht ausweichen,« fuhr sie fort. »Du weißt, daß er mich verfolgt, und wenn du fortläufst, statt hier zu bleiben und ihm zu helfen, so argwöhnt er sicher, daß etwas mit dem Handel nicht in Ordnung ist. Dann erkundigt er sich nach dir, man weist ihn an deinen Onkel, der liest den Zettel und sieht, daß du ’ne freie Negerin flußabwärts verkauft hast. Du kennst deinen Onkel. Er zerreißt sein Testament auf der Stelle und jagt dich zum Haus ’naus. Nun sag‘ mal, wie steht’s: Hast du dem Mann nicht gesagt, ich würd‘ gewiß hierher kommen, dann wolltest du’s schon so einrichten, daß er mich in ’ne Falle locken und fangen könnt‘?«

Tom sah ein, daß weder Lügen noch Ausreden ihm mehr helfen würden – er saß fest wie im Schraubstock und konnte sich nicht rühren. Sein Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an und er sagte mit verbissenem Ingrimm:

»Was hätte ich denn anders thun können? Du siehst ja selbst, daß ich in seiner Gewalt war und mir kein Ausweg blieb.«

Roxy durchbohrte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Was du thun konntest? – An deiner eigenen Mutter konntest du zum Judas werden, um deine erbärmliche Haut zu retten! Sollte man’s für möglich halten! Kein Hund wär’s im stande. Du bist das niederträchtigste, elendeste Geschöpf, was die Sonne bescheint. Und ich hab‘ dich geboren! –« dabei spie sie ihn an.

Tom machte keinen Versuch sich aufzulehnen. Nach kurzer Ueberlegung fuhr Roxy fort:

»Jetzt werd‘ ich dir sagen, was du thun sollst: Du giebst dem Mann das Geld, das du in Verwahrung hast, und bittest ihn, auf den Rest zu warten, bis du ihn vom Richter Driscoll holen kannst, um mich loszukaufen.«

»Schockschwerenot! Wo denkst du hin? Von meinem Onkel soll ich dreihundert und etliche Dollars fordern? Was könnte ich ihm denn sagen, wozu ich sie brauche, he?«

Roxys Antwort kam in klaren, bestimmten Worten:

»Du sagst ihm, daß du mich verkauft hast, um deine Spielschulden zu zahlen, daß du ein Schurke bist, der mich belogen hat, und ich dich zwinge, das Geld zu schaffen, um mich wieder frei zu machen.«

»Bist du denn ganz von Sinnen? – Er würde ja sein Testament in tausend Fetzen reißen das mußt du doch wissen.«

»Ja, ich weiß es.«

»Und du glaubst, daß ich dumm genug sein werde, zu ihm zu gehen?«

»Von glauben ist nicht mehr die Rede – ich weiß, du wirst’s thun. Ich weiß es – weil kein Zweifel ist, daß, wenn du das Geld nicht beibringst, ich selbst zu ihm gehe. Dann wird er dich flußabwärts verkaufen, und du kannst sehen, wie dir’s behagt.«

Zitternd vor Erregung stand Tom auf und schritt nach der Thür; sein Auge hatte einen bösen Blick. Er sagte, er müsse einen Moment ins Freie gehen, in der Stickluft des Zimmers könne er es nicht mehr aushalten. Draußen werde es ihm klarer im Kopf werden, da wolle er überlegen, was zu thun sei. Roxy lächelte ingrimmig über seinen vergeblichen Versuch, die Thür zu öffnen.

»Ich hab‘ den Schlüssel, Söhnchen – setz‘ dich nur wieder,« sagte sie. Du brauchst gar nicht erst zu überlegen, was du thun willst – ich weiß schon, was du thust.«

In hilfloser Verzweiflung saß Tom da und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Nach einer Weile fragte Roxy: »Ist der Mensch hier im Haus?«

Tom sah sie erstaunt an: »Hier! Wie kommst du darauf?«

»Durch dich. Frische Luft schöpfen – ja wohl! Die Bosheit steht dir im Gesicht geschrieben. Du bist der erbärmlichste Hund, den je – aber das hab‘ ich dir schon mal gesagt. – Also, heut ist Freitag. Du verabredest mit dem Mann, daß du fortgehen willst, das Geld zu holen und Dienstag oder Mittwoch damit zurückkommst. Verstehst du mich?«

»Ja,« antwortete Tom mit finsterer Miene.

»Und wenn du den neuen Kaufbrief hast, in dem steht, daß ich wieder frei bin, schickst du ihn gleich an Herrn Querkopf Wilson, und schreibst auf den Umschlag, er soll ihn behalten, bis ich komm‘. Hörst du?« »Ja.«

»Das ist also abgemacht. Jetzt setz‘ deinen Hut auf und nimm den Regenschirm.«

»Wozu?«

»Weil du mich bis zur Werft begleiten sollst. Siehst du dies Messer? Ich trag’s bei mir seit dem Tag, als ich den Mann sah; zugleich mit den Kleidern hab‘ ich’s mir gekauft. Wenn er mich fangen würde, wollt‘ ich mich damit umbringen. Nun geh‘ voran, aber vorsichtig; und wenn du hier im Haus ein Zeichen giebst, oder jemand dich auf der Straße anredet, stoß‘ ich dich mit dem Messer nieder. Glaubst du mir, Schamber, daß ich thu‘, was ich sag‘?«

»Laß doch die langweilige Frage. Ich weiß, daß dein Wort gilt!«

»Ja, ganz anders wie deins. Nun mach‘ das Licht aus und komm – hier ist der Schlüssel.«

Kein Mensch folgte ihnen. Tom erbebte jedesmal, wenn ein verspäteter Wanderer an ihnen vorüberstreifte und glaubte schon den kalten Stahl im Rücken zu fühlen. Roxy blieb ihm dicht auf den Fersen, um ihn nicht aus ihrem Bereich zu lassen. So gingen sie über eine Meile weiter, bis in eine ganz öde Gegend der menschenleeren Werft; da trennten sie sich bei strömendem Regen in der Dunkelheit.

Während des Heimwegs stürmten hundert schwere Gedanken und wilde Pläne auf Tom ein, zuletzt kam er jedoch zu dem trübseligen Schluß: »Es giebt nur den einen Ausweg – ich muß ihr den Willen thun. Aber etwas anders werde ich die Sache doch anfangen. Ich will nicht um das Geld bitten und mich zu Grunde richten – ich will es dem alten Geizhals stehlen.«

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Mit der kleinen Summe Geldes, die Wilson bei seiner Ankunft besaß, kaufte er eins der letzten Häuschen am äußersten Westende der Stadt. Von dem Driscollschen Wohnhaus trennte ihn nur ein großer, mit Gras bewachsener Hof, den ein Lattenzaun in zwei Hälften teilte. Sein Geschäftsbureau mietete er unten in der Stadt und hing ein Blechschild heraus, auf dem zu lesen stand:

David Wilson,
Rechtsanwalt und Notar.
Ausfertigung von gerichtlichen Urkunden, Kostenanschlägen
u. s. w.

Aber jene erste unglückselige Bemerkung hinderte sein Fortkommen als Advokat gänzlich. Es stellten sich keine Klienten ein. So nahm er denn das Schild nach einer Weile wieder herunter und hing es mit veränderter Inschrift an seinem eigenen Hause auf. Er bot jetzt dem Publikum seine bescheidenen Dienste als Landmesser, Buchhalter und Rechnungsführer an. Gelegentlich bekam er auch Arbeit: ein Feld zu vermessen oder die Bücher eines Kaufmanns in Ordnung zu bringen. Mit echt schottischer Geduld und Ausdauer nahm er sich vor, seinem ungünstigen Ruf zum Trotze es doch noch einmal zu einer Anwaltspraxis zu bringen. Der arme Mensch konnte freilich nicht voraussehen, welche jahrelange Mühsal ihn das kosten würde.

Er hatte natürlich großen Ueberfluß an müßiger Zeit, aber das lastete nicht schwer auf ihm; denn für jede neue Erfindung auf geistigem Gebiet interessierte er sich eifrig und stellte sofort die darauf bezüglichen Versuche bei sich daheim an. Zu seinen besonderen Liebhabereien gehörte es, die Linien der menschlichen Hand zu entziffern. Er hatte auch noch ein anderes Steckenpferd, das er anscheinend nur zur Unterhaltung betrieb, denn den eigentlichen Zweck desselben wollte er niemand erklären, auch gab er ihm keinen Namen. Seine Liebhabereien – das hatte er bald herausgefunden – trugen nur noch mehr dazu bei, ihn in den Ruf eines Querkopfs zu bringen, und so hütete er sich wohl, zu viel davon laut werden zu lassen. Das Steckenpferd ohne Namen war eine Sammlung von Abdrücken der Fingerspitzen verschiedener Leute. In seiner Rocktasche führte Wilson immer einen flachen Kasten bei sich, welcher innen Falze hatte, in denen fünf Zoll breite Glasplättchen steckten. Auf jedem der Gläser war unten ein Stück weißes Papier aufgeklebt. Nun bat er irgend jemand, sich mit der Hand durchs Haar zu fahren, (wodurch sich etwas von dessen natürlicher Fettigkeit den Fingern mitteilte) und zuerst den Daumen, dann jede einzelne Fingerspitze der Reihe nach auf einem Glasplättchen abzudrücken. Auf dem Zettel unter den fünf schwachen Fettflecken, die so entstanden, verzeichnete er genau Namen, Jahr und Datum, z. B.: John Smith, rechte Hand – nahm dann den Abdruck von Smiths linker Hand auf einer andern Glasplatte und notierte auch dies pünktlich auf dem weißen Zettel. Beide Gläser kamen nun wieder in den Kasten und wurden Wilsons Sammlung einverleibt. Er nannte sie seine ›Protokolle‹ und war oft stundenlang, ja bis tief in die Nacht hinein beschäftigt, sie mit der größten Genauigkeit zu prüfen und zu untersuchen. Ob er aber irgend etwas darin entdeckte, und was das möglicherweise sein konnte, verriet er niemand. Manchmal zeichnete er auch eins der so gewonnenen, zarten, verschlungenen Muster des obersten Fingergliedes auf Papier und machte dann eine riesige Vergrößerung davon mit Hilfe des Storchschnabels, so daß er das Gewebe der geschweiften Linien ganz ohne Mühe nach Belieben betrachten konnte. An einem drückend heißen Nachmittag – es war der erste Juli 1830 – saß er in seinem Studierzimmer, das, nach Westen gelegen, auf eine Anzahl leerer Baustellen hinausging. Neben ihm lag ein Stoß Rechnungsbücher, die er in Ordnung bringen sollte. Ein Gespräch, das draußen geführt wurde, störte ihn bei der Arbeit. Die beiden Personen mußten nicht dicht beisammen sein, denn sie schrieen einander laut zu.

»Sag‘ mal, Roxy, was macht dein Kleiner, gedeiht er gut?« tönte es von fern her.

»Das will ich meinen, und du, Jasper, bist du auch auf dem Strumpf?« schrie es in nächster Nähe.

»Na, es macht sich, kann nicht klagen. Bald komm ich zu dir, Roxy, ich will dich freien.«

»Untersteh‘ dich, du abscheulicher Schmutzfink! Hahaha! Das fehlte mir noch, mich mit so ’nem schwarzen Nigger abzugeben wie du einer bist. Der alten Tante Cooper ihre Nancy hat dir wohl den Laufpaß gegeben?« Roxys sorgloses Gelächter schallte wieder hell durch die Luft.

»Bist eifersüchtig, Roxy! Wahrhaftig ja – hahaha! Hab’s erraten, du Dirne!«

»Oho, was du dir nicht einbild’st! – Gieb nur acht, daß dein Dünkel nicht nach innen schlägt, sonst bringt er dich noch um. Wenn du mir gehören thätest, verkaufte ich dich lieber heut wie morgen flußabwärts – du treibst’s zu bunt. Wart‘ nur, ich sag‘ deinem Herrn, er soll’s thun, sobald ich ihn seh‘.«

So ging dies leere müßige Geschwätz noch endlos fort, denn die beiden fanden ihr Wortgefecht sehr unterhaltend und witzig und waren stolz auf die schlagfertigen Antworten, die sie gaben.

Wilson trat ans Fenster, um das Paar näher zu betrachten. Bis das Geplapper aufgehört hatte, konnte er doch nicht arbeiten.

Drüben auf dem Bauplatz in der glühenden Sonne saß Jasper, ein junger kohlschwarzer Neger von prächtigem Wuchs, auf einem Schiebkarren. Statt seinem Geschäft nachzugehen, ruhte er erst ein Stündchen aus, um zum Beginn der Arbeit Kräfte zu sammeln. Vor Wilsons Veranda aber stand Roxy neben dem nach Landessitte geflochtenen Kinderwagen, worin ihre beiden Pflegebefohlenen, jeder an einem Ende, einander gegenüber saßen. Nach Roxys Redeweise zu urteilen, hätte man sie für eine Schwarze halten sollen, aber da irrte man sich gewaltig. Was etwa farbig an ihr war – höchstens der sechzehnte Teil – das sah man nicht. Ihre hohe Gestalt, ihre stolze Miene und Haltung machten einen majestätischen Eindruck; in jeder Bewegung, jeder Gebärde prägte sich edle Anmut und Würde aus. Sie war sehr weiß und zart, die Wangen rosig angehaucht von Kraft und Gesundheit, auch hatte sie ein wohlgeformtes, kluges, anziehendes Gesicht, charakterfeste ausdrucksvolle Züge, braune, feuchtschimmernde Augen und schönes braunes Haar, dessen üppige Fülle sie jedoch unter einem buntkarierten Tuch verbarg, das sie turbanartig um den Kopf gebunden trug. Ihr Benehmen unter ihresgleichen war frei und ungezwungen, doch dabei etwas herrisch und von oben herab; aber natürlich war sie in Gegenwart weißer Leute die Demut und Fügsamkeit selbst.

Dem Ansehen nach war Roxy wirklich so weiß, wie man nur irgend sein konnte, aber ihr eines farbiges Sechzehntel schlug alle anderen fünfzehn Sechzehntel aus dem Felde und machte sie zur Negerin, zur verkäuflichen Sklavin. An ihrem Kinde war sogar nur ein Zweiunddreißigstel farbig, aber es galt dennoch nach Gesetz und Sitte für einen Neger und Sklaven. Es harte blaue Augen und blonde Locken, wie sein kleiner weißer Altersgenosse; aber selbst der Vater des weißen Knaben, der sich nur wenig um die Kinder bekümmerte, konnte sie an der Kleidung unterscheiden: der kleine Weiße trug ein feines, reich mit Falbeln besetztes Musselinkleidchen und ein Korallenhalsband, während der andere keinerlei Schmuck besaß und nur ein grobes leinenes Hemd anhatte, das ihm kaum bis zu den Knieen reichte. Der weiße Knabe hieß Thomas à Becket Driscoll, der andere Valet de Chambre, ohne Vatersnamen – den durfte kein Sklave führen. Roxana hatte die Benennung irgendwo aufgeschnappt; der Klang gefiel ihr, und da sie glaubte, es sei ein Rufname, beglückte sie ihren Liebling damit. Natürlich wurde er bald in ›Schamber‹ abgekürzt.

Wilson hatte Roxy schon öfters gesehen, und als sich das Wortgeplänkel zu Ende neigte, trat er vors Haus, um ein paar Abdrücke zu sammeln. Sobald Jasper ihn gewahrte, gab er seinen Müßiggang auf und ging eifrig an die Arbeit, während Wilson die Kinder in Augenschein nahm.

»Wie alt sind sie, Roxy?« fragte er.

»Beide gleich alt, – gerade fünf Monat. Am ersten Februar geboren.«

»Ein paar nette Kerlchen. Einer so hübsch wie der andere.«

Roxy lachte vor Vergnügen übers ganze Gesicht und zeigte ihre weißen Zähne. »Schönen Dank, Massa Wilson, wie gut von Ihnen, das zu sagen, denn einer ist ja bloß ein Neger, wissen Sie. Der niedlichste kleine Neger von der Welt, sag‘ ich immer, aber natürlich nur, weil es meiner ist.«

»Wie unterscheidest du sie denn, Roxy, wenn sie keine Kleider anhaben?«

Sie brach in ein ungeheures Gelächter aus.

»O, ich kenne sie schon von einander; aber Massa Percy – da wett‘ ich drauf – der könnte sie nicht unterscheiden – um keinen Preis, nein, nein.«

Wilson plauderte noch ein Weilchen fort, dann nahm er einen Abdruck von Roxys Fingerspitzen für seine Sammlung – rechte Hand und linke Hand – auf zwei Glasplättchen, schrieb Namen und Datum auf den Zettel und machte es mit den Händchen der Kleinen ebenso.

Zwei Monate später, am dritten September, ließ er sich die Abdrücke des Dreiblatts noch einmal geben. Bei Kindern pflegte er in kürzeren Pausen die Aufnahmen vorzunehmen, bei älteren Leuten in Pausen von einigen Jahren.

Tags darauf – das heißt am vierten September – fand ein Ereignis statt, das einen tiefen Eindruck auf Roxana machte. Herr Driscoll vermißte abermals eine kleine Summe Geldes – womit angedeutet werden soll, daß das nichts Neues war, sondern sich schon mehrmals wiederholt hatte; es geschah bereits zum vierten Mal.

Driscoll verlor endlich die Geduld. Er war kein hartherziger Mann; Sklaven und andere Tiere behandelte er stets mit Milde, gegen irrende Brüder von seiner eigenen Rasse zeigte er sogar große Nachsicht. Aber Unredlichkeit verabscheute er, und offenbar war ein Dieb im Hause. Es konnte nur einer seiner Neger sein. Da galt es scharfe Maßregeln zu ergreifen. Er rief die Dienerschaft zusammen, welche außer Roxy noch aus drei Personen, einem Mann, einer Frau und einem zwölfjährigen Knaben bestand; verwandtschaftliche Beziehung hatten sie nicht zu einander.

»Ich habe euch alle schon mehrmals gewarnt, aber es ist umsonst gewesen. Diesmal will ich Ernst machen. Der Dieb wird verkauft. Wer von euch ist der Schuldige?«

Es schauderte ihnen bei dieser Drohung; hier waren sie gut aufgehoben, jeder Wechsel brachte höchst wahrscheinlich eine Verschlechterung. Alle leugneten standhaft. Niemand hatte etwas gestohlen – wenigstens kein Geld – vielleicht ein Stückchen Zucker oder Kuchen, einen Löffel Honig oder dergleichen, worauf es Massa Percy nicht weiter ankam – aber kein Geld – auch nicht einen Cent. Sie beteuerten es mit großer Zungengeläufigkeit, allein Herr Driscoll ließ sich nicht rühren. »Nenne den Dieb!« war alles, was er jedem mit strenger Stimme erwiderte.

Thatsächlich waren alle schuldig, außer Roxana, die zwar argwöhnte, daß die andern den Diebstahl begangen hatten, es aber nicht gewiß wußte. Ihr graute, wenn sie bedachte, wie nahe daran sie selbst gewesen war, das Geld zu nehmen; nur der Bußtag in der Methodistenkirche der Farbigen vor vierzehn Tagen hatte sie noch im letzten Augenblick davor behütet. Gerade am Tage nach diesem Gottesdienst, während sie noch ihrer Sündenvergebung eingedenk und stolz auf ihre Seelenreinheit war, hatte ihr Herr ein paar Dollars offen auf seinem Pult herumliegen lassen, und als sie mit dem Staubtuch dorthin kam, geriet sie in schwere Versuchung. Eine Weile sah sie das Geld mit steigendem Groll von der Seite an.

»O, der dumme Bußtag,« rief sie dann, »hätte man ihn doch bis morgen verschoben!«

Um dem Versucher nicht zu erliegen, deckte sie ein Buch darüber und der Mammon fiel einem der anderen Sklaven zu. Sie brachte dies Opfer, weil sie noch zu sehr unter dem Eindruck der religiösen Handlung stand. Als Beispiel für spätere Fälle sollte es durchaus nicht gelten; in ein bis zwei Wochen war sie wieder weltklug und nahm es weniger streng mit der Frömmigkeit, und wenn das nächste Mal ein paar Dollars so verlassen dalagen, würde sie sich gern ihrer erbarmen.

War sie denn schlecht von Natur oder überhaupt schlimmer als ihre Rasse im allgemeinen? Keineswegs. Die Farbigen befanden sich im Kampf ums Dasein in großem Nachteil gegenüber den weißen Brüdern und hielten es daher nicht für Sünde, ihre Bedrücker gelegentlich etwas auszuplündern – versteht sich nur in kleinem Maßstab; sie stahlen gewöhnlich nur unbedeutende Dinge. Eßwaren entwendeten sie aus der Speisekammer, so oft sie nur konnten, einen messingnen Fingerhut, eine Scheibe Wachs, einen Sack voll Schmirgel, ein Papier mit Nähnadeln, einen silbernen Löffel, einen Dollarschein, Bänder, allerlei Putz oder andere ziemlich wertlose Gegenstände, hielten sie für gute Beute. Sie fanden durchaus kein Unrecht darin, sich dergleichen anzueignen und gingen ohne die geringsten Gewissensbisse mit dem geraubten Gut in der Tasche zur Kirche, um dort voll aufrichtiger Frömmigkeit so laut zu singen und zu beten, wie sie nur konnten. Jede Räucherkammer auf dem Lande mußte fest verschlossen und verriegelt sein, denn selbst der farbige Diakonus verschmähte es nicht, einen Schinken mitzunehmen, wenn die Vorsehung ihm im Traume oder auf andere Weise kundthat, wo ein solcher leckerer Gegenstand einsam am Nagel hing und nach einem Freunde schmachtete. Hätten aber auch hundert Schinken dagehangen, der Diakonus würde nur einen genommen haben – das heißt, nicht zwei auf einmal. In kalten Nächten pflegte ein mitleidiger schwarzer Gauner den Hennen, die auf einem Baum Nachtruhe hielten, ein gewärmtes Brett unter die erstarrten Klauen zu schieben. Schläfrig setzte sich dann ein Huhn mit dankbarem Glucksen auf das behagliche Plätzchen, der Gauner aber steckte den Vogel unbekümmert in seinen Sack und verzehrte ihn später mit Vergnügen. Er war fest überzeugt, daß er dem weißen Manne, der ihm täglich ein unschätzbares Gut – seine Freiheit – raubte, ruhig diese Kleinigkeit entwenden dürfe, ohne damit eine Sünde zu begehen, die Gott ihm am Tage des Gerichts zurechnen werde.

»Nenne den Dieb!«

Driscoll hatte es schon zum vierten Mal mit rauher Stimme gerufen. Jetzt fügte er eine schreckliche Drohung hinzu:

»Ich gebe euch noch eine Minute Zeit« – er zog seine Uhr heraus. »Wenn ihr nach Ablauf derselben nicht gesteht, verkaufe ich euch alle vier – aber nicht hier am Ort, sondern nach Süden – flußabwärts

Das hieß so viel als zur Hölle verdammt werden, kein Missouri-Neger zweifelte daran. Roxy konnte sich kaum aufrecht halten, sie wurde leichenblaß; die andern fielen auf die Kniee wie vom Blitz getroffen, Thränen stürzten aus ihren Augen, sie hoben flehend die Hände empor, und alle drei riefen wie aus einem Munde:

»Ich hab’s gethan!«

»Ich hab’s gethan!«

»Ich hab’s gethan!« – »Gnade, Massa, Gnade! – Herrgott erbarme dich über uns arme Neger!«

Driscoll steckte seine Uhr ein. »Nun gut,« sagte er, »ich will euch hier verkaufen, obwohl ihr es nicht verdient. Von Rechts wegen sollte ich euch den Fluß hinunter schicken.«

Die Schuldigen warfen sich in überschwenglichem Dankgefühl vor ihm auf den Boden, küßten ihm die Füße und versicherten, sie würden seine Güte nun und nimmermehr vergessen und ihr Leben lang für ihn beten. Sie meinten das ganz aufrichtig, denn, hatte er nicht wie ein Gott seine mächtige Hand ausgereckt und die Pforten der Hölle vor ihnen verschlossen? – Er selbst wußte, daß er eine edle, hochherzige That vollbracht hatte und war innerlich stolz auf seine Großmut. Am Abend schrieb er den Vorfall in sein Tagebuch, damit sein Sohn ihn in späteren Jahren lesen könnte und durch sein Beispiel angetrieben würde, ebenfalls Güte und Menschlichkeit walten zu lassen.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Tom warf sich wieder auf das Sofa und preßte die Hände an seine pochenden Schläfen. Die Ellbogen auf das Knie gestützt, wiegte er sich laut stöhnend hin und her.

»Ich habe vor einer erbärmlichen Negerin gekniet,« murmelte er mit verbissener Wut. »Schon vorher glaubte ich den äußersten Grad von Erniedrigung erreicht zu haben – aber das war nichts im Vergleich. Nun – eine Gewißheit bleibt mir wenigstens – es ist freilich nur ein leidiger Trost – tiefer kann ich nicht noch fallen, eine größere Schmach giebt es nicht.«

Doch das war eine voreilige Behauptung.

Als er um zehn Uhr an jenem Abend die Leiter im Gespensterhaus erklomm, sah er bleich und schwach aus, und ihm war elend zu Mute. Roxy hatte ihn kommen hören; sie stand an der Stubenthür und wartete auf ihn.

Das zweistöckige Blockhaus lag unbenutzt da, seit vor einigen Jahren das Gerücht entstanden war, es sei darin nicht geheuer. Niemand wollte mehr dort wohnen, bei Nacht vermied man die Gegend ängstlich, auch am hellen Tage machten die meisten Leute lieber einen weiten Bogen, um nicht in die Nähe des gefürchteten Gespensterhauses zu kommen. Mit der Zeit war es in Verfall geraten und drohte einzustürzen, da man keinerlei Ausbesserung vornahm; es stand etwa dreihundert Meter von Querkopf Wilsons Haus entfernt, als letztes Gebäude nach dieser Seite hin, dazwischen war nichts als unbebautes Land.

Tom folgte Roxy in die Stube hinein. In einer Ecke lag eine Schütte reines Stroh, auf dem sie schlief; ihre ärmlichen, aber sauber gehaltenen Kleidungsstücke hingen an der Wand, eine Blechlaterne warf hier und da kleine Lichtflecke auf den Boden, einige alte leere Kisten, die verstreut umherstanden, ersetzten die Stühle. Nachdem sie beide Platz genommen hatten, begann Roxy:

»Ich mach‘ kein langes Federlesen und komm‘ jetzt gleich zur Sache; vom Geld reden wir nachher – ich hab’s nicht eilig. Was glaubst du wohl, daß ich dir sagen will?«

»Nun du – du – o Roxy, mache mir’s doch nicht so schwer. Schieß los und sage, daß du irgendwie dahinter gekommen bist, in welche Klemme ich mich gebracht habe durch thörichten Leichtsinn und Ausschweifung.«

»Leichtsinn – Ausschweifung – i bewahre! Das ist rein gar nichts im Vergleich zu dem, was ich weiß.«

Tom starrte sie mit offenem Munde an: »Aber Roxy, was soll denn das heißen?«

Sie stand auf und blickte düster und erbarmungslos, wie das Schicksal selbst, auf ihn herab.

»Ich will dir’s sagen – und ’s ist die lauterste Wahrheit. Du bist so wenig mit dem alten Massa Driscoll verwandt wie ich selbst – daß du’s nur weißt.« Ihr Auge flammte auf in wildem Triumph.

»Was!«

»Jawohl – und damit ist’s noch nicht genug. Du bist ein Nigger – als Sklave geboren und nichts anderes als ein Nigger und Sklave bis zu dieser Stunde. Wenn ich den Mund aufthu‘, verkauft dich der alte Massa Driscoll nach dem Süden, flußabwärts, bevor noch zwei Tage um sind.«

»Was faselst du da, du erbärmliche alte Hexe, es ist eine verdammte Lüge!«

»Die reine Gotteswahrheit ist’s – meiner Seel‘, ich lüge nicht. Glaub‘ mir’s nur – du bist mein Sohn

»Du Teufelsweib!«

»Und der arme Junge, den du heut‘ gestoßen und geschlagen hast, der ist Percy Driscolls Sohn und dein Herr!«

»Du Ungeheuer!«

»Sein Name ist Tom Driscoll und du heißt Valet de Schamber, ’nen Familiennamen hast du nicht, weil den kein Neger hat!«

Tom sprang auf, griff nach einem Holzscheit und hob es drohend empor, aber seine Mutter lachte nur höhnisch.

»Setz‘ dich hin, du Gelbschnabel,« sagte sie. »Glaubst du, ich fürcht‘ mich vor dir und deinesgleichen? Wenn du könntest, jagtest du mir ’ne Kugel in’n Rücken – das säh‘ dir ganz gleich – ich kenn‘ dich durch und durch. Bring‘ mich nur um – dir nützt’s doch nichts – alles ist aufgeschrieben und in sichern Händen. Der Mann, der’s in Verwahrung hat, weiß auch, wer der Rechte ist, an den er sich halten muß, wenn mir ein Leids geschieht. – Du meine Güte, denkst du denn, deine Mutter ist ebenso erzdumm wie du? Das bilde dir nur nicht ein. Jetzt setz‘ dich dorthin, betrag‘ dich anständig und steh‘ nicht eher wieder auf, bis ich dir’s sage!«

Tom war wie rasend vor ohnmächtiger Wut. Eine Weile tobte er noch und stürmte im Zimmer umher, endlich schien er zu einem festen Entschluß zu kommen.

»Es ist alles nur Unsinn und Faselei,« sagte er so bestimmt er konnte. »Gehe nur hin und versuche es, mich zu verderben; ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen.«

Ohne ein Wort der Erwiderung nahm Roxy die Laterne vom Nagel und schritt nach der Thür. Der kalte Angstschweiß trat Tom auf die Stirne.

»Komm wieder, Roxy, komm wieder!« jammerte er. »Es war nicht mein Ernst, ich will es nie mehr sagen, ich nehme alles zurück? Sei nur gut, Roxy, und bleibe hier.«

Das Weib stand einen Augenblick still und befahl dann in strengem Ton:

»Eins muß jetzt ganz aufhören, Valet de Schamber. Du darfst mich nicht mehr Roxy nennen, als wärest du meinesgleichen. So reden Kinder nicht mit der Mutter. Du sagst Ma oder Mammy zu mir, wie sich’s gehört – wenigstens wenn niemand dabei ist. – Sag’s!«

Mühsam brachte Tom das Wort heraus.

»So ist’s recht. Vergiß das nicht wieder, sonst soll dir’s übel bekommen. Also – du hast eben versprochen, du wirst es nie mehr Lüge und Unsinn nennen? Nun gut – ich warne dich: hör‘ ich’s noch einmal aus deinem Munde, so hast du’s zum letztenmal gesagt. Auf der Stelle geh‘ ich dann zum Richter Driscoll, sag‘ ihm, wer du bist und geb‘ ihm die Beweise. Glaubst du mir das alles, Schamber?«

»O,« stöhnte Tom, »ja, ich glaube es – ich weiß es nur zu gut!«

Roxys Triumph war vollständig, das stand außer Frage. Zwar hätte sie ihre Behauptung keinem Menschen gegenüber beweisen können, und die schriftliche Aufzeichnung war ganz erlogen, aber sie wußte, mit wem sie es zu thun hatte und der Erfolg entsprach vollkommen ihrer Erwartung.

Im Bewußtsein ihres herrlichen Sieges nahm sie mit stolzer Haltung wieder auf der alten Kiste Platz, als wäre es ein Thron.

»Nun also, Schamber, – reden wir jetzt von Geschäften; mit der Narretei ist’s aus. Du kriegst fünfzig Dollars monatlich – davon zahlst du die Hälfte deiner alten Mammy. Heraus damit!«

Aber Tom hatte auf der Gotteswelt nichts als sechs Dollars. Die gab er ihr und versprach, vom neuen Monat an ihre Forderung zu erfüllen.

»Wie groß sind deine Schulden, Schamber?«

»Fast dreihundert Dollars,« sagte Tom schaudernd.

»Wie denkst du sie zu bezahlen?«

Tom stöhnte laut. »Das weiß ich nicht; was fragst du mich nach so schrecklichen Dingen?«

Aber sie ließ sich nicht abweisen und trieb ihn immer mehr in die Enge, bis er sich zu einem Geständnis bequemte. Vor vierzehn Tagen, während alle Welt glaubte, er sei in St. Louis, hatte er einen förmlichen Raubzug gegen seine Mitbürger unternommen. Er war verkleidet umhergeschlichen und hatte allerlei Wertsachen aus Privathäusern entwendet. Die Beute, welche er fortschickte, genügte aber noch nicht, um soviel Geld dafür zu lösen, als er brauchte, und doch getraute er sich, bei der Aufregung, die in der Stadt herrschte, jetzt nicht, das Wagnis zu wiederholen.

Seine Mutter billigte das Unternehmen und bot ihm ihre Hilfe an, allein das erschreckte ihn nur. Mit ängstlichem Stammeln brachte er endlich die Bitte vor, sie möge die Stadt verlassen. Er würde sich dann wohler und sicherer fühlen und den Kopf höher halten können. Zu seiner freudigen Ueberraschung unterbrach sie ihn, als er noch weitere Gründe anführen wollte, und erklärte sich mit diesem Vorschlag ganz einverstanden. Sie sagte, es wäre ihr einerlei, wo sie wohnte, wenn sie nur das Kostgeld regelmäßig ausgezahlt erhielte; doch werde sie nicht weit fortgehen, und einmal im Monat nach dem Gespensterhaus kommen, um ihr Geld in Empfang zu nehmen.

»Seit vielen langen Jahren hab‘ ich dich verabscheut, aber jetzt hass‘ ich dich nicht mehr so arg,« sagte sie. »Alles hatt‘ ich für dich gethan – dich ausgetauscht, dir ’ne gute Familie und ’nen vornehmen Namen gegeben, dich zu ’nem reichen, weißen Herrn gemacht, der seine Kleider im Laden kauft – und was war mein Dank? – Verachtet hast du mich immerzu, mich vor den Leuten gescholten und geschmäht, mich fort und fort dran erinnert, daß ich ’ne Negerin bin – und – und –«

Sie brach in Schluchzen aus und konnte nicht weiter reden.

»Aber,« sagte Tom, »ich wußte doch nicht, daß du meine Mutter bist, und übrigens – –«

»Sei nur still davon, man kann’s nicht mehr ändern, ich will’s vergessen. Doch, gieb acht, daß du mich nie mehr daran erinnerst,« fügte sie drohend hinzu, »sonst geht dir’s schlecht.«

Als sie sich trennten, sagte Tom noch im süßesten Ton, der ihm zu Gebote stand: »Mammy, hättest du vielleicht nichts dagegen, mir zu sagen, wer mein Vater war?«

Wenn er geglaubt hatte, die Frage würde sie in Verlegenheit setzen, so irrte er sich gewaltig. Roxy richtete sich stolz empor.

»Ich soll was dagegen haben?« erwiderte sie. »Nein, ganz und garnichts. Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen, das sag‘ ich dir. Er gehörte zu den vornehmsten Leuten der ganzen Stadt, zu den besten Familien von altvirginischer Herkunft. Das Geschlecht ist allerwege so gut wie die Driscolls und Howards.« Sie warf sich noch mehr in die Brust und fuhr mit Nachdruck fort: »Kannst du dich noch auf Oberst Cecil Burleigh Essex besinnen, der im selben Jahr starb, wie der Pappy von deinem jungen Herrn Tom Driscoll? Alle hohen Beamten, Freimaurer und Aeltesten der Kirchen kamen und folgten ihm zu Grabe; so ’ne schöne Leiche hat die Stadt noch nie zu sehen bekommen. – Das war der Mann.«

Sie sprach mit so hohem Selbstgefühl und war so begeistert von der Erinnerung, daß ihr ganzer Jugendreiz auf einmal zurückkehrte und ihre Haltung eine stattliche Würde annahm, die man fast königlich hätte nennen können, wäre die Umgebung nur ein wenig besser damit im Einklang gewesen.

»Kein anderer Neger hier am Ort ist so hochgeboren wie du. Nun geh‘ deiner Wege und trag‘ den Kopf so hoch wie du willst – du hast das Recht dazu, verlaß dich drauf.«

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

In der folgenden Nacht schreckte Tom von Zeit zu Zeit plötzlich aus dem Schlafe auf, und sein erster Gedanke war: »Welches Glück, es ist nur ein Traum!« Aber jedesmal fiel er stöhnend wieder in die Kissen zurück und murmelte: »Ein Nigger! Ich bin ein Nigger! O, wäre ich doch tot!«

Als er im Morgengrauen munter wurde, wiederholte sich diese entsetzliche Qual abermals, und er beschloß, dem trügerischen Schlafe nicht mehr zu vertrauen; er wollte wach bleiben und mit sich zu Rate gehen. Allerlei bittere Gedanken stiegen in ihm auf und wanderten ziellos hierhin und dorthin. »Warum sind Neger und Weiße erschaffen worden? Was hat der erste ungeborene Neger verschuldet, daß er zu seinem Fluch in die Welt gesetzt wurde? Weshalb macht man einen so grauenvollen Unterschied zwischen den Weißen und Farbigen? … Wie hart erscheint mir des Negers Geschick heute morgen! – und doch ist bis gestern abend ein solcher Gedanke noch nie in meinen Kopf gekommen.« So sann er ächzend und seufzend wohl über eine Stunde lang.

Dann kam ›Schamber‹, um in unterwürfiger Haltung zu melden, daß das Frühstück bald fertig wäre. ›Tom‹ wurde feuerrot, als er sah, wie der junge vornehme Weiße vor ihm, dem Neger, im Staube kroch und ihn Massa nannte.

»Geh‘ mir aus den Augen,« schrie er ihn an, und als jener sich entfernt hatte, murmelte er: »Eigentlich hat mir der arme Kerl nichts zu Leide gethan, aber sein Anblick ist mir unerträglich. Er ist ja der junge Herr Driscoll, und ich bin ein – o, wäre ich doch tot!«

 

Ein großer vulkanischer Ausbruch in den Tropen, bei dem die Erde bebt, Staubwolken die Luft verdunkeln und die Fluten sich emportürmen, verwandelt die Landschaft ringsum bis zur Unkenntlichkeit. Die Niederung wird zur Hochfläche, Berge zu Thälern; wo sich die Wüste dehnte, glänzt ein See, und statt grüner, lachender Wiesen, sehen wir eine dürre Steppe. Auf ähnliche Weise hatte die furchtbare Katastrophe, welche über Tom hereingebrochen war, seine bisherige Umgebung in moralischer Beziehung verändert: Was ihm bisher als niedrig gegolten, ward zu den Wolken erhoben, und was er für unantastbar angesehen, lag, unter der Asche früherer Herrlichkeit begraben, in Trümmern vor ihm.

Tagelang wanderte er an einsamen Orten umher, tief in Gedanken versunken und bemüht, seinen verlorenen Halt wiederzufinden. Es wollte ihm nicht gelingen. Wenn er einen Bekannten traf, wich plötzlich seine lebenslange Gewohnheit auf geheimnisvolle Weise von ihm – er streckte nicht unwillkürlich die Hand aus, um des Freundes Hand zu schütteln – sein Arm hing schlaff herab. Es war der ›Neger‹ in ihm, der ihn an seine Niedrigkeit mahnte, er wurde rot und schämte sich. Drückte ihm dann der weiße Freund die Hand, so war der ›Neger‹ in ihm überrascht und verwirrt. Ganz von selbst trat der ›Neger‹ demütig beiseite und machte dem weißen Raufbold oder Bummler auf der Straße Platz. Und als Rowena, die Geliebte seines Herzens, die er im stillen anbetete, ihn einlud, ins Haus zu kommen, stammelte der Neger in ihm eine verlegene Entschuldigung, denn er fürchtete sich, mit hochgebietenden weißen Leuten an einem Tische zu sitzen, wie ihresgleichen. Der ›Neger‹ in ihm schlich ängstlich lauernd umher und argwöhnte Mißtrauen oder die Gefahr der Entdeckung in jedem Wort, jeder Miene und Gebärde. So fremdartig und verändert war Toms Benehmen, daß es den Leuten auffiel und sie sich umdrehten und ihm nachsahen, wenn er vorüber war. Dann wandte auch er den Blick – ganz gegen seinen Willen, aber er konnte nicht anders – und sah den verwunderten Ausdruck in diesem oder jenem Gesicht. – Von namenloser Furcht gepackt, suchte er, so rasch er konnte, die Einsamkeit auf. Wie ein gehetztes Wild floh er über Berg und Thal. »Der Fluch, der auf Ham lastet, verfolgt mich,« dachte er bei sich selber.

Am meisten waren ihm die Mahlzeiten verhaßt. Der ›Neger‹ in ihm schämte sich, mit den Weißen zusammen zu speisen, ihm bangte fortwährend davor, entdeckt zu werden. »Was ist denn mit dir los?« fragte Richter Driscoll einmal, »du machst ja ein so erbärmliches Gesicht wie ein Nigger.« Da erwiderte Tom, er fühle sich unwohl und stand rasch vom Tische auf. So mag es dem heimlichen Mörder zu Mute sein, wenn der Ankläger spricht: »Du bist der Mann!«

Vor der zärtlichen Besorgnis und den Liebkosungen seiner angeblichen ›Tante‹ hatte er ein wahres Grauen und wich ihnen so viel wie möglich aus. Gegen seinen vermeintlichen ›Onkel‹ erwachte ein förmlicher Haß in seinem Herzen, der immer mehr zunahm; denn Tom sagte sich: »er ist ein Weißer und ich bin sein Eigentum, sein Haustier, seine Ware; er kann mich verkaufen, so gut wie seinen Hund.«

Eine ganze Woche lang bildete sich Tom ein, daß sein Charakter von Grund aus verändert sei. Doch er kannte sich selber schlecht. Zwar hatten seine Ansichten in mancher Beziehung eine völlige Wandlung erfahren, die sich nie wieder rückgängig machen ließ, aber die Hauptzüge seines Charakters waren sich doch gleich geblieben und konnten nicht anders werden. Unter dem Einfluß einer großen geistigen und moralischen Erschütterung hatte es zwar äußerlich den Anschein gewonnen, als habe er mit seinem bisherigen Treiben völlig gebrochen, aber, als sich nach einer Weile der Sturm legte, verfiel er wieder in die alten Sitten und Gewohnheiten. Allmählich kehrte er auch zu seiner leichtfertigen und oberflächlichen Gesinnung und Redeweise zurück, und keiner seiner Bekannten hätte in ihm irgend einen Zug entdecken können, der ihn von dem nichtsnutzigen Tom aus früherer Zeit unterschied.

Es stellte sich bald heraus, daß jener Beutezug, den er unternommen hatte, doch ergiebiger gewesen war, als er zu hoffen gewagt. Der Ertrag genügte, um seine Spielschulden zu bezahlen, und so ging die Gefahr einer Enthüllung seines Thuns und der abermaligen Vernichtung des Testaments glücklich vorüber. Mit seiner Mutter kam er ziemlich gut aus. Zwar vermochte sie noch nicht, ihn zu lieben, weil, wie sie es ausdrückte, ›nichts an ihm war‹, aber ihrer Natur nach brauchte sie irgend jemand, den sie beherrschen konnte, und dazu war er gut genug. Durch ihren starken Charakter und ihr streitbares, gebieterisches Wesen erregte sie Toms Bewunderung, obgleich er mehr Proben davon erhielt, als er zu seiner Annehmlichkeit bedurfte. In der Regel bestand aber ihre Unterhaltung aus allerlei Klatsch und Geschwätz über die Privatangelegenheiten der besten Familien von Dawson, in deren Küchen sie regelmäßig ihre Ernte hielt, so oft sie zur Stadt kam. Das gefiel Tom, denn es war ganz nach seinem Geschmack. Sie stellte sich immer pünktlich ein, um die Hälfte seines Monatsgeldes zu holen; bei dieser Gelegenheit trafen sie jedesmal im Gespensterhaus zusammen und plauderten eine Weile. Auch in der Zwischenzeit machte sie ihm ab und zu dort einen Besuch.

Manchmal fuhr Tom nun auch wieder auf ein paar Wochen nach St. Louis, und eines Tages unterlag er abermals der Versuchung zum Glücksspiel. Er gewann eine Menge Geld, verlor es aber wieder und noch eine beträchtliche Summe obendrein, die er versprach, so bald als möglich aufzutreiben.

Zu dem Zweck plante er einen neuen Beutezug in Dawson. Seine Räubereien an einem fremden Orte zu unternehmen, kam ihm nicht in den Sinn, denn er hätte sich nicht in ein Haus hineingewagt, ohne daß er die Aus- und Eingänge genau kannte und mit den Gewohnheiten der Familie vertraut war.

Am Mittwoch vor der Ankunft der Zwillinge begab er sich verkleidet in das Gespensterhaus, nachdem er seiner Tante Pratt geschrieben hatte, er käme erst in zwei Tagen. Dort hielt er sich bei seiner Mutter versteckt, und ging erst am Freitag früh, ehe es hell wurde, nach dem Driscollschen Hause. Durch die Hinterthür gelangte er in sein Zimmer, wo er den Spiegel und sonstige Toilettengegenstände benützen wollte. Er trug einen Anzug von seiner Mutter, nebst schwarzem Schleier und Handschuhen und unter dem Arm ein Bündel mit Mädchenkleidern, die er zu dem Streifzug anzulegen dachte. Jetzt dämmerte der Morgen: er war mit der Verkleidung fertig und wollte eben das Zimmer verlassen, als er durch das Fenster drüben Querkopf Wilson sah, der ihn ohne Zweifel ebenfalls erblickt hatte. Nun übte er sich, um Wilson zu täuschen, eine Weile in allerlei Schritten und graziösen Stellungen vor dem Spiegel, trat dann rasch in den Hintergrund, legte die erste Verkleidung wieder an, wartete noch geraume Zeit und ging dann die Treppe hinunter und zur Hinterpforte hinaus. Er wollte auf dem Schauplatz seiner beabsichtigten Thaten Umschau halten. Doch war ihm unbehaglich zu Mute. Zwar glaubte er nicht, daß Wilson, wenn er noch auf der Lauer war, ein armes, altes Weib beachten werde, das früh am Morgen aus der Hinterthür des Nachbarhauses kam, deshalb hatte er Roxys Kleid wieder angezogen und schlich in gebückter Haltung einher. Wie aber, wenn nun Wilson doch Verdacht geschöpft hätte und ihm heimlich folgte? – Bei dem Gedanken wurde es Tom bald heiß bald kalt; er beschloß den Raubzug aufzugeben und eilte auf den verborgensten Wegen nach dem Gespensterhaus zurück. Seine Mutter war fort, doch kam sie im Laufe des Vormittags wieder und brachte die Nachricht von der großartigen Empfangsfeierlichkeit bei Patsy Cooper. Leicht überredete sie ihren Sohn, daß dies eine besondere Fügung des Himmels sei, die sie sich gar nicht besser wünschen könnten. So unternahm Tom doch noch den Streifzug und brachte reichliche Beute mit, während alle Bewohner bei Frau Cooper waren. Durch den Erfolg ermutigt, wurde er so tollkühn, daß er den Raub nur rasch seiner Mutter übergab, die in einem Hintergäßchen auf ihn wartete, und dann selbst dem Empfang der Zwillinge beiwohnte. Auch dort im Hause vermehrte er seine Beute noch um verschiedene Wertsachen.

 

Nach dieser langen Abschweifung sind wir jetzt wieder an dem Punkt unserer Erzählung angekommen, bei dem wir Querkopf Wilson verließen. Er saß an jenem Freitag-Abend zu Hause, wartete auf die Ankunft der Zwillinge und zerbrach sich den Kopf über das Mädchen, das er am Morgen in Tom Driscolls Schlafzimmer gesehen hatte. Soviel er aber auch hin und her riet und nachsann und sich verwunderte, er brachte es doch nicht heraus, wer das leichtsinnige Geschöpf wohl sein könnte.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Als die Zwillinge eingetroffen waren, kam die Unterhaltung gleich in Fluß; man plauderte lebhaft und behaglich, und der neu geschlossene Freundschaftsbund befestigte sich mehr und mehr. Auf Verlangen holte Wilson seinen Kalender herbei und las den Brüdern ein paar Stellen vor, denen sie aufrichtigen Beifall spendeten. Dies freute den Verfasser so sehr, daß er ihnen gern die Bitte gewährte, eine Handvoll Blätter mitnehmen und zu Hause lesen zu dürfen. Auf ihren weiten Reisen hatten sie die Erfahrung gemacht, daß es drei Arten giebt, sich die Gunst eines Schriftstellers zu erwerben, welche eine Stufenleiter gegenseitiger Anerkennung bilden: Erstens: man sagt ihm, man habe eins seiner Bücher gelesen. Zweitens: man versichert, man kenne seine sämtlichen Werke. Drittens: man bittet ihn um sein neuestes Buch im Manuskript. 1 Auf die erste Art gewinnt man seine Achtung, auf die zweite seine Bewunderung und auf die dritte erobert man sein ganzes Herz. Die Zwillinge waren beflissen gewesen, gleich die beste von diesen Methoden anzuwenden.

Nicht lange, so wurde ihr Gespräch unterbrochen. Der junge Tom Driscoll trat ein und ließ sich vorstellen. Als die Brüder aufstanden und ihm die Hand schüttelten, that er, als sähe er sie zum erstenmal. Aber das war nur Schein, er hatte sie schon bei der Empfangsfeier von weitem erblickt, während er das Haus bestahl. Auf die Brüder machte er den Eindruck eines hübschen Menschen mit glattem Gesicht und geschmeidigen, aalgleichen Bewegungen, die nicht ungraziös waren. Angelo fand seine Augen schön, Luigi sah einen verschleierten und listigen Ausdruck darin. Angelo gefiel die freie Ungezwungenheit seiner Art zu sprechen, Luigi fand sie nicht gerade angenehm. Angelo hielt ihn für einen ganz netten jungen Mann, Luigi war noch nicht mit sich einig darüber. Toms erster Beitrag zu der Unterhaltung bestand in einer Frage, die er wohl schon hundertmal im fröhlichsten, gutmütigsten Ton an Wilson gerichtet hatte. Sie verursachte diesem stets ein etwas peinliches Gefühl, denn sie berührte eine geheime Wunde; diesmal aber gab sie ihm einen ordentlichen Stich ins Herz, weil die Fremden zugegen waren.

»Nun, wie steht’s mit der Anwaltspraxis? Hast du schon einen Prozeß geführt?«

Wilson biß sich auf die Lippen und erwiderte so gleichgültig wie möglich: »Nein – noch nicht.«

Als Richter Driscoll den Zwillingen Wilsons Lebensgeschichte erzählte, hatte er seine Rechtsgelehrsamkeit aus zarter Rücksicht beiseite gelassen.

»Wilson ist nämlich Advokat, meine verehrten Herren,« erklärte Tom mit verbindlicher Miene, »doch praktiziert er im Augenblick nicht.«

Der Spott kränkte Wilson, aber er nahm sich zusammen und sagte, ohne seine Erregung blicken zu lassen:

»Ganz richtig – ich praktiziere nicht. Mir ist noch kein Prozeß übertragen worden, und ich habe mir mein Brot zwanzig Jahre lang mühselig mit der Durchsicht von Rechnungsbüchern verdienen müssen. Nicht einmal in dieser Beschäftigung bekam ich hier am Orte so viele Aufträge, als ich gewünscht hätte. Aber, daß ich die Rechtswissenschaft gründlich studiert und nichts versäumt habe, um mich zu einem tüchtigen Anwalt auszubilden, ist nicht minder wahr. In deinem Alter, Tom, hatte ich bereits meinen Beruf erwählt, und wäre jederzeit imstande gewesen, ihn auszuüben. Vielleicht wird mir nie die Gelegenheit dazu geboten, tritt aber der Fall noch ein, so soll es an mir nicht fehlen, denn ich habe meine Rechtsstudien alle die Jahre her ununterbrochen fortgesetzt.«

Tom hatte den Hieb wohl gefühlt, aber er ließ sich nicht einschüchtern. »Bravo,« rief er, »gesprochen wie ein Mann – das gefällt mir. Wie wär’s, wenn ich dich zu meinem Geschäftsträger machte,« fuhr er lachend fort. »Deine Rechtspraxis und meine Geschäfte würden sich so ziemlich die Wage halten, meinst du nicht auch, David?«

»Es giebt allerlei Geschäfte –« versetzte Wilson. Er dachte an das Fräulein in Toms Zimmer, und hatte schon vor, den jungen Menschen wegen seines heimlichen und verwerflichen Treibens zur Rede zu setzen, doch kam er wieder davon zurück. »Nein,« unterbrach er sich, »was ich sagen wollte, ist kein Gegenstand für eine allgemeine Unterhaltung.«

»Dann lassen wir es besser auf sich beruhen. Du wolltest mir gewiß noch einen zweiten Rippenstoß geben, reden wir lieber von etwas anderem: Was macht denn dein geheimnisvolles Steckenpferd neuerdings? Weißt du, deine ›Protokolle‹, wie du sie nennst. Wilson hat nämlich den Plan, das gewöhnliche Fensterglas aus der Mode zu bringen und durch Scheiben zu ersetzen, die mit Abdrücken fettiger Finger verziert sind. Er wird steinreich werden, wenn er seine Erfindung an alle gekrönten Häupter Europas zum Schmuck für ihre sämtlichen Paläste verkauft. – Zeige uns doch einmal deinen Schatz, David.«

Wilson brachte drei Glasplättchen herbei. »Ich bitte die Herren, sich mit der rechten Hand durchs Haar zu fahren, wodurch sich etwas von der natürlichen Fettigkeit den Fingern mitteilt – und jede einzelne Fingerspitze der Reihe nach auf das Glas zu drücken. Alle feinen Linien in der Haut zeichnen sich dann genau darauf ab und verwischen sich nicht wieder, wenn sie nicht durch die Berührung mit einem rauhen Gegenstand ausgelöscht werden. Du zuerst, Tom!«

»Ich dächte, du hättest den Abdruck meiner Finger schon ein- oder zweimal genommen.«

»Ja? aber beim letztenmal warst du noch ein kleiner Junge von etwa zwölf Jahren.«

»Das stimmt. Seitdem habe ich mich natürlich ganz verändert, und die gekrönten Häupter sollen ja wohl die mannigfachsten Verzierungen auf ihre Fensterscheiben bekommen.«

Er fuhr sich mit der Hand durch sein kurzgeschorenes Haar und drückte dann jeden Finger einzeln auf das Glas. Angelo benützte ein anderes Plättchen zu dem gleichen Zweck, und zuletzt Luigi ein drittes. Nun fügte Wilson noch Namen und Datum bei und bewahrte die Glasplättchen wieder auf.

»Eigentlich wollte ich nichts sagen,« meinte Tom lachend, »aber, wenn dir’s auf Verschiedenartigkeit ankommt, so hast du jetzt eben ein Glas unnütz vergeudet. Die Fingerabdrücke des einen Zwillings sind genau wie die des anderen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen,« sagte Wilson und nahm wieder Platz, »mir ist’s so wie so lieber, wenn ich sie beide habe.«

»Aber, wie steht’s denn, David,« fuhr Tom fort, »früher hast du doch auch aus der Hand gewahrsagt, wenn du die Abdrücke nahmst? – Er ist nämlich ein Allerweltsgenie – eine Größe ersten Ranges, ein tiefsinniger Gelehrter, der hier am Ort verkümmert, ein Prophet, der nur so viel gilt, wie alle Propheten im Vaterlande – hier fragt kein Mensch nach seiner Weisheit und man nennt seinen Schädel ein Museum voll komischer Einfälle – nicht wahr, David, so ist’s! Doch einerlei – er wird schon noch sein Glück machen – ein gläsernes Glück mit Fettabdrücken – hahaha! Wirklich, die Wahrsagerei ist famos – lassen Sie ihn nur einmal Ihren Handteller betrachten! Wer für sein Geld nicht genug hat, bekommt es an der Kasse zurückbezahlt. Er liest, was drin geschrieben steht, als wäre es ein Buch und sagt einem nicht nur sechs Dutzend Dinge voraus, die geschehen werden, sondern auch fünfzig oder sechzigtausend, die nicht eintreffen. Komm, David, zeige den Herren, was für einen wunderbaren Tausendkünstler unsere Stadt besitzt, ohne daß wir es ahnen.«

Für Wilson war dies spöttische und nicht sehr rücksichtsvolle Geschwätz eine arge Pein, und das that den Zwillingen in der Seele weh. Sie urteilten ganz richtig, daß sie ihm die größte Wohlthat erweisen würden, wenn sie die Sache ernsthaft behandelten und Toms Neckereien unbeachtet ließen, deshalb sagte Luigi:

»Wir haben auf unsern Reisen öfters Beispiele von Handwahrsagerei erlebt und uns selbst davon überzeugt, wie erstaunliche Dinge sie zu leisten vermag. Sie ist eine Wissenschaft – wie sollte man sie wohl anders nennen, und zwar eine der tiefsinnigsten. – Im Orient zum Beispiel –«

»Dies Taschenspielerkunststück eine Wissenschaft!« – rief Tom mit verwunderter, ungläubiger Miene. »Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein.«

»Mein völliger Ernst. Vor vier Jahren hat man uns unser Schicksal aus der Hand geweissagt, als ob es dort geschrieben stände.«

»So meinen Sie also wirklich, daß etwas an der Sache ist?« fragte Tom, dessen Unglaube schon zu wanken begann.

»Versteht sich,« fiel jetzt Angelo ein. »Die Schilderung unserer Charaktere zum Beispiel stimmte in allen Einzelheiten; wir hätten kaum noch etwas hinzuzufügen gewußt. Auch wurden mehrere denkwürdige Thatsachen aus unserer Vergangenheit enthüllt, von denen keiner der Anwesenden das Geringste wissen konnte.«

»Das ist ja die reinste Zauberei,« rief Tom mit immer wachsendem Interesse. »Und was man Ihnen von der Zukunft vorausgesagt hat, ist auch eingetroffen?«

»Im allgemeinen ja – so ziemlich,« sagte Luigi. »Zwei oder drei der Hauptereignisse jedenfalls; das allerwichtigste sogar noch im selben Jahre. Auch von den unbedeutenden Prophezeiungen haben sich einige bereits erfüllt, und die andern großen oder kleinen können mit der Zeit noch wahr werden – vielleicht gehen sie auch nie in Erfüllung, doch gestehe ich, daß mich das mehr überraschen würde, als wenn das Gegenteil eintritt.«

Die Worte machten einen tiefen Eindruck auf Tom, aller Mutwillen war ihm vergangen.

»Höre, David,« sagte er im Ton der Entschuldigung, »du mußt nicht etwa denken, daß ich deine Wissenschaft herabsetzen wollte; es machte mir nur Spaß, dich ein wenig damit aufzuziehen. Bitte, laß dir doch einmal ihre Handflächen zeigen. Nicht wahr, du thust mir den Gefallen.«

»Jawohl, gern, wenn du es wünschest; aber, du weißt ja, ich habe nie Gelegenheit gehabt, mich ganz mit der Kunst vertraut zu machen und will auch nicht als Sachverständiger gelten. Wenn ein vergangenes, wichtiges Ereignis sehr deutlich in den Linien der Hand geschrieben steht, kann ich es meist erkennen, aber, was geringfügiger ist, entgeht mir oft – natürlich nicht immer, jedoch häufig. Wenn es aber gilt, in der Zukunft zu lesen, so bin ich meiner Sache nicht recht sicher. Ich spreche beinahe, als ob ich die Handwahrsagerei lebhaft betreibe, doch das ist durchaus nicht der Fall. In den letzten sechs Jahren habe ich kaum ein halbes Dutzend Hände untersucht. Die Leute fingen an, sich darüber lustig zu machen, und da ließ ich die Kunst einschlafen, um dem Gerede ein Ende zu machen. Wenn es Ihnen recht ist, Graf Luigi, will ich einmal einen Versuch mit Ihrer Vergangenheit machen – glückt mir der, dann – doch nein, an die Zukunft will ich mich überhaupt nicht wagen; das sollte wirklich nur ein ganz Kundiger thun.«

Als er Luigis Hand nahm, sagte Tom: »Warte einen Augenblick, David, – sieh noch nicht hin! Hier, Graf Luigi, ist Papier und Bleistift. Schreiben Sie die Prophezeiung auf, von der Sie sagten, es sei die allerwichtigste gewesen und sie habe sich noch im nämlichen Jahr erfüllt. Dann geben Sie mir den Zettel, damit ich sehen kann, ob David das Erlebnis in Ihrer Hand entdeckt.«

Luigi schrieb eine Zeile, faltete das Papier zusammen und reichte es Tom mit den Worten: »Wenn er es findet, werde ich Sie auffordern, das Geschriebene vorzulesen.«

Nun begann Wilson seine Untersuchung von Luigis Handfläche. Er folgte den Lebenslinien, den Herz- und Kopflinien und beobachtete auch alle die feineren und zarteren Merkmale und Verzweigungen genau, die sich spinnwebartig nach allen Seiten ausbreiteten. Dann befühlte er den fleischigen Ballen am Daumen, merkte auf dessen Form, strich von der Wurzel des kleinen Fingers bis zum Handgelenk hinunter, untersuchte jeden Finger besonders nach Größe, Gestalt und Verhältnis zu den anderen, auch ihre natürliche Lage im Zustand der Ruhe. Die Anwesenden schauten seinem Verfahren mit der größten Spannung zu, sie steckten die Köpfe zusammen, beugten sich über Luigis Hand, und keiner unterbrach die Stille mit einem Laut. Schließlich wiederholte Wilson die Untersuchung noch einmal von Anfang an und verkündete zugleich das Ergebnis.

Er entwarf eine genaue Schilderung von Luigis Charakter und Gemütsart, beschrieb seine Geschmacksrichtung, seine Zu- und Abneigungen, seine natürlichen Anlagen und Absonderlichkeiten, so daß Luigi oft die Lippen zusammenkniff und die andern lachten. Beide Zwillinge erklärten jedoch, daß jeder Zug richtig sei und alle Angaben zuträfen.

Hierauf ging Wilson zu Luigis Lebensgeschichte über. Er verfuhr dabei nur zögernd und mit großer Vorsicht; langsam strich er mit den Fingern über die Hauptlinien der inneren Hand und hielt zuweilen bei einem Kreuzpunkt oder einem besonderen Kennzeichen still, um die ganze Stelle sorgfältig zu durchforschen. Einige Thatsachen aus Luigis Vergangenheit, die er aufzählte, erwiesen sich als richtig, und die Untersuchung ward fortgesetzt. Auf einmal sah Wilson überrascht in die Höhe.

»Hier stoße ich auf ein Ereignis, von dem Sie vielleicht nicht wünschen würden – –«

»Sprechen Sie es nur aus,« sagte Luigi gutmütig, »es wird mich nicht in Verlegenheit bringen, verlassen Sie sich darauf.«

Aber Wilson zögerte noch immer und schien nicht recht zu wissen, was er thun sollte.

»Es ist wirklich eine zu heikle Sache,« sagte er endlich. »Ich möchte sie lieber aufschreiben oder Ihnen ins Ohr flüstern, damit Sie selbst entscheiden, ob man davon reden soll oder nicht.«

»Das wird am besten sein,« versetzte Luigi, »schreiben Sie es nieder.«

Wilson warf einige Worte auf ein Stück Papier, das er Luigi reichte. Dieser las sie für sich und sagte dann zu Tom:

»Sehen Sie nach, was auf Ihrem Zettel steht, Herr Driscoll.«

Tom las laut:

»Man prophezeite mir, daß ich einen Menschen umbringen würde. Der Spruch ging in Erfüllung, noch ehe das Jahr vorüber war.«

»Nun lesen Sie auch dies!«

» Sie haben jemand umgebracht, ob es aber ein Mann, eine Frau oder ein Kind ist, kann ich nicht ermitteln,« las Tom mit Verwunderung. »Aber, das ist ja unerhört, das geht über alle Begriffe,« rief er in großer Erregung. »Die eigene Hand eines Menschen ist sein ärgster Todfeind – sie führt ein Verzeichnis über die schlimmsten und verborgensten Geheimnisse seines Lebens und ist stets bereit, sie dem ersten besten Schwarzkünstler, der des Weges kommt, treulos zu verraten. Warum lassen Sie denn aber auch Ihre Hand ansehen, wenn etwas so Schreckliches darin geschrieben steht?«

»O, das macht mir nichts aus,« versetzte Luigi gelassen. »Ich hatte meine guten Gründe, den Mann zu töten und bereue es keineswegs.«

»Weshalb thaten Sie es denn?«

»Es war ein Ding der Notwendigkeit.«

»Ich will Ihnen sagen, wie es kam, da mein Bruder mit der Sprache zögert,« rief jetzt Angelo eifrig. »Er tötete ihn, um mir das Leben zu retten; es war eine edle That, die das Licht nicht zu scheuen braucht.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht,« bestätigte Wilson, »wer so etwas um seines Bruders willen vollbringt, darf sich dessen wohl rühmen.«

Luigi schüttelte den Kopf. »Es klingt zwar alles sehr schön, was ihr da sagt, aber mit der Selbstlosigkeit, dem Heldentum und Edelmut ist’s nicht weit her. Vergeßt nur nicht, daß ich Angelos Leben retten mußte, weil sonst auch meines bedroht war. Würde der Mann mich etwa nicht umgebracht haben, nachdem er meinen Bruder getötet hatte? Also habe ich mir selbst das Leben gerettet.«

»Ja, so sprichst du immer,« rief Angelo, »aber ich kenne dich und glaube, du hast gar nicht an dich selbst gedacht. Die Waffe, mit der Luigi den Mann getötet hat, bewahre ich als Andenken und will sie Ihnen einmal zeigen. Sie hat durch dies Ereignis noch an Interesse gewonnen, aber schon ehe sie in Luigis Hände kam, hatte sie ihre Geschichte. Ein großer indischer Prinz, der Gaikowar von Baroda, in dessen Familienbesitz sie sich seit zwei oder drei Jahrhunderten befand, hat sie Luigi geschenkt. Schon manchem, der jenem Hause feindlich gesinnt oder lästig war, mag damit der Garaus gemacht worden sein. Es ist ein absonderliches Ding, ganz anders geformt als ein gewöhnliches Dolchmesser. Ich will Ihnen gleich eine Zeichnung davon machen.« Er nahm ein Blatt Papier und warf rasch eine Skizze hin. »So ungefähr sieht es aus – die breite, mörderische Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser. Die Namen oder Abzeichen seiner Besitzer sind der Reihe nach darin eingegraben. Luigis Namen und unser Wappen ließ ich selbst in lateinischer Schrift hinzufügen. Ganz eigentümlich ist auch der Griff; er besteht aus massivem, spiegelglattem Elfenbein, ist rund, vier bis fünf Zoll lang und so dick wie das Handgelenk eines starken Mannes. Das Ende ist abgeplattet, damit der Daumen darauf ruhen kann, wenn man das Dolchmesser emporhebt, um zuzustoßen. Der Gaikowar zeigte uns, wie man es handhaben muß, als er es Luigi gab, und noch in derselben Nacht stieß ihm mein Bruder einen seiner Leute mit dem Messer nieder. Die Scheide ist mit prachtvollen Edelsteinen von großem Werte reich verziert und würde Ihnen vielleicht noch besser gefallen als die Waffe selbst.«

Als Tom das hörte, dachte er bei sich: »Wie gut, daß ich hergekommen bin; ich hätte das Dolchmesser um einen Pappenstiel verkauft, weil ich die Edelsteine für gewöhnliches Glas hielt.«

»Erzählen Sie doch weiter,« bat Wilson, »wir sind begierig, etwas von dem Ueberfall zu erfahren. Wie ging es denn dabei zu?«

»Das Messer war einzig und allein schuld daran. Ein eingeborener Diener schlich sich des Nachts in unser Zimmer im Palast, um es zu stehlen, ohne Zweifel wegen der kostbaren Steine auf der Scheide, die ein ganzes Vermögen wert sind. Es lag unter Luigis Kopfkissen und wir waren beide im Bett. Ich schlief, Luigi aber wachte, und beim düstern Schein des Nachtlichts, das im Zimmer brannte, glaubte er die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, die sich dem Lager näherte. Er zog das Messer aus der Scheide und rüstete sich zur Gegenwehr. Decken und Betttücher brauchte er nicht erst zurückzuschlagen, denn bei der großen Hitze hatten wir keine. Plötzlich richtete sich jener Eingeborene neben dem Bette auf und beugte sich über mich; in seiner erhobenen Rechten funkelte ein Dolch, mit dem er nach meiner Kehle zielte. Doch rasch packte Luigi den Mann am Handgelenk, warf ihn zu Boden und stieß ihm das scharfe Messer ins Genick. – Das ist die ganze Geschichte.«

Die Zuhörer holten tief Atem, und man sprach noch eine Weile über den schrecklichen Vorfall. Dann griff Wilson nach Toms Hand.

»Laß doch einmal sehen, Tom,« sagte er, »ob bei dir nicht irgend eine kleine, verborgene Heimlichkeit zu entdecken wäre. Zufällig habe ich deine Handfläche noch nie besichtigt. – Oho! –«

Tom hatte ihm rasch die Hand entzogen und sah ganz bestürzt aus.

»Er wird ordentlich rot,« rief Luigi.

»So?« erwiderte Tom heftig und warf ihm einen bösen Blick zu, »aber doch wenigstens nicht, weil ich ein Mörder bin!«

Luigis dunkle Augen flammten; ehe er jedoch etwas thun oder sagen konnte, rief Tom schon mit ängstlicher Hast: »O, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, ich habe das gar nicht sagen wollen, es fuhr mir nur so heraus. Es thut mir wirklich sehr, sehr leid – nicht wahr, Sie verzeihen mir?«

Wilson kam ihm zu Hilfe und suchte die Sache friedlich beizulegen, so gut er konnte. Das gelang ihm auch vollkommen, so weit es die Zwillinge betraf; denn ihnen war die unangenehme Lage, in die Wilson durch die rohen Worte seines Gastes geraten war, peinlicher als die Beleidigung selbst. Auf Tom hatte aber Wilsons Vermittlung keine so günstige Wirkung. Zwar stellte er sich möglichst unbefangen, und man merkte ihm auch äußerlich keine Verstimmung an, aber im Grunde grollte er doch den drei Zeugen seiner Unhöflichkeit. Es verdroß ihn, daß sie überhaupt zugegen gewesen waren und seine Worte beachtet hatten, und dabei vergaß er fast, sich über seinen eigenen Mangel an Lebensart zu ärgern. Doch bald geschah etwas, wodurch seine Gemütsverfassung wieder behaglicher und menschenfreundlicher wurde. Die Zwillinge fingen nämlich unter sich Streit an; es war zwar nur ein unbedeutender Wortwechsel, aber sie erhitzten sich doch in kurzer Zeit gewaltig gegen einander. Tom hatte große Freude daran und that was er konnte, um das Feuer zu schüren, natürlich mit Vorsicht, und indem er sich den Anschein gab, als wünsche er es zu dämpfen. Bald entfachte sich die Glut mit seiner Hilfe mehr und mehr, und vielleicht hätte er im nächsten Augenblick die Genugthuung gehabt, die Flamme emporlodern zu sehen, wäre der Auftritt nicht durch ein Klopfen an der Thür unterbrochen worden. Diese Störung kam ihm ebenso ungelegen, wie sie Wilson angenehm war.

Der neue Ankömmling, dem Wilson die Thür öffnete, war ein gutmütiger, handfester und ungebildeter Irländer von mittleren Jahren, Namens John Buckstone, ein großer Politiker im kleinen, der an allen öffentlichen Angelegenheiten einen hervorragenden Anteil nahm. Gerade jetzt war die Stadt in voller Aufregung wegen der herrschenden Meinungsverschiedenheit über den Genuß berauschender Getränke. Die Rum-Partei kämpfte einen erbitterten Kampf mit der Anti-Rum-Partei. Buckstone gehörte zu ersterer und war abgesandt worden, um die Zwillinge aufzusuchen und sie einzuladen, einer Massenversammlung der Rum-Partei beizuwohnen. Er richtete seine Botschaft aus und fügte hinzu, daß die Bundesbrüder sich schon in der großen Halle des Markthauses versammelten. Luigi folgte der Aufforderung bereitwillig, Angelo dagegen nur zögernd, denn er liebte weder ein großes Gedränge, noch konnte er den starken, amerikanischen Branntwein vertragen. Auch neigte er dem Mäßigkeitsverein zu.

Als die Zwillinge sich mit Buckstone entfernten, schloß sich ihnen Tom Driscoll unaufgefordert an. Schon von weitem konnte man die lange Reihe der Fackeln hin- und herschwanken sehen, die sich die Hauptstraße hinunter bewegten; die Pauken dröhnten, die Zimbeln schmetterten, die Querpfeifen quiekten, und fernes Hurrahgeschrei schallte an ihr Ohr. Eben stiegen die letzten Teilnehmer am Zuge die Treppe des Markthauses hinauf, als die Zwillinge sich dem Gebäude näherten; sie fanden die Halle schon dicht gedrängt voll von Menschen, die Fackeln rauchten und überall herrschte Lärm und Begeisterung.

Buckstone führte die Brüder auf die Rednerbühne, wohin ihnen Tom Driscoll gleichfalls folgte, und stellte sie dem Präsidenten vor, während die Menge sie mit lautem Zuruf willkommen hieß. Als der Lärm sich etwas gelegt hatte, forderte der Vorsitzende die Anwesenden auf: »die erlauchten Gäste damit zu begrüßen, daß wir sie alsbald zu Mitgliedern unserer glorreichen Vereinigung – dem Paradies der Freien und dem Verderben der Sklaven – durch allgemeines Handaufheben erwählen.«

Dieser rednerische Erguß öffnete die Schleusen der Begeisterung von neuem; die Wahl erfolgte mit Einstimmigkeit und donnerndem Beifall. Dann vernahm man stürmische Rufe: »Feuchtet sie an! Feuchtet sie an! Sie sollen uns Bescheid thun!«

Jedem Zwilling wurde ein Glas Whisky gereicht. Luigi schwenkte es in der Luft und setzte es dann an die Lippen, während Angelo das seinige hinstellte. Wieder erhob sich ein Geschrei.

»Was soll das bedeuten? Was ist mit dem andern los? Warum will der Blonde uns nicht zutrinken? Wie sollen wir das verstehen?«

Der Vorsitzende zog Erkundigungen ein und erstattete der Versammlung Bericht:

»Wir haben einen unglücklichen Irrtum begangen, meine Herren. Es stellt sich heraus, daß Graf Angelo Capello unsere Ueberzeugung nicht teilt. Er ist eigentlich ein Mäßigkeitsvereinler und hat gar nicht die Absicht gehabt, Mitglied bei uns zu werden. Deshalb wünscht er, daß wir über seine Wahl noch einmal abstimmen. Ich bitte die Herren, dies in Erwägung zu ziehen.«

Nun entstand ein gellendes Gelächter, in das sich lautes Murren und Pfeifen mischte; doch gelang es dem Präsidenten durch den kräftigen Gebrauch der Glocke die Ruhe einigermaßen wiederherzustellen. Ein Mann aus der Menge ergriff das Wort und sagte, daß der Mißgriff zwar sehr zu bedauern sei, doch ließe er sich unmöglich bei der heutigen Zusammenkunft wieder gut machen. Nach den Statuten könne das erst in der nächsten, regelmäßigen Sitzung geschehen. Er wolle keinen Antrag stellen, da das nicht erforderlich sei, doch wünsche er, den Herrn Grafen im Namen des Hauses um Entschuldigung zu bitten und ihn zu versichern, daß die ›Söhne der Freiheit‹ alles thun würden, um ihm seine zeitweilige Mitgliedschaft so angenehm wie möglich zu machen.

Die Rede wurde mit schallendem Beifall aufgenommen. »Ganz einverstanden!« tönte es von allen Seiten. »Mäßigkeitsvereinler oder nicht – er ist doch ein guter Kerl! Laßt ihn leben! Bringt ihm ein Hoch aus, leert die Gläser!«

Auf der Rednerbühne wurden Gläser herumgereicht, man trank auf Angelos Gesundheit und die ganze Versammlung brüllte im Chor:

Hoch soll er leben,
Hoch soll er leben,
Hoch soll er leben.
Dreimal hoch!!!

Tom Driscoll trank auch; es war sein zweites Glas, denn er hatte Angelos Glas geleert, sobald dieser es hinstellte. Der doppelte Trunk machte ihn sehr lustig, sogar unbändig ausgelassen; er begann sich aufs lebhafteste an allem zu beteiligen, was geschah und sich besonders beim Pfeifen und Johlen, sowie durch allerlei schnöde Bemerkungen hervorzuthun.

Der Präsident, der eben eine Ansprache beginnen wollte, stand noch vorn an der Rampe, ihm zur Seite die Zwillinge. Die wunderbare Aehnlichkeit der beiden Brüder brachte Tom Driscoll darauf, einen Witz zu machen; er trat vor und wandte sich mit trunkener Dreistigkeit an die Versammlung:

»Jungens,« rief er, »ich stelle den Antrag: der da soll schweigen und das lebendige Vielliebchen neben ihm eine Rede vom Stapel lassen.«

Der komische Vergleich der Zwillinge mit einem Vielliebchen gefiel den Anwesenden, die in ein donnerndes Gelächter ausbrachen. Luigis feuriges Gemüt ertrug jedoch die Beleidigung, die ihm in Gegenwart von vierhundert Fremden angethan wurde, nicht mit Gelassenheit. Seine ganze Natur empörte sich dagegen, die Sache ruhig hinzunehmen, ohne auf der Stelle Wiedervergeltung zu üben. Kochend vor Wut trat er mit ein paar Schritten hinter den ahnungslosen Witzbold, holte aus und versetzte ihm mit wahrer Riesenkraft einen so gewaltigen Fußtritt, daß Tom geradeswegs über die Rampe hinweggeschleudert wurde und den ›Söhnen der Freiheit‹ in der vorderen Reihe auf die Köpfe fiel.

Selbst in völlig nüchternem Zustand ist es keinem Menschen angenehm, wenn er ganz harmlos dasteht und plötzlich so ein lebendiges Wurfgeschoß auf ihn losgelassen wird. Wer aber einen Rausch hat, kann dergleichen gar nicht vertragen. Die ›Söhne der Freiheit‹, auf deren Köpfen Tom landete, hatten alle schon etwas über den Durst getrunken, es gab überhaupt in der ganzen Versammlung kaum jemand, der nicht zu tief ins Glas geschaut hatte. So wurde denn Tom mit Entrüstung sofort auf die Köpfe der nächsten Reihe weiterbefördert, die ihn wieder auf die Hintermänner ablud und zugleich mit den vorderen ›Söhnen der Freiheit‹, von denen er auf sie geworfen worden war, eine wütende Schlägerei begann. Das ging so weiter, von einer Bank zur andern, bis Tom, auf seinem stürmischen Fluge durch die Luft, die Thür erreichte. Hinter ihm tobten, rauften, fluchten und wetterten alle in wildem Durcheinander. Eine Reihe brennender Fackeln nach der andern wurde bei dem Handgemenge auf den Boden geworfen, und bald erscholl noch lauter als der betäubende Lärm der Präsidentenglocke, als das Gebrüll der zornigen Stimmen und das Krachen der zertrümmerten Bänke, der entsetzliche Schreckensruf: » Feuer!«

Sogleich hörte der Kampf auf, das Fluchen verstummte; einen Augenblick herrschte lautlose Stille, nichts regte sich, wo eben noch der Sturm gerast hatte. Im nächsten Moment aber kam mit einem Schlage wieder Leben und Thatkraft in die Menge. Es entstand ein Wogen, Drängen und Schwanken hierhin und dorthin. Wer konnte, suchte einen Ausweg durch Thür oder Fenster, das Gewühl wurde bald weniger dicht und die Massen lichteten sich.

So schnell war die Feuerwehr wohl noch nie zur Hand gewesen; sie brauchte freilich nicht weit zu gehen, denn ihr Standquartier war in einem Anbau des Markthauses. Von ihren zwei Abteilungen hatte eine die Spritze, die andere Haken und Feuerleitern zu verwalten. Eine Hälfte jeder Abteilung gehörte zur Rum-Partei, die andere Hälfte zur Anti-Rum-Partei, das hielt man damals für recht und billig. Die Anti-Rum-Leute, die gerade im Quartier herumlungerten, waren zahlreich genug, um die Leitern und Spritzen zu bedienen. In zwei Minuten hatten sie ihre Helme und roten Hemden angelegt, denn ohne die Berufsuniform rückten sie niemals aus.

Als nun die Massenversammlung im oberen Stock über Hals und Kopf durch die lange Reihe der Fenster sprang und sich auf das Dach der Arkaden flüchtete, empfingen die Retter sie mit einem mächtigen Wasserstrahl, der einige vom Dach herunterspülte und die übrigen fast ersäufte. Aber immerhin war das Wasser dem Feuer vorzuziehen, deshalb sprangen fortwährend neue Scharen durch die Fenster und wurden erbarmungslos so lange durchweicht, bis das Haus sich völlig geleert hatte. Dann stiegen die Feuerwehrleute in den Saal hinauf und überfluteten ihn mit einer Wassermasse, die genügt hätte, um ein vierzigmal so großes Feuer zu löschen. Eine so schöne Gelegenheit sich zu zeigen, kommt für die Feuerwehr einer kleinen Stadt selten vor und muß gut ausgenützt werden. Alle anständigen und urteilsfähigen Bürger des Ortes versicherten sich deshalb nicht mehr gegen Feuerschaden, sondern gegen die Feuerwehr.

  1. Wohlverstanden – im Manuskript! Leute, die den Autor um sein gedrucktes Buch angehen, pflegen von diesem und seinem Verleger scheel angesehen zu werden. M. T.

Dreizehntes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Am Freitag abend lag Richter Driscoll schon um zehn Uhr im Bett und schlief; beim ersten Morgengrauen aber war er wieder auf und ging mit seinem Freunde Pembroke Howard auf den Fischfang. Die beiden hatten ihre Knabenjahre in Virginien verlebt, als dieser Staat noch der wichtigste in der ganzen Union war, und sie sprachen nie anders als mit stolzer Zärtlichkeit vom ›Alten Virginien‹. Jeder, der dorther stammte, wurde in Missouri als ein höheres Wesen angesehen, zumal, wenn er seine Abkunft von einer der ersten Familien jenes berühmten Freistaates nachweisen konnte. Die Howards und Driscolls gehörten zu diesen Bevorzugten, die sich für den Adel des Landes hielten. Sie gehorchten einem ungeschriebenen Gesetz, das so streng festgehalten und befolgt wurde, wie nur irgend ein Artikel der gedruckten Gesetzessammlung. Jeder Nachkomme dieser vornehmsten Gesellschaft der Südstaaten war ein geborener Edelmann und hatte keine höhere Pflicht im Leben, als das große Erbteil der Väter zu bewahren und seine Ehre lauter und unbefleckt zu erhalten. Dem Standesgesetz mußte er unverbrüchlich Folge leisten; wich er auch nur um Haaresbreite davon ab, so war es aus mit ihm und seinem Ansehen bei den Genossen. Verlangte das Gebot der Ehre Dinge, die mit seiner Religion nicht im Einklang standen, so mußte die Religion schweigen. Die Ehre ging allem anderen vor, weder religiöse noch sonstige Pflichten kamen dagegen in Betracht. Jenes Gesetz bestimmte genau, worin die Ehre des Edelmannes bestand und in welchen Punkten sie sich von dem unterschied, was das kirchliche Bekenntnis, das bürgerliche Gesetz sowie Sitte und Brauch aller niedrigeren Erdenbewohner, in deren Adern kein altvirginisches Blut floß, für den Inbegriff der Ehre erklärt.

Wenn allgemein anerkannt wurde, daß Richter Driscoll der vornehmste Bürger von Dawson war, so galt Pembroke Howard als der zweite dem Range nach. Man nannte ihn gewöhnlich den ›großen Anwalt‹ – diesen Titel hatte er sich wohl verdient. Die beiden Freunde standen im gleichen Alter, sie waren angehende Sechziger.

Daß Driscoll ein Freidenker war und Howard ein strenger, eifriger Presbyterianer, that der Wärme ihrer Gefühle für einander keinen Abbruch. Beide Männer sahen ihre Ueberzeugung als ein persönliches Eigentum an, das sie weder fremdem Lob und Tadel, noch irgend welchen Verbesserungsvorschlägen zu unterbreiten wünschten, und kämen diese selbst von seiten ihrer Freunde.

Nachdem sie den Tag über gefischt hatten, fuhren sie in ihrem Boot den Fluß hinunter. Sie unterhielten sich gerade über Volkswirtschaft und andere hohe Dinge, als ihnen von der Stadt her ein Mann im Kahn entgegengerudert kam und sie folgendermaßen anredete:

»Wissen Sie’s schon, Herr Richter, daß einer von den neuen Zwillingen Ihrem Neffen gestern abend einen Fußtritt gegeben hat?«

»Was – hat er ihm gegeben?«

»Ich sag’s ja – einen Fußtritt.«

Der alte Richter erblaßte, seine Augen begannen zu funkeln: einen Moment war er sprachlos vor Zorn, dann stammelte er: »Nun – und was weiter? Erzählen Sie mir alles.«

Das that der Mann. Als er fertig war, schwieg der Richter einen Augenblick; er sah im Geiste, wie Tom mit Schimpf und Schande über die Rampe flog, dann sagte er, als spräche er laut mit sich selber: »Hm – ich kann es nicht verstehen. Ich lag zu Hause im Schlaf. Er hat mich nicht geweckt. Glaubte vermutlich, er sei Manns genug, seine Sache ohne meine Hilfe zu führen.« – Driscolls Züge erheiterten sich vor stolzer Freude bei dem Gedanken. »Es ist mir lieb,« fuhr er mit wohlgefälligem Behagen fort, »da zeigt sich das echte, alte Blut – was meinst du, Pembroke?«

Howard lächelte in eherner Ruhe und nickte beistimmend mit dem Haupte.

»Aber vor Gericht hat Tom über den Zwilling gesiegt,« nahm der Mann, welcher die Nachricht gebracht hatte, wieder das Wort.

Der Richter sah ihn verwundert an.

»Vor Gericht? – Wie meint Ihr das?«

»Nun, Tom hat gegen ihn eine Anklage wegen thätlicher Beleidigung erhoben. Der Richter Robinson hat die Verhandlung geleitet.«

Der alte Driscoll sank plötzlich in sich zusammen, als hätte ihn der Schlag gerührt. Howard sprang herzu, fing den Ohnmächtigen in seinen Armen auf und bettete ihn sorgfältig auf den Boden des Bootes. Während er ihm Wasser ins Gesicht spritzte, rief er dem Unglücksboten zu:

»Rasch, fahren Sie weiter, damit er Sie nicht mehr hier findet, wenn er zum Bewußtsein kommt. Sie haben schon Schaden genug angerichtet mit Ihren unbesonnenen Reden. Wie konnten Sie nur so rücksichtslos sein und mit der abscheulichen Verleumdung mir nichts, dir nichts herausplatzen!«

»Es thut mir herzlich leid, Herr Howard, ich würde es auch gewiß nicht gesagt haben, wenn ich mir’s recht überlegt hätte. Aber eine Verleumdung ist es nicht, sondern die reinste Wahrheit.«

Er ruderte fort. Bald darauf kam der alte Richter wieder zu sich und sah den Freund, der sich teilnehmend über ihn beugte, mit jammervollen Blicken an.

»Sage, daß es erlogen ist, Pembroke – es kann doch nicht wahr sein!« flüsterte er mit schwacher Stimme.

Die Antwort erfolgte sogleich im kräftigsten Brustton:

»Du mußt doch so gut wie ich wissen, daß es eine Lüge ist, alter Freund. Fließt denn nicht das beste Blut Altvirginiens in seinen Adern?«

»Gott lohne dir’s, daß du so sprichst,« entgegnete der alte Herr voll Innigkeit. »O, Pembroke, es hat mir solchen Stoß gegeben!«

Howard verließ seinen Freund nicht, er brachte ihn heim und ging mit ihm ins Haus. Es war schon dunkel und Zeit zum Abendbrot, aber der Richter dachte nicht an Essen und Trinken. Sein einziger Wunsch war, aus Toms Munde zu hören, daß alles auf Verleumdung beruhe und Howard sollte bei der Erklärung zugegen sein. Tom wurde gerufen und erschien auch sogleich, lahm, zerschlagen und in höchst unglücklicher Verfassung. Sein Onkel hieß ihn sich setzen.

»Man hat uns dein Abenteuer erzählt, Tom,« sagte er, »und uns zum Ueberfluß noch eine hübsche Lüge aufgetischt. Die sollst du mir jetzt gleich zu Schanden machen, daß kein Stäubchen davon übrig bleibt. Welche Maßregeln hast du getroffen? Wie steht deine Sache? Sprich!«

»Sie steht gar nicht mehr,« antwortete der arglose Tom, »es ist alles vorüber. Ich ging mit ihm vor Gericht und klagte. Querkopf Wilson hat ihn verteidigt, es war sein erster Prozeß, den er aber verlor. Robinson hat den elenden Hund wegen thätlicher Beleidigung um fünf Dollars gestraft.«

Howard und der Richter waren gleich bei den ersten Worten aufgesprungen – sie wußten beide nicht warum. Nachdem sie einander eine Weile mit ausdruckslosen Mienen angestarrt hatten, nahm Howard voll stummer Trauer wieder Platz. Des Dichters Zorn aber brach in hellen Flammen aus.

»Du erbärmlicher Wicht, du Hund, du Scheusal!« schrie er. »Das wagst du mir ins Gesicht zu sagen! Ist es möglich, daß ein Glied meiner Familie, ein Mensch, dem unser Blut in den Adern fließt, einen Schlag erhält und aufs Gericht läuft, um den Schimpf zu sühnen? Antworte mir!«

Tom ließ den Kopf hängen, sein Schweigen war die beredteste Antwort. Der Onkel starrte ihn mit einem Ausdruck an, in dem sich Scham und ungläubiges Staunen mischten. Er litt zum Erbarmen; endlich fragte er:

»Welcher von den Zwillingen war es?«

»Graf Luigi.«

»Hast du ihm eine Herausforderung geschickt?«

»N–nein,« stammelte Tom.

»Du wirst es noch diesen Abend thun. Howard wird sie ihm bringen.«

Tom wurde jämmerlich zu Mute, und man sah es ihm an. Er drehte seinen Hut fort und fort in der Hand und der Blick des Onkels verfinsterte sich immer mehr, während Sekunde auf Sekunde verrann.

»O bitte, Onkel, verlange das nicht von mir,« stammelte er endlich in kläglichem Ton. »Er ist ein blutgieriger Teufel – ich wäre außer stande – wirklich – ich fürchte mich vor ihm.«

Dreimal öffnete der alte Driscoll den Mund und schloß ihn wieder, ehe er der Sprache mächtig war, dann donnerte er:

»Ein Feigling in meiner Familie! Ein Driscoll und solche elende Memme! O, was habe ich gethan, um diese Schmach zu verdienen!«

Er wiederholte die Klage fort und fort in herzbrechendem Ton, während er nach seinem Schreibpult in der Ecke wankte. Aus einer der Schubladen nahm er ein Papier heraus und riß es in kleine Stücke, die er achtlos im Zimmer verstreute, während er tiefbekümmert und seufzend hin- und herging. Endlich sagte er:

»Jetzt habe ich es zum zweitenmal zerfetzt und zerrissen – mein Testament. Wieder hast du mich gezwungen, dich zu enterben, du verächtlicher Sohn deines edeln Vaters. Geh‘ mir aus den Augen! Geh‘ – damit ich dir nicht ins Gesicht speie!«

Der junge Mann ließ sich das nicht zum zweiten Mal sagen Nun wandte sich der Richter zu Howard:

»Nicht wahr, du bist mein Sekundant, alter Freund?«

»Natürlich.«

»Da ist Papier und Tinte. Schreibe die Herausforderung, verliere keine Zeit.«

»Der Graf soll sie in Händen haben, ehe eine Viertelstunde um ist,« versetzte Howard.

 

Tom war das Herz zentnerschwer. Der Verlust seines Vermögens und seiner Selbstachtung hatte ihn ganz zu Boden gedrückt. Kummervoll schlich er zur Hinterthür hinaus und wanderte durch die Dunkelheit. Er überlegte, ob es ihm wohl möglich sein würde, des Onkels Gunst zurück zu gewinnen, wenn er von nun an seinen Lebenswandel aufs sorgfältigste überwachte und besserte. Sollte er den Onkel nicht bewegen können, das Testament, in dem er ihn so freigebig bedacht hatte, und das eben vor seinen Augen vernichtet worden war, noch einmal aufzusetzen? – Warum denn nicht? Er hatte ja diesen Triumph schon einmal erlebt, und was ihm damals gelungen war, konnte auch wieder glücken. Auf der Stelle wollte er sich ans Werk machen und seine ganze Thatkraft einsetzen, bis er den Sieg abermals davontrug. Mochte seine Bequemlichkeit auch noch so sehr darunter leiden und er sein leichtsinniges und ungebundenes Leben zeitweilig aufgeben müssen – sein Entschluß war gefaßt. »Zuerst,« nahm er sich vor, »will ich mit meiner Beute von neulich alle Schulden bezahlen, und dann muß ich dem Glücksspiel entsagen und zwar ohne weiteres. Es ist mein schlimmstes Laster, wenigstens in meinen Augen, weil es am leichtesten ans Licht kommt, wenn die Gläubiger ungeduldig werden. Dem Alten war es damals zu viel, zweihundert Dollars für mich an sie auszuzahlen. Zuviel – lächerlich! Mich hat es sein ganzes Vermögen gekostet. Aber gewisse Leute sehen alles immer nur von ihrem Standpunkt aus. Wüßte er, wie tief ich jetzt in Schulden stecke, das Testament wäre zum Kuckuck gegangen, ohne daß erst noch ein Duell dabei zu helfen brauchte. Dreihundert Dollars! Was für ein Haufen Geld! Aber zum Glück braucht er nie etwas davon zu erfahren. Sobald es bezahlt ist, bin ich frei – und dann rühre ich keine Karte wieder an. Wenigstens nicht so lange er lebt, darauf will ich schwören. Ich weiß, dies ist meine letzte Gelegenheit mich zu bessern – doch ich setze es durch. Käme ich hernach noch einmal zu Falle, so wäre ich verloren.«

Vierzehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

In trübselige Selbstbetrachtung versunken, schlich Tom durch den Heckenweg an Querkopf Wilsons Haus vorbei und weiter, zwischen Zäunen und unbebautem Land, bis zum Gespensterhaus. Dort kehrte er unter vielen Seufzern und mit kummerschwerem Gemüt wieder um. Er sehnte sich nach fröhlicher Gesellschaft. Sollte er zu Rowena gehen? Das Herz hüpfte ihm im Leibe bei dem Gedanken, aber gleich darauf verging ihm die Lust, denn er fürchtete, den verhaßten Zwillingen zu begegnen.

Als er sich jetzt der bewohnten Seite von Wilsons Hause näherte, bemerkte er, daß drinnen im Zimmer Licht brannte. Das war doch ein Hoffnungsstrahl. Andere Leute ließen es ihn bisweilen fühlen, daß er nicht willkommen sei, aber Wilson behandelte ihn immer rücksichtsvoll. Bei einem höflich verbindlichen Empfang ist man wenigstens vor Kränkung sicher, selbst wenn die Begrüßung nicht gerade herzlich klingt.

Gleich darauf vernahm Wilson Fußtritte vor seiner Schwelle und ein starkes Räuspern. »Das wird wohl der unbesonnene junge Thor sein,« dachte er; »der arme Kerl, er findet heute gewiß wenig Ansprache, nachdem er die Dummheit begangen hat, einen Fall thätlicher Beleidigung vor Gericht zu bringen.«

Es ward schüchtern angeklopft. »Herein!«

Tom trat ins Zimmer und sank ohne ein Wort zu sagen auf den nächsten Stuhl.

»Du siehst ja ganz verzweifelt aus, mein Junge,« redete ihn Wilson freundlich an. »Nimm dir’s nicht so zu Herzen, versuche den Fußtritt zu vergessen.«

»O jemine! das ist es nicht, David,« rief Tom in kläglichem Ton, »sondern ganz etwas anderes. Viel tausendmal schlimmer – ja millionenmal schlimmer als das – du kannst mir’s glauben.«

»Nicht möglich, Tom! Hat etwa Rowena –«

»Mir den Laufpaß gegeben? Nein – aber der Alte ist wütend.«

»Aha,« dachte Wilson, dem das geheimnisvolle Mädchen im Schlafzimmer wieder einfiel, »man wird wohl bei Driscolls hinter seine Schliche gekommen sein!« Dann fuhr er laut mit ernster Miene fort:

»Ich gestehe, daß es Ausschweifungen giebt –«

»Ach was – von Ausschweifungen ist keine Rede. Er verlangte, daß ich mich mit dem verdammten Italiener schlagen sollte und ich weigerte mich.«

»Natürlich mußte er die Sache so ansehen,« sagte Wilson bedächtig; »ich verstehe nur nicht, warum er nicht gleich gestern abend für das Nötige gesorgt hat, und wie er zugeben konnte, daß du einen solchen Fall vor Gericht brachtest, gleichviel ob vor oder nach dem Duell. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Wie ist es nur zugegangen?«

»Ganz einfach – er hat keine Silbe davon gewußt. Als ich gestern abend nach Hause kam, schlief er schon.«

»Und du hast ihn nicht aufgeweckt? – Wie unrecht war das!«

Also, selbst hier fand Tom nur schlechten Trost. Er rückte unruhig auf dem Stuhl hin und her. »Ich konnte es nicht über mich bringen, es ihm zu sagen. Er ging bei Tagesanbruch mit Pembroke Howard auf den Fischfang, und ich dachte, man würde die Zwillinge ins Loch stecken. Daß sie für solche Niederträchtigkeit mit einer lumpigen Geldstrafe fortkämen, hätte ich mir nicht träumen lassen. Warf man sie aber ins Stadtgefängnis, so waren sie entehrt, und ein Duell mit solchen Leuten würde Onkel weder von mir gefordert noch überhaupt gestattet haben.«

»Wahrhaftig, Tom, ich muß mich in deiner Seele schämen! Wie hast du nur so gegen deinen guten alten Onkel handeln können? Da meine ich’s doch weit besser mit ihm als du. Wäre ich über alle Umstände unterrichtet gewesen, so würde ich dafür gesorgt haben, daß die Sache nicht vor Gericht kam, bis ich sie ihm gemeldet hatte, damit er standesgemäß verfahren konnte.«

»Ist das dein Ernst?« rief Tom mit lebhafter Ueberraschung. »Und es war doch dein erster Rechtsfall; auch weißt du sehr wohl, daß Onkel überhaupt nicht vor Gericht gegangen wäre. Dann hättest du noch lange auf einen Prozeß warten können. Und trotzdem hättest du das wirklich gethan?«

»Ganz gewiß.«

Tom sah ihn eine Weile an, dann schüttelte er mitleidig den Kopf.

»Meiner Treu, du wärst es imstande gewesen. Querkopf Wilson, ich glaube wahrhaftig, du bist der thörichtste Mensch, der mir je vorgekommen ist.«

»Sehr verbunden.«

»Keine Ursache.«

»Also, dein Onkel hat verlangt, du sollst dich mit dem Italiener schlagen und du willst nicht! Du entarteter Sprößling eines ehrenwerten Stammes, schämst du dich denn gar nicht?«

»O, das ist mir alles ganz einerlei, nun das Testament zerrissen ist.«

»Sage mir die Wahrheit, Tom – hat Herr Driscoll sonst keinen Grund zur Unzufriedenheit mit dir, als daß du aufs Gericht gegangen bist und dich nicht schlagen willst?«

Bei dieser Frage beobachtete Wilson den jungen Menschen genau, aber Tom verzog keine Miene und entgegnete gelassen:

»Nein, er hat keine andere Klage gegen mich, sonst wäre er gestern damit herausgerückt, denn er war in nichtswürdiger Laune. Er hatte die beiden Hansnarren in der Stadt herumkutschiert, um ihnen alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen, und als er nach Hause kam, konnte er seines Vaters alte, silberne Uhr nicht finden, die immer nachgeht und auf die er so große Stücke hält. Er hatte sie zuletzt vor drei oder vier Tagen in der Hand gehabt und wußte nicht, wo sie hingeraten sein könne. Als ich dazu kam, war er schon in großer Aufregung und wurde ganz wütend über meine Aeußerung, daß sie wahrscheinlich nicht verlegt, sondern gestohlen wäre. Er nannte mich einen Dummkopf, was mir ein Beweis war, daß er selbst schon an die Möglichkeit gedacht hatte, aber es sich nicht eingestehen wollte, weil bei verlorenen Sachen eher eine Wahrscheinlichkeit ist, daß sie sich wiederfinden, als bei gestohlenen.«

Wilson pfiff vor sich hin. »Da kommt also noch einer auf die Liste.«

»Noch einer – was für einer?«

»Noch ein Diebstahl.«

»Ein Diebstahl?«

»Jawohl. Die Uhr ist nicht verloren, sie ist gestohlen. In der Stadt ist wieder ein förmlicher Raubzug gehalten worden, ganz auf dieselbe geheimnisvolle Art, wie schon früher einmal.«

»Unmöglich!«

»Es steht felsenfest. Hast du selbst gar nichts vermißt?«

»Nein. Das heißt, ich konnte meinen silbernen Bleistifthalter nicht finden, den ich von Tante Pratt zum letzten Geburtstag geschenkt bekam –«

»Der ist gewiß gestohlen, du sollst es sehen.«

»Bewahre! Als mein Onkel so böse wurde, weil ich sagte, die Uhr wäre gestohlen, ging ich in mein Zimmer hinauf und sah nach meinen Sachen. Da fehlte mir der Bleistifthalter, aber ich hatte ihn nur verlegt und fand ihn wieder.«

»Und sonst vermissest du wirklich nichts?«

»Wenigstens nichts von Belang. Ein einfacher Goldring, der etwa drei Dollars wert ist, war mir verschwunden, aber er wird gewiß bald zum Vorschein kommen, wenn ich noch einmal nachsehe.«

»Ich bin überzeugt, daß du ihn nicht wiederfindest. Der Dieb hat ihn gestohlen. – Herein!«

Der Friedensrichter Robinson, Buckstone und Jim Blake, der städtische Polizeibeamte, traten ins Zimmer. Nachdem sie Platz genommen hatten, drehte sich die Unterhaltung eine Zeitlang zweck- und ziellos um das Wetter und ähnliches, bis Wilson sagte:

»Denken Sie sich, die Liste der Diebstähle, die in unserer Stadt begangen worden sind, hat sich abermals um zwei vermehrt. Herrn Driscolls alte silberne Uhr ist verschwunden, und Tom sagt mir eben, daß er einen goldenen Ring vermißt.«

»Es ist eine abscheuliche Geschichte,« meinte Robinson, »die mit jedem Tage schlimmer wird. Bei den Hankses, den Dobsons, den Pelligrews, den Ortons, den Grangers, den Hales, den Füllers, den Holcombs, kurz, bei sämtlichen Leuten, die in Patsy Coopers Nachbarschaft wohnen, ist allerlei entwendet worden. Theelöffel, Schmuckgegenstände und sonstige Wertsachen, die sich leicht mitnehmen lassen. Es liegt auf der Hand, daß der Dieb die Gelegenheit benützt hat, um die unbewachten Häuser zu plündern, als alle Welt bei dem Empfang war, und die Neger am Zaun herumlungerten, weil sie auch etwas zu sehen bekommen wollten. Patsy ist ganz trostlos darüber, um der Nachbarn willen und besonders auch wegen ihrer fremden Mieter. Vor Kummer über den Schaden der andern findet sie kaum Zeit, ihre eigenen Verluste zu beklagen.«

»Wir haben es ohne Zweifel noch immer mit dem alten Dieb von neulich zu thun,« sagte Wilson.

»Konstabler Blake ist anderer Meinung.«

»Und ich habe recht,« sagte Blake. »Bei den früheren Malen war es ein Mann; das weiß die Polizei aus sicheren Anzeichen, obgleich sie seiner nicht habhaft geworden ist, aber diesmal ist’s eine Frau.«

Wilson mußte sogleich wieder an das geheimnisvolle Mädchen denken, das ihm fortwährend im Sinne lag; es war jedoch von einer andern Person die Rede.

»Jawohl,« fuhr Blake fort, »eine alte Frau mit krummem Rücken und einem Deckelkorb am Arm. Sie ist ganz schwarz gekleidet und hat einen dichten Schleier vorgebunden. Gestern sah ich sie in das Fährboot steigen; sie wird wohl in Illinois zu Hause sein. Mag sie aber wohnen, wo sie will, ich werde sie schon ausfindig machen, davor ist mir nicht bange.«

»Wie kommen Sie denn darauf, sie für die Diebin zu halten?«

»Nun, erstens habe ich sonst niemand im Verdacht und zweitens hat mir ein Karrenmann, ein Neger, der gerade des Weges fuhr, gesagt, er hätte sie in verschiedene Häuser hineingehen sehen, und in jedem von diesen Häusern war gestohlen worden.«

Gegen diese schlagenden Beweise fand niemand etwas einzuwenden. Alle schwiegen eine Weile nachdenklich, dann sagte Wilson:

»Ein Gutes ist doch dabei. Den kostbaren indischen Dolch des Grafen Luigi kann die Diebin weder verkaufen noch versetzen.«

»Du meine Güte,« rief Tom, »ist der auch gestohlen?«

»Jawohl.«

»Das nenne ich einen guten Fang! Aber weshalb kann sie das Messer weder verkaufen noch versetzen?«

»Weil die Zwillinge ihren Verlust überall den Pfandleihen: und der Polizei angezeigt haben. Als sie gestern abend von der Versammlung der ›Freiheitssöhne‹ zurückkamen, waren inzwischen eine Menge Diebereien ruchbar geworden und Tante Patsy war außer sich vor Sorge, es möchte ihnen auch etwas abhanden gekommen sein. Sie entdeckten auch gleich, daß das Dolchmesser verschwunden war. Der Fang war wohl gut, aber der alten Frau kann er wenig nützen, weil man sie ohne Frage festnehmen wird.«

»Ist denn eine Belohnung ausgesetzt worden?« fragte Buckstone.

»Ja, fünfhundert Dollars für Rückgabe des Messers und außerdem noch fünfhundert für Einbringung des Diebes.«

»Was für eine dumme Idee,« rief der Konstabler. »Der Dieb wird sich wohl hüten, jemand mit dem Dolch zu schicken oder ihn selbst zurückzubringen, um sich erwischen zu lassen. Und welcher Pfandleiher würde sich wohl nicht die Gelegenheit zu nutze machen – –«

Niemand beobachtete Tom in diesem Augenblick, sonst hätte die aschgraue Farbe seines Gesichts jedem auffallen müssen. »Ich bin verloren,« dachte er verzweiflungsvoll. »Wie soll ich meine Schulden bezahlen? Für meine übrige Beute bekomme ich kaum die Hälfte der Summe. Ich weiß weder aus noch ein – ich bin rettungslos zu Grunde gerichtet und zwar auf immer. Was fange ich nur an?«

»Urteilen Sie nur nicht zu schnell,« sagte Wilson zu Blake. »Ich habe selbst gestern um Mitternacht einen Plan für die Zwillinge ersonnen; um zwei Uhr morgens war er fix und fertig. Die Eigentümer werden ihr Dolchmesser zurückbekommen, und dann sollen Sie, Herr Blake, auch erfahren, wie wir es bewerkstelligt haben.«

Diese Aeußerung erregte große Neugier.

»Spannen Sie uns doch nicht so auf die Folter, Wilson!« sagte Buckstone. »Ich gestehe, es wäre mir sehr lieb, wenn Sie uns im Vertrauen mitteilen wollten – –«

»Das würde ich gern thun, hätte ich nicht mit den Zwillingen verabredet, daß wir den Plan geheim halten wollen. Aber, verlassen Sie sich darauf, es wird nicht drei Tage dauern, bis sich jemand um die Belohnung bewirbt. Dann sollen Sie sowohl den Dieb als das Messer zu sehen bekommen.«

Dem Konstabler ging die Sache sehr im Kopfe herum. »Wir wollen’s hoffen,« sagte er enttäuscht; »möglich wäre es ja am Ende. Aber, wie Sie’s anstellen wollen, weiß ich wirklich nicht, das geht über mein Verständnis.«

Etwas weiteres schien nun niemand mehr über den Gegenstand sagen zu wollen. Das Gesprächsthema war erschöpft. Nachdem alle eine Weile geschwiegen hatten, kündigte der Friedensrichter dem erstaunten Wilson an, daß er sowohl wie Buckstone und der Konstabler, Bevollmächtigte der demokratischen Partei seien und gekommen wären, um ihn zu bitten, bei der bevorstehenden Bürgermeisterwahl als Kandidat aufzutreten. Noch nie zuvor war Wilson überhaupt von irgend welcher Partei einer Aufmerksamkeit gewürdigt worden; so betrachtete er denn den gegenwärtigen Antrag als einen Schritt vorwärts, als eine Anerkennung seines ersten öffentlichen Auftretens und war hoch erfreut, daß er sich endlich an den städtischen Arbeiten und Angelegenheiten beteiligen sollte. Er nahm die Kandidatur mit Dank an: die Abgesandten entfernten sich wieder, und Tom Driscoll folgte ihnen.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Im Staate Missouri, auf dem rechten Ufer des Mississippi, liegt die Stadt, welche der Schauplatz dieser Geschichte ist. Sie heißt Dawson, und man muß von St. Louis bis dahin noch sechs Stunden mit dem Dampfboot stromabwärts fahren.

Der Ort bestand im Jahre 1830 aus einer Anzahl freundlicher ein- oder zweistöckiger, weißgetünchter Häuser, die über und über mit einem Gewirre von Schlingrosen, Jelängerjelieber und vielfarbigen Winden bedeckt waren. Zu jeder dieser hübschen Heimstätten gehörte auch ein Vorgärtchen mit weiß angestrichenem Staketenzaun. Dort blühten Goldlack, Stockrosen, Federnelken, Balsaminen und anders altmodische Blumen in üppiger Fülle, während auf den Fensterbrettern Holzkästen mit Moosrosen prangten und Geranien in Blumentöpfen ihr feuriges Rot mit der zarteren Farbe der Schlingrosen mischten, die an der Mauer in die Höhe kletterten. Wenn draußen auf dem Blumenbrett neben Kästen und Töpfen noch Raum war, so lag – falls die Sonne schien – sicher eine Katze da. Lang ausgestreckt, schlief sie in wohligem Behagen mit einer Pfote an der Nase und wärmte sich den weichen Pelz. Dies war der offenkundigste Beweis und ein unfehlbares Zeichen, daß in dem Hause Glück und Zufriedenheit wohnten; natürlich mußte die Katze aber gut gefüttert, wohl versorgt und in Ehren gehalten sein. Eine Familie, die sich keine Katze hält, kann in vollkommener Gemütlichkeit leben, aber welches Mittel hat sie, es vor der Welt kund zu thun?

Auf beiden Seiten war der gepflasterte Bürgersteig in der ganzen Länge der Straßen am äußeren Rand mit Akazien eingefaßt, deren Stämme eine hölzerne Schutzvorrichtung hatten. Die Bäume spendeten im Sommer Schatten und im Frühling süßen Duft, wenn sie ihre reichen Blütensträuße aufthaten. Das Geschäftsleben der Stadt beschränkte sich ganz auf die Hauptstraße, die etwas vom Fluß entfernt, mit diesem in gleicher Richtung lief. In jedem ihrer Häuserviertel ragten zwei oder drei mehrstöckige, steinerne Warenhäuser hoch über die aus Holz gebauten, dazwischen liegenden Kaufläden empor. Erhob sich ein Windstoß, so wurden die schwingenden Aushängeschilder längs der ganzen Straße knarrend hin- und herbewegt. Die blau und weiß gestreifte schräge Stange mit dem Becken, war das Abzeichen der Barbierläden in Dawson, und an einer Ecke stand hoch aufgerichtet ein unangestrichener Pfahl, der von oben bis unten mit allerlei Blechwaren, Töpfen, Tiegeln und Pfannen bekränzt war, die im Winde laut klapperten, um anzuzeigen, daß hier der erste Klempner der Stadt sein Geschäft betrieb.

Das klare Wasser des Stromes bespülte die vordersten Häuser des Ortes, welcher sich dann einen Abhang hinaufzog und sich immer weiter zerstreute. Die letzten Gebäude reichten bis an den Fuß der steil emporragenden Berge, die bis zum Gipfel dicht bewaldet waren und die Stadt im Halbkreis umgaben.

Viele Dampfboote kamen etwa jede Stunde stromaufwärts und -abwärts vorbeigefahren. Die Schiffe der kleinen Cairo- und der kleinen Memphislinie legten immer an, aber die großen Dampfer von New-Orleans hielten nur gelegentlich, um Grüße zu tauschen oder Passagiere und Frachtgüter aufzunehmen. Ebenso machten es die zahlreichen Fahrzeuge, die von rechts und links aus den Nebenflüssen kamen – aus dem Illinois, dem Missouri, dem oberen Mississippi, dem Ohio, dem Monongahela, dem Tennessee, dem Roten Fluß, dem Weißen Fluß und wie sie alle heißen. Diese Dampfer waren nach den verschiedensten Orten unterwegs und versorgten mit ihrer Ladung sämtliche Gemeinwesen am Ufer des Mississippi. Durch ein neunfach wechselndes Klima, von den nördlichen Fällen bei St. Anthony, bis in das glühend heiße New-Orleans hinunter, brachten sie allen Anwohnern, was zu ihrer Notdurft und jeder nur erdenklichen Bequemlichkeit erforderlich war.

Die Bewohner von Dawson hielten sich Sklaven, welche die einträgliche Schweinezucht besorgen und das fruchtbare Getreideland ringsum bebauen mußten. Es war eine ruhige, wohlhäbige und zufriedene Stadt, vor fünfzig Jahren erbaut und in zwar langsamem, aber stetigem Wachstum begriffen. Ihr angesehenster Bürger, Jork Leicester Driscoll, zählte etwa vierzig Jahre und war Richter am Bezirksgericht. Stolz auf seine vornehme, altvirginische Abkunft, strebte er stets, es seinen Vorfahren gleich zu thun, nicht nur in betreff der Gastlichkeit, sondern auch durch sein etwas förmliches, würdevolles Wesen. Er war freigebig und gerecht, auch genoß er die größte Hochachtung und Liebe seiner Mitbürger. Sein ganzes Trachten ging dahin, ein Edelmann zu sein ohne Furcht und Tadel. Das war seine einzige Religion, der er unverbrüchlich treu blieb. Von Haus aus wohlhabend, vermehrte er seinen Besitz noch mit der Zeit, und es fehlte ihm und seiner Frau nur eines, um ganz glücklich zu sein: sie hatten keine Kinder. Je mehr Jahre dahinflossen, um so sehnlicher wünschten sie einen solchen Schatz ihr eigen zu nennen, aber der Segen blieb aus und ihr Verlangen ward nicht erfüllt.

Im Hause dieses Ehepaares lebte noch Frau Rahel Pratt, Herrn Driscolls verwitwete Schwester, gleichfalls kinderlos und tief bekümmert darüber. Die Frauen waren gute einfache Menschen, die ihre Pflicht thaten und ihren Lohn in einem ruhigen Gewissen und der Anerkennung ihrer Gemeindegenossen fanden. Sie gehörten zur presbyterianischen Kirche, während der Richter ein Freidenker war.

Ein anderer Abkömmling aus einer der ersten Familien von Alt-Virginien war Pembroke Howard, der Rechtsanwalt, etwa vierzigjährig und unverheiratet, ein wackerer, stattlicher Herr, der streng auf Ehre und Ansehen hielt und in aller Höflichkeit bereit war, jeden, der an irgend etwas, das er gesagt oder gethan hatte, den geringsten Anstoß nahm, vor seine Klinge zu fordern oder ihm mit jeder beliebigen Schieß- oder Hiebwaffe Genugthuung zu geben. Er stand bei aller Welt in Gunst und war der beste Freund des Richters.

Ferner erwähnen wir den Oberst Cecil Burleigh Essex, auch einen furchtbar vornehmen Herrn aus den Südstaaten, aber mit ihm haben wir weiter nichts zu schaffen.

Percy Northumberland Driscoll, ein um fünf Jahre jüngerer Bruder des Richters, war verheiratet. Seiner Ehe entsproßten auch mehrere Kinder, die aber leider von Masern, Kroup und Scharlachfieber befallen wurden und dadurch dem Doktor Gelegenheit gaben, seine wirksamen, vorsintflutlichen Arzneimittel anzuwenden. Da wurden die Wiegen wieder leer. Uebrigens war der Bruder des Richters ein wohlhabender Mann, auch ein kluger Kopf in spekulativen Geschäften, und sein Besitzstand wuchs.

Am ersten Februar 1830 wurden in seinem Hause zwei Knäblein geboren, eins gehörte ihm und das andere einer seiner Sklavinnen, der zwanzigjährigen Roxana, meist Roxy genannt. Diese stand schon am selben Tage wieder auf und hatte alle Hände voll zu thun, denn sie mußte beide Neugeborenen versorgen. Frau Percy Driscoll starb, ehe noch eine Woche um war, und die Pflege und Wartung der Kleinen wurde ausschließlich Roxy anvertraut. Sie konnte dabei ganz nach eigenem Gutdünken verfahren, denn Herr Driscoll vertiefte sich bald wieder in seine Geschäftsangelegenheiten und ließ sie thun, was sie wollte.

Im Laufe desselben Monats Februar hatte sich auch ein neuer Einwohner in Dawson niedergelassen. Dies war David Wilson, ein junger Mann von schottischer Abstammung, der aus seiner Geburtsstadt im Staate New-York nach jener abgelegenen Gegend gewandert kam, um sein Glück zu suchen. Er hatte eine höhere Bildungsanstalt durchgemacht und dann noch mehrere Jahre auf einer der Rechtsschulen Neuenglands studiert. Fünfundzwanzig Jahre alt, nicht hübsch, mit sandfarbenem Haar und einem Gesicht voll Sommersprossen, machte er doch einen angenehmen Eindruck. Seine klugen blauen Augen schauten offen und freimütig drein und sie konnten zuweilen recht schalkhaft zwinkern.

Seine Laufbahn in Dawson wäre gewiß gleich beim Anbeginn vom Glück begünstigt gewesen, hätte er nicht schon am ersten Tage eine unselige Bemerkung gemacht, welche die Leute gegen ihn einnahm. Er befand sich eben im Gespräch mit mehreren Bürgern, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, als ein unsichtbarer Hund ein so widerwärtiges Gekläff, Geknurre und Geheul begann, daß man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte. Da sagte der junge Wilson vor sich hin, wie jemand, der laut zu denken pflegt:

»Wenn mir doch die Hälfte von dem Hund gehörte!«

»Weshalb denn?« fragte einer.

»Damit ich den Teil, der mein wäre, umbringen könnte.«

Die Leute sahen ihm neugierig forschend und ängstlich ins Gesicht, aber sein Ausdruck verriet ihnen nichts – sie fanden keine Erklärung darin. Einer nach dem andern schlich beiseite, als ob es ihm unheimlich würde in Wilsons Nähe. Unter sich kamen sie dann wieder zusammen und besprachen den Vorfall mit einander.

»Der scheint mir ein Narr zu sein,« sagte einer.

»Er ist ein Narr, verlaßt euch drauf,« meinte ein anderer.

»Wie einfältig, zu sagen, er wollte, daß ihm der Hund zur Hälfte gehörte,« fiel der dritte ein. »Was glaubt er denn, der Tropf, daß aus dem Rest des Tieres wird, wenn er seinen Anteil umbringt? Meint er etwa, es wird am Leben bleiben?«

»Natürlich muß er das gedacht haben, sonst wäre er der größte Schafskopf. Hätte er vorausgesehen, daß wenn er seine Hälfte umbrächte, der andere Teil auch stürbe, so müßte er auch wissen, daß man ihn dafür ganz ebenso verantwortlich machen würde, als ob er die fremde Hälfte statt seiner eigenen tot geschlagen hätte. – Nun – habe ich recht oder unrecht?«

»Versteht sich, ganz recht,« erscholl es einstimmig und dann bestätigte jeder einzelne, was er von ihm hielt.

»Meiner Ansicht nach ist der Mensch nicht bei Sinnen,« sprach der erste.

»Jedenfalls hat er einen Knacks,« ließ sich der zweite hören.

Nummer drei sagte: »Ein rechter Einfaltspinsel!«

»Freilich,« bestätigte Nummer vier, »das Muster von einem Hansnarren.«

»Ich halte ihn für einen echten Dämelack,« äußerte Numero fünf. »Wer anderer Meinung ist, dem bleibt es unbenommen, aber, das ist meine Auffassung.«

»Ganz einverstanden, werte Herren,« versicherte Numero sechs. »Ein Esel, wie er im Buche steht. Ja, ich glaube, es ist nicht zu viel behauptet, wenn ich sage, daß er der größte Querkopf ist, den ich im Leben gesehen habe. Ja, ja, – ein Querkopf, wie es keinen zweiten giebt – und dabei bleibt’s.«

So war denn Wilsons Urteil gesprochen. Die Geschichte flog wie ein Lauffeuer durch die Stadt, sie war in aller Munde. Ehe noch eine Woche verging, hatte er seinen Taufnamen verloren und hieß statt dessen nur noch der ›Querkopf‹. Mit der Zeit wurde er allgemein geschätzt und beliebt, aber der Spitzname hatte sich schon so fest eingenistet, daß er ihn nicht wieder los wurde. Er war nun einmal von Anfang an für einen Narren erklärt worden und der Spruch ließ sich weder drehen noch wenden. Zwar hatte die Bezeichnung bald keine feindselige oder unfreundliche Bedeutung mehr, aber sie haftete ihm dauernd an, volle zwanzig Jahre lang.