Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Beim Frühstück am nächsten Morgen eroberten sich die Zwillinge durch ihr liebenswürdiges Wesen, ihr höfliches und doch ungezwungenes Benehmen, rasch aller Herzen. Von Förmlichkeit und Befangenheit war bald keine Rede mehr, man verkehrte auf dem freundschaftlichsten Fuße mit einander. Tante Patsy nannte sie schon nach kürzester Frist beim Vornamen und gab sich keine Mühe zu verbergen, wie neugierig sie war. Näheres über ihre Vergangenheit zu erfahren, sobald sie sah, daß die Brüder sich mitteilsam zeigten. Aus ihren Aeußerungen ging hervor, daß sie in früher Jugend Armut und Mangel gekannt hatten, und im Laufe der Unterhaltung nahm die Witwe geschickt die Gelegenheit wahr ein Paar hierauf bezügliche Fragen einzuflechten. Sie wandte sich an den blonden Zwilling, der bei dem Bericht über ihre gemeinschaftlichen Erlebnisse gerade das Wort hatte, während der brünette sich ausruhte.

»Sie werden mich vielleicht unbescheiden finden, Herr Angelo, aber ich möchte gern wissen, wie es kam, daß Sie in Ihrer Kindheit so verlassen waren und in Not gerieten. Sollte es Ihnen jedoch irgendwie unangenehm sein, davon zu reden, so sagen Sie es mir bitte nicht.«

»Nein, es ist uns durchaus nicht unangenehm, Madam. Das Unglück, das uns traf, war freilich groß, aber niemand trug die Schuld. Unsere Eltern waren wohlhabende Leute drüben in Italien und wir ihre einzigen Kinder. Wir gehörten zum alten florentinischen Adel –« Rowenas Herz hüpfte, ihre Augen leuchteten, sie sperrte Mund und Nase auf – »und als der Krieg ausbrach, unterlag unseres Vaters Partei. Er konnte sich nur durch die Flucht retten, seine Güter wurden eingezogen, seine bewegliche Habe mit Beschlag belegt. So kamen wir denn nach Deutschland, fremd, ohne Freunde, an den Bettelstab gebracht. Wir zählten damals zehn Jahre, mein Bruder und ich, wir waren für unser Alter gut erzogen, auch sehr fleißig und lernbegierig. In der deutschen, französischen, spanischen und englischen Sprache besaßen wir ziemliche Kenntnisse, und was die Musik betrifft, so waren wir förmliche Wunderkinder – ich kann es wohl sagen, weil es die reine Wahrheit ist.

»Unser Vater überlebte sein Mißgeschick nur einen Monat, die Mutter folgte ihm bald ins Grab, und wir standen allein in der Welt. Die Eltern würden sich ein reichliches Einkommen gesichert haben, wenn sie sich entschlossen hätten, uns zur Schau zu stellen, man bot ihnen große Summen dafür; bei dem bloßen Gedanken jedoch empörte sich ihr Stolz – sie sagten, lieber wollten sie Hungers sterben. Sie hätten nie darein gewilligt, aber nach ihrem Tode mußten wir es doch thun, wir mochten wollen oder nicht. Um die Schulden abzutragen, welche durch ihre Krankheit und das Begräbnis entstanden waren, brachte man uns in ein sehr untergeordnetes Wandermuseum nach Berlin, wo wir das fehlende Geld verdienten. Es dauerte zwei Jahre, bis wir aus dieser Sklaverei befreit wurden; wir waren in ganz Deutschland umhergezogen, bekamen aber keinen Lohn, nicht einmal unseren Unterhalt. Von dem Geld für die Schaustellung erhielten wir nichts und mußten unser Brot erbetteln.

»Wie es uns weiter ging, Madam, ist bald erzählt. Als wir die Sklavenketten brachen, waren wir zwölf Jahre alt, doch in vieler Hinsicht schon selbstständig wie Männer. Aus unserer Erfahrung hatten wir manche wertvolle Belehrung geschöpft, hatten gelernt, für uns selbst zu sorgen, Schwindlern und Gaunern aus dem Wege zu gehen und unsere Angelegenheiten ohne fremde Hilfe so zu ordnen, daß wir Nutzen davon hatten. Jahrelang reisten wir hierhin und dorthin, übten uns in allerlei Sprachen, wurden mit ausländischen Sitten und Sehenswürdigkeiten vertraut und eigneten uns eine Bildung an, die ebenso umfassend wie vielseitig und ungewöhnlich war. Wir besuchten Venedig, London, Paris, Rußland, Indien, China, Japan –«

In diesem Augenblick steckte die schwarze Nancy ihren Kopf durch die Thür.

»Das Haus ist gestopft voll Leute, Missis,« rief sie, »es läßt ihnen keine Ruh, bis sie die Herren da zu sehen kriegen!« Nancy nickte mit dem Kopf nach den Zwillingen hin und zog sich dann wieder zurück.

Es war ein stolzer Moment in Tante Patsys Leben. Nichts hätte ihr größere Genugthuung gewähren können, als ihre schönen fremdländischen Vögel den Freunden und Nachbarn vorzustellen. Diese einfachen Leute hatten überhaupt kaum je einen Ausländer zu Gesicht bekommen und sicherlich keinen von so hohem Rang und vornehmer Abkunft. Doch waren die Gefühle der Witwe noch mäßig im Vergleich zu dem, was ihre Tochter empfand. Rowena glaubte Flügel zu haben, ihr Fuß berührte kaum noch den Boden. Mit diesem glorreichen Tage ging ja ein neues Leben an – eine hochromantische Zeit in der sonst so ereignislosen Geschichte des unbedeutenden Landstädtchens. Sie aber konnte an der Quelle all der Herrlichkeit sitzen und sich nach Herzenslust von der Flut umrauschen lassen, während die andern Mädchen nur von ferne zusehen und sie beneiden durften, ohne Teil an ihrem Glück zu haben.

Die Witwe war bereit, ihre Gäste zu empfangen, Rowena nicht minder, und die Fremdlinge gleichfalls. So schritten sie denn allesamt durch die Hausflur und traten – die Zwillinge voran – in die offene Thür des Besuchszimmers, aus dem ein leises Stimmengewirr ertönte. Am Eingang stellten sich die Zwillinge auf, die Witwe nahm neben Luigi Platz, Rowena an Angelos Seite, und nun begann der Vorbeimarsch und die Vorstellungen. Tante Patsy lächelte über das ganze Gesicht vor innerer Befriedigung, sie begrüßte die Vorüberziehenden zuerst und dann kam Rowena an die Reihe.

»Guten Tag, Schwester Cooper –« man schüttelte sich die Hand.

»Guten Tag, Bruder Higgins – Graf Luigi, erlauben Sie, daß ich Ihnen Herrn Higgins vorstelle –« abermaliges Händeschütteln – Higgins reißt die Augen weit auf und sagt: »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen,« worauf Graf Luigi mit höflichem Kopfneigen und verbindlichem Ton erwidert: »Sehr angenehm!«

»Guten Tag, Rowena –« man schüttelt sich die Hand.

»Guten Tag, Herr Higgins – darf ich Sie dem Grafen Angelo Capello vorstellen?« – nun folgt wieder das Händeschütteln und bewunderndes Anstarren. »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen;« Graf Angelo verneigt sich lächelnd, erwidert: »Sehr angenehm!« und Higgins geht weiter.

Die guten Leute waren sämtlich äußerst befangen und dabei ehrlich genug, es durchaus nicht verbergen zu wollen. Keiner von ihnen hatte je zuvor einen Herrn von Adel gesehen, auch jetzt erwarteten sie nichts dergleichen, der Titel war ihnen daher eine vollkommene Ueberraschung. Einige suchten sich in dieser schwierigen Lage damit zu helfen, daß sie ›Euer Gnaden‹ oder ›edler Lord‹ stammelten; die meisten aber wurden durch das fremdklingende Wort: ›Graf‹ völlig überwältigt. Sie verbanden damit eine unbestimmte Vorstellung von goldstrahlenden Hofgesellschaften, feierlichen Zeremonien und dem Königtum von Gottes Gnaden; so streckten sie denn nur verlegen die Hand hin und schritten stumm von dannen. Wie das aber bei einem derartigen Empfang regelmäßig vorkommt, so störte auch hier ab und zu einer der Anwesenden aus übermäßig freundlicher Gesinnung den Fortgang; er hielt den Zug auf, um sich zu erkundigen, wie die Stadt den Brüdern gefiele, wie lange sie zu bleiben gedächten, und ob die Ihrigen sich wohl befänden. Auch das Wetter mußte herhalten – es würde hoffentlich bald kühler werden, und was dergleichen mehr ist. Das war doch ein längeres Gespräch mit den Herrschaften, von dem man zu Hause erzählen konnte. Keiner sagte oder that jedoch irgend etwas Ungehöriges, und so wurde die große Angelegenheit auf anständige und höchst befriedigende Art zu Ende geführt.

Auf die feierliche Begrüßung folgte eine allgemeine Unterhaltung. Die Zwillinge gingen von einer Gruppe zur andern, plauderten behaglich und ungezwungen und ernteten großen Beifall; jedermann betrachtete sie mit Wohlgefallen und zollte ihnen Bewunderung. Die Witwe folgte ihrem Triumphzug mit stolzen Blicken und Rowena sagte von Zeit zu Zeit in vollster Befriedigung zu sich selbst: »Und sie gehören wirklich uns – uns ganz allein!«

Mutter und Tochter waren fortwährend in Anspruch genommen. Von allen Seiten bestürmte man sie mit eifrigen Erkundigungen über die Zwillinge und lauschte ihren Berichten in atemloser Spannung. Alle beide bekamen jetzt zum erstenmal einen Begriff davon, was das Wort Ruhm eigentlich zu bedeuten habe. Sie erkannten dessen ungeheuren Wert und lernten einsehen, warum die Menschen zu allen Zeiten jedes andere Glück, Geld und Gut, ja das Leben selbst gering geachtet hatten, um diese höchste und erhabenste Wonne zu empfinden. Napoleon und alle Leute seines Schlages waren ihnen nunmehr verständlich und in ihren Augen gerechtfertigt.

Als Rowena endlich ihre Pflicht im Besuchszimmer erfüllt hatte, ging sie die Treppe hinauf, um die Sehnsucht der dort versammelten Scharen zu befriedigen, denn die unteren Räume waren nicht groß genug, um alle zu fassen, die herbeiströmten. Wieder sah sie sich von wißbegierigen Fragern umringt, sie empfand die eigene Wichtigkeit und durfte sich im Ruhmesglanz sonnen. So ging der Vormittag seinem Ende zu, und Rowena fühlte mit Bangen, daß dies herrlichste Ereignis in ihrem Leben bald vorüber sein werde; es ließ sich auf keine Weise verlängern, und nie wieder konnte etwas geschehen, was sie so hoch beglücken würde. Sie tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, daß die Begebenheit in ihrer Art vollkommen gewesen war und nichts zu wünschen übrig ließ; die Erinnerung daran würde ihr ewig unvergeßlich bleiben. Wenn die Zwillinge nur jetzt noch irgend eine große That thun wollten, um das Werk zu krönen und sich die Bewunderung der Massen zu sichern – etwas, das alle blitzartig durchzucken und überraschen würde, dann, ja dann – –

In diesem Augenblick erschallte von unten ein gewaltiges, laut dröhnendes Bumbum – und alle liefen hin, um zu sehen, was es zu bedeuten habe. O Wunder – es waren die Zwillinge, die ein vierhändiges, klassisches Konzertstück in großem Stil auf dem Klavier zum Besten gaben. Rowenas Verlangen war gestillt, und sie freute sich von Herzensgrund.

Die fremden Jünglinge mußten lange an dem Instrument ausharren. Ihr prachtvolles Spiel erregte der Bürger Verwunderung und Entzücken in so hohem Maße, daß sie gar nicht genug davon bekommen konnten. Alle Musik, die sie je gehört hatten, war nichts als erbärmliche Stümperei ohne Geist und Anmut, im Vergleich zu diesen berauschenden Fluten melodischen Klanges. Es wurde ihnen klar, daß sie hier zum erstenmal im Leben echte Künstler vor sich hatten.

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Höchst ungern ging die Gesellschaft endlich auseinander, um sich wieder nach Hause zu begeben. Unterwegs waren alle Zungen geschäftig und man kam allgemein zu dem Schluß, daß so etwas in Dawson noch nicht dagewesen sei und sobald nicht wiederkehren werde. Im Laufe des Vormittags hatten die Zwillinge verschiedene Einladungen angenommen, auch bereitwillig zugesagt, daß sie bei einer geselligen Vereinigung zu wohlthätigen Zwecken einige Musikstücke vortragen wollten.

Von allen Seiten war man eifrig bemüht, sie mit offenen Armen zu empfangen, dem Richter Driscoll aber war das Glück am günstigsten, denn er durfte sie sogleich zu einer Spazierfahrt mitnehmen, um sie vor aller Welt sehen zu lassen. Sie stiegen zu ihm in seinen Einspänner, und während der Wagen die Hauptstraße hinunterrollte, liefen alle Schaulustigen an die Fenster und drängten sich auf dem Bürgersteig.

Driscoll zeigte den Fremden den neuen Friedhof und das Gefängnis, das Haus, wo der reichste Mann des Ortes wohnte, die Freimaurerloge, die Kapelle der Methodisten, die Kirche der Presbyterianer, und die Stelle, wo die Baptisten ihr Gotteshaus bauen wollten, sobald sie Geld genug beisammen hätten. Am Rathaus und am Schlachthaus fuhren sie vorbei, auch ließ der Richter ihnen zu Ehren die freiwillige Feuerwehr in Uniform aufziehen und ihre Spritzen probieren; die Gewehre der Bürgermiliz mußten die Zwillinge gleichfalls in Augenschein nehmen. Bei allen diesen Schaustellungen erging der Richter sich nach Herzenslust in begeisterten Reden, auch schien er ganz zufrieden mit dem Eindruck, den die Sehenswürdigkeiten auf die Fremdlinge machten, denn diese staunten über seine Bewunderung und stimmten ein, so gut sie konnten. Das wäre ihnen freilich leichter geworden, wenn sie nicht schon in verschiedenen andern Ländern fünfzehn- oder sechzehntausend Mal ganz ähnliche Dinge gesehen und erlebt hätten, so daß diese für sie nicht mehr den Reiz der Neuheit besaßen.

Jedenfalls that Driscoll sein Möglichstes zur Unterhaltung der Brüder, und wenn sie irgend einen Mangel empfanden, so lag die Schuld nicht an ihm. Er erzählte ihnen eine Menge lustiger Anekdoten und vergaß jedesmal den Hauptwitz dabei, doch den konnten sie ohne Mühe ergänzen, weil sie die meist sehr abgedroschenen Späße von Zeit zu Zeit immer wieder aufgetischt bekamen und zur Genüge kannten. Auch teilte er ihnen alle seine Titel und Würden mit und berichtete, was für ehrenvolle und einträgliche Stellen er früher bekleidet habe, als er noch Regierungsbeamter war; jetzt aber sei er Präsident des Klubs der Freidenker. Diese Gesellschaft habe man erst vor vier Jahren gegründet, doch zähle sie bereits zwei Mitglieder und ihr Bestand sei gesichert. Wenn die Zwillinge etwa Lust hätten, einer Versammlung beizuwohnen, würde er sie gegen Abend dazu abholen.

Das that er denn auch, und unterwegs erzählte er ihnen mancherlei über Querkopf Wilson, um sie zu seinen Gunsten zu stimmen, damit sie ihm freundlich entgegenkämen. Er erreichte diese Absicht vollkommen. Gleich der erste Eindruck, den Wilson auf die Brüder machte, war sehr vorteilhaft; noch höher stieg er aber in ihrer Achtung, als er vorschlug, man solle diesmal, aus Höflichkeit gegen die Fremden, die gewöhnlichen Beratungsgegenstände beiseite lassen und sich nur einer allgemeinen Unterhaltung widmen, die geeignet sei, freundschaftliche Beziehungen und ein gutes Einvernehmen unter ihnen zu fördern. Dieser Antrag wurde, nach erfolgter Abstimmung, zum Beschluß erhoben.

Die Stunde verging rasch unter lebhaftem Gespräch, und als die Zeit um war, hatte der bisher so vereinsamte und zurückgesetzte Wilson zwei gute Freunde gewonnen. Er bat die Zwillinge, ihn zu besuchen, sobald sie von der Gesellschaft loskommen könnten, zu der sie eingeladen waren, und sie versprachen es ihm mit Vergnügen.

Es war noch nicht spät am Abend, als sie sich nach seiner Wohnung auf den Weg machten. Wilson erwartete sie daheim und benützte die Zwischenzeit, um sich den Kopf über eine Angelegenheit zu zerbrechen, die an jenem Morgen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Sache verhielt sich folgendermaßen: Er war ungewöhnlich früh aufgestanden – schon bei Tagesanbruch – um etwas aus einer Stube jenseits des Ganges zu holen, der sein Haus in zwei Hälften teilte. Jene Stube war lange unbewohnt gewesen, sie hatte keine Vorhänge, und dort erblickte er durch das Fenster etwas, das ihm sehr auffällig war – nämlich eine junge Dame, welche sich an einem Orte befand, wo sie gar nicht hingehörte. Sie war im Hause des Richters Driscoll in dem Raume, der über dessen Wohn- und Studierzimmer lag, und wo, soviel Wilson wußte, Tom Driscoll seine Schlafstube hatte. Tom, der Richter, die verwitwete Frau Pratt und drei Dienstleute bildeten allein die Bewohner des Hauses. Was hatte also das Fräulein dort zu suchen, und wer konnte es sein?

Die beiden Gebäude waren nur durch den Hof von einander getrennt, den ein niedriger Zaun seiner ganzen Länge nach, von der vorderen Straße bis zu dem Hintergäßchen durchschnitt. Die Entfernung war nicht groß, und Wilson konnte das Mädchen deutlich sehen, weil in Toms Zimmer sowohl der Laden als das Fenster offen standen. Die Unbekannte trug ein sauberes, rosa und weiß gestreiftes Sommerkleid und einen rosa Schleier auf dem Hut; sie war eifrig beschäftigt, sich vor dem Spiegel allerlei Tanzschritte, Gangarten und Stellungen einzuüben. Das that sie mit ziemlicher Anmut und widmete der Sache ihre ganze Aufmerksamkeit. Wer konnte sie nur sein, und wie kam sie dort drüben ins Schlafzimmer? – Wilson hatte sich rasch so gestellt, daß er das Fräulein beobachten konnte, ohne Gefahr zu laufen, von ihr gesehen zu werden; er wartete lange in der Hoffnung, daß sie den Schleier lüften und ihm ihr Gesicht zeigen werde. Aber das war umsonst; nach etwa zwanzig Minuten verschwand sie plötzlich und kam nicht mehr zum Vorschein, obwohl er während einer halben Stunde seinen Platz behauptete.

Um die Mittagszeit sprach er im Hause des Richters vor und unterhielt sich mit Frau Pratt über das große Tagesereignis: die feierliche Vorstellung der beiden vornehmen Fremden bei Tante Patsy Cooper. Er erkundigte sich auch nach ihrem Neffen Tom, worauf sie sagte, er sei auf der Heimreise, sie erwarte ihn noch vor der Nacht zurück. Zugleich teilte sie ihm mit, wie sehr sie und der Richter sich gefreut hätten, aus Toms Briefen zu sehen, daß er sich eines höchst geordneten, anständigen Lebenswandels befleißige. Darüber hatte nun Wilson freilich im stillen seine eigenen Gedanken. Er mochte nicht geradezu fragen, ob bei ihnen Besuch im Hause wäre, aber er brauchte allerlei Wendungen, welche Frau Pratt Gelegenheit gegeben hätten, ihm ein Licht aufzustecken. Sie that das jedoch nicht, und so nahm er denn die Ueberzeugung mit fort, daß in ihrer Familie Dinge vor sich gingen, die er wisse, und von denen sie keine Ahnung habe.

Jetzt wartete er auf die Zwillinge und grübelte über das Rätsel nach, wer das Frauenzimmer sein könne und wie es am frühen Morgen in die Stube des jungen Driscoll geraten sei?

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Es wird jetzt Zeit, daß wir uns danach umsehen, was inzwischen aus Roxy geworden ist.

Als sie freigelassen wurde und fortging, um sich eine Stelle zu suchen, war sie fünfunddreißig Jahre alt. Sie fand einen guten Platz als zweites Stubenmädchen auf dem ›Großmogul‹, einem Dampfboot, das zwischen Cincinnati und New Orleans Handel trieb. Nachdem sie die Fahrt ein paarmal gemacht hatte, war sie mit allen ihren Obliegenheiten genau vertraut und ganz entzückt von dem regen Leben und Treiben auf dem Dampfer und der Unabhängigkeit, die sie genoß. Bald darauf wurde sie zum ersten Stubenmädchen befördert, machte sich sehr beliebt bei den Offizieren und war stolz darauf, daß sie ihr so freundlich begegneten und Spaß mit ihr trieben.

Acht Jahre lang hatte sie während neun Monaten stets auf dem ›Großmogul‹ gedient, und den Winter über auf dem Vicksburger Postschiff. Jetzt litt sie aber schon seit vielen Wochen an Rheumatismus in den Armen und konnte die Wäsche nicht mehr besorgen. So mußte sie denn ihren Abschied nehmen, doch ihr bangte nicht vor der Zukunft, sie war nicht unbemittelt – sogar reich nach ihrer Ansicht. Ganz regelmäßig hatte sie nämlich jeden Monat vier Dollars auf eine Bank in New Orleans getragen, um im Alter einen Sparpfennig zu haben. Das hatte sie sich von vornherein vorgenommen. »Einmal bin ich so dumm gewesen und hab‘ ’nem barfüßigen Nigger Schuh angezogen, damit er auf mir herumtreten kann,« sagte sie sich, »aber, so was thu‘ ich nicht wieder!« Fortan wollte sie von keinem Menschen mehr abhängig sein, wenn sich das durch harte Arbeit und Sparsamkeit erreichen ließe. Als das Boot am Kai von New Orleans anlegte, sagte sie den Gefährten auf dem ›Großmogul‹ Lebewohl und ging mit ihren Habseligkeiten ans Land.

Eine Stunde später war sie aber schon wieder da. Das Geschäftshaus hatte Bankerott gemacht, und ihre vierhundert Dollars mit verpufft. So war sie denn bettelarm, heimatlos und wenigstens fürs erste außer stande, zu arbeiten. Die Offiziere hatten Mitleid mit ihrer traurigen Lage, sie veranstalteten eine Sammlung und übergaben ihr eine kleine Summe; mit diesem Geld wollte sie nach ihrem Geburtsort gehen, wo sie Freunde unter den Negern hatte. Sie wußte recht gut, daß die Unglücklichen ihren Schicksalsgenossen am ehesten beistehen; die armen Gefährten ihrer Jugend würden sie sicher nicht Hungers sterben lassen.

In Cairo bestieg sie das kleine Paketboot, das den Ortsverkehr vermittelte und näherte sich nun immer mehr der Heimat. Ihre Gefühle gegen ihren Sohn hatten in der langen Zeit alle Bitterkeit verloren und sie konnte mit Gemütsruhe an ihn denken. Alles, was er ihr Böses zugefügt, suchte sie zu vergessen und sich nur an die Freundlichkeiten zu erinnern, die er ihr ab und zu erwiesen. Sie schmückte seine Gutthaten so lange aus, bis sie ihr in goldenem Licht erschienen und sie ordentlich anfing, sich nach ihm zu sehnen. Vielleicht hatte die Zeit ihn etwas milder gestimmt; wenn sie ihm schmeichelnd und unterwürfig nahte, wie eine Sklavin, – was sie natürlich thun mußte – so würde er sich am Ende freuen, seine alte, längst vergessene Wärterin wiederzusehen und sie gütig behandeln. Das wäre wunderschön und sie könnte sich damit leicht über ihre Schmerzen und alle Verluste trösten.

Bei dem Gedanken an ihre Armut fing sie an, ein neues Luftschloß zu bauen: vielleicht würde er ihr dann und wann eine Kleinigkeit geben, etwa einen Dollar monatlich; das wäre doch schon eine große, große Hilfe für sie.

Als das Boot in Dawson landete, hatte sie ihr früheres Selbst glücklich wiedergefunden; mit ihrer Schwermut war es vorbei, sie fühlte sich heiter und frohgelaunt. Es konnte ihr ja nicht fehlen; in mancher Küche würden die Dienstleute gern die Mahlzeit mit ihr teilen, auch heimlich Zucker, Aepfel und allerlei Leckerbissen entwenden und ihr nach Hause mitgeben, oder – was ihr ebenso lieb wäre – ein Auge zudrücken, wenn sie selbst lange Finger machte. Und dann die Kirche! – Sie war eine so eifrige, fromme Methodistin wie je und nicht etwa scheinheilig bei ihren Andachtsübungen, sondern wahr und aufrichtig. Wenn es ihr nicht an leiblichen Genüssen mangelte und sie wieder an ihrem alten Kirchenplatz in der Ecke sitzen und Amen sagen konnte – ja, dann wollte sie vollkommen glücklich sein und in Frieden weiter leben, bis an ihr seliges Ende.

Zu allererst suchte sie die Driscollsche Küche auf, wo man sie höchst feierlich und mit großer Begeisterung empfing. Ihre wunderbaren Reisen, die fremden Länder, die sie gesehen und die Abenteuer, die sie erlebt hatte, machten sie zu einer wahren Romanheldin. Die Neger lauschten voll Entzücken auf ihre erstaunlichen Berichte, unterbrachen sie alle Augenblicke mit neugierigen Fragen, mit Gelächter, Beifallsklatschen oder Ausrufen der Verwunderung, bis sie selbst gestehen mußte, daß es auf dieser Welt doch noch etwas Schöneres gäbe, als das Leben auf dem Dampfschiff, nämlich den Ruhm, welchen man erwirbt, wenn man heimkehrt und davon zu erzählen weiß. Ihre Zuhörer tischten ihr vom Mittagsmahl auf, soviel sie nur essen konnte und plünderten dann die Speisekammer, um ihren Handkorb zu füllen.

Tom war in St. Louis; die Haussklaven sagten, er hätte in den zwei letzten Jahren seine Zeit meistens dort zugebracht. Roxy stellte sich nun täglich ein und ließ sich allerlei über die Familie und ihre Angelegenheiten berichten. Einmal fragte sie auch, warum denn Tom soviel auswärts wäre, worauf der vermeintliche ›Schamber‹ erwiderte:

»Das kommt daher, weil’s dem alten Massa viel wohler ist, wenn der junge Massa seiner Wege geht. Er liebt ihn auch mehr, wenn er nicht in der Stadt ist, und giebt ihm jeden Monat fünfzig Dollars –«

»Nein – ist das wahr, Schamber – oder sagst du’s nur im Spaß?«

»Bewahre, Mammy, du kannst’s glauben, ich weiß es von Massa Tom selbst. Aber, liebste Zeit, genug ist’s doch nicht.«

»Was – nicht genug – weshalb denn nicht?«

»Das sollst du gleich hören, Mammy, wenn du’s wissen willst. ‚S ist nicht genug, weil Massa Tom um Geld spielt.«

Roxy schlug erstaunt die Hände zusammen, und Schamber fuhr fort:

»Der alte Massa ist dahinter gekommen, als er zweihundert Dollars für Massa Toms Spielschulden zahlen mußte. So wahr ich hier stehe, Mammy, es ist, wie ich dir’s sage.«

»Zwei – hundert – Dollars! Weißt du auch, was das heißt? – Zwei – hundert – Dollars! Du meine Güte – da könnt‘ man ja fast ’nen starken Neger aus zweiter Hand dafür kaufen. Du lügst mich doch nicht an, Söhnchen – wirst doch deine alte Mammy nicht belügen?«

»’S ist die reine Wahrheit – zweihundert Dollars – ich sag‘ dir’s ja und will’s beschwören. Jemine, wie ist der alte Massa gesprungen – gekocht hat er vor Wut und gleich ist er hingegangen und hat Massa Tom enterbt.«

Roxy riß die Augen weit auf und starrte ihn verblüfft an. »Ent – was?« fragte sie.

»Enterbt,« wiederholte Schamber, »sein Testament zerrissen.«

»Zerrissen – nicht möglich. Das würde er nie thun. Nimm das gleich zurück, du erbärmlicher, unechter Neger, den ich mit Kummer und Schmerzen geboren habe.«

Roxys schönstes Luftschloß – der monatliche Dollar aus Toms Tasche – stürzte vor ihren Augen zusammen. Das war ein entsetzliches Mißgeschick, der Gedanke schien ihr unerträglich.

»Hahaha!« lachte Schamber belustigt, »hört nur mal das. Wenn ich ein unechter Neger bin, was bist du dann wohl? Wir sind zwei unechte Weiße, weiter nichts – sehr gut nachgemacht noch dazu, hahaha aber als Neger ganz mißlungen – eben drum –«

»Schweig‘ still mit deinem Gewäsch, sonst kriegst du eins um die Ohren – erzähl‘ weiter von dem Testament. Sag‘, daß es nicht zerrissen ist, thu’s, Schatz, und ich will dir’s gedenken.«

»Na, also – ’s ist wieder ganz – man hat ein neues gemacht und Massa Tom ist noch, was er war. Aber, du brauchst dich nicht so drüber zu erhitzen, Mammy. Was geht’s denn dich an?«

»Mich soll’s nichts angehen? Wen denn sonst, bitte? Bin ich nicht seine Mutter gewesen, bis er fünfzehn Jahre alt war? Und nun soll mir’s gleich sein, wenn man ihn kahl und leer in die Welt ’naus jagt! Du weißt nichts von Muttergefühlen, Schamber, sonst thätst du nicht solchen Unsinn reden.«

»Also – der alte Massa hat ihm vergeben und das Papier noch mal geschrieben – ist dir’s nun recht?«

Ja, sie war ganz glücklich und zufrieden und weinte ein bißchen vor Freuden. Alle Tage erschien sie wieder, bis es endlich einmal hieß, Tom sei nach Hause gekommen. Sie zitterte ordentlich vor innerer Erregung, schickte auch sogleich zu ihm und ließ ihn bitten, er möchte seiner armen alten Negermammy die schreckliche Freude machen, daß sie ihn nur einmal sehen dürfe.

Tom lag träge auf dem Sofa ausgestreckt, als Schamber kam und die Botschaft brachte. Der alte Widerwille, den er gegen den armen Packesel und Beschützer seiner Knabenjahre empfand, hatte sich mit der Zeit nicht gemildert; sein Ingrimm und seine Erbitterung waren noch ebenso stark wie damals. Jetzt richtete er sich auf und starrte mit zornigem Blick in das hübsche Gesicht des jungen Burschen, dessen Namen und Geburtsrecht er gestohlen hatte, ohne es zu wissen. Lange sah er ihn unverwandt an, bis der Geängstigte so schreckensbleich geworden war, wie es sein Peiniger wollte.

»Was will das alte Tier?«

Die Bitte wurde in aller Demut wiederholt.

»Wer hat dir erlaubt hereinzukommen und mich mit den Anliegen einer elenden Negerin zu belästigen?«

Tom war aufgesprungen. Der junge Bursche, der vor ihm stand, zitterte heftig. Er wußte, was jetzt kommen würde, bog den Kopf zur Seite und hob als Schild den linken Arm in die Höhe. Ohne ein Wort zu sagen, holte Tom aus, und Schlag auf Schlag hagelte nun auf Kopf und Schultern des armen Menschen nieder, der die Hiebe geduldig hinnahm und nur »bitte, Massa Tom – o bitte, Massa Tom!« flehte. Nach dem siebenten Schlag rief Tom: »Umkehren – hinaus – marsch!« Er folgte hinterdrein, um seinem Opfer noch einen, zwei, drei derbe Fußtritte zu versetzen.

Der letzte Tritt beförderte den weißen Sklaven zur Thür hinaus; er hinkte fort und wischte sich die Augen mit seinem alten zerlumpten Aermel. »Schick‘ sie herauf!« schrie ihm Tom noch nach.

Dann warf er sich keuchend wieder auf den Sofa und brummte: »Der kam wie gerufen. Ich war zum überfließen voll schwerer Gedanken und brauchte jemand, an dem ich meine Galle auslassen konnte. Es hat mir gut gethan, ich fühle mich ordentlich erfrischt.«

Jetzt trat Toms Mutter ein; sie schloß die Thür hinter sich und näherte sich ihm mit all der kriechenden, schmeichlerischen Unterwürfigkeit, welche Furcht und Eigennutz den Worten und Gebärden des geborenen Sklaven verleihen können. Zwei Schritte von ihrem Sohn entfernt blieb sie stehen und erging sich in bewundernden Ausrufungen über seine schöne Gestalt und sein ganzes männliches Aussehen. Tom legte seinen Arm unter den Kopf und warf ein Bein über die Sofalehne, um gehörig gleichgültig zu erscheinen.

»Potztausend, wie du gewachsen bist, mein Herzchen. Ich hätt‘ dich wahrhaftig nicht wiedererkannt, Massa Tom. Sieh mich mal an. Kennst du denn die alte Roxy noch, deine Negermammy von früher? – Ja, nun kann ich mich hinlegen und in Frieden sterben, weil meine alten Augen –«

»Laß das Geschwätz – komm zur Sache. Was willst du hier?«

»Du meine Güte!. Noch immer derselbe Massa Tom, so spaßhaft und lustig mit der alten Mammy. Ich wußt’s ja ganz gewiß – –«

»Hörst du nicht – mach’s kurz und packe dich wieder! Was willst du von mir?«

Das war eine bittere Enttäuschung. Roxy hatte sich so lange damit ergötzt und erquickt und in den Gedanken eingewiegt, Tom würde sich freuen, seine alte Wärterin zu sehen und sie durch ein paar herzliche Worte stolz und überglücklich machen. Da vermochte sie es kaum zu fassen, daß ihr schöner Traum nichts als die Eitelkeit ihres thörichten Herzens und ein jammervoller Irrtum war. Erst nachdem sie zum zweitenmal hart angelassen worden, begriff sie, daß es kein Scherz sein sollte. Es kränkte sie tief; vor Scham und Herzeleid wußte sie nicht gleich, was nun zu thun sei. Ihre Brust hob und senkte sich, Thränen traten ihr in die Augen und in ihrer Ratlosigkeit beschloß sie, den Versuch zu machen, ihren Sohn um Unterstützung zu bitten, damit wenigstens ihr anderer Traum in Erfüllung ginge. Ohne weitere Ueberlegung flehte sie ihn an:

»O Massa Tom, der armen alten Mammy ist’s so schlecht ergangen, sie hat großes Unglück gehabt, jetzt sind nun gar ihre Arme gelähmt und sie kann nicht arbeiten. Gebt ihr doch einen Dollar – nur einen einzigen Dol –«

Tom sprang so rasch auf die Füße, daß die Bittstellerin erschrocken zusammenfuhr.

»Was sagst du – einen Dollar! Erwürgen könnte ich dich. Du willst hier um Geld betteln? Pack‘ dich auf der Stelle, mach‘ daß du fortkommst!«

Roxy zog sich langsam nach der Thür zurück. Auf halbem Wege blieb sie stehen und sagte voll Trauer:

»Massa Tom, ich hab‘ Euch gewartet und gepflegt, als Ihr klein wart, und hab‘ Euch ganz allein aufgezogen. Jetzt seid Ihr jung und reich, und ich bin arm und krank. Da kam ich her und dachte, Ihr würdet der alten Mammy helfen, auf dem kurzen Weg, den sie noch hat, bis sie im Grabe liegt, und – –«

Tom gefiel dieser Ton noch weniger als der zuerst angeschlagene, denn er weckte sozusagen die Stimme seines Gewissens. Er fiel ihr daher ins Wort und sagte, nicht schroff, aber mit großer Bestimmtheit, daß er nicht in der Lage wäre, ihr zu helfen, und sie nichts von ihm zu hoffen habe.

»Wollt Ihr denn gar nichts für mich thun, Massa Tom?«

»Nein. Jetzt geh‘ deiner Wege und belästige mich nicht länger.«

Roxy stand mit gesenktem Haupt in demütiger Haltung vor ihm. Da flammte die Erinnerung an alles alte Unrecht, das sie erlitten, wieder auf und brannte in ihrer Brust wie Feuer. Langsam hob sie den Kopf und richtete sich empor, so daß ihre mächtige Gestalt noch zu wachsen schien und sie unwillkürlich eine Herrschermiene annahm, die ihr alle Würde und Anmut ihrer entschwundenen Jugend zurückgab.

»Du hast’s gesprochen, das Wort,« sagte sie mit drohend erhobenem Finger. »Ich gab‘ dir ’ne Gelegenheit – du hast sie mit Füßen getreten. Soll sie dir wieder geboten werden, so mußt du auf die Kniee fallen und darum betteln

Tom durchrieselte es kalt, er wußte selbst nicht warum. Die feierliche Rede klang so unheimlich und verwirrte ihn. Doch that er, was unter den Umständen natürlich war, er antwortete mit einem Hohngelächter.

»Du willst mir noch eine Gnadenfrist gewähren – du! Soll ich nicht lieber jetzt gleich vor dir auf die Kniee fallen? Aber, nehmen wir einmal an, ich hätte keine Lust dazu – was wird dann wohl geschehen – das möchte ich wissen.«

»Was dann geschehen wird? – Ich geh‘, wie ich bin, zu deinem Onkel und sag‘ ihm haarklein alles, was ich von dir weiß.«

Toms Wangen wurden bleich und sie sah es. Wirre Gedanken jagten sich in seinem Hirn. »Woher soll sie es wissen? – Und doch – sie muß es entdeckt haben, man sieht’s ihr am Gesicht an. Seit drei Monaten erst ist das neue Testament gemacht und schon bin ich wieder bis an den Hals in Schulden und muß Himmel und Erde in Bewegung setzen, um mich vor Schmach und Verderben zu retten. Ich hoffte, es sollte mir glücken, die Sache zu vertuschen, wenn sich niemand hineinmischt, und nun ist dies Teufelsweib irgendwie dahinter gekommen. Wie viel sie wohl wissen mag? – O Jammer, man möchte rasend werden. Aber, ich muß suchen, ihr gütlich beizukommen – ein anderes Mittel giebt es nicht.«

Mit Mühe zwang er sich dazu, ein scherzhaftes Wesen anzunehmen, sein lustiges Lachen klang hohl und er sagte mit verstellter Munterkeit:

»Weißt du was, Roxy, alte Freunde wie wir zwei dürfen nicht mit einander zanken. Hier hast du deinen Dollar – nun sage mir, was du weißt.«

Er hielt ihr das Papiergeld als Köder hin, aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Jetzt war die Reihe an ihr, seine Ueberredungskünste mit Verachtung zu strafen, und sie ließ die Gelegenheit nicht unbenutzt. Tom lernte einsehen, daß selbst eine frühere Sklavin der Schmach und Mißachtung eingedenk sein kann, mit der er ihre Schmeichelreden und Artigkeiten vergolten hatte. Sie genoß jetzt die Süßigkeit der Rache, als sie im Ton unversöhnlichen Ingrimms erwiderte:

»Was ich weiß, das will ich dir sagen: So viel, daß dein Onkel sein Vermächtnis in tausend Stücke reißen wird – und noch weit mehr – hörst du – noch weit mehr.«

Tom sah sie entsetzt an.

»Mehr?« fragte er. »Was soll das heißen? Was kann noch mehr geschehen?«

Roxy lachte spöttisch, warf den Kopf in die Höhe und stemmte die Arme in die Seiten. »Jawohl, ich kann mir’s denken,« sagte sie voller Hohn, »möchtest es gern wissen – für deinen elenden Dollar. Wozu sollt‘ ich’s dir verraten – du hast ja kein Geld. Deinem Onkel will ich’s sagen – ich thu’s auf der Stelle – der giebt mir fünf Dollars für die Neuigkeit mit tausend Freuden.«

Sie drehte ihm verächtlich den Rücken und wollte gehen. Tom geriet in furchtbare Angst, er hielt sie am Kleide fest und flehte sie an, noch zu warten. Da wandte sie sich wieder um.

»Siehst du wohl, hab‘ ich dir’s nicht gesagt?« rief sie mit stolzer Miene.

»Was denn – ich erinnere mich nicht. Was hättest du mir gesagt?«

»Du würdest vor mir auf die Kniee fallen und mich drum bitten.«

Einen Augenblick stand Tom wie erstarrt, dann sagte er keuchend vor Aufregung:

»O Roxy, du wirst doch deinem jungen Herrn so etwas Schreckliches nicht zumuten? Das kann dein Ernst nicht sein.«

»Du wirst schon sehen, ob’s mein Spaß oder Ernst ist. Hast du mich nicht geschimpft und fast angespieen, als ich hergekommen bin, ich armes Weib, in aller Demut, um dir zu sagen, wie groß und hübsch du geworden bist, und wie ich dich gewartet Hab‘ und dich gepflegt, wenn du krank warst und keine Mutter hattest außer mir, in der ganzen weiten Welt? Die arme alte Negerin wollte nur ’nen Dollar haben, um sich Speise zu kaufen – du aber hast sie geschmäht und gescholten – straf‘ dich Gott! Jetzt geb‘ ich dir noch eine Frist – nur ’ne halbe Sekunde lang – ’s ist deine letzte – hörst du?«

Tom fiel auf die Kniee.

»Hier lieg‘ ich vor dir, Roxy – und ich bitte und flehe dich an – sage mir’s jetzt.«

Die Tochter der unglücklichen Rasse, welche zwei Jahrhunderte lang Schmach und Schimpf ungesühnt erduldet hatte, schaute auf ihn herab und schien ihre Seele mit Wonne an dem Anblick zu sättigen. Dann sagte sie:

»So ist’s recht. Der schöne, weiße, junge Herr kniet vor dem armen Negerweib. – Das hab‘ ich immer noch gern mal sehen wollen, so lang ich leb‘. Nun kann meinetwegen der Erzengel Gabriel in sein Horn stoßen, wann er will – ich bin bereit … Steh‘ auf!«

Tom erhob sich.

»Strafe mich jetzt nicht noch härter, Roxy,« bat er demütig. »Das hab‘ ich alles verdient, aber nun sei gut und laß mich frei. Gehe nicht zum Onkel. Sage mir alles – ich gebe dir die fünf Dollars.«

»Jawohl, das sollst du auch, und damit ist’s noch lange nicht genug. – Aber, ich sag‘ dir’s nicht hier –«

»Um Himmels willen, warum denn nicht?«

»Fürchtest du dich vor dem Gespensterhaus?«

»N – nein.«

»Gut, also dann komm um zehn oder elf Uhr heute nacht dorthin; steig‘ die Leiter ‚rauf, die Treppe ist abgebrochen – da wirst du mich finden. Ich wohn‘ im Gespensterhaus, weil ich keinen anderen Unterschlupf hab‘.« – Sie ging nach der Thür, stand aber wieder still. »Gieb mir den Dollarschein.« Er reichte ihr das Papier, sie betrachtete es nachdenklich: »Vielleicht will die Bank auch nicht mehr zahlen,« murmelte sie und wollte gehen; vorher aber fragte sie noch: »Hast du einen Schluck Branntwein?«

»Ja, einen Tropfen.«

»Hol‘ mir’s.«

Er lief in sein Zimmer hinauf und kam mit einer Flasche zurück, die noch über die Hälfte voll war. Ihre Augen funkelten; sie führte die Flasche zum Munde, trank daraus und steckte sie dann unter ihr Tuch. »Die Sorte ist gut,« sagte sie, »das nehm‘ ich mit.«

Tom geleitete sie bis zur Thür, die er öffnete, worauf sie wie ein Grenadier in stolzer, aufrechter Haltung hinausmarschierte.

Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

In Dawson gab man sich inzwischen einer behaglichen Ruhe hin und harrte geduldig auf das Zustandekommen des zweiten Duells. Auch Graf Luigi wartete, aber, wie das Gerücht behauptete, in großer Erregung. Am Sonntag bestand er darauf, die Herausforderung zu schicken. Wilson überbrachte sie, allein Richter Driscoll lehnte die Annahme ab; er wollte sich nicht mit einem Mörder einlassen – »das heißt,« fügte er bedeutungsvoll hinzu, »nicht auf dem Feld der Ehre.« Anderswo wäre er bereit.

Wilson versuchte ihn zu überzeugen, daß er Luigis That gewiß nicht für unehrenhaft halten würde, wenn er Angelos Bericht darüber mit angehört hätte, aber der alte Herr blieb hartnäckig bei seiner Meinung.

Als Wilson zurückkam, um zu melden, daß seine Sendung erfolglos gewesen sei, geriet Luigi ganz außer sich und fragte, wie es denn nur möglich wäre, daß Herr Driscoll, der doch durchaus nicht schwer von Begriffen sei, dem Zeugnis und den Schlußfolgerungen seines leichtfertigen Neffen mehr Wert beigelegt hätte, als Wilsons Aussagen.

»O, das ist sehr einfach und leicht erklärlich,« erwiderte Wilson lachend. »Ich bin nicht seine Puppe und sein Schoßkind; in mich ist er nicht vernarrt, wie in Tom. Der Richter und seine verstorbene Frau hatten keine Kinder; sie waren schon über das mittlere Alter hinaus, als ihnen dieser Schatz zufiel. Man muß sich nur vorstellen, daß, wenn das Gefühl der Elternliebe fünfundzwanzig oder dreißig Jahre lang keine Nahrung erhält, es fast verkommt und verschmachtet, so daß es sich an allem genügen läßt, was ihm geboten wird. Solche Leute verlieren den Geschmackssinn – sie können einen Häring nicht mehr von einem Lachs unterscheiden. Wenn einem jungen Ehepaar ein Teufelchen geboren wird, so erkennen sie den kleinen Satanas meist über kurz oder lang. Nehmen aber alte Eheleute einen Teufel an Kindesstatt an, so wird er in ihren Augen zum Engel und behält seinen Himmelsglanz durch dick und dünn. Ein solcher Engel ist Tom für den alten Richter. Weil er vernarrt in den Neffen ist, kann ihn dieser zu vielem – nicht zu allem – überreden, was er andern Leuten nicht glaubt, besonders wenn des Onkels persönliche Neigung oder Abneigung dabei im Spiele ist. Der alte Herr war Ihnen und Ihrem Bruder gewogen, aber Tom warf einen Haß auf Sie. Das genügte vollkommen, um die Vorliebe des Richters in ihr Gegenteil umzuwandeln. Das älteste und stärkste Bollwerk der Freundschaft hält nicht stand, wenn so ein spät erkorener Liebling es untergräbt.«

»Welche Thorheit!« sagte Luigi.

»Allerdings. Aber es liegt derselben ein schöner Zug des menschlichen Herzens zu Grunde. Es ist mir immer höchst rührend vorgekommen, wenn kinderlose alte Eheleute eine Schar kläffender kleiner Köter ins Herz schließen, denen sie dann noch ein paar kreischende und fluchende Papageien zugesellen, wenn sie nicht vorziehen, sich mit hundert schmetternden Singvögeln zu umgeben oder übelriechende Meerschweinchen, Kaninchen und ein Dutzend junger Katzen groß zu ziehen. Das alles ist nichts als der dunkle, unbewußte Drang, sozusagen aus schlechtem Metall und allerlei Abfall einen Ersatz für das goldene Kleinod herzustellen, das die Natur ihnen versagt hat – den Ersatz für ein Kind. – Aber das nur nebenbei – hier handelt es sich um unsern besonderen Fall. Das ungeschriebene Sittengesetz der hiesigen Gegend fordert von Ihnen, daß Sie den Richter Driscoll totschießen, sobald Sie seiner ansichtig werden. Die ganze Bürgerschaft, er selbst an der Spitze, würde es als große Rücksichtslosigkeit ansehen, falls es nicht geschähe. Natürlich wird derselbe Zweck auch erreicht, wenn er Ihnen eine Kugel durch den Kopf jagt. Also, seien Sie auf Ihrer Hut und versehen Sie sich mit Waffen.«

»Das will ich. Er soll seinen Mann an mir finden. Wenn er mich angreift, werde ich mich verteidigen.«

Im Fortgehen sagte Wilson noch: »Der Richter ist von der Wahlschlacht etwas angegriffen; vor einem oder zwei Tagen wird er kaum das Zimmer verlassen können. Sobald er sich aber wieder stark genug fühlt, dürfen Sie ihn erwarten.«

Die Zwillinge hatten den ganzen Tag über das Haus nicht verlassen, erst gegen elf Uhr nachts gingen sie aus, um beim düstern Schein des Mondes einen langen Spaziergang zu machen.

Etwa eine halbe Stunde früher war Tom Driscoll zwei Meilen unterhalb Dawson bei Hacketts Vorratshaus gelandet; kein anderer Fahrgast stieg an diesem einsamen Orte aus. Er ging am Ufer zu Fuß weiter und betrat das Haus des Richters, ohne daß ihm unterwegs oder auf der Treppe eine Menschenseele begegnet wäre.

In seinem Zimmer schloß er die Läden und machte Licht. Dann legte er Rock und Hut ab und begann allerlei Vorbereitungen zu treffen. Er öffnete seinen Koffer, nahm die Mädchenkleider heraus, die er dort unter einem Männeranzug verwahrte und legte sie bereit; zuletzt schwärzte er sich das Gesicht mit einem gebrannten Kork und steckte den Kork in die Tasche. Seine Absicht war, sich durch das untere Wohnzimmer in seines Onkels Schlafstube zu schleichen, den Schlüssel zum Geldschrank aus der Rocktasche des alten Herrn zu nehmen und den Diebstahl auszuführen. Er war voller Mut und Zuversicht, aber als er jetzt das Licht nahm, um hinunterzugehen, ward ihm doch etwas bänglich. Wie, wenn er durch irgend welchen Zufall Lärm machte und vielleicht beim Oeffnen des Geldschranks ertappt wurde? Es wäre doch gut, eine Waffe bei sich zu haben. Er holte das indische Dolchmesser aus dem Versteck hervor und fühlte, daß sich sein sinkender Mut neu belebte. Auf den Zehen schlich er die enge Stiege hinab; beim leisesten Geräusch sträubte sich ihm das Haar und sein Atem stockte. Als er die Stufen zur Hälfte hinabgegangen war, sah er mit Schrecken, daß der unterste Treppenabsatz von einem schwachen Lichtschein erhellt wurde. Was konnte das bedeuten? War etwa sein Onkel noch auf? Das schien höchst unwahrscheinlich. Er hatte vielleicht sein Licht brennen lassen, als er zu Bett ging. Bei jedem Schritt gespannt lauschend, schlich Tom weiter; er fand die Thür offen und sah hinein. Was er erspähte, überraschte ihn höchst angenehm. Sein Onkel lag auf dem Sofa und schlief; auf dem Seitentisch brannte eine düstere Lampe und neben dieser stand des Onkels kleiner Geldkasten; davor aber lag ein Haufen Banknoten und ein Papier, auf dem eine Menge Zahlen mit Bleistift geschrieben waren. Die Thür des eisernen Geldschranks war verschlossen. Offenbar hatte sich der Schläfer bei der Berechnung seines Vermögensstandes übermüdet und ruhte aus.

Tom setzte sein Licht auf die Treppe und schlich tief gebückt nach dem Tisch, wo die Banknoten lagen. Als er am Sofa vorbeikam, regte sich sein Onkel im Schlaf; Tom stand sogleich still und zog behutsam das Dolchmesser aus der Scheide; sein Herz klopfte laut, sein Blick haftete auf den Zügen seines Wohlthäters. Im nächsten Augenblick wagte er wieder einen Schritt vorwärts, er streckte die Hand nach der Beute aus, ergriff sie und ließ dabei die Messerscheide fallen. Da fühlte er sich von einer starken Hand gepackt, und der laute Ruf: »Zu Hilfe, zu Hilfe!« klang ihm ins Ohr. Ohne Zögern stieß er dem alten Mann den Dolch in die Brust und war frei. Ein paar von den Banknoten in seiner linken Hand fielen in das Blut am Boden. Er warf das Messer hin, raffte sie auf und wollte fliehen; in seiner Angst und Verwirrung nahm er das Papiergeld wieder in die Linke und griff nach dem Messer; da fuhr es ihm durch den Kopf, daß er dies gefährliche Beweisstück nicht bei sich tragen dürfe. Rasch warf er es wieder hin, eilte hinaus, schloß die Thür hinter sich und ergriff sein Licht. Während er die Treppe hinaufsprang, wurde die Stille der Nacht durch laute Fußtritte unterbrochen, die sich eilig dem Hause näherten. Im nächsten Augenblick war er in seinem Zimmer, und unten beugten sich die Zwillinge entsetzt über die Leiche des Ermordeten.

Tom fuhr in seinen Rock, knöpfte den Hut darunter, zog die Mädchenkleider an, ließ den Schleier herab, blies das Licht aus, verschloß die Thür, durch welche er soeben gekommen war, steckte den Schlüssel ein und schlich zur andern Thür hinaus in den hintern Hausflur. Die zweite Thür verschloß er gleichfalls und behielt den Schlüssel bei sich. Nun tappte er sich im Dunkeln weiter, die Hintertreppe hinunter. Jetzt wandte sich die Aufmerksamkeit aller natürlich dem vordern Teil des Hauses zu, und so zählte er darauf, daß er niemand begegnen würde. Er hatte sich nicht verrechnet. Während er sich durch den Hinterhof entfernte, stürzte vorn Frau Pratt mit ihren Dienstleuten und ein paar halbangekleideten Nachbarn in das Zimmer, wo sie die Zwillinge bei dem Toten fanden; ihnen folgten neue Ankömmlinge durch die Vorderthür.

Als Tom sich zitternd und bebend zum Hofthor hinauswagte, kamen eben drei Frauenzimmer vom Hause gegenüber durch die Hintergasse gelaufen; sie stürmten an ihm vorbei ins Thor hinein und fragten atemlos, was denn geschehen sei, ohne jedoch die Antwort abzuwarten. »Die alten Jungfern haben lange gebraucht, um sich Anzuziehen,« sagte Tom bei sich. Wenige Minuten später war er im Gespensterhaus. Er machte Licht und legte die Mädchenkleider ab. Seine ganze linke Seite war mit Blut befleckt, und die rechte Hand hatten ihm die blutgetränkten Banknoten rot gefärbt, aber andere verräterische Spuren konnte er nicht entdecken.

Nachdem er seine Hand am Stroh gereinigt hatte, wischte er sich den Ruß aus dem Gesicht, dann verbrannte er sowohl die Männer- wie die Mädchenkleider, verstreute die Asche und zog einen Anzug an, wie er für Landstreicher paßte. Nun blies er das Licht aus, stieg die Leiter hinunter und schlenderte bald darauf am Ufer entlang. Er wünschte es Roxy nachzumachen und fand auch wirklich einen Kahn, mit dem er den Fluß hinunter fuhr. Als der Morgen dämmerte, ließ er den Kahn weitertreiben und setzte seinen Weg zu Lande fort. Im nächsten Dorfe hielt er sich verborgen, bis ein ihm fremder Dampfer vorbeifuhr und schiffte sich im Zwischendeck nach St. Louis ein. Erst als er glücklich an Dawson vorüber war, atmete er freier. »Keinem Geheimpolizisten in der ganzen Welt könnte es jetzt gelingen, meine Fährte zu finden,« sagte er sich. »Ich habe auch nicht die leiseste Spur zurückgelassen, die Sache ist für alle Zeiten in undurchdringliches Dunkel gehüllt; noch nach fünfzig Jahren werden sich die Leute vergebens abmühen, das Rätsel zu lösen.«

 

Am nächsten Morgen las er in St. Louis das folgende kurze Telegramm aus Dawson in der Zeitung:

»Der Richter Driscoll, ein alter, hochgeachteter Bürger, wurde hier gegen Mitternacht von einem ruchlosen italienischen Edelmann oder Barbiergesellen meuchlings erstochen. Der Anlaß ist in einem Streit zu suchen der kürzlich bei den Wahlen entstanden war. Vermutlich wird der Mörder gelyncht werden.«

»Einer von den Zwillingen!« frohlockte Tom, »welches Glück! Den Gefallen hat mir das Dolchmesser gethan. Man kann doch nie wissen, wann einem das Schicksal günstig ist. Wie habe ich Querkopf Wilson verwünscht, weil er es mir unmöglich machte, das Messer zu verkaufen. Das nehme ich jetzt zurück.«

Tom war mit einemmal reich und sein eigener Herr. Er brachte die Angelegenheit mit dem Pflanzer in Ordnung und ließ den neuen Kaufbrief, der Roxana ihre Freiheit zurückgab, an Wilsons Adresse schicken, dann telegraphierte er seiner Tante Pratt:

»Habe die entsetzliche Nachricht in der Zeitung gelesen; bin ganz außer mir vor Betrübnis. Morgen fahre ich mit dem Paketboot ab. Fasse dich, so gut du kannst, bis ich komme.«

Als Wilson in der verhängnisvollen Nacht das Trauerhaus betrat und sich von Frau Pratt und den zahlreichen Anwesenden hatte berichten lassen was man wußte, nahm er kraft seines Amtes als Bürgermeister die Sache in die Hand und gab Befehl, daß nichts angerührt werden, sondern alles an Ort und Stelle bleiben solle, bis die Totenschau vorüber sei. Er ließ das Zimmer räumen und blieb allein mit den Zwillingen zurück. Bald darauf kam der Polizeidiener und führte die Brüder ins Gefängnis. Wilson ermahnte sie noch, nicht den Mut zu verlieren und versprach ihnen, falls eine Anklage erhoben würde, zu ihrer Verteidigung zu thun, was er irgend könne.

Bei der genauen Besichtigung, welche der Friedensrichter Robinson später mit Hilfe des Konstablers Blake vornahm, fand sich das Dolchmesser nebst der Scheide. Wilson bemerkte zu seiner nicht geringen Genugthuung, daß auf dem Griff des Messers blutige Fingerspuren zu sehen waren. Die Zwillinge hatten nämlich die ersten Ankömmlinge aufgefordert, ihre Hände und Kleider zu besichtigen, und keiner von diesen, auch Wilson selbst nicht, hatte irgend welche Blutflecken an ihnen gefunden. Sollten die Brüder am Ende doch die Wahrheit gesagt haben, als sie beteuerten, sie wären auf den Hilferuf herbeigeeilt und hätten den Richter tot gefunden? – Wieder dachte Wilson an das geheimnisvolle Mädchen. Doch eine solche That war einem Mädchen nicht zuzutrauen. Jedenfalls konnte es aber nicht schaden, wenn Tom Driscolls Zimmer genau durchsucht wurde. Dies geschah auf Wilsons Vorschlag, nachdem die Leichenschau gehalten worden war. Die Thüre wurde mit Gewalt geöffnet, aber man fand dort nichts Verdächtiges.

Der Befund des Leichenbeschauers und der Beisitzer ging dahin, daß Luigi den Mord begangen und Angelo ihm Beihilfe geleistet habe.

Die ganze Stadt war aufs äußerste erbittert gegen die Aermsten, und in den ersten Tagen nach dem Morde wären sie fast ein Opfer der Volkswut geworden. Von der Anklagejury wurde Luigi des vorsätzlichen Mordes und Angelo der Teilnahme an dem Verbrechen beschuldigt. Hierauf führte man beide Zwillinge aus der Untersuchungshaft in das Bezirksgefängnis, wo sie bis zur Gerichtsverhandlung verbleiben sollten.

Wilson untersuchte die Fingerabdrücke auf dem Griff des Dolchmessers und sagte sich: »Diese Spuren stammen von keinem der Zwillinge her.« Es war also offenbar eine andere Person im Spiele, entweder aus eigenem Antrieb oder als gedungener Mörder.

Aber, wer konnte es sein? – Das mußte er zu erforschen suchen. Der eiserne Schrank war nicht aufgebrochen, in dem verschlossenen Geldkasten befanden sich dreitausend Dollars. Es lag also kein Raubmord vor, sondern eine That der Rache. Und doch hatte der Ermordete auf der ganzen Welt keinen Feind. Luigi war der einzige Mensch, der einen bitteren Groll gegen ihn hegte.

Das geheimnisvolle Mädchen machte Wilson schwere Sorge. Hätte es sich um einen Diebstahl gehandelt, so wäre er nicht in Zweifel gewesen. Aber wie käme ein Mädchen dazu, den alten Herrn aus Rache umzubringen? Er war ein Ehrenmann – es war nicht denkbar, daß ein Mädchen ihm etwas vorzuwerfen hätte.

Wilson hatte sich die Fingerspuren auf dem Messergriff genau abgezeichnet, und unter seinen ›Protokollen‹, die er in den letzten fünfzehn bis achtzehn Jahren gesammelt hatte, fanden sich eine Menge Abdrücke von Frauen- und Mädchenfingern. Aber er durchmusterte sie vergebens, kein einziger stimmte mit den Spuren auf dem Messer überein.

Der Umstand, daß der vermißte Dolch auf dem Schauplatz des Mordes zum Vorschein gekommen war, verursachte Wilson ganz besondere Pein. Vor kaum einer Woche hatte er sich zu dem Glauben bekannt, daß Luigi ein solches Messer besessen habe und noch besitze, trotz seiner Behauptung, daß es ihm gestohlen sei. Und nun tauchte das Messer gerade wieder auf, als die Zwillinge zur Stelle waren. Die halbe Stadt war damals der Meinung gewesen, daß die Brüder alle Welt an der Nase herumführen wollten, und jetzt frohlockten die klugen Leute und riefen: »Habe ich’s nicht gleich gesagt!«

»Wären ihre Fingerabdrücke auf dem Griff gewesen, ja dann – aber, das war ganz außer Frage – die Spuren stammten auf keinen Fall von den Zwillingen, das stand unumstößlich fest. Einen Verdacht gegen Tom bei sich aufkommen zu lassen, hielt Wilson für Thorheit, denn erstens war Tom nicht imstande, einen Menschen umzubringen – er hatte nicht Thatkraft genug, und zweitens – selbst wenn er einen Mord begehen könnte, würde er schwerlich seinem Wohlthäter und nächsten Verwandten, der ihn zärtlich liebte, das Leben nehmen. Auch war es drittens ganz gegen sein eigenes Interesse, denn bei Lebzeiten des Onkels brauchte Tom nicht für seinen Unterhalt zu sorgen und durfte hoffen, das vernichtete Testament werde noch einmal zu seinen Gunsten erneuert werden. Diese Möglichkeit war ausgeschlossen, sobald der Onkel starb. Freilich stellte sich jetzt heraus, daß das Testament bereits wieder aufgesetzt worden war, aber der Erbe hatte sicher nichts davon gewußt, er würde es sonst bei seiner natürlichen Schwatzhaftigkeit gewiß nicht unerwähnt gelassen haben. Ueberdies befand sich ja Tom zur Zeit des Mordes in St. Louis und erfuhr die Nachricht erst aus der Morgenzeitung, was durch das Telegramm an seine Tante erwiesen war. – Zu allen diesen Erwägungen gelangte Wilson indessen mehr durch unbestimmte Gefühle als durch klare Gedanken, denn im Ernst wäre es ihm niemals eingefallen, Tom für einen Teilnehmer an dem Morde zu halten.

Die Zwillinge waren verloren, falls man keinen Mitschuldigen entdeckte. Wilson hielt ihre Sache für völlig hoffnungslos. Er sagte sich, daß ein hochweises Geschworenengericht von Missouri sie ohne Zweifel an den Galgen bringen würde, falls sich kein Mitschuldiger fände, und käme auch ein solcher zum Vorschein, so würde dadurch nichts gebessert, man würde ihn eben als Dritten im Bunde aufknüpfen. Nur wenn sich ein Thäter ermitteln ließ, der den Mord ganz auf eigene Hand und aus persönlichen Beweggründen begangen hatte, waren die Zwillinge zu retten, und eine solche Möglichkeit schien einstweilen gänzlich ausgeschlossen. Die Hauptsache war jedenfalls, herauszufinden, von wem die blutigen Fingerspuren auf dem Dolche herrührten. Vielleicht nützte es den Brüdern nichts, aber, ohne das war auch nicht die geringste Aussicht für ihre Befreiung.

Trübselig schlich Wilson umher und zermarterte sich Tag und Nacht den Kopf mit Gedanken und Schlüssen, ohne zu irgend welchem Ergebnis zu gelangen. So oft er ein ihm fremdes Frauenzimmer auf der Straße begegnete, nahm er bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand ihre Fingerabdrücke, aber immer wieder mußte er sich seufzend eingestehen, daß sie mit den Spuren auf dem Messergriff nicht übereinstimmten.

Wegen des rätselhaften Mädchens befragt, schwor Tom hoch und teuer, daß er keine solche Person kenne, auch nie ein Mädchen in einem solchen Anzug gesehen habe, wie ihn Wilson beschrieb. Er gab zu, daß er seine Zimmerthür häufig offen ließe, und daß die Diener zuweilen vergäßen, das Haus abzuschließen; trotzdem könne die Unbekannte ihren Besuch kaum öfters wiederholt haben, weil man sie sonst sicher entdeckt hätte. Als Wilson den Verdacht aussprach, daß sie die noch immer unaufgeklärten Diebstähle begangen und sich vielleicht als alte Frau verkleidet haben könne, wenn sie nicht deren Helfershelferin sei, fand Tom das ganz einleuchtend. Es kam ihm nicht unwahrscheinlich vor, und er sagte, er werde von nun an ein wachsames Auge auf derartige Personen haben, doch wäre sie vermutlich zu schlau, um sich sobald wieder in die Stadt zu wagen, wo man jetzt jedenfalls noch längere Zeit scharf aufpassen würde.

Jedermann hatte Mitleid mit Tom, er schien so bedrückt und traurig, offenbar empfand er seinen großen Verlust auf das schmerzlichste. – Ja, er spielte seine Rolle gut, aber es war nicht alles Heuchelei. Das Bild seines Onkels, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, erschien ihm häufig bei Nacht, wenn er nicht schlafen konnte oder verfolgte ihn im Traum. Daß er sich weigerte, das Zimmet zu betreten, wo die grauenvolle That verübt worden war, machte der liebevollen Frau Pratt einen besonders tiefen Eindruck. Sie sagte, sie erkenne daraus die zarte, empfindsame Natur ihres Lieblings so deutlich wie nie zuvor und nun erst wisse sie, mit welcher Innigkeit er an seinem armen Onkel gehangen habe.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Langsam schleppten sich die Wochen dahin; niemand besuchte die Brüder im Gefängnis außer ihrem Verteidiger und der Tante Patsy Cooper. Endlich kam der Tag der Gerichtsverhandlung; es war der schwerste Tag in Wilsons Leben, denn trotz seiner unausgesetzten Bemühungen hatte er auch nicht die leiseste Spur des fehlenden Mitverschworenen entdeckt. Ob die Bezeichnung ›Mitverschworener‹ für jene unbekannte Persönlichkeit überhaupt die richtige war, schien ihm allerdings zweifelhaft. Er hatte sie eben stillschweigend gewählt, obwohl er nie begreifen konnte, warum die Zwillinge nicht gleichfalls entflohen und verschwunden waren, statt auf dem Schauplatz des Mordes zurückzubleiben und sich festnehmen zu lassen.

Scharen von Menschen strömten nach dem Gerichtshause; das Gedränge dort war groß, und man konnte voraussehen, daß es bis zum Schluß der Verhandlung nicht abnehmen würde, denn nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch auf viele Meilen im Umkreis, sprach man im Volke von nichts anderem. Neben Pembroke Howard, dem Staatsanwalt, hatten die nächsten Anverwandten ihre Plätze; dort saß Frau Pratt in tiefer Trauer, und Tom mit dem Kreppstreifen um den Hut. Hinter ihnen nahmen die zahlreichen Freunde der Familie die ersten Bänke ein.

Zu dem Verteidiger der Zwillinge hielt sich niemand, außer ihrer armen, alten, tiefbetrübten Wirtin! Sie saß an Wilsons Seite und machte ein so freundliches Gesicht, wie sie irgend konnte. Im Negerwinkel hatte sich Schamber eingefunden, desgleichen Roxy, die ihren Kaufbrief in der Tasche trug. Es war ihr teuerstes Besitztum, von dem sie sich weder bei Tag noch bei Nacht trennen mochte. Als Tom in sein Erbe gekommen war, hatte er ihr ein Monatsgeld von fünfunddreißig Dollars ausgesetzt und geäußert, sie müßten beide den Zwillingen dankbar sein, die sie reich gemacht hätten. Darüber war Roxy aber in so großen Zorn geraten, daß Tom sich wohl hütete, die Bemerkung noch einmal zu machen. Der alte Richter, sagte sie, sei gegen ihren Sohn viel tausendmal zu gut gewesen und ihr selbst hätte er sein Leben lang nichts zu leide gethan. Sie wäre ganz wild vor Wut über die beiden ausländischen Teufel, die ihn umgebracht hätten und würde nicht eher wieder ruhig schlafen, bis sie am Galgen hingen. Sobald ihnen das Urteil gesprochen wäre, wollte sie laut ›Hurrah‹ schreien, daß die Wände davon wiederhallten, und wenn sie der Bezirksrichter auch ein Jahr lang dafür ins Gefängnis steckte.

Pembroke Howard trug als Staatsanwalt die öffentliche Anklage in kurzen Worten vor. Er machte sich anheischig, durch eine zusammenhängende Kette von Beweisen überzeugend darzuthun, daß der Hauptangeklagte den Mord begangen habe, teils aus Rache und teils um sein eigenes Leben vor Gefahr zu schützen. Sein Bruder aber sei bei dem Verbrechen zugegen gewesen und habe dadurch seine Zustimmung und Mitschuld kundgethan. Dieser Meuchelmord, einem tückischen, verworfenen Gemüt entsprungen, sei die verruchteste That, die eine feige Hand nur begehen könne. Sie habe das Herz einer liebenden Schwester gebrochen und das Glück eines jungen Neffen zerstört, der dem Toten so teuer gewesen sei wie ein eigener Sohn. Zahlreiche Freunde beklagten ihren unersetzlichen Verlust, und die ganze Stadt trauere um ihren trefflichsten Bürger. Deshalb fordere das Gesetz für den Frevel die höchste zulässige Strafe, die auch ohne Zweifel an dem hier gegenwärtigen Uebelthäter in aller Strenge vollzogen werden würde. Das übrige, was er noch zu sagen habe, wolle er für seine Schlußbemerkung aufsparen.

Der Redner war heftig bewegt und mit ihm das ganze Haus. Als er wieder Platz nahm, brachen Frau Pratt und einige ihrer Freundinnen in Thränen aus, und mancher haßerfüllte Blick flog zu den unglücklichen Gefangenen hinüber.

Ein Zeuge nach dem andern wurde nun aufgerufen und eingehend befragt, aber ihr Kreuzverhör war kurz, weil Wilson wohl wußte, daß sie nichts auszusagen hatten, was sich für die Verteidigung verwerten ließ. Der Querkopf wurde von aller Welt bedauert, denn in diesem Prozeß konnte er für seine kaum erst begonnene Laufbahn keine Lorbeeren pflücken.

Mehrere Zeugen versicherten bei ihrem Eide, sie hätten den Richter Driscoll in öffentlicher Versammlung sagen hören, daß die Brüder ihr verlorenes Dolchmesser schon wiederfinden würden, wenn sie es brauchen wollten, um jemand damit umzubringen. Das war nichts Neues, doch wurde man jetzt inne, auf wie traurige Weise sich die Prophezeiung erfüllt hatte. Es machte großen Eindruck auf alle Gemüter, und über den ganzen Gerichtssaal lagerte sich eine tiefe Stille, als die unheilvollen Worte wiederholt wurden.

Nun erhob sich der Staatsanwalt wieder und sagte, er wisse aus seinem letzten Gespräch mit dem Richter Driscoll, daß der Herr Verteidiger, als Ueberbringer einer Herausforderung seitens des Hauptangeklagten, zu ihm gekommen wäre. Der Richter habe sich jedoch geweigert, einem Menschen, der eines Mordes schuldig sei, auf dem Felde der Ehre Genugthuung zu geben. Anderswo, habe er bedeutsam hinzugefügt, wäre er zum Kampfe bereit. Vermutlich habe man den Angeklagten gewarnt und benachrichtigt, daß er bei der ersten Begegnung darauf gefaßt sein müsse, entweder den Richter selbst zu töten oder sich von ihm über den Haufen schießen zu lassen. Wenn der Herr Verteidiger gegen die Richtigkeit dieser Angaben nichts einzuwenden hätte, würde es nicht erforderlich sein, ihn als Zeuge zu vernehmen. Wilson erwiderte darauf, er wolle die Thatsachen nicht bestreiten.

(»Mit Wilsons Verteidigung sieht es windig aus« – diese und ähnliche Bemerkungen wurden im Saale geflüstert.)

Frau Pratt sagte aus, sie habe keinen Schrei gehört und wisse nicht, wovon sie aufgewacht sei; vielleicht hätte das Geräusch rascher Schritte, die sich der Vorderthür näherten, sie geweckt. Als sie im Nachtkleide in den Gang hinausstürzte, hörte sie Fußtritte auf der Haupttreppe und andere, die ihr folgten, während sie nach dem Wohnzimmer eilte. Dort fand sie die Angeklagten bei ihrem ermordeten Bruder. (Sie brach in Schluchzen aus; im Saal entstand große Bewegung.) Die Personen, die hinter ihr dreinkamen, fügte sie noch hinzu, seien Herr Rogers und Herr Buckstone gewesen.

In dem Kreuzverhör, das Wilson mit ihr vornahm, erwiderte sie, die Zwillinge hätten ihre Unschuld beteuert und versichert, sie seien auf einem Spaziergang begriffen gewesen und in das Haus geeilt, weil sie einen lauten Hilfeschrei gehört hatten, als sie noch eine gute Strecke entfernt waren. Auf Verlangen der Brüder habe sie selbst, sowie die beiden Herren, die Hände und Kleider der Zwillinge besichtigt und keine Blutflecken an ihnen gefunden.

Rogers und Buckstone bestätigten diese Angaben.

Sodann wurde die Auffindung des Dolchmessers durch Zeugen erhärtet. Um festzustellen, daß es genau mit der Beschreibung übereinstimme und dieselbe Waffe sei, für deren Wiedererlangung eine Belohnung ausgesetzt worden, verlas man die betreffende Anzeige. Es folgten nun noch mehrere unbedeutende Einzelheiten, und damit war die Begründung der Anklage geschlossen.

Wilson erklärte, er werde drei Zeuginnen beibringen – die drei Fräulein Clarkson – welche ein paar Minuten, nachdem man das Hilfegeschrei vernommen, einem verschleierten Mädchen begegnet seien, das sich durch das hintere Hofthor aus dem Driscoll’schen Anwesen entfernte. Ihre Aussage, verbunden mit gewissen Indizienbeweisen, die er dem Gerichtshof vorlegen wolle, würde Richter und Geschworene überzeugen, daß noch eine Person an dem Verbrechen beteiligt sei, deren man bis jetzt nicht habhaft geworden, und daß es sich als eine Forderung der Gerechtigkeit gegen seine Klienten empfehlen würde, das Verfahren auszusetzen, bis die fragliche Person zur Stelle sei. In Anbetracht der späten Stunde bitte er das Verhör der drei Zeuginnen bis zum nächsten Morgen vertagen zu dürfen.

Die Menge strömte aus dem Gerichtshause und zerstreute sich in einzelne, aufgeregte Gruppen, welche unter sich die Vorgänge bei der Verhandlung mit dem lebhaftesten Interesse besprachen. Alle schienen einen höchst befriedigenden und genußreichen Tag verlebt zu haben, außer den Angeklagten, ihrem Verteidiger und ihrer alten Freundin. Diese waren ziemlich niedergeschlagen und hatten wenig Hoffnung. Als Tante Patsy den Zwillingen Gute Nacht sagen und Mut zusprechen wollte, mußte sie mitten im Satz abbrechen, weil ihr die Stimme versagte.

Obgleich sich Tom für vollkommen sicher hielt, hatte er sich bei der feierlichen Eröffnung der Gerichtssitzung eines gewissen unbehaglichen Gefühls doch nicht erwehren können, denn er war äußerst schreckhaft von Natur. Sobald es jedoch offenbar wurde, auf wie schwachen Füßen Wilsons Verteidigung stand, fühlte er sich wieder beruhigt, ja, er frohlockte innerlich. Mit einem Anflug spöttischen Bedauerns für den Verteidiger, verließ er den Gerichtssaal. »Die Clarksons sind in der Hintergasse einem unbekannten Frauenzimmer begegnet,« sagte er bei sich, » mehr weiß er nicht vorzubringen. Ich will ihm meinetwegen ein paar Jahrhunderte Zeit lassen, um die Person zu entdecken. Sie selbst ist nicht mehr vorhanden, ihre Kleider sind verbrannt und die Asche in die Winde verstreut, – wahrhaftig, er wird leichte Arbeit haben, sie aufzufinden!« Wieder und wieder pries er seine kluge Erfindungsgabe, durch die er sich gegen jede Entdeckung, ja sogar gegen den geringsten Verdacht vollständig gesichert hatte.

»In solchen Fällen übersieht man fast regelmäßig irgend eine Kleinigkeit – eine geringfügige Spur bleibt zurück und ermöglicht die Entdeckung; aber hier ist auch nicht die leiseste Andeutung mehr vorhanden. Ebenso gut könnte man den Zug eines Vogels verfolgen wollen, der bei Nacht durch die Luft fliegt. Wer die Spur des Vogels in der Luft finden kann, wenn er davongeflogen ist, der und kein anderer wird auch meine Bahnen aufzuspüren wissen und den Mörder des Richters entdecken. Daß diese Arbeit gerade dem armen Querkopf Wilson aufgebürdet wird, ist wirklich ein tragikomisches Verhängnis. Wie muß er sich quälen und abhaspeln mit der Verfolgung der Unbekannten, die nirgendwo ist, während ihm der rechte Mann die ganze Zeit über am Ellbogen sitzt.« Je mehr er die Lage der Dinge überdachte, um so mehr fiel ihm ihre spaßhafte Seite auf. Endlich sagte er: »Mit dem Frauenzimmer will ich ihn hänseln, bis an sein Lebensende. So oft ich ihn in Gesellschaft treffe, frage ich ihn mit der unschuldigsten Miene von der Welt: ›Wie steht’s, Querkopf – hast du ihre Fährte gefunden?‹ Das wird ihm so ärgerlich sein, wie früher meine Erkundigung nach seiner ungeborenen Anwaltspraxis.« Er hätte laut auflachen mögen, doch das ging nicht an, es waren Leute zugegen und er trauerte ja um seinen Onkel. Aber das Vergnügen wollte er sich doch machen, heute abend bei Wilson vorzusprechen, um zu sehen, welche Pein ihm seine aussichtslose Verteidigung bereitete. Vielleicht konnte er das eine oder andere Wort des Bedauerns und Mitleids einfließen lassen, so daß der Querkopf vollends außer sich geriete.

Wilson hatte sich kein Abendbrot bringen lassen, ihm war alle Eßlust vergangen. Er holte seine ›Protokolle‹ mit den Fingerabdrücken sämtlicher Mädchen und Frauen hervor und starrte sie wohl über eine Stunde in düsterm Schweigen an, um sich zu überzeugen, ob er nicht doch vielleicht die Spuren jenes verdächtigen Mädchens übersehen haben könne. Aber es war alles vergebens. Endlich lehnte er sich in den Stuhl zurück, verschränkte die Hände über dem Kopf und überließ sich finstern, unfruchtbaren Gedanken.

Noch spät am Abend trat Tom Driscoll bei ihm ein, setzte sich und sagte in munterem Ton:

»Was sehe ich! Du hast zum Trost dein altes Steckenpferd aus der Zeit deiner Verkennung und Zurücksetzung wieder aufgenommen!« Er griff nach einem der Gläser und hielt es ans Licht, um es genau zu betrachten. »Verliere nur den Mut nicht, altes Haus! Weil deine neue Sonnenscheibe Flecken hat, brauchst du doch nicht gleich alles aufzugeben und den unnützen Kinderkram vorzuholen. So etwas geht vorbei, und dann bist du wieder obenauf.« – Er legte das Glasplättchen hin. »Hast du denn gedacht, du müßtest immer Erfolg haben?«

»O nein, durchaus nicht,« erwiderte Wilson mit einem Seufzer; »aber ich kann nicht glauben, daß Luigi deinen Onkel getötet hat, und er thut mir von Herzen leid. Es macht mich ganz schwermütig, und dir würde es ebenso gehen, wenn du kein Vorurteil gegen die jungen Leute hättest.«

»Das ist noch sehr die Frage,« sagte Tom mit finsterer Miene, denn ihm fiel der Fußtritt wieder ein, den er erhalten hatte. »Es ist wahr, ich bin ihnen wenig Dank schuldig, wenn ich daran denke, wie mich der Braune an jenem Abend behandelt hat. Aber Vorurteil hin – Vorurteil her – ich kann sie nun einmal nicht ausstehen, und wenn ihnen nach Verdienst geschieht, werde ich mir keine grauen Haare um sie wachsen lassen.«

Wieder nahm er ein Glasplättchen in die Hand und besichtigte es. »Wahrhaftig, da steht der Name der alten Roxy darunter! Willst du denn die Königspaläste auch mit den Abdrücken von Negerpfoten verzieren? Nach dem Datum zu urteilen, war ich sieben Monate alt, als das gemacht wurde; sie pflegte und wartete mich damals zusammen mit ihrem Negerjungen. Bei ihrem Daumen geht eine Linie quer über den Abdruck. Woher kommt das wohl?« Tom reichte Wilson das Plättchen hin.

»Von irgend einem alten vernarbten Riß oder Schnitt,« antwortete dieser seinem Quälgeist in abgespanntem Ton, »man findet das häufig.« Er nahm das Glas gleichgültig zur Hand und hielt es gegen die Lampe. Plötzlich wich alles Blut aus seinem Gesicht, seine Hand zitterte und er starrte mit förmlich verglastem Blick auf die glatte Fläche vor seinen Augen.

»Um alles in der Welt, was ist denn mit dir los, Wilson, willst du in Ohnmacht fallen?«

Tom holte ihm rasch ein Glas Wasser, aber Wilson fuhr schaudernd davor zurück.

»Nein, nein,« rief er, »fort damit!« Seine Brust hob und senkte sich, er bewegte den Kopf schwerfällig hin und her, wie jemand, der einen betäubenden Schlag erhalten hat. Endlich sagte er: »Ich glaube, mir wird wohler werden, wenn ich mich zu Bette lege; ich habe mich heute zu sehr angestrengt und mich vielleicht schon seit einigen Tagen überarbeitet.«

»Dann will ich gehen und dich in Ruhe lassen, Gute Nacht, altes Haus!« Beim Abschied konnte Tom jedoch eine letzte Stichelrede nicht unterdrücken: »Nimm dir’s nicht so zu Herzen; immer gewinnen thut keiner. Du wirst schon noch jemand an den Galgen bringen.«

»Jawohl, und ich lüge nicht,« murmelte Wilson vor sich hin als er allein war, »wenn ich sage, es thut mir leid, daß ich mit dir den Anfang machen muß, trotzdem du ein so elender Hund bist!«

Er raffte sich zusammen, trank ein Glas kalten Whisky und ging wieder an die Arbeit. Die neuen Fingerabdrücke, die Tom unabsichtlich auf Roxys Glasplatte zurückgelassen hatte, brauchte er bei seinem geübten Auge nicht erst mit den Spuren auf dem Griff des Dolchmessers zu vergleichen. Er beschäftigte sich mit andern Dingen und brummte dabei von Zeit zu Zeit: »Narr, der ich war! – Nur an ein Mädchen habe ich gedacht – ein Mann in Frauenkleidern ist mir nicht eingefallen.« Zuerst suchte er die Platte heraus, die Toms Fingerabdrücke im Alter von zwölf Jahren trug, dann das ›Protokoll‹ des Säuglings von sieben Monaten; beide Gläser legte er neben einander und fügte das dritte mit dem Abdruck hinzu, den der junge Mensch soeben gemacht hatte, ohne es zu wissen.

»So, jetzt ist die Sammlung vollständig,« sagte er im Ton der Befriedigung und setzte sich hin, um alles mit Muße in Augenschein zu nehmen. Aber dies Vergnügen war nur von kurzer Dauer. Er schaute die drei Glasplatten mit unverwandtem Blick an und war ganz starr vor Erstaunen. Endlich legte er sie hin und rief ärgerlich: »Hol’s der Henker! Das geht über meine Begriffe. Die Kinderplatte stimmt nicht mit den beiden andern!«

Wohl eine halbe Stunde lang ging er im Zimmer auf und ab und zerbrach sich den Kopf über das Rätsel. Dann suchte er zwei andere Gläser hervor, setzte sich und dachte eine Weile hin und her. »Es nützt nichts,« murmelte er, »ich kann es nicht verstehen. Sie stimmen nicht überein, und doch will ich darauf schwören, daß Namen und Datum richtig sind, deshalb müßten sie natürlich gleich sein. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht ein einziges Mal bei der Unterschrift geirrt. Es ist das wunderbarste Geheimnis, das mir je vorgekommen.«

Er war jetzt ganz erschöpft vor Müdigkeit und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Erst wollte er ausschlafen und dann noch einmal versuchen, das Geheimnis zu ergründen. Eine Stunde mochte er wohl in unruhigem Schlummer gelegen haben, dann erwachte er allmählich wieder zum Bewußtsein und richtete sich schläfrig im Bett in die Höhe. »Was träumte mir nur eben?« fragte er und suchte sich zu besinnen. »Es war mir doch, als hätte mein Traum die Lösung des Rät– –«

Mit einem Sprung war er mitten im Zimmer. Ohne den Satz zu beenden, lief er zum Tisch, machte Licht an und holte seine Glasplatten. Ein einziger rascher Blick genügte ihm.

»Es ist so, wie ich dachte,« rief er. »Himmel, was für eine Enthüllung! Und dreiundzwanzig Jahre lang hat kein Mensch eine Ahnung davon gehabt!«

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wilson fuhr in seine Kleider und machte sich gleich ans Werk. Er war jetzt völlig wach und arbeitete wie mit Dampfkraft. Seine große, hoffnungsreiche Entdeckung hatte ihn neu gestärkt und jedes Gefühl der Ermüdung mit einem Schlage vertrieben. Von einer Anzahl seiner ›Protokolle‹ fertigte er sorgfältig ausgeführte Zeichnungen an und vergrößerte sie aufs zehnfache mittels des Storchschnabels. Diese vergrößerten Aufnahmen zeichnete er auf weißen Pappendeckel und zog jede einzelne Linie in dem verworrenen Labyrinth von Schlingen, Strichen und Bogen mit Tinte nach, um das ›Muster‹ des ›Protokolls ‹ mit voller Deutlichkeit zum Vorschein zu bringen.

Ein ungeübtes Auge konnte vielleicht an den Original-Abdrücken auf den Glasplatten nur geringe Unterschiede entdecken, aber bei zehnfacher Vergrößerung glichen sie der Faser eines quer durchgesägten Holzblocks, und wer nicht blind war, mußte selbst bei einer Entfernung von mehreren Fuß auf den ersten Blick erkennen, daß nicht eins der Muster mit dem andern übereinstimmte. Als Wilson endlich seine mühsame und schwierige Arbeit beendet hatte, ordnete er die einzelnen Blätter, so daß sie eine fortschreitende Reihenfolge bildeten und fügte noch ein Paket vergrößerte Aufnahmen hinzu, die er im Lauf der Jahre von Zeit zu Zeit gemacht hatte.

Die Nacht verging darüber und es war schon heller lichter Tag geworden. Er nahm sich kaum Zeit, einen Bissen zum Frühstück zu essen; es schlug neun Uhr, die Gerichtssitzung sollte beginnen. Zehn Minuten später saß er dort mit den ›Protokollen‹ aus seinem Platz.

Tom Driscoll stieß seinen Nachbar heimlich mit dem Ellbogen. »Seht nur,« sagte er, auf die Pappblätter weisend, »was der Querkopf für ein gewiegter Geschäftsmann ist – er denkt, wenn er auch den Prozeß nicht gewinnt, kann er doch die gute Gelegenheit benutzen, seine Palastfenster-Verzierungen unentgeltlich bekannt zu machen.«

Die Ankunft der drei Zeuginnen hatte sich verzögert, und als man dies Wilson mitteilte, stand er auf und erklärte, er werde vermutlich überhaupt auf ihre Vernehmung verzichten. (»Er streicht die Segel,« murmelte die belustigte Menge, »er duckt sich, ohne auch nur einen Hieb zu wagen!«) »Ich habe andere Beweise,« fuhr Wilson fort, »die ich für besser halte.« (Das Interesse wuchs, ein Gemurmel der Verwunderung ließ sich hören, aus dem auch etwas wie Enttäuschung klang.) »Damit es nicht den Anschein hat, als wünsche ich den Gerichtshof mit dieser Nachricht zu überraschen, will ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß ich die Beweise selbst erst gestern noch am späten Abend entdeckt habe und seitdem bis vor einer halben Stunde mit der Untersuchung und Anordnung des Materials beschäftigt gewesen bin. Ich werde mir sogleich erlauben, es vorzulegen. Zuerst aber gestatten Sie mir wohl noch einige einleitende Worte:

»Der hohe Gerichtshof wird mir beipflichten, daß der Hauptpunkt, auf den sich die Anklage stützt, auf den sie den größten Nachdruck legt und den sie mit – ich darf wohl sagen herausfordernder Feindseligkeit, in den Vordergrund stellt, in der Annahme zu finden ist, daß derjenige, dessen blutige Fingerspur wir auf dem Griff des indischen Dolchmessers sehen – und kein anderer – den Mord verübt hat.« Hier machte Wilson eine Pause, um mit dem, was er sagen wollte, einen größeren Eindruck zu erzielen und fügte dann gelassen hinzu: » Mit dieser Behauptung sind wir einverstanden.«

Das kam völlig unerwartet; kein Mensch war auf dieses Zugeständnis vorbereitet. Von allen Seiten erhob sich ein Gewirr verwunderter Stimmen, und man hörte hie und da die Aeußerung fallen, der Rechtsanwalt müsse wohl vor Ueberanstrengung den Verstand verloren haben. Selbst der im Staatsdienst ergraute Richter, der beim Strafverfahren auf allerlei Rechtskniffe und verborgenes Geschütz aus dem Hinterhalt vorbereitet war, wußte nicht, ob er seinen Ohren trauen dürfe und erkundigte sich, was der Verteidiger gesagt habe. Howards Gesicht blieb zwar unbeweglich, aber seine ganze Haltung verriet, daß er einen Augenblick etwas von seiner sorglosen Zuversicht eingebüßt hatte.

»Wir sind nicht nur mit der Behauptung einverstanden,« fuhr Wilson fort, »sondern auch bereit, sie aufs angelegentlichste zu unterstützen. Ich werde seinerzeit auf diesen Punkt wieder zurückkommen und möchte jetzt Ihre Aufmerksamkeit noch auf mehrere andere Umstände lenken.«

Er hatte beschlossen, in betreff der Beweggründe des Mordes einige kühne Schlußfolgerungen zu wagen, um etwaige Lücken in der Beweisführung auszufüllen. Traf er das richtige, so würde es von Nutzen sein, und im entgegengesetzten Fall wenig schaden.

»Meiner Ansicht nach deuten verschiedene Einzelheiten darauf hin, daß der Mord aus ganz andern Gründen begangen wurde, als die Klage für gut findet anzunehmen. Ich bin überzeugt, daß es keine That der Rache war, sondern ein Raubmord. Den angeklagten Brüdern war mitgeteilt worden, daß einer von ihnen dem Richter Driscoll bei der nächsten Begegnung zu Leibe gehen müsse, wenn er nicht selbst Gefahr laufen wolle, von ihm getötet zu werden. Nun erklärt man die Anwesenheit meiner Klienten auf dem Schauplatz des Mordes damit, daß der Selbsterhaltungstrieb sie veranlaßt habe, heimlich dorthin zu gehen und den Gegner des Grafen Luigi niederzustoßen, um ihr eigenes Leben zu schützen.

»Warum sind sie dann aber nach vollbrachter That nicht entflohen? Frau Pratt hatte den Hilferuf nicht gehört, sie erwachte erst mehrere Minuten später, es verging also immerhin einige Zeit, bis sie in das Zimmer gestürzt kam. Dort standen die beiden Männer und machten keinen Versuch zu entfliehen. Waren sie schuldig, so hätten sie schon die Flucht ergriffen, ehe noch Frau Pratt die Treppe herunterkam. Was war aus ihrem Selbsterhaltungstrieb geworden, der stark genug sein sollte, um sie zu bewegen, den unbewaffneten alten Mann meuchlings zu töten? Ließ er sie jetzt im Stich, da sie ihn am nötigsten brauchten? Wäre irgend einer von uns etwa an Ort und Stelle geblieben? Wem könnte man wohl eine solche Thorheit zutrauen?

»Als eine sehr wichtige Thatsache gilt ferner, daß die Angeklagten eine hohe Belohnung für die Wiedererlangung des Dolchmessers ausgesetzt haben, mit dem der Mord verübt wurde. Es fand sich aber niemand, um die Belohnung zu fordern, und das sah man als einen Indizienbeweis an, daß der angebliche Diebstahl überhaupt nur Lug und Trug gewesen sei. Dazu kam noch der merkwürdige, prophetische Ausspruch des Verstorbenen in bezug auf das Messer, sowie dessen Wiederauftauchen in dem verhängnisvollen Zimmer, wo man außer dem Eigentümer des Messers und seinem Bruder niemand bei der Leiche des Ermordeten fand. Alle diese Umstände bilden eine in einander greifende Kette von Beweisen, durch welche das Verbrechen unwiderleglich den beiden unglücklichen Fremdlingen zur Last gelegt wird.

»Ich aber bin bereit, den Zeugeneid daraus zu leisten, daß auch für die Ergreifung des Diebes eine hohe Belohnung zugesagt worden ist, aber nicht durch die Zeitung, sondern insgeheim. Diese Thatsache wurde unklugerweise erwähnt oder wenigstens stillschweigend zugegeben, wo Vorsicht unnötig schien und doch vielleicht geboten war. Der Dieb kann selber zugegen gewesen sein.« (Tom Driscoll hatte den Redner angesehen, jetzt senkte er aber den Blick.) »Natürlich mußte er in diesem Fall das Messer behalten, er konnte es weder zum Verkauf anbieten noch zum Pfandleiher tragen.« (Viele Anwesende nickten zustimmend, um zu verstehen zu geben, daß sie dies für einen guten Schachzug hielten.) »Ich werde ferner den Geschworenen zu beweisen suchen, daß wenige Minuten, ehe die Angeklagten Herrn Driscolls Zimmer betraten, schon jemand darin gewesen ist.« (Dies verursachte große Erregung, alle Köpfe im Gerichtssaal fuhren in die Höhe, die Aufmerksamkeit war ungeteilt.) »Im Notfall will ich durch das Zeugnis der drei Fräulein Clarkson erhärten, daß sie einer verschleierten Person begegnet sind – anscheinend einer Frau – die wenige Minuten, nachdem der Hilfeschrei gehört wurde, zum hintern Hofthor hinausging. Es war aber keine Frau, sondern ein Mann in Weiberkleidern.« (Abermaliges Aufsehen. Wilson schaute nach Tom hin, als er diesen Schuß ins Blaue wagte, um sich von der Wirkung zu überzeugen. Er war zufrieden mit dem Erfolg; »es ist richtig,« dachte er, »er fühlt sich getroffen!«)

»Der Mann hatte in dem Hause stehlen wollen – nicht einen Mord begehen. Zwar war der eiserne Schrank nicht aufgebrochen, aber der Geldkasten mit dreitausend Dollars stand auf dem Tisch. Möglich, daß der Dieb sich im Hause verborgen hatte, daß er die Gewohnheit des Richters kannte, am Abend den Inhalt des Kastens zu zählen und seine Rechnungen zu ordnen – falls Herr Driscoll das zu thun pflegte, worüber ich keine Gewißheit habe. – Vielleicht versuchte er sich des Kastens zu bemächtigen, während der Eigentümer schlief, machte aber Lärm, wurde ergriffen und konnte sich nur mit Hilfe des Dolches befreien; die Beute mußte er aber im Stiche lassen und fliehen, weil er Leute kommen hörte.

»Dies ist meine Auffassung der Sache und ich wende mich nun zu den Beweismitteln, durch die ich versuchen werde, Sie von der Richtigkeit meiner Behauptung zu überzeugen.« Wilson nahm einige von den Glasplättchen zur Hand. Als die Zuhörer diese allbekannten Wahrzeichen der früheren kindischen Spielerei und Thorheit des Querkopfs erblickten, wich das gespannte, feierliche Interesse aus ihren Zügen, und ein lautes, herzerfrischendes Gelächter schallte durch den Saal; auch Tom raffte sich auf und nahm teil an dem Spaß, aber Wilson ließ sich anscheinend nicht beirren. Er ordnete seine ›Protokolle‹ vor sich auf dem Tisch und sagte:

»Ich bitte den Gerichtshof, mir noch einige vorläufige Bemerkungen über das Beweismaterial zu erlauben, das ich vorzulegen beabsichtige, und dessen Echtheit ich beschwören will:

»Ein jeder Mensch besitzt von der Wiege bis zum Grabe gewisse körperliche Merkmale, die sich niemals verändern, an denen man ihn jederzeit zu erkennen vermag – und zwar mit untrüglicher Sicherheit, ohne den geringsten Zweifel. Diese Kennzeichen sind ihm als Stempel aufgedrückt, sie bilden sozusagen seine physiologische Marke und eigenhändige Unterschrift, die weder gefälscht noch verstellt werden kann und sich nicht verbergen läßt. Auch der Zahn der Zeit zerstört sie nicht und sie sind keiner Wandlung unterworfen. Ich rede hier nicht etwa von den Zügen des Gesichts, die sich oft im Alter bis zur Unkenntlichkeit verändern, auch nicht vom Haar, das ausfallen kann, nicht von der Gestalt und Größe, denn darin giebt es Doppelgänger, während jene Kennzeichen jedem Menschen eigentümlich sind und sich bei keinem der Millionen, die den Erdball bevölkern, zum zweitenmal vorfinden.« (Jetzt horchten die Anwesenden wieder hoch auf.)

»Die Merkmale, welche ich meine, bestehen in den feinen Linien oder Furchen, welche die Natur auf der inneren Hand des Menschen und den Sohlen seiner Füße zeichnet. Wenn Sie Ihre Fingerspitzen betrachten wollen, so werden Sie, falls Sie scharfe Augen haben, erkennen, daß diese zarten Wellenlinien dicht beisammen liegen und verschiedene, deutlich wahrnehmbare Muster bilden, Bogen, Kreise, Winkel, Krümmungen u. dergl. und daß kein Finger darin dem andern gleicht.« (Jedermann im Saal hielt jetzt die Hand in die Höhe, bog den Kopf zur Seite und betrachtete aufmerksam seine Fingerspitzen; hier und dort hörte man jemand verwundert flüstern: ›Wirklich, er hat recht – das ist mir noch nie aufgefallen.‹)

»Die Muster der rechten Hand sind verschieden von denen der linken.« (Es fallen Ausrufe wie: ›Jawohl, das trifft auch zu!‹) »Prüfen Sie jeden Finger einzeln – Ihre Muster unterscheiden sich von denen Ihres Nachbars.« (Im ganzen Saal wurden Vergleiche angestellt, selbst der Richter und die Geschworenen vertieften sich in diese seltsame Beschäftigung.) »Auch bei einem Zwilling unterscheidet sich die Rechte von der Linken. Die Muster sind bei dem einen Zwilling anders als bei seinem Bruder – die Geschworenen werden sich überzeugen, daß diese Regel auch bei den Angeklagten ihre Bestätigung findet.« (Sogleich nahm man die Untersuchung mit den Händen der Zwillinge vor.) »Man sagt oft, es giebt Zwillinge, die sich so aufs Haar gleichen, daß ihre eigenen Eltern sie nicht unterscheiden können, wenn sie überein gekleidet gehen. Aber noch nie ist ein Zwilling auf Erden geboren worden, der nicht von der Geburt bis zum Grabe das sicherste Zeichen seiner Eigenart in dieser wunderbaren und geheimnisvollen Urschrift besessen hätte. Wer das einmal weiß, den kann der andere Zwilling nicht betrügen, wenn er sich für seinen Bruder ausgeben will.«

Wilson hielt jetzt inne und stand schweigend da. Wenn das ein Redner thut, so fesselt er die Aufmerksamkeit unwiderstehlich. Die Stille verkündet, daß etwas Wichtiges bevorsteht. Alle Hände und Fingerspitzen senkten sich, gebückte Gestalten richteten sich in die Höhe, die Köpfe reckten sich, jedes Auge war auf Wilsons Gesicht geheftet. Er wartete noch ein paar Sekunden, um der Wirkung des Zauberbanns sicher zu sein; dann, als er in dem lautlosen Schweigen das Ticken der Uhr an der Wand vernahm, faßte er den indischen Dolch bei der Klinge, hielt ihn empor, daß alle Anwesenden die dunklen Flecken auf dem Elfenbeingriff sehen konnten, und sagte mit ruhiger, leidenschaftsloser Stimme:

»Auf diesem Schaft steht die Urschrift des Mörders mit dem Blut des harmlosen und hilflosen alten Mannes geschrieben, der euch wohlwollte und für den eure Herzen schlugen. Es giebt nur einen Menschen auf Erden, dessen Hand das Ebenbild dieses blutigen Zeichens trägt –« er schwieg und sah nach dem Pendel der Uhr, der sich hin und her bewegte – »und so Gott will, wird er hier im Saal vor Ihnen erscheinen, ehe noch die Mittagsstunde schlägt.«

Betäubt, verwirrt und halb unbewußt erhob sich ein Teil der Menge, als erwarteten sie, den Mörder zur Thür hereintreten zu sehen. Allerlei Ausrufe schwirrten durch die Luft. – ›Ruhe im Gerichtssaal – hinsetzen!‹ ermahnte der Sheriff. Man gehorchte, und die Ordnung ward wieder hergestellt. Wilson blickte verstohlen zu Tom hinüber. »Alle Welt hat Mitleid mit ihm,« dachte er, »man sieht ihm jetzt das Elend und die Drangsal an; die Leute sagen sich, daß es eine schwere Prüfung für einen jungen Menschen ist, seinen Wohlthäter auf so grausame Weise verloren zu haben – darin gebe ich ihnen ganz recht.«

Er fuhr jetzt in seiner Rede fort.

»Ueber zwanzig Jahre lang habe ich mich während meiner erzwungenen Muße damit ergötzt, diese seltsamen, unvertilgbaren Kennzeichen in hiesiger Stadt zu sammeln. Bei mir zu Hause habe ich deren hundert und aber hundert aufbewahrt. Jeder Abdruck ist mit Namen und Datum versehen, die nicht etwa am nächsten Tage oder in der nächsten Stunde beigefügt wurden, sondern unmittelbar nach der Aufnahme. Alles, was ich jetzt sage, nehme ich auf meinen Zeugeneid. Ich besitze die Fingerabdrücke des Richters, seiner Beisitzer und sämtlicher Geschworenen. In diesem ganzen Saal ist kaum ein Mensch, sei er Weißer oder Farbiger, dessen Urschrift ich nicht vorzeigen könnte. Mag sich einer auch noch so sehr verstellen, ich würde doch immer imstande sein, ihn aus allen Mitmenschen herauszufinden und Gewißheit über seine Persönlichkeit zu erlangen. Und wenn er und ich hundert Jahre alt werden sollten, so kann ich das allezeit so gut thun, wie heute.« (Das Interesse der Versammlung wuchs zusehends.)

»Ich habe mehrere dieser Abdrücke so genau studiert, daß sie mir ebenso geläufig sind wie dem Bankkassier die Unterschrift seines ältesten Deponenten. Ich möchte jetzt einige von den Herren – darunter die Angeklagten – ersuchen, während ich ihnen den Rücken zukehre, sich durch das Haar zu fahren und dann ihre Finger einzeln auf eine der Fensterscheiben neben der Geschworenenbank zu drücken. Dies Experiment bitte ich zu wiederholen, aber auf einer anderen Scheibe und in ganz anderer Anordnung, doch so, daß sich die Fingerabdrücke der Angeklagten wieder darunter befinden. Es wäre immerhin möglich, daß man durch einen ganz besonderen Zufall einmal mit bloßem Raten die richtigen Abdrücke herausfindet, deshalb möchte ich eine doppelte Probe bestehen.«

Er drehte sich nach der Wand, und die beiden Fensterscheiben bedeckten sich rasch mit länglichen, von schwachen Linien durchzogenen Flecken, die jedoch nur denjenigen sichtbar waren, welche sie gegen einen dunkeln Hintergrund sahen, zum Beispiel gegen die belaubten Bäume draußen. Nun rief man Wilson, er ging zum Fenster und stellte seine Untersuchung an. Hierauf sagte er:

»Dies ist Graf Luigis rechte Hand, dort unten, drei Abdrücke tiefer, ist seine linke. Hier ist Graf Angelos Rechte, da drüben seine Linke. Jetzt die andere Scheibe: hier und hier sind Graf Luigis Abdrücke. und dies und das sind die seines Bruders.« Er wandte sich um: »War es richtig?«

Ein donnerndes Beifallklatschen gab ihm Antwort.

»Das streift wirklich ans Wunderbare,« sagte der Vorsitzende.

Wilson trat wieder ans Fenster.

»Hier,« sagte er, mit dem Finger darauf deutend, »ist die Hand des Friedensrichters Robinson (Beifall), dieser Abdruck stammt vom Konstabler Blake (Beifall), jener dort vom Geschworenen Mason (Beifall), der drüben vom Sheriff (Beifall), die andern kann ich jetzt nicht nennen, aber ich habe sie alle zu Hause mit Namen und Datum und könnte sie aus meiner Sammlung herausfinden.«

Unter stürmischen Beifallrufen begab er sich wieder an seinen Platz. Der Sheriff stellte schnell die Ruhe her und befahl den Leuten, sich zu setzen, denn alle waren aufgestanden und hatten sich nach Kräften bemüht, etwas zu sehen zu bekommen. Die Richter, die Geschworenen, der Sheriff und alle übrigen waren bis jetzt zu sehr mit Wilsons merkwürdiger Leistung beschäftigt gewesen, um auf die Ordnung im Gerichtssaal zu achten.

»Und jetzt,« fuhr Wilson fort, »habe ich hier die Fingerabdrücke zweier Kinder in zehnfacher Vergrößerung, so daß jeder, der Augen hat, auf den ersten Blick den Unterschied der Zeichnung erkennen kann. Wir wollen die Kinder A und B nennen. Hier ist A’s Abdruck im Alter von fünf Monaten und hier wieder von sieben Monaten.« (Tom schrak zusammen.) »Sie sind einander ganz gleich, wie Sie sehen. Hier ist B’s Hand von fünf und hier von sieben Monaten. Beide stimmen genau überein, sind aber von A’s Muster ganz verschieden, wie Sie bemerken werden. Für jetzt lege ich die Blätter beiseite und komme später darauf zurück.

»Die zwei Zeichnungen, welche ich Ihnen nunmehr vorlege, sind die zehnfach vergrößerten Fingerabdrücke der beiden Männer, welche angeklagt sind, den Richter Driscoll ermordet zu haben. Die Vergrößerung ist von mir gestern abend gemacht worden, das will ich eidlich beschwören. Nun fordere ich die Geschworenen auf, sie mit den Abdrücken auf den Fensterscheiben zu vergleichen, welche von den Angeklagten herrühren, und dem Gerichtshof zu sagen, ob sie sich von jenen unterscheiden.«

Er reichte dem Obmann ein sehr starkes Vergrößerungsglas. Ein Geschworener nach dem andern nahm das Pappblatt und das Glas zur Hand und stellte den Vergleich an. Dann sagte der Obmann zum Richter:

»Wir stimmen alle überein, daß kein Unterschied besteht.«

»Legen Sie bitte, jetzt jenes Blatt beiseite,« sagte Wilson zu dem Obmann, »statt dessen nehmen Sie dieses hier, vergleichen Sie es sorgfältig durch das Vergrößerungsglas mit den blutigen Spuren auf dem Messergriff und teilen Sie das Ergebnis dem Gerichtshof mit.«

Die Geschworenen thaten nach seiner Anweisung und ihr Bericht lautete: » Wir finden, daß beide vollkommen übereinstimmen

Nun wandte sich Wilson an den öffentlichen Ankläger, und es lag eine gewisse Feierlichkeit im Ton seiner Stimme, als er sagte:

»Ich erlaube mir, den hohen Gerichtshof daran zu erinnern, daß die Anklage mit dem größten Nachdruck behauptet hat, die blutigen Spuren auf dem Elfenbeingriff stammten von dem Mörder des Richters Driscoll her. Wir haben uns vorhin mit dieser Behauptung einverstanden erklärt und thun es noch. – Ich bitte die Geschworenen, die Fingerabdrucke der Angeklagten mit den Spuren zu vergleichen, die der Mörder zurückgelassen hat.«

Der Vergleich begann. Im Saal herrschte atemlose Stille, jeder Laut, jede Bewegung hatte aufgehört, alle verharrten in gespanntester Erwartung, und als man endlich die Worte vernahm: » Es besteht nicht einmal eine Aehnlichkeit zwischen beiden,« da brach ein donnernder Beifall los; die ganze Versammlung erhob sich, doch fügte sie sich bald wieder dem Ordnungsruf. Tom veränderte seine Stellung fortwährend, konnte aber auf keine Weise zur Ruhe kommen, seine Unbehaglichkeit wuchs von Minute zu Minute. Als Wilson der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder sicher war, sagte er, auf die Zwillinge deutend, mit ernster Stimme:

»Diese Männer sind unschuldig; wir haben nichts mehr mit ihnen zu schaffen.« (Der erneute Beifall wurde schleunig unterdrückt.) »Unsere Aufgabe ist jetzt, den Schuldigen zu entdecken.« (Toms Augen traten aus ihren Höhlen. Es war wirklich ein qualvoller Tag für den trauernden Neffen, jedermann beklagte ihn.) »Ich kehre nun zu den Fingerabdrücken der Kinder A und B zurück und frage die Geschworenen, ob die vergrößerten Ansichten aus A’s fünftem und siebentem Monat übereinstimmen?«

»Vollkommen,« versetzte der Obmann.

»Dann nehmen Sie dieses Blatt, das, wie die Aufschrift sagt, aus A’s achtem Monat stammt. Ist es den beiden andern völlig gleich?«

» Nein – der Unterschied ist groß,« lautete die verwunderte Antwort.

»Sie haben ganz recht. Und wie steht es mit den beiden Abdrücken von B aus dem fünften und siebenten Monat – stimmen sie überein?«

»Ja – vollkommen.«

»Hier ist B’s drittes Blatt aus dem achten Monat. Stimmt das zu B’s andern beiden Abdrücken?«

» Ganz und gar nicht

»Können Sie sich denken, woher diese merkwürdige Verschiedenheit stammt? – Ich will sie Ihnen erklären. Aus einem uns unbekannten Beweggrund, vermutlich in selbstsüchtiger Absicht, hat jemand diese beiden Kinder in der Wiege vertauscht.«

Dies verursachte natürlich ein ungeheures Aufsehen. Roxana staunte über Wilsons Scharfsinn, doch fürchtete sie nichts. Es war etwas Anderes, den Tausch zu erraten, als den Urheber desselben ausfindig zu machen. Unmögliches konnte der Querkopf doch nicht ausrichten, trotz seiner wunderbaren Klugheit. Wie sollte er ihr etwas anhaben? Sie fühlte sich ganz sicher und lächelte insgeheim.

»Im Alter zwischen sieben und acht Monaten wurden die beiden Kinder in der Wiege vertauscht,« wiederholte Wilson; er machte wieder eine seiner wirkungsvollen Pausen und fuhr dann fort: »und die Person, welche das gethan hat, befindet sich hier im Gerichtssaal.«

Roxys Herz stand still. Ein Schauer der Erregung durchzitterte die Versammlung; die Blicke der Menge irrten umher, als suchten sie nach der unbekannten Persönlichkeit. Tom hielt sich kaum aufrecht, alle Lebenskraft schien von ihm gewichen.

»A nahm B’s Wiege im Kinderzimmer ein; B wurde in die Küche verbannt und zu einem Sklaven und Neger gemacht,« – (große Aufregung und zorniges Stimmengewirr) »aber noch ehe eine Viertelstunde vergeht, wird er als freier Weißer vor uns stehen!« (Schallender Beifall und Ordnungsrufe.)

»Von seinem siebenten Monat bis zum heutigen Tage hat A seinen widerrechtlichen Besitz behauptet, auch in meiner Sammlung von Abdrücken trägt er B’s Namen. Hier ist eine vergrößerte Aufnahme aus seinem zwölften Jahr. Sie soll jetzt mit der Blutspur auf dem Griff des Dolchmessers verglichen werden. Stimmen beide überein?«

Der Obmann antwortete: » Aufs allergenaueste

»Der ermordete York Driscoll war der großmütigste und gütigste Mann, er war mein Freund, und jedermann liebte ihn,« sagte Wilson in feierlichem Ton, – »sein Mörder sitzt mitten unter uns. Stehe auf, Valet de Chambre, du Neger und Sklave, den man fälschlich Thomas à Becket Driscoll genannt hat – tritt her und laß uns hier auf dem Fenster den Abdruck deiner Fingerspitzen sehen, der dich an den Galgen bringen soll!«

Tom wandte sein aschbleiches Gesicht flehend nach dem Redner hin, bewegte die blutlosen Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen und sank dann bewußtlos zu Boden.

»Es bedarf keines Beweises mehr. Er hat seine Schuld eingestanden,« sagte Wilson, während die Menge von Scheu und Grauen erfüllt, schweigend verharrte.

Roxy schlug ihre Hände vors Gesicht, fiel auf die Kniee und stammelte schluchzend die Worte:

»Herrgott, hab‘ Erbarmen mit mir – ich bin ’ne arme, elende Sünderin!«

Die Uhr schlug zwölf.

Die Gerichtssitzung ward aufgehoben; den neuen Gefangenen führte man gefesselt ab.

Schluß.

Schluß.

Die Bewohner von Dawson blieben die ganze Nacht auf und wurden nicht müde, die erstaunlichen Ereignisse des Tages zu besprechen und Vermutungen darüber anzustellen, wann das Gerichtsverfahren gegen Tom beginnen würde. Eine Abteilung der Bürger nach der andern kam vor Wilsons Haus gezogen, um ein Hoch auf ihn auszubringen und ihn reden zu hören. Bei jedem Satz, den er sprach, schrie man sich heiser, denn von seinen Lippen fielen jetzt nur wunderbare, goldene Worte. Sein langer Kampf gegen Vorurteil und Mißgeschick war zu Ende, er galt nun als ganzer Mann für alle Zeiten.

Jedesmal, wenn die begeisterten Scharen wieder abzogen, begann sicherlich der eine oder andere aus ihrer Zahl in reuevollem Ton zu sagen:

»Und diesen Mann haben wir und unsersgleichen zwanzig Jahre lang einen Narren und Querkopf genannt! Damit ist’s nun ein- für allemal aus, ihr Freunde.«

»Jawohl – aber der Name geht nicht verloren – er hat ihn an uns abgetreten.«

Die Zwillinge waren jetzt echte Romanhelden und erfreuten sich des besten Rufes. Aber die Abenteuer des Westens waren ihnen verleidet und sie schifften sich ohne Aufschub nach Europa ein.

Roxy war ganz gebrochen. Zwar zahlte ihr der junge Mann, den sie dreiundzwanzig Jahre lang zur Sklaverei verdammt hatte, auch ferner monatlich fünfunddreißig Dollars aus, wie der falsche Erbe gethan, aber ihre Wunden waren zu tief – Geld konnte sie nicht heilen. Aus ihren Augen war aller Glanz verschwunden, ihre stolze Haltung war dahin und nie und nirgends hat man wieder ihr helles, sorgloses Lachen vernommen. Im Besuch ihrer Kirche und in gottesdienstlichen Uebungen fand sie den einzigen Trost.

Der echte Erbe war jetzt reich und frei, befand sich aber in einer äußerst unbehaglichen Lage. Er konnte weder lesen, noch schreiben und sprach nichts als den unverfälschtesten Negerdialekt aus dem Sklavenquartier. Sein Gang, seine Haltung, alle seine Bewegungen und Stellungen waren ungeschlacht und gewöhnlich, sein Wesen – das eines Sklaven. Geld und schöne Kleider konnten diese Mängel nicht zudecken oder beseitigen, sie stellten das alles nur noch in ein grelleres und traurigeres Licht. Vor dem Aufenthalt im Wohnzimmer der Weißen graute dem armen Menschen förmlich; nirgends war ihm wohl und behaglich zu Mute, außer in der Küche. Wir können jedoch seinem seltsamen Schicksal nicht weiter folgen – das wäre eine zu lange Geschichte.

Der falsche Erbe legte ein volles Geständnis ab und wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Hieraus entstand jedoch eine sonderbare Schwierigkeit: Percy Driscolls Besitztum war bei seinem Tode so verschuldet gewesen, daß die Gläubiger sich mit sechzig Prozent ihrer Forderung begnügen mußten. Jetzt meldeten sie sich aber und erhoben einen neuen Anspruch. Zufolge eines Irrtums, an dem sie keine Schuld trügen, sagten sie, habe man den falschen Erben damals nicht mit in das Vermögensinventar aufgenommen, wodurch ihnen großes Unrecht und Schaden zugefügt worden sei. Sie forderten mit Recht ›Tom‹ als ihr gesetzliches Eigentum, das ihnen seit acht Jahren vorenthalten würde. Schon diese ganze Zeit über hätte man sie seiner Dienste beraubt und man dürfe ihnen nicht noch weitere Verluste bereiten. Wäre er ihnen damals gleich übergeben worden, so würden sie ihn verkauft haben, und er hätte gar nicht in den Fall kommen können, den Richter Driscoll zu ermorden. Deshalb wäre er selbst in keiner Weise für den Mord verantwortlich – das falsche Inventar trüge allein die Schuld. Dies leuchtete jedermann ein. Alle waren der Meinung, daß, wenn ›Tom‹ ein freier Weißer gewesen wäre, es ohne Zweifel gerecht sein würde, die Strafe über ihn zu verhängen – kein Mensch hätte einen Verlust dadurch gehabt. Aber einen wertvollen Sklaven auf Lebenszeit einzusperren – das war ganz etwas Anderes.

Als der Gouverneur die Sachlage begriffen hatte, begnadigte er ›Tom‹ auf der Stelle, und die Gläubiger verkauften ihn nach dem Süden, ›flußabwärts.‹

 

Ende.

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Nachdem sich Percy Driscoll seinem Hausgesinde so gnädig erwiesen, schlief er den Schlaf des Gerechten. Roxy dagegen konnte die ganze Nacht über vor Grauen und Entsetzen kein Auge zuthun. Der Gedanke, daß man ihren Knaben, wenn er groß wurde, flußabwärts verkaufen könne, machte sie fast wahnsinnig. Verlor sie auch auf Augenblicke das klare Bewußtsein und schlummerte ein, so sprang sie doch gleich wieder auf die Füße und stürzte zu ihrem Kinde, um zu sehen, ob es noch in der Wiege sei. Sie riß es heraus, drückte es an ihr Herz, gab ihm tausend Liebesnamen und bedeckte es mit heißen Küssen. »Sie sollen’s nicht thun, nein, nein! – Eher bringt dich deine Mammy um!« rief sie unter Schluchzen und Stöhnen.

Als sie es wieder zurück ins Bettchen legte, warf sich das andere Kind im Schlaf unruhig umher. Sie trat zu ihm und betrachtete es lange.

»Warum sollst du alles Glück haben und mein armer Kleiner nichts?« sagte sie. »Was kann er dafür? Weshalb ist Gott dir so gut, und für ihn sorgt er nicht? Dich kann kein Mensch flußabwärts verkaufen. O, wie hasse ich deinen Pappy – er hat kein Gefühl, kein Herz für die Neger. Ich könnte ihn töten vor Abscheu.« Sie überlegte eine Weile und brach dann wieder in wildes Schluchzen aus. »Nein, nein, ’nen anderen Weg giebt’s nicht. Es muß sein. Lieber mein Kind umbringen, als immer fürchten zu müssen, daß es mir entrissen und verkauft würde. Bring‘ ich Massa Percy um, so schicken sie meinen Kleinen doch einmal den Fluß hinunter. Es hilft nichts, deine arme Mammy muß es thun, um dich zu retten, Herzblatt –« sie drückte den Knaben an die Brust und erstickte ihn fast mit ihren Liebkosungen. »Mammy muß dich töten – ob ich’s wohl kann? – Aber weine nur nicht – Mammy verläßt dich nicht – sie geht mit dir und bringt sich auch um. Komm nur, Herzblatt, komm mit deiner Mammy; wir springen zusammen ins Wasser, dann ist alle Not dieser Welt vorbei – im Jenseits drüben verkauft man arme Neger nicht flußabwärts.«

Sie redete dem Kinde beschwichtigend zu und eilte nach der Thür; plötzlich stand sie still; dort hing ihr neues Sonntagskleid – ein elendes Kattunfähnchen mit auffallendem Muster und schreiend bunten Farben bedruckt. Sie betrachtete es mit sehnsüchtigem Verlangen.

»Ich hab’s noch nie angehabt,« sagte sie, »und ’s ist doch so wunderschön!« Da kam ihr ein guter Gedanke, sie nickte beifällig. »Nein, in dem alten schlechten Zeug hier sollen sie mich nicht ‚rausfischen, wenn alle Welt mich angafft.« Sie legte das Kind hin, wechselte ihre Kleidung und betrachtete sich im Spiegel. Erstaunt über ihre eigene Schönheit, beschloß sie, sich zum letzten Gang noch vollends zu schmücken. Sie nahm das Kopftuch ab und ordnete ihr reiches glänzendes Haar, »wie die Weißen es thun,« wand auch ein paar recht grellfarbene Bänder hinein und steckte hie und da eine abscheuliche gemachte Blume an; zuletzt warf sie sich noch ein bauschiges feuerrotes Ding, ›eine Wolke‹, wie man es damals nannte, über die Schultern – dann war sie bereit, ins Grab zu steigen. Wieder nahm sie den Kleinen auf den Arm; als ihr aber sein kurzes grobes Hemd in die Augen fiel, quälte sie der Abstand zwischen seiner schäbigen Bettelkleidung und der glänzenden Pracht ihres eigenen Aufputzes; ihr Mutterherz ward gerührt und sie schämte sich.

»Nein, Schätzchen, so spielt dir deine Mammy nicht mit. Dich sollen die Engel grad so schön finden wie deine Mammy. Ich will nicht, daß sie sich die Hand vor die Augen halten und zu David und Goliath und den anderen Propheten sagen: ›Das Kind da im grauen Hemd paßt nicht in den Himmelsgarten.‹«

Rasch hatte sie das kleine Geschöpf nackt ausgezogen, und legte ihm jetzt ein schneeweißes langes Tragkleidchen mit hellblauen Schleifen und zierlichen Puffen und Falbeln an, das Thomas à Becket gehörte.

»Da – jetzt bist du im Staat.« Sie stellte das Kind aufrecht in den Armstuhl und trat ein paar Schritte zurück, es zu betrachten. Erstaunt riß sie die Augen auf, klatschte bewundernd in die Hände und rief: »Na, das hätt‘ ich mir nicht träumen lassen – du bist ja allerliebst. Massa Tommy ist kein bischen schöner – auch nicht ein Linschen!«

Nun eilte sie an die Wiege des andern Kindes, warf einen vergleichenden Blick zu dem ihrigen hinüber und schaute dann wieder den Erben des Hauses an. Ein seltsames Licht dämmerte in ihren Augen auf, sie schien in Gedanken verloren, als wäre sie sich selbst entrückt. Endlich kam sie wieder zu sich. »Gestern wusch ich alle beide in der Wanne,« murmelte sie, »und da kam der Pappy und fragte mich, welches seins wäre.«

Wie im Traum ging sie hin und her; sie entkleidete Thomas à Becket und zog ihm das kurze, grobe Hemdchen an. Mit seinem Korallenhalsband schmückte sie ihr eigenes Kind, legte dann die Knaben dicht neben einander und betrachtete beide.

»Was doch Kleider ausmachen,« rief sie nach langem Schweigen. »Meiner Seel‘ – kaum weiß ich selbst, wer welcher ist – wie soll’s sein Pappy ‚rausfinden?«

Nun bettete sie ihren Kleinen in Tommys reiche Wiege.

»Du bist jetzt Massa Tom und sollst’s bleiben,« sagte sie mit klopfendem Herzen. »Ich muß mich recht üben, dich so zu nennen, damit ich mich nicht verschnappe; denn, wenn es heraus käm‘, ging’s uns beiden schlecht. Da – jetzt lieg‘ still und sei nicht mehr bös‘, Massa Tom – Gott sei Lob und Dank, du bist ja gerettet – jetzt kann niemand mehr Mammys süßes kleines Herzblatt flußabwärts verkaufen.«

Den Erben des Hauses legte sie darauf in ihres Kindes roh aus Tannenholz gezimmerte Wiege und betrachtete den kleinen Schläfer mit unruhigen Blicken.

»Du thust mir leid, armes Ding, gewiß und wahrhaftig – aber was soll ich thun – ich kann’s nicht ändern. Dein Pappy hätt‘ ihn mal verkaufen können an irgend jemand – dann wär‘ er sicher den Fluß hinunter gekommen – nein, nein, das ertrag‘ ich nicht, es kann nicht sein– es ist unmöglich!«

Sie warf sich auf ihr Lager und wälzte sich lange ruhelos umher. Plötzlich richtete sie sich auf, ein tröstlicher Gedanke schoß ihr durch das wirre Hirn. »’S ist keine Sünde – die weißen Menschen haben’s auch gethan. Gottlob, ’s ist keine Sünde. Wie ist mir denn, wo hab‘ ich’s nur gehört? – Ja, und sogar die aller allerobersten im Rang – die Könige!«

In tiefes Sinnen versunken, war sie bemüht, sich die Einzelheiten einer Geschichte ins Gedächtnis zu rufen, die sie irgendwo einmal vernommen hatte.

»Jetzt fällt mir’s ein,« rief sie endlich. »Der alte schwarze Pastor hat’s erzählt, der damals von Illinois kam und in der Negerkirche predigte. Was sagte er doch? – Kein Mensch kann sich selbst erlösen – der Glaube thut’s nicht – die Werke thun’s nicht – man bringt’s nicht zuwege! ‚S ist freie Gnade, und die kommt nur von Gott. Der Herr kann sie geben, wem er will, dem Frommen, dem Sünder – ganz nach Gefallen. Er wählt, wie’s ihm gerade paßt: den einen stößt er von seinem Platz und setzt einen andern an die Stelle. Einen läßt er ewig im höllischen Feuer brennen, und den andern macht er selig sein Lebtag und immerdar. Der Pastor sagte, so sei’s auch in England geschehen vor grauer Zeit. Die Königin hat ihr Büblein allein ‚rumliegen lassen und ist in Gesellschaft gegangen; da kommt eine Negerin, die fast weiß ist, in die Kammer hinein, zieht dem Königskind die Kleider von ihrem Kleinen an, und ihrem Kleinen die Kleider vom Königskind. Sie läßt ihr Büblein in der Kammer und trägt das Königskind in die Negerhütte. Kein Mensch hat’s je ‚rausgefunden. Ihr Kleiner ist mit der Zeit König geworden und hat das Königskind flußabwärts verkauft, als er mal Geld brauchte. So war’s, – so hat’s der Pastor selbst erzählt, und ’s ist keine Sünde, weil’s die weißen Menschen auch gethan haben. Ja freilich– gethan haben sie’s – und sogar im Königshaus. O, wie froh bin ich, daß mir die Geschichte wieder eingefallen ist.«

Leichten Herzens und voll Zuversicht stand sie auf, ging von einer Wiege zur andern und brachte den Rest der Nacht damit zu, sich zu ›üben‹, wie sie es nannte. Sie streichelte ihr eigenes Kind und sagte bittend: »Lieg‘ still, Massa Tom,« dann gab sie dem wirklichen Tom einen Klaps und fuhr ihn streng an: »Willst du gleich still liegen, Schamber, sonst setzt’s was!«

Zu ihrer Verwunderung dauerte es gar nicht lange, bis sie das ehrfurchtsvolle Benehmen, das sie sonst ihrem jungen Herrn gegenüber in jeder Miene, jedem Wort kundgethan, auf den unberufenen Eindringling übertragen konnte, während sie den unglücklichen Erben des alten Hauses Driscoll nur noch in kurzem, befehlendem Ton anredete, wie es ihr mütterliches Vorrecht war.

Manchmal setzte sie ihre Uebung auch eine Weile aus, um zu überlegen, ob sie mit Sicherheit auf das Gelingen ihres Planes rechnen dürfe.

»Die Neger werden noch heute verkauft, weil sie das Geld gestohlen haben – dann kauft man andere, und die kennen die Kinder nicht – das trifft sich gut. Fahr‘ ich sie draußen spazieren, so schmier‘ ich ihnen Syrup um den Mund – da merkt’s gewiß niemand, daß sie verwechselt sind. Ja, das thue ich, wenn’s keiner sieht, bis alle Gefahr vorbei ist, und sollt’s ein Jahr dauern. »Nur einer könnt’s entdecken – vor dem fürcht‘ ich mich – das ist Herr Wilson – sie nennen ihn Querkopf und sagen, er ist ein Narr. Und dabei ist er so klug wie ich, klüger als alle andern, außer vielleicht Richter Driscoll oder Pem Howard. Meiner Treu – der Mensch ängstigt mich mit seinen verflixten Gläsern; ob er wohl ein Hexenmeister ist? – Aber, ich weiß, was ich thu‘, ich geh‘ zu ihm und sag‘, er soll wieder Abdrücke nehmen von den Kindern ihren Fingern, und wenn er dann nichts merkt, dann bringt’s kein Mensch auf der Welt ‚raus, daß ich sie vertauscht habe, und ich brauch‘ nichts mehr zu fürchten – rein gar nichts. Aber ein Hufeisen will ich doch einstecken, dann hat der Zauber keine Macht.«

Die neuen Neger brauchte Roxy natürlich nicht zu fürchten, auch ihren Herrn nicht, denn Driscoll war gerade mit einer Landspekulation vollauf beschäftigt und hatte für nichts anderes Sinn. Er schaute die Kinder an und sah sie doch kaum. Roxy brauchte nur die Kleinen zum Lachen zu bringen, sobald sie ihn von weitem erblickte, dann verwandelte sich Mund, Augen und Nase der verzerrten Gesichtchen in lauter Gaumen und winzige Löcher; bis aber der Anfall vorüber war und sie wieder kleinen menschlichen Geschöpfen glichen, war Driscoll längst fort.

In den nächsten Tagen wurde überdies das Gelingen der wichtigen Landspekulation so zweifelhaft, daß Herr Percy sich mit seinem Bruder, dem Richter, an Ort und Stelle begeben mußte, weil ein Erbstreit entstanden war. Die Abwesenheit der beiden Herren dauerte sieben Wochen. Noch vor ihrer Rückkehr hatte Roxy den beabsichtigten Besuch bei Wilson gemacht und sie war nun ganz beruhigt. Wilson nahm die Abdrücke und schrieb die Namen auf, dann setzte er das Datum darunter – es war der erste Oktober.

Nachdem er die Glasplatten sorgfältig verwahrt hatte, fuhr er fort, sich mit Roxy zu unterhalten, der es sehr darauf anzukommen schien, daß er sehen sollte, wie die Kinder im letzten Monat an Fülle und Schönheit zugenommen hatten. Die Kleinen waren ganz sauber und rein gewaschen, und er bewunderte sie höchlich, in der Meinung, Roxy damit ein Vergnügen zu machen; sie aber zitterte und bebte im Innern, weil sie jeden Augenblick fürchtete, er möchte vielleicht – – –

Ihre Angst war jedoch vergebens. Er entdeckte nichts, und sie kehrte frohlockend heim. Von nun an verbannte sie alle Sorge auf immer aus ihrem Gemüt.

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Am Freitag nach der Wahl war Regenwetter in St. Louis. Es strömte vom Morgen bis zum Abend, was nur vom Himmel herunter wollte, gerade als hätte der Regen sich vorgenommen, die rußgeschwärzte Stadt weiß zu waschen, was ihm freilich nicht gelang. Gegen Mitternacht kam Tom Driscoll bei dem stärksten Guß aus dem Theater nach seiner Wohnung zurück; er machte seinen Schirm zu, um die Hausthür zu öffnen, als er sie aber hinter sich schließen wollte, merkte er, daß noch jemand eintrat, vermutlich ein anderer Mieter. Der Unbekannte machte die Thür zu und stieg nach ihm die Treppe hinauf. Als Tom seine Stubenthür im Dunkeln gefunden hatte, zündete er drinnen das Gas an, pfiff leise eine Melodie vor sich hin und drehte sich gemächlich um. Da sah er einen Mann, der ihm den Rücken zukehrte und eben die Thür hinter ihm abschloß; Tom hörte auf zu pfeifen, ihm ward unbehaglich zu Mute. Jetzt wandte sich der Mann zu ihm hin, seine alten schäbigen Kleider waren ganz durchweicht und trieften vom Regen, unter seinem abgetragenen Schlapphut starrte ein schwarzes Gesicht hervor. Tom geriet in entsetzliche Angst, er wollte den Eindringling hinausjagen, aber er konnte kein Glied rühren, die Worte blieben ihm in der Kehle stecken und der andere kam ihm zuvor.

»Mach‘ keinen Lärm,« sagte er mit unterdrückter Stimme, »ich bin deine Mutter.«

Wie vom Blitz getroffen sank Tom auf einen Stuhl.

»Es war schändlich von mir und niederträchtig,« stieß er keuchend hervor, »aber ich glaubte, daß es so am besten wäre – gewiß und wahrhaftig.«

Roxana stand eine Weile regungslos da und sah stumm auf ihn herab, während er, sich vor Scham windend, bald unzusammenhängende Selbstanklagen murmelte, bald jammervolle Versuche anstellte, sein Verbrechen zu erklären und zu beschönigen. Dann setzte sie sich und nahm den Hut ab, so daß ihr langes braunes Haar ihr in dichten, wirren Strähnen über die Schultern fiel.

»Dein Verdienst ist’s nicht, wenn mein Haar nicht grau geworden ist,« sagte sie klagend.

»Ich weiß es, o, ich weiß es – ich bin ein Schurke. Aber ich hielt es für das beste, das schwöre ich. Es war ein Irrtum, aber wirklich, ich dachte, ich könnte nichts besseres thun.«

Roxy begann leise vor sich hin zu weinen und zu schluchzen, dazwischen stieß sie auch Worte aus, aber sie klangen wie Jammerlaute, nicht wie ein zorniger Vorwurf.

»’Nen Menschen nach’m Süden verkaufen – flußabwärts – das beste! – Keinem Hund thät‘ ich’s an. Ganz gebrochen und abgemergelt bin ich – ich kann nicht mal mehr wütend werden, wie früher, wenn man mich geschimpft hat und mit Füßen getreten. Wie’s kommt, weiß ich nicht – mir fehlt scheint’s die Kraft. Kummer liegt mir jetzt näher als Zorn, ich hab‘ zu viel auszustehen gehabt das wird’s wohl sein.«

Ihre Klagen hätten Tom zu Herzen gehen müssen, aber, wenn das der Fall war, so wurde seine Rührung von einem stärkeren Gefühl verschlungen. Die entsetzliche Angst, die auf ihm gelastet hatte, war gewichen, sein gebrochener Mut begann sich neu zu beleben, und seine niedrige Seele atmete auf wie erlöst. Doch schwieg er wohlweislich still und wagte nicht die leiseste Aeußerung zu thun. Eine Weile ward kein Wort gesprochen, man hörte nur, wie draußen der Regen an die Scheiben klatschte, wie der Wind heulte und stöhnte; ab und zu ließ Roxana ein leises Schluchzen hören, das immer seltener wurde und zuletzt ganz verstummte. Dann begann sie wieder zu reden:

»Das Licht ist zu hell. Mach‘ es dunkler. Immer noch mehr. Wer verfolgt wird, mag kein Licht leiden. So ist’s genug, ich brauch‘ nur zu sehen, wo du bist. Jetzt erzähl‘ ich, wie mir’s ergangen ist – ich mach’s so kurz ich kann – und dann werd‘ ich dir sagen, was du thun sollst. – Der Mann, der mich gekauft hat, war nicht schlecht für ’nen Pflanzer. Hätt‘ er seinen Willen haben können, so wär‘ ich ’ne Haussklavin in der Familie gewesen und hätt’s gut gehabt. Aber seine Frau war vom Norden und gar nicht hübsch; sie konnt‘ mich von vornherein nicht leiden, und so wurd‘ ich ins Sklavenquartier geschickt und mußt‘ auf dem Feld arbeiten. Aber dem Weib war auch das nicht genug in ihrer schändlichen Eifersucht; sie steckt sich hinter den Aufseher, und der holt mich ‚raus, eh‘ noch der Morgen graut, läßt mich den ganzen Tag schaffen, bis es dunkel wird und giebt mir seine Peitsche zu kosten, so oft ich’s nicht den Stärksten gleichthu‘. Er kam auch aus dem Norden, aus Neuengland, und was das heißen will, weiß jeder Sklave im Süden. Die verstehen’s, wie man ’nen Neger zu Tode quält und ihm den Rücken blutig schlägt, daß die Striemen fingerdick aufschwellen. Zuerst legte der Massa noch ein gutes Wort ein für mich beim Aufseher, aber da ging mir’s schlecht – das Weib kam dahinter, und nun setzt‘ es Hiebe, wo ich ging und stand – ohne Gnad‘ und Barmherzigkeit.«

In Toms Innern kochte es vor Wut – gegen das Weib des Pflanzers. »Der Henker hole die verdammte Närrin,« fluchte er heimlich, »hätte sie sich nicht eingemischt, wäre alles gut gegangen.«

Der Ingrimm stand ihm im Gesicht geschrieben, und ein Blitz, der in diesem Augenblick das düstere Zimmer taghell erleuchtete, ließ Roxana in seinen Zügen lesen. Sie freute sich darüber, denn bewies dieser Ausdruck nicht, daß ihr Kind das Leiden der Mutter mit empfand und ihre Peiniger verwünschte? – und daran hatte sie stark gezweifelt. Aber der helle Freudenschein verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war und es ward dunkel in ihr. »Er hat mich flußabwärts verkauft,« sagte sie sich, »sein Mitleid verfliegt wie Spreu, es hat keinen Bestand.«

Dann nahm sie ihren Bericht wieder auf:

»Zehn Tage sind’s her, da sagt‘ ich zu mir: lange halt‘ ich’s nicht mehr aus; die höllische Arbeit, die vielen Schläge werden mich umbringen, eh‘ noch ein paar Wochen vorbei sind – so totmatt und elend war mir zu Mut. Wenn das Leben so weiter gehen sollt‘, wär‘ ich viel lieber gestorben, mir war alles einerlei. Ist man erst so weit, dann gilt’s einem auch gleich, was man thut. Da war ein armes, kleines Negermädchen, zehn Jahr alt, die war gut zu mir und hatte keine Mammy und wir hatten uns beide lieb. Sie kam aufs Feld und wollte mir ’ne gebratene Kartoffel zustecken, aus Mitleid, weil sie wußte, daß ich nicht satt zu essen kriegte. Doch der Aufseher ertappt sie dabei, und schlägt sie mit seinem Stock über’n Rücken, der so dick war wie’n Besenstiel, daß sie zu Boden fällt und sich vor Schmerz krümmt und windet. Ich konnt’s nicht mit ansehen. Die ganze Hölle tobte in mir – ich riß dem Mann den Stock aus der Hand und schlug ihn nieder. Da lag er ächzend und fluchend, er rührte kein Glied mehr. Die Neger waren zum Tod erschrocken und kamen und wollten ihm helfen. Ich sprang auf sein Pferd, und fort ging’s zum Fluß wie der Wind. Was mir geschehen würde, wußt‘ ich wohl. Der Mann hätt‘ mich zu Tode geschunden, sobald er wieder auf den Beinen war, wenn’s der Massa zugab. Oder, sie hätten mich weiter flußabwärts verkauft – und das kommt auf eins ‚raus. Da sprang ich lieber ins Wasser und macht‘ meiner Not ein Ende. Es war schon dämmerig geworden und in zwei Minuten kam ich zum Fluß. Da lag ein Kahn am Land, und ich sag‘ zu mir: ›Was soll ich mich ertränken, wenn ich nicht muß‹ und bind‘ das Pferd an’n Baumstamm, stoß‘ den Kahn ins Wasser, fahr‘ immer am steilen Ufer hin und bet‘ zu unserm Herrgott, daß die Nacht mich schnell zudeckt. Ich hatt‘ ’nen guten Vorsprung, denn das große Haus liegt drei Meilen vom Fluß; bis die Neger auf den Arbeitspferden hinkamen und wieder zurück, war es längst dunkel. Sie ritten gewiß nicht zu schnell, um mir Zeit zu lassen. Bei Nacht konnten sie die Pferdespur nicht finden, erst am Morgen würden sie sehen, welchen Weg ich genommen hatte, und lügen würden die Neger auch, so viel sie nur konnten.

Also, die Nacht kam, und ich fuhr immer weiter auf dem Fluß; zwei Stunden lang ruderte ich noch, dann hatt‘ ich keine Angst mehr, ließ mich forttreiben im Strom und dacht‘ mir aus, was ich thun wollte, wenn ich nicht ins Wasser springen müßt‘. Ich machte viele Pläne und überlegte alles hin und her, wie ich so still im Kahn saß. Es mocht‘ wohl bald nach Mitternacht sein und ich war fünfzehn oder zwanzig Meilen gefahren, da sah ich die Lichter von’m Dampfer, der am Ufer lag, es war aber keine Werft da und keine Stadt. Beim Sternenschein konnt‘ ich die Form der Schornsteine erkennen und – o, du meine Güte, auf einmal meint ich doch, ich müßt‘ aus der Haut fahren vor Freude. Es war ja der ›Großmogul ‹, auf dem ich acht Jahre lang Stubenmädchen gewesen bin und der Handel trieb zwischen Cincinnati und New Orleans. Ich fuhr mit dem Kahn dicht ‚ran – aber nirgends rührte sich was. Nur unten im Maschinenraum hört‘ ich ein Geklopf und Gehämmer. Da wußt‘ ich, ’s war was an der Maschine zerbrochen. Ich geh‘ ans Land, laß meinen Kahn treiben und späh‘ nach dem Dampfer hin, bis ich ans Laufbrett komm‘ und an Bord gehen kann. ‚S war ganz unmenschlich heiß. Auf dem Vorderdeck lagen die Leute lang ausgestreckt, der zweite Maat, Jim Bangs, saß auf der Beting, mit dem Kopf in’n Händen und schlief. So hält er immer die Kapitänswache. Und der alte Steuermann Billy Hatch war auf der Kajütentreppe eingenickt. Ich kannte sie alle und Herrje, wie froh war ich! ›Jetzt soll nur der alte Massa kommen und mich fangen‹ dacht‘ ich, ›hier bin ich unter Freunden.‹ Mitten durch geh‘ ich an ihnen vorbei, bis ans Geländer der Damenkajüte und setz‘ mich grad‘ auf denselben Stuhl, wo ich wohl hundertmillionenmal gesessen hab‘. ‚S war mir, als wär‘ ich wieder daheim.

»Keine Stunde währt’s, da bimmelt die Glocke und das Dampfboot wird flott gemacht. Es geht nach St. Louis hinauf, denn das wüßt‘ ich, daß der ›Großmogul‹ jetzt dort anlegt. Die Sonne war grad‘ aufgegangen, da fuhren wir an unserer Pflanzung vorbei, und ich seh‘ ’ne Schar Neger und Weiße am Ufer hin- und herlaufen. Die gaben sich große Mühe mich zu finden, aber mir machte das wenig Sorge.

»Um die Zeit kam Sally Jackson – die jetzt nicht mehr zweites Stubenmädchen war, sondern erstes – ans Schiffsgeländer, und freute sich sehr, mich wiederzusehen und die Offiziere auch. Als ich sagte, man hätt‘ mich geraubt und flußabwärts verkauft, sammelten sie zwanzig Dollars und schenkten sie mir, und Sally gab mir gute Kleider. Wir landeten hier und ich ging gleich nach deiner alten Wohnung und kam dann in dies Haus; man sagte mir, du wärst fort, könntest aber alle Tage wiederkommen. Da wollt‘ ich lieber nicht nach Dawson fahren, ich hätt‘ dich sonst verfehlt.

»Als ich nun letzten Montag in der Vierten Straße an ’ner Schenke vorbeikomm‘, wo sie die Zettel ankleben, wenn ein Neger entlaufen ist, – da seh‘ ich meinen Massa. Ich dacht‘, ich sollt‘ in die Erde sinken. Er stand mit dem Rücken nach mir und sprach mit ’nem Mann, dem gab er solchen Neger-Zettel. Die entlaufene Negerin, das war ich und er setzte wohl ’ne Belohnung für sie aus – was meinst du – hab‘ ich nicht recht?«

Tom war allmählich in immer grauenvollere Angst geraten. »Ich bin verloren,« dachte er, »mag die Sache sich wenden wie sie will. Der Pflanzer sagte mir, der ganze Kauf käme ihm verdächtig vor. Ein Fahrgast vom ›Großmogul‹ hätte ihm geschrieben, Roxy sei auf dem Dampfer hierher gekommen, und alle an Bord wüßten, wie sich die Sache verhielte. Daß sie nicht nach einem Freistaat geflohen sei, sei schlimm für mich, und wenn ich ihm nicht rasch behilflich wäre, sie wiederzufinden, wollte er mich schon in die Klemme bringen. Anfangs glaubte ich die ganze Geschichte nicht. Meiner Mutter konnte ich’s nicht zutrauen, daß sie so gefühllos sein würde, wieder herzukommen, da sie doch wissen mußte, welcher Gefahr sie mich aussetzte. Und nun ist sie doch hier! – Wäre ich nur nicht so dumm gewesen, ihm zu geloben, daß ich ihm helfen würde, sie zu suchen. Ich hab’s ihm ganz ruhig versprochen, weil ich mir einbildete, es könnte nichts schaden. Wenn ich sie ihm nun ausliefere, so wird sie – aber, wie kann ich’s ändern? Thue ich’s nicht, so muß ich das Geld zahlen und wo soll ich’s hernehmen? – Könnte ich ihn nicht zwingen, mir zu schwören, daß er sie von jetzt ab gut behandeln wird – sie sagt ja selbst, er ist kein böser Mensch, und wenn er verspräche, daß sie nie wieder überarbeitet und schlecht genährt werden soll oder –«

Ein greller Blitz beleuchtete Toms bleiches Gesicht; man las die quälenden Gedanken in seinen verzerrten Zügen.

»Dreh‘ das Gaslicht auf, damit ich dich besser sehen kann,« befahl jetzt Roxana mit scharfem Ton, obgleich ihre Stimme bebte. »So – nun laß dich mal betrachten. Du siehst ja so weiß aus wie dein Hemd, Schamber. – Hast du den Mann gesehen? Hat er dich aufgesucht?«

»I – ja.«

»Wann?«

»Montag mittag.«

»War er mir auf der Spur?«

»Er – glaubte und hoffte es. Hier ist der Zettel, den du gesehen hast.« Tom nahm ihn aus der Tasche.

»Lies ihn mir vor.«

Sie keuchte vor Aufregung und in ihren Augen lag ein düsterer Glanz, der Tom nicht ganz verständlich war – ihm jedoch bedrohlich schien. Auf dem Zettel sah man den gewöhnlichen rohen Holzschnitt, der eine laufende Negerin mit dem Turban auf dem Kopf darstellte, welche ein Bündel an einem Stock über der Schulter trug. Darüber stand in großen Buchstaben geschrieben: Hundert Dollars Belohnung. Tom las die Anzeige laut vor – wenigstens den Teil, der Roxanas Beschreibung enthielt, sowie die Adresse ihres Herrn in St. Louis und diejenige seines Agenten in der Vierten Straße. Die Stelle aber, welche besagte, daß die Bewerber um die Belohnung sich auch an Herrn Thomas Driscoll wenden könnten, unterdrückte er klüglich.

»Gieb mir den Zettel!«

Tom hatte ihn eben zusammengefaltet, um ihn in die Tasche zu stecken. Es lief ihm kalt über den Rücken, doch sagte er mit der gleichgültigsten Miene von der Welt:

»Wozu? Du kannst ihn ja doch nicht lesen. Was soll er dir nützen?«

»Gieb mir den Zettel!« Tom that es; doch merkte sie ihm sein Zögern an. »Hast du mir auch alles vorgelesen?«

»Jawohl, gewiß.«

»Halt‘ die Hand in die Höhe und schwöre mir’s.«

Nachdem Tom auch dies gethan hatte, steckte Roxana das Papier sorgfältig ein. Die ganze Zeit über verwandte sie jedoch kein Auge von Toms Gesicht.

»Du lügst!« sagte sie.

»Weshalb sollte ich denn wohl lügen?«

»Das weiß ich nicht – aber du lügst – wenigstens glaub‘ ich’s. Doch darum handelt’s sich jetzt nicht. Als ich den Mann sah, bekam ich solchen Schreck, ich könnt‘ kaum noch auf den Beinen, stehen. Dann gab ich ’nem Neger einen Dollar für die Kleider hier, und seitdem bin ich in kein Haus mehr gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht. Ich schwärzte mein Gesicht und verbarg mich tags im Keller von ’nem alten abgebrannten Haus und nachts kroch ich zwischen die Zuckerfässer und Kornsäcke auf der Werft und stahl was ich brauchte, um meinen Hunger zu stillen. Was zu kaufen getraut‘ ich mir nicht und bin schier verschmachtet. Auch hierher dürft‘ ich mich erst heut wagen, in dieser Regennacht, wo kaum ein Mensch unterwegs ist. Seit es dunkel wurde, hab‘ ich drüben in der Gasse gestanden und gewartet, daß du vorbeikommen solltest. Und nun bin ich hier.«

Sie verlor sich eine Weile in Gedanken, dann fragte sie:

»Letzten Montag mittag hast du den Mann gesehen?«

»Ja.«

»Ich sah ihn am selben Nachmittag. Nicht wahr, er hat dich aufgesucht?«

»Ja.«

»Hat er dir gleich den Zettel gegeben?«

»Nein, damals war er noch nicht gedruckt.«

Roxana warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Hast du ihm nicht geholfen, die Schrift aufzusetzen?« Tom war innerlich wütend, daß er sich so dumm verschnappt hatte und suchte es wieder gut zu machen, indem er sagte, er erinnere sich jetzt, daß der Mann ihm den Zettel doch am Montag mittag gegeben habe.

»Jetzt lügst du wieder,« sagte Roxana. Dann richtete sie sich hoch empor. »Ich will dir ’ne Frage vorlegen, der kannst du nicht ausweichen,« fuhr sie fort. »Du weißt, daß er mich verfolgt, und wenn du fortläufst, statt hier zu bleiben und ihm zu helfen, so argwöhnt er sicher, daß etwas mit dem Handel nicht in Ordnung ist. Dann erkundigt er sich nach dir, man weist ihn an deinen Onkel, der liest den Zettel und sieht, daß du ’ne freie Negerin flußabwärts verkauft hast. Du kennst deinen Onkel. Er zerreißt sein Testament auf der Stelle und jagt dich zum Haus ’naus. Nun sag‘ mal, wie steht’s: Hast du dem Mann nicht gesagt, ich würd‘ gewiß hierher kommen, dann wolltest du’s schon so einrichten, daß er mich in ’ne Falle locken und fangen könnt‘?«

Tom sah ein, daß weder Lügen noch Ausreden ihm mehr helfen würden – er saß fest wie im Schraubstock und konnte sich nicht rühren. Sein Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an und er sagte mit verbissenem Ingrimm:

»Was hätte ich denn anders thun können? Du siehst ja selbst, daß ich in seiner Gewalt war und mir kein Ausweg blieb.«

Roxy durchbohrte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Was du thun konntest? – An deiner eigenen Mutter konntest du zum Judas werden, um deine erbärmliche Haut zu retten! Sollte man’s für möglich halten! Kein Hund wär’s im stande. Du bist das niederträchtigste, elendeste Geschöpf, was die Sonne bescheint. Und ich hab‘ dich geboren! –« dabei spie sie ihn an.

Tom machte keinen Versuch sich aufzulehnen. Nach kurzer Ueberlegung fuhr Roxy fort:

»Jetzt werd‘ ich dir sagen, was du thun sollst: Du giebst dem Mann das Geld, das du in Verwahrung hast, und bittest ihn, auf den Rest zu warten, bis du ihn vom Richter Driscoll holen kannst, um mich loszukaufen.«

»Schockschwerenot! Wo denkst du hin? Von meinem Onkel soll ich dreihundert und etliche Dollars fordern? Was könnte ich ihm denn sagen, wozu ich sie brauche, he?«

Roxys Antwort kam in klaren, bestimmten Worten:

»Du sagst ihm, daß du mich verkauft hast, um deine Spielschulden zu zahlen, daß du ein Schurke bist, der mich belogen hat, und ich dich zwinge, das Geld zu schaffen, um mich wieder frei zu machen.«

»Bist du denn ganz von Sinnen? – Er würde ja sein Testament in tausend Fetzen reißen das mußt du doch wissen.«

»Ja, ich weiß es.«

»Und du glaubst, daß ich dumm genug sein werde, zu ihm zu gehen?«

»Von glauben ist nicht mehr die Rede – ich weiß, du wirst’s thun. Ich weiß es – weil kein Zweifel ist, daß, wenn du das Geld nicht beibringst, ich selbst zu ihm gehe. Dann wird er dich flußabwärts verkaufen, und du kannst sehen, wie dir’s behagt.«

Zitternd vor Erregung stand Tom auf und schritt nach der Thür; sein Auge hatte einen bösen Blick. Er sagte, er müsse einen Moment ins Freie gehen, in der Stickluft des Zimmers könne er es nicht mehr aushalten. Draußen werde es ihm klarer im Kopf werden, da wolle er überlegen, was zu thun sei. Roxy lächelte ingrimmig über seinen vergeblichen Versuch, die Thür zu öffnen.

»Ich hab‘ den Schlüssel, Söhnchen – setz‘ dich nur wieder,« sagte sie. Du brauchst gar nicht erst zu überlegen, was du thun willst – ich weiß schon, was du thust.«

In hilfloser Verzweiflung saß Tom da und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Nach einer Weile fragte Roxy: »Ist der Mensch hier im Haus?«

Tom sah sie erstaunt an: »Hier! Wie kommst du darauf?«

»Durch dich. Frische Luft schöpfen – ja wohl! Die Bosheit steht dir im Gesicht geschrieben. Du bist der erbärmlichste Hund, den je – aber das hab‘ ich dir schon mal gesagt. – Also, heut ist Freitag. Du verabredest mit dem Mann, daß du fortgehen willst, das Geld zu holen und Dienstag oder Mittwoch damit zurückkommst. Verstehst du mich?«

»Ja,« antwortete Tom mit finsterer Miene.

»Und wenn du den neuen Kaufbrief hast, in dem steht, daß ich wieder frei bin, schickst du ihn gleich an Herrn Querkopf Wilson, und schreibst auf den Umschlag, er soll ihn behalten, bis ich komm‘. Hörst du?« »Ja.«

»Das ist also abgemacht. Jetzt setz‘ deinen Hut auf und nimm den Regenschirm.«

»Wozu?«

»Weil du mich bis zur Werft begleiten sollst. Siehst du dies Messer? Ich trag’s bei mir seit dem Tag, als ich den Mann sah; zugleich mit den Kleidern hab‘ ich’s mir gekauft. Wenn er mich fangen würde, wollt‘ ich mich damit umbringen. Nun geh‘ voran, aber vorsichtig; und wenn du hier im Haus ein Zeichen giebst, oder jemand dich auf der Straße anredet, stoß‘ ich dich mit dem Messer nieder. Glaubst du mir, Schamber, daß ich thu‘, was ich sag‘?«

»Laß doch die langweilige Frage. Ich weiß, daß dein Wort gilt!«

»Ja, ganz anders wie deins. Nun mach‘ das Licht aus und komm – hier ist der Schlüssel.«

Kein Mensch folgte ihnen. Tom erbebte jedesmal, wenn ein verspäteter Wanderer an ihnen vorüberstreifte und glaubte schon den kalten Stahl im Rücken zu fühlen. Roxy blieb ihm dicht auf den Fersen, um ihn nicht aus ihrem Bereich zu lassen. So gingen sie über eine Meile weiter, bis in eine ganz öde Gegend der menschenleeren Werft; da trennten sie sich bei strömendem Regen in der Dunkelheit.

Während des Heimwegs stürmten hundert schwere Gedanken und wilde Pläne auf Tom ein, zuletzt kam er jedoch zu dem trübseligen Schluß: »Es giebt nur den einen Ausweg – ich muß ihr den Willen thun. Aber etwas anders werde ich die Sache doch anfangen. Ich will nicht um das Geld bitten und mich zu Grunde richten – ich will es dem alten Geizhals stehlen.«

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Mit der kleinen Summe Geldes, die Wilson bei seiner Ankunft besaß, kaufte er eins der letzten Häuschen am äußersten Westende der Stadt. Von dem Driscollschen Wohnhaus trennte ihn nur ein großer, mit Gras bewachsener Hof, den ein Lattenzaun in zwei Hälften teilte. Sein Geschäftsbureau mietete er unten in der Stadt und hing ein Blechschild heraus, auf dem zu lesen stand:

David Wilson,
Rechtsanwalt und Notar.
Ausfertigung von gerichtlichen Urkunden, Kostenanschlägen
u. s. w.

Aber jene erste unglückselige Bemerkung hinderte sein Fortkommen als Advokat gänzlich. Es stellten sich keine Klienten ein. So nahm er denn das Schild nach einer Weile wieder herunter und hing es mit veränderter Inschrift an seinem eigenen Hause auf. Er bot jetzt dem Publikum seine bescheidenen Dienste als Landmesser, Buchhalter und Rechnungsführer an. Gelegentlich bekam er auch Arbeit: ein Feld zu vermessen oder die Bücher eines Kaufmanns in Ordnung zu bringen. Mit echt schottischer Geduld und Ausdauer nahm er sich vor, seinem ungünstigen Ruf zum Trotze es doch noch einmal zu einer Anwaltspraxis zu bringen. Der arme Mensch konnte freilich nicht voraussehen, welche jahrelange Mühsal ihn das kosten würde.

Er hatte natürlich großen Ueberfluß an müßiger Zeit, aber das lastete nicht schwer auf ihm; denn für jede neue Erfindung auf geistigem Gebiet interessierte er sich eifrig und stellte sofort die darauf bezüglichen Versuche bei sich daheim an. Zu seinen besonderen Liebhabereien gehörte es, die Linien der menschlichen Hand zu entziffern. Er hatte auch noch ein anderes Steckenpferd, das er anscheinend nur zur Unterhaltung betrieb, denn den eigentlichen Zweck desselben wollte er niemand erklären, auch gab er ihm keinen Namen. Seine Liebhabereien – das hatte er bald herausgefunden – trugen nur noch mehr dazu bei, ihn in den Ruf eines Querkopfs zu bringen, und so hütete er sich wohl, zu viel davon laut werden zu lassen. Das Steckenpferd ohne Namen war eine Sammlung von Abdrücken der Fingerspitzen verschiedener Leute. In seiner Rocktasche führte Wilson immer einen flachen Kasten bei sich, welcher innen Falze hatte, in denen fünf Zoll breite Glasplättchen steckten. Auf jedem der Gläser war unten ein Stück weißes Papier aufgeklebt. Nun bat er irgend jemand, sich mit der Hand durchs Haar zu fahren, (wodurch sich etwas von dessen natürlicher Fettigkeit den Fingern mitteilte) und zuerst den Daumen, dann jede einzelne Fingerspitze der Reihe nach auf einem Glasplättchen abzudrücken. Auf dem Zettel unter den fünf schwachen Fettflecken, die so entstanden, verzeichnete er genau Namen, Jahr und Datum, z. B.: John Smith, rechte Hand – nahm dann den Abdruck von Smiths linker Hand auf einer andern Glasplatte und notierte auch dies pünktlich auf dem weißen Zettel. Beide Gläser kamen nun wieder in den Kasten und wurden Wilsons Sammlung einverleibt. Er nannte sie seine ›Protokolle‹ und war oft stundenlang, ja bis tief in die Nacht hinein beschäftigt, sie mit der größten Genauigkeit zu prüfen und zu untersuchen. Ob er aber irgend etwas darin entdeckte, und was das möglicherweise sein konnte, verriet er niemand. Manchmal zeichnete er auch eins der so gewonnenen, zarten, verschlungenen Muster des obersten Fingergliedes auf Papier und machte dann eine riesige Vergrößerung davon mit Hilfe des Storchschnabels, so daß er das Gewebe der geschweiften Linien ganz ohne Mühe nach Belieben betrachten konnte. An einem drückend heißen Nachmittag – es war der erste Juli 1830 – saß er in seinem Studierzimmer, das, nach Westen gelegen, auf eine Anzahl leerer Baustellen hinausging. Neben ihm lag ein Stoß Rechnungsbücher, die er in Ordnung bringen sollte. Ein Gespräch, das draußen geführt wurde, störte ihn bei der Arbeit. Die beiden Personen mußten nicht dicht beisammen sein, denn sie schrieen einander laut zu.

»Sag‘ mal, Roxy, was macht dein Kleiner, gedeiht er gut?« tönte es von fern her.

»Das will ich meinen, und du, Jasper, bist du auch auf dem Strumpf?« schrie es in nächster Nähe.

»Na, es macht sich, kann nicht klagen. Bald komm ich zu dir, Roxy, ich will dich freien.«

»Untersteh‘ dich, du abscheulicher Schmutzfink! Hahaha! Das fehlte mir noch, mich mit so ’nem schwarzen Nigger abzugeben wie du einer bist. Der alten Tante Cooper ihre Nancy hat dir wohl den Laufpaß gegeben?« Roxys sorgloses Gelächter schallte wieder hell durch die Luft.

»Bist eifersüchtig, Roxy! Wahrhaftig ja – hahaha! Hab’s erraten, du Dirne!«

»Oho, was du dir nicht einbild’st! – Gieb nur acht, daß dein Dünkel nicht nach innen schlägt, sonst bringt er dich noch um. Wenn du mir gehören thätest, verkaufte ich dich lieber heut wie morgen flußabwärts – du treibst’s zu bunt. Wart‘ nur, ich sag‘ deinem Herrn, er soll’s thun, sobald ich ihn seh‘.«

So ging dies leere müßige Geschwätz noch endlos fort, denn die beiden fanden ihr Wortgefecht sehr unterhaltend und witzig und waren stolz auf die schlagfertigen Antworten, die sie gaben.

Wilson trat ans Fenster, um das Paar näher zu betrachten. Bis das Geplapper aufgehört hatte, konnte er doch nicht arbeiten.

Drüben auf dem Bauplatz in der glühenden Sonne saß Jasper, ein junger kohlschwarzer Neger von prächtigem Wuchs, auf einem Schiebkarren. Statt seinem Geschäft nachzugehen, ruhte er erst ein Stündchen aus, um zum Beginn der Arbeit Kräfte zu sammeln. Vor Wilsons Veranda aber stand Roxy neben dem nach Landessitte geflochtenen Kinderwagen, worin ihre beiden Pflegebefohlenen, jeder an einem Ende, einander gegenüber saßen. Nach Roxys Redeweise zu urteilen, hätte man sie für eine Schwarze halten sollen, aber da irrte man sich gewaltig. Was etwa farbig an ihr war – höchstens der sechzehnte Teil – das sah man nicht. Ihre hohe Gestalt, ihre stolze Miene und Haltung machten einen majestätischen Eindruck; in jeder Bewegung, jeder Gebärde prägte sich edle Anmut und Würde aus. Sie war sehr weiß und zart, die Wangen rosig angehaucht von Kraft und Gesundheit, auch hatte sie ein wohlgeformtes, kluges, anziehendes Gesicht, charakterfeste ausdrucksvolle Züge, braune, feuchtschimmernde Augen und schönes braunes Haar, dessen üppige Fülle sie jedoch unter einem buntkarierten Tuch verbarg, das sie turbanartig um den Kopf gebunden trug. Ihr Benehmen unter ihresgleichen war frei und ungezwungen, doch dabei etwas herrisch und von oben herab; aber natürlich war sie in Gegenwart weißer Leute die Demut und Fügsamkeit selbst.

Dem Ansehen nach war Roxy wirklich so weiß, wie man nur irgend sein konnte, aber ihr eines farbiges Sechzehntel schlug alle anderen fünfzehn Sechzehntel aus dem Felde und machte sie zur Negerin, zur verkäuflichen Sklavin. An ihrem Kinde war sogar nur ein Zweiunddreißigstel farbig, aber es galt dennoch nach Gesetz und Sitte für einen Neger und Sklaven. Es harte blaue Augen und blonde Locken, wie sein kleiner weißer Altersgenosse; aber selbst der Vater des weißen Knaben, der sich nur wenig um die Kinder bekümmerte, konnte sie an der Kleidung unterscheiden: der kleine Weiße trug ein feines, reich mit Falbeln besetztes Musselinkleidchen und ein Korallenhalsband, während der andere keinerlei Schmuck besaß und nur ein grobes leinenes Hemd anhatte, das ihm kaum bis zu den Knieen reichte. Der weiße Knabe hieß Thomas à Becket Driscoll, der andere Valet de Chambre, ohne Vatersnamen – den durfte kein Sklave führen. Roxana hatte die Benennung irgendwo aufgeschnappt; der Klang gefiel ihr, und da sie glaubte, es sei ein Rufname, beglückte sie ihren Liebling damit. Natürlich wurde er bald in ›Schamber‹ abgekürzt.

Wilson hatte Roxy schon öfters gesehen, und als sich das Wortgeplänkel zu Ende neigte, trat er vors Haus, um ein paar Abdrücke zu sammeln. Sobald Jasper ihn gewahrte, gab er seinen Müßiggang auf und ging eifrig an die Arbeit, während Wilson die Kinder in Augenschein nahm.

»Wie alt sind sie, Roxy?« fragte er.

»Beide gleich alt, – gerade fünf Monat. Am ersten Februar geboren.«

»Ein paar nette Kerlchen. Einer so hübsch wie der andere.«

Roxy lachte vor Vergnügen übers ganze Gesicht und zeigte ihre weißen Zähne. »Schönen Dank, Massa Wilson, wie gut von Ihnen, das zu sagen, denn einer ist ja bloß ein Neger, wissen Sie. Der niedlichste kleine Neger von der Welt, sag‘ ich immer, aber natürlich nur, weil es meiner ist.«

»Wie unterscheidest du sie denn, Roxy, wenn sie keine Kleider anhaben?«

Sie brach in ein ungeheures Gelächter aus.

»O, ich kenne sie schon von einander; aber Massa Percy – da wett‘ ich drauf – der könnte sie nicht unterscheiden – um keinen Preis, nein, nein.«

Wilson plauderte noch ein Weilchen fort, dann nahm er einen Abdruck von Roxys Fingerspitzen für seine Sammlung – rechte Hand und linke Hand – auf zwei Glasplättchen, schrieb Namen und Datum auf den Zettel und machte es mit den Händchen der Kleinen ebenso.

Zwei Monate später, am dritten September, ließ er sich die Abdrücke des Dreiblatts noch einmal geben. Bei Kindern pflegte er in kürzeren Pausen die Aufnahmen vorzunehmen, bei älteren Leuten in Pausen von einigen Jahren.

Tags darauf – das heißt am vierten September – fand ein Ereignis statt, das einen tiefen Eindruck auf Roxana machte. Herr Driscoll vermißte abermals eine kleine Summe Geldes – womit angedeutet werden soll, daß das nichts Neues war, sondern sich schon mehrmals wiederholt hatte; es geschah bereits zum vierten Mal.

Driscoll verlor endlich die Geduld. Er war kein hartherziger Mann; Sklaven und andere Tiere behandelte er stets mit Milde, gegen irrende Brüder von seiner eigenen Rasse zeigte er sogar große Nachsicht. Aber Unredlichkeit verabscheute er, und offenbar war ein Dieb im Hause. Es konnte nur einer seiner Neger sein. Da galt es scharfe Maßregeln zu ergreifen. Er rief die Dienerschaft zusammen, welche außer Roxy noch aus drei Personen, einem Mann, einer Frau und einem zwölfjährigen Knaben bestand; verwandtschaftliche Beziehung hatten sie nicht zu einander.

»Ich habe euch alle schon mehrmals gewarnt, aber es ist umsonst gewesen. Diesmal will ich Ernst machen. Der Dieb wird verkauft. Wer von euch ist der Schuldige?«

Es schauderte ihnen bei dieser Drohung; hier waren sie gut aufgehoben, jeder Wechsel brachte höchst wahrscheinlich eine Verschlechterung. Alle leugneten standhaft. Niemand hatte etwas gestohlen – wenigstens kein Geld – vielleicht ein Stückchen Zucker oder Kuchen, einen Löffel Honig oder dergleichen, worauf es Massa Percy nicht weiter ankam – aber kein Geld – auch nicht einen Cent. Sie beteuerten es mit großer Zungengeläufigkeit, allein Herr Driscoll ließ sich nicht rühren. »Nenne den Dieb!« war alles, was er jedem mit strenger Stimme erwiderte.

Thatsächlich waren alle schuldig, außer Roxana, die zwar argwöhnte, daß die andern den Diebstahl begangen hatten, es aber nicht gewiß wußte. Ihr graute, wenn sie bedachte, wie nahe daran sie selbst gewesen war, das Geld zu nehmen; nur der Bußtag in der Methodistenkirche der Farbigen vor vierzehn Tagen hatte sie noch im letzten Augenblick davor behütet. Gerade am Tage nach diesem Gottesdienst, während sie noch ihrer Sündenvergebung eingedenk und stolz auf ihre Seelenreinheit war, hatte ihr Herr ein paar Dollars offen auf seinem Pult herumliegen lassen, und als sie mit dem Staubtuch dorthin kam, geriet sie in schwere Versuchung. Eine Weile sah sie das Geld mit steigendem Groll von der Seite an.

»O, der dumme Bußtag,« rief sie dann, »hätte man ihn doch bis morgen verschoben!«

Um dem Versucher nicht zu erliegen, deckte sie ein Buch darüber und der Mammon fiel einem der anderen Sklaven zu. Sie brachte dies Opfer, weil sie noch zu sehr unter dem Eindruck der religiösen Handlung stand. Als Beispiel für spätere Fälle sollte es durchaus nicht gelten; in ein bis zwei Wochen war sie wieder weltklug und nahm es weniger streng mit der Frömmigkeit, und wenn das nächste Mal ein paar Dollars so verlassen dalagen, würde sie sich gern ihrer erbarmen.

War sie denn schlecht von Natur oder überhaupt schlimmer als ihre Rasse im allgemeinen? Keineswegs. Die Farbigen befanden sich im Kampf ums Dasein in großem Nachteil gegenüber den weißen Brüdern und hielten es daher nicht für Sünde, ihre Bedrücker gelegentlich etwas auszuplündern – versteht sich nur in kleinem Maßstab; sie stahlen gewöhnlich nur unbedeutende Dinge. Eßwaren entwendeten sie aus der Speisekammer, so oft sie nur konnten, einen messingnen Fingerhut, eine Scheibe Wachs, einen Sack voll Schmirgel, ein Papier mit Nähnadeln, einen silbernen Löffel, einen Dollarschein, Bänder, allerlei Putz oder andere ziemlich wertlose Gegenstände, hielten sie für gute Beute. Sie fanden durchaus kein Unrecht darin, sich dergleichen anzueignen und gingen ohne die geringsten Gewissensbisse mit dem geraubten Gut in der Tasche zur Kirche, um dort voll aufrichtiger Frömmigkeit so laut zu singen und zu beten, wie sie nur konnten. Jede Räucherkammer auf dem Lande mußte fest verschlossen und verriegelt sein, denn selbst der farbige Diakonus verschmähte es nicht, einen Schinken mitzunehmen, wenn die Vorsehung ihm im Traume oder auf andere Weise kundthat, wo ein solcher leckerer Gegenstand einsam am Nagel hing und nach einem Freunde schmachtete. Hätten aber auch hundert Schinken dagehangen, der Diakonus würde nur einen genommen haben – das heißt, nicht zwei auf einmal. In kalten Nächten pflegte ein mitleidiger schwarzer Gauner den Hennen, die auf einem Baum Nachtruhe hielten, ein gewärmtes Brett unter die erstarrten Klauen zu schieben. Schläfrig setzte sich dann ein Huhn mit dankbarem Glucksen auf das behagliche Plätzchen, der Gauner aber steckte den Vogel unbekümmert in seinen Sack und verzehrte ihn später mit Vergnügen. Er war fest überzeugt, daß er dem weißen Manne, der ihm täglich ein unschätzbares Gut – seine Freiheit – raubte, ruhig diese Kleinigkeit entwenden dürfe, ohne damit eine Sünde zu begehen, die Gott ihm am Tage des Gerichts zurechnen werde.

»Nenne den Dieb!«

Driscoll hatte es schon zum vierten Mal mit rauher Stimme gerufen. Jetzt fügte er eine schreckliche Drohung hinzu:

»Ich gebe euch noch eine Minute Zeit« – er zog seine Uhr heraus. »Wenn ihr nach Ablauf derselben nicht gesteht, verkaufe ich euch alle vier – aber nicht hier am Ort, sondern nach Süden – flußabwärts

Das hieß so viel als zur Hölle verdammt werden, kein Missouri-Neger zweifelte daran. Roxy konnte sich kaum aufrecht halten, sie wurde leichenblaß; die andern fielen auf die Kniee wie vom Blitz getroffen, Thränen stürzten aus ihren Augen, sie hoben flehend die Hände empor, und alle drei riefen wie aus einem Munde:

»Ich hab’s gethan!«

»Ich hab’s gethan!«

»Ich hab’s gethan!« – »Gnade, Massa, Gnade! – Herrgott erbarme dich über uns arme Neger!«

Driscoll steckte seine Uhr ein. »Nun gut,« sagte er, »ich will euch hier verkaufen, obwohl ihr es nicht verdient. Von Rechts wegen sollte ich euch den Fluß hinunter schicken.«

Die Schuldigen warfen sich in überschwenglichem Dankgefühl vor ihm auf den Boden, küßten ihm die Füße und versicherten, sie würden seine Güte nun und nimmermehr vergessen und ihr Leben lang für ihn beten. Sie meinten das ganz aufrichtig, denn, hatte er nicht wie ein Gott seine mächtige Hand ausgereckt und die Pforten der Hölle vor ihnen verschlossen? – Er selbst wußte, daß er eine edle, hochherzige That vollbracht hatte und war innerlich stolz auf seine Großmut. Am Abend schrieb er den Vorfall in sein Tagebuch, damit sein Sohn ihn in späteren Jahren lesen könnte und durch sein Beispiel angetrieben würde, ebenfalls Güte und Menschlichkeit walten zu lassen.