FĂĽnftes Kapitel.

FĂĽnftes Kapitel.

Nach und nach bekam ich auch das Silberfieber. Mutungsgesellschaften brachen Tag für Tag nach den Bergen auf, wo sie reiche, silberführende Adern und Quarzlager entdeckten und in Besitz nahmen. Das war ja ganz offenbar der Weg zum Glück. In der großen Grube ›Gould and Curry‹ galt zur Zeit unseres Eintreffens der Quadratfuß drei- oder vierhundert Dollars; zwei Monate darauf war er auf achthundert Dollars gestiegen; die ›Ophir-Grube‹ war das Jahr zuvor kaum eine Kleinigkeit wert gewesen, und jetzt wurde dort der Fuß mit nahezu viertausend Dollars bezahlt. Es ließ sich keine Grube nennen, die nicht in kurzer Zeit erstaunlich im Wert gestiegen wäre. Alle Welt sprach von diesen Wunderdingen. Man mochte kommen wohin man wollte, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein hörte man nichts anderes. Tom so und so hatte von der ›Amanda Smith‹ ein Stück für 40,000 Dollars verkauft – und hatte nicht einen Cent besessen, als er vor sechs Monaten die Schicht in Angriff nahm. John Jones hatte die Hälfte seines Anteils an der Grube ›Bald Eagle und Mary Ann‹ für 65,000 Dollars verkauft und war nun nach den Staaten gereist, um seine Familie zu holen. Die Witwe Brewster war in der Grube ›Golden Fleece‹ auf reichhaltiges Erz gestoßen und hatte zehn Fuß für 18,000 Dollars verkauft – und doch war sie im letzten Frühjahr, als Sing-Sing-Tommy ihren Mann umbrachte, nicht einmal imstande gewesen, sich einen Krepphut anzuschaffen. Die Besitzer der Grube ›Last Chance‹ hatten eine ›Lehmscheide‹ gefunden und wußten, daß sie einer Silberschicht auf der Spur waren, so daß ein Fuß davon, der gestern noch ein Spottgeld wert war, heute den Wert eines Backsteinhauses hatte. Schäbige Anteilbesitzer, denen man gestern im ganzen Lande nirgends einen Schnaps geborgt hätte, brüllten heute im Champagnerrausch und sahen sich von Schwärmen warmer Freunde umgeben in einer Stadt, wo sie aus jahrelangem Mangel an Übung nicht mehr gewußt hatten, wie man es macht, jemand zu grüßen oder ihm die Hand zu schütteln. Johnny Morgan, ein gemeiner Landstreicher, war eines Morgens in der Gosse mit 100,000 Dollars Vermögen aufgewacht, und zwar infolge der Entscheidung eines Prozesses über die Grube ›Lady Franklin and Rough and Ready.‹ Dergleichen Nachrichten tönten uns Tag aus Tag ein immer lauter in den Ohren, und immer höher loderte die Aufregung rings um uns empor.

Ich hätte gar kein Mensch sein müssen, um nicht auch toll zu werden wie die andern. Tag für Tag kamen ganze Karrenladungen von gediegenen Silberbarren, so groß wie Bleiklumpen, aus den Pochwerken herein, ein Anblick, der bewies, daß das tolle Gerede um mich her nicht aus der Luft gegriffen war. Ich glaubte daran und wurde einer der allertollsten.

Alle paar Tage traf die Kunde von der Entdeckung einer nagelneuen Bergwerksregion ein. Sofort wimmelte es in den Zeitungen von Berichten über ihren Reichtum, und die ganze überschüssige Bevölkerung stürzte fort, um davon Besitz zu nehmen. Die Krankheit steckte mir jetzt gehörig in den Knochen; eben noch hatte der Zulauf der Grube ›Emeralda‹ gegolten, und nun fing ›Humboldt‹ an, mit lautem Geschrei die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Humboldt, Humboldt! so hieß jetzt das Losungswort, und unverzüglich füllte ›Humboldt‹, die neueste von den neuen, die reichste von den reichen, die wunderbarste von den wunderbaren Entdeckungen im Silbergebiet, zwei Spalten in den Tagesblättern, während ›Esmeralda‹ sich mit einer begnügen mußte. Ich war eben im Begriffe gewesen, nach der ›Esmeralda‹ aufzubrechen, ließ mich aber von der Strömung ablenken und machte mich nun nach dem ›Humboldt‹ fertig.

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Jetzt hieß es flink sein! Wir verloren denn auch keine Zeit. Unsere Gesellschaft bestand aus vier Personen: einem sechzigjährigen Grobschmied, zwei jungen Advokaten und meiner Wenigkeit. Nachdem wir einen Wagen und zwei elende, alte Gäule gekauft, luden wir achtzehnhundert Pfund Lebensmittel, sowie unsere Bergmannsgeräte auf und fuhren an einem kalten Dezembernachmittage von Carson City ab. Die Pferde waren so alt und schwach, daß wir bald herausgefunden hatten, es würde wohl besser sein, wenn einer oder zwei von uns ausstiegen und den Weg zu Fuß fortsetzten. Es ging auch besser. Bald aber fanden wir, daß es noch besser sein werde, wenn auch ein dritter ausstiege. So war es denn auch. Ich hatte freiwillig das Amt des Fuhrmannes übernommen, obwohl ich vorher noch nie mit einem angeschirrten Pferde gefahren war und mancher in solcher Lage sich gerne hierauf berufen hätte, um eine derartige Verantwortlichkeit abzulehnen. Allein nach einer kurzen Weile ergab es sich, daß es wohl ratsam wäre, wenn auch der Fuhrmann ausstiege und zu Fuß ginge. Damit verzichtete ich auf diese Stellung, zu der ich nie wieder gelangen sollte. Noch vor Ablauf einer Stunde fanden wir, daß es nicht nur besser, sondern unbedingt notwendig war, immer abwechselnd zu zweien den Wagen von hinten durch den Sand zu schieben, so daß die schwachen Pferde kaum noch etwas zu thun hatten, als die Zunge nicht heraushängen zu lassen und nicht zwischen die Räder zu kommen. Es hat vielleicht sein Gutes, wenn man von Anfang an weiß, was einem bevorsteht und sich mit seinem Schicksal versöhnen kann. Wir hatten das unsrige an einem einzigen Nachmittag kennen gelernt. Es war klar, daß wir zweihundert Meilen weit durch den Sand waten würden und den Wagen samt den Pferden vorwärts schieben müßten. So fügten wir uns denn in die Umstände, und mit dem Fahren war es aus.

Nach einem Weg von sieben Meilen lagerten wir uns in der Wüste. Der junge Clagett, jetzt Mitglied des Kongresses für Montana, schirrte die Pferde aus, fütterte und tränkte sie; Oliphant und ich schnitten Salbeiholz, machten Feuer und holten Wasser zum Kochen, und der alte Herr Ballou besorgte das Kochen selbst. Diese Teilung der Arbeit und diese Bestimmung der Dienstleistungen für jeden einzelnen hielten wir während der ganzen Reise fest. Da wir kein Zelt hatten, schliefen wir in der freien Ebene unter unseren Decken. Die Ermüdung verschaffte uns festen Schlaf.

Wir brauchten zu der Reise von zweihundert Meilen fünfzehn Tage, oder vielmehr eigentlich nur dreizehn, denn einmal hielten wir irgendwo zwei Tage an, um die Pferde ausruhen zu lassen. Hätten wir diese hinten am Wagen angebunden, so würden wir sicherlich den Weg in zehn Tagen zurückgelegt haben; allein wir dachten daran erst, als es zu spät war, und schoben den Wagen samt den Pferden immer weiter, während wir uns die halbe Mühe hätten ersparen können. Leute, die uns begegneten, rieten uns, gelegentlich die Pferde in den Wagen zu setzen, allein Herr Ballou, durch dessen eisengepanzerten Ernst kein spitzes Wort durchdrang, meinte, das würde nicht gehen, die Lebensmittel würden in Gefahr kommen, weil die Pferde von langer Entbehrung ›bituminös‹ geworden seien. Der Leser wird mich entschuldigen, wenn ich dies nicht übersetze. Was Herr Ballou meinte, wenn er ein langes Wort gebrauchte, blieb allemal ein Geheimnis zwischen ihm und seinem Schöpfer. Er war einer der besten, gutmütigsten Menschen, die je eine niedere Lebenssphäre zierten – die Sanftmut und Einfalt selbst, und die Uneigennützigkeit ebenfalls. Obwohl mehr als zweimal so alt als der älteste von uns andern, that er doch deshalb niemals wichtig und verlangte niemals ein Vorrecht oder eine Ausnahmestellung. Er verrichtete dieselbe Arbeit wie ein junger Mann und leistete seinen Teil an der Unterhaltung von dem allgemeinen Standpunkte jeden Alters aus, nicht von der anmaßenden, Ehrfurcht heischenden Gipfelhöhe von sechzig Jahren. Die einzige auffallende Eigentümlichkeit an ihm war seine Vorliebe für lange Wörter, die er um ihrer selbst willen liebte und gebrauchte, ganz unbekümmert um ihre Beziehung zu dem Gedanken, den er auszudrücken beabsichtigte. Stets ließ er seine gewichtigen Silben mit behaglicher Unkenntnis ihrer Bedeutung fallen, so daß dieselben niemals etwas Anstößiges haben konnten. Dabei war sein Benehmen so natürlich und einfach, daß man immer wieder in Versuchung geriet, in seinen großartigen Phrasen einen Inhalt zu suchen, während sie wirklich ganz und gar nichts bedeuteten. War ein Wort recht lang, großartig und vollklingend, so reichte dies hin, ihm die Liebe des alten Mannes zu gewinnen; er ließ es dann in seinen Reden irgendwo an der möglichst unpassendsten Stelle einfließen und freute sich daran, als hätte er die tiefsinnigste Wahrheit ausgesprochen.

Wir breiteten immer alle vier unsern ganzen Vorrat an Decken zusammen auf dem gefrorenen Boden aus und legten uns Seite an Seite schlafen. Da Oliphant einsah, daß unser dummer, hochbeiniger Hund viel tierische Wärme in sich habe, ließ er ihn zwischen sich und Herrn Ballou mit ins Bett kriechen und zog den warmen Rücken des Hundes an seine Brust, was er höchst behaglich fand. Aber während der Nacht fing der Köter an sich zu strecken und sich unter wohlgefälligem Knurren gegen Ballous Rücken zu stemmen und ihn fortzuschieben. Wenn er sich recht warm und gemütlich fühlte, trommelte er wohl auch im Übermaß des Wohlgefühls voll Dankbarkeit und Glück dem Alten mit den Pfoten auf dem Rücken herum; ein andermal, wenn er von der Jagd träumte, zerrte er den alten Mann hinten an den Haaren und bellte ihm ins Ohr. Ballou beklagte sich zuletzt sehr sanftmütig über diese Beweise von Zuthunlichkeit und schloß seinen Vortrag mit der Bemerkung, so ein Hund sei kein Tier, das zu müden Leuten ins Bett passe, denn er sei zu ›meretriciös in seinen Bewegungen‹ und zu ›organisch in seinen Gefühlen.‹ Wir warfen den Hund hinaus.

Es war eine harte, mühselige Reise, die aber trotzdem ihre Lichtseite hatte, denn wenn nach Tagesschluß unser Wolfshunger mit einem warmen Mahl von gebratenem Speck, Brot, Syrup und schwarzem Kaffee gestillt war, fanden wir bei einer Pfeife, ein paar Liedern und Geschichten am abendlichen Lagerfeuer, in der stillen Einsamkeit der Wüste eine frohe, sorgenfreie Erholung, welche uns als der höchste Gipfel irdischer Seligkeit erschien. Eine solche Lebensweise übt auf alle Menschen einen mächtigen Zauber aus, gleichviel, ob sie aus der Stadt oder vom Lande stammen. Wir sind die Abkömmlinge wüstendurchziehender Araber, und endlose Zeiträume stetig fortschreitender Kulturentwicklung waren nicht imstande, den Wandertrieb in uns auszurotten. Niemand von uns wird leugnen, daß ihn bei dem Gedanken an ein Nachtlager draußen im Freien stets ein Wonnegefühl durchbebt. Einmal wanderten wir fünfundzwanzig Meilen an einem Tag und ein andermal in der großen amerikanischen Wüste vierzig Meilen und dann noch einmal zehn, mithin im ganzen fünfzig, innerhalb dreiundzwanzig Stunden, ohne uns Zeit zum Essen, Trinken oder Ausruhen zu gönnen. Wenn man einen Wagen samt zwei Pferden fünfzig Meilen weit geschoben hat, ist es ein solcher Hochgenuß sich auszustrecken und dem Schlafe zu überlassen, wäre es auch auf steinigem und gefrorenem Boden, daß einem die Wonne für den Augenblick nicht zu teuer erkauft scheint.

Wir lagerten zwei Tage in der Nähe des Sees, in welchem sich der Humboldtfluß verliert. Unsere Versuche, das stark alkalische Wasser des Sees zu benutzen, fielen höchst kläglich aus. Es hinterließ einen bitteren, ganz abscheulichen Geschmack im Munde und ein höchst unangenehmes Brennen im Magen; es war, als tränke man starke Lauge. Wir thaten Syrup hinein, aber das machte es nur ganz wenig besser. Wir fügten eine Essiggurke hinzu, aber das Alkali schmeckte vor, und so war es zum Trinken nicht zu brauchen. Kaffee von diesem Wasser war das niederträchtigste Gebräu, das ein Mensch je erfunden hat. Er schmeckte wirklich noch abscheulicher als das unverbesserte Wasser selbst. Herr Ballon, der das Getränk gebraut hatte, fühlte sich verpflichtet, es herauszustreichen und zu verteidigen und trank deshalb in kleinen Schlückchen eine halbe Tasse davon aus, wobei er es fertig brachte, ihm eine zeitlang ein schwaches Lob zu singen; schließlich aber schüttete er den Rest weg und erklärte offen und frei, der Kaffee sei ›zu technisch‹. Bald nachher fanden wir eine Quelle mit brauchbarem, frischem Wasser, worauf wir uns ohne weitere Verdrießlichkeiten und Störungen zur Ruhe legten.

Siebentes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Vom See aus reisten wir eine kurze Strecke den Humboldtfluß entlang. Leute, die an den riesig breiten Mississippi gewöhnt sind, gewöhnen sich auch allmählich daran, mit dem Wort ›Fluß‹ den Begriff großartiger Wasserfälle zu verbinden. Infolgedessen fühlen sich solche Leute recht enttäuscht, wenn sie am Ufer des Carson oder Humboldt stehen und finden, daß ein Fluß in Nevada ein kränkliches Bächlein ist, das in allen Punkten ein Seitenstück zum Eriekanal bildet, ausgenommen, daß der Kanal zweimal so lang und viermal so tief ist. Es ist eine der angenehmsten und gesündesten Leibesübungen, am Humboldtfluß entlang zu laufen, so lange hinüber und herüber zu springen, bis man tüchtig erhitzt ist, und ihn dann trocken zu trinken.

Am fünfzehnten Tage hatten wir den zweihundert Meilen langen Marsch vollendet und hielten bei heftigem Schneesturm unsern Einzug in Unionville. Die Stadt bestand aus elf Hütten und einem Freiheitsbaum. Sechs von den Hütten standen in einer Reihe am Rande einer tiefen Schlucht, und die andern fünf ihnen gerade gegenüber. Auf beiden Seiten der Schlucht stiegen öde Bergwälle so hoch zum Himmel empor, daß das Dörfchen gleichsam tief unten auf dem Grund einer Erdspalte lag. Es war auf der Höhe dieser Berge immer schon lange Tag, bevor unten die Dunkelheit wich und Unionville sichtbar wurde.

Wir bauten uns eine kleine, rohe Hütte in der Erdspalte und deckten dieselbe mit Sackleinwand; eine Ecke ließen wir für den Abzug des Rauches offen, allein des Nachts purzelte gelegentlich das Vieh dort herein, so daß unser Hausgeräte Schaden litt und wir im Schlafe gestört wurden. Es war sehr kalt und Brennholz nur spärlich vorhanden. Indianer schleppten Gestrüpp und Buschholz mehrere Meilen weit auf dem Rücken herbei; konnten wir einen solchen beladenen Indianer fangen, so war es gut; konnten wir keinen fangen – dies war übrigens die Regel, nicht die Ausnahme – so froren wir eben und fügten uns darein.

Ich gestehe ohne Beschämung, daß ich erwartet hatte, das Silber werde allenthalben massenhaft auf dem Boden herumliegen und man könne es auf den Berggipfeln in der Sonne blinken sehen. Natürlich sagte ich nichts davon, denn ein inneres Gefühl flüsterte mir zu, ich könne doch am Ende eine übertriebene Vorstellung von der Sache haben und mich, wenn ich meine Gedanken verriete, lächerlich machen. Doch zweifelte ich nicht im geringsten, daß ich binnen einem oder zwei Tagen, spätestens in einer Woche, Silber genug auflesen werde, um ganz hübsch reich zu sein – und so beschäftigte sich meine Einbildungskraft bereits eifrig mit Plänen zur Verwendung des Geldes. Bei der ersten schicklichen Gelegenheit schlenderte ich sorglos von der Hütte weg, behielt aber die andern Jungen im Auge, und wenn ich dann meinte, sie beobachteten mich, blieb ich stehen und betrachtete den Himmel; sobald jedoch niemand da war oder acht gab, floh ich von dannen, als hätte ich einen Diebstahl auf dem Gewissen und hielt in meinem Lauf nicht eher inne, als bis ich weit außer Gesichts- und Rufweite war. Dann ging ich ans Suchen in fieberhafter Aufregung, denn ich war voll gespannter Erwartung und meiner Sache fast ganz sicher. Ich kroch auf dem Boden umher, hob Steinbrocken auf und untersuchte sie, indem ich den Staub abblies oder sie an meinen Kleidern rieb und mit hoffnungsvoller Gier musterte. Nicht lange, so fand ich einen glänzenden Brocken, und mir hüpfte das Herz. Hinter einem Felsblock versteckt polierte und prüfte ich ihn mit nervöser Hast und einem Entzücken, welches selbst bei Erfüllung aller meiner Hoffnungen nicht ganz berechtigt gewesen wäre. Je genauer ich meinen Brocken untersuchte, desto fester war ich überzeugt, den Weg zum Glück gefunden zu haben. Ich bezeichnete mir den Ort und nahm meine Probe mit. Auf und nieder suchte ich die zerklüftete Bergflanke ab mit immer regerem Interesse und immer mehr von Dankbarkeit durchdrungen, daß ich nach dem Humboldt gekommen war und zwar zu rechter Zeit. Dieses heimliche Suchen nach den verborgenen Schätzen des Silberlandes versetzte mich in die höchste Verzückung, die ich je im Leben empfunden. Es war ein wahrer Taumel schwelgerischen Genusses. Nicht lange nachher entdeckte ich im Bett eines seichten Baches einen Bodensatz glänzend gelber Schuppen. Mir blieb fast der Atem aus. Eine Goldgrube! Und ich war in meiner Einfalt mit Silber zufrieden gewesen! Vor Aufregung glaubte ich fast, meine überzeugte Einbildungskraft täusche mich. Dann packte mich die Furcht, man könnte mich beobachten und mein Geheimnis erraten. Vorsichtig ging ich im Kreis um die Stelle herum und stieg spähend auf einen Hügel. Ich war allein. Kein lebendes Wesen weit und breit. Nun kehrte ich zu meinem Fundort zurück, indem ich mich gegen eine mögliche Enttäuschung wappnete; aber meine Befürchtung war unbegründet – die glänzenden Schuppen waren noch immer da. Ich machte mich daran, sie auszuschöpfen; eine Stunde lang plagte ich mich an den Windungen des Baches hinab und plünderte sein Bett, bis die sinkende Sonne dem weiteren Suchen ein Ende machte, und ich mich beladen mit Schätzen heimwärts wandte. Als ich so dahinschritt, konnte ich mich nicht enthalten, meine Aufregung über den Brocken Silbererz zu belächeln, da doch ein edleres Metall mir schier vor der Nase lag. In dieser kurzen Zeit war das erstere in meiner Achtung so tief gesunken, daß ich ein- oder zweimal auf dem Punkte stand, es wegzuwerfen.

Während die Jungen ihren gewöhnlichen Hunger entwickelten, konnte ich nichts essen. Auch reden konnte ich nicht. Ich weilte im Land der Träume in weiter Ferne. Ihre Unterhaltung war für meine Phantasie etwas störend und ärgerte mich gewissermaßen. Ich verachtete die lumpigen und alltäglichen Dinge, von denen sie schwatzten. Allmählich fing das Gerede aber an, mir Spaß zu machen. Es hatte einen eigenen, komischen Reiz, ihnen zuzuhören, wie sie über ihre ärmlichen, kleinen Ersparnisse Pläne machten und über mögliche Verluste und Verlegenheiten seufzten, während doch eine Goldgrube dicht vor der Hütte lag, die unser volles Eigentum war und die ich ihnen nur zu zeigen brauchte. Die unterdrückte Heiterkeit begann mir bald das Herz abzudrücken. Es war nicht leicht, dem Antrieb zu widerstehen, in hellem Jubel loszuplatzen und alles zu offenbaren, aber ich widerstand. Ich nahm mir vor, die große Neuigkeit gelassen durch meine Lippen träufeln zu lassen, dabei so ruhig und heiter auszusehen wie ein Sommermorgen, und die Wirkung auf ihren Gesichtern zu beobachten.

Ich fragte: »Wo seid ihr alle gewesen?«

»Muten gegangen.«

»Was habt ihr gefunden?«

»Nichts.«

»Nichts? Was haltet ihr von der Gegend?«

»Kann’s jetzt noch nicht sagen,« erwiderte Herr Ballon, der ein alter Goldgräber war und auch in Silbergruben beträchtliche Erfahrungen besaĂź. »Nun, haben Sie sich denn nicht irgend eine Art Meinung gebildet?«

»Ja, gewissermaßen schon. Es scheint freilich nicht übel hier, aber man hat die Sache überschätzt. Siebentausend-Dollar-Lager sind wohl selten. Die Sheba-Grube mag immerhin reich sein, aber sie gehört uns nicht, und überdies ist das Gestein so voll von schlechten Metallen, daß alle Wissenschaft der Welt nichts damit anfangen kann. Wir werden hier nicht verhungern, aber ich fürchte, wir werden auch nicht reich werden.«

»Sie halten also die Aussicht für ziemlich gering?«

»So ist’s.«

»Nun, dann thäten wir wohl besser daran, heim zu gehen, nicht wahr?«

»O, jetzt noch nicht – natĂĽrlich. Wir wollen’s doch zuerst noch ein biĂźchen versuchen.«

»Setzen wir einmal den Fall – es ist eine bloße Annahme – wißt ihr – setzen wir einmal den Fall, ihr könntet ein Lager finden, welches, sagen wir hundertfünfzig Dollars per Tonne gäbe – würde euch das genügen?«

»Probieren Sie’s ‚mal mit uns!« schrie die ganze Gesellschaft.

»Oder nehmen wir an – selbstverständlich wiederum eine Vermutung – nehmen wir an, wir fänden eine Ader, wo die Tonne zweitausend Dollars Ausbeute giebt – würde euch das genügen?«

»Halt – was meinen Sie? Auf was steuern Sie los? Steckt ein Geheimnis hinter dem allem?«

»Erhitzt euch nicht. Ich sage gar nichts. Ihr wißt ja ganz genau, daß es hier keine reichen Gruben giebt – natürlich, denn ihr seid ja überall herumgestreift und habt gesucht. Das wäre jedem klar, wenn er sich hier umgesehen hätte. Gesetzt den Fall nun, es käme einer und spräche: ›Ach was, eine Zweitausend-Dollar-Ader ist doch rein gar nichts, wo doch gleich da drüben, angesichts dieser Hütte ganze Haufen von gediegenem Gold und Silber liegen – ganze Berge davon, genug, um euch alle in vierundzwanzig Stunden zu reichen Leuten zu machen.‹ Na, was würdet ihr dazu sagen?«

»Ich würde sagen, der ist so verrückt wie ein Tollhäusler!« sagte der alte Ballou, der aber trotzdem vor Erregung ganz wild wurde.

»Meine Herren!« versetzte ich, »ich sage gar nichts – ich bin ja nicht herum gewesen, wie Sie wissen, und weiß deshalb natürlich nichts – aber ich bitte nur um das eine, werfen Sie einmal einen Blick auf das hier zum Beispiel und sagen Sie mir, was Sie davon halten!« Damit schüttete ich meinen Schatz vor ihnen aus.

Voll Begier stürzte alles darauf los und steckte die Köpfe unter der brennenden Kerze zusammen. Dann sagte der alte Ballou:

»Was ich davon halte? Ich halte davon, daß es nichts ist als ein Haufen Granitabfall und gemeines, glitzerndes Katzengold, wovon der Morgen nicht zehn Cents wert ist!«

So schwand mein Traum dahin; so schmolz mein Reichtum, so stĂĽrzte mein LuftschloĂź zusammen, und ich blieb als ein geschlagener Mann zurĂĽck.

Ich zog die Moral aus der Geschichte mit dem bekannten Sprichwort: »Es ist nicht alles Gold, was glänzt.« Herr Ballou meinte, ich könnte noch weiter gehen und zu den Schätzen meines Wissens den Satz legen, daß nichts Gold sei, was glänze. So lernte ich denn ein für allemal, daß Gold im Naturzustände nichts ist als ein schwärzliches, unansehnliches Ding und daß nur Metalle gemeiner Art durch prahlerisches Glitzern die Bewunderung des Unerfahrenen erregen. Trotzdem unterschätze ich nach wie vor, gleich der übrigen Welt, echte Goldmenschen und verherrliche Katzengoldmenschen. Die Alltagsmenschennatur kann sich einmal darüber nicht erheben.

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Mit dem Geschäft des Silbergrabens wurden wir nur zu bald vertraut. Wir gingen mit Herrn Ballou ›muten‹. Zwischen Salbeibüschen, Felsen und Schneehaufen kletterten wir an den Berghängen hinauf, bis wir vor Erschöpfung umfallen wollten, fanden aber kein Silber und ebensowenig Gold. So ging es Tag für Tag. Da und dort stießen wir auf Löcher, die man ein paar Meter tief in die Abhänge getrieben und dann offenbar wieder aufgegeben hatte, und hie und da trafen wir auf ein oder zwei Leute, die noch emsig gruben. Aber Silber kam nirgends zum Vorschein. Diese Löcher waren die Ansätze von Stollen, die Hunderte von Fuß in den Berg getrieben werden sollten, um eines Tags auf die verborgene Schicht zu stoßen, in der das Silber steckte. Eines Tags! Das schien in weiter Ferne zu liegen, und die Sache sah sehr hoffnungslos und trübselig aus. Tag um Tag mühten wir uns ab, kletterten herum und suchten, und dabei wurden wir jüngeren Genossen der aussichtslosen Plackerei immer mehr überdrüssig. Endlich machten wir hoch oben auf dem Berge unter einer überhängenden Felswand Halt. Ballou schlug einige Stücke mit dem Hammer ab, prüfte sie lange und aufmerksam mit einem kleinen Augenglase, worauf er sie wegwarf und noch mehr abschlug; dann meinte er, dieses Gestein sei Quarz, und Quarz sei die Steinart, in der das Silber enthalten sei. Enthalten sei! Ich hatte gemeint, es werde wenigstens außen daran kleben, wie eine Art Überzug. Er schlug noch mehr Stücke los, um sie gründlich zu untersuchen, wobei er das betreffende Stück hie und da mit der Zunge benetzte und durch das Glas betrachtete. Schließlich rief er aus: »Wir haben es!«

Unsere Neugier war sofort aufs höchste gespannt. Das Gestein war rein und weiß an der Bruchstelle, und querdurch zog sich ein faseriger, blauer Faden. In diesem kleinen Faden, meinte er, stecke Silber, aber gemischt mit unedlen Metallen, mit Blei, Antimon und anderem Quark, auch seien daran ein paar Tüpfelchen Gold sichtbar. Mit großer Anstrengung brachten wir es dahin, ein Paar kleine, gelbe Fleckchen zu erkennen, von denen sich annehmen ließ, daß vielleicht ein Paar Tonnen davon einen Golddollar geben konnten. Wir waren gerade nicht entzückt; aber Ballou meinte, es gebe noch schlechtere Erzlager als dieses auf der Welt. Er hob das, was er das ›reichste Stück Gestein‹ nannte, auf, um seinen Wert durch die sog. Feuerprobe zu bestimmen. Dann gaben wir der Grube den Namen ›Bergkönig‹ (Bescheidenheit ist bei der Namengebung in den Bergwerken kein hervorstechender Zug), und Herr Ballou schrieb nachstehende Bekanntmachung auf, von der er sich eine Abschrift aufhob, um sie in die Bücher des Syndikus der Bergwerke in der Stadt eintragen zu lassen.

Bekanntmachung.

Wir, die Unterzeichneten, belegen drei Stücke, jedes von dreihundert Fuß, (und eins für die Entdeckung) an dieser silberhaltigen Quarzschicht nach Norden und nach Süden von diesem Anschlag, mit allen Einsenkungen, Verzweigungen und Winkeln, Biegungen und Krümmungen, und dazu fünfzig Fuß breit Boden auf jeder Seite zur Bearbeitung derselben.«

Wir setzten unsere Namen darunter und versuchten uns in die Stimmung zu bringen, als sei nun unser Glück gemacht. Aber als wir die Sache mit Herrn Ballou durchsprachen, war uns höchst zweifelhaft zu Mute. Dieser Quarz an der Oberfläche, meinte er, sei nicht alles, was unsere Mine enthalte, vielmehr erstrecke sich die Wand oder Schicht, der wir den Namen ›Bergkönig‹ gegeben hatten, Hunderte und aber Hunderte von Fuß in die Erde hinab. Sie sei wie der Randstein eines Straßenpflasters, behalte ungefähr dieselbe Dicke, etwa zwanzig Fuß, bis hinab in die Eingeweide der Erde und sei vollständig verschieden von dem Gestein, das sie rings umgebe; sie bleibe für sich und behalte stets ihren besondern Charakter, einerlei wie tief sie in die Erde hineingehe oder wie weit sie sich längs der Berge und Thäler oder quer über dieselben erstrecke; sie könne eine Meile tief und zehn Meilen lang sein, und man möge über oder unter der Erde hineinbohren wo man wolle, so würde man Gold und Silber darin finden, aber nicht in dem geringeren Gestein, in das sie eingebettet sei. Unten in der großen Tiefe der Schicht, fuhr er fort, stecke ihr Reichtum, und mit der Tiefe nehme derselbe stetig zu. Deshalb müßten wir statt hier an der Oberfläche zu arbeiten einen Schacht einsenken, bis wir an die reichen Stellen kämen – so etwa hundert Fuß tief – oder unten vom Thal aus einen langen Stollen in den Bergabhang treiben und die Ader tief unter der Erde anzapfen. Das eine wie das andere war offenbar die Arbeit von Monaten, denn wir konnten täglich nur ein paar Fuß, ungefähr fünf oder sechs, ausbohren oder wegsprengen. Aber das war noch nicht alles. Er sagte, wenn das Erz herausgeschafft sei, müsse es nach einem entfernten Pochwerke gebracht werden, damit es zermahlen und das Silber durch einen langwierigen und kostspieligen Prozeß ausgeschieden werde. Eine Ewigkeit schien zwischen uns und unserm Glück zu liegen!

Aber wir gingen ans Werk. Wir beschlossen einen Schacht einzusenken. So kletterten wir denn eine Woche lang auf den Berg, beladen mit Hacken, Drillbohrern, Meißeln, Schaufeln, Brechstangen, Fäßchen Sprengpulver und Rollen Lunte und arbeiteten mit aller Macht. Anfangs war der Fels bröckelig und locker; was wir mit den Spitzhacken abschlugen, schaufelten wir heraus, und das Loch machte ganz hübsche Fortschritte; aber allmählich wurde das Gestein fester, und nun kamen Meißel und Brechstange an die Arbeit. Bald aber that nichts mehr seine Wirkung außer dem Sprengpulver. Das war die mühseligste Arbeit! Während einer von uns den eisernen Drillbohrer an seine Stelle hielt, schlug ein anderer mit einem achtpfündigen Schmiedehammer drauf – das reinste Nägeleinschlagen in großem Maßstabe. Binnen einer bis zwei Stunden erreichte der Bohrer eine Tiefe von zwei bis drei Fuß und hatte ein Loch von ein Paar Zoll Durchmesser gemacht. Dann legten wir die Pulverlabung, steckten eine halbe Elle Lunte hinein, schütteten Sand und Kies darauf und stampften es fest; zuletzt zündeten wir die Lunte an und liefen weg. Kamen wir dann nach der Explosion, bei der Steine und Rauch in die Luft flogen, zurück, so fanden wir ungefähr einen Scheffel von dem harten, widerspenstigen Quarz herausgesprengt, kein bißchen mehr. Nach einer Woche hatte ich genug davon. Ich verzichtete; Clagett und Oliphant desgleichen. Unser Schacht war erst zwölf Fuß tief. Wir kamen überein, daß nur ein Stollen uns zum Ziele führen könne.

So gingen wir den Berg hinunter und arbeiteten dort eine Woche lang. Nach Verlauf derselben hatten wir einen Stollen ausgesprengt, in dem sich ungefähr ein Oxhoft unterbringen ließ, und waren zu der Überzeugung gekommen, daß wir noch um etwa neunhundert Fuß tiefer graben müßten, um auf die silberhaltige Schicht zu stoßen. Ich verzichtete auch jetzt wieder, und die andern Jungen hielten es nur noch einen Tag länger aus. Wir stimmten überein, daß ein Stollen nichts für uns tauge. Wir brauchten eine bereits ›aufgeschlossene‹ Schicht. Solche gab es aber im ganzen Lager nicht.

Den ›Bergkönig›‹ ließen wir für jetzt liegen.

Mittlerweile füllte sich der Platz mit Leuten, und unsere Humboldt-Bergwerke riefen eine immer größere Aufregung hervor. Auch wir fielen der Seuche zum Opfer und strengten jeden Nerv an, um immer mehr ›Fuß‹ zu erwerben. Wir muteten herum und nahmen neue Stücke in Besitz, an die wir unsere Bekanntmachungen anschlugen und die wir mit hochtrabenden Namen belegten. Wir vertauschten eine Anzahl von unseren ›Fuß‹ gegen ›Fuß‹ in fremden Grubenteilen. Bald hatten wir namhafte Anteile am ›Grauen Adler‹, an der ›Columbiana‹, der ›Münzfiliale‹, der ›Mary Jane‹, dem ›Universum‹, der ›Simson und Delila‹, der ›Schatztruhe‹, der ›Golkonda‹, der ›Sultanin‹, dem ›Bumerang‹, der ›Großen Republik‹, dem ›Großmogul‹ und noch fünfzig weiteren ›Gruben‹, die nie eine Schaufel oder eine Spitzhacke gefühlt hatten. Wir besaßen nicht weniger als dreißigtausend ›Fuß‹ pro Mann in den ›reichsten Gegenden der Erde‹, wie die verruchte Schwindlersprache es nannte – und konnten den Fleischer nicht bezahlen. Wir waren ganz toll vor Aufregung, trunken vor Glück, begraben unter Bergen künftigen Reichtums, voll hochmütigen Mitleids mit den Millionen, die sich im Schweiß ihres Angesichts abmühten, weil sie unsere wundervolle Schlucht nicht kannten – aber unser Kredit beim Viktualienhändler stand schlecht. Es war die seltsamste Lebenslage, die man sich vorstellen kann – der Festschmaus eines Bettlers. Im Distrikt geschah nichts, man legte keine Grube an, ließ keine Pochwerke arbeiten, man produzierte nichts und nahm nichts ein – im ganzen Lager war nicht soviel Geld zu finden, daß man hätte in einem Städtchen des Ostens einen Bauplatz dafür kaufen können; und doch würde ein Fremder geglaubt haben, er wandle unter lauter geschwollenen Millionären. Mutende Gesellschaften schwärmten mit dem ersten Tagesgrauen hinaus aus der Stadt und mit Einbruch der Nacht wieder herein, beladen mit Beute – Steinbrocken. Nichts als Steinbrocken. Jedermann hatte alle Taschen voll davon; in jeder Hütte war der Fußboden damit besät, mit Zetteln beklebt standen sie reihenweise auf den Wandsimsen.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Allenthalben begegnete ich Leuten, welche tausend bis dreißigtausend Fuß in unaufgeschlossenen Silbergruben besaßen, von denen jeder einzelne Fuß ihrer Überzeugung nach binnen kurzem fünfzig bis tausend Dollars gelten mußte; und das waren oft genug Leute, die in der ganzen Welt keine fünfundzwanzig Dollars ihr eigen nannten. Man mochte treffen wen man wollte, so hatte er seine neue Grube anzupreisen und seine ›Proben‹ bereit, und bei der ersten Gelegenheit drängte er einen unfehlbar in die Ecke und bot einem an, ›aus bloßer Gefälligkeit, nicht um etwas zu verdienen,‹ ein paar Fuß im ›Goldenen Zeitalter‹ oder ›Sarah Jane‹ oder irgend sonst einer unbekannten Schatzkammer herzugeben, wenn er nur so viel dafür bekäme, um sich eine ordentliche Mahlzeit leisten zu können. Dabei mußte man sich verpflichten, es nicht weiter zu sagen, daß er einem das Anerbieten zu so spottbilligem Preise gemacht habe, da er sich lediglich ›aus Freundschaft zu diesem Opfer bereit erklärte‹. Dann pflegte er ein Stück Gestein aus der Tasche zu fischen, sich geheimnisvoll umzusehen, (als fürchte er, man könne ihm auflauern und ihn berauben, wenn man ihn über dem Besitz solchen Reichtums ertappe), mit dem Steinbrocken an seine Zunge zu tippen, ein Vergrößerungsglas darüber zu halten und auszurufen:

»Sehen Sie ‚mal her! Gerade hier in dem roten Fleck! Sehen Sie! Sehen Sie die goldenen Punkte? Und den Streifen Silber? Das ist vom ›Onkel Abe‹. Davon sind hunderttausend Tonnen in Aussicht. Direkt in Aussicht, merken Sie wohl! Und wenn wir bis auf die rechte Stelle hinunterkommen und die Ader gediegen wird, dann ist des Reichtums kein Ende. Sehen Sie sich die Proben an! Ich verlange nicht, daĂź Sie mir glauben. Sehen Sie sich nur die Probe an!«

Dann langte er regelmäßig ein fettiges Papier heraus, worin bezeugt war, das betreffende Stück habe in der Feuerprobe den Beweis geliefert, daß es Gold und Silber im Verhältnis von so und so viel hundert oder tausend Dollars per Tonne enthalte. Ich wußte damals noch nicht, daß man gewohnt war, das reichste Stück aus einer Ausgrabung zum Probieren herauszusuchen. Sehr oft war dieses Stück von nicht mehr als Nußgröße der einzige Brocken in einer ganzen Tonne, der überhaupt ein Metallteilchen enthielt, und doch erhob es nach dem Probierzeugnis Anspruch darauf, den Durchschnittswert der Tonne Geröll, woraus es stammte, zu repräsentieren.

Dieses Probiersystem war es, das die Menschheit im Humboldt-County verrückt gemacht hatte. Auf die Autorität solcher Probierzeugnisse hin schwärmten die dortigen Zeitungskorrespondenten vor Begeisterung über Gestein, das vier- bis siebentausend Dollars die Tonne wert sein sollte.

Wir rührten weder unsern Stollen, noch unsern Schacht je wieder an. Warum? Weil wir nun das wahre Geheimnis des Erfolges beim Silbergraben entdeckt zu haben meinten – es bestand darin, daß man nicht selbst im Schweiß seines Angesichts und mit seiner Hände Arbeit nach Silber grub, sondern die Erzschichten an die dummen Sklaven der Arbeit verkaufte und ihnen das Graben überließ! –

Vor meinem Weggang von Carson hatte ich zusammen mit dem Sekretär von verschiedenen Mitbesitzern der ›Esmeralda‹ eine Anzahl Fuß gekauft. Wir hatten sofortige Gegenleistung in ungemünztem Gold oder Silber erwartet, wurden aber statt dessen mit regelmäßig und ständig wiederkehrenden Zubußen – d. h. Geldforderungen zum Ausbau der genannten Gruben – heimgesucht. Diese Zubußen waren dermaßen drückend geworden, daß es notwendig erschien, sich persönlich Einblick in die Sache zu verschaffen. Ich beschloß deshalb eine Pilgerfahrt nach Carson und von dort nach Esmeralda. Nachdem ich mir ein Pferd gekauft, brach ich in Begleitung des Herrn Ballou und eines Herrn Ollendorf auf. Dieser letztere war ein Preuße – aber nicht jener Mensch, der mit seinen Grammatiken fremder Sprachen mit ihren unaufhörlichen Wiederholungen von Fragen, die weder jemals vorgekommen sind, noch jemals in irgend einer Unterhaltung zwischen menschlichen Wesen vorzukommen Aussicht haben, der Welt so viel Leiden zugefügt hat. Wir ritten zwei oder drei Tage lang durch einen Schneesturm, bis wir vor Honey Lake Smiths einsam gelegenem Wirtshause am Carsonflusse ankamen. Es war ein zweistockiges Blockhaus auf einem kleinen Hügel, inmitten eines weiten Wüstenbeckens, durch das sich der dürftige Carson trübselig hinwindet. Dicht bei dem Hause standen die aus Backsteinen erbauten Ställe der Überlandpost. Mehrere Meilen rundum fand man sonst kein Gebäude. Gegen Sonnenuntergang trafen ungefähr zwanzig Heuwagen ein, die sich rings um das Haus aufstellten; sämtliche Fuhrleute kamen zum Abendessen herein – eine sehr, sehr rohe Bande. Auch ein oder zwei Postillone der Überlandpost waren da, und außerdem ein halbes Dutzend Strolche und Landstreicher; das Haus war demnach wohl gefüllt. Nach dem Essen gingen wir hinaus und besuchten ein kleines Indianerlager in der Nachbarschaft. Die Indianer waren aus irgend einem Grunde in großer Aufregung, sie packten ein und eilten so schnell als möglich fortzukommen. »In kurz Zeit Menge Wasser,« sagten sie und gaben uns mit Hilfe von Zeichen zu verstehen, daß nach ihrer Meinung eine Überschwemmung im Anzug sei. Das Wetter war vollkommen klar, auch befanden wir uns nicht in der Regenzeit. Das unbedeutende Flüßchen hatte höchstens zwei Fuß Wasser; seine Oberfläche war nicht breiter als eine schmale Dorfgasse und seine Ufer kaum höher als ein Mannskopf. Wo sollte also eine Überschwemmung herkommen? Wir sprachen noch eine Weile darüber und gelangten zu dem Schlusse, es werde wohl eine List der Indianer sein, die für ihren eiligen Abzug sicherlich einen triftigeren Grund haben müßten, als die Furcht vor Überschwemmung bei maßloser Trockenheit.

Um sieben Uhr abends legten wir uns im zweiten Stockwerk zu Bette, – in den Kleidern (unsrer Gewohnheit gemäß) und alle drei in ein Bett; denn jeder verwendbare Raum auf dem Fußboden, auf Stühlen u. s. w. war besetzt, und trotzdem gab es kaum Platz genug für alle Gäste des Wirtshauses. Nach einer Stunde weckte uns ein großer Lärm; wir sprangen aus dem Bett, stiegen über die in Reihen auf dem Boden schnarchenden Fuhrleute hinweg und gelangten so nach den Vorderfenstern der Stube. Ein einziger Blick enthüllte uns im Scheine des Mondlichts ein merkwürdiges Bild. Der vielgewundene Carson war voll bis zum Rande, wild rasten und schäumten seine Wasser – mit wütender Geschwindigkeit schossen sie um die scharfen Biegungen und brachten auf der Oberfläche ein Chaos von Stämmen, Strauchwerk und allerhand Unrat mit. Eine Einsenkung, die früher das Bett des Flusses gebildet hatte, war schon beinahe voll, und an mehreren Stellen begann das Wasser über das Hauptufer hinauszuspülen. Die Leute rannten hin und her, um Vieh und Wagen dicht an das Haus zu bringen, denn die Bodenerhebung, auf der es stand, dehnte sich vorne nur etwa dreißig und an der Hinterseite vielleicht hundert Fuß weit aus. Hart neben dem vorerwähnten alten Flußbett stand ein kleiner Stall aus Baumstämmen, in welchem unsere Pferde untergebracht waren. An dieser Stelle stieg das Wasser zusehends so rasch, daß nach wenigen Minuten ein Wildbach an dem Stall vorbeibrüllte, der fortwährend höher an dem Gebälk emporschwoll. Da wurde uns auf einmal klar, daß diese Flut mehr sei, als ein bloßes Schaustück zur Kurzweil. Sie drohte Verderben, und zwar nicht nur dem kleinen Blockstall, sondern auch den Gebäuden der Überlandpost, dicht am Hauptflusse, denn die Wellen waren jetzt über die Ufer gestiegen, so daß sie die Grundmauern umspülten und in die anstoßende große Heuscheune eindrangen. Wir rannten hinunter und befanden uns bald mitten in einem Haufen aufgeregter Menschen und geängsteter Tiere. Bis an die Kniee wateten wir in den Stall und banden die Pferde los; beim Herauswaten ging uns das Wasser schon bis zu den Hüften, so rasch war es gestiegen. Dann stürzten alle wie ein Mann nach der Scheune und machten sich daran, die mächtigen Bündel Heu herauszuwerfen, die dann nach dem höher gelegenen Hause hinaufgewälzt wurden. Inzwischen hatte man entdeckt, daß ein Postillon der Überlandpost, Namens Owens, fehlte; ein Mann lief bis zu den Schenkeln im Wasser in den Stall hinein, fand den Vermißten schlafend und weckte ihn, worauf er wieder hinauswatete. Aber Owens war duselig und schlief wieder ein; jedoch nur auf ein paar Minuten; denn als er sich im Bett umdrehte, kam seine herabhängende Hand in Berührung mit dem kalten Wasser! Dieses ging schon bis zur Höhe der Matratze! Fast brusttief watete er heraus, und schon im nächsten Augenblick schmolzen die Backsteine zusammen wie Zucker; das mächtige Gebäude stürzte ein und war im Nu weggespült.

Um elf Uhr schaute nur noch das Dach des kleinen Stalles aus dem Wasser heraus, und unser Wirtshaus war eine Insel im Weltmeer. Soweit das Auge im Mondlicht schauen konnte, war keine Wüste mehr zu erblicken, sondern nur noch eine weite, schimmernde Wasserfläche. Die Indianer hatten richtig prophezeit; aber woher hatten sie ihre Kunde erhalten? Ich weiß keine Antwort darauf.

Acht Tage und ebenso viele Nächte blieben wir mit jener sonderbaren Gesellschaft zusammengepfercht. Fluchen, Trinken und Kartenspiel bildeten die Tagesordnung, die nur gelegentlich der Abwechslung halber durch eine Rauferei unterbrochen wurde. Schmutz und Ungeziefer – doch davon schweige ich lieber; es genüge zu sagen, daß beides in geradezu unbegreiflicher Masse vorhanden war.

Zwei Leute in der Gesellschaft – doch dieses Kapitel ist schon lang genug.

Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Tom Quarz.

Bald daraus traf ich einen früheren Bekannten, der Bergmann in einem der verlassenen Grubendistrikte Kaliforniens war. Ich ging mit ihm zurück und blieb mehrere Monate dort unter den Goldgräbern, welche in der ausgedehnten Hügel und Waldlandschaft vier bis fünf zerstreute Hütten bewohnen. In der flotten Zeit, ehe die Gruben erschöpft waren, hatte in dieser Einöde eine blühende Stadt mit einer Bevölkerung von zwei- bis dreitausend Menschen gestanden; jetzt war alles spurlos verschwunden – Straßen, Wohnhäuser, Läden – und nur eine Handvoll Bergleute an Ort und Stelle zurückgeblieben, die sich längst in ihre Verbannung gefunden und die Welt vergessen hatten, wie sie von aller Welt vergessen waren.

Einer meiner dortigen Kameraden, der seit achtzehn Jahren sein geplagtes Leben voll Entbehrungen und Enttäuschungen geduldig ertragen hatte, war Dick Baker, ein ernster, schlichter Mann, sechsundvierzig Jahre alt, grau wie eine Ratte, halbwegs gebildet, in schlotteriger mit Lehm beschmutzter Kleidung. Sein Herz aber war von kostbarerem Gold, als er mit seiner Schaufel je zu Tage gefördert hatte, von feinerem Metall als jemals gegraben oder gemünzt worden war.

So oft Baker kein Glück hatte und etwas niedergeschlagen war, pflegte er um den Verlust einer wundervollen Katze zu trauern, die ihm früher gehört hatte. Wenn er von ihrer merkwürdigen Klugheit sprach, so sah man es ihm am Gesicht an, daß er im Innersten seines Herzens überzeugt war, sie müsse menschliche, – ja sogar vielleicht übermenschliche – Eigenschaften besessen haben.

Einmal kam er auch in meinem Beisein auf das Tier zu sprechen.

»Acht Jahre lang,« sagte er, »hatte ich hier eine Katze, die hätte Sie gewiĂź interessiert. Sie hieĂź Tom Quarz, war groĂź und grau und eigentlich ein Kater, mit so viel gesundem Menschenverstand wie irgend einer von uns im Lager. Tom hatte auch ein gewaltiges SelbstgefĂĽhl im Leibe, sogar dem Gouverneur von Kalifornien wĂĽrde er nicht gestattet haben, sich Vertraulichkeiten gegen ihn herauszunehmen. Eine Ratte hatte er sein Lebtag nicht gefangen – war vermutlich zu vornehm dazu. Die einzige Angelegenheit, um die er sich kĂĽmmerte, war der Bergbau. Vom Goldgruben verstand er mehr als irgend jemand in der Welt, die Kenntnis war ihm förmlich angeboren, alles wuĂźte er, was die Arbeit auf den Goldfeldern betraf, man konnte ihm gar nichts Neues mehr sagen. Er grub hinter mir und Jim drein, wenn wir die Berge durchsuchten und trabte oft meilenweit mit uns umher. Ein vorzĂĽgliches Urteil hatte er ĂĽber den Boden, wo ‚was zu finden sei; wahrhaftig, mir ist nichts Ă„hnliches wieder vorgekommen. Wenn wir an die Arbeit gingen, warf er nur einen Blick um sich; miĂźfielen ihm dann die Anzeichen, so machte er ein Gesicht, das bedeuten sollte: »Na, Freunde, ihr werdet mich wohl entschuldigen,« – dabei hob er die Nase in die Luft und trollte sich nach Hause, ohne noch ein Wort zu sagen. War er aber mit dem Platz einverstanden, so verhielt er sich ruhig, bis die erste Pfanne ausgespĂĽlt war, dann schlängelte er sich in unsere Nähe und wenn er, sechs oder sieben Körner Gold sah, war er zufrieden und die Aussichten schienen ihm gut. Er legte sich nun auf unsere Röcke und fauchte wie ein Dampfboot, sobald wir jedoch auf eine ergiebige Stelle stieĂźen, fuhr er blitzschnell in die Höhe und machte sich ans Besichtigen. »Jetzt kam die Zeit, wo alle Welt darauf versessen war, das Gold im Gestein, statt in der Erde zu suchen, alle hackten und sprengten nun, anstatt Erde zu schaufeln, jeder wollte einen Schacht graben, statt bloĂź an der Oberfläche zu kratzen. Jim lieĂź mir keine Ruhe, wir muĂźten auch nach Erz im Gestein suchen. Als wir den Schacht anzulegen begannen, machte Tom Quarz groĂźe Augen, was zum Henker wir denn vor hätten; solche Bergwerkerei schien ihm unerhört, er war ganz verblĂĽfft und konnte uns nicht begreifen. DaĂź mein Kater aber genau wuĂźte, worauf wir hinaus wollten, darauf möchte ich wetten; er sah immer aus, als ob er unsere Arbeit fĂĽr die größte Thorheit hielt. Neumodische Einrichtungen konnte er nun einmal nicht ausstehen und war schwer von seinen alten Gewohnheiten abzubringen. Erst ganz allmählich versöhnte sich Tom Quarz einigermaĂźen mit dem neuen Betrieb, obwohl er es nie recht einsah, warum wir immer und ewig in den Schacht einfuhren und doch nichts Ordentliches herausholten. Zuletzt kam er selber herunter um zu versuchen, ob er sich’s klar machen könne; aber es verwirrte ihn nur, uns zuzusehen, er ward ärgerlich und die ganze Sache war ihm zuwider, zumal er wuĂźte, daĂź unsere Ausgaben fortwährend anwuchsen und wir nicht einen Cent verdienten. So legte er sich denn auf einen Pulversack im Winkel, rollte sich zusammen und schlief ein. Eines Tages trafen wir in dem Schacht auf so hartes Gestein, daĂź wir einen Sprengversuch vornehmen muĂźten, den ersten, seitdem Tom Quarz geboren war. Wir steckten die Lunte an, kletterten heraus und liefen etwa fĂĽnfzig Meter weit fort – den Kater aber, der auf seinem Pulversack in festem Schlafe lag, hatten wir richtig vergessen. Eine Minute später sahen wir aus dem Loch eine dicke Rauchsäule aufsteigen, dann that es einen fĂĽrchterlichen Krach und etwa vier Millionen Tonnen Steine, Erde, Rauch und Splitter flogen wohl anderthalb Meilen hoch in die Luft; und wahrhaftig, mitten in dem Wirrwarr sauste kopfĂĽber, kopfunter unser alter Tom Quarz mit in die Hohe, schnaubte, nieste und streckte die Klauen aus wie besessen, um sich irgendwo festzuhalten, aber es nĂĽtzte ihn rein gar nichts.

»Nun vergingen wohl dritthalb Minuten, ohne daĂź wir ‚was von ihm zu sehen kriegten, dann fing es auf einmal an, Steine und Schmutz zu regnen und auch der Kater fiel herunter, etwa zehn FuĂź vor dem Fleck wo wir standen. Na, der sah schön aus; ein erbärmlicheres Geschöpf ist mir all mein Lebtag nicht vorgekommen. Ein Ohr saĂź ihm im Nacken, der Schwanz stand steif in die Höhe, die Augenwimpern waren abgesengt, der Körper ganz von Pulver und Rauch geschwärzt und mit Schlamm und Schmutz ĂĽberzogen. Wir starrten ihn an und brachten kein Wort heraus – was hätten mir alle Entschuldigungen jetzt nĂĽtzen können? – Tom Quarz warf einen Blick voll Ekel auf sich selber, dann aber sah er uns an, als wolle er sagen: »Ihr dĂĽnkt euch wohl recht schlau, daĂź ihr einer Katze, die nichts vom neuen Bergbau versteht, so mitgespielt habt – aber ich sehe die Sache von einem andern Gesichtspunkt an.« Damit machte Tom rechtsumkehrt und marschierte nach Hause, ohne noch weiter ein Wort zu verlieren, das war so seine Art.

»Mögen Sie’s nun glauben oder nicht – von der Zeit an gab es in der ganzen Welt keine Katze, die mehr gegen den Quarzbau eingenommen war wie er. Als er endlich wieder anfing den Schacht zu befahren, verwunderten wir uns alle ĂĽber seine Schlauheit. Es war wirklich merkwĂĽrdig – kaum, daĂź wir das Pulver zum Sprengen gelegt hatten und die Lunte anzĂĽndeten, so warf er uns einen Blick zu, in dem zu lesen stand: »Nun empfehle ich mich Ihnen ergebenst –« im Nu war er dann zum Loch hinaus und auf einen Baum geklettert, so hoch er konnte. Was sage ich – Schlauheit – das ist gar kein Wort dafĂĽr; es war eine förmliche Eingebung.«

»Wissen Sie, Herr Baker,« versetzte ich, »wenn man sich auf den Standpunkt des Katers stellt, scheint mir sein Vorurteil eigentlich ganz begreiflich. Haben Sie denn nie versucht, ihn davon zu heilen?«

»Wo denken Sie hin! Nein, wenn Tom Quarz sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, so blieb er dabei durch dick und dünn. Sie hätten ihn, wer weiß wie oft, in die Luft sprengen können, von seiner verfluchten Abneigung gegen den Quarzbau wäre er doch nicht abzubringen gewesen.«

Während Baker dies beredte Zeugnis für die festen Grundsätze seines alten Freundes ablegte, strahlte sein ganzes Gesicht vor Liebe und Stolz. Die Erinnerung daran wird mir stets unvergeßlich bleiben.

Mein Freund Dick Baker war auch sonst ein Tierfreund. In den Wäldern und Bergen des abgelegenen Winkels von Kalifornien hatte er sich mit den Vögeln und Vierfüßlern, welche dort heimisch sind, innig befreundet. Er war fest davon überzeugt, daß er jede Äußerung dieser Tiere verstand; ebenso wie jener amerikanische Gelehrte, der unlängst in eingehender Weise über die Sprache der Affen ein Werk geschrieben hat.

Dick Baker stellte in dieser Beziehung ganz bestimmte Behauptungen und Regeln auf. Einige Tiere, meinte er, haben nur geringe Bildung genossen, und bedienen sich daher einer ganz einfachen Ausdrucksweise, ohne Bilder und Gleichnisse; andere dagegen verfügen über einen großen Wortschatz, beherrschen die Sprache vollkommen und haben einen freien, fließenden Vortrag. Diese sprechen gern und viel; sie sind sich ihres Talentes bewußt und wollen es zur Geltung bringen. Nach langer und sorgfältiger Beobachtung war Baker zu der Überzeugung gekommen, daß es in der ganzen Tierwelt keinen besseren Redner giebt, als den Blauhäher.

»Ja,« sagte er, »hinter einen Blauhäher kommt man nicht so leicht! Man glaubt nicht, was fĂĽr Stimmungen und GefĂĽhle der hat und wie er sie alle auszudrĂĽcken versteht. Dabei spricht er nicht etwa alltägliches Zeug – nein, wie ein Buch – die schönsten Redewendungen strömen ihm nur so heraus. Mit der Sprache versteht er umzuspringen wie keiner; ihm fehlt nie ein Wort, das kommt gar nicht vor; ganz ungesucht flieĂźen sie ihm zu. Und noch ‚was habe ich bemerkt: Kein Vogel, keine Kuh oder sonst ein Geschöpf spricht so fein wie der Blauhäher! Eine Katze meint ihr? Jawohl, die spricht freilich fein – aber laĂźt sie einmal in Aufregung geraten! Wenn sie sich nachts mit einer andern Katze auf dem Dach rauft, dann hört zu, in was fĂĽr AusdrĂĽcken sie sich ergeht, – es wird einem ĂĽbel und weh dabei.

»Man kann den Häher wohl mit einem gewissen Recht zu den Vögeln zählen – weil er Federn hat, vielleicht auch weil er keine Steuern zahlt: aber in anderer Beziehung ist er ganz wie unsereins. Denn sehen Sie, ein Häher hat Triebe und Gaben, GefĂĽhle und Interessen, so gut wie ein Mensch. Ein Häher hat keine strengeren Grundsätze als ein RoĂźkamm. Er stiehlt, er lĂĽgt und betrĂĽgt, er hintergeht jeden wo er nur kann, kein noch so, feierliches Versprechen ist bindend fĂĽr ihn. Was Pflichttreue ist, kann man ihm nicht begreiflich machen. Der beste Beweis aber ist, daĂź ein Häher fluchen und schwören kann, wie kein LĂĽmmel weit und breit! – Eine Katze kann auch fluchen und schwören. Jawohl, das kann sie freilich – aber wenn ein Häher ‚mal richtig im Zuge ist, so vermag es keine Macht im Himmel und auf Erden mit ihm aufzunehmen. Im Zanken und Schelten ist er Meister, so derb und flink, daĂź niemand gegen ihn aufkommt.

»Was ein Mensch kann, das kann ein Blauhäher auch: Er kann weinen, lachen und sich schämen, er kann SchlĂĽsse und Pläne machen und seine Sache verfechten, er liebt Geschwätz und Klatschgeschichten, hat Sinn fĂĽr Humor, und wenn er einen dummen Streich gemacht hat, so weiĂź er’s besser als ich und Sie. Kurz, ein Häher ist ähnlich wie ein Mensch – das laĂź‘ ich mir nicht nehmen.

»Ich will Ihnen übrigens noch eine wahre Geschichte von den Blauhähern erzählen, für die ich mich verbürgen kann.

»Der Vorfall trug sich zu, als ich gerade anfing, die Hähersprache richtig zu verstehen.

»Der letzte Mensch, der auĂźer mir in dieser Gegend wohnte, ist vor sieben Jahren fortgezogen; sein Blockhaus nebenan steht seitdem leer, es hat nur ein groĂźes Zimmer und darĂĽber die rohen Balken und das Bretterdach. An einem Sonntag- Morgen saĂź ich nun einmal mit meiner Katze hier vor der HĂĽtte, sonnte mich, sah nach den blauen Bergen hinĂĽber, hörte das Laub der Bäume rauschen in der Einsamkeit und dachte an meine Heimat drauĂźen in der Welt – seit dreizehn Jahren wuĂźte ich nicht mehr, wie’s dort zuging. Da fliegt ein Häher mit einer Eichel im Schnabel auf das Blockhaus und sagt: ›Oho, was entdecke ich da?‹ DaĂź ihm bei diesen Worten die Eichel aus dem Schnabel fällt und natĂĽrlich vom Dach hinabrollt, kĂĽmmert ihn wenig, er ist einzig und allein mit seiner Entdeckung beschäftigt. Es war ein Astloch im Dach. Den Kopf auf die Seite gedreht, kneift er ein Auge zu, schaut mit dem andern in das Loch hinein, sieht dann vergnĂĽgt in die Höhe, lĂĽftet die FlĂĽgel ein paarmal vor innerm Wohlbehagen und sagt: ›Es sieht aus wie ein Loch, es ist wo ein Loch hingehört, – sollte es am Ende wirklich ein Loch sein?!‹ –

»Er hält den Kopf nach unten, guckt noch einmal hinein, blickt wieder auf, bewegt FlĂĽgel und Schwanz vor Freude und sagt: ›Ja, ja, es ist ganz richtig – bin ich ein GlĂĽckspilz! – ein Prächtiges, ordentliches Loch, gewiĂź und wahrhaftig!‹ Dann fliegt er auf den Boden, holt die Eichel herauf, wirft den Kopf zurĂĽck, und mit dem sĂĽĂźesten Lächeln der Welt läßt er sie hineinfallen. Er scheint zu lauschen, seine Miene wird ernsthafter, und voll komischer Verwunderung fĂĽgt er endlich: ›Ich hab‘ sie doch nicht fallen hören!‹ Wieder hält er das Auge ans Loch, schaut lange hinein, blickt dann auf und schĂĽttelt den Kopf. Dann versucht er’s von der andern Seite – abermaliges KopfschĂĽtteln. Um das ganze Loch marschiert er herum, besieht sich’s genau und schaut von allen Himmelsgegenden hinein. Umsonst! Nachdenklich sitzt er auf dem Dachfirst und kraut sich den Kopf mit dem rechten FuĂź, bis er zuletzt sagt: ›Das geht ĂĽber meine Begriffe! Das Loch muĂź wirklich gehörig tief sein! Aber länger kann ich mich nicht zum Narren machen, ich muĂź an die Arbeit. Die Sache wird schon ihre Richtigkeit haben, ich lasse es eben drauf ankommen.‹

»Er fliegt auf und davon, kommt mit einer zweiten Eichel wieder, läßt sie hineinfallen und hält schnell das Auge ans Loch, um zu sehen, was draus wird – aber zu spät. Wohl eine Minute lang schaut er hinein, dann blickt er seufzend auf: ›Alle Wetter, das ist doch zu toll, das versteh‘ ‚mal einer! – aber ich probier’s wieder.‹

»Bei der dritten Eichel thut er was er kann, um ihr noch schneller nachzusehen, aber vergebens. ›So ein Loch ist mir noch nicht vorgekommen,‹ sagt er, ›es muß wohl eine ganz neue Art sein, wie ich noch keins gesehen habe.‹

»Nun gerät er in Zorn. Zuerst bezwingt er sich noch, stolziert auf dem Dachfirst auf und ab, schĂĽttelt den Kopf und brummt in sich hinein; dann ĂĽbermannen ihn die GefĂĽhle und er fängt an zu schimpfen, bis er vor Ă„rger ordentlich schwarz wird. Noch nie hab‘ ich einen Vogel um so einer Kleinigkeit willen in solcher Wut gesehen. Wie er genug gewettert hat, geht er wieder ans Loch, sieht lange hinein und sagt dann: ›’s ist ein dunkles Loch, ein tiefes Loch und ein sehr komisches Loch, aber nun ich einmal angefangen hab‘ es zu fĂĽllen, will ich’s auch durchsetzen, und wenn’s hundert Jahre dauert.‹

»Fort fliegt er, und all‘ mein Lebtag hab‘ ich noch nie einen Vogel so arbeiten sehen wie den. Dritthalb Stunden ging das in einem fort. Eichel auf Eichel warf er ins Loch, kein einzigesmal schaute er mehr hinein, sondern flog nur immer hin und wieder. Ich war so voll Spannung und Aufregung, daĂź ich nichts anderes sah und dachte.

»Endlich ist er aber doch so abgearbeitet, daß er kaum noch die Flügel regen kann. In Schweiß gebadet kommt er herbeigeflogen, läßt die Eichel hineinfallen und sagt: ›Nun wirst du, denke ich, wohl genug haben, du altes Loch.‹

»Er steckte den Kopf hinein, und wie er wieder aufsieht, ist er ordentlich blaĂź vor Wut, – Sie können mir’s glauben, lieber Herr! – ›Ausstopfen sollen sie mich und ins Museum stellen,‹ schreit er, ›wenn ich auch nur eine Spur von den Eicheln entdecken kann, eine ganze Familie könnte sich dreiĂźig Jahre davon satt essen, so viel hab‘ ich hineingetragen!‹

»MĂĽhsam schleppt er sich auf den Dachfirst, lehnt sich an den Schornstein, ĂĽberdenkt die Sache und macht dann seinem Herzen Luft. Na, das hätten Sie hören sollen! So ‚was von Schimpfen und Schelten ist mir mein Lebtag nicht vorgekommen!

»Während er im besten Zuge ist, kommt ein anderer Häher vorbei geflogen, hält an und fragt, was es denn giebt. Sein, armer Freund trägt ihm die ganze Sache vor und sagt: ›Wenn du mir’s nicht glauben willst, so geh und sieh selbst nach, – da drĂĽben ist das Loch!‹

»Das thut der zweite Häher, und wie er alles genau betrachtet hat, kommt er zurĂĽck und fragt: ›Wie viele hast du denn eigentlich hineingeworfen?‘ – Wenigstens zwei Säcke voll,‹ versetzt jener.

»Der Häher geht abermals zum Loch und sieht hinein – es scheint ihm ganz unerklärlich; auf seinen Ruf kommen noch drei Häher herbei. Alle untersuchen das Loch, lassen sich die Geschichte erzählen und streiten hin und her, als ob ebenso viele Menschen ihre hohlköpfigen Ansichten zum Besten gäben.

»Noch mehr Häher werden herzugerufen, sie kommen in immer größeren Scharen geflogen, bis alles ringsumher ganz blau davon schimmert. Es mögen wohl an die fĂĽnftausend gewesen sein, und ein solches Lärmen, Hacken, Krähen und Schimpfen ist noch nie dagewesen. Jeder einzelne Häher hält das Auge ans Loch und alle kramen ihre Meinungen ĂĽber das rätselhafte Ereignis aus – eine immer unsinniger wie die andere. Dann wird das ganze Haus untersucht. Die ThĂĽre steht halb offen und ein alter Häher, der in die Nähe kommt, guckt zufällig hinein. Nun war’s mit dem Geheimnis auf einmal vorbei: da lagen alle die Eicheln auf dem ganzen Boden umhergestreut. Der Häher schlägt mit den FlĂĽgeln und erhebt ein Geschrei: ›Hierher,‹ ruft er, ›kommt alle her, der närrische Kerl hat das ganze Haus mit Eicheln fĂĽllen wollen!‹

»Da kamen sie herabgeschossen wie eine blaue Wolke; jeder geht zur Thüre, schaut hinein, und sobald ihm der ganze Unverstand des ersten Hähers klar wird, fällt er rücklings über und will vor Lachen bersten; dann kommt der nächste an die Reihe, guckt hinein und macht es ebenso.

»Hierauf saßen alle wohl über eine Stunde auf dem Hausdach und ringsum in den Bäumen und schüttelten sich vor Lachen, gerade wie die Menschen.

»Der Blauhäher hat viel Sinn fĂĽr Humor – das laĂź‘ ich mir nicht ausreden. Und ein gutes Gedächtnis hat er auch. Drei Jahre lang kamen Häher aus allen Staaten der Union jeden Sommer angeflogen, um in das Loch hinunterzusehen; auch andere Vögel brachten sie mit. Alle freuten sich an dem SpaĂź, nur eine alte Eule nicht, die auf einer Forschungsreise nach NaturmerkwĂĽrdigkeiten begriffen, unterwegs auch das wunderbare Loch besichtigen wollte. Sie sagte, sie könne nicht einsehen, was fĂĽr ein Witz dabei sei, – indes die andern MerkwĂĽrdigkeiten hatten auch nicht viel Eindruck auf sie gemacht.«

  1. Der amerikanische Blauhäher hat ein viel glänzenderes und buntfarbigeres Gefieder als unser gewöhnlicher Eichelhäher.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Die Vorlesung.

Nach mancher Irrfahrt befand ich mich endlich wieder zu Hause in San Francisco ohne Mittel und ohne Beschäftigung. Ich zermarterte mir das Hirn, um einen Plan zu finden, der mich retten könnte und verfiel zuletzt darauf, eine öffentliche Vorlesung zu halten. In fieberhafter Erregung setzte ich mich voll Hoffnung hin und schrieb einen Vortrag nieder. Ich zeigte ihn verschiedenen Freunden, aber sie schĂĽttelten alle die Köpfe und meinten, höchst wahrscheinlich wĂĽrde niemand kommen, um mir zuzuhören und ich wĂĽrde beschämt wieder abziehen mĂĽssen. Aber selbst im Fall die Vorlesung zu stande käme, mĂĽĂźte sie schmählich miĂźlingen, da ich ja nie zuvor öffentlich gesprochen hätte. Das machte mich ganz trostlos. Endlich jedoch klopfte mir ein Redakteur vertraulich auf den RĂĽcken und meinte: »Ich will Ihnen ‚was sagen! Mieten Sie den größten Saal in der Stadt und fordern Sie einen Dollar Eintrittsgeld. Bange machen gilt nicht.«

Die Tollkühnheit des Vorschlags reizte mich, umsomehr als viel praktische Weisheit und Weltkenntnis darin lag. Auch ein Theaterbesitzer hielt den Rat für gut und bot mir sein großes neues Opernhaus für fünfzig Dollars an – die Hälfte des gewöhnlichen Preises. Aus reiner Verzweiflung ging ich darauf ein und mietete es auf Kredit – aus triftigen Gründen. In drei Tagen ließ ich nun für 150 Dollars Anzeigen und Zettel drucken und war wohl das verzagteste und geängstetste Menschenkind an der ganzen Küste des stillen Ozeans. Schlafen konnte ich nicht, das wäre wohl unter solchen Umständen niemand möglich gewesen. Wenn andern Leuten die letzte Zeile meines Anschlagzettels vielleicht scherzhaft erschienen ist, so hatte sie doch für mich einen sehr kläglichen Anstrich; mir war furchtbar beklommen zu Mute, als ich schrieb:

»Die Thüren werden um 7 ½ Uhr geöffnet.
Um 8 Uhr beginnt das Unheil.«

Der Satz hat manchem seither gute Dienste geleistet. Besitzer von Schaubuden haben ihn mir abgeborgt und einmal fand ich ihn sogar am Schluß einer Anzeige, durch welche den Schulzöglingen der Beginn des neuen Kursus nach den Ferien angekündigt wurde.

Während die drei Tage in peinlicher Erwartung langsam vergingen, wurde ich immer unglücklicher. Ich hatte zweihundert Eintrittskarten an meine persönlichen Bekannten verkauft, aber ich fürchtete, sie würden sämtlich fortbleiben. Meine Vorlesung, die mir zuerst humoristisch vorgekommen war, wurde von Stunde zu Stunde langweiliger und trübseliger, bis auch nicht mehr der Schatten eines Witzes darin zu entdecken war und ich bedauerte, daß ich nicht einen Sarg auf die Bühne bringen und die ganze Geschichte in ein Leichenbegängnis verwandeln konnte.

Zuletzt befiel mich eine solche Höllenangst, daß ich mich entschloß, drei alte Freunde – gutherzige Gemüter und wahre Riesengestalten – aufzusuchen, welche Stimmen besaßen, die dem Brüllen des Sturmwinds glichen.

»Hört einmal,« sagte ich zu ihnen, »ich falle gewiß mit der Sache durch; die Witze sind so tiefsinnig, daß kein Mensch sie verstehen wird. Würdet ihr mir wohl den Gefallen thun, euch ins Parkett zu setzen, um mir Beistand zu leisten?«

Als sie dies versprochen hatten, ging ich zu der Frau eines bekannten und beliebten Bürgers, die ich bat, mit ihrem Manne in der Loge links von der Bühne Platz zu nehmen, wo alle Welt sie sehen könne. Ich stellte ihr vor, wie sehr ich ihrer Hilfe bedürfe und machte mit ihr aus, ich würde mich jedesmal nach ihr hinwenden und lächeln, zum Zeichen, daß ich einen schwerverständlichen Witz losgelassen hätte; »dann aber grübeln Sie, bitte, nicht lange darüber nach,« fügte ich hinzu, »sondern folgen Sie meinem Wink.«

Sie gab mir ihre Zusage und ich entfernte mich. Auf der StraĂźe begegnete mir ein Mann, den ich noch niemals gesehen hatte. Er war angetrunken und strahlte vor GutmĂĽtigkeit.

»Mein Name ist Sawyer,« sagte er, »Sie kennen mich nicht, doch das ist einerlei. Ich habe keinen Cent in der Tasche, aber wenn Sie wüßten, wie gern ich einmal lachen möchte, so schenkten Sie mir sicherlich ein Billet. Na, was meinen Sie dazu?«

Statt der Antwort fragte ich: »Wie verhält es sich denn mit Ihren Lachmuskeln? Ich meine – platzen Sie leicht heraus oder sind Sie sehr wählerisch in betreff der Späße?«

Meine langsame, gedehnte Sprechweise kam ihm so komisch vor, daß er sogleich einige Proben seiner Lachkunst zum Besten gab; ich sah, es war gerade die Sorte, welche ich brauchte. So schenkte ich ihm denn ein Billet in der Mitte der zweiten Abteilung, für die er alle Verantwortlichkeit übernahm, und belehrte ihn darüber, wie er etwaige, undeutliche Scherze erkennen könne. Als wir uns trennten, kicherte er wohlgefällig über die Neuheit des Planes.

An dem letzten der drei schicksalsschweren Tage aß ich keinen Bissen – ich litt nur Qualen. An diesem Tage sollte der Verkauf der reservierten Logenplätze stattfinden. Als ich mich gegen vier Uhr nachmittags an die Theaterkasse schlich, um zu sehen, ob Eintrittskarten gelöst worden seien, fand ich sie verschlossen – der Billetverkäufer hatte sich entfernt. Ich mußte heftig schlucken, denn das Herz schlug mir bis in den Hals hinauf. »Also, gar nichts verkauft,« sagte ich mir; »das hätte ich vorher wissen können.« Ich dachte in vollem Ernst daran, die Flucht zu ergreifen, Krankheit vorzuschützen, oder einen Selbstmord zu begehen, so erbärmlich war mir zu Mute. Aber natürlich mußte ich mir das alles aus dem Sinn schlagen und meinem Schicksal die Stirne bieten. Es war mir unmöglich, bis halb 7 Uhr zu warten, ich mußte dem Greuel ins Angesicht sehen und damit fertig werden. Ähnliche Gefühle mag ein Mensch haben, der gehängt werden soll.

Um sechs Uhr ging ich auf Nebenwegen nach dem Theater und trat durch eine HinterthĂĽr ein. Ich stolperte an Reihen von Leinwandkoulissen vorĂĽber nach der BĂĽhne und sah den Zuschauerraum dĂĽster und stumm, in entsetzlicher Leere vor mir liegen. Darauf zog ich mich wieder in das Dunkel hinter die Koulissen zurĂĽck und verharrte dort anderthalb Stunden, in Grauen und Entsetzen versunken; fĂĽr die ganze ĂĽbrige Welt war mir jedes BewuĂźtsein geschwunden.

Plötzlich vernahm ich ein Geräusch, das sich immer mehr steigerte; lauter und lauter wurde das Gemurmel und endete mit einem Krach, in den sich Hochrufe mischten. Der wahrhaft betäubende Lärm erhob sich jetzt ganz in meiner Nähe und ich fühlte, daß mir die Haare zu Berge standen. Nun folgte eine Pause, dann kam ein abermaliges Hoch und gleich darauf ein drittes. Ehe ich noch recht wußte, wie mir geschah, befand ich mich mitten auf der Bühne, vor mir wogte ein Meer von Gesichtern, der helle Glanz der Lichter verwirrte mich und ich zitterte an allen Gliedern vor tödlichem Schrecken. Das ganze Haus war gedrängt voll, selbst die Gänge zwischen den Sitzreihen.

Es dauerte eine volle Minute, bis sich meine Aufregung in Kopf, Herz und Beinen beruhigt hatte und ich meine Selbstbeherrschung einigermaßen wieder gewann. Ich las Wohlwollen und Freundlichkeit in allen Gesichtern, meine Furcht verschwand allmählich und ich begann zu sprechen. Schon nach drei bis vier Minuten fühlte ich mich ganz behaglich und zufrieden. Meine drei Hauptverbündeten waren mit drei Gehilfen zur Hand; sie saßen beieinander im Parkett mit Knotenstöcken bewaffnet und kampfbereit, um beim geringsten Scherzwort zum Angriff zu schreiten. Bei jedem Witz, den ich zum Besten gab, stießen sie mit den Stöcken gewaltig auf den Boden und verzogen den Mund von einem Ohr zum andern. Sawyer, dessen treuherziges Gesicht sich mitten in der zweiten Abteilung rötlich abhob, stimmte in ihr Gelächter ein und das ganze Haus wurde zum Beifall fortgerissen. Selbst die mittelmäßigsten Witze erzielten eine nie geahnte Wirkung.

Nach einer Weile kam ich an eine ernsthafte Stelle, die ich mit groĂźer Salbung vortrug; es war mein LeibstĂĽck und die Zuhörerschaft lauschte in atemlosem Schweigen, was mir wohlthuender war als der rauschendste Beifall. Bei dem letzten Wort meiner Einschaltung wandte ich mich zufällig und begegnete dem aufmerksam und erwartungsvoll aus mich gerichteten Auge der Frau K. – Mein neuliches Gespräch mit ihr fiel mir plötzlich ein und wie sehr ich mich auch zusammennahm‘, ich konnte ein Lächeln nicht unterdrĂĽcken. Sie hielt dies fĂĽr unser verabredetes Zeichen und brach sogleich in ein wohlklingendes Gelächter aus, von welchem sich die ganze Zuhörerschar anstecken lieĂź. Die Explosion, die nun erfolgte, bildete den Triumph des ganzen Abends. Ich fĂĽrchtete schon, der wackere Sawyer wĂĽrde vor Lachen ersticken, und die Knotenstöcke arbeiteten, als gälte es Pfähle einzurammen. Mein armes biĂźchen Pathos war freilich zu Grunde gerichtet; man hielt es in gutem Glauben fĂĽr einen beabsichtigten Witz und zwar fĂĽr die Krone der ganzen Unterhaltung. Ich war natĂĽrlich klug genug, den Irrtum nicht aufzuklären.

Alle Zeitungen brachten am andern Morgen freundliche Besprechungen; meine Eßlust kehrte zurück und ich hatte Geld in Hülle und Fülle. Ende gut – alles gut.

Aus meiner Knabenzeit.

Aus meiner Knabenzeit.

I.

Als ich nach neunundzwanzigjähriger Abwesenheit (1882) meinem Heimatort einen kurzen Besuch machte, fand ich daselbst ebensoviel anders geworden, wie überhaupt am ganzen Mississippi. Die Stadt Hannibal, wie sie früher gewesen, stand mir noch klar und lebhaft im Gedächtnis, ich hätte sie malen können. Ich trat ans Ufer und mir war zu Mute wie einem Menschen aus einer längst begrabenen Generation, der wieder unter den Lebenden wandelt. Ein ähnliches Gefühl müssen, denke ich, die Gefangenen der Bastille gehabt haben, wenn sie nach jahrelanger Kerkerhaft ans Licht des Tages kamen und sich nun in Paris umschauten, wo ihnen alles so fremd und doch so vertraut war.

Wohl sah ich die neuen Häuser – sie standen ja leibhaftig vor mir – aber die Bilder aus alter Zeit, die in meiner Erinnerung lebten, berührte das nicht; durch die festgefügten Mauern hindurch sah ich die alten Häuser, die ehemals an ihrem Platz gestanden, mit größter Deutlichkeit.

Es war Sonntag-Morgen und alles lag noch in den Federn. So schritt ich denn durch die leeren Straßen, sah die Stadt nicht wie sie ist, sondern wie sie war und begrüßte im Geist hundert mir wohlbekannte Gegenstände, die vom Erdboden verschwunden waren. Schließlich stieg ich den Holiday-Hügel hinauf, um einen weiten Überblick zu gewinnen. Nun lag die ganze Stadt zu meinen Füßen ausgebreitet und ich konnte jedes Gebäude, jede einzelne Örtlichkeit genau bestimmen. Natürlich hatte ich Mühe, meine Rührung zu bemeistern. Ich sagte mir: »Von den Leuten, die ich einst in diesem friedlichen Hafen meiner Kindheit gekannt habe, sind schon viele in den Himmel gegangen, manche aber auch sicherlich nach einem andern Ort der Vergeltung.«

Alles, was ich rings um mich sah, rief meine Knabengefühle wieder wach; ich war überzeugt, ich sei noch ein Knabe und hätte nur einen ungewöhnlich langen Traum gehabt. Allein, sobald ich anfing zu überlegen, schwand diese Vorstellung. »Da drüben stehen etwa fünfzig alte Häuser,« sagte ich zu mir, »und ich brauche nur einzutreten, um überall Männer und Frauen zu finden, die noch in der Wiege lagen oder nicht geboren waren, als ich zuletzt von hier oben hinabschaute, vielleicht sogar eine Großmutter, die damals eine blühende junge Braut war.«

Man hat von jener Anhöhe aus einen unbegrenzten Blick den Fluß hinauf und hinunter und über die großen Waldungen von Illinois; die Aussicht ist wunderschön, fast möchte ich sagen, eine der schönsten am Ufer des Mississippi, aber das ist eine kühne Behauptung, denn die 800 Meilen, die der Fluß von St. Paul nach St. Louis durchläuft, bieten eine ununterbrochene Reihe der reizendsten Landschaftsbilder. Möglich, daß meine Vorliebe für die in Frage stehende Aussicht mein Urteil beeinflußt – ich weiß es nicht gewiß. Jedenfalls gewährte sie mir die vollste Befriedigung, denn sie hatte vor allem andern Lieben und Bekannten, was ich wiedersehen sollte, eines voraus – sie war ganz unverändert. So jung und frisch, so reizend und anmutig sah ich sie vor mir, wie sie je gewesen, während die Gesichter meiner ehemaligen Freunde natürlich alt sein mußten und voller Narben vom Kampf des Lebens. Sie alle trugen wohl Spuren ihrer Niederlagen und Kümmernisse und konnten mein Gemüt nicht erheben.

Ein alter Herr, der auf seinem Morgenspaziergang begriffen war, kam jetzt herbei. Wir tauschten zuerst unsere Bemerkungen über das Wetter aus und gerieten dann auf andere Unterhaltungsstoffe. Sein Gesicht war mir unbekannt; er sagte, er wohne schon 28 Jahre hier am Ort, das war nach meiner Zeit, ich hatte ihn also noch nie gesehen. Ich zog nun allerlei Erkundigungen ein; zuerst fragte ich nach einem meiner Kameraden aus der Sonntagsschule – was wohl aus ihm geworden wäre.

»Er ging mit Ehren von einer Universität im Osten ab, dann zog er in die weite Welt, doch nirgends wollte es ihm glücken; jetzt ist er längst aus aller Gedächtnis geschwunden, man glaubt, er sei gestorben und verdorben.«

»Er war ein begabter Junge, der zu den besten Hoffnungen berechtigte.«

»Jawohl, aber in Erfüllung gegangen sind sie nicht.«

Nun fragte ich nach einem andern meiner MitschĂĽler, dem klĂĽgsten im ganzen Ort.

»Auch seine Studien im Osten waren vom besten Erfolg gekrönt, aber im Leben hat er bei jedem Kampf den kürzeren gezogen; schon vor Jahren ist er irgendwo in den Territorien gestorben – ein gebrochener Mann.«

Ich erkundigte mich nach einem dritten begabten Jungen.

»Dem ist’s gut gegangen, alles gelingt ihm, ich glaube es wird ihm immer glĂĽcken.«

Hierauf fragte ich nach einem jungen Mann, der damals gerade in die Stadt gekommen war, um sich in seinem Beruf auszubilden.

»Er hat umgesattelt, ehe er noch fertig war – erst wollte er Advokat werden, dann Mediziner, dann noch etwas anderes. Ein Jahr lang war er fort, kam mit einer jungen Frau wieder, ergab sich dem Trunk, später auch dem Spiel; endlich brachte er seine Frau und zwei kleine Kinder zu ihrem Vater zurück und ging nach Mexico, sank immer tiefer herunter und starb dort, ohne einen Cent, um das Bahrtuch zu bezahlen, ohne einen Freund, der seiner Leiche folgte.«

»Schade um ihn – es war der gutmütigste Mensch von der Welt, immer heiter und hoffnungsvoll.«

Von einem andern Knaben, den ich nannte, hieĂź es:

»O, mit dem ist alles in Ordnung; er hat Frau und Kinder und sein gutes Fortkommen.«

Derselbe Bescheid ward mir noch ĂĽber viele meiner frĂĽheren Kameraden.

Nun fragte ich nach drei MitschĂĽlerinnen:

»Die beiden ersten leben hier mit Mann und Kindern, die dritte ist schon lange tot – geheiratet hat sie nicht.«

Mit Herzklopfen nannte ich jetzt den Namen einer meiner frĂĽhesten Flammen.

»Der geht’s gut. Sie war dreimal verheiratet. Zwei Männer hat sie begraben, vom dritten ist sie geschieden und ich höre, daĂź sie jetzt einen alten Menschen nehmen will, der irgendwo drauĂźen in Colorado lebt. Ihre Kinder sind in der ganzen Welt verstreut.«

Auf einige Fragen lautet die Antwort sehr kurz:

»Im Kriege gefallen.«

Von einem Knaben, nach welchem ich fragte, hieĂź es:

»Mit dem ist’s seltsam gegangen! Jedermann in der ganzen Stadt wuĂźte, daĂź der Junge der reinste Strohkopf war, ein Dummrian erster Sorte, ein Esel, der seinesgleichen nicht hatte. Das war allbekannt, kein Mensch zweifelte daran. Und was ist aus ihm geworden? – denken Sie nur: der angesehenste Advokat im ganzen Staate Missouri.«

»Wahrhaftig?!«

»Wie ich Ihnen sage. Es ist die lauterste Wahrheit.«

»Wie läßt sich das aber erklären?«

»Erklären läßt sich’s gar nicht. Man sieht nur daraus, daĂź die Leute in St. Louis nicht von selbst auf den Gedanken kommen, daĂź einer ein Hansnarr ist, wenn man’s ihnen nicht zuvor sagt. Eins ist sicher – hätte ich einen Hansnarren zu versorgen, ich schickte ihn gleich mit Dampf nach St. Louis, dort ist der beste Markt fĂĽr dergleichen Ware. – Was sagen Sie dazu – steht einem nicht der Verstand still, wenn man’s recht bedenkt? Ich muĂź gestehen, mir ist etwas so Unerhörtes nicht wieder vorgekommen.«

»Freilich, es scheint verwunderlich. Aber, glauben Sie nicht, daß man den Jungen in Hannibal vielleicht falsch beurteilt hat und daß die Leute in St. Louis ihn richtiger zu würdigen wissen?«

»Wo denken Sie hin! Hier kennt man ihn ja von klein auf und tausendmal besser als die Schafsköpfe in St. Louis. Nein, Nein, folgen Sie nur meinem Rat und schicken Sie alle Hansnarren nach St. Louis, dort findet die Ware Absatz.«

Ich fragte nun noch nach vielen meiner frĂĽheren Bekannten. Sie waren gestorben oder fortgezogen; manche hatten GlĂĽck gehabt, andere nichts als Verluste; auf etwa ein Dutzend Fragen erhielt ich die beruhigende Antwort:

»Die sind wohl auf – wohnen hier – die ganze Stadt ist voll von ihren Kindern.«

»Wie geht’s Fräulein B.,« fragte ich.

»Sie starb vor drei Jahren im Irrenhaus – ist seit dem Tage ihrer Aufnahme dort nicht wieder herausgekommen; es war an keine Heilung zu denken, sie ist immer gestört geblieben.«

Dies bezog sich auf ein entsetzliches Trauerspiel, das sich in meiner frühesten Kindheit zutrug. Sechsunddreißig Jahre im Irrenhaus – bloß weil sich ein paar Thörinnen einen dummen Spaß machen wollten! Ich sehe die leichtfertigen jungen Dinger noch auf den Fußspitzen ins Zimmer schleichen, wo Fräulein B. um Mitternacht lesend bei der Lampe saß. Eins der Mädchen hatte sich das Gesicht mit Mehl gepudert und ein Leintuch umgebunden. Sie glitt dicht zu der Lesenden heran und berührte ihr Opfer an der Schulter. Was Fräulein sah auf, stieß einen Schrei aus und verfiel in Krämpfe. Von dem Schreck hat sie sich nie wieder erholt – sie wurde wahnsinnig. Heutzutage scheint es uns unbegreiflich, daß man noch vor so kurzer Zeit an Gespenster geglaubt haben soll. Aber es war wirklich der Fall.

Nachdem ich nach allen Leuten gefragt hatte, die mir einfielen, erkundigte ich mich zuletzt nach mir selber.

»O, dem ist’s auch geglĂĽckt – das ist wieder so ein Beispiel von einem Hansnarren. Hätte man ihn nach St. Louis spediert, er wĂĽrde es frĂĽher zu etwas Ordentlichem gebracht haben.«

Es war doch sehr weise gewesen, daĂź ich dem offenherzigen alten Herrn gleich anfangs gesagt hatte, mein Name sei Smith.

II.

Mein Gefährte verlieĂź mich nun, und ich fuhr fort, die alten Häuser der Stadt drunten zu betrachten und mir ihre Bewohner aus vergangenen Tagen ins Gedächtnis zu rufen. Mein Blick fiel jetzt auf Lew Hackett’s Elternhaus und ich sah mich in eine Zeitperiode zurĂĽckversetzt, in welcher die Menschen mit ihren Erlebnissen nicht der natĂĽrlichen und folgerichtigen Entwicklung allgemeiner Gesetze unterworfen zu sein glaubten, sondern den besonderen Anordnungen einer Vorsehung, welche sie strafen oder warnen wollte.

Als ich noch ein kleiner Knabe war, ertrank Lem Hackett – an einem Sonntag. Er fiel aus einem leeren, flachen Boot, in dem er spielte, und da er voll SĂĽnden war, sank er wie ein Ambos bis auf den Grund. Er war im ganzen Städtchen der einzige Knabe, welcher in der darauffolgenden Nacht schlief; wir andern alle waren wach und thaten BuĂźe. Es hätte dazu wahrlich nicht erst der Belehrung bedurft, die uns am Abend von der Kanzel herab zuteil wurde, nämlich, daĂź Lems Tod die Folge eines besonderen göttlichen Gerichtes sei. In jener Nacht brach ein schreckliches Gewitter aus, das ohne Aufhören bis zum Morgen währte: der Wind wehte heftig, die Fenster zitterten, der Regen fiel klatschend und in Strömen auf die Dächer; jeden Augenblick erhellte ein Blitz mit blendendem Lichte die tintenschwarze Finsternis drauĂźen, und auf diesen folgte ein krachender Donnerschlag, der alles in der Nachbarschaft in Splitter und Fetzen zu reiĂźen schien. Zitternd und schaudernd saĂź ich im Bett und wartete auf den offenbar bevorstehenden Untergang der Welt. Ich fand nichts Ungereimtes darin, daĂź der Himmel Lem Hacketts wegen einen solchen Höllenlärm machte: es war das meiner Anficht nach ganz gehörig und in Ordnung. Ich zweifelte keinen Augenblick, daĂź die Engel versammelt waren, den Tod dieses Knaben erörterten und dem schrecklichen Bombardement unseres Städtchens mit Befriedigung und Billigung zusahen. Eines beunruhigte mich dabei auf’s höchste – das war der Gedanke, daĂź diese Konzentration des himmlischen Interesses auf unser Städtchen unfehlbar die Aufmerksamkeit der ĂĽberirdischen Beobachter auf Leute unter uns lenken muĂźte, die sonst der Beobachtung vielleicht Jahre lang entgangen wären. Ich fĂĽhlte, daĂź ich nicht nur zu diesen Leuten gehörte, sondern daĂź gerade ich am allerwahrscheinlichsten entdeckt werden wĂĽrde. Diese Entdeckung konnte nur eine Folge haben: daĂź ich zu Lem ins höllische Feuer käme, noch ehe er dort recht zu sich gekommen und warm geworden war. Ich wuĂźte, daĂź mir ganz nach Recht und Billigkeit geschähe. Dabei vergrößerte ich fortwährend die Chancen gegen mich, indem ich eine geheime Bitterkeit gegen Lem hegte, weil er diese verhängnisvolle Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatte, aber ich konnte einmal nicht anders – dieser sĂĽndige Gedanke setzte sich mir zum Trotz in meinem Busen fest. So oft es blitzte, hielt ich den Atem an und glaubte mich verloren. In meinem schrecklichen Elend begann ich in gemeiner Weise auf andere Knaben hinzudeuten und Thaten von ihnen zu erwähnen, die verruchter seien als meine und besonders der Strafe bedĂĽrften – und ich versuchte mir einzureden, daĂź ich das bloĂź so zufällig thäte und ohne die Absicht, die himmlische Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, um mich selbst ihr zu entziehen. Mit tiefem Scharfsinn gab ich diesen Denunziationen die Form betrĂĽbter Erinnerungen und linkischer FĂĽrbitten, daĂź die SĂĽnden jener Knaben nicht heimgesucht werden möchten – »denn sie könnten sie ja möglicherweise bereuen.« »Es ist wohl wahr, (sprach ich in Gedanken,) daĂź Jim Smith ein Fenster zerbrach und es dann leugnete – aber vielleicht that er es nicht in böser Absicht. Und wenn auch Tom Holmes garstigere Worte gebraucht als irgend ein anderer Knabe im Städtchen, so wird er doch vielleicht in sich gehen und bereuen – wenn er das auch nie gesagt hat. Und obwohl es Thatsache ist, daĂź John Jones einmal an einem Sonntag ein wenig fischte, so fing er ja doch nichts als einen einzigen nutzlosen SchlammbeiĂźer; und das wäre am Ende nicht so schrecklich gewesen, wenn er ihn wieder ins Wasser geworfen hätte, wie er behauptet – was aber leider nicht wahr ist. Schade, daĂź sie diese schrecklichen Dinge nicht bereuen wollten – vielleicht thun sie es aber noch.«

Während ich so listig die Aufmerksamkeit auf jene armen Burschen lenkte, – die zweifellos im selben Augenblick die himmlische Aufmerksamkeit mir zuwandten, obwohl ich das damals durchaus nicht argwöhnte, – hatte ich achtlos meine Kerze brennen lassen. Die Zeit war nicht danach angethan, daß man selbst geringfügige Vorsichtsmaßregeln hätte vernachlässigen dürfen; es war kein Grund vorhanden, mich selbst noch auffällig zu machen, und so löschte ich denn das Licht aus.

Das war eine lange, lange Nacht – vielleicht die angstvollste, die ich je verbracht habe. Ich litt Folterqualen der Reue über Sünden, von denen ich wußte, daß ich sie begangen hatte, und für andere, bezüglich deren ich nicht so gewiß, aber überzeugt war, daß sie in ein Buch eingetragen worden von einem Engel, der, weiser als ich, so wichtige Dinge nicht dem Gedächtnis anvertraute. Nach und nach kam ich zu der Einsicht, daß ich in einer Beziehung einen thörichten und unheilvollen Irrtum begangen hatte: zweifellos hatte ich dadurch, daß ich die Aufmerksamkeit auf jene andern Knaben lenkte, nicht nur meinen eigenen Untergang sicher beschworen, sondern auch den ihrigen bereits verursacht! – Zweifellos hatte sie mittlerweile der Blitz alle in ihren Betten niedergestreckt! Die Angst und der Schreck, den dieser Gedanke mir einjagte, ließ mir die vorhergehenden Leiden vergleichsweise geringfügig erscheinen.

Der Stand der Dinge war bedenklich geworden. Ich beschloß, mich der Sünde in jeder Form zu enthalten und fortan ein reines, tadelloses Leben zu führen. Ich wollte pünktlich in der Kirche und Sonntagsschule sein, die Kranken besuchen, Körbe mit Lebensmitteln zu den Armen tragen (bloß um die vorschriftsmäßigen Bedingungen zu erfüllen, obgleich ich wußte, daß bei uns niemand so arm war, daß man mir nicht überall den Korb an den Kopf geschmissen hätte); ich wollte andere Knaben auf den rechten Weg weisen und die daraus sich ergebenden Neckereien in Geduld ertragen; ich wollte nur noch Traktätchen lesen, wollte die Branntweinhöhlen aufsuchen und die Trunkenbolde ermahnen – und schließlich, falls ich dem Schicksal jener entginge, die vorzeitig ›fürs Leben zu gut werden‹, wollte ich als Missionär in ferne Lande ziehen.

Gegen Tagesanbruch legte sich der Sturm und ich schlummerte nach und nach ein, mit einem Gefühl der Verpflichtung gegen Lem Hackett, weil er in dieser jähen Weise in die ewige Qual eingegangen war und so ein weit entsetzlicheres Unheil abgewendet hatte – nämlich meinen eigenen Untergang. Als ich aber des Morgens, vom Schlaf erquickt, aufstand und fand, daß die andern Knaben sämtlich noch am Leben waren, hatte ich ein unbestimmtes Gefühl, die ganze Geschichte möchte doch nur ein falscher Alarm gewesen und der ganze Trubel nur Lem Hacketts und sonst niemands wegen entstanden sein. Die Welt sah so heiter und sicher aus, baß wirklich kein Grund vorhanden schien, ein neues Leben anzufangen. Ich war den Tag über und auch am nächsten Tage etwas gedrückter Stimmung; dann aber kam mir mein Vorsatz zur Besserung allmählich aus dem Sinn, und es war mir wieder ruhig und behaglich zu Mute – bis zum nächsten Sturm.

Dieser Sturm kam drei Wochen später und ich habe mir seinen Zweck nie recht erklären können, denn am Nachmittag jenes Tages war ›Dutchy‹ ertrunken. So nannten wir einen deutschen Jungen aus der Sonntagsschule, der furchtbar tugendhaft war und ein fabelhaftes Gedächtnis hatte; im übrigen sich aber selten zu raten und zu helfen wußte. Eines Sonntags erregte er den Neid der gesamten Dorfjugend und die Bewunderung aller Erwachsenen, denn er sagte dreitausend Bibelsprüche in einem Zuge her, ohne nur einmal zu stocken. Und gleich tags darauf ertrank er jämmerlich.

Das kam nämlich so: Wir badeten alle in einer schlammigen Bucht und wollten versuchen, wer beim Tauchen den Kopf am längsten unter Wasser halten könnte. In der Bucht war ein tiefes Loch, in dem die Böttcher ihre Stäbe zu Faßreifen einzuweichen pflegten. Der Haufen lag etwa zwölf Fuß unter Wasser und wir hielten uns beim Tauchen an den Stäben fest. ›Dutchy‹ benahm sich dabei so ungeschickt, daß er immer mit Spott und Gelächter empfangen wurde, so oft sein Kopf aus der Flut hervorkam. Das verdroß ihn endlich und er bat uns, am Ufer stehen zu bleiben und ganz ehrlich zu zählen, wie lange er es aushalten könne. »Jawohl, ›Dutchy‹, nur zu! – wir verzählen uns nicht,« schrieen wir alle, wechselten dabei aber verstohlene Blicke, die nichts Gutes weissagten. ›Dutchy‹ tauchte, unter; wir Jungen aber versteckten uns rasch hinter einem nahen Brombeergebüsch. Wenn ›Dutchy‹, nachdem er sich übermenschlich angestrengt hatte, wieder auf die Oberfläche kam, sollte er den Platz leer finden und keinen Menschen, der ihm Beifall klatschte. Der Gedanke machte uns soviel Spaß, daß wir vor unterdrücktem Lachen zu ersticken meinten. Nach einer Weile guckte einer der Kameraden durch das Gesträuch.

»Hört ‚mal,« sagte er verwundert, »noch ist er nicht wieder oben.«

»Aber, der taucht einmal gut!«

»Na, um so gelungener ist dann der Spaß!« Es entstand eine Pause, wir lauschten mit verhaltenem Atem und zuletzt malte sich Furcht und Bangigkeit in allen Mienen. Noch immer lag das Wasser in unbeweglicher Ruhe da. Mit lautklopfendem Herzen schlichen wir ans Ufer zurück und starrten entsetzt bald ins Wasser, bald einander in die bleichen Gesichter.

»Einer von uns muß hinunter, um nachzusehen.«

Das war klar, aber jedem graute davor.

»Das Los soll entscheiden.«

Mit zitternden Händen suchten wir Strohhalme, um das Schicksal zu befragen. Das Los traf mich und ich sprang ins Wasser. Es war so trübe, daß ich nichts sehen konnte, ich fühlte nur unter den Stäben umher und bekam plötzlich eine leblose Hand zu fassen. In tödlichem Schrecken ließ ich sie fahren und rettete mich wieder ans Tageslicht.

Der Knabe war zwischen die Stäbe geraten und da hilflos stecken geblieben. Ich verkündete die entsetzliche Nachricht, doch dachten wir nicht daran, den Ertrunkenen schnell herauszuziehen, damit er vielleicht noch zum Leben erweckt werden könne. Die kleineren Buben schrieen jämmerlich und jeder suchte so rasch wie möglich in seine Kleider zu kommen; wir zogen die ersten besten an, meist das Unterste zu oberst, das Innere nach außen. Dann trabten wir eilig davon und verbreiteten die Unglückskunde, aber keiner von uns kehrte wieder mit um. Wir wollten das Ende des Trauerspiels nicht sehen, wir hatten etwas Wichtigeres zu thun, nämlich ohne einen Augenblick zu verlieren nach Hause zu laufen und ein besseres Leben zu beginnen.

Bald brach die Nacht herein und dann kam das schreckliche und mir ganz unverständliche Gewitter. Es mußte entschieden auf einem Irrtum beruhen, anders ließ es sich nicht erklären. Alle Elemente waren entfesselt, der Sturm raste in blinder Wut, die Blitze zuckten und der Donner tobte wie unsinnig. Ich hatte Mut und Hoffnung völlig verloren; verzweifelnd dachte ich bei mir: »Wenn ein Junge, der dreitausend Bibelsprüche auswendig kann, nicht fromm genug ist, wer soll dann dem Verhängnis entrinnen?«

Natürlich zweifelte ich keinen Augenblick, daß der Sturm einzig und allein ›Dutchys‹ wegen ausgebrochen sei; daß er, oder irgend ein anderes gleich unbedeutendes Wesen, einer so erhabenen Kundgebung aus der Höhe nicht wert sei, kam mir nicht von fern in den Sinn. Mich beunruhigte nur die Lehre, die ich daraus ziehen mußte. Wenn ›Dutchy‹, trotz all seiner Tugend, nicht Gnade fand, so war es für mich ein ganz vergebliches Bemühen, ein neues Leben anzufangen, ich konnte ja nun und nimmermehr hoffen, so vortrefflich zu werden wie er. Dennoch schien es mir rätlich, den Versuch der Besserung zu machen. Als nun aber Tage voll Sonnenschein und Heiterkeit folgten, hatte ich alle guten Vorsätze vergessen noch ehe ein Monat um war, und fühlte mich in meiner sündhaften Verstocktheit so behaglich wie je zuvor.

*

Während ich mir jene alten Erlebnisse ins Gedächtnis zurückrief und allerlei Betrachtungen daran knüpfte, war die Frühstücksstunde herbeigekommen. Ich versetzte mich wieder in die Gegenwart zurück und ging den Hügel hinunter.

Auf dem Wege nach dem Hotel kam ich auch an dem Hause vorbei, das wir zu meiner Knabenzeit bewohnten. Seine jetzigen Insassen sind heutzutage nicht mehr wert als ich, aber zu jener Zeit hätten sie mindestens fünfhundert Dollars die Person gegolten. Es waren nämlich Farbige.

Nach dem Frühstück ging ich aus, um einige Sonntagsschulen zu besichtigen und die Leistungen ihrer jetzigen Zöglinge mit denen meiner damaligen Mitschüler zu vergleichen. Die Kinder waren besser gekleidet und sahen sauberer aus als wir vor Zeiten und ihr Anblick rührte mich tief. Es waren ja die Abkömmlinge jener Knaben und Mädchen, die ich vor vielen, vielen Jahren von ganzem Herzen geliebt oder von ganzem Herzen gehaßt hatte; sie saßen jetzt auf deren Plätzen – wo aber waren jene hingekommen?«

Ich wollte, der kahlköpfige Inspektor, der zu meiner Zeit ein flachshaariger Sonntagsschüler war, hätte mich nicht erkannt und mich ruhig meine Beobachtungen anstellen lassen. Statt dessen mußte ich nun den Kindern eine Ansprache halten, und für unvorbereitete Reden habe ich gar kein Talent. Ich konnte mich auch im Augenblick durchaus nicht auf das sinnlose Geschwätz besinnen, mit dem die Besucher meine Ohren zu beleidigen pflegten, als ich noch Schüler war. Schade! denn hätte ich so recht salbungsvoll reden können, so würde ich Zeit gewonnen haben, mir die frischen, jungen Gesichter, die da vor mir aufgereiht saßen, noch länger anzusehen.

Der eigentliche Musterknabe schien mir aber nicht darunter zu sein. Der Musterknabe, den wir damals hatten – mehr als einen hat es nie gegeben – war völlig fehlerlos; fehlerlos im Benehmen, im Anzug, im Lebenswandel, im kindlichen Gehorsam, in äußerer Frömmigkeit; aber im Grunde war er ein eingebildetes Bürschchen und hatte so wenig Grütze im Kopf, daß man ihm ruhig statt des Schädels einen Kürbis hätte aufsetzen können, ohne daß jemand den Unterschied bemerkt Hätte. Die Untadeligkeit dieses Jungen war für die ganze Jugend des Städtchens ein immerwährender Vorwurf. Alle Mütter bewunderten ihn und von allen ihren Söhnen wurde er verabscheut. Man hat mir auch gesagt, was aus ihm geworden ist, es war aber das Gegenteil von dem, was ich erwartete, daher will ich alle weiteren Einzelheiten verschweigen und nur erwähnen, daß er sein Glück in der Welt gemacht hat.

Drei Tage lang blieb ich in der Stadt und wachte jeden Morgen mit der Überzeugung auf, daß ich noch ein Knabe sei, denn in meinen Träumen waren alle Gesichter wieder jung und sahen gerade so aus, wie in den vergangenen Zeiten. Abends aber, wenn ich zu Bette ging, kam ich mir mindestens hundert Jahre alt vor, denn inzwischen hatte ich mich zur Genüge davon überzeugt, wie jene Gesichter in Wirklichkeit aussahen.

Bis ich mich an den neuen Stand der Dinge gewöhnt hatte, fiel ich immer aus einer Überraschung in die andere. Ich begegnete jungen Damen, die sich gar nicht verändert zu haben schienen, aber es stellte sich bald heraus, daß sie die Töchter meiner damaligen Bekannten waren oder auch ihre Enkelinnen. Wenn man uns sagt, daß eine fremde Dame von fünfzig Jahren Großmutter ist, so wundert uns das gar nicht; hat man sie aber als kleines Mädchen gekannt, so scheint es unmöglich. Wie kann ein kleines Mädchen eine Großmutter sein? – Es ist gar nicht leicht, sich die Thatsache klar zu machen, daß wir nicht allein alt werden, sondern unsere Zeitgenossen darin mit uns gleichen Schritt halten.

Die größte Veränderung fand ich bei den Frauen, weit weniger bei den Männern. Diese schienen in dreißig Jahren nicht viel gealtert zu sein; aber ihre Frauen waren alt geworden – wenigstens die braven. Brav zu sein ist sehr angreifend, es erhält nicht jung.

Die Stadt Hannibal hat sich nicht weniger umgewandelt als ihre Bewohner. Sie ist sehr ansehnlich geworden, hat einen Bürgermeister, einen Gemeinderat, Gas- und Wasserleitung und wahrscheinlich Schulden. Die Zahl ihrer Einwohner beträgt 15,000; überall herrscht rege Thätigkeit und Gedeihen; auch das Pflaster ist nicht schlechter wie in andern Städten des Westens und Südens, wo eine gut gepflasterte Straße und bequeme Bürgersteige etwas so Seltenes sind, daß man seinen Augen nicht traut, wenn man sie einmal zu sehen bekommt. Hannibal ist jetzt auch der Knotenpunkt von einem halben Dutzend Eisenbahnlinien und besitzt einen neuen Bahnhof, der 100,000 Dollars gekostet hat. Ich ging auch nach der Bärenbucht, die wahrscheinlich so heißt, weil sich nie ein Bär dahin verirrt hat; sie ist jetzt mit Bergen von Nutzholz förmlich zugebaut. Dort pflegte ich jeden Sommer regelmäßig ins Wasser zu fallen, aber immer kam irgend ein Mensch vorbei, holte mich heraus, pumpte mir Luft ein und brachte mich wieder auf die Beine. Jetzt ist von der ganzen Bucht nicht mehr so viel übrig, daß jemand darin ertrinken kann.

III.

»Erinnern Sie sich noch, wie Jimmy Finn, der Stadttrunkenbold, im Stockhaus verbrannte?« fragte mich ein Bürger meines Heimatortes, mit dem ich mich in ein Gespräch einließ.

Es ist doch merkwürdig, wie eine Geschichte im Laufe der Zeit durch das schlechte Gedächtnis der Menschen verfälscht wird! Finn verbrannte nämlich nicht im Stockhaus, sondern starb eines natürlichen Todes in einem Lohfaß, an einer Kombination von Delirium tremens und Selbstverbrennung. Wenn ich sage eines natürlichen Todes, so meine ich damit, daß es für Jimmy Finn ein natürlicher Tod war. Das Stadthausopfer war gar kein Einheimischer, sondern ein armer Fremder, ein harmloser Landstreicher und Schnapssäufer. Ich kenne seinen Fall genauer als sonst jemand; ja, es gab eine Zeit, wo ich mehr davon wußte als mir lieb war und ich mich hütete, davon zu sprechen. Jener Landstreicher wanderte, eine Pfeife im Munde, eines kühlen Abends in den Straßen umher und bat um ein Zündholz; er bekam weder Zündholz noch sonstige Aufmerksamkeiten – im Gegenteil: ein Trupp böser kleiner Buben folgte ihm auf den Fersen und vergnügte sich damit, ihn zu necken und zu ärgern. Ich war auch dabei, aber eine flehentliche Bitte um Schonung, die der Wanderer stellte und mit einem eindringlichen Hinweis auf seine verlassene und freundlose Lage begleitete, rührte den Rest von Schamgefühl und richtiger Empfindung in mir: ich ging fort, holte ihm einige Streichhölzchen und eilte dann nach Hause und zu Bette, schwer belastet im Gewissen und in nicht sehr gehobener Stimmung. Ein paar Stunden später wurde der Mann arretiert und von dem Marschall – ein großer Name für einen Polizeidiener, aber das war sein Titel – in das Stockhaus gesperrt. Um zwei Uhr des Morgens verkündeten die Kirchenglocken Feuer, und alles verließ natürlich die Häuser – ich mit den übrigen. Der Landstreicher hatte seine Zündhölzchen in verderblicher Weise gebraucht: er hatte seinen Strohsack angezündet, und die Flamme hatte die eichene Vertäfelung des Zimmers ergriffen. Als ich den Platz erreichte, standen zweihundert Männer, Frauen und Kinder, von Entsetzen durchdrungen, dicht beisammen und starrten auf die vergitterten Kerkerfenster. Hinter den Eisenstäben, an denen er wie rasend zerrte, stand der Landstreicher und schrie um Hilfe. Er sah aus wie ein schwarzer Fleck, der sich von der Sonne abhebt, so weiß und intensiv war das Licht hinter seinem Rücken. Der Marschall war nicht zu finden, und er besaß den einzigen Schlüssel. Rasch wurde ein Mauerbrecher improvisiert, und der Donner seiner Stöße gegen die Thür tönte so ermutigend, daß die Zuschauer in wildes Jauchzen ausbrachen und die barmherzige That schon gelungen glaubten. Aber dem war nicht so. Die Balken waren zu stark; sie gaben nicht nach. Man sagte, daß der Mann noch im Tode die Eisenstäbe fest umklammert hielt und daß das Feuer ihn in dieser Stellung umhüllte und verzehrte. Ich selbst weiß nichts Bestimmtes darüber.

Ich sah sein Gesicht in jener oben beschriebenen Stellung eine lange Zeit nachher noch jede Nacht; und ich glaubte mich so schuldig an dem Tode des Mannes, als ob ich ihm die Streichhölzchen absichtlich gegeben hätte, damit er sich damit verbrennen sollte. Ich zweifelte nicht im geringsten, daß ich gehängt werden würde, falls etwa meine Beteiligung an dieser Tragödie zu Tage käme. Die Ereignisse und Eindrücke jener Zeit sind unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wenn jemand von jener gräßlichen Geschichte sprach, war ich augenblicklich ganz Ohr und lauschte gierig auf jedes Wort, denn ich erwartete und fürchtete stets zu entdecken, daß man mich beargwöhne; so sein und empfindlich war die Wahrnehmungsgabe meines schuldigen Gewissens, daß es oft in den unverfänglichsten Äußerungen einen Verdacht entdeckte, sogar in Mienen, Gebärden und Blicken, die keine Bedeutung hatten, die mich aber trotzdem mit panischem Schrecken erfüllten und von dannen jagten. Wenn jemand (und wäre es auch höchst sorg- und absichtslos gewesen) die Bemerkung fallen ließ: »Der Mord muß endlich ans Licht kommen,« so machte mich das ganz elend. Für einen Knaben von zehn Jahren trug ich schon ein hübsch gewichtiges Sorgenbündel.

Während dieser ganzen Zeit dachte ich glücklicherweise nicht daran, daß ich die Gewohnheit hatte, im Schlafe zu sprechen. Eines Nachts aber erwachte ich und sah, daß mein Schlafkamerad – mein jüngerer Bruder – aufrecht im Bette saß und mich beim Mondscheine betrachtete. Ich sagte:

»Was hast du denn?« –

»Du plauderst so viel, daß ich nicht schlafen kann.«

Ich richtete mich augenblicklich im Bette auf. Mein Puls stockte und die Haare standen mir zu Berge.

»Was hab‘ ich denn gesagt? Rasch – heraus damit – was hab‘ ich gesagt?«

»Nichts Besonderes.«

»Das ist eine Lüge – du weißt alles.«

»Alles – ? Wovon denn? worüber?«

»Du weißt es recht gut: davon.«

»Wovon? – ich weiĂź nicht, wovon du redest. Ich glaube, du bist krank oder nicht bei Sinnen oder sonst ‚was. Nun, jedenfalls bist du jetzt wach, und ich will versuchen, ob ich wieder einschlafen kann.«

Er schlief sofort ein, wahrend ich in kaltem Schweiß gebadet dalag. Der Schreck hatte mich beinahe gelähmt und ich war keines andern Gedankens mehr fähig als: ›Wieviel habe ich enthüllt?‹ ›Wieviel weiß er?‹ – Welche Qual war diese Ungewißheit! Nach und nach aber entwickelte sich eine Idee in mir – ich wollte meinen Bruder aufwecken und ihn mit einem untergeschobenen Fall auf die Probe stellen. Ich schüttelte ihn wach und sagte:

»Angenommen, ein Mann käme betrunken zu dir –«

»Das ist Unsinn – ich betrinke mich nie.«

»Ich meine nicht dich, du Dummkopf – ich meine den Mann. Angenommen ein Mann käme betrunken zu dir und borgte ein Messer oder einen Tomahawk oder ein Pistol, und du vergäßest ihm zu sagen, daß es geladen sei, und – –«

»Wie kannst du einen Tomahawk laden?«

»Ich meine nicht den Tomahawk und sagte es auch nicht, ich sagte das Pistol. Und nun unterbrich mich nicht fortwährend in dieser Weise, denn die Sache ist ernst. Es ist ein Mann getötet worden.«

»Was! in dieser Stadt?«

»Ja, in dieser Stadt.«

»Nun, fahre fort – ich will kein einziges Wort mehr sagen.«

»Nun also: angenommen, du vergäßest, ihm zu sagen, er solle sorgfältig damit umgehen, weil es geladen sei, und er ginge nun hin und erschösse sich mit jenem Pistol – indem er damit spielt, weißt du, und wahrscheinlich zufällig, da er betrunken ist. Nun, wäre das ein Mord?«

»Nein, – ein Selbstmord.«

»Nein, nein. Ich meinte nicht seine That, sondern deine: wärest du ein Mörder, weil du ihm jenes Pistol gabst?«

Nach tiefem Nachdenken erfolgte die Antwort:

»Nun, es scheint mir, als hatte ich mich dann schuldig gemacht – des Mordes, vielleicht – ja, wahrscheinlich des Mordes, aber ich weiß nicht recht.«

Das machte mich sehr unruhig; indessen war es doch kein entscheidendes Urteil. Ich mußte ihm am Ende die wahre Sachlage erzählen – es schien kein anderer Ausweg vorhanden. Aber ich wollte es vorsichtig thun und begann also:

»Ich habe das vorigemal einen Fall ersonnen, aber jetzt komme ich zu dem wirklichen. Weißt du, wie es kam, daß der Mann im Stockhaus verbrannte?«

»Nein.«

»Hast nicht die geringste Idee davon?«

»Nicht die geringste.«

»Willst auf der Stelle sterben, wenn’s nicht so ist?«

»Ja, will auf der Stelle sterben.«

»Nun, die Sache war so. Der Mann verlangte Streichhölzchen, um seine Pfeife anzuzünden. Ein Knabe holte sie ihm; der Mann zündete mit eben diesen Streichhölzchen das Stockhaus an und verbrannte sich selbst.«

»Ist das so?«

»Ja, es ist so. Glaubst du nun, daß jener Knabe ein Mörder ist?«

»Das kommt darauf an. – Der Mann war betrunken?«

»Ja, er war betrunken.«

»Stark betrunken?«

»Ja.«

»Und der Knabe wußte es?«

»Ja, er wußte es.«

Es folgte eine lange Pause, dann wurde das harte Urteil verkĂĽndigt:

»Wenn der Mann betrunken war und der Knabe es wußte, so hat der Knabe jenen Mann ermordet. Das ist sicher.«

Durch alle Fibern meines Körpers schlich sich ein Gefühl, als müßte ich krank und ohnmächtig umsinken; es war mir wie einem Menschen zu Mute, dem sein Todesurteil verkündet wird. Ich wartete, um zu hören, was mein Bruder weiter sagen würde; mir ahnte, was es sein würde, und ich täuschte mich nicht. Er sagte:

»Ich kenne den Knaben.«

Ich hatte nichts zu sagen, und so schwieg ich. Ich schauderte einfach. Dann fĂĽgte er hinzu:

»Ja, ehe du die Geschichte halb erzählt hattest, wußte ich ganz genau, wer der Knabe war; es war Ben Coontz!«

Ich raffte mich aus meiner Betäubung empor, wie einer, der vom Tode aufersteht, und sagte verwundert:

»Ei, wie in aller Welt hast du das erraten?«

»Du hast es im Schlafe gesagt.«

Ich dachte bei mir selbst: »Famos! Das ist eine Gewohnheit, die gepflegt werben muß.«

Mein Bruder plapperte unschuldig weiter:

»Als du im Schlafe sprachst, murmeltest du immerwährend etwas von Streichhölzchen, woraus ich nicht klug werden konnte; eben jetzt aber, als du mir von dem Manne und den Streichhölzchen und dem Stockhaus zu erzählen begannst, erinnerte ich mich, daß du Ben Coontz zwei- oder dreimal erwähntest; und so setzte ich mir denn dies und jenes zusammen – siehst du – und wußte so augenblicklich, daß Ben den Mann verbrannt hat.«

Ich lobte seinen Scharfsinn ĂĽber die MaĂźen, und er fragte mich dann:

»Willst du ihn dem Gericht überliefern?«

»Nein,« sagte ich; »ich glaube, daß er sich die Lektion zu Herzen nehmen wird. Ich werde natürlich ein Auge auf ihn haben, denn das gehört sich; aber wenn er in sich geht und sich bessert, soll man nie sagen, daß ich ihn verraten habe.«

»Wie gut du bist!«

»Das nicht, aber ich strebe danach; mehr kann man in dieser Welt nicht thun.«

Und jetzt, da meine Bürde auf andere Schultern gewälzt war, schwanden meine Sorgen und Befürchtungen wie Butter an der Sonne.

Ritters Geschichte.

Ritters Geschichte.

Gegen Ende des Jahres 186– brachte ich einige Monate in München zu. Im November war ich bei Fräulein Dahlweiner, Karlsstraße 1a, in Kost; meine Wohnung aber befand sich ein halbes Stündchen von dort entfernt, im Hause einer Witwe, welche an ledige Herren Zimmer vermietete und wo ich Gelegenheit fand, mich in der deutschen Sprache zu üben.

Eines Tages, während einer Wanderung durch die Stadt, besuchte ich eines der zwei Gebäude, wo die Obrigkeit die Leichname aufbewahrt und überwachen läßt, bis die Ärzte entscheiden, daß sie wirklich tot und nicht scheintot sind. Es war ein schauerlicher Ort, jener geräumige Saal. Mit den Rücken auf schrägen Brettern ausgestreckt, lagen sechsunddreißig Leichname von Erwachsenen in drei langen Reihen – alle mit wachsbleichen, starren Gesichtern, alle in weiße Leintücher gehüllt. An den Seiten des Saales waren tiefe Nischen, wie Bogenfenster, und in jeder lagen marmorbleiche Kinder, im ganzen vierzehn, – gänzlich verborgen und begraben unter Blumen; nur die Gesichter und die gekreuzten Hände waren zu sehen. Jede dieser fünfzig stillen Formen, groß und klein, hatte an einem Finger der rechten Hand einen Ring, von dem ein Draht zur Decke und von da zu einer Glocke in ein Wachtzimmer drüben ging, wo Tag und Nacht ein Wächter saß, um zur Hilfe herbeizueilen, sobald einer von jener bleichen Gesellschaft aus dem Todesschlaf erwachen und eine Bewegung machen sollte – denn jede, selbst die leiseste Bewegung bringt Draht und Glocke in Thätigkeit. Ich versetzte mich unwillkürlich in die Lage solch eines Totenwächters, der in einer stürmischen, finstern Nacht plötzlich aus dem Halbschlummer durch den Klang jenes unheimlichen Signals aufgeschreckt und bis ins tiefste Mark erschüttert wird. Wie – so fragte ich mich – wenn der Wächter beim Anblick des lebendig gewordenen Toten von einem Schlag getroffen würde? – und wenn dann der Mann, der eben noch ein Leichnam gewesen, seinem Totenwärter, der jetzt selbst im Verscheiden ist, liebreich Beistand leistete? Aber ich machte mir Vorwürfe an einem so feierlichen und traurigen Orte meine Phantasie mit so thörichten Fragen zu beschäftigen, und schlich von dannen.

Am nächsten Morgen erzählte ich der Witwe von meinem Besuch, worauf sie ausrief:

»Kommen Sie mit! Ich habe einen Zimmerherrn, der früher Leichenwärter dort war; der kann Ihnen über alles Auskunft geben.«

Er lag im Bette und sein Kopf war hoch auf Polster gebettet; sein Gesicht war abgezehrt und farblos; seine tief eingesunkenen Augen geschlossen; seine auf der Brust ruhende Hand sah aus wie eine Kralle, so knochig und langfingerig war sie. Die Witwe machte uns mit einander bekannt. Die Augen des Kranken öffneten sich langsam und funkelten grimmig aus ihren Höhlen; er runzelte finster die Stirne, erhob seine magere Hand und winkte uns gebieterisch weg. Die Witwe aber ließ sich dadurch nicht irre machen und sagte ihm, daß ich ein Fremder, ein Amerikaner sei. Das Gesicht des Kranken änderte sofort seinen Ausdruck, hellte sich auf und verriet eine lebhafte Neugierde; – im nächsten Augenblicke waren er und ich allein beisammen.

Ich begann in schwerfälligem Deutsch; er antwortete in fließendem Englisch; darauf ließen wir die deutsche Sprache fallen.

Dieser Schwindsüchtige und ich wurden gute Freunde. Ich besuchte ihn jeden Tag, und wir plauderten über alles Mögliche – ausgenommen Weiber und Kinder. Sobald jemands Weib oder Kind erwähnt wurde, erfolgte stets dreierlei: in den Augen des Mannes glänzte einen Moment das freundlichste, zärtlichste und liebevollste Licht; im nächsten Augenblick verschwand es und an seiner Stelle erschien jener grimmige Blick, den ich bemerkt hatte, als ich ihm zuerst in die Augen sah; und drittens enthielt er sich von nun an den ganzen Tag über gänzlich der Rede, lag schweigend, geistesabwesend und wie in Gedanken versunken da, nahm von meinem ›Adieu‹ keinerlei Notiz und sah und hörte offenbar nicht, wie ich das Zimmer verließ.

Als ich so zwei Monate lang der tägliche und einzige Vertraute Karl Ritters gewesen war, sagte er eines Tages plötzlich:

»Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen!«

Das Bekenntnis eines Sterbenden.

»Ich habe nie weichgegeben, bis jetzt. Nun aber ist’s aus mit mir. Ich muĂź sterben und zwar bald. Sie bemerkten, daĂź Sie demnächst wieder an den Mississippi zurĂĽckzukehren gedächten; – dies zusammen mit einem seltsamen Erlebnis der letzten Nacht hat mich zu dem EntschluĂź gebracht, Ihnen meine Geschichte zu erzählen – denn Sie werden nach Napoleon in Arkansas kommen, und ich bitte Sie um meinetwillen, dort anzuhalten und etwas fĂĽr mich zu thun – Sie werden es gewiĂź gern thun, wenn Sie meine Erzählung gehört haben.

Ich werde die Geschichte abkürzen, wo ich kann; es ist notwendig, denn sie ist lang. Sie wissen bereits, wie ich dazu kam, nach Amerika zu gehen und mich in jener einsamen Gegend im Süden niederzulassen; aber Sie wissen nicht, daß ich Weib und Kind hatte. Meine Frau war jung, schön, liebevoll und o! so göttlich gut, tugendhaft und edel! Und unser kleines Mädchen war die Mutter im kleinen. Wir waren die glücklichste aller glücklichen Familien.

Einstmals in der Nacht – es war gegen das Ende des Krieges – erwachte ich aus einer dumpfen Betäubung und fand, daß ich gebunden und geknebelt und die Luft mit Chloroform geschwängert war! Ich sah zwei Männer im Zimmer, von denen der eine dem andern in heiserem Tone zuflüsterte: »Ich sagte ihr, ich thue es, wenn sie Lärm mache, und was das Kind anbelangt, so – –«

Der andere unterbrach ihn mit leiser, weinerlicher Stimme:

»Du sagtest, wir wollten sie nur knebeln und berauben, aber nicht umbringen; sonst wäre ich nicht mitgegangen.«

»Hör‘ auf mit dem Gewinsel,« entgegnete der erstere; »ich muĂźte ja den Plan ändern, als sie aufwachten; du hast gethan, was du zu ihrem Schutze thun konntest, das laĂź dir genĂĽgen; und nun komm und hilf mir alles durchstöbern.«

Beide Männer waren maskiert und trugen grobe, zerlumpte ›Nigger‹-Kleider; sie hatten eine Blendlaterne bei sich, bei deren Lichte ich bemerkte, daß dem sanfteren der beiden Räuber der Daumen an der rechten Hand fehlte. Sie suchten eine Weile in meiner ärmlichen Hütte, dann flüsterte der Hauptbandit:

»Es ist Zeitverschwendung – er soll sagen, wo es versteckt ist. Nimm ihm den Knebel heraus und muntere ihn auf.«

»Ganz recht,« sagte der andere, »aber – keine Schläge!«

»Also keine Schlage – d.h. wenn er sich ruhig verhält.«

Sie näherten sich mir; da ließ sich plötzlich draußen ein Geräusch hören, der Schall von Stimmen und Pferdehufen; die Räuber hielten den Atem an und horchten; der Schall kam immer näher, und endlich hörte man einen Ruf:

»Heda, in dem Haus! Macht Licht, wir brauchen Wasser.«

»Des Hauptmanns Stimme, bei Gott!« sagte der größere der beiden Schurken, und beide Räuber flohen durch die Hinterthür.

Die Fremden riefen noch mehrmals und ritten dann weiter – es schien ein Dutzend Reiter zu sein – und ich hörte nichts mehr.

Ich bemühte mich aus allen Kräften, konnte mich aber nicht aus meinen Banden freimachen. Ich versuchte zu sprechen, aber der Knebel saß so fest, daß ich keinen Laut von mir geben konnte. Ich lauschte, um meines Weibes oder Kindes Stimme zu hören – lauschte lange und aufmerksam, aber kein Laut kam aus der andern Ecke des Zimmers, wo ihr Bett stand. Dies Schweigen wurde jeden Augenblick schrecklicher, unheilverkündender. Glauben Sie, daß Sie es eine Stunde lang ertragen hätten? Nein? Nun denn, so bemitleiden Sie mich, der ich deren drei auszuhalten hatte. Drei Stunden! – es waren drei Menschenalter! So oft die Uhr schlug, schien es mir, als ob Jahre verflossen wären, seit ich sie das letztemal gehört hatte! Während dieser ganzen Zeit mühte ich mich in meinen Banden ab, und endlich, gegen Tagesanbruch, gelang es mir loszukommen; ich stand auf und streckte meine steifen Glieder. Der Fußboden war mit allerlei Sachen bestreut, welche die Räuber während ihrer Suche nach meinen Ersparnissen umhergeworfen hatten. Der erste Gegenstand, der mir in die Augen fiel, war eines von meinen Papieren, das der rohere der beiden Schurken flüchtig betrachtet und dann weggeworfen hatte. Es trug die Fingerspuren des Mörders in blutiger Farbe! Ich wankte an das andere Ende der Stube. O, da lagen sie, die armen Wehr- und Hilflosen! Ihr Leiden war zu Ende, das meine hatte erst begonnen.

Ob ich das Gericht anrief? – Was hilft’s dem durstigen Armen, wenn der König fĂĽr ihn trinkt? O nein, nein, nein – ich verschmähte die Einmischung des Gesetzes. Die Gesetze und der Galgen konnten diese Schuld nicht sĂĽhnen. Ich wollte den Schuldner schon finden und die Schuld eintreiben. Wie das anstellen, fragen Sie, da ich doch weder die Gesichter der Bösewichter gesehen, noch ihre unverstellte Stimme gehört, noch irgend eine Idee hatte, wer sie sein könnten? Nichtsdestoweniger war ich meiner Sache gewiĂź – ganz gewiĂź, ganz zuversichtlich – ich hatte eine Spur – eine Spur, auf die Sie vielleicht keinen Wert gelegt hätten – eine Spur, mit der selbst ein Detektiv nichts anzufangen gewuĂźt hätte, weil er das Geheimnis, wie sie zu verwerten sei, nicht erriet. Doch, davon später. Zunächst wollen wir die Dinge in ihrer gehörigen Reihenfolge betrachten. Ein Umstand war vorhanden, der mir gleich zu Anfang einen Fingerzeig in einer bestimmten Richtung gab: Jene zwei Räuber waren offenbar als Landstreicher vermummte Soldaten, und zwar keine Neulinge mehr im Militärdienst, sondern alte Soldaten – wahrscheinlich von der Linie; sie hatten sich ihre militärische Haltung, Gebärden und Benehmen nicht in einem Tage oder Monat, noch in einem Jahr angeeignet. So dachte ich, sagte aber nichts. Und einer von ihnen hatte gesagt: »Des Hauptmanns Stimme, bei Gott!« – es war der, den ich suchte. In einer Entfernung von etwa einer Stunde lagerten mehrere Regimenter Infanterie und zwei Schwadronen Kavallerie. Als ich erfuhr, daĂź der Hauptmann Blakely von der 8. Schwadron in jener Nacht an unserem Hause vorbeigeritten war, und zwar mit einer Begleitung von zehn Mann, sagte ich nichts, beschloĂź aber, in jener Schwadron meinen Mann zu suchen. Im Gespräch bezeichnete ich die Räuber absichtlich beständig als Landstreicher, und unter dieser Klasse stellten die Leute nutzlose Nachforschungen an. Keiner auĂźer mir beargwöhnte die Soldaten. Mit vieler MĂĽhe flickte ich mir in nächtlicher Arbeit aus verschiedenen TuchstĂĽcken und Kleiderfetzen eine Verkleidung zusammen; im nächsten Städtchen kaufte ich mir eine blaue Staubbrille. Als das Lager endlich aufgehoben und die dritte Schwadron zwanzig Meilen weiter nordwärts nach Napoleon beordert wurde, versteckte ich meinen kleinen Geldvorrat im GĂĽrtel und machte mich in der Nacht auf den Weg. Als die dritte Schwadron in Arkansas ankam, war ich bereits dort; ja, ich war dort, in einem neuen Beruf – als Wahrsager. Ich befreundete mich mit allen dort liegenden Truppen und sagte allen ihre Zukunft voraus; meine Hauptaufmerksamkeit aber widmete ich der dritten Schwadron. Gegen die Leute dieser Schwadron war ich grenzenlos zuvorkommend; sie konnten keine Gefälligkeit von mir verlangen, mir nichts zumuten, dem ich mich nicht willig unterzogen hätte. Ich wurde die geduldige Zielscheibe ihrer oft rohen SpaĂźe, und das erhöhte meine Popularität: ich wurde allgemein beliebt.

Ich entdeckte bald einen Gemeinen, dem ein Daumen fehlte – welche Freude für mich! Und als ich fand, daß ihm allein von allen Angehörigen der Schwadron der rechte Daumen fehlte, verschwand mein letzter Zweifel: ich war überzeugt, daß ich die rechte Spur gefunden hatte. Dieser Mann war ein Deutscher Namens Krüger, es waren neun Deutsche bei der Schwadron. Ich beobachtete Krüger, um seine etwaigen Vertrauten ausfindig zu machen; aber er schien keine besonders vertrauten Freunde zu haben. Von nun an wurde ich sein Vertrauter und gab mir alle Mühe, unsere Intimität so viel als möglich zu befestigen. Manchmal dürstete ich so nach Rache, daß ich mich kaum enthalten konnte, auf die Kniee zu fallen und ihn zu bitten, mir den Mann, der meine Lieben ermordet hatte zu nennen; aber es gelang mir, meine Zunge im Zaum zu halten. Ich wartete meine Zeit ab und fuhr fort wahrzusagen, wie die Gelegenheit sich bot.

Mein Geschäftsapparat war sehr einfach: ein bißchen rote Schminke und ein Stückchen weißes Papier. Kam einer zum Wahrsagen, so nahm ich seinen Daumenballen, bemalte ihn, nahm einen Abdruck davon auf dem Papier, studierte diesen in der Nacht und prophezeite am nächsten Morgen des Betreffenden Schicksal. Was ich mir bei diesem Unsinn dachte, fragen Sie? Nun, das Folgende: Als ich noch ein junger Mensch wer, kannte ich einen alten Franzosen, der dreißig Jahre lang Gefängniswärter gewesen war, und der mir gesagt hatte, jeder Mensch habe etwas an sich, was sich von der Wiege bis zum Grabe nie andere – die Linien im Daumenballen; und er hatte weiter gesagt, daß diese Linien sich niemals bei zwei Personen ganz genau gleich vorfänden. Heutzutage photographieren wir den angehenden Verbrecher und hängen sein Bild zum etwaigen späteren Gebrauch in der ‹Spitzbubengalerie‹ auf; jener Franzose aber pflegte seiner Zeit von jedem Neuangekommenen Gefangenen einen Abdruck des Daumenballens zu nehmen und diesen Abdruck zum späteren Gebrauch aufzubewahren. Er sagte immer, daß Bilder nichts taugen – spätere Verkleidungen könnten sie nutzlos machen. »Der Daumen ist das einzig sichere,« sagte er, »den kann man nicht verkleiden.« Und die Richtigkeit seiner Theorie erwies sich auch an meinen Freunden und Bekannten; seine Theorie hatte stets Erfolg.

Ich wahrsagte weiter. Jede Nacht schloß ich mich ganz allein ein und studierte die während des Tages erlangten Daumenabdrücke mit einem Vergrößerungsglas. Stellen Sie sich die verzehrende Begierde vor, mit der ich über den labyrinthartigen roten Spiralen brütete; neben mir jenes Papier aus meiner Hütte, das den Abdruck des Daumens und Zeigefingers des Mörders trug, gefärbt mit dem für mich teuersten Blute, das je auf Erden vergossen wurde! Wie oft mußte ich enttäuscht dieselbe Bemerkung wiederholen: »Werden sie denn nie übereinstimmen?«

Endlich aber wurde mein Warten belohnt; mein Lohn bestand in dem Daumenabdruck des 34. Mannes der dritten Schwadron, den ich untersucht hatte – des Gemeinen Franz Adler. Eine Stunde vorher kannte ich weder den Namen des Mörders, noch seine Stimme, Gestalt, Nationalität oder seine Züge; jetzt aber wußte ich das alles und glaubte meiner Sache sicher zu sein.

Am nächsten Morgen nahm ich Krüger beiseite, als er dienstfrei war; und an einem Orte, wo uns niemand sehen oder belauschen konnte, sagte ich eindringlich zu ihm:

»Ein Teil eures Schicksals ist so ernst und bedeutsam, daß ich es für das Beste hielt, es euch insgeheim zu sagen. Ihr und noch einer von eurer Schwadron, dessen Schicksal ich letzte Nacht erforschte, – der Gemeine Adler, – habt eine Frau und ein Kind ermordet! Ihr werdet verfolgt: innerhalb von fünf Tagen werdet ihr beide gemeuchelt werden.«

Ganz auĂźer sich vor Schreck fiel er auf die Kniee nieder und stammelte fĂĽnf Minuten immer dieselben Worte wie ein Geistesabwesender, und in derselben weinerlichen Weise, deren ich mich von jener Mordnacht her noch so gut erinnerte:

»Ich that’s nicht – bei meiner Seele, ich that’s nicht; und ich wollte auch ihn davon abhalten – ich wollte es, Gott ist mein Zeuge. Er that es allein.«

Das war alles, was ich wissen wollte, und ich wollte mich nun des Elenden entledigen; er klammerte sich jedoch an mich und flehte mich an, ihn vor dem Meuchelmörder zu retten. Er sagte:

»Ich habe Geld – zehntausend Dollars – versteckt, die Frucht der Dieberei und Plünderung; rettet mich – sagt mir, was ich thun soll, und ihr sollt es haben – bis auf den letzten Pfennig. Zwei Drittel davon gehören meinem Vetter Adler; aber Sie dürfen meinetwegen alles nehmen. Wir versteckten es, sobald wir hieherkamen; aber ich versteckte es gestern an einem neuen Platz, ohne ihm etwas davon zu sagen – er soll es auch nie erfahren. Ich wollte desertieren und das Ganze mitnehmen. Es ist lauter Gold – zu schwer, um es mit sich zu schleppen; aber ein Weib, das ich ins Vertrauen gezogen, sollte mit dem Gelde nachfolgen. Ich hatte mit ihr verabredet, wenn ich keine Gelegenheit fände, ihr das Versteck zu beschreiben, so wollte ich ihr meine silberne Taschenuhr in die Hand gleiten lassen oder sie ihr senden; sie wüßte dann, woran sie wäre. Im Rücken des Uhrgehäuses sei ein Stück Papier, das alles Nötige besage. Hier nehmt die Uhr! Sagt mir, was ich thun soll!«

Er wollte mir durchaus seine Uhr aufdrängen, nahm das Papier heraus und erklärte es mir, als plötzlich Adler, etwa ein Dutzend Schritte von uns entfernt, auftauchte. Ich sagte zu dem armen Krüger:

»Steckt eure Uhr ein, ich will sie nicht. Ihr sollt nicht zu Schaden kommen. Geht jetzt; ich muß Adler wahrsagen. Ich werde euch bald wissen lassen, wie ihr dem Meuchelmörder entgehen könnt. Sagt Adler nichts von der Sache – auch keinem andern.«

Der arme Teufel entfernte sich, erfüllt von Furcht und Dankbarkeit. Ich wahrsagte Adler seine Zukunft – absichtlich so ausführlich, daß ich nicht ganz zu Ende kommen konnte; versprach, in der Nacht auf Wache zu ihm zu kommen und ihm den wahrhaft wichtigen Teil seiner Zukunft – den tragischen Teil, sagte ich – zu erzählen; wir müßten deshalb außerhalb des Bereiches von Horchern sein. Es wurde stets eine Feldwache außerhalb der Stadt aufgestellt, – bloß der Disziplin und Form wegen, da kein Feind in der Nähe war.

Ich erfragte die Losung, und gegen Mitternacht machte ich mich auf den Weg nach der einsamen Gegend, wo Adler auf Posten stehen sollte. Es war so dunkel, daĂź ich fast auf eine undeutliche Gestalt gestoĂźen Ware, noch ehe ich ein Wort hervorbringen konnte. Der Anruf des Postens und meine Antwort erfolgten in demselben Augenblick, ich fĂĽgte hinzu: »Ich bin’s – der Wahrsager.« Dann schlich ich mich an den Menschen heran und stieĂź ihm, ohne ein Wort zu sagen, meinen Dolch in das Herz! So, lachte ich, das war der tragische Teil deines Schicksals! Indem er vom Pferde fiel, griff er nach mir, und meine blaue Brille blieb ihm in der Hand; das Pferd galoppierte davon mit seinem toten Reiter. Ich floh durch die Wälder und entkam glĂĽcklich, die mich anklagende Brille in des Toten Hand zurĂĽcklassend.

Das war vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Seit dieser Zeit bin ich ziellos in der Welt umhergewandert, manchmal beschäftigt, manchmal müßig, manchmal mit, manchmal ohne Geld, aber immer des Lebens müde und den Tod herbeisehnend, denn meine Mission hienieden war mit jener nächtlichen That beendigt, und das einzige Vergnügen, der einzige Trost und die einzige Genugthuung, die ich in allen jenen langwierigen Jahren hatte, lag in dem täglichen Gedanken: »Ich habe ihn getötet!«

Vor vier Jahren begann meine Gesundheit mich im Stiche zu lassen. Ich war in meiner zwecklosen Weise nach MĂĽnchen gewandert. Da ich ohne Geldmittel war, suchte ich Arbeit und fand sie auch; that ein Jahr lang treu meine Pflicht und erhielt die Stelle des Nachtwächters dort in jenem Leichenhause, das Sie kĂĽrzlich besuchten. Ich wanderte stundenlang unter jenen starren Leichnamen umher und sah in ihre bleichen Gesichter. Der Ort gefiel mir; er paĂźte zu meiner GemĂĽtsstimmung. Ich war gerne bei den Toten – war gerne allein mit ihnen; je später die Stunde, desto ergreifender war es; die Stunden nach Mitternacht waren mir die liebsten. Manchmal schraubte ich die Gasflammen tiefer herab; das gab Perspektive, wissen Sie, und die Phantasie bekam freies Spiel; die trĂĽben, im Hintergrund sich verlierenden Reihen der Toten erfĂĽllten mich stets mit seltsamen fesselnden Vorstellungen. Vor zwei Jahren – ich war damals ein Jahr lang dort gewesen – saĂź ich ganz allein im Wachtzimmer (’s war eine stĂĽrmische Winternacht), erkältet, fast erstarrt, unbehaglich, und war nahe am Einschlafen; das Heulen des Windes und das Auf- und Zuschlagen ferner Fensterläden drang jeden Augenblick schwächer und schwächer an mein Ohr, als plötzlich jene Totenglocke ĂĽber meinem Haupt ein Geläute begann, das mir das Blut in den Adern erstarren lieĂź. Die ErschĂĽtterung lähmte mich beinahe, denn es war das erstemal, daĂź ich die Glocke hörte.

Ich raffte mich zusammen und eilte in den Leichensaal. Etwa in der Mitte der äußern Reihe saß eine mit Leintüchern umwickelte Gestalt aufrecht da und neigte langsam den Kopf von einer Seite zur andern – ein schauerlicher Anblick! Er hatte mir die Seite zugewandt; ich eilte hinzu und sah ihm ins Gesicht: guter Gott! es war Adler!

Können Sie erraten, was mein erster Gedanke war? In Worte gebracht Folgender: »Es scheint also, du bist mir doch entkommen; diesmal soll es anders gehen!«

Jener Mensch litt offenbar unendliche Schreckensqualen. Stellen Sie sich vor: mitten in der lautlosen Stille aufzuwachen und eine grimme Totengemeinde zu überschauen! Welche Dankbarkeit glänzte in seinem knöchernen weißen Gesicht, als er ein lebendes Wesen vor sich sah! Und wie die Glut dieser stummen Dankbarkeit sich erhöhte, als seine Augen auf die lebenspendenden Stärkungsmittel fielen, die ich in den Händen trug! Und dann stellen Sie sich das Entsetzen vor, das über ihn kam, als ich diese Herzstärkungen wegstellte und höhnend sagte:

»Sprich doch, Franz Adler – ruf‘ diese Toren an. Sie werden dich ohne Zweifel hören und Mitleid mit dir hĂĽben; sonst wirst du schwerlich jemand rĂĽhren.«

Er versuchte zu sprechen, aber jener Teil des Leintuchs, der seine Kinnladen zusammenhielt, hielt fest und erlaubte es ihm nicht. Er versuchte stehend die Hände zu erheben, aber sie waren ihm auf seiner Brust gekreuzt und zusammengebunden.

»Rufe doch, Franz Adler!« sagte ich, »daĂź die Schläfer in den fernen StraĂźen dich hören und Hilfe bringen. Rufe doch – und verliere ja keine Zeit, denn du hast wenig zu verlieren. Was? Du kannst nicht. Das ist schade; aber es macht nichts, denn es bringt ja doch nicht immer Hilfe. Als ihr, du und dein Vetter, in einer HĂĽtte in Arkansas ein Weib und ein Kind ermordetet – mein Weib war’s und mein Kind! – da riefen sie auch um Hilfe, wie du dich erinnerst; aber es nĂĽtzte nichts; du erinnerst dich dessen, – nicht wahr? Deine Zähne klappern ja – warum kannst du denn nicht rufen? Mache doch die Bandagen mit den Händen los – dann geht’s. Ah, ich sehe – deine Hände sind gebunden, sie können dir nicht helfen. Wie seltsam sich nach langen Jahren die Dinge wiederholen; denn auch meine Hände waren in jener Nacht gebunden, nicht wahr? Ja, fast ebenso gebunden wie die deinen – wie sonderbar das ist! Ich konnte mich nicht loszerren. Es fiel dir nicht ein, mich loszubinden, und mir fällt es nicht ein, deine Bande zu lösen. Pst! ein FuĂźtritt! er kommt hier vorĂĽber. Horch, wie nahe er ist! Man kann die Schritte zählen – eins – zwei – drei. Da – es ist gerade da drauĂźen. Jetzt ist es Zeit. Ruf‘, Mann, ruf‘! – es ist die allereinzige Gelegenheit zwischen dir und der Ewigkeit! Ah, du siehst, daĂź du zu lange gezögert hast – sie ist vorbei. Du – der Schall erstirbt; es ist aus! Denke daran – denke darĂĽber nach – du hast zum letztenmale den Schall menschlicher Schritte gehört. Wie seltsam es sein muĂź, einem so gewöhnlichen Schall wie diesem zu lauschen und zu wissen, daĂź man nie wieder seinesgleichen hören wird!«

O, mein Freund, die Todesqual in jenem tücherumhüllten Gesicht zu sehen, war die höchste Wonne für mich! Ich erdachte eine neue Folter und wendete sie an, mit etwas lügenhafter Erfindung als Beihilfe.

»Der arme Krüger wollte mein Weib und Kind retten, zum Dank leistete ich ihm einen guten Dienst, als Zeit und Gelegenheit kamen. Ich beredete ihn, dich zu berauben, und ich und ein Weib halfen ihm, als er desertierte und brachten ihn in Sicherheit.«

Eine Miene des Triumphes gleichsam, und der Überraschung glänzte einen Augenblick trübe durch die Angst im Gesichte meines Opfers. Ich war erregt, beunruhigt, und sagte:

»Was hast du – entkam er denn nicht?«

Ein verneinendes KopfschĂĽtteln.

»Nicht? Was geschah denn?«

Die Genugthuung in dem verhüllten Gesicht war noch deutlicher. Der Mann versuchte einige Worte zu murmeln – es gelang ihm nicht; versuchte mit den behinderten Händen etwas auszudrücken – auch das mißlang: wartete einen Augenblick und neigte dann in bedeutsamer Weise sein Haupt gegen den Leichnam, der ihm am nächsten lag.

»Tot?« fragte ich. »Entkam nicht? – wurde gefangen und erschossen?«

Verneinendes KopfschĂĽtteln.

»Was dann?«

Wieder versuchte der Mann etwas mit den Händen zu thun. Ich beobachtete ihn genau, konnte aber seine Absicht nicht erraten; ich beugte mich über ihn und beobachtete ihn noch genauer. Er hatte einen Daumen herumgedreht und zeigte damit auf seine Brust.

»Ah – erstochen meinst du?«

Bejahendes Nicken, von einem so teuflisch-gespensterhaften Lächeln begleitet, daß ein grelles Licht in meinem stumpfen Gehirn aufblitzte und ich rief: –

»Hab‘ ihn also irrtĂĽmlich fĂĽr dich gehalten und erstochen? denn jener StoĂź war nur dir zugedacht.«

Der zum zweitenmale dem Tode geweihte Schurke nickte so zufrieden, als seine schwindende Kraft es auszudrücken vermochte. Ich begrub schluchzend das Gesicht in den Händen.

»O ich Elender!« rief ich, »der ich die mitleidige Seele erschlug, die als Freund zu meinen Lieben stand, als sie hilflos waren, und sie, wenn es möglich gewesen, gerettet hätte! O, ich Elender!«

Ich glaubte das dumpfe Gurgeln eines höhnischen Lachens zu hören; ich nahm die Hände vom Gesicht und sah, wie mein Feind auf sein schräges Brett zurücksank.

Sein Todeskampf währte eine befriedigend lange Zeit: er besaß eine wunderbare Lebenskraft, eine staunenswerte Konstitution. Ich holte mir einen Stuhl und eine Zeitung, setzte mich neben ihn und begann zu lesen. Gelegentlich nahm ich einen Schluck Branntwein: das war notwendig der Kälte wegen; ich that es aber teilweise, weil ich sah, daß er zuerst bei jedem Schluck erwartete, ich würde ihm auch ein wenig davon geben. Ich las laut: hauptsächlich erdichtete Berichte von Leuten, die durch einen Löffel voll Branntwein und ein warmes Bad vom Grabesrand zurückgerissen und dem Leben zurückgegeben wurden. Ja, er hatte einen recht langwierigen, harten Todeskampf – drei Stunden sechs Minuten von der Zeit an, da er die Glocke läutete.

Die schaurige Kälte des Leichensaales war mir durch Mark und Bein gedrungen; sie verursachte und beschleunigte einen Rückfall in die Krankheit, die mich schon öfter befallen hatte, aber bis zu jener Nacht immer wieder rasch vorüber gegangen war. Jener Mann mordete mein Weib und Kind, und in drei Tagen von heute an werde ich meinen Lieben nachfolgen. Thut nichts – Gott, wie köstlich ist die Erinnerung daran! – ich hatte ihn erfaßt, wie er seinem Grabe entfliehen wollte, und ihn wieder in dasselbe zurückgeworfen.

Nach jener Nacht war ich eine Woche lang an mein Bett gefesselt; sobald ich aber wieder auf den Beinen war, schlug ich in den Leichenhausbüchern die Adresse des Hauses auf, in dem Adler erkrankt war. Es war eine elende Herberge. Ich dachte, Adler werde als Krügers Vetter dessen Habseligkeiten in Besitz genommen haben. Ich wollte mir womöglich Krügers Uhr verschaffen. Aber während ich krank darniederlag, waren Adlers Sachen verkauft und überallhin zerstreut worden – alle bis auf einige alte Briefe und wertlose Kleinigkeiten. Mittels jener Briefe aber spürte ich einen Sohn Krügers auf – den einzigen Verwandter, den er hinterließ. Er ist jetzt ein Mann von dreißig Jahren, seines Zeichens ein Schuhmacher, ein Witwer mit mehreren kleinen Kindern, und wohnt zu Mannheim, Königsstr. Nr. 14. Ohne ihm einen Grund zu sagen, habe ich seitdem stets zwei Drittel zu seinem Lebensunterhalt beigesteuert.

Was nun jene Uhr angeht, so hören Sie nur, was für seltsame Dinge geschehen. Ich suchte länger als ein ganzes Jahr mit Mühe und Kosten in ganz Deutschland nach ihr – und fand sie endlich. Bekam sie und war unsäglich froh; öffnete sie und fand nichts drin. Hätte mir freilich sagen können, daß jenes Stückchen Papier nicht die ganze Zeit hindurch darin bleiben würde. Ich hatte damals die Uhr mitsamt dem Schatz verschmäht – jetzt hätte ich das Geld gerne für Krügers Sohn gehabt.

In der letzten Nacht fĂĽhlte ich, daĂź ich bald sterben wĂĽrde. Ich verbrannte alle wertlosen Papiere; und siehe da! aus einem BriefbĂĽndel Adlers, das ich vorher nicht genau genug durchforscht hatte, viel jener langersehnte Zettel! Ich erkannte ihn augenblicklich; er lautete wie folgt:

»Pferdestall aus Backsteinen mit steinernem Fundament, Mitte der Stadt. Ecke der Orleansstraße und des Marktplatzes; Ecke gegen das Gerichtshaus zu – vierte Reihe, dritter Stein. Stecke Benachrichtigung dorthin mit der Angabe, wieviele kommen werden.«

Da, nehmen Sie’s, und heben Sie es gut auf. KrĂĽger sagte mir, daĂź jener Stein entfernt werden könne und daĂź er in der nördlichen Mauer des Gebäudes sei, in der vierten Reihe von oben, der dritte Stein von Westen her. Das Geld sei dahinter versteckt. Er sagte, der SchluĂźsatz sei eine Finte um irrezufĂĽhren, falls das Papier in unrechte Hände geraten sollte. Diese Finte scheint Adler gegenĂĽber ihren Zweck erreicht zu haben.

Und nun bitte ich Sie, wenn Sie Ihre beabsichtigte Reise den Mississippi hinab thun, dieses versteckte Geld ausfindig zu machen und an Adam Krüger unter der oben erwähnten Adresse zu senden. Es wird ihn zu einem reichen Manne machen, und ich werde sanfter ruhen in meinem Grabe, wenn ich weiß, daß ich mein Möglichstes gethan habe für den Sohn des Mannes, der mein Weib und Kind retten wollte – obgleich meine Hand ihn erschlug, wahrend der Antrieb meines Herzens dahin gegangen wäre, ihn zu beschirmen und ihm dienstlich zu sein.

*

»Das war Ritters Geschichte,« sagte ich zu meinen Freunden Rogers und Thompson, mit denen ich bald nach meiner Rückkehr von Europa den Mississippi hinabfuhr. Als ich geendet hatte, folgte eine tiefe, eindrucksvolle Stille, die beträchtliche Zeit dauerte; dann brachen beide in ein wahres Kreuzfeuer von erregten und bewundernden Ausrufen über die seltsamen Episoden der Erzählung aus, das anhielt, bis sie fast ganz außer Atem waren. Dann begannen meine Freunde kühler zu werden und sich unter dem Schutze gelegentlicher Salven in Schweigen und abgrundtiefe Träumerei zurückzuziehen. Etwa zehn Minuten lang herrschte Stillschweigen; dann sagte Rogers träumerisch –:

»Zehntausend Dollars,« und nach einer langen Pause fĂĽgte er hinzu: »Zehntausend – ’s ist ein Haufen Geld.«

Gleich darauf fragte Thompson:

»Werden Sie es ihm sogleich senden?«

»Ja,« sagte ich. »Eine seltsame Frage!«

Keine Antwort. Nach einer Weile fragte Rogers zögernd:

»Alles? – Das heißt – ich meinte nur –«

» Gewiß, alles.«

Ich wollte mehr sagen, hielt aber inne, durch einen Ideengang dazu veranlaßt, der in mir auftauchte. Thompson sprach, aber meine Gedanken waren anderswo, und ich erfaßte nicht, was er sagte; doch hörte ich, wie Rogers antwortete:

»Ja, das scheint mir so. Es sollte vollständig genügen, denn ich finde nicht, daß er dabei etwas gethan hat.«

Sogleich fiel Thompson, der Dichter, ein:

»Bei Licht betrachtet, ist es mehr als genügend. Denke nur – fünftausend Dollars. Ei, er könnte das Geld in seinem ganzen Leben nicht ausgeben! Und es könnte ihm leicht schaden, ihn vielleicht zu Grunde richten – das ist wohl zu beachten. Wer weiß, wie lang es dauert, bis er alles durchgebracht hat? Dann macht er seine Bude zu, fängt vielleicht an zu trinken, mißhandelt seine Kinder, gerät auf andere Abwege und sinkt tiefer und tiefer – –«

»Ja, das ist’s,« unterbrach ihn Rogers voller Feuereifer, »ich habe das hundertmal – ja, öfter als hundertmal gesehen. Wenn du einen solchen Mann gänzlich zu Grunde richten willst, brauchst du ihm bloĂź Geld in die Hand zu geben; ja, gieb ihm nur Geld in die Hand – das ist alles, was dazu gehört; und wenn es ihn nicht herabzieht, ihm alle WĂĽrde, alle Selbstachtung u. s. w. raubt, dann kenne ich die menschliche Natur nicht – ist’s nicht so, Thompson? Und selbst wenn wir ihm ein Drittel davon geben; ei, in weniger als sechs Monaten – –«

»Weniger als sechs Wochen, sage lieber,« sagte ich, mich erwärmend und einfallend. »Wenn die dreitausend Dollars nicht in sicheren Händen wären, wo er sie nicht anrühren könnte, so würde er ebensowenig sechs Wochen damit reichen, als – –«

»Natürlich nicht,« sagte Thompson; »ich habe Bücher geschrieben für die Sorte von Leuten; sobald sie ihre Hände auf ein Besitztum legen – auf dreitausend Dollars etwa, oder auf zweitausend – –«

»Ich möchte wissen, was dieser Schuster mit zweitausend Dollars soll?« fiel Rogers ernsthaft ein; »ein Mann, der vielleicht jetzt dort in Mannheim, umgeben von seinesgleichen, ganz zufrieden ist; der sein Brot mit dem Appetit iĂźt, den MĂĽhe und FleiĂź allein geben können, und ehrlich, aufrichtig und reinen Herzens sich seines bescheidenen Daseins freut; und begnadet – ja, ich sage begnadet ist vor all‘ den vielen Tausenden, die in Sammet und Seide einhergehen und in dem hohlen, leeren Treiben der Gesellschaft umhergewirbelt werden – aber man fĂĽhre diesen Mann nur einmal in Versuchung, lege nur fĂĽnfzehnhundert Dollars vor ihn hin und – –«

»Fünfzehnhundert Teufel!« rief ich, » fünfhundert würden seine Grundsätze ausrotten, seinen Fleiß lähmen und ihn in den Schnapsladen zerren, von da in die Gosse, von da ins Armenhaus, von da in – –«

»Weshalb uns dieses Verbrechen aufbürden, meine Herren?« unterbrach mich der Poet ernst und stehend. »Er ist glücklich, wo und wie er ist. Jedes Gefühl der Ehre, der Menschenliebe und des hohen, heiligen Wohlwollens ermahnt, bestürmt und befiehlt uns, ihn in Ruhe zu lassen. Das ist echte, wahre Freundschaft.«

Nach einigem weiteren Geplauder wurde es indessen ersichtlich, daĂź jeder von uns in seinem innersten Herzen einige Zweifel bezĂĽglich dieser Erledigung der Sache hegte. Wir fĂĽhlten offenbar alle, daĂź wir dem armen Schuster irgend etwas senden sollten. Dieser Punkt wurde lange erwogen, und endlich beschlossen, daĂź wir ihm ein Farbendruckbild senden wollten.

Nun aber, da alles ganz zur Zufriedenheit geordnet schien, tauchte eine neue Schwierigkeit auf: es wurde mir klar, daß die beiden erwarteten, ich werde das Geld zu gleichen Stücken mit ihnen teilen. Das fiel mir gar nicht ein; ich sagte, sie könnten von Glück sagen, wenn sie zusammen die Hälfte bekämen. Rogers sagte darauf:

»Wer würde überhaupt etwas erhalten haben, wenn ich nicht gewesen wäre? Ich machte die erste Andeutung – sonst hätte der Schuster alles bekommen.«

Thompson sagte, daß er in demselben Augenblicke daran gedacht hätte, als Rogers die erste Andeutung machte.

Ich erwiderte, daß mir der Gedanke bald genug und ohne jede Beihilfe gekommen sei, »Ich denke vielleicht langsam,« sagte ich, »aber auch sicher.«

Unsere Erörterung entwickelte sich zu einem Zank, dann zu einem Faustkampf, bei dem wir alle stark mitgenommen wurden. Sobald ich mein Äußeres wieder einigermaßen präsentabel gemacht hatte, begab ich mich (in recht verdrießlicher Stimmung) aufs Oberdeck. Dort fand ich den Kapitän und redete ihn so freundlich wie möglich folgendermaßen an:

»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Kapitän; ich möchte bei Napoleon landen.«

»Wo landen?«

»Bei Napoleon.«

Der Kapitän lachte, da er aber sah, daß ich nicht zum Scherzen aufgelegt war, fügte er ernster werdend hinzu:

»Ist das Ihr Ernst?«

»Mein voller Ernst.«

Der Kapitän blickte zum Lotsenhaus hinauf und sagte:

»Er will bei Napoleon landen!«

»Bei Napoleon?«

»So sagt er.«

»O Geist des großen Cäsar!«

Der Lotse kam auf uns zu, und der Kapitän sagte:

»Onkel, unser guter Freund hier will bei Napoleon landen.«

»Na, da – –«

»Nun, was soll das?« unterbrach ich ihn. »Kann man denn bei Napoleon nicht ans Ufer gehen, wenn man will?«

»Ei, zum Henker, wiĂźt Ihr’s denn nicht? Es giebt kein Napoleon mehr, seit Jahren nicht mehr. Der Arkansas River brach durch, riĂź alles in StĂĽcke und schwemmte es in den Mississippi!«

»Nahm die ganze Stadt mit? – Banken, Kirchen, Gefängnisse, Zeitungsdruckereien, Gerichtshaus, Theater, Feuerversicherungsgebäude, Mietställe – alles?«

»Alles. Just das Werk einer Viertelstunde. Ließ weder Haut noch Haar, weder einen Stein oder Balken noch einen Dachziegel übrig – einen Schuppen und einen Kamin aus Backsteinen ausgenommen. Das Boot hier fährt jetzt gerade da, wo die Mitte der Stadt war; dort ist der Kamin – alles, was von Napoleon übrig ist. Diese dichten Wälder zur Rechten waren sonst eine gute Stunde hinter der Stadt, Seht euch einmal um – blickt stromaufwärts – nicht wahr,, jetzt erkennt ihr die Gegend nach und nach wieder?«

»Ja, ich erkenne sie jetzt. Das ist das Wunderbarste, was ich je gehört habe – weitaus das Wunderbarste und – Unerwartetste.«

Mittlerweile waren meine Freunde Thompson und Rogers mit ihren Ränzchen und Regenschirmen angekommen und hatten dem Kapitän schweigend zugehört. Thompson drückte mir einen halben Dollar in die Hand und sagte leise:

»Für meinen Anteil an dem Farbendruck.«

Rogers folgte seinem Beispiel.

Ja, es war erstaunlich, den Mississippi zwischen unbevölkerten Ufern und gerade über den Ort sich hinwälzen zu sehen, wo ich vor zwanzig Jahren eine gute, große, behäbige Stadt zu sehen gewohnt war – eine Stadt, die der Hauptort eines umfangreichen und blühenden Bezirks war; eine Stadt, wo ich das hübscheste und liebreizendste Mädchen aus dem ganzen Mississippithal gekannt hatte; – jetzt keine Stadt mehr, verschlungen, verschwunden, eine Beute der Fische! nichts übrig als ein Stück von einem Schuppen und ein verfallender Backsteinschlot!

Und wo sind die zehntausend Dollars?

Der Mann, der bei Gadsby’s abstieg.

Der Mann, der bei Gadsby’s abstieg.

Im Winter 1867 ging ich einmal mit meinem originellen Freund Riley, der, wie ich, Zeitungskorrespondent in Washington war, die Pennsylvania-Avenue hinunter. Mitternacht war fast vorĂĽber und ein heftiger Schneesturm blies uns ins Gesicht, als wir beim Schein einer StraĂźenlaterne einen Mann erblickten, der uns entgegengelaufen kam.

Als er unserer ansichtig wurde, blieb er stehen und rief: »Das trifft sich ja prächtig! Sie sind Herr Riley, nicht wahr?«

Riley besaĂź mehr Ruhe und KaltblĂĽtigkeit als irgend jemand in der ganzen Republik. Er stand still, betrachtete den Mann von Kopf bis zu FuĂź und sagte endlich:

»Mein Name ist Riley! Wünschen Sie vielleicht etwas von mir?«

»Jawohl,« sagte der Mann voller Freude, »und ich bin ĂĽberglĂĽcklich, Sie gefunden zu haben! Ich heiĂźe Lykins und bin Lehrer am Gymnasium in San Francisco; die dortige Postmeisterstelle ist vakant, ich hab‘ mich darum beworben, und deshalb bin ich jetzt hier.«

»Ja,« sagte Riley langsam und bedächtig, – »wie Sie ganz richtig bemerken, Herr Lykins, sind Sie jetzt hier! Und haben Sie die Stelle bekommen?«

»Noch nicht, aber ich bin auf dem besten Wege dazu. Das Gesuch, das ich einreichen will, trägt die Unterschriften des Vorstands für Volksunterricht, sowie sämtlicher Lehrer, und noch zweihundert anderer Personen. Ich wollte Sie nun fragen, ob Sie die Güte hätten, mich zu der betreffenden Zivilbehörde zu begleiten, um meine Überweisung auf den Posten ausfertigen zu lassen, denn ich möchte mit, dieser Angelegenheit so schnell wie möglich fertig werden, und bald wieder zu Hause sein.«

»Wenn die Sache so dringend ist,« versetzte Riley in einem Ton, aus dem nicht jeder den Spott herausgehört hätte, »so wäre es Ihnen wohl angenehm, wenn wir den Beamten noch heute abend aufsuchten?«

»Jawohl, heute abend auf jeden Fall, ich habe nicht Zeit, mich lange herumzutreiben. Noch heute, ehe ich zu Bette gehe, muß ich die Zusage haben – ich bin kein Mann von Worten, sondern von Thaten!«

»Sehr wohl, – und da sind Sie hier am rechten Platze. – Wann sind Sie angekommen?«

»Gerade vor einer Stunde.«

»Und wann gedenken Sie wieder abzureisen?«

»Morgen abend nach New-York und tags darauf nach San Francisco!«

»Ganz recht, – und was wollen Sie morgen den Tag über thun?«

»Nun, da muß ich mich doch mit dem Gesuch und der Überweisung zum Präsidenten begeben, um seine Unterschrift zu erhalten, nicht wahr?«

»Jawohl, – das ist ganz richtig, ganz in der Ordnung, – und was dann?«

»Dann gehe ich um zwei Uhr nachmittags in die Senatssitzung und hole mir die Bestätigung, das ist der letzte Schritt.«

»Freilich, – freilich,« sagte Riley wohlbedächtig, »da haben Sie wieder ganz recht! Dann benutzen Sie den Abendzug nach New-York und am nächsten Morgen das Dampfboot nach San Francisco.«

»So ist es – ganz wie ich mir die Sache überlegt habe.«

Riley dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Könnten Sie nicht vielleicht einen – oder zwei Tage länger bleiben?«

»Bewahre, das wäre ganz gegen meine Grundsätze; ich kann nicht lange herumbummeln, – ich bin ein Mann der That, wie ich Ihnen schon sagte.«

Mitten im heulenden Sturm und dichtesten Schneewirbel stand Riley einige Sekunden regungslos da, augenscheinlich in tiefes Nachdenken versunken; – dann blickte er auf und sagte:

»Haben Sie wohl je von dem Manne gehört, der eines Tages bei Gadsby’s abstieg? – Aber ich sehe schon, daĂź Sie nichts von ihm wissen!«

Damit drängte er Herrn Lykins gegen ein eisernes Gitter, hielt ihn am Knopfloch fest und – wie Coleridges alter Matrose – bannte er ihn auf die Stelle durch den Blick seines Auges. Dann begann er seine Erzählung, so friedlich und seelenruhig, als lägen wir alle behaglich auf einer blumigen Sommerwiese ausgestreckt, anstatt um Mitternacht vom Wintersturm durchgeblasen zu werden.

»Ich will Ihnen von dem Mann erzählen: es war zur Zeit des Präsidenten Jackson und Gadsby’s das erste Hotel der Stadt. – Eines Morgens um neun Uhr kam dort ein prächtiger vierspänniger Wagen vorgefahren; auf dem Bock sah ein schwarzer Kutscher und ein wunderschöner groĂźer Hund lief nebenher. Wirt, Kellner und Hausknecht stĂĽrzten herbei, den neuen Ankömmling zu empfangen. Dieser, ein Herr aus Tennessee, sprang eiligst heraus, befahl dem Kutscher zu warten, sagte, er habe keine Zeit, erst noch etwas zu essen, – er wolle nur eine kleine Schuldforderung bei der Regierung einkassieren und daher schnell auf das Schatzamt gehen, um das Geld zu holen; dann mĂĽsse er direkt wieder nach Tennessee zurĂĽck, da er groĂźe Eile habe.

Um 11 Uhr abends kam er wieder, ließ die Pferde in den Stall bringen, bestellte ein Zimmer und meinte, er werde die Forderung am nächsten Morgen einkassieren. Dies geschah an einem Mittwoch, den 3. Januar 1834. Am 5. Februar verkaufte er den schönen Wagen und schaffte sich einen billigen, schon gebrauchten an; – er meinte, darin könne er das Geld ebenso gut mitnehmen, und auf vornehmes Aussehen lege er kein Gewicht. Am 11. August verkaufte er das eine Paar Pferde, indem er bemerkte, es sei doch bequemer mit zwei Pferden über das steile Gebirge zu fahren, weil dabei große Vorsicht nötig sei; auch werde das Geld, das er bekäme, nicht zu schwer für einen Zweispänner sein. Am 13. Dezember verkaufte er das dritte Pferd und meinte, jetzt bei dem klaren trockenen Winterwetter seien die Straßen in so gutem Zustand, daß ein Pferd das alte Fuhrwerk schnell genug vorwärts bringen könne. – Am 17. Februar 1335 verkaufte er den alten Wagen und schaffte sich einen leichten Einspänner an, den er billig bekam. Er meinte, die Wege seien jetzt vom Frühlingsregen so aufgeweicht, daß jedes andere Gefährt zu tief einsinken würde, auch habe er schon immer gern versuchen wollen, wie es sich in einem Einspänner über die Berge fahren lasse. – Am 1. August vertauschte er den Einspänner gegen eine kleine Chaise, die schon lange im Gebrauch war, und meinte, er freue sich ordentlich darauf, wie seine lieben Landsleute in Tennessee Mund und Augen aufsperren würden, wenn er in einer Chaise dahercarriolt käme, so etwas hätten sie gewiß ihr Lebtag nicht gesehen.

Am 29. August verkaufte er auch seinen schwarzen Kutscher und meinte, auf seiner Chaise sei ja gar nicht Platz für zwei, da könne er keinen Kutscher brauchen, – es sei ein reiner Glücksfall, daß er einen Käufer gefunden, der dumm genug gewesen, 900 Dollars für einen Neger von so zweifelhafter Qualität zu bezahlen, – er sei den Kerl längst gern los gewesen, habe ihn aber doch nicht um ein Spottgeld hergeben mögen.

Anderthalb Jahre später, am 15. Februar 1837, verkaufte er die Chaise, schaffte sich einen Sattel an und meinte, der Doktor habe ihm schon mehrmals gesagt, wie gut ihm das Reiten bekommen würde, außerdem würde es ja die reinste Thorheit sein, mitten im Winter eine Fahrt durch das Gebirge zu riskieren.

Am 9. April verkaufte er den Sattel und meinte, bei den schmutzigen schlechten Wegen im April sei so ein Sattel doch ein erbärmliches Ding, mit dem alle Augenblicke etwas passieren könne; auf dem Pferderücken fühle er sich noch einmal so sicher, und warum solle er sein Leben unnütz aufs Spiel setzen?

Am 24. April verkaufte er sein Pferd und meinte: »Heute ist gerade mein siebenundfĂĽnfzigster Geburtstag, – ich bin gesund und frisch und kann mir nichts Angenehmeres denken, als eine FuĂźtour ĂĽber die Berge, in ihrem jungen FrĂĽhlingsgrĂĽn; es wäre eine wahre SĂĽnde, wenn ich die Gelegenheit dazu versäumte, um bei dem herrlichen Wetter aufs Pferd zu steigen! Wenn meine Forderung einkassiert ist, kann ja der Hund das kleine BĂĽndel mit Leichtigkeit tragen. Morgen in aller FrĂĽhe will ich mich aufmachen und nach einem donnernden Lebewohl bei Gadsby’s auf Schusters Rappen nach Tennessee marschieren.«

Am 22. Juni verkaufte er seinen Hund und meinte: »wenn man so im Sommer durch Berg und Wald schweift, ist einem ja ein Hund überall im Wege, er jagt nach Eichhörnchen, bellt Tier und Menschen an, verläuft sich bald hier, bald dort, gerat in Bäche und Pfützen und läßt einen keinen Augenblick die schöne Natur in Ruhe genießen! Wenn ich mein Geld selber trage, ist es ohnehin viel sicherer. Auf einen Hund ist in Geldsachen kein Verlaß, – das weiß man aus Erfahrung! Na, lebt wohl, alte Jungens, – dies ist mein letzter Besuch, – morgen mit dem frühesten bin ich über alle Berge und auf festen Sohlen nach Tennessee unterwegs!« –

Es entstand eine Pause, – nur der Wind heulte, und der Schnee fiel in dichten Flocken. Endlich sagte Lykins ungeduldig:

»Nun, und was weiter?«

Riley versetzte:

»Ja, – das war vor dreißig Jahren!«

»Gut, gut, – aber was soll das?« –

»Der alte Herr ist mein guter Freund, er besucht mich jeden Abend, um Abschied zu nehmen. Vor einer Stunde war er bei mir und morgen früh macht er sich nach Tennessee auf – wie gewöhnlich, – er meinte, er werde seine Forderung einkassiert haben und auf und davon sein, ehe solche Nachteulen, wie ich, sich den Schlaf aus den Augen reiben. Er hatte Thränen in den Augen vor Freude, daß er nun bald seine alte Heimat und seine Freunde wiedersehen werde!« –

Es folgte eine abermalige Pause, die der Fremde unterbrach:

»Ist die Geschichte zu Ende?«

»Ja, das ist alles!«

»Sie war auch lang genug, bei dieser Nachtzeit und in solchem Wetter. Aber was wollen Sie denn damit sagen?«

»O, nichts Besonderes!«

»Ich meine, was soll sie eigentlich bedeuten?«

»Eine besondere Bedeutung hat sie nicht, – ich dachte nur so, daĂź, wenn Sie nicht in gar zu groĂźer Eile sind, mit Ihrer Anstellung als Postmeister nach San Francisco zurĂĽckzukommen, so wĂĽrde ich Ihnen raten, bei Gadsby’s abzusteigen, und sich Zeit zu nehmen. Leben Sie wohl, ich wĂĽnsche Ihnen recht viel GlĂĽck!«

Dabei wandte sich Riley mit freundlicher Miene zum Gehen und ließ den verblüfften Schullehrer regungslos unter der Straßenlaterne stehen, die ihren hellen Schein auf den von Schneeflocken ganz weißen Mann warf. –

Die Postmeisterstelle hat er aber nie erhalten.