Der Mann, der bei Gadsby’s abstieg.

Im Winter 1867 ging ich einmal mit meinem originellen Freund Riley, der, wie ich, Zeitungskorrespondent in Washington war, die Pennsylvania-Avenue hinunter. Mitternacht war fast vorüber und ein heftiger Schneesturm blies uns ins Gesicht, als wir beim Schein einer Straßenlaterne einen Mann erblickten, der uns entgegengelaufen kam.

Als er unserer ansichtig wurde, blieb er stehen und rief: »Das trifft sich ja prächtig! Sie sind Herr Riley, nicht wahr?«

Riley besaß mehr Ruhe und Kaltblütigkeit als irgend jemand in der ganzen Republik. Er stand still, betrachtete den Mann von Kopf bis zu Fuß und sagte endlich:

»Mein Name ist Riley! Wünschen Sie vielleicht etwas von mir?«

»Jawohl,« sagte der Mann voller Freude, »und ich bin überglücklich, Sie gefunden zu haben! Ich heiße Lykins und bin Lehrer am Gymnasium in San Francisco; die dortige Postmeisterstelle ist vakant, ich hab‘ mich darum beworben, und deshalb bin ich jetzt hier.«

»Ja,« sagte Riley langsam und bedächtig, – »wie Sie ganz richtig bemerken, Herr Lykins, sind Sie jetzt hier! Und haben Sie die Stelle bekommen?«

»Noch nicht, aber ich bin auf dem besten Wege dazu. Das Gesuch, das ich einreichen will, trägt die Unterschriften des Vorstands für Volksunterricht, sowie sämtlicher Lehrer, und noch zweihundert anderer Personen. Ich wollte Sie nun fragen, ob Sie die Güte hätten, mich zu der betreffenden Zivilbehörde zu begleiten, um meine Überweisung auf den Posten ausfertigen zu lassen, denn ich möchte mit, dieser Angelegenheit so schnell wie möglich fertig werden, und bald wieder zu Hause sein.«

»Wenn die Sache so dringend ist,« versetzte Riley in einem Ton, aus dem nicht jeder den Spott herausgehört hätte, »so wäre es Ihnen wohl angenehm, wenn wir den Beamten noch heute abend aufsuchten?«

»Jawohl, heute abend auf jeden Fall, ich habe nicht Zeit, mich lange herumzutreiben. Noch heute, ehe ich zu Bette gehe, muß ich die Zusage haben – ich bin kein Mann von Worten, sondern von Thaten!«

»Sehr wohl, – und da sind Sie hier am rechten Platze. – Wann sind Sie angekommen?«

»Gerade vor einer Stunde.«

»Und wann gedenken Sie wieder abzureisen?«

»Morgen abend nach New-York und tags darauf nach San Francisco!«

»Ganz recht, – und was wollen Sie morgen den Tag über thun?«

»Nun, da muß ich mich doch mit dem Gesuch und der Überweisung zum Präsidenten begeben, um seine Unterschrift zu erhalten, nicht wahr?«

»Jawohl, – das ist ganz richtig, ganz in der Ordnung, – und was dann?«

»Dann gehe ich um zwei Uhr nachmittags in die Senatssitzung und hole mir die Bestätigung, das ist der letzte Schritt.«

»Freilich, – freilich,« sagte Riley wohlbedächtig, »da haben Sie wieder ganz recht! Dann benutzen Sie den Abendzug nach New-York und am nächsten Morgen das Dampfboot nach San Francisco.«

»So ist es – ganz wie ich mir die Sache überlegt habe.«

Riley dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Könnten Sie nicht vielleicht einen – oder zwei Tage länger bleiben?«

»Bewahre, das wäre ganz gegen meine Grundsätze; ich kann nicht lange herumbummeln, – ich bin ein Mann der That, wie ich Ihnen schon sagte.«

Mitten im heulenden Sturm und dichtesten Schneewirbel stand Riley einige Sekunden regungslos da, augenscheinlich in tiefes Nachdenken versunken; – dann blickte er auf und sagte:

»Haben Sie wohl je von dem Manne gehört, der eines Tages bei Gadsby’s abstieg? – Aber ich sehe schon, daß Sie nichts von ihm wissen!«

Damit drängte er Herrn Lykins gegen ein eisernes Gitter, hielt ihn am Knopfloch fest und – wie Coleridges alter Matrose – bannte er ihn auf die Stelle durch den Blick seines Auges. Dann begann er seine Erzählung, so friedlich und seelenruhig, als lägen wir alle behaglich auf einer blumigen Sommerwiese ausgestreckt, anstatt um Mitternacht vom Wintersturm durchgeblasen zu werden.

»Ich will Ihnen von dem Mann erzählen: es war zur Zeit des Präsidenten Jackson und Gadsby’s das erste Hotel der Stadt. – Eines Morgens um neun Uhr kam dort ein prächtiger vierspänniger Wagen vorgefahren; auf dem Bock sah ein schwarzer Kutscher und ein wunderschöner großer Hund lief nebenher. Wirt, Kellner und Hausknecht stürzten herbei, den neuen Ankömmling zu empfangen. Dieser, ein Herr aus Tennessee, sprang eiligst heraus, befahl dem Kutscher zu warten, sagte, er habe keine Zeit, erst noch etwas zu essen, – er wolle nur eine kleine Schuldforderung bei der Regierung einkassieren und daher schnell auf das Schatzamt gehen, um das Geld zu holen; dann müsse er direkt wieder nach Tennessee zurück, da er große Eile habe.

Um 11 Uhr abends kam er wieder, ließ die Pferde in den Stall bringen, bestellte ein Zimmer und meinte, er werde die Forderung am nächsten Morgen einkassieren. Dies geschah an einem Mittwoch, den 3. Januar 1834. Am 5. Februar verkaufte er den schönen Wagen und schaffte sich einen billigen, schon gebrauchten an; – er meinte, darin könne er das Geld ebenso gut mitnehmen, und auf vornehmes Aussehen lege er kein Gewicht. Am 11. August verkaufte er das eine Paar Pferde, indem er bemerkte, es sei doch bequemer mit zwei Pferden über das steile Gebirge zu fahren, weil dabei große Vorsicht nötig sei; auch werde das Geld, das er bekäme, nicht zu schwer für einen Zweispänner sein. Am 13. Dezember verkaufte er das dritte Pferd und meinte, jetzt bei dem klaren trockenen Winterwetter seien die Straßen in so gutem Zustand, daß ein Pferd das alte Fuhrwerk schnell genug vorwärts bringen könne. – Am 17. Februar 1335 verkaufte er den alten Wagen und schaffte sich einen leichten Einspänner an, den er billig bekam. Er meinte, die Wege seien jetzt vom Frühlingsregen so aufgeweicht, daß jedes andere Gefährt zu tief einsinken würde, auch habe er schon immer gern versuchen wollen, wie es sich in einem Einspänner über die Berge fahren lasse. – Am 1. August vertauschte er den Einspänner gegen eine kleine Chaise, die schon lange im Gebrauch war, und meinte, er freue sich ordentlich darauf, wie seine lieben Landsleute in Tennessee Mund und Augen aufsperren würden, wenn er in einer Chaise dahercarriolt käme, so etwas hätten sie gewiß ihr Lebtag nicht gesehen.

Am 29. August verkaufte er auch seinen schwarzen Kutscher und meinte, auf seiner Chaise sei ja gar nicht Platz für zwei, da könne er keinen Kutscher brauchen, – es sei ein reiner Glücksfall, daß er einen Käufer gefunden, der dumm genug gewesen, 900 Dollars für einen Neger von so zweifelhafter Qualität zu bezahlen, – er sei den Kerl längst gern los gewesen, habe ihn aber doch nicht um ein Spottgeld hergeben mögen.

Anderthalb Jahre später, am 15. Februar 1837, verkaufte er die Chaise, schaffte sich einen Sattel an und meinte, der Doktor habe ihm schon mehrmals gesagt, wie gut ihm das Reiten bekommen würde, außerdem würde es ja die reinste Thorheit sein, mitten im Winter eine Fahrt durch das Gebirge zu riskieren.

Am 9. April verkaufte er den Sattel und meinte, bei den schmutzigen schlechten Wegen im April sei so ein Sattel doch ein erbärmliches Ding, mit dem alle Augenblicke etwas passieren könne; auf dem Pferderücken fühle er sich noch einmal so sicher, und warum solle er sein Leben unnütz aufs Spiel setzen?

Am 24. April verkaufte er sein Pferd und meinte: »Heute ist gerade mein siebenundfünfzigster Geburtstag, – ich bin gesund und frisch und kann mir nichts Angenehmeres denken, als eine Fußtour über die Berge, in ihrem jungen Frühlingsgrün; es wäre eine wahre Sünde, wenn ich die Gelegenheit dazu versäumte, um bei dem herrlichen Wetter aufs Pferd zu steigen! Wenn meine Forderung einkassiert ist, kann ja der Hund das kleine Bündel mit Leichtigkeit tragen. Morgen in aller Frühe will ich mich aufmachen und nach einem donnernden Lebewohl bei Gadsby’s auf Schusters Rappen nach Tennessee marschieren.«

Am 22. Juni verkaufte er seinen Hund und meinte: »wenn man so im Sommer durch Berg und Wald schweift, ist einem ja ein Hund überall im Wege, er jagt nach Eichhörnchen, bellt Tier und Menschen an, verläuft sich bald hier, bald dort, gerat in Bäche und Pfützen und läßt einen keinen Augenblick die schöne Natur in Ruhe genießen! Wenn ich mein Geld selber trage, ist es ohnehin viel sicherer. Auf einen Hund ist in Geldsachen kein Verlaß, – das weiß man aus Erfahrung! Na, lebt wohl, alte Jungens, – dies ist mein letzter Besuch, – morgen mit dem frühesten bin ich über alle Berge und auf festen Sohlen nach Tennessee unterwegs!« –

Es entstand eine Pause, – nur der Wind heulte, und der Schnee fiel in dichten Flocken. Endlich sagte Lykins ungeduldig:

»Nun, und was weiter?«

Riley versetzte:

»Ja, – das war vor dreißig Jahren!«

»Gut, gut, – aber was soll das?« –

»Der alte Herr ist mein guter Freund, er besucht mich jeden Abend, um Abschied zu nehmen. Vor einer Stunde war er bei mir und morgen früh macht er sich nach Tennessee auf – wie gewöhnlich, – er meinte, er werde seine Forderung einkassiert haben und auf und davon sein, ehe solche Nachteulen, wie ich, sich den Schlaf aus den Augen reiben. Er hatte Thränen in den Augen vor Freude, daß er nun bald seine alte Heimat und seine Freunde wiedersehen werde!« –

Es folgte eine abermalige Pause, die der Fremde unterbrach:

»Ist die Geschichte zu Ende?«

»Ja, das ist alles!«

»Sie war auch lang genug, bei dieser Nachtzeit und in solchem Wetter. Aber was wollen Sie denn damit sagen?«

»O, nichts Besonderes!«

»Ich meine, was soll sie eigentlich bedeuten?«

»Eine besondere Bedeutung hat sie nicht, – ich dachte nur so, daß, wenn Sie nicht in gar zu großer Eile sind, mit Ihrer Anstellung als Postmeister nach San Francisco zurückzukommen, so würde ich Ihnen raten, bei Gadsby’s abzusteigen, und sich Zeit zu nehmen. Leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen recht viel Glück!«

Dabei wandte sich Riley mit freundlicher Miene zum Gehen und ließ den verblüfften Schullehrer regungslos unter der Straßenlaterne stehen, die ihren hellen Schein auf den von Schneeflocken ganz weißen Mann warf. –

Die Postmeisterstelle hat er aber nie erhalten.