Achtes Kapitel.

Höchst ungern ging die Gesellschaft endlich auseinander, um sich wieder nach Hause zu begeben. Unterwegs waren alle Zungen geschäftig und man kam allgemein zu dem Schluß, daß so etwas in Dawson noch nicht dagewesen sei und sobald nicht wiederkehren werde. Im Laufe des Vormittags hatten die Zwillinge verschiedene Einladungen angenommen, auch bereitwillig zugesagt, daß sie bei einer geselligen Vereinigung zu wohlthätigen Zwecken einige Musikstücke vortragen wollten.

Von allen Seiten war man eifrig bemüht, sie mit offenen Armen zu empfangen, dem Richter Driscoll aber war das Glück am günstigsten, denn er durfte sie sogleich zu einer Spazierfahrt mitnehmen, um sie vor aller Welt sehen zu lassen. Sie stiegen zu ihm in seinen Einspänner, und während der Wagen die Hauptstraße hinunterrollte, liefen alle Schaulustigen an die Fenster und drängten sich auf dem Bürgersteig.

Driscoll zeigte den Fremden den neuen Friedhof und das Gefängnis, das Haus, wo der reichste Mann des Ortes wohnte, die Freimaurerloge, die Kapelle der Methodisten, die Kirche der Presbyterianer, und die Stelle, wo die Baptisten ihr Gotteshaus bauen wollten, sobald sie Geld genug beisammen hätten. Am Rathaus und am Schlachthaus fuhren sie vorbei, auch ließ der Richter ihnen zu Ehren die freiwillige Feuerwehr in Uniform aufziehen und ihre Spritzen probieren; die Gewehre der Bürgermiliz mußten die Zwillinge gleichfalls in Augenschein nehmen. Bei allen diesen Schaustellungen erging der Richter sich nach Herzenslust in begeisterten Reden, auch schien er ganz zufrieden mit dem Eindruck, den die Sehenswürdigkeiten auf die Fremdlinge machten, denn diese staunten über seine Bewunderung und stimmten ein, so gut sie konnten. Das wäre ihnen freilich leichter geworden, wenn sie nicht schon in verschiedenen andern Ländern fünfzehn- oder sechzehntausend Mal ganz ähnliche Dinge gesehen und erlebt hätten, so daß diese für sie nicht mehr den Reiz der Neuheit besaßen.

Jedenfalls that Driscoll sein Möglichstes zur Unterhaltung der Brüder, und wenn sie irgend einen Mangel empfanden, so lag die Schuld nicht an ihm. Er erzählte ihnen eine Menge lustiger Anekdoten und vergaß jedesmal den Hauptwitz dabei, doch den konnten sie ohne Mühe ergänzen, weil sie die meist sehr abgedroschenen Späße von Zeit zu Zeit immer wieder aufgetischt bekamen und zur Genüge kannten. Auch teilte er ihnen alle seine Titel und Würden mit und berichtete, was für ehrenvolle und einträgliche Stellen er früher bekleidet habe, als er noch Regierungsbeamter war; jetzt aber sei er Präsident des Klubs der Freidenker. Diese Gesellschaft habe man erst vor vier Jahren gegründet, doch zähle sie bereits zwei Mitglieder und ihr Bestand sei gesichert. Wenn die Zwillinge etwa Lust hätten, einer Versammlung beizuwohnen, würde er sie gegen Abend dazu abholen.

Das that er denn auch, und unterwegs erzählte er ihnen mancherlei über Querkopf Wilson, um sie zu seinen Gunsten zu stimmen, damit sie ihm freundlich entgegenkämen. Er erreichte diese Absicht vollkommen. Gleich der erste Eindruck, den Wilson auf die Brüder machte, war sehr vorteilhaft; noch höher stieg er aber in ihrer Achtung, als er vorschlug, man solle diesmal, aus Höflichkeit gegen die Fremden, die gewöhnlichen Beratungsgegenstände beiseite lassen und sich nur einer allgemeinen Unterhaltung widmen, die geeignet sei, freundschaftliche Beziehungen und ein gutes Einvernehmen unter ihnen zu fördern. Dieser Antrag wurde, nach erfolgter Abstimmung, zum Beschluß erhoben.

Die Stunde verging rasch unter lebhaftem Gespräch, und als die Zeit um war, hatte der bisher so vereinsamte und zurückgesetzte Wilson zwei gute Freunde gewonnen. Er bat die Zwillinge, ihn zu besuchen, sobald sie von der Gesellschaft loskommen könnten, zu der sie eingeladen waren, und sie versprachen es ihm mit Vergnügen.

Es war noch nicht spät am Abend, als sie sich nach seiner Wohnung auf den Weg machten. Wilson erwartete sie daheim und benützte die Zwischenzeit, um sich den Kopf über eine Angelegenheit zu zerbrechen, die an jenem Morgen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Sache verhielt sich folgendermaßen: Er war ungewöhnlich früh aufgestanden – schon bei Tagesanbruch – um etwas aus einer Stube jenseits des Ganges zu holen, der sein Haus in zwei Hälften teilte. Jene Stube war lange unbewohnt gewesen, sie hatte keine Vorhänge, und dort erblickte er durch das Fenster etwas, das ihm sehr auffällig war – nämlich eine junge Dame, welche sich an einem Orte befand, wo sie gar nicht hingehörte. Sie war im Hause des Richters Driscoll in dem Raume, der über dessen Wohn- und Studierzimmer lag, und wo, soviel Wilson wußte, Tom Driscoll seine Schlafstube hatte. Tom, der Richter, die verwitwete Frau Pratt und drei Dienstleute bildeten allein die Bewohner des Hauses. Was hatte also das Fräulein dort zu suchen, und wer konnte es sein?

Die beiden Gebäude waren nur durch den Hof von einander getrennt, den ein niedriger Zaun seiner ganzen Länge nach, von der vorderen Straße bis zu dem Hintergäßchen durchschnitt. Die Entfernung war nicht groß, und Wilson konnte das Mädchen deutlich sehen, weil in Toms Zimmer sowohl der Laden als das Fenster offen standen. Die Unbekannte trug ein sauberes, rosa und weiß gestreiftes Sommerkleid und einen rosa Schleier auf dem Hut; sie war eifrig beschäftigt, sich vor dem Spiegel allerlei Tanzschritte, Gangarten und Stellungen einzuüben. Das that sie mit ziemlicher Anmut und widmete der Sache ihre ganze Aufmerksamkeit. Wer konnte sie nur sein, und wie kam sie dort drüben ins Schlafzimmer? – Wilson hatte sich rasch so gestellt, daß er das Fräulein beobachten konnte, ohne Gefahr zu laufen, von ihr gesehen zu werden; er wartete lange in der Hoffnung, daß sie den Schleier lüften und ihm ihr Gesicht zeigen werde. Aber das war umsonst; nach etwa zwanzig Minuten verschwand sie plötzlich und kam nicht mehr zum Vorschein, obwohl er während einer halben Stunde seinen Platz behauptete.

Um die Mittagszeit sprach er im Hause des Richters vor und unterhielt sich mit Frau Pratt über das große Tagesereignis: die feierliche Vorstellung der beiden vornehmen Fremden bei Tante Patsy Cooper. Er erkundigte sich auch nach ihrem Neffen Tom, worauf sie sagte, er sei auf der Heimreise, sie erwarte ihn noch vor der Nacht zurück. Zugleich teilte sie ihm mit, wie sehr sie und der Richter sich gefreut hätten, aus Toms Briefen zu sehen, daß er sich eines höchst geordneten, anständigen Lebenswandels befleißige. Darüber hatte nun Wilson freilich im stillen seine eigenen Gedanken. Er mochte nicht geradezu fragen, ob bei ihnen Besuch im Hause wäre, aber er brauchte allerlei Wendungen, welche Frau Pratt Gelegenheit gegeben hätten, ihm ein Licht aufzustecken. Sie that das jedoch nicht, und so nahm er denn die Ueberzeugung mit fort, daß in ihrer Familie Dinge vor sich gingen, die er wisse, und von denen sie keine Ahnung habe.

Jetzt wartete er auf die Zwillinge und grübelte über das Rätsel nach, wer das Frauenzimmer sein könne und wie es am frühen Morgen in die Stube des jungen Driscoll geraten sei?