6.

Man hatte den »Maschkin Werch« abgemäht und legte die letzten Schwaden nieder; die Röcke wurden angezogen und alles kehrte in fröhlicher Stimmung heim.

Lewin setzte sich auf sein Pferd, und ritt, sich nur ungern von seinen Bauern verabschiedend, heim. Oben von dem Berge herab blickte er um sich; er gewahrte nichts mehr von den Leuten in dem aus der Niederung aufsteigenden Nebel, nur ihre Stimmen waren noch vernehmbar, lustige rauhe Stimmen, Lachen und die Töne der aneinanderklirrenden Sensen.

Sergey Iwanowitsch hatte die Abendmahlzeit schon längst beendet und nahm Limonade mit Wasser und Eis in seinem Zimmer zu sich. Er durchflog dabei d:e soeben von der Post eingetroffenen Zeitungen und Journale, als Lewin mit schweißdurchnäßten und wirr an der Stirn klebenden Haaren, Rücken und Brust von der Feuchtigkeit dunkel gefärbt, mit heiterem Gespräch ins Zimmer zu ihm hereintrat.

»Die ganze Wiese haben wir abgemäht, ah, und wie schön, es ist staunenswert! Was hast du denn den Tag hindurch gemacht?« frug Lewin, der das unerbauliche Gespräch von gestern völlig vergessen hatte.

»Bei allen Heiligen! Wie siehst du denn aus?« rief Sergey Iwanowitsch, in der ersten Minute seinen Bruder mit mißbilligendem Blicke musternd. »Aber so schließ doch die Thür, sicherlich hast du ein ganzes Dutzend Mücken hereingelassen!« rief er dann.

Sergey Iwanowitsch konnte die Fliegen nicht ausstehen und öffnete in seinem Zimmer nur des Nachts die Fenster, die Thür aber hielt er sorgfältig verschlossen.

»Mein Gott, es ist ja keine einzige da, und wenn ich welche hereinließ, dann will ich sie fangen! Du kannst nicht glauben, welches Vergnügen ich gehabt habe. Wie hast du denn den Tag verbracht?«

»Ich habe mich ganz gut unterhalten: aber hast du wirklich den ganzen Tag gemäht? Ich glaube, du mußt hungrig sein wie ein Wolf. Kusma hatte alles für dich fertig gemacht.«

»Nein, ich mag nicht essen, ich habe schon draußen gegessen, aber jetzt will ich gehen und mich waschen.«

»Nun, geh, ich komme dann sogleich zu dir,« antwortete Sergey Iwanowitsch, kopfschüttelnd seinen Bruder betrachtend. »Geh nun, geh nur schnell,« fügte er hinzu, lächelte und schickte sich, seine Bücher zusammennehmend, gleichfalls zu gehen an. Er fühlte sich plötzlich bei guter Laune und verspürte keine Neigung, sich von seinem Bruder zu trennen.

»Wo warst du denn, als es regnete?«

»Regnete? Es hat ja kaum getropft! Ich werde aber sogleich wiederkommen. Du hast dich also den ganzen Tag über wohl befunden? Das ist ja hübsch.« Lewin ging, um sich anzukleiden.

Nach Verlauf von fünf Minuten kamen die Brüder im Speisezimmer wieder zusammen. Obwohl es Lewin geschienen, als verspüre er gar keinen Hunger, setzte er sich doch zum Essen an den Tisch, um Kusma nicht zu beleidigen, als er indessen erst m essen begonnen hatte, da zeigte sich ihm die Mahlzeit als äußerst schmackhaft. Sergey Iwanowitsch blickte ihn lächelnd an.

»Ach ja, es ist auch ein Brief für dich angekommen!« fügte er hierauf hinzu, »Kusma, bringe ihn doch gefälligst herunter; doch sieh zu, daß die Thür wieder geschlossen wird!«

Das Schreiben war von Oblonskiy; Lewin las es laut vor. Oblonskiy schrieb von Petersburg aus: »Ich habe einen Brief von Dolly erhalten; sie befindet sich in Jerguschowo, aber es geht ihr nicht nach Wunsch. Begieb dich doch, wenn ich dich bitten dürfte, einmal zu ihr und stehe ihr mit deinem Rate bei; du kennst ja alles. Sie wird sich gewiß recht freuen, dich zu sehen. Ist sie doch ganz verlassen, die Arme, denn meine Schwiegermutter ist mit der ganzen Familie noch im Ausland.«

»Das ist ja ausgezeichnet! Ich werde ohne Zweifel zu ihnen fahren!« rief Lewin, »wir könnten da eigentlich beide zusammen fahren! Sie ist ein so braves Weib; nicht wahr?«

»Ist es nicht zu weit?«

»Dreißig Werst, vielleicht auch vierzig. Doch der Weg ist vorzüglich; wir werden zusammen fahren.«

»Sehr angenehm,« antwortete Sergey Iwanowitsch noch immer lächelnd. Der Anblick seines jüngeren Bruders versetzte ihn geradezu in Heiterkeit. »Guten Appetit hast du!« sagte er, auf das über den Teller gebeugte, von der Sonne rotbraun gebrannte Gesicht und den Hals Lewins schauend.

»Außerordentlich! Du glaubst nicht, wie nützlich eine solche Methode für Thorheiten aller Art ist. Ich will die Medizin mit einem neuen deutschen Ausdruck »Arbeitskur«, bereichern.«

»Die scheint aber dir doch nicht nötig zu sein.«

»Nein; nur manchen Nervenleidenden.«

»Man müßte sie versuchen. Ich hatte allerdings große Lust, zur Heuernte zu kommen, um dich zu sehen, aber die Hitze war so unerträglich, daß ich nicht weiter kam, als bis zum Walde. Da habe ich mich niedergesetzt und bin dann nach dem Dorfe hin gegangen. Ich traf auch dabei deine Amme, die ich bezüglich der Ansichten der Bauern über dich ausfrug. So weit ich verstand, billigen sie dein Vorgehen nicht, und sie sagte, das Mähen sei nicht Sache eines vornehmen Herrn. Mir scheint im allgemeinen, als ob sich in den Begriffen des Volkes die Ansichten über eine konventionell herrschaftliche Thätigkeit, wie man es nennen könnte, sehr scharf bestimmt wären; diese Bauern lassen es nicht zu, daß die Herren aus den nach ihrer Auffassung bestimmten Grenzen heraustreten.«

»Mag sein, aber es ist dies doch solch ein Vergnügen, wie ich es in meinem Leben noch nicht gehabt habe. Etwas Böses ist ja auch nicht dabei. Nicht wahr?« antwortete Lewin. »Was ist nun zu thun, wenn es ihnen nicht gefällt? Ich denke übrigens, dies hat auch nichts auf sich. Wie?«

»Im allgemeinen,« fuhr Sergey Iwanowitsch fort, »bist du, wie ich sehe, mit deinem Tag zufrieden.«

»Sehr zufrieden; wir haben eine ganze Wiese gemäht, und mit was für einem Alten habe ich dort Freundschaft geschlossen! Du kannst dir das nicht vorstellen, – eine Pracht!«

»Du bist also zufrieden mit deinem Tag. Ich bin es auch. Zunächst habe ich zwei Schachaufgaben gelöst, eine davon ist sehr hübsch, sie wird durch einen Bauer eröffnet, und ich werde sie dir zeigen. Dann aber habe ich über unsere gestrige Unterredung nachgedacht.«

»Wie?« Über unsere gestrige Unterredung?« frug Lewin, zufrieden mit den Augen blinkernd und tief aufschnaufend nach der Beendigung der Mahlzeit. Er hatte durchaus nicht die Fähigkeit mehr, sich wieder zu vergegenwärtigen, welcher Art die gestrige Unterredung gewesen war.

»Ich finde, daß du zum Teil recht hattest. Unsere Meinungsverschiedenheit beruht darin, daß du als das treibende Moment das persönliche Interesse hinstelltest, während ich glaube, daß ein Interesse für das allgemeine Wohl bei jedem Menschen vorhanden sein muß, welcher auf einer gewissen Bildungsstufe steht. Mag sein, daß du auch damit recht hast, die materiell interessierte Thätigkeit sei die wünschenswertere. Im allgemeinen bist du eine Natur, die, wie die Franzosen sagen, allzuviel primesautière ist; du willst eine leidenschaftliche, energische Thätigkeit, oder gar keine.«

Lewin hörte dem Bruder zu, er verstand aber durchaus nichts von dessen Worten und wollte auch nichts verstehen. Er fürchtete lediglich, der Bruder möchte ihm eine Frage stellen, bei der es sich zeigen würde, daß er gar nicht zugehört habe.

»So steht es also, Freundchen!« sagte Sergey Iwanowitsch, ihn an der Schulter fassend.

»Ja wohl, versteht sich. Aber was ist – ich beharre ja gar nicht auf meiner Meinung,« antwortete Lewin mit kindlichem, schuldbewußten Lächeln. – Worin habe ich denn gestritten?« dachte er bei sich. »Freilich ich habe recht und er hat recht, und so ist alles gut. Aber jetzt nur noch ins Kontor und Anordnungen treffen.« Er erhob sich, dehnte sich und lächelte.

Sergey Iwanowitsch lächelte gleichfalls.

»Du willst mir aus dem Wege gehen; gehen wir zusammen,« sagte er, im Wunsche, sich nicht von dem Bruder zu trennen, von dem es ihn mit Frische und strotzender Kraft anmutete, »komm, laß uns zusammen nach dem Kontor gehen, Wenn du dorthin mußt.«

»Alle Heiligen!« rief Lewin aus, so laut, daß Sergey Iwanowitsch erschrak.

»Was; was hast du?«

»Was macht die Hand der Agathe Michailowna?« frug Lewin, sich vor den Kopf schlagend. »Die habe ich ja ganz vergessen!«

»Sie ist weit besser geworden.«

»Nun, gleichwohl muß ich doch einmal zu ihr laufen. Bevor du den Hut aufgesetzt hast, werde ich wieder zurückgekehrt sein.«

Wie eine Dreschmaschine mit den Absätzen polternd, eilte er zur Treppe hinab.

7.

Während Stefan Arkadjewitsch nach Petersburg fuhr, um der Erfüllung jener, allen Beamten naturgemäßesten und vertrautesten – wenn auch den Laien unverständlichen – Hauptpflichten zu genügen, ohne welche es nicht möglich ist, Beamter zu sein, der nämlich, seine werte Persönlichkeit dem Ministerium in Erinnerung zu bringen, und hierbei, in der Erfüllung dieser Obliegenheit, fast alles Barvermögen des Hauses bei sich führend, die Zeit heiter und vergnügt auf der Schlittschuhbahn oder auf den Villen verbrachte – war Dolly mit den Kindern auf das Land übergesiedelt, um die Ausgaben soviel wie möglich zu beschränken. Sie hatte sich nach ihrem Mitgiftgute Jerguschowo begeben, demselben, von welchem der Wald im Frühling veräußert worden war, und welches einige fünfzig Werst von Lewins Dorfe Pokrowskoje lag.

In Jerguschowo war das große alte Herrenhaus schon lange abgebrochen; doch war vom Fürsten her noch ein Flügel davon abgeteilt und erhöht worden – vor zwanzig Jahren Zur Zeit, als Dolly noch ein Kind war, – geräumig und bequem zwar, stand er freilich, wie alle Flügel, seitwärts von der Ausfahrtallee und nach Süden. Jetzt aber war dieser Flügel alt und baufällig geworden.

Als Stefan Arkadjewitsch im Frühjahr zum Waldverkauf gefahren war, hatte Dolly ihn gebeten, das Haus zu besichtigen und die Renovierung, anzuordnen, soweit sie nötig sein würde.

Stefan Arkadjewitsch, wie alle schuldbewußten Ehemänner, höchst besorgt um die Bequemlichkeit seiner Frau, besichtigte persönlich das Haus und traf bezüglich alles dessen, was nach seiner Auffassung erforderlich war, Verfügungen.

Nach seiner Auffassung war es nötig, das gesamte Meublement mit Cretonüberzügen neu zu überziehen, Gardinen aufzustecken, den Garten zu säubern, eine kleine Brücke am Teich zu bauen und Blumen zu pflanzen, dabei aber hatte er viele andere notwendige Dinge vergessen, deren Mangel später für Darja Alexandrowna peinlich wurde.

So sehr sich Stefan Arkadjewitsch auch bemühte, ein sorglicher Vater und Ehemann zu sein, konnte er sich doch in keiner Weise vergegenwärtigen, daß er Weib und Kinder besitze.

Er hatte noch völlig den Hagestolzengeschmack und nach diesem allein erwog er sich alles. Nach Moskau zurückgekehrt, erklärte er seiner Frau voll Selbstgefühl, daß alles vorbereitet wäre, daß das Haus wie ein Kinderspielzeug sein werde und er ihr nunmehr sehr empfehle, zu fahren.

Für Stefan Arkadjewitsch war die Abreise der Gattin in jeder Hinsicht sehr willkommen; für die Kinder war sie der Gesundheit zuträglich, die Ausgaben wurden vermindert und er selbst erhielt mehr Freiheit. Darja Alexandrowna aber hielt ihre Übersiedelung nach dem Dorfe für den Sommer ebenfalls für unumgänglich, wegen der Kinder, besonders ihres Töchterchens, welches nach dem Scharlachfieber noch nicht wieder recht zu Kräften kommen konnte, und dann endlich, weil sie sich damit von den vielen kleinen Erniedrigungen, den kleinen Schulden, die sie an die Holzlieferanten, Fischer und Schuhmacher hatte, und welche sie quälten, befreien konnte.

Außerdem war ihr aber die Übersiedelung auch noch wünschenswert, weil sie glaubte, auch ihre Schwester Kity mit auf das Dorf nehmen zu können, welche in der Mitte des Sommers aus dem Auslande heimkehren mußte, und der Bäder verschrieben worden waren.

Kity hatte ihr aus dem Badeort geschrieben, daß ihr nichts so angenehm dünke, als den Sommer mit Dolly in Jerguschowo zubringen zu können, welches ja so reich an Jugenderinnerungen für sie beide sei.

Die erste Zeit des Aufenthaltes auf dem Lande war für Dolly sehr beschwerlich. Sie hatte in ihrer Kindheit auf dem Lande gelebt und es war der Eindruck in ihr zurückgeblieben, daß das Dorf ein Zufluchtsort vor all den Unannehmlichkeiten der Stadt sei, daß das Leben hier, wenngleich nicht schön – hierin hätte sich Dolly leicht zufrieden gegeben – doch billig und bequem sei; man konnte hier alles haben und billig haben, was zu bekommen war, und die Kinder befanden sich wohl dabei. Als sie jetzt aber in ihrer Eigenschaft als Hausherrin auf das Dorf gekommen war, wurde sie inne, daß die Sache doch gar nicht so war, als sie gedacht hatte.

Am Tage nach ihrer Ankunft kam ein Platzregen und abends floß der Korridor und die Kinderstube von Wasser, so daß man die Kinderbetten in das Gastzimmer bringen mußte. Eine Köchin für das Gesinde war nicht vorhanden, und von den neun Kühen kalbten nach den Worten der Viehmagd einige, andere hatten das erste Kalb, oder waren schon zu alt und gaben keine Milch; weder Butter noch Milch war ausreichend selbst für die Kinder vorhanden; Eier gab es gar nicht und eine Henne war nicht zu erlangen. Man briet oder kochte nur alte, sehnige Hahne. Selbst Weiber, die die Zimmer scheuerten, konnte man nicht haben, sie waren alle auf dem Kartoffelfeld. Auszufahren erwies sich als unmöglich, weil das einzige Pferd störrig war und in die Deichsel riß, auch baden konnte man nicht, denn das ganze Flußufer war vom Vieh ausgetreten und lag vom Wege aus frei sichtbar da, ja selbst ein Spaziergang ließ sich nicht unternehmen, da das Vieh durch den zerbrochenen Gartenzaun in den Garten kam, und es einen bösartigen Stier hier gab, welcher brüllte und daher wohl mit den Hörnern stoßen konnte. Schränke für die Garderobe mangelten auch, und die, welche vorhanden waren, ließen sich nicht verschließen, sondern gingen von selbst auf, sobald man an ihnen vorüberschritt. Küchengerät und Asche fehlten gleichfalls, ein Waschkessel, selbst ein Plättbrett war nicht da.

Anfangs war daher Darja Aleksandrowna, anstatt Ruhe und Erholung zu finden, in Verzweiflung, als sie in diesen von ihrem Gesichtspunkt aus furchtbaren Notstand geraten, war; sie sorgte mit allen Kräften, sie empfand den Zwang ihrer Lage und mußte alle Augenblicke die Thränen zurückdrängen, die ihr in die Augen traten. Der Hausverwalter, ein früherer Wachtmeister, der bei Stefan Arkadjewitsch in Gunst stand, und von diesem seiner einnehmenden und respektablen Erscheinung halber zum Portier erhoben worden war, widmete der bedrängten Lage seiner Herrin nicht die geringste Teilnahme; er äußerte nur ehrerbietig: »Es ist unmöglich etwas zu thun; das Volk hier ist zu elend,« und leistete sonst keinerlei Beistand.

Die Lage erschien trostlos. Aber im Hanse der Oblonskiy, gab es, wie das in allen guten Häusern ist – eine zwar nicht hervortretende, dafür aber äußerst wichtige und nützliche Person – das war Marja Philimonowna.

Diese beruhigte die Herrin, versicherte derselben, daß sich »schon alles machen werde« – ihr gewöhnliches Wort, welches von ihr erst Matwey angenommen hatte, – und wirkte nun ohne Hast und Unruhe.

Sie war sogleich mit der Wirtschafterin in Verbindung getreten, hatte schon am ersten Tage nach der Ankunft mit dieser und dem Verwalter Thee zusammen unter den Akazien getrunken, und dabei alle Angelegenheiten beraten. Schnell hatte sich unter den Akazien ein Klub Marja Philimonownas gebildet, und durch diesen Klub, welcher aus der Wirtschafterin, dem Starosten und dem Kontorschreiber bestand, begannen sich die Übelstände des Lebens einigermaßen zu bessern, so daß nach Verlauf einer Woche sich in der That »alles schon machte«. Man hatte das Dach ausgebessert, eine Köchin gefunden – eine Base des Starosten, – Hühner angekauft; die Kühe begannen Milch zu geben, der Garten wurde mit dünnen, langen Stangen umzäunt, der Zimmermann hatte eine Wäschmangel gebaut und zu den Schränken waren Schlüssel geschafft worden, so daß sie sich nicht mehr von selbst öffneten; ein Plättbrett, mit Uniformtuch überzogen, lag von der Armsessellehne bis zur Kommode und in der Mädchenstube roch es nach dem heißen Plättstahl.

»Da haben wirs ja und doch war man schon in Verzweiflung,« sagte Marja Philimonowna, auf das Brett weisend.

Selbst ein Badehäuschen war aus Strohschirmen gebaut. Lili begann zu baden und für Darja Aleksandrowna gingen so wenigstens die Erwartungen, die sie sich von einem wenn auch nicht ruhigen, so doch bequemen Landleben gemacht hatte, in Erfüllung. Mit sechs Kindern konnte Darja Aleksandrowna nicht ruhig leben; das eine war krank, das andere konnte krank werden, dem dritten fehlte etwas, das vierte zeigte Anlagen zu schlechtem Charakter – und so ging es fort. Selten, höchst selten gab es kurze Ruhepausen, und doch waren diese Sorgen und Unruhen für Darja Aleksandrowna das einzig mögliche Glück. Wäre es nicht vorhanden gewesen, so war sie sich selbst überlassen mit ihren Gedanken über ihren Mann, der sie nicht liebte.

Aber so drückend auch der Mutter die Angst vor der Krankheit, und die Krankheit der Kinder selbst sein mochte, und der Schmerz, welchen sie angesichts der Anzeichen zu schlechten Neigungen bei ihren Kindern empfand – die Kinder selbst vergalten ihr schon jetzt mit kleinen Freuden ihren Schmerz. Diese Freuden waren freilich so klein, daß sie unbemerkbar erschienen, wie Gold im Sande, und in trüben Augenblicken sah sie auch nur den Kummer, – nur den Sand; – allein es gab doch auch schöne Augenblicke, in denen sie nur Freude fand – nur Gold. –

Jetzt in der Einsamkeit des Landlebens begann sie dieser Freuden mehr und mehr inne zu werden. Oft bemühte sie sich im Hinblicke auf sie in jeder Weise die Überzeugung zu gewinnen, sie irre sich, sie sei als Mutter nur eingenommen für ihre Kinder, aber dennoch mußte sie sich selbst sagen, daß sie reizende Kinder habe, alle sechs, alle in verschiedener Art, und doch so, wie man selten welche findet – und sie fühlte sich glücklich in ihnen und war stolz auf dieselben.

35.

Die heitere Stimmung des Fürsten übertrug sich auch auf seine häusliche Umgebung, die Bekannten, und selbst auf den deutschen Wirt, bei dem die Schtscherbazkiy wohnten.

Mit Kity vom Brunnen zurückgekehrt, ließ der Fürst, der den Obersten, sowie Marja Eugenjewna und Warenka zum Kaffee zu sich gebeten hatte, Tisch und Stühle in den kleinen Garten unter einen Kastanienbaum bringen und dort zum Frühstück decken.

Selbst der Hauswirt und der Diener wurden unter dem Einfluß seiner heiteren Stimmung lebhaft. Sie kannten seine Freigebigkeit, und nach einer halben Stunde blickte auch der kranke Hamburger Arzt, der oben logierte, neidisch aus dem Fenster auf die heitere, russische Gesellschaft gesunder Menschen herab, die sich da unter dem Kastanienbaum versammelt hatte.

In dem von Kringeln zitternden Schatten des Blätterdaches saß die Fürstin an dem mit einem schneeigen Tafeltuch bedeckten Tische, auf welchem Kaffeekannen, Brot und Butter, Käse und kaltes Wildbret stand, in ihrem Hauskleid mit lila Schleifen, und verteilte die Tassen und Törtchen.

Am andern Ende saß der Fürst, mit vollen Backen kauend, in geräuschvoller und heiterer Unterhaltung; er hatte neben sich Ankäufe ausgelegt; geschnitzte Kästchen, Spiele, Federmesser von allen Sorten, die er in allen Bädern in Massen gekauft hatte, und verteilte sie nun. unter alle, selbst an Lieschen, das Dienstmädchen und den Hauswirt, mit welchem er in seinem komischen schlechten Deutsch scherzte, indem er ihm versicherte, daß nicht die Bäder Kity geheilt hätten, sondern seine vorzügliche Kost und besonders die Suppe mit gebackenen Pflaumen.

Die Fürstin machte sich über ihres Gatten russische Manieren lustig, war aber gleichfalls so angeregt und heiter, wie sie seit der ganzen Zeit ihrer Anwesenheit im Bade nicht gewesen war.

Der Oberst freute sich, wie stets, über die Späße des Fürsten, aber in Bezug auf die europäischen Verhältnisse, welche er aufmerksam studiert hatte, wie er wähnte, hielt er die Partei der Fürstin.

Die gutmütige Marja Eugenjewna schüttelte sich vor Lachen über alles was der Fürst Scherzhaftes äußerte, und selbst Warenka – was Kity noch nie bemerkt hatte – ließ ein leises, aber vernehmliches Lachen hören, welches die Scherze des Fürsten in ihr hervorriefen.

Alles dies erheiterte Kity wohl, aber sie konnte sich einer Sorge nicht erwehren. Sie vermochte die Aufgabe nicht zu lösen, welche ihr ihr Vater – ohne es zu wollen, mit seiner launigen Ansicht von ihren Freundinnen und jenem Leben gestellt, das sie so lieb gewonnen hatte.

Zu dieser Aufgabe kam noch die Veränderung in ihren Beziehungen zu Petroff, welche heute in so augenfälliger und unangenehmer Weise zum Ausdruck gekommen war. Alle befanden sich in heiterer Stimmung, nur Kity konnte nicht heiter sein und dies quälte sie noch mehr. Sie empfand ein Gefühl, wie es ihr wohl in der Kindheit kam, wenn sie, zur Strafe in ihr Zimmer eingeschlossen, das lustige Lachen der Schwestern vernahm.

»Nun, wie teuer kauftest du denn diese Masse Kram?« frug die Fürstin lächelnd, ihrem Gatten eine Schale Kaffee reichend.

»Man geht da eben unter den Buden umher, und tritt man an eine heran, so wird man eingeladen zu kaufen: Erlaucht, Excellenz, Durchlaucht, heißt es da; wenn man schon Durchlaucht tituliert wird, da kann man nicht mehr anders, man läßt zehn Thaler springen und damit gut.«

»Und das machst du nur aus langer Weile,« sagte die Fürstin.

»Versteht sich; aus lieber langer Weile. Man langweilt sich eben so, Matuschka, daß man wirklich nicht mehr weiß, was man mit sich anfangen soll.«

»Wie kann man sich nur langweilen, Fürst? Es giebt doch jetzt soviel des Interessanten in Deutschland,« sagte Marja Eugenjewna.

»Aber ich kenne schon alles Interessante! Suppe mit gebackenen Pflaumen, Erbswurst – ich kenne alles!«

»O, nein, doch wie Ihr wollt! Fürst, interessant sind die Sitten hier,« meinte der Oberst.

»Was wäre dabei Interessantes? Die Menschen sind alle zufrieden, wie Kupfermünzen, aber sie haben sich alles dienstbar gemacht. Womit soll ich jedoch zufrieden sein? Ich habe mir niemand dienstbar gemacht, sondern ziehe mir des Abends meine Stiefel selber aus und setze sie auch noch selber vor die Thür. Morgens stehe ich auf, kleide mich sogleich an, gehe in den Salon und trinke dann meinen schlechten Thee. Wie geht es doch aber bei mir zu Hause? Da schläft man aus m Ruhe, ereifert sich über etwas, kommt dann hübsch zur Besinnung, überlegt sich alles und hat keinerlei Eile.«

»Zeit aber ist doch Geld! Das vergeßt Ihr!« warf der Oberst ein.

»Welche Zeit! Das ist eine ganz andere Zeit, wenn man einen ganzen Monat für einen Poltinnik opfert, als solche, von der eine halbe Stunde mit keinem Gelde bezahlbar ist! Was sagst du dazu, Katenka? Du bist recht langweilig.«

»Ich – o nichts.«

»Wohin wollt Ihr schon? Bleibt doch noch ein wenig sitzen,« wandte er sich an Warenka.

»Ich muß nach Haus,« antwortete Warenka aufstehend, nochmals in Lachen ausbrechend. Nachdem sie sich beruhigt hatte, verabschiedete sie sich und schritt nach dem Hause, um ihren Hut zu nehmen.

Kity folgte ihr nach. Selbst Warenka erschien ihr jetzt als eine andere. Sie war nicht schlechter geworden, aber doch eine andere, als Kity sie sich früher vorgestellt hatte.

»O, so habe ich lange nicht gelacht!« sagte Warenka, ihren Schirm und das Arbeitsbeutelchen nehmend; »wie liebenswürdig er doch ist, Euer Papa!«

Kity schwieg.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« frug Warenka.

»Maman wollte zu den Petroff gehen. Werdet Ihr nicht dort sein?« frug Kity, Warenka ausforschend.

»Ich werde kommen; sie rüsten sich zur Abreise und ich habe dann versprochen, mit einpacken zu helfen,« antwortete Warenka.

»Gut, auch ich werde kommen.«

»Aber, was wollt Ihr da?«

»Weshalb fragt Ihr so, weshalb, weshalb?« versetzte Kity, die Augen weit aufreißend, und um Warenka nicht fortzulassen, deren Sonnenschirm ergreifend. »Halt, halt, weshalb fragt Ihr so?«

»Nun; Euer Papa ist doch angekommen und man wird auch in Eurer Gegenwart in Verlegenheit geraten.«

»Nein, nein; sagt mir, weshalb Ihr nicht wollt, daß ich öfter bei den Petroff bin? Ihr wollt es doch offenbar nicht. Weshalb nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt,« antwortete Warenka ruhig.

»O bitte, sprecht nur!«

»Soll ich alles sagen?«

»Alles, alles!« –

»Etwas Besonderes ist ja gar nicht dabei – nur dies, daß Michael Aleksejewitsch, der Maler, erst zeitiger abreisen wollte, jetzt aber gar nicht mehr will,« sprach Warenka lächelnd.

»Und?« drängte Kity, Warenka finster anblickend.

»Nun; infolge dessen hat Anna Pawlowna gesagt, er wolle dies deswegen nicht, weil Ihr hier wäret. Natürlich war das unpassend, aber eben aus diesem Grunde, nur Euretwegen, ist der Zwist entstanden. Ihr wißt ja, wie reizbar diese Kranken sind!«

Kity blieb stumm, sich mehr und mehr verfinsternd, und Warenka sprach allein weiter, im Bemühen, sie beschwichtigen und zu beruhigen. Sie sah den sich vorbereitenden Ausbruch, wußte aber noch nicht, ob er sich in Worten oder in Thränen äußern werde.

»Es ist somit besser, Ihr geht nicht hin. Ihr versteht ja, und nehmt nicht übel« –

»Mir ist ganz recht geschehen, ganz recht!« versetzte Kity hastig, den Schirm aus den Händen Warenkas reißend und an den Blicken der Freundin vorbei ins Weite starrend.

Warenka wandelte ein Lächeln an, als sie den kindlichen Zorn der Freundin gewahrte, doch fürchtete sie, diese zu kränken.

»Inwiefern ist dir recht geschehen? Ich verstehe nicht,« sprach sie.

»Recht geschehen ist mir dafür, daß dies alles nur Verstellung war, alles nur simuliert wurde und nicht aus Herzensgrunde kam! Was ging mich auch ein fremder Mensch an? So ist es gekommen, daß ich die Ursache des Unfriedens geworden bin, nur weil ich etwas gethan habe, was niemand von mir verlangte. Daher ist alles dies nur Heuchelei, Heuchelei, Heuchelei!« –

»Aber wozu denn heucheln?« erwiderte ruhig Warenka.

»O wie thöricht; wie abscheulich! Und ich hätte dies doch gar nicht zu thun brauchen! Alles war Heuchelei!« sagte sie, den Schirm bald öffnend, bald schließend.

»Aber zu welchem Zwecke nur?«

»Zu dem, vor den Menschen, vor sich selbst, und vor Gott besser zu scheinen! Daß man jedermann täuscht! Nein, nie mehr werde ich mich von jetzt ab jenen Bestrebungen widmen! Man kann wohl schlecht sein, braucht aber doch wenigstens nicht zu lügen und zu trügen!«

»Aber wer ist denn die Betrügerin?« frug Warenka vorwurfsvoll, »Ihr sprecht doch gerade, als ob« –

Kity befand sich indessen in höchster Wut; sie ließ Warenka nicht aussprechen.

»Nicht von Euch, durchaus nicht von Euch rede ich. Ihr seid die Vollkommenheit selbst! Ja wohl, ich weiß, daß ihr alle die Vollkommenheit selbst seid! Aber was ist zu thun, wenn ich schlecht bin? Dies würde doch alles nicht gewesen sein, wenn ich nicht schlecht wäre! Laß mich also sein, wie ich bin, heucheln will ich aber nicht! Was geht mich Anna Pawlowna an? Mögen sie doch leben, wie sie wollen; auch ich thue es, wie ich will. Eine andere kann ich nicht werden und alles dies ist anders, anders!« –

»Was ist anders?« frug Warenka unsicher.

»Alles! Ich kann nicht anders leben, als nach meinem Herzen, Ihr aber lebt nach Regeln. Ich hatte Euch aufrichtig liebgewonnen, Ihr mich aber, wohl nur im Wunsche, mich zu retten, unterwiesen!«

»Ihr seid ungerecht,« sagte Warenka.

»Ich spreche nicht von anderen, nur von mir selbst!«

»Kity!« – erklang hier die Stimme der Mutter, »komm doch hierher und zeige Papa einmal deine Zaunkönige!« –

Mit einem Ausdruck von Stolz und ohne sich mit der Freundin ausgesöhnt zu haben, nahm sie von einem Tische die im Käfig befindlichen Zaunkönige und ging zur Mutter.

»Was ist dir? Du stehst so rot aus?« frug Vater und Mutter wie mit einer Stimme.

»Nichts,« versetzte Kity, »ich komme sofort wieder her,« und eilte nochmals zurück. »Sie wird noch da sein,« dachte sie, »was soll ich ihr sagen? Mein Gott, was habe ich ihr angethan, was habe ich gesprochen! Wofür habe ich denn sie beleidigt? Was soll ich thun? Was soll ich ihr sagen?« dachte Kity und blieb an der Thür stehen.

Warenka saß, im Hut und den Sonnenschirm in den Händen, am Tische, und betrachtete die Sprungfeder, welche Kity zerbrochen hatte. Sie hob den Kopf,

»Warenka, vergebt mir, vergebt!« flüsterte Kity, zu ihr tretend. »Ich weiß nicht mehr, was ich gesprochen habe. Ich« –

»Ich habe Euch wahrhaftig nicht wehe thun wollen,« antwortete Warenka, lächelnd.

Der Friede war wieder geschlossen, aber mit der Ankunft des Vaters hatte sich für Kity diese ganze Welt, in welcher sie gelebt, verwandelt. Sie sagte sich zwar nicht los von allem dem, was sie kennen gelernt hatte, aber sie hatte auch erkannt, daß sie sich selbst täuschte, wenn sie glaubte, sie könne so werden, wie sie zu sein wünschte.

Sie war gleichsam erwacht und fühlte die ganze Schwierigkeit, die darin lag, sich ohne Heuchelei und Prahlerei auf jener Höhe erhalten zu sollen, auf welche sie hinaufzugelangen wünschte. Weiter aber empfand sie auch die ganze Schwere der Bitternis dieser Welt in der sie lebte, ihrer Leiden und des Todes. Peinlich erschienen ihr die Anstrengungen, welche sie über sich gemacht hatte, um das alles lieben zu können, und sie empfand jetzt bald Sehnsucht nach einem frischen Lufthauch, nach Rußland, nach Pokrowskoje, wohin, wie sie brieflich benachrichtigt worden war, ihre Schwester Dolly mit ihren Kindern bereits übergesiedelt war.

Aber ihre Liebe zu Warenka hatte nicht abgenommen. Beim Abschied bat Kity diese, zu ihnen nach Rußland zu kommen.

»Ich werde kommen, sobald Ihr heiratet,« hatte Warenka darauf geantwortet.

»Niemals werde ich heiraten!« –

»Dann werde ich niemals kommen!«

»Also werde ich dann nur deshalb heiraten! Seht zu, seid Eures Versprechens eingedenk!« sagte Kity.

Die Prophezeiungen des Arztes hatten sich erfüllt. Kity kehrte wiederhergestellt nach Rußland zurück. Sie war nicht mehr so sorglos und heiter, wie vordem, sondern sie war ruhig geworden. Die bitteren Erfahrungen in Moskau waren ihr nur noch eine Erinnerung.

1.

Sergey Iwanowitsch Koznyscheff wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und ging – anstatt wie üblich ins Ausland – Ende Mai auf das Land zu seinem Bruder.

Seiner Überzeugung nach war das schönste Leben das Landleben, und er kam jetzt zu seinem Bruder, um dieses Leben zu genießen.

Konstantin Lewin war hocherfreut, umsomehr, als er den Bruder Nikolay für dieses Jahr nicht mehr erwartete, aber ungeachtet aller Liebe und Achtung, für Sergey Iwanowitsch, war es ihm nicht recht behaglich in Gesellschaft des Bruders auf dem Lande. Es war ihm peinlich, sogar unangenehm, die Auffassung seines Bruders vom Landleben zu beobachten. Für Konstantin Lewin war das Dorf der Ort seines Lebens, das heißt seiner Freuden und Leiden und seiner Mühen; für Sergey Iwanowitsch war das Dorf einerseits ein Erholungsort von der Arbeit, andererseits ein nützliches Gegengift für die Verderbnis, welches er mit Vergnügen und dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm.

Konstantin Lewin war das Dorf deshalb lieb und wert, weil es für ihn die Laufbahn einer zweifellos nutzbringenden Wirksamkeit bildete, Sergey Iwanowitsch besonders deshalb, weil man sich daselbst dem süßen Nichtsthun überlassen konnte, ja mußte. Außerdem aber war Konstantin auch auf die Stellung Sergey Iwanowitschs dem Volke gegenüber nicht gut zu sprechen. Sergey Iwanowitsch sagte, er liebe und kenne das Volk, und unterhielt sich häufig mit den Bauern, was er gut zu thun verstand, ohne sich zu verstellen oder mit einer Miene dabei zu zucken. Aus jeder solchen Unterhaltung deduzierte er sich allgemeine Thatsachen, die zu Gunsten des Volkes sprachen und den Beweis liefern sollten, daß er dieses Volk verstehe.

Dieser Standpunkt dem Volke gegenüber gefiel Konstantin Lewin nicht. Für ihn war das Volk nur der Hauptteilhaber an der gemeinsamen Arbeitspflicht und ungeachtet aller seiner Achtung, selbst einer gewissen angeborenen Liebe zum Bauernstande, die er wohl mit der Ammenmilch wie er selbst sagte, eingesogen hatte, geriet er als Teilhaber neben demselben an der gemeinsamen Arbeit, zwar bisweilen in Entzücken über die Kraft, die Güte und das Rechtsgefühl dieser Menschen, sehr oft aber auch, wenn es sich bei dieser gemeinsamen Arbeit um andere Eigenschaften handelte, in Zorn über deren Sorglosigkeit, Unachtsamkeit, Trunksucht und Verlogenheit.

Konstantin Lewin würde, wenn er gefragt worden wäre, ob er das Volk liebe, jedenfalls nicht gewußt haben, wie er hierauf antworten solle. Er liebte das Volk und liebte es auch nicht, genau so wie überhaupt die Menschen. Natürlich liebte er, als guter Mensch, die Menschen mehr, als daß er sie nicht geliebt hätte, und demzufolge liebte er auch das Volk. Aber das Volk lieben oder nicht lieben – als etwas Besonderes – das konnte er nicht, weil er nicht nur im Volke selbst lebte, nicht nur alle seine Interessen mit demselben verknüpft waren, sondern, weil er sich auch selbst für ein Teil aus dem Volke hielt und weder in sich selbst, noch in diesem Volke etwa besondere Vorzüge oder Mängel erkannte, und sich auch demselben nicht gegenüberzustellen vermochte.

Obwohl er ferner lange Zeit in den engsten Beziehungen mit dem Bauernstande als Gutsherr und Schiedsrichter gelebt hatte, hauptsächlich auch als Ratgeber – die Bauern vertrauten ihm und kamen bis zu vierzig Werst weit her, um sich bei ihm Rats zu erholen – so hatte er doch nicht das geringste bestimmte Urteil über das Volk; und auf die Frage, ob er es kenne, würde er sich in der nämlichen Ratlosigkeit befunden haben, wie bezüglich der Frage, ob er es liebe.

Zu sagen, er kenne das Volk, wäre für ihn das Nämliche gewesen, wie die Behauptung, er kenne die Menschen überhaupt. Er hatte wohl die Menschen beständig beobachtet und jede Art derselben kennen gelernt, aber in der Zahl jener Bauern, die er für gute und interessante Menschen gehalten hatte, nahm er unaufhörlich neue Charakterzüge wahr, änderte daher seine früher gewonnenen Urteile über dieselben und bildete sich neue.

Sergey Iwanowitsch verfuhr im Gegenteil. Ganz ebenso, wie er das Landleben liebte und pries als Gegensatz zu dem Leben, welches er nicht liebte – ganz ebenso liebte er das Volk im Gegensatz zu jener Art von Menschen, die er nicht liebte, ganz ebenso erkannte er das Volk als etwas, was den Menschen insgemein entgegengesetzt war. In seinem logischen Verstande hatten sich bestimmte Formen des Volkslebens klar abgesetzt, zum Teil aus diesem selbst hergeleitet, in der Hauptsache aber vorzugsweise nur aus dem Gegensätzlichen. Er änderte daher niemals seine Meinung über das Volk und das Verhältnis, in welchem er sich zu demselben fühlte.

Bei diesen unter den beiden Brüdern obwaltenden Meinungsverschiedenheiten über das Volk, suchte Sergey Iwanowitsch stets seinen Bruder vor allem dadurch zu überzeugen, daß er selbst bestimmte Begriffe von dem Volke besitze, von seinem Charakter, seinen Eigenschaften und seinem Geschmack. Konstantin Lewin hingegen besaß keinerlei bestimmte oder unwandelbare Vorstellungen und die Folge war, daß er bei derartigen Debatten des Widerspruches mit sich selbst überführt wurde.

Für Sergey Iwanowitsch selbst war der jüngere Bruder ein guter Mensch, von Gefühl, bien établi, wie er sich französisch ausdrückte, aber mit einer, wenn auch ziemlich beweglichen, so doch gleichwohl den Eindrücken des Augenblicks unterworfenen und daher an Widersprüchen reichen Geistesrichtung. Mit jener Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm daher bisweilen die Bedeutung der Dinge, fand aber keinen Genuß darin, mit ihm zu debattieren, da er ihn zu leicht schlug.

Konstantin Lewin blickte auf seinen Bruder, wie auf einen Menschen von hohem Geist und großer Bildung, edel in des Wortes höchstem Sinne und begabt mit der Fähigkeit, für das allgemeine Wohl zu wirken. Auf dem Grund seiner Seele aber begann er, je älter er wurde und je mehr er den Bruder erkannte, inne zu werden, daß diese Befähigung, zum allgemeinen Wohle wirken zu können, deren er sich so völlig bar wußte, vielleicht gar kein Vorzug sei, sondern vielmehr ein Mangel; nicht gerade ein Mangel an guten, ehrenhaften und löblichen Wünschen und Ansichten, aber doch ein Mangel an Lebenskraft, an dem, was man Herzensfrische nennt, an jenem Streben, welches den Menschen veranlaßt, aus all den unzählig sich bietenden Lebenswegen einen auszuwählen und diesen einen zu erstreben.

Je mehr er den Bruder erkannte, umsomehr bemerkte er, daß auch Sergey Iwanowitsch, wie viele andere Propheten des allgemeinen Wohls, nicht vom Herzen zu dieser seiner Liebe für dasselbe geleitet wurde, sondern nur nach dem Verstande urteilte, es sei gut, wenn man sich mit Derartigem befasse, und daß er sich eben aus diesem Grunde nur damit befaßte. In dieser Annahme bestärkte Lewin auch weiter noch die Bemerkung, daß sich sein Bruder die Frage, welche die sociale Wohlfahrt oder die Unsterblichkeit der Seele betrafen, nicht anders zu Herzen nahm, als wie wenn es sich um eine Partie Schach oder die scharfsinnige Konstruktion einer neuen Maschine handelte.

Ferner aber war es Lewin auch deshalb noch peinlich, mit seinem Bruder das Landleben zu teilen, weil er, besonders im Sommer, beständig mit der Ökonomie beschäftigt war, so daß ihm selbst der lange Sommertag noch nicht hinreichte alles zu erledigen, was erledigt werden mußte, während Sergey Iwanowitsch der Ruhe pflegte. Wenngleich indessen dieser jetzt auch ausruhte, das heißt, nicht an seinem Werke arbeitete, so war er doch so an geistige Thätigkeit gewöhnt, daß er es liebte, die Ideen welche ihm gekommen waren, in schöner, präciser Form zu äußern, und er liebte es, daß ihm jemand hierbei zuhörte. Der gewöhnliche und natürliche Zuhörer war nun sein Bruder, und es wurde diesem daher ungeachtet aller freundschaftlichen Offenheit in den beiderseitigen Beziehungen peinlich, den Bruder allein lassen zu sollen. Sergey Iwanowitsch liebte es, im Sonnenschein im Grase zu liegen, sich rösten zu lassen und träge dabei zu plaudern.

»Du glaubst nicht,« wandte er sich an seinen Bruder, »welchen Reiz für mich diese faulenzende Sommerfrische hat. Kein Gedanke ist im Kopf, und rollte man ihn wie eine Kugel.« Konstantin Lewin war es indessen langweilig, so zu sitzen und jenem zuzuhören, schon deshalb, weil er wußte, daß man ohne seine persönliche Aufsicht den Dünger auf ein falsches Feld fahren und wer weiß wie schlecht auswerfen werde. Man würde die Pflugscharen an den Pflügen nicht festschrauben und dann sagen, der Pflug sei eine unnütze Erfindung.

»Nun genug, endlich mit diesem Laufen in der Hitze!« sagte zu ihm sein Bruder.

»Ach, nur noch einmal nach dem Kontor muß ich sehen,« antwortete Lewin und eilte auf das Feld hinaus.

2.

In den ersten Tagen des Juni ereignete es sich, daß die Amme und Wirtschafterin Agathe Michailowna ein Gefäß mit soeben von ihr eingesalzenen Pilzen in den Keller tragen wollte, ausglitt, zu Falle kam und sich den Handknöchel verstauchte. Der Landarzt kam, ein zungengewandter junger Mann, welcher kaum erst die Universitätsstudien hinter sich hatte; er besichtigte die Hand, sagte, daß sie nicht aus dem Gelenk gefallen sei und vergnügte sich dann in einem Gespräch mit dem berühmten Sergey Iwanowitsch Koznyscheff, indem er demselben, um ihm seine aufgeklärten Ansichten zu zeigen, allen Klatsch aus dem ganzen Landkreis berichtete und dabei die üble Lage der ländlichen Angelegenheiten beklagte.

Sergey Iwanowitsch hörte aufmerksam zu, erkundigte sich, äußerte, angeregt von seinem neuen Zuhörer, einige treffende und bedeutungsvolle Bemerkungen, die von dem jungen Arzte respektvoll aufgenommen wurden, und geriet dann in seine gewöhnliche, dem Bruder schon bekannte lebhafte Stimmung, m welche er gewöhnlich nach einer glänzenden, geistreichen Unterhaltung geriet.

Nach der Abfahrt des Arztes empfand er den Wunsch, eine Angelpartie an den Fluß Zu machen. Er liebte das Angeln und war fast stolz darauf, daß er eine so einfältige Beschäftigung lieben konnte.

Konstantin Lewin, welcher nach dem Ackerfelde und den Wiesen sehen mußte, erbot sich, den Bruder im Kabriolett hinauszufahren.

Es war in der Jahreszeit, in welcher die Natur auf ihrem Höhepunkt steht, in welcher der Getreideschnitt bereits bestimmt ist und die Sorge für die Saat des künftigen Jahres beginnt, wo die Krummeternte naht, wenn der Roggen in graugrüner Färbung noch mit beweglicher Ähre im Winde wogt und der grüne Hafer, von den Büscheln gelbgewordenen Grases durchsetzt, ungleichmäßig aus der Wintersaat emporkommt, wenn der frühzeitige Buchweizen schon die Erde bedeckt, während die von dem werdenden Vieh hartgetretenen Brachfelder mit den darin freigelassenen Fußsteigen die der Pflug nicht berührt, halb gepflügt liegen, die herausgebrachten vertrockneten Düngerhaufen im Abendrot mit dem duftenden Grase zusammen ihren Geruch verbreiten und in den Niederungen, der Sense harrend in dichtem Wuchs die Wiesen stehen, mit den dunkeln Massen der Sauerampfer auf den saftigen Stengeln.

Es war jene Zeit, in welcher in der Arbeit des Landlebens eine kurze Ruhepause eintritt vor dem Beginn der sich alljährlich wiederholenden, alljährlich von neuem alle Kräfte des Volkes wieder herausfordernden Ernte. Dieselbe fiel glänzend aus, und schöne helle Sommertage mit thaufrischen kurzen Nächten folgten ihr.

Die beiden Brüder mußten durch den Wald fahren, um zu den Wiesen zu gelangen. Sergey Iwanowitsch freute sich über die Schönheit des sich entlaubenden Waldes und wies dem Bruder bald eine dunkle, alte Linde von der Schattenseite her, die buntdurchsetzt von den gelben Samentroddeln sich zur Blüte vorbereitet, bald die schimmernden jungen Triebe der Bäume, aus dem heurigen Jahr.

Konstantin Lewin liebte es nicht, von der Schönheit der Natur zu sprechen oder Gespräche darüber anzuhören. Worte nahmen für ihn nur die Schönheit von dem, was er sah. Er nickte dem Bruder nur zu, begann aber unwillkürlich über etwas anderes nachzudenken. Als sie durch den Wald gelangt waren, wurde seine Aufmerksamkeit ganz von dem Anblick des Brachfeldes auf dem Hügel gefesselt, auf welchem das Gras trocknete, in Schwaden gemäht, in Haufen zerstreut, und wo frisch gepflügt war. Über das Feld bewegte sich ein langer Zug von Wagen. Lewin zählte die Wagen und war befriedigt, daß alles, was nötig war, von ihnen fortgebracht wurde, und seine Gedanken schweiften nun bei dem Anblick der Wiesen zu der Heuernte. Er empfand stets etwas ihn eigentümlich Anmutendes bei der Heuernte. Nachdem Lewin zur Wiese gekommen, hielt er das Pferd an.

Der Morgenthau lag noch unten in dem dichten Grase, und Sergey Iwanowitsch bat ihn, im Kabriolett über die Wiese zu fahren – damit er sich nicht die Füße naß machte– bis zu dem Weidengebüsch hin, bei welchem man die Barsche fing. So schwer es Lewin wurde, sein Gras zerfahren zu müssen, er fuhr dennoch in die Wiese. Das hohe Gras wogte geschmeidig um die Räder und die Hufe des Pferdes, seine Samenkörner an den nassen Speichen und Naben sitzen lassend.

Der Bruder ließ sich unter dem Gebüsch nieder und untersuchte die Angel, während Lewin das Pferd wegführte und anband, worauf er in das graugrüne, von keinem Lufthauch bewegte ungeheure Grasmeer der Wiese hineinschritt. Das wie Seide glänzende Gras mit den reifen Spitzen auf dem nassen Boden, ging ihm fast bis an den Gürtel.

Nachdem Lewin die Wiese durchkreuzt hatte, gelangte er auf den Weg heraus. Da begegnete er einem alten Manne mit einem geschwollenen Auge, der einen Bienenkorb trug, in welchem Bienen waren.

»Nun, Thomitsch, hast du etwas gefangen?« frug er diesen.

»Was soll ich fangen? Wenn man nur seine eigenen Bienen behalten kann! Mir war nun schon der zweite Schwarm hier davongegangen. Aber die Kinder haben ihn noch eingeholt. Bei Euch wird gepflügt – sie hatten das Pferd ausgespannt,« –

»Was meinst du Thomitsch, soll man schneiden oder noch warten.«

»Nun, nach meiner Meinung müßte man bis zu St. Peter warten, doch Ihr schneidet stets früher. Nun, Gott wird es schon geben, daß das Gras gut ist und das Vieh Futter haben wird im Überfluß.«

»Und was meinst du zum Wetter?«

»Steht bei Gott! Vielleicht wird auch das Wetter gut.«

Lewin kehrte zu seinem Bruder zurück.

Derselbe hatte nichts gefangen, aber Sergey Iwanowitsch langweilte sich gleichwohl nicht und schien in der heitersten Stimmung zu sein. Lewin bemerkte, daß ihn das Gespräch mit dem Arzte angeregt hatte, und er Lust empfand, weiter zu sprechen. Er selbst aber wollte so bald als möglich nach Hause, um über die Wahl der Schnitter, während des Frühstücks, Verfügungen zu treffen und der Ungewißheit, in der er selbst sich wegen der Heuernte, die ihn stark in Anspruch nahm, befand, ein Ende zu machen.

»Wollen wir nicht aufbrechen?« begann Lewin.

»Warum denn so eilen? Bleiben wir noch ein wenig sitzen! Wie bist du aber doch naß geworden! Wenn man auch nichts fängt, so ist es doch ganz hübsch. Alle Jagd ist deshalb angenehm, weil man durch sie mit der Natur in Berührung kommt. Welcher Reiz liegt im Anblick dieses stahlfarbenen Gewässers,« sprach Sergey Iwanowitsch. »Diese Wiesenufer,« fuhr er fort, »stets geben sie nur ein Rätsel auf – verstehst du? Das Gras spricht etwas zum Wasser.«

»Ich verstehe das Rätsel nicht,« versetzte Lewin mißmutig.

7.

In Moskau mit dem Morgenzug angekommen, blieb Lewin bei seinem ältesten Bruder Koznyscheff. Nachdem er sich umgekleidet, begab er sich zu diesem ins Kabinett, entschlossen, ihm unverweilt zu berichten, zu welchem Zwecke er angekommen sei und seinen Rat zu erbitten.

Aber sein Bruder war nicht allein. Bei ihm befand sich ein berühmter Professor der Philosophie, der aus Charkoff eigens deshalb gekommen war, um Zweifel, die beiden über eine sehr wichtige philosophische Frage aufgetaucht waren, aufzuklären.

Der Professor führte eine sehr scharfe Polemik gegen die Materialisten und Sergey Koznyscheff war mit Interesse dieser Polemik gefolgt. Nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen hatte, teilte er demselben brieflich seine Einwendungen mit und machte ihm Vorwürfe, daß er den Materialisten viel zu große Konzessionen gemacht habe. Der Professor war nun sogleich selbst erschienen, um sich mit dem Briefschreiber auszusprechen.

Das Thema drehte sich um eine moderne Frage: Giebt es eine Grenze zwischen den psychologischen und physiologischen Offenbarungen in der Thätigkeit des Menschen, und wo liegt sie?

Sergey Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem ihm eigenen vor jedermann angenommenen kaltfreundlichen Lächeln und fuhr, nachdem er denselben mit dem Professor bekannt gemacht hatte, in seinem Gespräch fort.

Der kleine Herr in der Brille mit der schmalen Stirn ließ einen Augenblick das Gespräch fallen, um den Angekommenen zu begrüßen und setzte dann das Gespräch fort, ohne Lewin weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Lewin saß erfüllt von der Erwartung, daß der Professor sich entfernen möchte, aber bald begann er sich selbst für den Gegenstand der Unterhaltung zu interessieren.

Lewin hatte in den Journalen die Artikel gefunden, um die es sich hier handelte und sie gelesen, von ihnen angezogen als von einer Entwickelung ihm bekannter Dinge. Er hatte auf der Universität die Fundamente der Naturwissenschaften studiert, sich aber nie mit diesen wissenschaftlichen Ausführungen über die Entstehung des Menschen als eines lebenden Wesens, über die Reflexe, über Biologie und Sociologie näher beschäftigt, mit jenen Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Todes für ihn selbst, die ihm in der jüngsten Zeit öfters in den Sinn gekommen waren.

Beim Anhören der Unterredung des Bruders mit dem Professor bemerkte er, daß sie wissenschaftliche Fragen mit subjektiven verbanden. Mehrmals näherten sie sich jenen Fragen, aber jedes Mal, wenn sie nahe an den Hauptpunkte waren, wie ihm schien, entfernten sie sich sogleich wieder davon und versenkten sich wieder in das Gebiet feinster Unterscheidungen, Verteidigungen, Citate, Fingerzeige und Verweise auf Autoritäten, und nur schwer vermochte er noch zu erkennen, wovon eigentlich die Rede war.

»Ich kann nicht zugeben,« sagte Sergey Iwanowitsch mit seiner gewöhnlichen Klarheit und Präzision des Ausdruckes und Eleganz der Diktion, »ich kann keinenfalls mit Keis darin übereinstimmen, daß meine gesamte Vorstellung von der äußeren Welt aus den Eindrücken hervorgehen sollte. Die elementarste Vorstellung vom Sein wird von mir nicht durch die Empfindung erworben, denn es ist gar kein besonderes Organ für die Wiedergabe dieser Vorstellung vorhanden.«

»Ja wohl, aber Wurst und Knaust und Pripasoff würden dem entgegenhalten, daß Euer Daseinsbewußtsein aus der Vereinigung aller Empfindungen hervorgeht, daß dieses Existenzbewußtsein das Resultat der Gefühle ist. Wurst spricht sogar unverhohlen aus, daß wo nicht Gefühl vorhanden sei, auch das Verständnis für das Sein fehle.«

»Ich würde dem gegenüber behaupten« – begann Sergey Iwanowitsch.

Hier schien es Lewin wiederum, als ob sie, der Hauptfrage nahe gekommen, sich von neuem von ihr entfernten, und so entschloß er sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.

»Es könnte demzufolge, wenn mein Gefühl vernichtet ist, wenn mein Körper stirbt, keine Existenz mehr geben?« warf er ein.

Der Professor blickte verdrießlich und gewissermaßen mit einem geistigen Schmerzgefühl über die Unterbrechung auf nach dem seltsamen Frager hinüber, der eher einem Riesen ähnlich sah, als einem Philosophen, und richtete dann das Auge auf Sergey Iwanowitsch als wolle er fragen, was man eigentlich hierauf antworten könne.

Sergey Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit der nämlichen Anstrengung und Einseitigkeit sprach, wie der Professor, und in dessen Kopfe noch Spielraum genug übrig war, dem Professor mit Erwiderungen zu dienen, und zugleich auf diesen einfachen und natürlichen Gesichtspunkt einzugehen, von welchem aus diese Frage gestellt war, lächelte und sagte:

»Diese Frage zu entscheiden besitzen wir kein Recht« –

»Wir haben keine Unterlagen dafür,« bestätigte der Professor, und setzte seine Ausführungen fort.

»Nein,« sagte er, »ich verweise darauf, daß, wenn, wie Pripasoff offen sagt, die Empfindung zu ihrem Fundamente den Eindruck hat, wir diese beiden Begriffe auch streng voneinander scheiden müssen.«

Lewin hörte nun nicht weiter zu, sondern wartete nur noch, bis der Professor sich verabschieden würde.

33.

Kity machte auch mit Madame Stahl Bekanntschaft, und diese Bekanntschaft, im Verein mit der Freundschaft Warenkas, übte nicht nur einen mächtigen Einfluß auf sie aus, sie tröstete sie auch in ihrem Leid.

Kity fand diesen Trost darin, daß sich ihr, dank dieser Bekanntschaft, eine vollständig neue Welt erschlossen hatte, die nichts gemeinsames mit der bisherigen besaß, eine erhabene, schöne Welt, von deren Höhe herab man ruhig auf die frühere blicken konnte.

Es zeigte sich ihr, daß außer dem instinktiven Dasein, welchem Kity sich bis jetzt dahingegeben, auch ein geistiges Leben existierte.

Dieses Leben offenbarte sich als die Religion, aber als eine Religion, welche nichts gemeinsam hatte mit jener, die Kity von Kindheit auf kannte, und welche sich in dem allabendlichen Hochamt im Witwenhaus verkörperte, wo man Bekannte treffen konnte und kirchenslavische Texte mit dem Geistlichen auswendig lernte.

Dies war eine höhere Religion, eine geheimnisvolle, verbunden mit einer Reihe der herrlichsten Ideen und Empfindungen, die man nicht nur glauben durfte, weil es so vorgeschrieben war, sondern die man lieben konnte.

Kity lernte alles dies nicht aus Worten. Madame Stahl sprach mit ihr wie mit einem geliebten Kinde, auf daß man Sorgfalt verwendet wie in der Erinnerung an die eigene Jugend, und nur einmal erwähnte sie, daß in allem menschlichen Elend einen Trost nur die Liebe und der Glaube verleihe und daß für das Mitleid Christi mit uns kein Schmerz mehr nichtig sei – ging dann aber sofort wieder auf ein anderes Thema über.

Kity erkannte jedoch in jeder ihrer Bewegungen, in jedem ihrer Worte, in jedem ihrer himmlischen Blicke, wie Kity diese nannte, und besonders in ihrer ganzen Lebensgeschichte, die sie durch Warenka erfahren hatte, was denn nun das Höchste sei, und was sie bisher noch nicht gekannt hatte.

Indessen so erhaben der Charakter der Madame Stahl auch war, so rührend ihre ganze Geschichte, so erhaben und mild ihre Rede auch klang, gewahrte Kity doch unwillkürlich Züge an ihr, die sie unsicher machten.

Kity bemerkte, daß Madame Stahl, indem sie nach ihren Verwandten frug, geringschätzig lächelte, was doch gegen die christliche Liebe war.

Sie bemerkte auch noch, daß wenn sie bei Madame Stahl den katholischen Geistlichen antraf, diese ihr Gesicht stets im Schatten einer Ampel hielt und eigentümlich lächelte.

So unscheinbar diese beiden Beobachtungen auch sein mochten, so setzten sie sie doch in Verwirrung und sie begann an Madame Stahl zu zweifeln.

Warenka hingegen, vereinsamt, ohne Anverwandte, ohne Freunde, mit ihrer traurigen Hoffnungslosigkeit, die nichts ersehnte, nichts beklagte, blieb immer von derselben Vollkommenheit, von der Kity kaum zu träumen wagte.

An Warenka erkannte diese, was es kostete, sich selbst zu vergessen und seinen Nächsten zu lieben, um ruhig, glücklich und gut zu werden. Und so wollte Kity sein.

Nachdem sie jetzt klar erkannt hatte, was also das höchste Gut sei, begnügte sie sich nicht damit, darüber in Entzücken zu geraten, sondern sie ergab sich sogleich, mit ganzer Seele, diesem neuen Leben, welches sich erschlossen hatte.

Nach den Berichten Warenkas über das, was Madame Stahl gethan hatte, sowie andere, die jene nannte, hatte sich Kity bereits den Plan ihres künftigen Lebens gemacht.

Sie wollte ebenso wie eine Nichte der Madame Stahl, Aline, von der ihr Warenka viel erzählt hatte, wo sie auch immer leben mochte, Unglückliche aufsuchen, ihnen helfen, so viel sie vermochte, das Evangelium verkünden, den Kranken die heilige Schrift vorlesen wie auch den Verbrechern und den Sterbenden.

Der Gedanke, den Verbrechern die Heilslehren zu verkünden, wie dies Aline gethan hatte, war besonders verführerisch für Kity. Aber all das waren für sie nur erst geheimgehaltene Ideen, die sie weder der Mutter, noch Warenka mitteilte.

In der Erwartung des Zeitpunkts, ihre Pläne in großem Maßstabe zur Ausführung zu bringen, fand Kity übrigens in dem Bade, wo es so viele Kranke und Unglückliche gab, leicht Gelegenheit, ihre neuen Grundsätze zur Anwendung zu bringen, indem sie Warenka nachahmte.

Anfänglich deutete die Fürstin nur an, daß Kity sich stark unter dem Einfluß ihres Engougements – wie sie es nannte – für Madame Stahl und namentlich für Warenka befinde.

Sie sah, daß Kity nicht nur Warenka in ihrem Wirken nachahmte, sondern dies auch unwillkürlich mit deren Manier zu gehen, zu reden und mit den Augen zu blinken that.

Dann aber bemerkte die Fürstin, daß sich in ihrer Tochter, unabhängig von dieser Eingenommenheit, ein ernster seelischer Wandlungsprozeß vollzog.

Die Fürstin sah, daß Kity des Abends in dem französischen Evangelium las, welches ihr Madame Stahl geschenkt hatte. Kity hatte dies früher nie gethan. Sie sah, daß ihre Tochter die Bekanntschaften aus der großen Welt mied und sich mit Kranken abgab, die unter der Protektion Warenkas standen, insbesondere mit der armen Familie eines kranken Malers Petroff. Kity war augenscheinlich stolz darauf, daß sie in dieser Familie die Obliegenheiten einer barmherzigen Schwester erfüllte.

Alles das war lobenswert, und die Fürstin hatte auch nichts dagegen, umsoweniger, als die Frau Petroffs ein sehr rechtschaffenes Weib war und die deutsche Prinzessin, das Wirken Kitys bemerkend, diese gelobt und einen Engel des Trostes genannt hatte. Alles das wäre recht gut gewesen, wenn es nicht zu weit getrieben worden wäre; die Fürstin sah jedoch, daß ihre Tochter in das Übermaß geriet und sagte ihr dies.

»Il ne faut jamais rien outrer,« sprach sie.

Die Tochter hatte nicht darauf antwortetet, sie hatte nur in ihrem Inneren gedacht, man könne nicht von einem Übermaß in der christlichen Werkthätigkeit sprechen. Welches Übermaß könne liegen in der Befolgung der Lehre, nach welcher geheißen wird, auch die zweite Wange zu bieten, wenn man die erste schlägt, auch das Hemd zu geben, wenn man den Rock nimmt.

Der Fürstin gefiel dieser übermäßige Eifer indessen durchaus nicht, und zwar umsoweniger, weil sie fühlte, daß Kity ihr nicht ihre ganze Seele offenbaren wollte. In der That verheimlichte diese der Mutter ihre neuen Anschauungen und Empfindungen. Sie verheimlichte dieselben indessen nicht deshalb, weil sie etwa ihre Mutter nicht geachtet, nicht geliebt hätte, nein, nur deshalb, weil es eben ihre Mutter war. Jedem anderen würde sie dieselben eher geoffenbart haben, als der Mutter.

»Anna Pawlowna ist lange nicht bei uns gewesen,« sagte eines Tages die Fürstin bezüglich der Frau Petroffs. »Ich habe sie hergebeten; aber sie ist, wie es scheint, mit irgend etwas unzufrieden.«

»O nein, maman, das habe ich nicht bemerkt,« antwortete Kity erregt.

»Warest du längere Zeit nicht dort?«

»Wir wollen morgen einen Ausflug in die Berge machen,« versetzte Kity.

»Gut, fahret dann,« antwortete die Fürstin, in das verwirrte Gesicht der Tochter schauend, und sich bemühend, den Grund ihrer Verlegenheit zu erraten.

An demselben Tag erschien Warenka zur Tafel; sie teilte mit, daß Anna Pawlowna es aufgegeben habe, morgen nach den Bergen zu fahren.

Die Fürstin bemerkte, daß Kity wiederum errötete.

»Kity, hast du etwas Unangenehmes mit den Petroffs gehabt?« frug sie, als beide allein waren. »Weshalb schickt jene Frau ihre Kinder nicht mehr, und weshalb kommt sie selbst nicht mehr zu uns?«

Kity antwortete, daß nichts zwischen ihnen vorgefallen sei und sie entschieden nicht begreife, warum Anna Pawlowna gleichsam mißvergnügt über sie zu sein scheine.

Kity sprach damit die volle Wahrheit; sie wußte nichts von dem Grunde der Veränderung Anna Pawlownas ihr selbst gegenüber, konnte ihn aber erraten, indem sie etwas vermutete, was sie der Mutter nicht mitteilen konnte, und wovon sie selbst sich noch nicht einmal Rechenschaft gegeben hatte. Es war einer jener Umstände, die man wohl kennt, von denen man aber sich selbst nicht einmal Rechenschaft geben kann; es ist ja so entsetzlich und beschämend, einen Fehler zu begehen.

Wieder und wieder prüfte Kity im Geiste alle ihre Beziehungen zu jener Familie. Sie vergegenwärtigte sich die treuherzige Freude, die auf dem runden, gutmütigen Gesicht Anna Pawlownas bei ihren Begegnungen zum Ausdruck gekommen war; sie erinnerte sich ihrer geheim gepflogenen Unterredungen über den Kranken, der Gespräche darüber, wie man ihn von der Arbeit, die ihm untersagt war abziehen und zum Spazierengehen bringen könne; der Anhänglichkeit des jüngsten Söhnchens, welches sie »meine Kity« zu rufen pflegte, und das ohne ihren Beistand nicht zu Bett gehen wollte. Wie war das alles so gut!

Dann vergegenwärtigte sie sich die furchtbar abgemagerte Erscheinung Petroffs mit dem langen Halse, in dem zimmetfarbenen Überzieher, seinen spärlichen, wirren Haaren, den forschenden, namentlich anfangs für Kity furchterregend gewesenen, blauen Augen, und seine krankhaften Anstrengungen, in der Gegenwart Kitys munter und lebhaft zu erscheinen. Sie gedachte der Anstrengungen, die sie anfangs gemacht hatte, um den Ekel, den sie vor ihm, wie vor allen Brustleidenden empfand, zu überwinden, und der Mühe, mit welcher sie ausgedacht hatte, wovon sie mit ihm sprechen könne. Sie rief sich jenen schüchternen, rührungsvollen Blick wieder ins Gedächtnis, mit welchem er sie angeschaut hatte, das seltsame Gefühl ihres Mitleids und ihrer Verlegenheit, und dann des Bewußtseins ihrer Tugend, das sie hierbei empfand. Wie war das alles so gut!

Aber alles das war auch nur in der ersten Zeit. Jetzt, seit einigen Tagen, hatte sich alles plötzlich zum Üblen gekehrt. Anna Pawlowna begegnete Kity mit einer erheuchelten Liebenswürdigkeit, sie und ihren Mann unaufhörlich beobachtend.

Sollte etwa dessen rührende Freude bei ihrem Nahen die Ursache des Erkaltens der Anna Pawlowna sein?

»Ja,« entsann sie sich, »es war jedenfalls etwas nicht Natürliches in Anna Pawlowna, was mit ihrer sonstigen Herzensgüte durchaus nicht mehr übereinkam, als sie vorgestern mürrisch gesagt hatte: Er hat nur auf Euch gewartet und wollte ohne Euch den Kaffee nicht trinken, obwohl er schrecklich schwach geworden ist. Ja, vielleicht war es ihr auch unangenehm gewesen, als ich ihm das Plaid gab. Alles war so einfach gewesen, und dennoch hatte er es verlegen entgegengenommen, mir so lange gedankt, daß auch ich verlegen wurde. Und dann mein Porträt, welches er so schön gemalt hat. Aber namentlich wohl jener Blick von ihm, verwirrt und zärtlich! Ja, ja, so wird es sein,« wiederholte sie sich voll Entsetzen. »Aber doch nein; das kann nicht sein, es darf nicht sein! Er ist doch so beklagenswert!« sagte sie hierauf zu sich selbst. Dieser Zweifel vergiftete ihr nun die Reize ihres neuen Lebens.

34.

Noch vor dem Schluß der Badesaison kehrte der Fürst Schtscherbazkiy von seiner Reise von Karlsbad nach Baden und Kissingen zu russischen Bekannten, bei denen er, wie er sagte »russische Luft schnappen« wollte, wieder zurück zu den Seinigen.

Die Anschauungen des Fürsten und der Fürstin über das Leben im Auslande waren vollständig entgegengesetzte.

Die Fürstin fand alles schön und bemühte sich, trotz ihrer unanfechtbaren Stellung in der russischen Gesellschaft, im Auslande die europäische Dame nachzuahmen – was sie nicht war als russische Standesperson. – Sie verstellte sich infolge dessen und das nahm sich bisweilen ungeschickt aus.

Der Fürst hingegen fand im Ausland alles schlecht, beschwerte sich über die europäische Lebensweise, hielt an seinen russischen Gewohnheiten fest und bestrebte sich absichtlich, im Auslande weniger als der Europäer zu erscheinen, der er wirklich war.

Der Fürst kam magerer geworden und mit Hängefalten in den Backen, aber in heiterster Laune zurück. Seine heitere Stimmung erhöhte sich noch, als er Kity vollständig genesen wiedersah.

Die Mitteilung über das Freundschaftsverhältnis Kitys mit Madame Stahl und Warenka, sowie die ihm von der Fürstin mitgeteilten Beobachtungen der Veränderung, die mit Kity vorgegangen war, verstimmten den Fürsten und erweckten in ihm das gewöhnliche Gefühl von Eifersucht gegen alles, was außer ihm seine Tochter an sich zog, die Befürchtung, die Tochter könnte sich seinem Einfluß entziehen und in Machtsphären geraten, die ihm unzugänglich waren.

Aber diese unangenehmen Nachrichten wurden in das Übermaß an Gutmütigkeit und Frohsinn versenkt, das stets in ihm vorhanden war und durch die Karlsbader Kur eine besondere Verstärkung erfahren hatte.

Am Tage nach seiner Ankunft begab sich der Fürst in seinem langen Paletot, mit seinen echt russisch, runzligen und gedunsenen Wangen, dem gesteiften Kragen und in heiterster Stimmung mit seiner Tochter nach dem Brunnen.

Der Morgen war schön; die sauberen freundlichen Häuser mit den kleinen Gärtchen, der Anblick der deutschen Mägde mit den blühenden Gesichtern, und roten Händen die lustig hantierten und der helle Sonnenschein ergötzte das Herz.

Je näher sie indessen zu dem Brunnen kamen, um so häufiger trafen sie auf Kranke und ihr Anblick war um so trauriger angesichts des Vorhandenseins der gewöhnlichen Bedingungen für ein gemütliches Leben nach deutschen Begriffen. Kity aber setzte dieser Widerspruch nicht mehr in Erstaunen.

Die glänzende Sonne, das heitere schimmernde Grün, die Klänge der Musik, bildeten für sie nur den natürlichen Rahmen aller dieser ihr bekannten Gesichter, dieses Wechsels zur Verschlechterung oder zur Besserung, die sie beobachtete, dem Fürsten jedoch erschien das Licht und der Glanz des Junimorgens, die Klänge des Orchesters, welches einen lustigen modernen Walzer spielte, und namentlich der Anblick der gesundheitstrotzenden Mädchen, fast unpassend und ungeheuerlich, im Bunde mit diesen von allen Enden Europas hier zusammengekommenen Todkranken, die niedergeschlagen einhergingen.

Trotz eines Gefühles von Stolz, gleichsam wiedererwachter Jugendlichkeit, welches er empfand, als die Lieblingstochter mit ihm Arm in Arm dahinschritt, wurde ihm jetzt sein festes Auftreten mit seinen vollen wohlbeleibten Gliedern gleichwohl förmlich peinlich. Er hatte fast das Gefühl eines Menschen, der unbekleidet in einer Gesellschaft erscheint.

»Stelle mich doch deinen neuen Freunden vor,« sagte er zu seiner Tochter, mit dem Ellbogen ihren Arm drückend; »ich liebe dein häßliches Soden nur um deswillen, weil es dich so hübsch gesund gemacht hat; es ist traurig, traurig hier bei Euch. Wer ist denn das dort?«

Kity nannte ihm die und jene bekannte oder unbekannte Person, die ihnen begegnete. Gerade am Eingang zum Kurpark begegnete sie der blinden Madame Berthe mit ihrer Führerin und der Fürst freute sich über den milden Ausdruck im Gesicht der alten Französin, als diese die Stimme Kitys vernahm.

Mit der ganzen Höflichkeit der Franzosen sprach sie den Fürsten sogleich an, lobte denselben, daß er eine so reizende Tochter besitze, und hob Kity fast in den Himmel, indem sie dieselbe einen Schatz, eine Perle und einen Engel des Trostes nannte.

»Also sie ist ein zweiter Engel,« lächelte der Fürst, »denn sie nannte schon als Engel Nummer eins Mademoiselle Warenka!«

»O! Mademoiselle Warenka ist allerdings der reine Engel, allez!« versetzte Madame Berthe.

In der Veranda begegneten sie Warenka selbst. Dieselbe schritt den beiden eiligst entgegen, eine kleine elegante rote Tasche in der Hand tragend.

»Papa hier ist angekommen!« begrüßte Kity sie.

Warenka machte, einfach und natürlich wie alles war was sie that, eine Bewegung, die zwischen Verbeugung und Gruß die Mitte hielt, und wandte sich dann sofort im Gespräch an den Fürsten, unbefangen und natürlich, wie sie mit jedermann sprach.

»Gewiß kenne ich Euch, sehr wohl« – sagte der Fürst zu ihr mit einem Lächeln, in welchem Kity mit Freude erkannte, daß ihre Freundin dem Vater gefiel. »Wohin eilt Ihr denn so schnell?«

» Maman ist hier,« sagte sie, sich an Kity wendend, »sie hat die ganze Nacht nicht schlafen können und der Doktor hat ihr eine Ausfahrt angeraten. Ich bringe ihr eine Arbeit.«

»Das ist also Engel Numero eins,« sagte der Fürst, nachdem Warenka gegangen war.

Kity sah, daß er Lust hatte sich über Warenka lustig zu machen, dies aber nicht über sich gewann, weil sie ihm gefallen hatte.

»Nun so werden wir wohl noch alle deine Freunde sehen; auch Madame Stahl, wenn sie geruht, mich zu erkennen,« fügte er dann hinzu.

»Hast du sie denn schon gekannt, Papa?« frug Kity mit einem Schreck, indem sie bemerkte, wie in den Augen des Fürsten der Funke des Spottes bei der Erinnerung der Madame Stahl aufleuchtete.

»Ihren Mann habe ich gekannt, und auch sie ein wenig, schon bevor sie unter die Pietisten gegangen ist.«

»Was ist das, Papa, eine Pietistin?« frug Kity, schon erschreckt davon, daß das, was sie so hoch an Madame Stahl schätzte, einen Namen hatte.

»Ich weiß es selbst nicht recht, und weiß nur, daß sie für alles Gott dankt, für jedes Unglück – auch dafür, daß ihr Mann gestorben ist. Die Sache ist natürlich lächerlich, da beide in Unfrieden miteinander gelebt haben. – Aber wer ist denn das, jene mitleiderregende Person dort?« frug der Fürst, welcher einen Kranken von kleiner Figur auf einer Bank sitzen sah, in einem zimmetfarbenen Überzieher und weißen Beinkleidern, welche seltsame Falten um die fleischlosen Knochen der Beine warfen. Der Herr hatte seinen Strohhut über dem spärlichen lockigen Haarwuchs gelüftet, und die hohe krankhaft von dem Hute rotgefärbte Stirn entblößt.

»Das ist Petroff, ein Maler,« antwortete Kity errötend. »Und das ist seine Gattin,« fügte sie dann hinzu, auf Anna Pawlowna zeigend, welche gleichsam mit Absicht gerade, als sie herankamen, hinter dem Kinde hereilte, welches auf dem Wege davonlief.

»Wie traurig und wie gut sieht dieses Gesicht aus,« sagte der Fürst. »Weshalb bist du denn nicht zu ihm getreten? Er wollte dir doch etwas sagen?«

»Gehen wir hin!« antwortete Kity, sich entschlossen nach ihm umwendend.

»Wie steht es mit Eurer Gesundheit heute?« frug sie Petroff.

Dieser erhob sich, auf seinen Stock gestützt und blickte schüchtern auf den Fürsten.

»Meine Tochter,« nahm dieser das Wort, »Ihr seid mir bereits bekannt.«

Der Maler verbeugte sich und lächelte, ein selten weißes Gebiß dabei zeigend.

»Wir hatten Euch gestern erwartet, Fürstin,« sagte er zu Kity.

»Er wankte, als er dies sagte, und bemühte sich, indem er diese Bewegung wiederholte, zu zeigen, daß er dies mit Absicht gethan hatte.

»Ich wollte kommen, aber Warenka sagte mir, Anna Pawlowna habe geschickt mit der Nachricht, Ihr würdet nicht ausfahren.«

»Weshalb sollte ich nicht ausfahren?« antwortete Petroff errötend und sogleich zu husten beginnend, während er mit den Augen sein Weib suchte. »Annetta, Annetta!« sprach er laut; auf seinem weißen Hals, der dünn wie ein Strick war, erschienen starke Adern. Anna Pawlowna kam herbei. »Wie konntest du der jungen Fürstin sagen lassen, wir würden nicht ausfahren?« raunte er zornig, da er die Stimme verloren hatte.

»Guten Tag, Fürstin,« grüßte diese mit einem gekünstelten Lächeln, das ihrem früheren Verkehr unähnlich war. »Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen,« wandte sie sich an den Fürsten, »man hat Euch lange erwartet, Fürst!«

»Wie konntest du der Fürstin sagen lassen, daß wir nicht ausfahren?« raunte nochmals der Maler heiser, noch heftiger, und sich augenscheinlich besonders darüber erregend, daß ihm die Stimme versagte, und er seiner Rede nicht denjenigen Ausdruck zu geben vermochte, den er ihr zu geben wünschte.

»Mein Gott! Ich dachte, wir würden nicht ausfahren,« versetzte die Frau mürrisch.

»Gewiß, wenn« – er hustete und winkte mit der Hand.

Der Fürst lüftete den Hut und ging mit seiner Tochter fort.

»O, o,« seufzte er tief auf, »o diese Unglücklichen!«

»Ja, Papa,« erwiderte Kity. »Und dabei, mußt du wissen, haben sie drei Kinder, keinen Dienstboten und fast gar keine Unterhaltsmittel. Er empfängt bloß etwas von der Akademie,« erzählte sie lebhaft und sich bemühend, die Erregung zu unterdrücken, die in ihr infolge der seltsamen Veränderung im Verhalten Anna Pawlownas gegen sie aufgestiegen war. »Und dort ist auch Madame Stahl,« fuhr sie fort, auf einen Fahrstuhl zeigend, in welchem, von Kissen umgeben ein Etwas in Grau und Blau unter einem Sonnenschirm lag.

Das war Madame Stahl. Hinter ihr stand ein griesgrämiger stämmiger deutscher Arbeiter, der sie rollte; daneben stand ein blonder schwedischer Graf, den Kity dem Namen nach kannte. Einige Kranke blieben um den Wagen herum stehen und schauten nach der Dame, als sei diese ein außergewöhnliches Wesen.

Der Fürst trat zu ihr hin und sogleich bemerkte Kity in seinen Augen, den Funken des Spottes, der sie in Verwirrung setzte. Er trat zu Madame Stahl und begann mit ihr in jenem vorzüglichen Französisch, welches jetzt nur noch Wenige sprechen, außerordentlich höflich und liebenswürdig ein Gespräch.

»Ich weiß nicht, ob Ihr Euch meiner noch entsinnt. Ich selbst muß dies aber schon thun, um Euch für Eure Güte meiner Tochter gegenüber, danken zu können,« sagte er zu ihr, seinen Hut abnehmend und ohne sich wieder zu bedecken.

»Fürst Alexander Schtscherbazkiy,« sagte Madame Stahl, ihre himmelnden Augen zu ihm erhebend, in denen indessen Kity ein Mißvergnügen bemerkte. »Sehr erfreut. Ich habe Eure Tochter so lieb gewonnen.«

»Eure Gesundheit ist noch immer nicht gebessert?«

»Ich bin völlig daran gewöhnt,« versetzte Madame Stahl und machte den Fürsten mit dem schwedischen Grafen bekannt.

»Ihr habt Euch indessen nur sehr wenig verändert,« fuhr der Fürst fort. »Ich habe wohl seit zehn oder elf Jahren nicht die Ehre gehabt, Euch zu sehen.«

»Ja; Gott schickt uns ein Kreuz und verleiht auch die Kraft es zu tragen. Man staunt oft darüber, in was man sich in diesem Leben schicken kann. – Von der andern Seite!« – wandte sie sich plötzlich launisch zu Warenka, die ihr das Plaid nicht gut genug um die Füße gewickelt hatte.

»Wohl, damit man Gutes thue,« sagte der Fürst und seine Augen lachten.

»Darüber dürfen wir nicht richten,« antwortete Madame Stahl, den Schimmer eines gewissen Ausdrucks auf dem Gesicht des Fürsten bemerkend. »Ihr werdet mir also jenes Buch senden, liebster Graf?« wandte sie sich an den jungen Schweden.

»Ah,« rief der Fürst, den Moskauer Obersten erblickend, welcher in der Nähe stand, verabschiedete sich von Madame Stahl, und schritt mit seiner Tochter und dem Moskauischen Obersten, der sich an ihn angeschlossen hatte, von dannen.

»Das ist unsere Aristokratie, Fürst!« sagte der Moskauische Oberst, im Wunsche, ironisch zu sein. Er hatte ein Vorurteil gegen Madame Stahl, weil diese nicht mit ihm bekannt war.

»Immer dieselbe,« versetzte der Fürst.

»Ihr habt sie aber doch schon vor ihrer Erkrankung gekannt, Fürst, das heißt, bevor sie sich gelegt hat?«

»Ja wohl. Sie wurde zu meiner Zeit krank.«

»Man sagt, sie wäre seit zehn Jahren nicht ein einziges Mal aufgestanden.«

»Sie steht nicht auf, weil sie kurzbeinig ist; sie ist sehr schlecht gebaut.«

»Papa, unmöglich!« rief Kity.

»Die bösen Zungen reden so, Herzchen. Aber deine Warenka wird’s schon wissen. O, über diese leidenden Damen!«

»Nein, Papa!« entgegnete Kity eifrig, »Warenka vergöttert sie, und dann thut sie doch soviel Gutes! Frage, wen du willst! Sie und Aline Stahl kennt jedermann!«

»Mag sein,« antwortete er, wiederum mit dem Ellbogen ihren Arm drückend, »aber am besten ist es, freilich, wenn niemand etwas weiß, soviel man auch fragt.«

Kity verstummte, nicht, weil sie nichts mehr hätte erwidern können, sondern, weil sie dem Vater ihre geheimsten Gedanken nicht entdecken wollte.

Seltsam aber war es dennoch, daß sie, obwohl sie entschlossen war, sich der Ansicht des Vaters nicht unterzuordnen, und ihm keinen Einblick in ihr Allerheiligstes zu gewähren, doch empfand, wie das Heiligenbild der Madame Stahl das sie einen ganzen Monat hindurch in der Seele getragen hatte, unwiederbringlich verschwunden war; gleichwie eine Figur, die aus einer übergeworfenen Robe gebildet wird, verschwindet, sobald das weggenommen wird, worauf die Robe ruhte.

Es blieb nur noch das kurzbeinige Weib, welches deshalb lag, weil es eine schlechte Figur besaß und die sanfte Warenka unausgesetzt quälte, weil diese ihr das Plaid nicht in der gewünschten Weise umwarf. Durch keinerlei Anstrengungen ihrer Einbildungskraft wollte es ihr mehr gelingen, sich die frühere Madame Stahl wieder zurückzurufen.

30.

Wie in allen kleinen Orten, an denen Leute zusammenströmen, so hatte sich auch in dem kleinen deutschen Badeort, wohin die Schtscherbazkiy gereist waren, jene übliche Krystallisation unter der Gesellschaft vollzogen, die jedem Mitgliede derselben seinen bestimmten und unveränderlichen Platz anweist.

Wie ein Wasserteilchen in der Kälte bestimmt und unwandelbar die bekannte Form eines Schneeflockenkrystalls annimmt, ganz so wurde auch hier jede im Bad Neuangekommene Person sogleich in den ihr gebührenden Platz eingewiesen.

Der »Fürst Schtscherbazkiy samt Gemahlin und Tochter« hatten sich nach dem Quartier, welches sie mieteten, sowie nach dem Namen, und den Bekannten, die sie antrafen, sogleich in der ihnen bestimmten und vorher festgesetzten Kaste einkrystallistert.

In dem Bade befand sich in diesem Jahre eine wirkliche, deutsche Fürstin, infolge dessen sich die Krystallisation der Gesellschaft noch energischer vollzog.

Die Fürstin wollte um jeden Preis der deutschen Prinzessin ihre Tochter vorstellen und am nächsten Tage schon vollzog sie diese Ceremonie.

Kity knixte tief und graziös in ihrer aus Paris verschriebenen, »sehr einfachen«, das heißt sehr eleganten Sommerrobe.

Die deutsche Prinzessin sagte zu ihr: »Ich hoffe, daß die Rosen bald auf dieses liebe Gesichtchen zurückkehren mögen,« und für die Schtscherbazkiy wurde damit der Weg der Etikette, aus dem nicht mehr herauszutreten war, sogleich fest vorgezeichnet.

Die Schtscherbazkiy waren auch mit der Familie einer englischen Lady und mit einer deutschen Gräfin und deren im letzten Kriege verwundetem Sohne, bekannt geworden, sowie mit einem schwedischen Gelehrten und mit einem Mr. Canut nebst Schwester.

Aber der hauptsächlichste Verkehrskreis der Schtscherbazkiy bestand aus einer Moskauer Dame Marja Eugenie Rtischtschewaja mit Tochter, welche Kity unsympathisch war, weil dieselbe an der nämlichen Krankheit litt wie sie, an unglücklicher Liebe – und einem Moskauer Obersten, den Kity von Kindheit an nur in Uniform und Epauletten gesehen hatte und kannte, und der hier, mit seinen kleinen Äuglein, dem offenen Hals mit dem farbigen Shlips, außerordentlich lächerlich und langweilig wurde, da man sich nicht von ihm frei machen konnte.

Da alle diese Verhältnisse so fest beobachtet wurden, begann sich Kity sehr zu langweilen, und zwar umsomehr, als der Fürst nach Karlsbad gefahren war, und sie mit der Mutter allein zurückblieb.

Sie interessierte sich nicht für die Leute, welche sie kannte, da sie fühlte, daß von ihnen nichts Neues mehr zu erwarten war. Das hauptsächlichste und lebhafteste Interesse im Bade gewährte ihr jetzt die Beobachtung und Beurteilung derjenigen, welche sie nicht kannte.

Nach der Eigenart ihres Charakters, vermutete Kity stets in den Leuten nur das Beste, und besonders in denjenigen, die sie nicht kannte. Auch jetzt, als sie Betrachtungen darüber anstellte, wer dieser oder jener sei, und in welchen Beziehungen die Beobachteten untereinander stehen mochten, auch wie sie überhaupt sein könnten, konstruierte sich Kity die wundersamsten und edelsten Charaktere, und fand auch die Bestätigung dafür in ihren Beobachtungen.

Unter diesen Charakteren beschäftigte sie namentlich eine junge russische Dame, die mit einer kranken Landsmännin in das Bad gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie man sie allgemein nannte.

Madame Stahl gehörte der vornehmsten Gesellschaft an, war aber so krank, daß sie nicht mehr zu gehen vermochte, und sich nur selten, an besonders schönen Tagen, im Bad in einem kleinen Fahrwagen zeigte.

Es war indessen weniger ihre Krankheit, als vielmehr ihr Stolz, welcher, nach der Erklärung der Fürstin Madame Stahl mit keinem der russischen Badegäste Umgang pflegen ließ.

Die junge russische Dame pflegte sorglich Madame Stahl und kümmerte sich auch, wie Kity bemerkte, außerdem noch um sämtliche Schwerkranke, deren es viele in dem Bade gab, in der natürlichsten, herzlichsten Weise.

Diese junge Russin war, nach Kitys Beobachtungen, keine Verwandte von Madame Stahl, aber ebensowenig eine gemietete Krankenpflegerin. Madame Stahl nannte sie Warenka, die anderen aber hießen sie »Mademoiselle Warenka«.

Ganz abgesehen davon, daß Kity schon die Beobachtung der Beziehungen dieses jungen Mädchens zur Frau Stahl und zu anderen ihr unbekannten Personen interessierte, empfand diese, wie das oft zu gehen pflegt, eine unerklärliche Sympathie zu dieser Mademoiselle Warenka und fühlte, nach den sich begegnenden gegenseitigen Blicken zu urteilen, daß auch sie gefiel.

Mademoiselle Warenka war nicht mehr in dem Alter, welches man die erste Jugend nennen konnte, sondern sie war gewissermaßen ein Wesen ohne Jugend.

Man konnte sie vielleicht für neunzehnjährig halten – aber ebenso gut auch für dreißigjährig. Musterte man ihre Züge, so war sie, trotz der krankhaften Farbe ihres Gesichts eher hübsch, als häßlich.

Sie war vielleicht auch hübsch gewachsen, wenn nicht die allzugroße Hagerkeit ihres Körpers gewesen wäre, und der Kopf zu ihrem mittleren Wuchs nicht im Mißverhältnis gestanden hätte. Für die Männerwelt aber mußte sie ja auch nicht anziehend sein. Sie glich einer schönen, zwar noch blätterreichen, aber doch schon verblühten und geruchlos gewordenen Blume.

Abgesehen hiervon aber konnte sie auch noch deshalb für die Männer nicht anziehend sein, weil ihr das abging, was Kity in zu hohem Maße besaß – die noch gefesselte Lebensglut und das Bewußtsein eigener Anziehungskraft.

Sie schien stets mit einer Aufgabe beschäftigt zu sein, in der es für sie keine Unsicherheit geben konnte, und infolge dessen, schien es, vermochte sie sich auch nicht für Nebensächliches zu interessieren.

Aber gerade mit diesem Widerspruch mit sich selbst zog sie Kity zu sich hin. Kity empfand, daß sie in ihr, in ihrer Lebensgeschichte ein Vorbild für das finden werde, was sie jetzt so sehnlich suchte; ein Lebensinteresse, Würdigung des Daseins, die außerhalb der für Kity so widerlich gewordenen Beziehungen des weiblichen Elements zu dem männlichen lägen, jener Beziehungen, welche ihr jetzt als eine schmachvolle Menschenwarenausstellung, die der Käufer harrte, erschien.

Je mehr Kity ihre unbekannte Freundin beobachtete, umsomehr überzeugte sie sich, daß dieses Mädchen ein solches, wirklich vollkommenes Geschöpf sei, als das sie sich diese gedacht hatte, und umsomehr wünschte sie nun, mit ihr bekannt zu werden.

Beide Mädchen begegneten sich täglich mehrere Male und bei jeder Begegnung sprachen die Augen Kitys »wer bist du und was bist du? Du mußt doch das herrliche Geschöpf in Wahrheit sein, welches ich mir in dir vorstelle. Aber denke nicht,« sprach ihr Blick weiter, »daß ich mir gestatten würde, mich dir freundschaftlich anzuschließen; ich interessiere mich lediglich für dich und liebe dich.«

»Auch ich liebe dich und du bist gut, sehr gut,« antwortete ihr der Blick des unbekannten Mädchens, »und ich würde dich noch viel mehr lieben, wenn ich die Zeit dazu hätte.«

Und in der That, Kity gewahrte, daß sie fortwährend beschäftigt war; entweder holte sie die Kinder der russischen Familie von der Quelle ab, oder sie trug das Plaid für die Kranke und hüllte diese darin ein, oder sie bemühte sich, einen aufgeregten Leidenden zu zerstreuen, oder sie ging, um Gebäck zum Kaffee für jemand auszuwählen und zu kaufen.

Bald nach der Ankunft der Schtscherbazkiy erschienen kei der Morgenkur noch zwei weitere Badegäste, welche eine allgemeine Aufmerksamkeit, freilich nicht angenehmer Art, erregten.

Der eine war ein sehr großer Mann, von gekrümmter Haltung, mit großen Händen und in einem kurzen, schlecht sitzenden, alten Überzieher. Er hatte schwarze, offenherzige, zugleich aber auch furchterweckende Augen. Mit ihm war ein pockennarbiges, aber gutmütig aussehendes Weib von großer Häßlichkeit und in geschmackloser Kleidung.

Nachdem Kity diese beiden als Russen erkannt hatte, begann sie sich in ihrer Einbildungskraft schon einen schönen und rührenden Roman über sie zu machen, aber die Fürstin, aus der Kurliste ersehend, daß dies Lewin Nikolay und Marja Nikolajewna waren, erklärte Kity, welch ein böser Mensch dieser Lewin sei und alle Traumgebilde des jungen Mädchens über diese beiden Menschen entschwanden.

Nicht nur, weil die Mutter ihr dies mitteilte, sondern auch deshalb, weil jener ein Bruder Konstantin Lewins war, erschienen ihr diese Personen plötzlich im höchsten Grade unangenehm.

Dieser Lewin erweckte in ihr jetzt, mit seiner Gewohnheit, mit dem Kopfe zu zerren, ein unbesiegbares Gefühl der Abneigung.

Es schien ihr, als ob in seinen großen, furchterregenden Augen, welche sie hartnäckig verfolgten, eine Empfindung von Haß und Spott läge, und sie bemühte sich, Begegnungen mit diesem Manne zu vermeiden.

31.

Es war ein bodenlos morastiger Tag; der Regen fiel schon den ganzen Vormittag und die Kranken drängten sich in den Veranden mit ihren Sonnenschirmen.

Kity ging mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten, der heiter in seinem, nach europäischem Schnitt fertig in Frankfurt gekauften Überzieher plauderte.

Sie gingen auf der einen Seite der Veranda und suchten Lewin auszuweichen, der auf der anderen ging. Warenka in ihrem dunkeln Kleide und dem schwarzen Hute mit nach unten gebogenen Krempen, ging mit einer blinden kleinen Französin die lange Veranda hindurch, stets, wenn sie Kity begegnete, freundliche Blicke mit dieser austauschend.

»Mama, darf ich nicht ein Gespräch mit ihr anknüpfen?« frug Kity, ihrer unbekannten Freundin folgend und bemerkend, daß dieselbe zu dem Brunnen schritt, wo man bequem miteinander in Berührung treten konnte.

»Ja wohl, wenn du es so gern willst. Doch werde ich mich selbst zuvor über sie orientieren und zu ihr hingehen,« antwortete die Mutter. »Was findest du denn an ihr Besonderes? Eine Gesellschafterin wird sie doch wohl nur sein. Wenn du willst, werde ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle soeur gekannt,« fügte die Fürstin hinzu, stolz das Haupt erhebend.

Kity wußte, daß die Fürstin unangenehm davon berührt worden war, daß Madame Stahl es zu vermeiden suchte, mit ihr Bekanntschaft zu machen, sie drängte sie daher nicht.

»Es ist seltsam, wie lieb sie erscheint!« antwortete sie nur, nach Warenka blickend, gerade als diese der kleinen Französin ein Glas Brunnen reichte. »Seht nur, wie einfach alles bei ihr ist, wie lieb.«

»Deine engouements sind mir entsetzlich,« sagte die Fürstin, »gehen wir doch lieber zurück,« fügte sie alsdann hinzu, indem sie bemerkte, daß Lewin in Begleitung seiner Dame und eines deutschen Arztes, mit welchem er sehr laut und heftig sprach, auf sie zukam.

Man wandte sich um, um zurückzukehren, als plötzlich schon nicht mehr ein lautes Sprechen, sondern ein Schreien hörbar wurde.

Lewin war stehen geblieben und schrie, der Arzt aber war gleichfalls in Zorn geraten.

Ein Trupp Menschen sammelte sich um die beiden. Die Fürstin und Kity entfernten sich schleunigst, während sich der Oberst zu dem Haufen gesellte, um in Erfahrung zu bringen, um was es sich handelte.

Nach einigen Minuten hatte derselbe die Damen wieder eingeholt. »Was gab es denn dort?« frug die Fürstin.

»Schimpf und Schande!« antwortete der Oberst. »Vor dem einem muß man sich stets in acht nehmen, daß man mit Russen im Auslande zusammentrifft. Jener große Herr stritt sich mit seinem Arzte und sagte ihm Grobheiten dafür, daß er ihn nicht gesund mache. Dabei schwang er sogar seinen Stock. Es ist einfach eine Schande!«

»O, wie unangenehm!« äußerte die Fürstin, »und womit endete die Scene?«

»Gott sei Dank mischte sich jene Dame hinein, – die, deren Hut wie ein Pilz. aussteht. Sie ist eine Russin wie mir scheint,« sagte der Oberst.

»Mademoiselle Warenka?« frug Kity freudig.

»Ja wohl. Sie verstand schneller fertig zu werden, als jeder andere; nahm jenen Herrn einfach am Arme und führte ihn hinweg.«

»Da seht Ihr, Maman,« sagte Kity zu ihrer Mutter, »Ihr wundert Euch, daß ich von ihr entzückt bin!«

Vom folgenden Tage ab bemerkte Kity, ihre unbekannte Freundin beobachtend, daß Mademoiselle Warenka mit Lewin, sowie mit dessen Begleiterin schon in den nämlichen Beziehungen stand, wie mit ihren übrigen Schutzbefohlenen.

Sie stand ihnen bei, unterhielt sich mit ihnen, und machte die Dolmetscherin für das Weib Lewins, welches sich in keiner einzigen fremden Sprache auszudrücken wußte.

Kity begann nun der Mutter noch mehr anzuliegen, ihr die Bekanntschaft mit Warenka zu gestatten, und so unangenehm es der Fürstin auch sein mochte, den ersten Schritt zur Erfüllung des Wunsches mit Madame Stahl bekannt zu werden, welche sich offenbar auf eine unbekannte Eigenschaft viel einbildete, thun zu sollen, stellte sie dennoch Erkundigungen über Warenka an, näherte sich – nachdem sie Einzelheiten über diese vernommen hatte, welche darauf schließen ließen, daß etwas Übles nicht zu befürchten sei, obwohl sich auch nicht viel Gutes über diese Bekanntschaft ergab – selbst Warenka und machte sich mit dieser bekannt.

Indem sie die Zeit auswählte, in welcher ihre Tochter zum Brunnen ging, Warenka aber vor dem Bäcker stand, trat die Fürstin zu ihr.

»Gestattet mir, mich mit Euch bekannt zu machen,« begann sie mit ihrem würdevollen Lächeln. »Meine Tochter hat Euch liebgewonnen. Vielleicht aber kennt Ihr mich nicht; ich« –

»Das Vergnügen ist für mich ein ganz besonderes, Fürstin,« antwortete Warenka schnell.

»Welch ein gutes Werk habt Ihr gestern an unserem bemitleidenswerten Landsmann vollbracht,« fuhr die Fürstin fort.

Warenka errötete.

»Ich weiß nicht mehr recht – wie es scheint – ich habe doch gar nichts gethan,« antwortete sie.

»O doch: Ihr habt jenen Lewin vor einer Unannehmlichkeit bewahrt.«

»Ach ja; sa compane rief mich herbei und ich habe mich nur bemüht, ihn zu beruhigen. Er ist sehr krank und war mit dem Arzte unzufrieden. Ich habe eben die Gewohnheit, solchen Kranken Beistand zu leisten.«

»Ich habe schon gehört, daß Ihr sonst in Mentone mit Eurer Tante wohnt, wie es scheint mit Madame Stahl. Deren belle soeur habe ich ja gekannt.«

»O nein; sie ist nicht meine Tante. Ich nenne sie maman, bin mit ihr aber in keiner Beziehung verwandt. Sie hat mich erzogen,« fügte Warenka, wiederum errötend, hinzu.

Dies wurde so einfach gesprochen, so gut, aufrichtig und offenherzig war dabei der Ausdruck ihres Gesichts, daß die Fürstin jetzt begriff, warum ihre Kity diese Warenka liebgewonnen hatte.

»Was macht denn jener Lewin?« frug sie.

»Er wird abreisen,« versetzte Warenka.

In diesem Augenblick kam Kity vom Brunnen zurück, freudeglänzend, daß ihre Mutter mit der unbekannten Freundin bekannt geworden war.

»Nun, Kity, dein lebhafter Wunsch, bekannt zu werden mit Mademoiselle« –

– »Warenka« – lächelte Warenka, »so nennt mich alles.«

Kity errötete vor Freude und drückte lange schweigend die Hand der neuen Freundin, welche diesen Druck nicht erwiderte, sondern ihre Hand unbeweglich in der Kitys ruhen ließ.

Warenkas Hand antwortete nicht auf den Druck, aber ihr Gesicht schimmerte in einem stillen freudigen, wenn auch etwas traurigen Lächeln, welches große, aber schöne Zähne zeigte.

»Ich selbst wünschte dies schon längst« – sprach sie.

»Ihr seid aber so sehr in Anspruch genommen« –

»O; im Gegenteil, in keiner Beziehung,« versetzte Warenka, mußte aber schon in der nämlichen Minute ihre neuen Bekannten verlassen, da zwei kleine Mädchen russischer Nationalität, die Töchterchen eines Kranken zu ihr gelaufen kamen.

»Warenka, maman ruft!« riefen sie.

Warenka folgte ihnen.