22.

Es war schon sechs Uhr, und deshalb setzte sich Wronskiy, um keine Zeit zu verlieren und zugleich auch nicht mit seinen eigenen Pferden fahren zu müssen, die jedermann kannte, in den Mietwagen Jaschwins und befahl so schnell als möglich zu fahren. Der Wagen, ein alter viersitziger Kasten, war geräumig, Wronskiy ließ sich in einer Ecke nieder, legte die Füße auf den einen Vorderplatz und versank in Nachdenken.

Die verwirrende Erkenntnis, wie sehr seine Angelegenheiten zur allgemeinen Kenntnis gekommen waren, der Zurückerinnerung an die Freundschaft und Schmeichelei Serpuchowskiys, der ihn für einen brauchbaren Mann hielt, und, vor allem, die Erwartung des Wiedersehens – alles das vereinigte sich in ihm zu einer allgemeinen Empfindung freudiger Lebenskraft.

Dieses Gefühl war so stark in ihm, daß er unwillkürlich lächeln mußte. Er streckte seine Beine von sich, legte das eine über das Knie des andern und nahm es in die Hand, die harte Wade des einen Beines befühlend, welches gestern bei dem Sturz mit dem Pferde verletzt worden war. Dann warf er sich zurück und atmete mehrmals aus voller Brust tief auf.

»Gut; sehr gut!« sprach er zu sich selbst. Er hatte schon früher oft ein Gefühl der Genugthuung über seinen Körper empfunden, aber noch niemals war er auf sich selbst so stolz gewesen, auf seinen Körper, als jetzt. Es war ihm angenehm, diesen leichten Schmerz in dem starken Fuße zu empfinden, angenehm, die Bewegungen der Muskeln seiner Brust beim Atmen zu verspüren.

Jener nämliche helle und kalte Augusttag, der so hoffnungslos auf Anna eingewirkt hatte, schien für ihn belebend und ermunternd zu sein, er erfrischte ihm das erhitzte Gesicht und den Hals. Der Geruch des Brillantine-Odeur von seinem Schnurrbart aus erschien ihm ganz besonders angenehm in dieser frischen Luft. Alles, was er durch das Fenster des Wagens sah, alles in dieser kalten reinen Luft, bei diesem bleichschimmernden Licht der untergehenden Sonne, mutete ihn so frisch an, so erheiternd und stärkend, wie er sich selbst stark fühlte. Selbst die Dächer der Häuser, glänzend in den Strahlen der sinkenden Sonne, die scharfen Umrisse der Kirchen, und Ecken der Gebäude, die ihm vereinzelt begegnenden Erscheinungen von Fußgängern oder Equipagen, und das unbewegliche Grün der Bäume und des Grases, die Felder mit den regelmäßig angelegten Kartoffelfurchen, die schrägen Schatten, welche hinter den Bäumen und Häusern fielen, hinter den Büschen und selbst in den Furchen der Kartoffeln, alles war schön, wie ein herrliches Landschaftsgemälde das soeben vollendet, und mit Lack überzogen worden war.

»Vorwärts, vorwärts!« rief er dem Kutscher zu, sich aus dem Fenster herausbeugend und ein Dreirubelpapier aus der Tasche ziehend, welches er dem umblickenden Kutscher hinreichte. Die Hand des Kutschers fühlte nach etwas bei der Laterne, dann ertönte das Sausen der Peitsche und schnell rollte der Wagen auf der ebenen Chaussee dahin. »Nichts, nichts brauche ich weiter, als diese Seligkeit,« dachte er bei sich, auf eine Beule in dem Glöckchen zwischen den Fenstern blickend, und sich dabei Anna so vorstellend, wie er sie zum letztenmal gesehen hatte. »Je länger ich sie liebe, umsomehr lerne ich sie lieben. Doch hier ist ja der Garten der Villa Wrede. Wo ist sie nun hier? Wo? Wie finde ich sie. Weshalb hat sie das Rendezvous hierher bestimmt, schreibt sie in einem Billet Bezzys?« dachte er jetzt nur noch, aber es gab nicht mehr lange zu denken. Er ließ den Kutscher halten, ohne bis zur Allee zu fahren und öffnete die Thür, sprang dann aus dem Wagen auf den Weg und schritt die Allee entlang, welche zum Hause führte.

In der Allee befand sich kein Mensch; aber als er näher Umschau hielt, erblickte er sie selbst. Ihr Gesicht war zwar von einem Schleier bedeckt, aber er erkannte sie sogleich mit freudigem Blick an dem nur ihr eigentümlichen Gange, der Neigung der Schultern und der Haltung des Hauptes und wie ein elektrischer Schlag durchlief es seinen Körper.

Mit neuer Kraft fühlte er sich selbst, von den elastischen Bewegungen seiner Füße an bis zu den leichten Regungen beim Atmen und es schien ihm, als kitzle etwas seine Lippen.

Als Anna mit ihm zusammentraf, drückte sie ihm innig die Hand.

»Du bist mir wohl nicht ungehalten, daß ich dich rufen ließ? Ich mußte dich sehen,« sprach sie, und der ernste strenge Zug um ihre Lippen, den er unter dem Schleier bemerkte, veränderte mit einem Schlage seine innere Stimmung.

»Ich, zürnen? Wie bist du denn hierher gekommen, und wo willst du hin?«

»Thut nichts zur Sache,« antwortete sie, ihren Arm in den seinen legend, »komm, ich muß mit dir reden.«

Er verstand, daß etwas vorgefallen sein müsse, und daß dieses Wiedersehen kein freudiges werden würde. In ihrer Gegenwart verlor er seine Willenskraft und ohne die Ursache ihrer Aufregung zu kennen, fühlte er schon im voraus daß diese Aufregung sich auch ihm selbst mitteilte.

»Was giebt es denn?« frug er, mit dem Ellbogen ihren Arm pressend, und sich bemühend, ihr die Gedanken von den Zügen zu lesen.

Sie ging schweigend einige Schritte weiter, wie um Kraft zu schöpfen, dann blieb sie plötzlich stehen.

»Ich habe dir gestern nicht gesagt,« begann sie schnell und mühsam atmend, »daß ich bei meiner Rückkehr Aleksey Aleksandrowitsch alles offenbart und ihm gesagt habe, daß ich nicht mehr sein Weib bleiben könne, daß ich – ich habe ihm alles gesagt« –

Er hörte sie an, sich unwillkürlich in seiner ganzen Größe beugend, gleich als wünsche er, ihr die Schwere ihrer Lage damit zu erleichtern. Kaum aber hatte sie geendet, als er sich plötzlich hoch aufrichtete und sein Gesicht einen stolzen und strengen Ausdruck annahm.

»Ja. Es ist besser so, tausendmal besser. Ich begreife, wie schwer dir das geworden sem muß,« sagte er, aber sie hörte seine Worte nicht, sie las seine Gedanken nur von seinem Gesicht ab. Freilich konnte sie nicht wissen, daß sein Gesichtsausdruck sich nur auf den Gedanken bezog, welcher Wronskiy zuerst gekommen war, auf das jetzt unvermeidliche Duell. Ihr war überhaupt der Gedanke an ein Duell gar nicht eingefallen, und sie deutete sich daher den flüchtigen Schein von Strenge anders.

Nachdem sie das Schreiben ihres Mannes erhalten hatte, erkannte sie auf dem Grunde ihrer Seele, daß alles nun beim Alten bleiben, daß sie nicht die Macht haben werde, ihre Stellung zu vernachlässigen, ihren Sohn zu verlassen, und sich mit dem Geliebten zu vereinen.

Der Morgen, den sie bei der Fürstin Twerskaja zugebracht hatte, bestärkte sie noch mehr hierin. Aber dieses Wiedersehen war dennoch von äußerster Bedeutung für sie. Sie hoffte, daß dasselbe ihre beiderseitige Lage ändern und sie retten werde. Wenn er bei ihrer Nachricht entschieden, leidenschaftlich, ohne einen Augenblick des Zauderns gesagt hätte, verlaß alles und fliehe mit mir, so würde sie ihr Kind verlassen und mit ihm gegangen sein.

Aber ihre Mitteilung erzeugte in ihm nicht die Wirkung, die sie erwartet hatte; und sie fühlte sich daher etwas verletzt.

»Es ist mir durchaus nicht schwer geworden. Es geschah wie von selbst,« sprach sie aufgeregt, »und hier« – sie reichte ihm den Brief ihres Mannes aus ihrem Handschuh.

»Ich verstehe, verstehe,« unterbrach er sie, das Schreiben ergreifend, ohne es zu lesen, und sich bemühend, sie zu beruhigen, »eines habe ich gewünscht, eines erbeten, mit diesen Verhältnissen zu brechen, damit ich mein Leben deinem Glücke weihen kann.«

»Warum sagst du nur das?« frug sie, »sollte ich denn noch daran zweifeln? Wenn ich gezweifelt hätte, dann« –

»Wer geht denn dort?« frug Wronskiy plötzlich, auf zwei Damen weisend, die ihnen entgegenkamen. »Sie kennen uns vielleicht?« und hastig wandte er sich, Anna mit sich ziehend, in einen Seitenweg.

»Ah, mir ist alles gleichgültig.« Ihre Lippen zitterten« Ihm schien es, als ob ihre Augen mit einem seltsamen Zorn unter dem Schleier hervor auf ihn blickten. »Wie gesagt, darum handelt es sich auch nicht; ich kann ja gar nicht daran zweifeln, aber hier sieh doch, was er schreibt. Lies!« und sie blieb wieder stehen.

Wiederum gab sich jetzt Wronskiy, wie in der ersten Minute bei der Nachricht von dem Bruche mit ihrem Gatten, unwillkürlich jenem natürlichen Eindruck hin, welchen in ihm sein Verhältnis zu dem beleidigten Gatten wachrief.

Jetzt, als er das Schreiben desselben in Händen hielt, stellte er sich unwillkürlich die Forderung vor, welche er wahrscheinlich noch heute oder morgen bei sich daheim vorfinden würde, und das Duell selbst, in welchem er mit der nämlichen kalten und stolzen Miene, die auch jetzt in seinem Gesicht zu lesen war, in die Luft schießen wollte, sich selbst aber dem Schuß des beleidigten Mannes auszusetzen gedachte. Dabei aber huschte ihm eine Idee durch den Kopf, die Erinnerung an das, was ihm soeben Serpuchowskiy gesagt hatte, und woran er selbst heute Morgen gedacht hatte, daß es nämlich besser sei, sich nicht zu binden; – und er erkannte, daß er diesen Gedanken Anna nicht mitteilen könne.

Nachdem er das Schreiben gelesen hatte, hob er das Auge zu ihr empor. In seinem Blick lag keine Energie mehr. Sie begriff sofort, daß er selbst schon nachgedacht hatte; sie wußte, daß er, was er ihr auch sagen mochte, nicht alles sagen würde, was er dachte; sie erkannte, daß ihre letzte Hoffnung eine trügerische gewesen sei. Das aber war es nicht, was sie erwartet hatte.

»Du siehst, was für ein Mensch er ist,« sprach sie mit bebender Stimme, »er« –

»Vergieb, aber mich freut dies,« unterbrach sie Wronskiy, – »um Gott, laß mich ausreden,« – fügte er hinzu, sie mit dem Blick beschwörend, ihm Zeit zu gönnen, seine Worte zu erläutern. »Ich freue mich, daß die Sache durchaus nicht so bleiben kann, wie er vorschlägt.«

»Und warum kann sie es nicht?« frug Anna, ihre Thränen zurückdrängend und seinen Worten offenbar nicht die geringste Bedeutung beimessend. Sie empfand, daß ihr Schicksal besiegelt war.

Wronskiy wollte sagen, daß nach dem, seiner Meinung nach unvermeidlichen Duell das Verhältnis nicht weiter fortgesetzt werden könne, aber er sprach etwas Anderes.

»Es kann nicht so fortgehen. Ich hoffe, du wirst ihn jetzt verlassen und hoffe« – er geriet in Verlegenheit und errötete, »daß du mir erlaubst, unser Leben einzurichten und alles zu erwägen. – Morgen« – begann er nochmals – aber sie ließ ihn nicht aussprechen»

»Und mein Kind?« rief sie. »Du siehst doch, was er schreibt? Ich muß ihn verlassen, aber ich kann und will es nicht thun!«

»Mein Gott, was gäbe es aber besseres, als dies? Das Kind mußt du verlassen, oder dieses erniedrigende Dasein weiterführen.«

»Für wen erniedrigend?«

»Für alle, und am meisten für dich!«

»Du sprichst beleidigend – sage das nicht! Diese Worte besitzen für mich keinen Sinn,« sagte sie mit zitternder Stimme. Sie wollte jetzt nicht, daß er eine Unwahrheit spräche, es blieb ihr nur noch seine Liebe und sie wollte ja lieben. »Bedenke, daß mit dem Tage, seit welchem ich dich geliebt, sich alles für mich verändert hat. Für mich giebt es nur eines noch und das ist deine Liebe. Wenn diese mir gehört, dann fühle ich mich so hoch, so sicher, daß nichts für mich erniedrigend werden könnte. Ich wäre stolz auf meine Lage, weil – stolz darauf – stolz« – sie sprach nicht aus, worauf sie stolz wäre. Thränen der Scham und der Verzweiflung erstickten ihr die Stimme. Sie hielt inne und schluchzte auf.

Auch er empfand, daß sich etwas in seiner Kehle nach oben hob und daß er ein eigentümliches Gefühl in der Nase hatte.

Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich fähig, zu weinen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn eigentlich so erschüttert hatte; er empfand Mitleid zu ihr und fühlte, daß er ihr nicht helfen könne; zugleich aber erkannte er auch, daß er die Ursache ihres Unglücks sei, daß er schlecht gehandelt habe.

»Ist denn eine Trennung unmöglich? sprach er kleinlaut. Sie schüttelte das Haupt, ohne zu antworten. Ging es denn nicht, daß sie ihren Sohn mitnahm und ihren Mann verließ? Allerdings, aber dies hing alles von ihm selbst ab.

»Jetzt muß ich wieder zu ihm fahren,« sprach sie trocken. Ihre Ahnung, daß alles beim Alten bleiben würde – hatte sie nicht getäuscht.

»Dienstag werde ich in Petersburg sein und alles wird sich dann entscheiden.«

»Ja,« antwortete sie, »aber wir wollen nicht mehr von der Angelegenheit sprechen.«

Der Wagen Annas, den diese fortgeschickt hatte mit der Weisung, an das Gitter des Gartens der Villa Wrede zu kommen, fuhr vor.

Anna verabschiedete sich von Wronskiy und fuhr nach Haus.

9.

Um vier Uhr verließ Lewin, das Pochen seines Herzens fühlend, den Wagen vor dem Zoologischen Garten und begab sich auf einem Nebensteig zum Berg, und der Schlittenbahn hinauf, in der sicheren Erwartung, K:ty dort zu finden, da er den Wagen der Schtscherbazkiy schon vor der Auffahrt bemerkt hatte.

Es war ein klarer, frostiger Tag. Vor der Auffahrt standen reihenweise die Equipagen, Schlitten und Landauer. Geputztes Volk, schimmernd im Glänze der Sonne in seinen Hüten, drängte sich vor dem Eingang und in den sauber gepflegten Wegen zwischen den kleinen russischen Häusern mit den geschnitzten Architraven; die alten, knorrigen Birken des Gartens, deren Geäst mit Schnee belastet war, schienen gleichsam in neue Feiertagskleider gehüllt zu stehen.

Lewin begab sich auf dem Wege hin nach der Schlittenbahn; er sprach dabei sich selbst zu, er dürfe nicht in Aufregung geraten und müsse Ruhe bewahren. Was sollte diese Aufregung? Um was handelte es sich doch? Thorheit, die Unruhe mußte verstummen! So wandte er sich an sein Herz. Aber je mehr er sich bemühte sich zu beherrschen, desto mehr Schwierigkeit verursachte es ihm, zu atmen.

Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an, aber Lewin erkannte gar nicht, wer es sei. Er ging zu den Bergen hin, auf welchen die Ketten der losgelassenen und heraufgezogenen kleinen Schlitten kreischten; Lachen und heitere Stimmen ertönten auf den hinabgleitenden kleinen Schlitten. Er trat noch näher hinzu, vor ihm lag die Eisbahn und inmitten der Masse der auf ihr sich Tummelnden erkannte er sogleich – sie.

Er erkannte, daß sie da war, an der Freude und dem Schrecken der sein Herz ergriff. Sie stand im Gespräch mit einer Dame am entgegensetzten Ende der Eisbahn. Ihr Äußeres in der Garderobe zeigte nichts besonderes, auch ihre Haltung nicht, aber Lewin war es so leicht gewesen, sie allein inmitten dieses Haufens zu entdecken, als wäre sie eine Rose unter Nesseln. Alles wurde von ihr erhellt, sie war nur ein Lächeln, das seine gesamte Umgebung bestrahlte.

»Kann ich denn hinübergehen über das Eis, zu ihr hintreten?« überlegte er. Der Platz, auf dem sie stand, erschien ihm als ein unzugängliches Heiligtum und eine Minute lang blieb er wie eingewurzelt stehen; so beängstigend überkam es ihn. Es kostete ihn alle Anstrengung, sich klar zu machen, daß rings um sie herum Menschen aller Art sich bewegten, und daß er recht gut auch hingehen könne, um mit denselben zu rollen.

Er ging hinab, es lange vermeidend, einen Blick nach ihr zu richten, – wie man die Sonne meidet – aber er schaute sie doch gleich der Sonne, wollte er sie auch nicht sehen.

Auf dem Eise hatten sich an diesem Tage der Woche und um die gegenwärtige Zeit nur Leute aus einem bestimmten Kreise, die sich sämtlich kannten, versammelt.

Da waren Meister des Schlittschuhlaufes, die mit ihrer Kunst kokettierten, Lernende, die hinter Stuhlschlitten schüchtern und ungeschickt sich bewegten, Knaben, und Greise die aus Gesundheitsrücksichten sich Bewegung machen wollten.

Sie alle erschienen Lewin als auserwählt Glückliche, weil sie dort waren, in ihrer Nähe. Alle die Fahrenden aber schienen mit völligem Gleichmut sie zu überflügeln oder einzuholen, sie sprachen selbst mit ihr, und ergötzten sich, völlig unabhängig von ihr, allein dahingegeben dem Genuß der vortrefflichen Eisbahn und des herrlichen Wetters.

Nikolay Schtscherbazkiy, der Vetter Kitys, in einem kurzen Jaquet und engsitzenden Beinkleidern, saß mit seinen Schlittschuhen an den Füßen auf einer Bank und rief beim Erblicken Lewins:

»Oho, da kommt ja der erste Schlittschuhläufer von Rußland! Bleibt Ihr lange hier? Das Eis ist ausgezeichnet, legt Schlittschuhe an!«

»Ich habe gar keine,« antwortete Lewin, verwundert über diese Kühnheit und Ungezwungenheit in ihrer Gegenwart, und ohne die Angebetete eine Sekunde aus den Augen zu verlieren, obwohl er gar nicht nach ihr hinzuschauen schien.

Da empfand er, daß die Sonne sich ihm näherte; sie war in der Ecke, aber kurz die kleinen Füßchen setzend in den hohen Stiefelchen, augenscheinlich verlegen werdend, kam sie auf ihn zu. Ein wie besessen mit den Armen in der Luft herumfuchtelnder, sich tief zur Erde beugender Junge in russischem Anzug überholte sie; sie fuhr nicht ganz sicher. Kity nahm die Hände aus dem kleinen Muff der an einer Schnur hing, hielt sie empor und lächelte Lewin in seinem Schrecken, den sie jetzt erkannte, zu.

Als sie die Umfahrt beendet hatte, gab sie sich mit eigensinnigem Ausstrich einen Ruck und fuhr gerade auf Schtscherbazkiy zu, dessen Arm sie ergriff, während sie Lewin dabei zulächelte. Sie war schöner, als er vermutet hatte. Wenn er ihrer dachte, konnte er sie sich in ihrer ganzen Erscheinung vorstellen, besonders den ganzen Reiz dieses mit dem Ausdruck kindlicher Offenheit und Herzensgüte begabten, Blondköpfchens, das so keck auf den schönen jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Gesichtsausdrucks im Vereine mit der zarten Schönheit ihrer Taille, bildeten insbesondere einen Reiz bei ihr, den er recht wohl zu würdigen verstand.

Was ihn aber immer an ihr zu verwirren pflegte, das war der Ausdruck ihrer Augen, die sanft, ruhig und ehrlich schauten und namentlich ihr Lächeln, das Lewin stets in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich beseligt, weich gestimmt fühlte, bei dem er sich der halbvergessenen Tage seiner frühesten Kindheit entsann.

»Seid Ihr schon lange hier?« frug sie, ihm die Hand hinreichend. »Danke bestens,« fügte sie hinzu, als er ihr das Taschentuch aufhob, welches ihrem Muff entfallen war.

»Ich? Nein, noch nicht lange – seit gestern – oder vielmehr heute – bin ich angekommen,« versetzte Lewin, der ihre Frage vor Erregung nicht so schnell verstanden hatte. »Ich wollte zu Euch fahren,« fuhr er sogleich fort, indem er sich erinnerte, mit welcher Absicht er sie aufgesucht hatte, aber er geriet in Verwirrung und errötete. »Ich wußte nicht, daß Ihr Schlittschuh laufen könnt – und Ihr lauft gut!«

Sie blickte ihn aufmerksam an, als wünsche sie, die Ursache seiner Verwirrung zu erfahren.

»Ich muß Euer Lob hochschätzen. Es hat sich hier die Tradition erhalten, daß Ihr der beste Schlittschuhläufer wäret, den es gäbe,« antwortete sie, mit der kleinen Hand in dem schwarzen Handschuh, die Reifnadeln abschüttelnd, welche auf den Muff gefallen waren.

»Ja, einst bin ich leidenschaftlich gern gefahren; ich hatte es bis zur Vollkommenheit bringen wollen.«

»Ihr treibt Wohl alles leidenschaftlich, wie mir scheint,« sagte sie lächelnd. »Ich möchte in der That gern einmal sehen, wie Ihr rollt. Legt Schlittschuhe an und laßt uns zusammen fahren!«

»Zusammen fahren! Ist es denn möglich?« dachte Lewin, sie anschauend. »Sogleich,« antwortete er laut, »lege ich Schlittschuhe an.«

»Ihr waret lange nicht bei uns, Herr,« sagte der Bahninhaber, Lewins Fuß haltend und den Absatz desselben anschraubend. »Nach Euch hat es hier keinen^ Meister wieder gegeben unter den Herren. Ist es so gut?« frug er, den Riemen anziehend.

»Gut, gut, nur schnell wenn ich bitten darf,« antwortete Lewin, mit Mühe ein Lächeln der Glückseligkeit unterdrückend, das ihm wider Willen aufstieg. »Ja,« dachte er, »das ist Leben, das ist Glück! Zusammen! hat sie gesagt, laßt uns vereint fahren. Soll ich jetzt mit ihr reden? Aber ich fürchte mich ja fast, ihr zu gestehen, daß ich glücklich bin, glücklich schon in der Hoffnung. Was dann? Doch, es muß sein, es muß sein! Weg mit der Schwäche!«

Lewin trat auf seine Füße, legte den Überrock ab und auf dem holperigen Eise bei dem Häuschen ansetzend, lief er hinaus auf die spiegelnde Fläche und fuhr ohne Hast, ganz wie seinem eigenen Willen gehorchend und seinen Lauf mäßigend dahin. Dann näherte er sich voll Befangenheit; ihr Lächeln aber machte ihn wieder sicher.

Sie gab ihm die Hand und beide fuhren nun miteinander, ihren Lauf allmählich beschleunigend; und je schneller sie fuhren, desto stärker drückte sie seine Hand.

»Unter Euch würde ich bald ausgelernt haben, ich habe solch ein Vertrauen zu Euch,« sagte sie.

»Auch ich fühle mich sicher, wenn Ihr Euch auf mich stützet,« antwortete er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte und errötete. Und in der That, sowie er nur diese Worte herausgebracht hatte, verlor ihr Gesicht, wie die Sonne die hinter die Wolken geht, all seine Freundlichkeit, und Lewin erkannte auf ihrem Gesicht jenes bekannte Spiel, welches das Arbeiten der Gedanken andeutet; auf ihrem glatten Antlitz erschien eine Falte.

»Haben Sie etwas übel aufgenommen? Doch – eigentlich habe ich gar nicht das Recht so zu fragen,« wandte er sich schnell an sie.

»Warum hätte ich etwas übel aufzunehmen? O nein, dem ist durchaus nicht so,« versetzte sie kühl, fügte aber dann sogleich hinzu, »habt Ihr Mademoiselle Linon gesehen?«

»Noch nicht.«

»Geht doch zu ihr; sie liebt Euch so sehr.«

»Was soll das heißen?« dachte Lewin, »ich habe sie gekränkt, Herr, steh mir bei!« Er lief zu der alten Französin hin mit den weißen Locken, die drüben auf der Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn als alten Freund.

»Ja, ja, wir sind gewachsen,« sagte sie, mit den Augen auf Kity weisend, »und wir werden alter. Tiny bear ist groß geworden!« fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an seinen Scherz über die jungen Herrinnen, die er einst die drei Bären aus dem englischen Märchen genannt hatte. »Wißt Ihr noch, wie Ihr zu sagen pflegtet.«

Er konnte sich durchaus nicht mehr hierauf besinnen, aber sie lachte nunmehr schon ins zehnte Jahr über jenen Scherz und sie liebte denselben.

»Nun, fahrt nur immer zu, fahrt. Unsere Kity hat gut Schlittschuhlaufen gelernt, nicht wahr?«

Als Lewin wieder zu Kity zurückkehrte, war ihr Gesicht nicht mehr so ernst, ihre Augen blickten wieder so ehrlich und freundlich, aber ihm schien es, als läge in ihrer Freundlichkeit ein seltsamer, nachdenklich ruhiger Ton. Auch er wurde nachdenklich. Er begann von der alten Gouvernante und von ihren Eigenheiten zu sprechen; sie aber frug ihn nach seinem Leben.

»Ist es Euch nicht zu langweilig auf dem Dorfe?« sagte sie.

»O nein; langweilig ist es da nicht; ich habe sehr viel zu thun,« antwortete er ihr, empfindend, daß sie ihn ihrem ruhigen Tone unterordnete, dem zu entweichen er sich nie imstande fühlen würde, obwohl es im Beginn des Winters war.

»Seid Ihr für längere Zeit hierher gekommen?« frug Kity.

»Ich weiß noch nicht,« antwortete er, ohne zu überlegen, was er sprach.

Der Gedanke, daß er wiederum unverrichteter Sache von dannen gehen werde, falls er sich dem nämlichen ruhigen Freundschaftston hingeben würde, wie sie, kam ihm in den Kopf und er entschloß sich, Mut Zu fassen.

»Inwiefern wißt Ihr das nicht?«

»Ich weiß nicht. Es hängt dies ganz von Euch ab,« sagte er, erschrak aber sofort über seine eigenen Worte.

Hörte sie diese nicht, oder wollte sie sie nicht hören, aber sie schien zu straucheln, stieß zweimal mit dem Füßchen auf das Eis und fuhr dann hinweg von ihm. Sie schwebte zu Mademoiselle Linon, sagte ihr einige Worte und begab sich dann nach dem Häuschen, wo die Damen ihre Schlittschuhe ablegten.

»Mein‘ Gott, was habe ich angerichtet, mein Gott! Hilf mir und rate mir,« sagte Lewin zu sich, gleichsam betend, und dabei zugleich in der Empfindung des Bedürfnisses nach einer heftigen Bewegung, ausstreichend und nach auswärts und innen Kreise ziehend.

In diesem Augenblicke kam ein junger Mann, der beste der jüngeren Schlittschuhläufer, die Cigarette im Munde, auf seinen Schlittschuhen aus dem Café heraus; er lief, eilte auf den Schlittschuhen die Stufen herab, lachend und springend und flog dann auf dem Eise davon, ohne die freie Haltung seiner Arme zu verändern.

»Aha, ein neues Kunststückchen,« sagte Lewin, und lief sofort nach oben um das neue Kunststückchen zu versuchen.

»Fallt nicht, das will geübt sein!« rief ihm Nikolay Schtscherbazkiy zu.

Lewin trat auf einen Vortritt, und sprang herab, bei der ungewohnten Übung das Gleichgewicht mit den Armen haltend. Auf der letzten Stufe blieb er hängen und berührte leicht das Eis mit der Hand, machte aber eine heftige Bewegung, schnellte auf und flog lachend hinaus auf die Fläche.

»Ein wackerer Bursch,« dachte Kity dabei, als sie aus dem Häuschen heraustrat in der Begleitung der Mademoiselle Linon. Sie blickte dabei mit stillem Lächeln nach ihm hinüber, wie nach einem lieben Bruder. »Bin ich denn schuld, habe ich etwas Übles gethan? Man sagt, das sei Koketterie. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe, und doch bin ich gern in seiner Gesellschaft, er ist so wacker. Warum sagte er das auch gerade?« dachte sie.

Als Lewin Kity mit ihrer Mutter, die ihr auf den Stufen entgegenkam, fortgehen sah, blieb er, errötet von der schnellen Bewegung, stehen und versank in Nachdenken. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte dann Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.

»Sehr erfreut, Euch wiederzusehen,« sagte die Fürstin, »Donnerstag, wie ja immer, empfangen wir.«

»Nicht heute vielleicht auch?«

»Wird uns sehr angenehm sein,« versetzte die Fürstin trocken.

Diese Trockenheit erbitterte Kity, und diese konnte sich nicht enthalten, die Kälte ihrer Mutter zu mildern. Sie wandte das Haupt nach ihm um und sprach lächelnd:

»Auf Wiedersehen.«

In diesem Augenblick erschien Stefan Arkadjewitsch, den Hut schief auf der Seite mit glänzenden Mienen und Augen, wie ein wohlgelaunter Sieger im Garten. Als er sich indessen der Tante genähert hatte, antwortete er mit schuldbewußtem Gesicht auf ihre Fragen betreffs des Befindens von Dolly. Nachdem er so halblaut und zerknirscht mit der Tante eine Weile gesprochen hatte, warf er sich wieder in die Brust, und nahm Lewin unter dem Arme.

»Nun, was thun wir, wollen wir fahren?« frug er, »ich habe immer an dich gedacht und bin sehr, sehr glücklich, daß du gekommen bist,« sprach er, Lewin bedeutungsvoll ins Auge blickend.

»Fahren wir, fahren wir,« antwortete dieser beglückt, ohne den Klang der Stimme aus dem Ohre zu verlieren, die da gesagt hatte, »auf Wiedersehen«. Er sah noch das Lächeln mit welchem die Worte gesprochen worden waren.

»Gehen wir nach England oder in die Eremitage?«

»Mir ganz gleichgültig.«

»Nun, also nach ›England‹«, fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, »England« deshalb wählend, weil er daselbst mehr Schulden hatte, als in der Eremitage. Er hielt es daher nicht für geraten, dieses Hotel zu meiden. »Du hast wohl einen Kutscher? Gut, ich habe nämlich meinen Wagen entlassen.«

Die beiden Freunde legten schweigend den ganzen Weg zurück. Lewin dachte an das, was jene Veränderung im Gesichtsausdruck Kitys bedeutet haben mochte, und er überzeugte sich bald, es sei Hoffnung für ihn vorhanden, bald geriet er in Mutlosigkeit und erkannte klar, seine Hoffnung sei sinnlos. Nichtsdestoweniger fühlte er sich aber als einen ganz anderen Menschen, nicht mehr demjenigen ähnlich, der er gewesen war just bis zu jenem Lächeln hin, zu jenen Worten »auf Wiedersehen«!

Stefan Arkadjewitsch stellte während dessen das Menü des Diners zusammen. »Liebst du nicht turbot?« frug er Lewin während der Fahrt.

»Was sagtest du?« frug Lewin, » turbot? O ja, ich liebe den turbot außerordentlich.«

23.

Montags war die gewöhnliche Sitzung der Kommission vom zweiten Juli. Aleksey Aleksandrowitsch trat in den Sitzungssaal, begrüßte die Mitglieder und den Präsidenten wie gewöhnlich und ließ sich dann auf seinem Platze nieder, die Hände nach den vor ihm bereitliegenden Papieren legend.

Unter der Zahl derselben befanden sich auch die ihm nötigen Rekognitionen und der Entwurf jenes Berichtes, welchen er vorzulegen beabsichtigte. Die Rekognitionen waren für ihn übrigens gar nicht notwendig. Er wußte alles schon und hielt es nicht für erforderlich, in seinem Gedächtnis alles das zu wiederholen, was er sagen wollte. Er wußte, daß wenn seine Zeit käme und er das Gesicht seines Gegners vor sich sähe, das sich sorgfältig bemühte, den Stempel der Gleichmütigkeit zur Schau zu tragen, seine Rede wie von selbst fließen würde, besser, als wenn er sie jetzt vorbereitete. Er empfand, daß der Inhalt seiner Rede so bedeutungsvoll war, daß jedes Wort derselben seinen Wert haben würde. Nichtsdestoweniger zeigte er beim Anhören der üblichen Darlegung des Sachverhalts die unschuldigste, harmloseste Miene von der Welt. Niemand, der auf seine weißen, mit hohen Adern durchzogenen Hände schaute, die mit den langen Fingern leise die beiden Ränder des vor ihm liegenden weißen Blattes betasteten, sein mit dem Ausdrucke der Ermüdung seitwärts geneigtes Haupt sah, hätte denken können, daß sich sogleich aus seinem Munde jene Reden ergießen würden, die einen furchtbaren Sturm hervorriefen, die Mitglieder zu Ausrufen hinrissen, daß sie sich gegenseitig unterbrachen und den Präsidenten veranlassten, zur Ordnung zu rufen.

Nachdem der Bericht beendet war, erklärte Aleksey Aleksandrowitsch mit seiner leisen, dünnen Summe, daß er zunächst einige Erwägungen betreffs der Angelegenheit der Lage der Ausländer mitzuteilen hätte. Die Aufmerksamkeit wandte sich ihm zu. Aleksey Aleksandrowitsch räusperte sich und begann, ohne seinen Gegner anzublicken, und wie er dies gewöhnlich that, wenn er eine Rede hielt, die nächste, vor ihm sitzende Person – einen kleinen, friedlichen alten Herrn, der gar keine Meinung in der Kommission hatte, ins Auge fassend, seine Ansichten auseinanderzusetzen.

Als die Rede auf das grundlegende Gesetz gekommen war, sprang der Opponent auf und fiel dem Sprecher ins Wort. Stremoff, ebenfalls Mitglied der Kommission, und gleichfalls auf seiner schwachen Seite gefaßt, begann sich zu rechtfertigen und nun fand eine stürmische Sitzungsscene statt; Aleksey Aleksandrowitsch indessen triumphierte und seine Einwände wurden als stichhaltig anerkannt. Es wurden drei neue Kommissionen gewählt und anderen Tags sprach man in den Petersburger Kreisen nur von dieser Komiteesitzung. Der Erfolg Aleksey Aleksandrowitschs war größer, als dieser selbst erwartet hatte.

Am andern Morgen – es war Dienstags – erwachend, entsann er sich mit einem Gefühle der Befriedigung seines gestrigen Sieges, und konnte nicht umhin zu lächeln, obwohl er gleichmütig zu erscheinen wünschte, als der Kanzleidirektor, in der Absicht, ihm eine Schmeichelei zu sagen, von den Gerüchten Mitteilung machte, die zu ihm gedrungen wären betreffs der stattgehabten Sitzung.

Indem er sich mit dem Kanzleidirektor beschäftigte, hatte Aleksey Aleksandrowitsch vollständig vergessen, daß heute Dienstag sei, der Tag, der von ihm für die Ankunft Annas festgesetzt worden war. Er war verwundert und fühlte sich unangenehm berührt, als ein Diener ihm meldete, daß seine Gattin angekommen sei.

Anna war früh morgens in Petersburg angekommen. Ihrem Telegramm entsprechend, war ihr ein Wagen entgegengeschickt worden und infolge dessen konnte Aleksey Aleksandrowitsch erfahren, wenn sie anlangte. Als sie indessen anlangte, erschien er nicht, sie zu bewillkommnen. Man teilte ihr mit, er habe seine Gemächer noch nicht verlassen und arbeite noch mit seinem Kanzleidirektor. Sie befahl, ihrem Gatten mitzuteilen, daß sie angekommen sei, begab sich dann in ihr Kabinett und beschäftigte sich mit dem Auspacken ihrer Sachen in der Erwartung, daß er zu ihr kommen werde. Aber eine Stunde verging, ohne daß er erschienen wäre. Sie begab sich nach dem Speisesalon unter dem Vorwand, Anordnungen zu treffen und sprach absichtlich möglichst laut immer in der Erwartung, daß er nun erscheinen werde, Aber er kam nicht, obwohl sie vernahm, daß er zu der Thür seines Kabinetts herausgetreten war, den Kanzleidirektor begleitend. Sie wußte, daß er wie gewöhnlich, bald ins Amt fahren werde, und wünschte ihn vorher noch zu sehen, damit ihre beiderseitigen Verhältnisse zur Klarstellung kämen.

Den Saal durchschreitend, begab sie sich daher entschlossen zu ihm. Als sie im Kabinett bei ihm eintrat, saß er in Uniform, und offenbar im Begriff, aufzubrechen, an seinem kleinen Tischchen, auf welches er sich mit den Armen gestemmt hatte, und starrte trübe vor sich hin. Sie erblickte ihn früher, als er sie selbst gesehen, und erkannte sofort, daß er an sie dachte.

Als Aleksey Aleksandrowitsch seine Frau gewahrte, wollte er sich erheben, besann sich aber anders, und sein Gesicht erglühte, was Anna nie vorher an ihm bemerkt hatte. Er erhob sich schnell und trat ihr entgegen, schaute ihr indessen nicht in die Augen, sondern höher hinauf, nach ihrer Stirn und Frisur. Er trat auf sie zu, ergriff ihre Hand und bat sie Platz zu nehmen.

»Ich freue mich sehr, daß Ihr gekommen seid,« begann er, sich neben ihr niederlassend, blieb aber dann stumm, obwohl er offenbar den Wunsch hatte, noch etwas zu sagen. Er begann mehrmals zu sprechen, hielt aber wieder inne.

Wenn sich Anna auch vorgenommen hatte, ihn bei diesem Wiedersehen verächtlich zu behandeln und ihm Anklagen entgegenzuschleudern, so wußte sie doch nicht, was sie jetzt zu ihm sprechen sollte, und sie empfand Mitleid mit ihm.

Das beiderseitige Schweigen währte so ziemlich lange.

»Ist Sergey gesund?« begann er endlich und fügte dann, ohne eine Antwort abzuwarten hinzu, »ich werde heute nicht zu Hause speisen und muß sogleich wegfahren.«

»Ich wünschte nach Moskau zu fahren,« antwortete sie.

»Nein; Ihr habt sehr, sehr wohl daran gethan, hierher zu kommen,« versetzte er und verstummte dann wieder.

Als sie bemerkte, daß er nicht fähig sei selbst zu beginnen; nahm sie das Wort: »Aleksey Aleksandrowitsch,« sie blickte ihn an, ohne das Auge unter seinem, nach ihrer Frisur gerichteten Blick zu senken, »ich bin ein verbrecherisches Weib, ein schlechtes Weib, aber ich bin auch das noch, was ich war, was ich Euch damals gesagt habe, und bin gekommen, Euch zu sagen, daß ich nichts zu ändern vermag.«

»Darnach habe ich Euch nicht gefragt,« antwortete er plötzlich mit entschiedenem Tone, und ihr haßerfüllt tief in die Augen schauend. »Das habe ich ja vorausgesetzt.« Auch unter dem Einfluß des Zornes hatte er offenbar gleichwohl die vollkommene Herrschaft über alle seine Fähigkeiten, »aber wie ich Euch damals gesagt und geschrieben habe,« fuhr er mit scharfer, dünner Stimme fort, »wiederhole ich auch jetzt, daß ich keine Verpflichtung habe, davon unterrichtet zu werden. Ich ignoriere dies. Nicht alle Weiber sind so gut, wie Ihr, so zu eilen, damit ihrem Gatten eine so angenehme Nachricht mitteilen zu können.« Er betonte das Wort »angenehm« besonders. »Ich werde die Sache so lange ignorieren, als die Welt sie nicht kennt und mein Name nicht entehrt ist. Deswegen eben komme ich Euch damit zuvor, daß unsere Beziehungen so bleiben müßten, wie sie stets waren, und daß ich nur für den Fall, wenn Ihr Euch selbst kompromittiertet, gezwungen sein werde, Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu wahren.«

»Aber unsere Beziehungen können nicht so bleiben, wie sie stets waren,« antwortete Anna mit schüchterner Stimme, ihn voll Schrecken anblickend. Sobald sie diese ruhigen Bewegungen wieder gesehen, diese scharfklingende knabenhafte und höhnische Stimme gehört, hatte die Abneigung vor ihm das vorher empfundene Mitleid vernichtet und sie fürchtete nun nur noch; aber mochte es kosten was es wollte, sie wollte Klarheit über ihre Lage erlangen. »Ich kann nicht länger Euer Weib sein, da ich« – begann sie.

Er lächelte mit bösem, kaltem Ausdruck.

»Die Lebensweise, die Ihr Euch erwählt habt, scheint sich in Eurer Auffassung widerzuspiegeln. Ich achte oder verachte das Eine wie das Andere; ich achte Eure Vergangenheit und verachte Eure Gegenwart, so daß ich weit entfernt war von einer Interpretation meiner Worte, wie Ihr sie mir unterschiebt.«

Anna seufzte und senkte das Haupt.

»Übrigens verstehe ich nicht, daß Ihr, im Besitz einer solchen Selbständigkeit, daß Ihr,« fuhr er zornerfüllt fort, »unverhohlen Eurem Gatten von Eurer Untreue Mitteilung machen könnt und nicht einmal, wie es scheint, etwas Tadelnswertes darin findet; Ihr scheint die Erfüllung der Verpflichtungen für nachteilig zu halten, die das Weib gegen den Mann hat.«

»Aleksey Aleksandrowitsch. Was verlangt Ihr von mir?«

»Ich verlange, daß ich hier niemals jenem Menschen begegne und Ihr selbst Euch so führt, daß weder die Welt, noch mein Personal Euch einen Vorwurf machen kann; daß Ihr ihn nicht wiederseht! Mir scheint, das ist nicht viel verlangt, und zum Entgelt dafür werdet Ihr die Rechte eines ehrenhaften Weibes genießen, ohne daß ihr die Pflichten eines solchen erfüllt. Das ist es was ich Euch zu sagen hatte. Doch jetzt muß ich fort. Ich werde nicht zu Hause speisen.«

Er erhob sich und schritt nach der Thür.

Anna erhob sich gleichfalls; mit stummer Verbeugung ließ er sie zur Thür hinaus.

19.

Wronskiy war ungeachtet seines, dem Anschein nach leichtfertigen weltlichen Lebens ein Mann, der die Unordnung haßte.

Schon von Kindheit an, im Kadettenhaus, hatte er einmal die Empfindung der Erniedrigung einer Verweigerung kennen gelernt, als er in Geldverlegenheit, um eine Anleihe nachgesucht hatte, und von da an setzte er sich nie wieder einer solchen Lage aus.

Zu dem Zwecke, seine geschäftlichen Angelegenheiten stets in Ordnung zu haben, zog er sich, je nach den Umständen, häufiger oder seltener, fünfmal im Jahre, in die Einsamkeit zurück und ordnete den Stand aller seiner Angelegenheiten. Er nannte dies, »sich seine Fehler vorwerfen«, oder auch »faire la lessive« .

Am Tage nach den Rennen spät erwachend, kleidete sich Wronskiy unrasiert und nicht gebadet, in seinen Hausrock, breitete auf seinem Tische Gelder, Rechnungen und Briefe aus und ging an seine Arbeit.

Petrizkiy, welcher wußte, daß er in diesen Stimmungen reizbar war, kleidete sich, als er beim Erwachen seinen Kameraden am Schreibtisch gewahrte, leise an und ging hinaus, ohne denselben zu stören.

Jeder, der die Verwickelung seiner materiellen Verhältnisse bis in die kleinsten Einzelheiten die ihn betreffen, kennt, glaubt unwillkürlich, daß die Verwickelung derselben und die Schwierigkeit die in ihrer Abklärung liegt, nur eine rein persönliche zufällige Besonderheit sei, und vermag sich durchaus nicht zu denken, daß auch andere ganz von den nämlichen Verwickelungen ihrer persönlichen Angelegenheiten heimgesucht sein könnten, als man selbst.

So schien es auch Wronskiy, aber nicht ohne inneren Stolz, nicht ohne Grund dachte er, daß jeder andere sich schon längst verwickelt haben würde und genötigt gewesen wäre, fehlerhaft zu handeln, wenn er sich in ebenso schwierigen materiellen Verhältnissen befunden hätte. Gerade jetzt aber fühlte Wronskiy die Notwendigkeit, zu rechnen und Klarheit zu schaffen für seine Lage, damit er nicht in Verwickelungen geriete.

Das Erste, womit sich Wronskiy, als mit dem Leichtesten befaßte, waren die Geldgeschäfte.

Indem er in seiner kleinen Handschrift alles auf einen Briefbogen schrieb, was er schuldig war, zog er das Facit und fand, daß er siebzehntausend und einige hundert Rubel Schulden hatte, die er der Klarheit halber zurücklegte. Nachdem er sein Geld und die Bankpapiere nachgezählt hatte, fand er, daß ihm achtzehnhundert Rubel verblieben, während Eingänge bis Neujahr nicht vorauszusehen waren. Nach Durchsicht der Schuldrechnungen, schrieb Wronskiy diese auf und machte drei Abteilungen. In der ersten wurden die Schulden eingetragen, welche sofort getilgt werden mußten, oder zu deren Bezahlung er jedenfalls Geld bereit haben mußte, damit bei der Geltendmachung der Forderung keine Minute Zahlungsverzögerung eintrat. Solcher Schulden hatte er etwa viertausend, nämlich fünfzehnhundert Rubel für ein Pferd und zweitausendfünfhundert Rubel Bürgschaft für seinen jungen Kameraden Wenjewskiy, der dieses Geld in Wronskiys Gegenwart verspielt hatte. Wronskiy hatte sogleich das Geld für diesen erlegen wollen, denn er trug es gerade bei sich, aber Wenjewskiy und Jaschwin hatten darauf bestanden, selbst zu bezahlen, Wronskiy dürfe dies nicht, da er gar nicht mitgespielt habe. Dies alles war ganz gut, aber Wronskiy wußte, daß er für die ganze schmutzige Affaire, an welcher er freilich nur in der Absicht teilgenommen hatte, um die Bürgschaft für Wenjewskiy übernehmen zu können, unbedingt jene zweitausendfünfhundert Rubel haben müsse, damit sie ein Gauner erhalte, mit dem er keine weiteren Auseinandersetzungen haben wollte.

Nach dieser ersten und wichtigsten Abteilung, mußte er also viertausend Rubel haben. In der zweiten befanden sich achttausend Rubel weniger wichtige Schulden. Diese bezogen sich hauptsächlich auf den Rennstall, den Lieferanten von Hafer und Heu, seinen Engländer, den Sattler und dergleichen. Außerdem waren auch zweitausend Rubel für den Fall der völligen Sicherung noch anzusetzen. Die letzte Abteilung der Schulden, für die Kaufmagazine, Hotels, den Schneider, war so wenig wichtig, daß er nicht viel darüber zu kalkulieren hatte. Obwohl er mindestens sechstausend Rubel für die laufenden Ausgaben brauchte, waren nur achtzehnhundert vorhanden. Für einen Mann von hunderttausend Rubel Einkünften, wie alle das Vermögen Wronskiys schätzten, konnten solche Schulden, hätte es scheinen können, nicht drückend sein – aber der Haken lag darin, daß Wronskiy bei weitem nicht diese hunderttausend Rubel Einkommen hatte. Das ungeheure Vermögen seines Vaters, welches allein gegen zweihunderttausend Rubel jährlich an Ertrag einbrachte, war den Brüdern gemeinschaftlich zu eigen. Als der älteste Bruder, mit einer Last von Schulden, die vermögenslose Fürstin Warja Tschirkowaja heiratete, trat Aleksey ihm damals die gesamten Einkünfte aus den väterlichen Gütern ab und bedung sich selbst nur fünfundzwanzigtausend Rubel jährlich aus. Aleksey hatte damals dem Bruder gesagt, daß dieses Geld für ihn hinreiche, solange er nicht heirate, was doch aller Wahrscheinlichkeit nach niemals eintreten würde.

Sein Bruder, der eines der teuersten Regimenter befehligte und eben erst verheiratet war, konnte nicht umhin, die Schenkung anzunehmen. Die Mutter, welche ihr besonderes Vermögen besaß, gab Aleksey außer den ausbedungenen fünfundzwanzigtausend Rubel alljährlich noch zwanzigtausend und Aleksey verbrauchte auch diese. In der letzten Zeit aber hatte die Mutter, ungehalten über ihn wegen seines Verhältnisses und seiner Abreise von Moskau, aufgehört, dem Sohne die Gelder zu senden, und so kam es, daß Wronskiy, dessen Lebensgewohnheiten auf ein Einkommen von fünfundvierzigtausend Rubel eingerichtet waren, in diesem Jahre nur fünfundzwanzigtausend Rubel gehabt hatte und sich jetzt in einer schwierigen Lage befand.

Um aus dieser herauszukommen, konnte er gleichwohl die Mutter nicht um Geld bitten. Das letzte Schreiben derselben, welches er am Abend vorher erhalten hatte, hatte ihn dadurch besonders erbittert, daß darin Andeutungen enthalten waren, sie sei Wohl bereit gewesen, ihm zu Erfolg in der hohen Welt zu verhelfen und im Dienste, aber nicht zu einem Leben, welches die ganze gute Gesellschaft bloßstelle. Der Wunsch der Mutter, ihn wieder erkaufen zu können, kränkte ihn bis auf den Grund seiner Seele, und stimmte ihn noch kühler gegen sie. Er konnte sich ferner aber auch nicht von seiner früher gegebenen, großmütigen Zusage losmachen, obwohl er jetzt fühlte, im dunkeln Vorgefühl gewisser Möglichkeiten die sein Verhältnis zur Karenina mit sich bringen könne, daß jenes großmütige Wort leichtsinnig gesprochen worden sei, und er, wenn auch nicht verheiratet, recht wohl alle hunderttausend Rubel gebrauchen könne. Aber das Wort zurückzunehmen, war nicht mehr angängig.

Er brauchte sich hierfür nur des Weibes seines Bruders zu erinnern und daran zu denken, wie die liebenswürdige, herrliche Warja bei jeder passenden Gelegenheit ihm selbst ins Gedächtnis rief, daß sie seiner Hochherzigkeit stets eingedenk sei und sie hochschätze, – und er begriff, daß es unmöglich war, sein gegebenes Wort zurückzunehmen. Dies wäre ebenso unmöglich gewesen, wie etwa eine Frau zu schlagen, zu bestehlen oder zu belügen. Nur Eins war möglich, und dies mußte sein, und Wronskiy entschloß sich auch ohne einen Moment zu zaudern dazu: Er mußte Geld bei einem Wucherer leihen, zehntausend Rubel, was nicht schwer sein konnte; seine Ausgaben im allgemeinen mehr einschränken, und seine Rennpferde verkaufen.

Zu diesem Entschluß gelangt, schrieb er sofort an Rolandaki, der mehr als einmal schon zu ihm gesandt hatte mit der Anfrage, ob er nicht Pferde verkaufen wolle. Dann sandte er nach dem Engländer und einem Geldverleiher und verteilte das Geld, welches er noch besaß auf die Rechnungen.

Nachdem er mit alledem fertig war, schrieb er einen kühlen und bitteren Brief an seine Mutter und hierauf zog er drei Briefe Annas aus seiner Brieftasche hervor, las sie, verbrannte sie dann und versank in Nachdenken in der Erinnerung an das gestrige Gespräch mit ihr.

20.

Das Leben Wronskiys war insofern ein besonders glückliches zu nennen, als es einen eigenen Kodex von Gesetzen besaß, Welche ihm alles bestimmt vorschrieben, was er zu thun und nicht zu thun hatte.

Der Kodex dieser Gesetze umfaßte nur einen kleinen Kreis von Grundsätzen, aber dafür waren diese Vorschriften unantastbar, und Wronskiy, der aus ihrem Kreise nie heraustrat, war nie auch nur eine Minute in Zweifel in der Erfüllung dessen, was nötig war.

Diese Gesetze bestimmten unwandelbar, daß er jenen Gauner bezahlen müsse, den Schneider nicht zu bezahlen brauche, daß man die Männer nicht zu belügen brauche, die Frauen aber belügen dürfe, daß man niemand betrügen dürfe, – höchstens den Ehemann, – daß man eine Beleidigung nicht verzeihen könne, aber beleidigen dürfe etc.

Alle diese Prinzipien konnten unvernünftig sein, schlecht, aber sie galten wandellos und in ihrer Erfüllung fühlte Wronskiy, daß er ein ruhiges Gewissen behielt und den Kopf hoch tragen dürfe.

Nur in der allerletzten Zeit begann er infolge seiner Beziehungen zu Anna zu empfinden, daß der Kodex seiner Gesetze nicht vollständig alle Verhältnisse bestimme und sich ihm für die Zukunft Schwierigkeiten und Zweifel zeigten, für die Wronskiy keinen leitenden Faden fand.

Sein jetziges Verhältnis zu Anna und deren Gatten war für ihn selbst einfach und klar. Es war klar und genau bestimmt in dem Gesetzbuch, von dem er geleitet wurde. Sie war ein ehrenhaftes Weib, das ihm ihre Liebe gegeben, und er liebte sie wieder; sie war infolge dessen für ihn ein Weib, würdig der nämlichen, ja, einer höheren Achtung noch, als wäre sie sein gesetzmäßiges Gemahl. Er hätte sich lieber die Hand abhacken lassen, als daß er sich selber erlaubt hätte, sie auch nur mit einem Worte, einer leisen Andeutung zu kränken, oder ihr diejenige Achtung nicht zu erweisen, auf welche nur ein verheiratetes Weib rechnen darf.

Seine Beziehungen zur Gesellschaft waren gleichfalls klar» Alle mochten von seinem Verhältnis wissen oder ahnen, aber keiner durfte wagen, davon zu sprechen. Im entgegengesetzten Falle würde er die Sprecher aufgefordert haben, zu schweigen und die gar nicht vorhandene Ehre der Frau zu achten, die er liebte.

Seine Beziehungen zu ihrem Gatten lagen klarer als alles sonst. Seit jener Minute, von welcher Anna Wronskiy lieb gewonnen hatte, hielt er sein Recht auf sie für unentreißbar; der Gatte war nur eine überflüssige und störende Person. Derselbe befand sich ja, ohne Zweifel, in einer beklagenswerten Lage, aber was war zu thun? Das Eine, worauf der Mann ein Recht hatte, war, Genugthuung mit der Waffe in der Hand zu fordern, – und dazu war Wronskiy vom ersten Augenblick an bereit.

Aber in der letzten Zeit hatten sich neue innere Beziehungen zwischen ihm und ihr herausgestellt, welche Wronskiy durch ihre Unbestimmtheit schreckten. Erst gestern hatte sie ihm mitgeteilt, daß sie sich Mutter fühle, und er empfand, daß diese Nachricht, sowie was sie nun seinerseits erwartete, eine Handlung von ihm erfordere, welche nicht bestimmt in dem Kodex der Gesetze vorgesehen war, von denen er sich im Leben leiten ließ. Und in der That, er war nicht gewappnet und in der ersten Minute, nachdem sie ihm ihre Lage mitgeteilt hatte, riet ihm sein Herz, es sei nötig, daß sie den Ehegatten verlasse. Er hatte ihr dies auch gesagt, aber jetzt bei reiflicherer Überlegung, erkannte er klar, es würde doch besser sein, wenn sich das umgehen ließe; obwohl er, indem er sich dies sagte, die Befürchtung empfand, es möchte dennoch von Übel sein.

»Wenn ich ihr geraten habe, ihren Mann zu verlassen, so bedeutet dies, daß sie sich mit mir zu vereinigen hätte; bin ich denn aber vorbereitet hierzu? Wie soll ich sie hinwegführen, wenn ich kein Geld habe? Gesetzt auch, ich könnte es doch bewerkstelligen, wie wollte ich sie fortbringen, während ich aktiver Offizier bin? Wenn ich ihr dies gesagt habe, so muß ich auch bereit dazu sein, das heißt, Geld haben und auf Urlaub gehen.«

Er überlegte weiter; die Frage, ob er auf Urlaub gehen solle oder nicht, brachte ihn auf eine andere, eine geheime, nur ihm allein bekannte, die wenn nicht die hauptsächlichste, so doch diejenige war, welche das Interesse seines ganzen Lebens in sich schloß. Ehrgeiz war ein alter Traum seiner Kindheit und Jugend schon gewesen; der Traum, den er sich selbst zwar nicht zugestand, der aber gleichwohl so mächtig in ihm war, daß auch jetzt diese Leidenschaft mit seiner Liebe kämpfte. Die ersten Schritte, welche er in der großen Welt und im militärischen Dienste gethan, waren gelungen, aber vor zwei Jahren hatte er einen großen Fehler gemacht.

Im Wunsche, seine Unabhängigkeit zu zeigen und sich übergehen zu lassen, hatte er eine ihm angebotene Charge ausgeschlagen, in der Hoffnung, dieser Verzicht werde ihm größeren Wert verleihen; allein es stellte sich heraus, daß er zu kühn gehofft, und man ihn fallen gelassen hatte. Er, der sich nolens volens eine unabhängige Lebensstellung gesichert hatte, trug dieselbe jetzt mit Takt und Klugheit, indem er sich stellte, als ob er niemand gram sei, sich in keiner Weise zurückgesetzt fühle und nur wünsche, daß man ihn in Ruhe lasse, da er sich so ganz wohl befinde.

In Wirklichkeit aber hatte dieses Wohlbefinden schon seit dem vorigen Jahre, als er nach Moskau fuhr, aufgehört.

Er fühlte, daß die unabhängige Stellung eines Menschen, der wohl alles ausführen könnte, aber nichts ausführen will, schon mehr darauf hinaus führt, daß viele zu der Ansicht kommen, er bringe nichts fertig, als nur, ein ehrenhafter und guter Mensch zu sein.

Sein Verhältnis zur Karenina, welches soviel Staub aufwirbelte und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, hatte ihm einen neuen Nimbus verliehen, und auf einige Zeit den in ihm nagenden Wurm des Ehrgeizes beruhigt, aber seit einer Woche schon war dieser Wurm mit neuer Kraft erwacht.

Ein Jugendfreund, seit der Kindheit mit ihm in der nämlichen gesellschaftlichen Sphäre aufgewachsen, und sein Kamerad im Kadettenhaus gewesen, Serpuchowskiy mit Namen, der mit ihm gleichzeitig die Kriegsschule verlassen hatte, und sein Rivale in derselben gewesen war, im Unterricht wie in den körperlichen Übungen, bei mutwilligen Streichen und in den Träumen des Ehrgeizes, war neulich von Centralasien heimgekehrt; er hatte daselbst zwei Tschins mehr erhalten und eine Auszeichnung, die so jungen Generalen selten verliehen zu werden pflegte. Kaum war er in Petersburg angekommen, als man von ihm zu sprechen begann, wie von einem neu aufgegangenen Sterne erster Größe. Als Altersgenosse Wronskiys war er schon General und erwartete eine Berufung, die ihm Einfluß auf den Gang der Regierungsgeschäfte verleihen konnte, während Wronskiy hingegen, wenn auch unabhängig und glänzend, wenn auch von einem reizenden Weibe geliebt, doch nur der Rittmeister war, welchem man es anheimgestellt hatte, unabhängig zu bleiben, soviel ihm beliebte.

»Natürlich kann ich Serpuchowskiy nicht gram sein und bin es auch nicht, aber seine Erhöhung zeigt mir, daß man die Zeit abwarten muß; dann kann die Carriere eines Menschen wie ich vielleicht sehr schnell gemacht sein. Vor drei Jahren befand er sich noch in derselben Stellung wie ich. Gehe ich also auf Urlaub, so heißt das die Schiffe hinter mir verbrennen. Wenn ich aber im Dienste bleibe, so verliere ich wenigstens nichts. Sie selbst hat mir ja auch gesagt, daß sie ihre Situation nicht verändern will. Im Besitz ihrer Liebe übrigens, kann ich Serpuchowskiy nicht beneiden.«

In langsamen Bewegungen die Spitzen seines Schnurrbartes drehend, stand er vom Tische auf und durchmaß das Zimmer. Seine Augen blitzten eigentümlich hell, und er empfand jene abgeschlossene, ruhige und frohe Stimmung, welche ihn stets zu überkommen pflegte, nachdem er sich über die Beschaffenheit seiner Situation Klarheit verschafft hatte.

Alles war jetzt, ebenso wie bei den Rechnungsabschlüssen vorher, hell und klar geworden; er rasierte sich, nahm ein kaltes Wannenbad, kleidete sich an und verließ dann sein Zimmer.

18.

Es wurden Schritte hörbar und eine männliche Stimme; hierauf eine weibliche und Lachen; gleich darauf erschienen die erwarteten Gaste.

Sappho Stolz und ein junger Mann der vom Übermaß an Gesundheit strotzte, er hieß Waska, traten ein. Es war augenscheinlich, daß bei Waska die Ernährung mit rohem Rindfleisch, Trüffeln und Burgunder gut angelegt hatte. Waska verneigte sich vor den Damen und schaute sie an, doch nur für eine Sekunde. Sogleich folgte er Sappho nach in den Salon, durchschritt denselben hinter ihr, als sei er an sie gefesselt und ließ sie nicht aus den blitzenden Augen, als wollte er sie verschlingen.

Sappho Stolz war eine Blondine mit schwarzen Augen. Sie erschien in kleinen, kecken Halbschuhen mit hohen Absätzen und drückte den Damen derb nach Männerart die Hand.

Anna war dieser neuen Berühmtheit noch nie begegnet; sie fühlte sich überrascht von ihrer Schönheit, sowie der Überspanntheit, bis zu welcher ihre Toilette ging, und von der Freiheit ihrer Manieren.

Auf ihrem Haupte war, von ihrem eigenen und falschen Haar in zartem Goldblond, eine Art Schaffot von Frisur aufgebaut, so daß der Kopf in seiner Größe der schönen hohen und vorn sehr dekolletierten Büste nahe kam. Die Knappheit nach vorn war so stark, daß sich in jeder Bewegung unter der Robe die Formen der Kniee und Oberschenkel abzeichneten und unwillkürlich drängte sich die Frage auf, wo eigentlich von hinten in diesem schwankenden Berge der wirkliche, ziemlich kleine, aber wohlgebaute Leib, der oben ebenso entblößt war, wie er sich hinten und unten versteckte, aufhöre.

Bezzy beeilte sich, sie mit Anna bekannt zu machen.

»Könnt Ihr Euch vorstellen, soeben hätten wir zwei Soldaten fast überfahren,« begann sie sogleich zu erzählen, mit den Augen zwinkernd und lächelnd und ihren hinteren Aufbau, der sich plötzlich zu sehr auf die eine Seite geneigt hatte, in Ordnung rückend. »Ich fuhr mit Waska – ach so, Ihr seid ja noch gar nicht miteinander bekannt.« Und seinen Familiennamen nennend, stellte sie den jungen Mann vor, errötend, und laut über ihren Fehler lachend, oder vielmehr darüber, daß sie ihn als Unbekannte so familiär Waska genannt hatte.

Waska machte nochmals eine Verbeugung vor Anna, ohne indessen ein Wort zu ihr zu sprechen. Er wandte sich an Sappho:

»Die Wette ist verloren, wir sind früher angekommen; nun zahlt gefälligst,« lächelte er« Sappho begann noch lustiger zu lachen.

»Nicht jetzt,« sagte sie.

»Gleichviel, ich werde es auch nachher bekommen.«

»Gut, gut; ah,« wandte sie sich plötzlich zur Dame des Hauses, »ich bin doch recht zu tadeln; bald hätte ich doch vergessen – ich habe Euch einen Gast mitgebracht; hier ist er« –

Der unerwartete junge Gast, welchen Sappho mitgebracht und den sie vergessen hatte, war gleichwohl ein so gewichtiger, so daß ungeachtet seiner Jugend beide Damen sich erhoben, um ihm entgegenzueilen. Es war ein neuer Verehrer Sapphos, welcher dieser gerade wie Waska, auf den Fersen folgte.

Bald kam auch der Fürst Kaluschskiy und Lisa Merkalowa mit Stremoff an. Lisa Merkalowa war eine magere Brünette mit orientalischem, trägen Gesichtstypus und wie alle sagten, reizenden, verschleierten Augen.

Der Charakter ihrer dunklen Toilette entsprach, wie Anna sofort bemerkte und zu würdigen verstand, vollkommen ihrer Schönheit; doch um wieviel Sappho zu klein und zu gedrungen war, um soviel zeigte sich Lisa zu schmächtig und zu aufgeschossen.

Lisa war indessen für Annas Geschmack bei weitem anziehender. Bezzy hatte Anna von ihr erzählt, daß sie den Ton eines unwissenden Kindes festzuhalten pflegte, aber als Anna sie erblickt hatte, fühlte sie, daß dies nicht wahr sei. Sie war allerdings unwissend und verdorben, aber ein gutes und sanftes Weib. Allerdings war ihr Ton der nämliche, wie der Sapphos und ihr folgten die beiden Verehrer ganz so wie Sappho, indem sie sie mit den Augen verschlangen, der eine jung, der andere alt – aber sie besaß etwas, was höher war als ihre Umgebung; etwas von dem Feuer des echten Diamanten unter dem Scheine der Gläser.

Dieser Glanz leuchtete aus ihren wunderschönen, in der That rätselhaften Augen. Der ermüdete und doch zugleich leidenschaftliche Blick derselben, die von einem mattdunkeln Ring umgeben waren, frappierte durch seine ungeheuchelte Natürlichkeit. Blickte man in diese Augen, so schien es jedem, als erkenne er das Weib ganz und gar, und als müsse man sie, nach dieser Erkenntnis lieben. Bei dem Erblicken Annas erhellte sich ihr Antlitz plötzlich in freudigem Lächeln.

»Ah, wie freue ich mich, Euch zu sehen!« begann sie, auf Anna zutretend. »Ich wollte gestern nach den Rennen gerade zu Euch kommen, aber Ihr waret schon abgefahren, und doch hätte ich Euch gestern besonders so gern gesehen. Nichtwahr das war schrecklich?« sagte sie, das Auge mit ihrem die ganze Seele offenbarenden Blicke auf Anna richtend.

»Ich hätte durchaus nicht erwartet, daß dies so sehr erregen kann,« versetzte Anna errötend.

Die Gesellschaft erhob sich währenddem, um nach dem Garten zu gehen.

»Ich werde nicht mitkommen,« sagte Lisa lächelnd, sich zu Anna setzend. »Ihr geht wohl auch nicht? Was ist das doch für ein Vergnügen, das Croquetspielen.« –

»Ach, ich liebe es schon,« antwortete Anna.

»Nun, wie fangt Ihr es denn an, daß es Euch nicht langweilt? Wenn man Euch anschaut – Ihr seid wohlauf! Ihr lebt, ich aber langweile mich.«

»Inwiefern langweilt Ihr Euch? Ihr seid selbst doch die lebenslustigste Gesellschaft Petersburgs?« frug Anna.

»Mag sein, daß es denen, die nicht zu unsrem Cirkel gehören, noch langweiliger wird, mir aber, auf Treu und Glauben, ist es durchaus nicht froh zu Mut, sondern entsetzlich – entsetzlich langweilig.« –

Sappho, welche eine Cigarette angezündet hatte, begab sich nach dem Garten in Begleitung der beiden jungen Herren; Bezzy und Stremoff blieben beim Thee zurück.

»Wie langweilig ist doch das Leben,« sagte Bezzy; »Sappho sagt, daß man sich gestern sehr gut bei Euch unterhalten hätte.«

»O, es war doch sehr öde!« sagte Lisa Merkalowa, »wir begaben uns alle nach meinem Hause, als die Rennen zu Ende waren, – immer die Alten, immer die Alten; – immer ein und dasselbe! – Den ganzen Abend wälzte man sich auf den Diwans; – was ist dabei Unterhaltendes? Wie fangt Ihr es nur an, Euch nicht zu langweilen?« wandte sie sich plötzlich an Anna. »Es ist der Mühe wert sich nach Euch zu richten; man sieht da eine Frau, die vielleicht glücklich ist, vielleicht auch unglücklich, – aber jedenfalls doch eine, welche sich nicht langweilt. Lehrt uns, wie Ihr das anfangt!«

»Ich thue nichts Besonderes,« antwortete Anna, über diese herausfordernden Fragen errötend.

»Dies ist die beste Art und Weise,« mischte sich Stremoff ins Gespräch. Stremoff war ein Mann von einigen fünfzig Jahren, halb ergraut, noch frisch aber ziemlich unschön, jedoch mit charakteristischem und klugem Gesicht.

Lisa Merkalowa war die Nichte seiner Frau und alle seine freien Stunden brachte er bei ihr zu. Indem er mit Anna Karenina zusammentraf, er als der Feind Aleksey Aleksandrowitschs im Amtsverkehr, bemühte er sich als kluger Weltmann, mit der Gattin seines Gegners ganz besonders liebenswürdig zu sein.

»Nichts Besonderes?« ergriff er mit feinem Lächeln den Faden des Gesprächs, »dies ist allerdings das beste Mittel. – Ich habe Euch schon lange gesagt,« wandte er sich an Lisa Merkalowa, »daß es zu dem Zwecke, sich nicht zu langweilen, nötig ist, nicht daran zu denken, es werde langweilig. Es ist damit ganz ebenso, wie man nicht zu fürchten braucht, einzuschlafen, wenn man fürchtet schlaflos zu bleiben. Das Nämliche hat soeben Anna Arkadjewna gesagt.«

»Ich würde mich sehr freuen, wenn ich das gesagt hätte, weil es nicht nur klug, sondern wahr gesprochen gewesen wäre,« sagte Anna lächelnd.

»O nein, sagt doch, warum man es nicht fertig bringt zu schlafen, oder wie man es vermeidet, sich nicht zu langweilen!«

»Nun, um schlafen zu können, muß man arbeiten, und um sich erheitern zu können, muß man gleichfalls arbeiten.«

»Aber zu welchem Zwecke soll ich arbeiten, wenn meine Arbeit niemand etwas nützt? Absichtlich mich zu verstellen, verstehe ich nicht, und das will ich auch nicht.«

»Ihr seid doch unverbesserlich,« fuhr Stremoff fort, sich, ohne Lisa anzublicken, wiederum an Anna wendend.

Da er Anna nur selten begegnet war, hatte er nur in Gemeinplätzen mit ihr sprechen können, und zwar nur bezüglich der Zeit, in welcher sie nach Petersburg gekommen war, und davon, wie sehr sie von der Gräfin Lydia Iwanowna geliebt werde. Er that das indessen mit einem Gesichtsausdruck, welcher bewies, daß er von ganzer Seele wünsche, ihr angenehm zu sein, ihr seine Hochachtung und vielleicht auch noch mehr zu beweisen.

Tuschkewitsch trat jetzt ein, um mitzuteilen, daß die gesamte Gesellschaft auf die Croquetspieler warte.

»Ach, geht doch nicht,« bat Lisa Merkalowa, als sie gehört hatte, daß Anna wegfahre. Stremoff vereinte seine Bitten mit den ihren.

»Es ist ein allzugroßer Kontrast,« sagte er, »nach dem Besuch dieser Gesellschaft zur alten Wrede fahren zu wollen. Für diese werdet Ihr doch noch Gelegenheit genug zu späterer Aussprache haben, während Ihr hier andere, bessere und der üblichen Klatschsucht völlig konträre Ideen anregt,« sagte er zu ihr.

Anna verharrte eine Weile in Unentschlossenheit. Die schmeichelhaften Worte dieses geistreichen Mannes, die naive, kindliche Sympathie, die Lisa Merkalowa für sie an den Tag legte, und all der gewohnte Luxus der großen Welt ringsum – alles das erschien ihr so frei und angenehm, während andererseits eine so schwere Minute sie erwartete, daß sie nur für einige Zeit in Ungewißheit schwebte, ob sie nicht noch bleiben, den schweren Augenblick der Erklärung nicht noch weiter hinausschieben solle.

Allein als sie sich vergegenwärtigte, was sie in ihrem Hause erwarte, wenn sie keinen Entschluß faßte, als sie an jene entsetzliche Bewegung, die ihr noch in der Erinnerung furchtbar war, dachte, mit welcher sie mit beiden Händen ihr Haar gepackt hatte – da verabschiedete sie sich und fuhr davon.

14.

Als Aleksey Aleksandrowitsch nach Petersburg kam, stand er nicht nur vollständig bei dem gefaßten Entschluß fest, er hatte im Kopfe sogar einen Brief entworfen, welchen er an sein Weib schreiben wollte.

Bei seinem Eintritt in die Portierloge, warf er einen Blick auf die Briefe und Aktenstücke, die aus dem Ministerium gebracht worden waren und befahl, ihm dieselben in sein Kabinett nachzutragen.

»Niemand vorzulassen,« antwortete er auf die Frage seines Portiers, mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, die als Zeichen seiner guten Laune galt, indem er das Wort » niemand« betonte.

In seinem Kabinett ging Aleksey Aleksandrowitsch zweimal auf und ab; dann blieb er bei dem mächtigen Schreibtisch stehen, auf dem von dem Kammerdiener, welcher vorher schon hereingekommen war, sechs Kerzen angezündet worden waren, knackte mit den Findern und setzte sich dann, seine schriftlichen Obliegenheiten überdenkend. Er stemmte die Ellbogen auf den Tisch, neigte den Kopf seitwärts, sann eine Minute nach und begann dann zu schreiben, ohne eine Sekunde innezuhalten. Er schrieb an sie ohne Anrede und auf Französisch, das Fürwort » vous« anwendend, welches nicht den kalten Charakter besitzt, wie das »Ihr«, der russischen Sprache.

»Bei unserem letzten Gespräch drückte ich Euch die Absicht aus, Euch meinen Entschluß bezüglich des Gegenstandes unserer Unterredung mitzuteilen. Nachdem ich alles sorglich erwogen habe, schreibe ich jetzt mit der Absicht, meinem Versprechen nachzukommen.

Mein Entschluß ist folgender: Mögen Eure Handlungen sein wie sie wollen, so messe ich mir doch nicht das Recht bei, die Bande zu zerreißen, mit welchen wir vereint worden sind durch eine höhere Macht. Eine Familie kann nicht allein infolge einer Laune vernichtet werden, nach freiem Willen, oder gar durch Verbrechen des einen der beiden Gatten und unser Leben muß seinen Fortgang nehmen, wie dies bisher der Fall gewesen ist. Dies ist unerläßlich notwendig für mich, für Euch, wie für unseren Sohn.

Ich bin vollständig überzeugt, daß Ihr schon bereut habt, daß Ihr bereut, was den Anlaß zu vorliegendem Schreiben gegeben hat, überzeugt, daß Ihr ferner mit mir zusammen wirken werdet in der Aufgabe, mit der Wurzel die Ursache unserer Entzweiung auszurotten und die Vergangenheit zu vergessen. Im Falle des Gegenteils werdet Ihr Euch selbst vorstellen können, was Eurer und Eures Sohnes harrt. Über all das hoffe ich indessen eingehender bei dem persönlichen Wiedersehen sprechen zu können. Da die Saison des Landaufenthalts zu Ende geht, möchte ich Euch ersuchen, so bald als möglich nach Petersburg zu kommen, und zwar nicht später, als bis Dienstag. Alle Verfügungen, die zu Eurer Übersiedelung nötig sind, werden getroffen werden.

Ich bitte Euch, im Auge zu behalten, daß ich der Erfüllung dieser meiner Bitte eine ganz besondere Bedeutung beilegen muß.

A. Karenin.

P.S. Beifolgend noch Geld, das für Eure Ausgaben erforderlich sein könnte.« –

Er durchlas den Brief nochmals und war zufrieden mit ihm, namentlich damit, daß er daran gedacht hatte, Geld beizulegen. Kein hartes Wort, kein Vorwurf, aber auch nichts von Nachsicht seinerseits stand darin. Es hatte sich ihm um die Hauptsache gehandelt – um die goldene Brücke des Rückzuges. –

Nachdem er den Brief zusammengefaltet, mit seinem großen massiven Elfenbeinmesser geglättet und ihn mit dem Gelde in ein Couvert gesteckt hatte, schellte er, in jener selbstzufriedenen Stimmung, die stets bei ihm zu erscheinen pflegte, wenn er sich mit seinen gutgeordneten Korrespondenzangelegenheiten beschäftigte.

»Dem Kurier geben, damit es morgen auf die Villa zu Anna Arkadjewna gelangt,« sprach er und stand auf.

»Zu Diensten, Excellenz – befehlen den Thee in das Kabinett?« –

Aleksey Aleksandrowitsch ließ den Thee ins Kabinett bringen und trat, mit seinem Elfenbeinmesser spielend, an den Lehnstuhl, vor welchem die Lampe bereit stand und ein angefangenes französisches Buch über die eugubinischen Inschriften. Über dem Lehnstuhl hing das ovale, von einem namhaften Künstler schön ausgeführte Bild Annas in Goldrahmen. Aleksey Aleksandrowitsch schaute es an; die unergründlichen Augen blickten frivol und frei auf ihn herab, gerade wie an jenem letzten Abend ihrer Auseinandersetzung. Unerträglich frivol und herausfordernd wirkte der Ausdruck der von dem Künstler vorzüglich ausgeführten schwarzen Spitzen auf dem Haupte auf ihn, der dunklen Haare und der schönen weißen Hand mit den kaum hervortretenden Fingern die von Ringen bedeckt waren.

Nachdem er eine Weile auf das Porträt geblickt hatte, erschrak er plötzlich so, daß seine Lippen bebten und sich der Ausdruck »brr« denselben entrang, worauf er sich abwandte. Dann setzte er sich hastig in seinen Lehnstuhl und nahm sein Buch auf. Er versuchte zu lesen, vermochte aber nicht das hohe Interesse, welches ihn vorher an die eugubinischen Tafeln gefesselt hatte, wach zu erhalten. Er starrte auf das Buch und dachte über etwas ganz Anderes nach. Er dachte nicht an sein Weib, sondern an eine in jüngster Zeit in seiner Amtsthätigkeit entstandene Verwickelung, die gegenwärtig vornehmlich fein dienstliches Interesse in Anspruch nahm.

Er fühlte, daß er jetzt tiefer, als je in diese Verwickelung eingedrungen und in seinem Kopfe – er konnte dies ohne Selbstüberhebung sagen – ein kapitaler Gedanke erstanden sei, der die ganze Frage lösen, und ihn in seiner dienstlichen Carriere weiter erhöhen, seine Feinde aber fallen lassen und der Regierung infolge dessen den größten Nutzen gewähren werde.

Kaum hatte der Diener, welcher ihm den Thee servierte, das Zimmer wieder verlassen, als Aleksey Aleksandrowitsch aufstand und an seinen Schreibtisch trat. Er zog das Portefeuille mit den laufenden Geschäften halb zu sich heran und nahm mit einem kaum merklichen Lächeln der Zufriedenheit einen Bleistift zur Hand, worauf er sich in das Studium der von ihm geforderten schwierigen Aufgabe vertiefte, die ihm in der vorliegenden Verwickelung oblag.

Diese Verwickelung war folgende: Die Eigenheit Aleksey Aleksandrowitschs als Regierungsbeamten, jener charakteristische Zug, den ein jeder strebende Beamte besitzt, derselbe, welcher vereint mit seinem Ehrgeiz, seiner strengen Haltung, Ehrenhaftigkeit und seinem Selbstvertrauen ihm seine Carriere begründet hatte, bestand in der Verachtung aller offiziellen Briefschreiberei, in der möglichsten Abkürzung der Vielschreiberei, und, soweit dies möglich war, in der direkten Anfassung der Sache selbst sowie sie lag, dann aber auch in der Sparsamkeit. Nun hatte es sich ereignet, daß in einer wichtigen Kommissionssitzung vom zweiten Juni, die Frage der Bewässerung von Feldern im Gouvernement Zaraisk aufgeworfen wurde; die Sache befand sich in dem Ministerium Aleksey Aleksandrowitschs und enthielt ein schlagendes Beispiel für die Zwecklosigkeit mancher großer Ausgaben und des Briefwechsels der in derselben gepflogen worden war.

Aleksey Aleksandrowitsch wußte, daß dies richtig war; die Ausführung der Bewässerung der fraglichen Felder in dem Gouvernement Zaraisk war von dem Vorgänger des Vorgängers Aleksey Aleksandrowitschs unternommen worden, und tatsächlich war auf dieselbe bis jetzt sehr viel Kapital völlig unnütz verwendet worden, während die Unternehmung offenbar zu nichts führen konnte.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte dies bei seinem Antritt im Amte sogleich erkannt, und wollte schon selbst Hand an die Sache legen, allein in der ersten Zeit, als er sich noch nicht sicher genug in den Geschäften fühlte, erkannte er, daß sie allzuviele Interessen berühre und auch eine undankbare sei; später jedoch, hatte er sie unter der Beschäftigung mit anderem völlig vergessen, und sie war, wie alles, einfach für sich dem Gesetz der Trägheit weiter gefolgt. Viele bezogen aus diesem Unternehmen ihren Unterhalt, insonderheit eine sehr anständige und sehr musikalische Familie – die Töchter spielten sämtlich Saiteninstrumente.

Aleksey Aleksandrowitsch kannte diese Familie, er war vom Vater derselben als Vormund einer der älteren Töchter bestellt worden. Die Aufnahme der Angelegenheit nun seitens eines gegnerisch gesinnten Ministeriums war nach seiner Meinung nicht ehrlich, da in jedem Ministerium ja sich derartige Angelegenheiten befanden, welche niemand, dem üblichen Beamtentakt folgend, aufstach. Jetzt, wenn man ihm schon diesen Handschuh hingeworfen hatte, nahm er ihn mutig auf und forderte die Einsetzung einer besonderen Kommission zur Untersuchung und Begutachtung der Arbeiten derjenigen Kommission, welcher die Bewässerung der Fluren im Gouvernement Zaraisk anvertraut worden war; aber ohne daß er jenen Herren dafür eine Frist gelassen hätte. Er forderte auch die Einsetzung noch einer besonderen Kommission für die Frage bezüglich der Verhältnisse der Ausländer. Diese letztere Angelegenheit war zufällig in der Komiteesitzung vom zweiten Juni aufgeworfen und von Aleksey Aleksandrowitsch energisch vertreten worden, als eine solche die angesichts der bedauernswerten Lage der Fremden keinerlei Aufschub dulde. In dem Komitee hatte dies zum Anlaß für die Erhebung von Widersprüchen seitens mehrerer Ministerien gedient. Dasjenige, welches Aleksey Aleksandrowitsch gegnerisch gesinnt war, legte dar, daß die Lage der Ausländer eine sehr günstige sei, und daß die vorgeschlagene Reorganisation den blühenden Wohlstand nur vernichten könne; sei aber etwas Übles gleichwohl vorhanden, so rühre dies nur von der Nichtausführung der vom Gesetz vorgeschriebenen Maßregeln her, welche seitens des Ministeriums Aleksey Aleksandrowitsch zu treffen gewesen wären.

Nun entschloß sich Aleksey Aleksandrowitsch, zu fordern: Erstens: Es solle eine neue Kommission gewählt werden, die an Ort und Stelle die Lage der Fremden zu prüfen hätte. Zweitens: Wenn sich zeige, daß die Lage der Fremden thatsächlich eine derartige sei, wie sie sich aus den offiziellen Fakten, welche das Komitee in Händen habe, ergäbe, sollte eine zweite, wissenschaftliche Kommission eingesetzt werden, zum Zweck der Erforschung der Ursachen jener unerfreulichen Lage der Fremden von folgenden Gesichtspunkten aus: a) vom politischen, b) vom administrativen, c) vom ökonomischen, d) vom ethnographischen, e) vom materiellen und f) vom religiösen.

Drittens: Es müßten von dem gegnerischen Ministerium Erklärungen über diejenigen Maßregeln verlangt werden, welche innerhalb der letzten zehn Jahre von demselben angebahnt seien zur Verhütung jener unerquicklichen Verhältnisse, in denen sich gegenwärtig die Fremden befänden; und viertens endlich, es müsse von dem Ministerium eine Erklärung darüber eingefordert werden, weshalb es, wie aus den dem Komitee unter No. 17,015 und 18,308 eingelieferten Mitteilungen vom 5. Dezember 1863 und vom 7. Juni 1864 hervorgehe, geradezu im Widerspruch mit dem Sinne des Gesetzes gehandelt habe.

Die Röte der Erregung bedeckte das Gesicht Aleksey Aleksandrowitschs, als er den Wortlaut dieser Ideen schnell in das Konzept schrieb. Nachdem er das Blatt vollgeschrieben hatte, erhob er sich, schellte und gab das Schreiben für den Kanzleidirektor ab zur Ausführung der erforderlichen Korrekturm. Hierauf schritt er in dem Zimmer auf und ab, wiederum nach dem Bildnis seiner Gattin schauend und bald sich verfinsternd, bald verächtlich lächelnd. Nachdem er noch das Buch von den eugubinischen Tafeln gelesen hatte und sein Interesse für dasselbe wieder belebt worden war, begab er sich um elf Uhr nachts zur Ruhe. Ihm erschien, als er dann im Bett lag und sich des Auftritts mit seinem Weibe erinnerte, letzterer schon nicht mehr in dem nämlichen finsteren Lichte.

15.

Obwohl Anna beharrlich und erbittert Wronskiy widersprochen hatte, als dieser ihr sagte, daß ihre Situation eine unmögliche sei, hielt sie diese doch selbst auf dem Grunde ihrer Seele für ehrlos, und wünschte, aus vollem Herzen, sie verändern zu können.

Als sie mit ihrem Gatten von den Rennen zurückkam, hatte sie diesem in der Erregung des Augenblicks alles enthüllt und sie war froh hierüber, ungeachtet des Schmerzes, den sie dabei empfand.

Nachdem ihr Gatte sie verlassen hatte, sagte sie sich selbst, sie freue sich, daß jetzt alles seine Bestimmung erfahren habe, und nun wenigstens keine Lüge und kein Betrug mehr notwendig sei. Es erschien ihr zweifellos, daß nunmehr ihre Lage ein für allemal bestimmt sei. Sie konnte übel werden, diese neue Lage, aber sie mußte doch eine abgeklärte sein, in welcher es keine Unklarheit, keine Lüge mehr gab. Der Schmerz, den sie sich und ihrem Manne zugefügt hatte, indem sie jene Worte zu ihm sprach, war jetzt aufgewogen dadurch, daß nun alles klar war, wie sie dachte.

An diesem Abend traf sie sich mit Wronskiy, erzählte ihm aber nichts von dem, was zwischen ihr und ihrem Manne vorgefallen war, obwohl dies doch zum Zweck, daß ihre Sektion ins klare komme, notwendig gewesen wäre.

Als sie am anderen Morgen erwachte, war das Erste, was vor ihr auftauchte, die Erklärung, die sie ihrem Gatten gegeben hatte, und dieselbe erschien ihr so furchtbar, daß sie jetzt nicht mehr begreifen konnte, wie sie sich hatte entschließen können, diese seltsam herben Worte auszusprechen; sie vermochte sich auch nicht vorzustellen, was daraus erfolgen werde.

Aber die Worte waren gesprochen, und Aleksey Aleksandrowitsch war fortgefahren, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

»Ich habe Wronskiy gesehen und ihm nichts davon gesagt. Noch in dem Augenblick, als er ging, wollte ich ihn zurückrufen und ihm erzählen, allein ich sah davon ab, weil es seltsam erschien, daß ich es ihm nicht gleich im ersten Augenblick gesagt hatte. Weshalb habe ich es ihm aber sagen wollen und doch nicht gesagt?«

Als Antwort auf diese Frage ergoß sich eine glühende Röte der Scham über ihr Antlitz. Sie erkannte, was sie daran gehindert hatte; sie begriff, daß es die Scham gewesen. Ihre Lage, die ihr gestern Abend so abgeklärt erschienen war, zeigte sich ihr jetzt plötzlich nicht nur nicht abgeklärt, sondem vielmehr unentwirrbar.

Jetzt empfand sie ein Entsetzen vor der Schande, an welche sie vorher gar nicht gedacht hatte. Sobald sie nur daran dachte, was ihr Gatte nun thun werde, kamen ihr die furchtbarsten Ideen. Ihr kam in den Kopf, es könne jeden Augenblick ein Beamter erscheinen, der sie aus dem Hause hinwegzutreiben hätte, so daß ihre Schmach vor der ganzen Welt offenkundig würde. Sie frug sich selbst, wohin sie sich begeben solle, wenn man sie aus dem Hause treibe, und sie fand keine Antwort darauf.

Als sie an Wronskiy dachte, schien es ihr, als ob er sie nicht liebe, als ob er ihrer bereits überdrüssig würde, als ob sie sich ihm nicht anvertrauen dürfe, und sie empfand Erbitterung gegen ihn deshalb.

Ihr schien, als ob sie jene Worte, die sie zu ihrem Gatten gesagt, und welche sie unaufhörlich in ihrer Phantasie wiederholte, zu jedermann gesagt, und als ob jedermann sie gehört hätte. Sie gewann es nicht über sich, denen ins Auge zu blicken, mit denen sie zusammen lebte. Sie wagte es nicht mehr, ihre Zofe zu rufen, und noch weniger, hinabzugehen, und ihren Sohn und die Erzieherin zu sehen.

Die Zofe, welche schon geraume Zeit an ihrer Thür gelauscht hatte, trat endlich selbst bei ihr ein. Anna blickte ihr fragend ins Auge und errötete erschreckt. Die Zofe entschuldigte sich, daß sie eingetreten sei, und sagte, ihr hätte es geschienen, als habe man geschellt. Sie brachte das Morgenkleid und einen Brief von Bezzy, welche sie daran erinnerte, daß am heutigen Morgen Lisa Merkalowa und die Baronesse Stolz, beide mit ihren Verehrern, Kaluschskiy und dem alten Stremoff, zu einer Partie Croquet kämen.

»Kommt, wenigstens um zu sehen, wie es mit dem Studium der Moral steht, ich erwarte Euch,« endete Bezzy.

Anna las das Billet und seufzte schwer.

»Nichts; ich brauche nichts,« sprach sie zu Annuschka, die ihr die Flacons und Bürsten auf dem Toilettetisch ordnete; »geh, ich will mich sogleich ankleiden und ausgehen. Ich brauche nichts, gar nichts.«

Annuschka ging, Anna aber begann nicht, sich anzukleiden, sondern verharrte in der nämlichen Stellung, gesenkten Hauptes, mit herabhängenden Armen; erbebte bisweilen am ganzen Körper, wie im Wunsche, eine Bewegung zu machen, etwas zu sagen, dann aber wieder in sich zusammensinkend.

Sie wiederholte unaufhörlich: »Mein Gott, mein Gott,« aber weder das erste noch das zweite dieser Worte hatte für sie irgend eine Bedeutung.

Der Gedanke, in der Religion für ihre Lage Hilfe zu suchen, war für sie, obwohl sie nie an der Religion gezweifelt hatte, in welcher sie auferzogen worden war, so befremdlich, als wenn sie bei Aleksch Aleksandrowitsch selbst hätte Hilfe suchen sollen.

Sie wußte im voraus, daß die Hilfe der Religion nur unter der Bedingung, daß sie dem entsagte, was für sie den ganzen Begriff Leben bildete, möglich sei.

Es war ihr nicht nur schwer ums Herz, sondern sie begann auch, Bangnis vor einem ihr noch neuen nie empfundenen Seelenzustand zu empfinden. Sie fühlte, daß in ihrer Seele sich alles spalte, wie bisweilen vor müden Augen die Gegenstände sich verdoppeln.

Bisweilen wußte sie nicht, was sie eigentlich fürchte, und was sie eigentlich wünsche. Fürchtete oder wünschte sie das, was jetzt bestand, oder das, was kommen würde und was sie eigentlich wünschte – sie wußte es nicht.

»O, was thue ich!« sagte sie zu sich selbst, plötzlich einen Schmerz in beiden Seiten des Kopfes empfindend. Nachdem sie zu ruhiger Überlegung gekommen war, gewahrte sie, daß sie mit beiden Händen ihre Locken an den Schläfen gepackt hielt und preßte. Sie sprang auf und begann umherzuwandeln.

»Der Kaffee ist fertig und Mamsell wartet mit dem kleinen Sergey,« sprach Annuschka, die jetzt wieder zurückkam und Anna noch in der nämlichen Lage antraf.

»Sergey? Was ist mit Sergey?« frug Anna, plötzlich Leben erhaltend. Zum erstenmal an diesem ganzen Morgen erinnerte sie sich der Existenz ihres Sohnes.

»Er hat etwas verbrochen, glaube ich,« fuhr Annuschka lächelnd fort.

»Was hat er denn verbrochen?«

»Es lagen Pfirsichen bei Euch im Eckzimmer und da hat der junge Herr Wohl eine derselben heimlich verspeist.«

Die Gemahnung an ihr Kind hatte Anna plötzlich aus jener ratlosen Stimmung gerissen, in der sie sich befunden. Sie erinnerte sie wieder an ihre zeitweilig mit so viel Aufrichtigkeit, wenn auch übertrieben gespielte Rolle als Mutter, die nur für ihr Kind lebt, wie sie sie in den letzten Jahren angenommen hatte, und mit Freuden empfand sie, daß ihr in dem Zustande, in welchem sie sich befand, noch eine Stütze, unabhängig von dem Verhältnis, in das sie Zu ihrem Gatten und zu Wronskiy treten würde, geblieben sei.

Diese Stütze – war ihr Söhnchen. –

Mochte die Lage sein, wie sie wollte, in die sie geriet, ihren Sohn konnte sie nicht verlassen. Mochte ihr Gatte sie mit Schmach überhäufen und von sich treiben, mochte Wronskiy kalt gegen sie werden und sein unabhängiges Leben fortsetzen – wiederum dachte sie voll Erbitterung und mit Selbstvorwürfen an ihn – sie konnte den Sohn nicht verlassen. Sie besaß so eine Lebensaufgabe und mußte handeln, wirken, um dieses Verhältnis zu ihrem Sohne zu wahren, damit man ihr diesen nicht raubte. Und schnell sogar war zu handeln, so schnell als möglich, bevor man ihn ihr wegnahm; man mußte das Kind nehmen und entfliehen. Dies war das Einzige, was sie jetzt zu thun hatte. Doch sie mußte ruhiger werden, und diese qualvolle Stimmung verscheuchen. Der Gedanke an die Aufgabe, die ihr Kind betraf, daß sie sogleich mit diesem abreisen müsse, verlieh ihr auch diese Ruhe.

Hastig kleidete sie sich an, begab sich hinunter und trat mit energischen Schritten in den Salon, wo sie, wie gewöhnlich, der Kaffee nebst Sergey mit der Gouvernante erwartete.

Der kleine Sergey, ganz in weiß gekleidet, stand am Tische unter dem Spiegel und machte sich, Rücken und Köpfchen gebeugt, mit dem Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit, den sie an ihm kannte und durch welchen er seinem Vater ähnlich wurde, an den Blumen zu schaffen, die er mitgebracht hatte.

Die Gouvernante zeigte ein ausnehmend strenges Aussehen. Sergey rief durchdringend, wie dies öfter bei ihn: der Fall war, »A Mama!«

Die Erzieherin begann nach der Begrüßung lang und ausführlich das Verbrechen zu berichten, welches der kleine Sergey begangen hatte, aber Anna hörte nicht auf sie. Sie dachte nur daran, ob sie die Erzieherin mit sich nehmen sollte; »nein, ich nehme sie nicht mit,« beschloß sie, »ich werde allein fahren mit meinem Kinde.«

»Aber das ist ja sehr häßlich,« sagte sie hierauf laut, und ergriff Sergey an der Schulter, ihn nicht mit strengem, sondern mit sanftem Blick, der den Knaben mit Verwirrung und Freude erfüllte, anschauend und küssend. »Laßt ihn mit mir allein,« sprach sie hierauf zu der verwunderten Erzieherin und ließ sich dann, ohne die Hand ihres Söhnchens freizugeben, an dem bereitstehenden Kaffeetisch nieder.

»Mama – ich – ich – ich – will nicht,« – begann das Kind, sich bemühend, an dem Gesichtsausdruck der Mutter zu erkennen, was seiner harre wegen des Pfirsichs.

»Mein Sergey,« sagte Anna, sobald die Gouvernante das Zimmer verlassen hatte, »das war nicht schön von dir, aber du wirst es nicht wieder thun? Hast du mich lieb?« Sie fühlte, daß ihr die Thränen in die Augen traten. »Kann ich ihn denn nicht lieben?« sprach sie zu sich selbst, sich in seinen erschreckten und zugleich frohen Blick versenkend. »Sollte er mit seinem Vater übereinstimmen, mich zu verurteilen? Sollte er mich nicht vielmehr bemitleiden?«

Die Thränen rannen ihr schon über das Gesicht, und um sie zu verbergen, erhob sie sich hastig und lief mehr als sie ging nach der Terrasse hinaus.

Nach den Gewitterregen der letzten Tage war kaltes, helles Wetter eingetreten. Trotz der hellscheinenden Sonne, welche durch das frischgewaschene Laub drang, war es kalt an der Luft.

Sie schauerte zusammen, sowohl vor Kälte, wie vor einem inneren Entsetzen, welches sie in der frischen Luft mit neuer Macht ergriff.

»Geh hinein, geh zu Mariette,« sagte Anna zu ihrem Söhnchen, welches ihr gefolgt war, und schritt auf dem Strohteppich der Terrasse auf und ab. »Sollte man mir wirklich nicht verzeihen können, nicht begreifen, daß dies alles gar nicht anders kommen konnte?« sprach sie zu sich selbst. Sie blieb stehen und blickte nach den im Winde schwankenden Gipfeln der Espen mit dem frischen, hell in der kalten Sonne schimmernden Laube und sah ein, daß man ihr nicht verzeihen werde, daß alles und jedermann ohne Mitleid gegen sie sein werde, wie dieser Himmel da, wie dieses Grün. Und wiederum fühlte sie, daß sich in ihrer Seele eine Spaltung vollzog, »ich brauche nicht zu grübeln, brauche es nicht,« sagte sie zu sich selbst. »Aber ich muß mich fertig machen; wohin? Wann reise ich? Wen soll ich mitnehmen? Nach Moskau mit dem Abendzug. Annuschka und Sergey und nur die allernötigsten Sachen! Doch vorher gilt es noch, an sie beide zu schreiben!«

Schnell trat sie wieder in das Haus, ging in ihr Kabinett, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb an ihren Gatten:

»Nach dem Vorgefallenen vermag ich nicht mehr in Eurem Hause zu bleiben. Ich reise ab und nehme meinen Sohn mit mir. Ich kenne die Gesetze nicht und weiß infolgedessen auch nicht, wem von den Eltern das Kind gehört, aber ich nehme es mit mir, weil ich ohne dasselbe nicht leben kann. Seid großmütig und laßt es mir.« –

Bis hierher hatte Anna Karenina flüchtig und natürlich geschrieben, dieser Appell an seine Großmut aber, die sie in ihm nicht anerkannte, sowie die Notwendigkeit, den Brief mit einer rührenden Phrase zu schließen, ließen sie innehalten.

»Von meiner Schuld und meiner Reue sprechen kann ich nicht, weil« – Wiederum hielt sie inne, weil sie keine Verbindung ihrer Gedanken fand; »nein,« sprach sie zu sich, »gar nicht nötig,« und das Schreiben zerreißend, schrieb sie ein anderes, welches den Appell an seine Großmut ausschloß, und siegelte es zu.

Ein zweites Schreiben war an Wronskiy zu richten.

»Ich habe meinem Gatten eine Erklärung gegeben,« schrieb sie, lange sitzend, ohne die Kräfte zu haben, weiter zu schreiben; ihr Beginnen erschien ihr so unzart, so unweiblich. Was soll ich ihm denn nun noch schreiben? frug sie sich selbst. Wiederum bedeckte die Röte der Scham ihr Gesicht; sie vergegenwärtigte sich seine Ruhe und ein Gefühl des Verdrusses über ihn ließ sie das Blatt mit dem geschriebenen Satz in kleine Stücke zerreißen.

»Nicht nötig,« sprach sie, schloß die Briefmappe und ging hinauf; sie teilte der Erzieherin und den Leuten mit, daß sie heute nach Moskau reisen werde und begann sogleich mit dem Packen der Sachen.

16.

In allen Zimmern der Villa liefen nun die Hausleute, die Gärtner und Lakaien, Sachen schleppend hin und wieder. Schränke und Kommoden wurden geöffnet, zweimal wurde in die Kaufläden geschickt; auf dem Boden türmte sich Zeitungspapier.

Zwei Koffer, Reisesäcke und zusammengeschnürte Plaids wurden ins Vorzimmer gebracht. Die Equipage und zwei Mietkutscher hielten vor der Treppe.

Anna, welche bei der Arbeit des Einpackens ihre innere Unruhe vergessen hatte, packte, in ihrem Kabinett am Tische stehend, ihren Reisesack, als Annuschka ihre Aufmerksamkeit auf das Geräusch einer heranrollenden Equipage lenkte.

Anna blickte durchs Fenster und sah an der Freitreppe den Kurier Aleksey Aleksandrowitschs, welcher an dem Eingangsthor läutete.

»Geh und erkundige dich, was es giebt,« sagte sie und legte, ruhig und auf alles gefaßt, die Hände gefaltet, auf die Kniee, nachdem sie sich in einen Sessel niedergelassen hatte.

Der Diener brachte ihr ein starkes Couvert, welches von der Hand ihres Gatten adressiert war.

»Der Kurier ist beordert, Antwort zu bringen,« meldete er.

»Gut,« versetzte Anna, und riß mit bebenden Fingern, sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, das Schreiben auf. Ein Paket in Bänder eingeklebten glattliegenden Papiergeldes fiel heraus. Sie machte das Schreiben frei und begann es vom Ende her zu lesen.

»Ich habe die Vorbereitungen zur Übersiedelung getroffen und messe der Erfüllung meiner Bitte alles Gewicht bei,« las sie. Sie las weiter, rückwärts, las alles, und dann den ganzen Brief nochmals von Anfang an. Nachdem sie geendet hatte, fühlte sie, daß es ihr kalt war und daß über ihr ein Unglück hereingebrochen sei, so furchtbar, wie sie es nimmermehr erwartet hatte.

Sie hatte am Morgen Reue darüber empfunden, daß sie ihrem Manne alles gestanden hatte und nur das Eine gewünscht, diese Worte möchten nie gesprochen, worden sein. Das Schreiben da erkannte nun ihre Worte als nicht gesprochen an und gab ihr, was sie wünschte. Jetzt aber erschien ihr dasselbe furchtbarer, als alles, was sie sich nur denken konnte.

»Er hat recht, hat recht,« sprach sie, »natürlich, er hat stets recht, er ist ein Christ, er ist großmütig. Ha, ein niedriger, abscheulicher Mensch ist er! Und dies kennt niemand weiter, als ich, niemand erkennt das und wird es je erkennen! Ich selbst vermag das nicht ganz zu erklären. Man sagt, er sei religiös, moralisch, ein ehrenhafter und kluger Mensch, aber man sieht dabei nicht, was ich gesehen habe. Man weiß nicht, wie er acht Jahre hindurch mein Leben erstickt hat, alles erstickt hat, was in mir lebendig gewesen ist, – daß er auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hat, daß ich ein lebendiges Weib bin, das Liebe braucht. Man weiß nicht, daß er mich auf jedem Schritte gekränkt hat und mit sich selbst zufrieden dabei war. Habe ich mich nicht bemüht, mit allen Kräften bemüht, eine Rechtfertigung für mein Dasein zu finden? Habe ich es nicht versucht, ihn zu lieben, seinen Sohn zu lieben, als er selbst schon der Liebe nicht mehr teilhaft werden konnte? Aber die Zeit ist gekommen und ich habe erkannt, daß ich mich nicht länger täuschen kann, daß ich lebe, daß ich nicht schuldig bin, weil Gott mich so geschaffen hat, daß ich lieben und leben muß. Und was ist jetzt? Hätte er mich – und ihn getötet – alles würde ich ertragen, alles verziehen haben, aber mit nichten – er! – Wie konnte ich nur nicht im voraus erraten, was er thun würde? Er thut doch nur, was seinem niederen Charakter eigen ist! Er wird recht behalten, und mich, die Verlorene, mich wird er in noch verhängnisvollerer Weise, noch tiefer stürzen – – »Ihr selbst könnt Euch vorstellen, was Eurer und Eures Sohnes harrt,« rief sie sich aus dem Briefe ins Gedächtnis zurück. »Dies ist die Drohung, daß er mir den Sohn nehmen will– und nach ihren thörichten Gesetzen wird das wohl auch möglich sein! Aber weiß ich etwa nicht, weshalb er das sagt? Er glaubt einfach nicht an meine Liebe zu meinem Kinde; oder er verachtet dieses Gefühl in mir – wie er ja stets nur gehöhnt hat, – und dennoch weiß er, daß ich mein Kind nicht aufgebe, nicht aufgeben kann, daß es ohne mein Kind für mich kein Leben giebt, selbst nicht mit demjenigen, den ich liebe, daß ich, sollte ich den Sohn verlassen und von ihm gehen, handeln würde wie das niedrigste abscheulichste Weib. Dies weiß er, aber er weiß auch, daß ich nicht die Kraft habe, das zu vollbringen. »Unser Leben soll sein wie es früher war,« rief sie sich weiter aus seinem Briefe ins Gedächtnis zurück. »Dieses Leben war ein peinvolles schon früher, es war ein entsetzliches in letzter Zeit. Was soll es da jetzt erst werden? Und er weiß doch das alles, weiß, daß ich nicht Reue darüber empfinden kann, zu atmen und zu lieben; er weiß, daß außer Lüge und Trug nichts aus diesem Leben hervorgehen wird, und dennoch muß er mich weiter foltern. Ich kenne ihn und weiß, daß er sich, so wie der Fisch im Wasser umherschwimmt, an der Lüge ergötzt. Aber nein, ich werde ihm diesen Genuß nicht gewähren, und werde dieses sein Spinnennetz von Heuchelei zerreißen, in welches er mich verstricken will; mag kommen, was da kommen will; alles ist besser, als Lug und Trug! Aber wie, mein Gott, mein Gott, ist denn je auf Erden ein Weib so unglücklich gewesen, wie ich? Nein; ich werde es zerreißen!« schrie sie auf, emporspringend und ihre Thränen zurückdrängend.

Sie trat an ihren Schreibtisch, um ihm einen anderen Brief zu schreiben, aber auf dem Grunde ihres Herzens fühlte sie schon, daß sie nicht die Kraft haben würde, etwas zu zerbeißen, nicht die Kraft habe, aus den alten Verhältnissen sich loszuwinden, so erheuchelt und entehrend sie auch waren.

Sie ließ sich an dem Schreibtisch nieder, aber anstatt zu schreiben, faltete sie die Hände auf demselben, legte das Haupt auf sie und brach in Thränen aus, und ihre Brust zuckte und bebte; sie weinte, wie Kinder weinen.

Sie weinte darüber, daß ihr Wahn von einer Abklärung und Bestimmung ihrer Lage auf immer vernichtet war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben würde und noch bei weitem schlimmer werden müsse, als früher. Sie fühlte, daß die Stellung in der Welt, welche sie einnahm, und die ihr heute morgen so nichtig erschienen war, daß ihr diese Stellung wertvoll sei, daß sie nicht die Macht besitze, sie zu verwandeln in die schmachvolle Stellung eines Weibes, welches Mann und Kind verlassen, und sich mit dem Liebhaber verbunden hat, daß sie, soviel sie sich auch anstrengen mochte, nicht mehr Kräfte besaß, als sie eben hatte.

Nie sollte sie die Freiheit der Liebe kennen lernen, sondern für immer ein verbrecherisches Weib bleiben, einer jeden Augenblick drohenden Überführung unterworfen, da sie ihren Gatten hinterging, um ein sündhaftes Verhältnis mit einem unabhängigen Fremden zu unterhalten, mit welchem sie nicht ein geeintes Leben führen darf.

Sie wußte, daß es so kommen würde und dabei wurde es ihr furchtbar zu Mut, daß sie sich nicht vorzustellen vermochte, wie das alles enden sollte. Sie weinte, ohne sich halten zu können; sie weinte, wie gestrafte Kinder weinen.

Schritte des Dieners, welche hörbar wurden, ließen sie zur Besinnung kommen. Indem sie ihr Gesicht bergend zur Seite vor ihm wandte, stellte sie sich als ob sie schriebe.

»Der Kurier bittet um Antwort,« meldete der Diener.

»Antwort? Ja« – sagte Anna Karenina, »er soll warten, ich werde schellen.« –

»Was kann ich schreiben?« sann sie, »was soll ich ganz allein entscheiden? Was weiß ich? Was möchte ich? Was liebe ich?«

Wiederum empfand sie, wie ihre Seele sich zu spalten begann. Sie erschrak von neuem über dieses Gefühl und klammerte sich an den ersten besten Vorwand, nur etwas zu thun, welcher sie von den Gedanken über sie selbst abziehen könnte.

»Ich muß Aleksey sehen,« – so nannte sie Wronskiy in Gedanken, – »er allein kann mir sagen, was ich zu thun habe. Ich will zu Bezzy fahren, vielleicht sehe ich ihn dort,« sagte sie zu sich selbst, vollständig übersehend, daß ihr Wronskiy erst gestern, als sie ihm sagte, sie würde nicht zur Fürstin Twerskaja fahren, geantwortet hatte, dann würde er auch nicht hinkommen.

Sie trat an den Tisch und schrieb an ihren Mann: »Ich habe Euer Schreiben erhalten. A.« – Hierauf schellte sie und übergab den Brief dem Diener.

»Wir werden nicht reisen,« sagte sie der eintretenden Annuschka.

»Gar nicht?«

»Nein, doch packt bis morgen nicht aus und auch der Wagen bleibt. Ich will zur Fürstin!« –

»Welches Kleid befehlen Sie?« –

17.

Die Croquetgesellschaft, zu welcher die Fürstin Twerskaja Anna geladen hatte, konnte nur aus zwei Damen und deren Rittern bestehen. Die beiden Damen waren die hervorragendsten Repräsentantinnen eines auserwählten neuen Petersburger Cirkels, der sich in der Nachahmung einer gewissen Nachahmung »Les sept merveiles du monde« nannte.

Diese Damen gehörten allerdings zu dem höchsten Cirkel, aber auch zugleich zu einem, welcher dem von Anna besuchten durchaus feindlich gegenüberstand. Überdies hatte der alte Stremoff, einer der einflußreichsten Männer Petersburgs und gleichzeitiger Verehrer von Lisa Merkalowa, amtlich den Aleksey Aleksandrowitsch zu seinem Gegner. In Erwägung alles dessen, hatte Anna nicht kommen wollen und auf ihre absage bezogen sich Winke in dem Billet der Fürstin Twerskaja. Nun wünschte Anna, in der Hoffnung, Wronskiy zu treffen, hinzufahren.

Sie kam bei derselben früher an, als die übrigen Gäste. Zur nämlichen Zeit, als sie eintrat, kam auch der Diener Wronskiys, mit frisiertem Backenbart, wie ein Kammerjunker aussehend. Er blieb an der Thür stehen und ließ sie, die Mütze ziehend, vorüberschreiten. Anna erkannte ihn und entsann sich nun erst, daß Wronskiy gestern gesagt hatte, er werde nicht kommen. Wahrscheinlich sandte er daraufhin das Billet.

Sie hörte, indem sie das Oberkleid im Vorzimmer ablegte, wie der Lakai, selbst das r wie ein Kammerjunker aussprechend, sagte: »Vom Grafen an die Fürstin,« und den Brief übergab.

Sie wollte fragen, wo sein Herr sei; sie wollte wieder umkehren und ihm eine Zuschrift senden, zu ihr zu kommen, oder daß sie zu ihm kommen wolle, that aber weder dies noch jenes, noch ließ sich das Dritte thun. Schon vorher hatte sie die Glocke, welche ihre Ankunft meldete, gehört, und der Diener der Fürstin Twerskaja war bereits in die Zwischenthür hinter dem geöffneten Thor getreten, ihr Eintreten in die inneren Räume erwartend.

»Die Fürstin befindet sich im Garten, sofort wird gemeldet werden. Ist es nicht genehm, nach dem Garten?« meldete ein anderer Diener im Nebenzimmer.

Ihre Lage der Unentschiedenheit und Unklarheit war hier noch ganz die nämliche, wie daheim, ja noch schlimmer geworden, weil sich hier gar nichts unternehmen ließ, weil sie Wronskiy hier nicht sehen konnte. Und doch mußte sie jetzt hier bleiben, in einer fremden, ihrer Stimmung so unsympathischen Gesellschaft. Aber sie befand sich in einer Toilette, welche, wie sie wußte, ihr zu Gesicht stand, sie war daher nicht vereinsamt, rings um sie her hatte sie die gewohnte Umgebung des feiernden Müßiggangs und es wurde ihr nun leichter ums Herz als zu Haus. Sie brauchte nur nicht darüber nachzudenken, was sie zu thun habe, alles machte sich schon von selbst.

Als Anna Bezzy in einer weißen, sie durch ihre Eleganz frappierenden Toilette sich entgegenkommen sah, lächelte sie derselben zu wie stets.

Die Fürstin Twerskaja kam mit Tuschkewitsch und einer jungen Verwandten, die zur hohen Freude ihrer provinzialen Eltern einen Sommer bei der gerühmten Fürstin verleben durfte.

Es mochte wohl etwas Besonderes an Anna auffallen, denn die Fürstin bemerkte es sogleich.

»Ich habe schlecht geschlafen,« antwortete Anna, nach dem Diener blickend, welcher ihnen entgegentrat und nach ihrer Ansicht ein Billet Wronskiys brachte.

»Wie freue ich mich, daß Ihr gekommen seid,« sprach Vezzy, »ich bin etwas ermüdet und wollte soeben eine Schale Thee zu mir nehmen, bis man kommen würde. Ihr möchtet vielleicht gehen,« wandte sie sich an Tuschkewitsch, »um mit Mascha den ›Croquet-ground‹ zu probieren, dort, wo man rasiert hat. Wir aber wollen uns gleich einmal beim Thee nach Herzenslust ausplaudern, ›we’ll have a cosy chat‹, nicht wahr so?« wandte sie sich hierauf an Anna, mit einem Lächeln ihr die Hand drückend, welche den Sonnenschirm hielt.

»Um so angenehmer, als ich mich nicht lange bei Euch aushalten kann, ich muß unbedingt noch zur alten Wrede, der ich bereits seit Menschengedenken versprochen habe zu kommen,« versetzte Anna, welcher die Lüge, die ihrer Natur sonst so fremd war, in der Gesellschaft nicht nur als etwas ganz Einfaches und Natürliches erschien, sondern sogar Vergnügen machte. Weshalb sie dies sagte, woran sie vor einem Augenblick noch nicht gedacht hatte, würde sie sich selbst nie haben erklären können. Sie hatte es nur in der Erwägung geäußert, daß sie, weil Wronskiy nicht zugegen war, auf ihre Freiheit Bedacht nehmen und versuchen müsse, ihn auf alle Fälle zusehen.

Weshalb sie aber gerade von dem alten Fräulein Wrede sprach, welcher sie einen Besuch abstatten müsse, wie so vielen anderen, hätte sie gleichfalls nicht zu erklären vermocht. Und doch hätte sie dabei, wie sich später erwies, bei dem Ausfindigmachen der schlauesten Mittel und Wege zur Ermöglichung eines Rendezvous mit Wronskiy auf nichts Besseres verfallen können.

»O, ich werde Euch um keinen Preis fortlassen,« antwortete Vezzy, aufmerksam die Züge Annas musternd. »Ich würde mich gekränkt fühlen, wenn ich Euch nicht so lieb hätte. Ihr scheint ja geradezu zu fürchten, daß meine Gesellschaft Euch kompromittieren könnte. – Den Thee für uns in den kleinen Salon!« sprach sie, wie gewöhnlich im Verkehr mit den Dienern, mit den Augen zwinkernd. Sie nahm das Billet aus den Händen des Dieners und las es. »Aleksey hat uns einen falschen Coup ausgeführt,« fuhr sie französisch fort, »er schreibt, daß er nicht kommen kann,« sagte sie mit so natürlichem, einfachem Tone, als käme es ihr gar nicht in den Kopf, daß Wronskiy eine andere Bedeutung für Anna habe, als die für eine Partie Croquet.

Anna wußte, daß Bezzy alles bekannt sei, aber wenn sie so hörte, wie diese in ihrer Gegenwart von Wronskiy sprach, überzeugte sie sich stets für eine Minute, daß Bezzy nichts wisse.

»Ah,« antwortete sie daher gleichmütig, als ob sie wenig davon interessiert wäre und fuhr dann lächelnd fort: »Wie könnte Eure Gesellschaft jemand kompromittieren?« Dieses Spiel mit Worten, dieses Verbergen der Gedanken, hatte für Anna, – wie überhaupt für alle Frauen, – einen großen Reiz. Nicht aber der Zwang zu verhehlen, nicht die Absicht, wegen der etwas bemäntelt wird, zog sie an, sondern nur die Art und Weise des Verbergens selbst. »Ich kann nicht katholischer sein als der Papst,« sagte sie; »Stremoff und Lisa Merkalowa sind die Creme der Creme der Gesellschaft. Da sie infolge dessen überall eingeführt sind, so kann auch ich« – sie hob das »ich« besonders hervor, – »nimmermehr streng und intolerant sein. Ich muß aber nur noch eine Besuchspflicht erfüllen« –

»Nein, nein, Ihr wollt wohl nur nicht Stremoff begegnen? Mögen er und Aleksey Aleksandrowitsch im Komitee Lanzen miteinander brechen – das geht uns nichts an. In der Welt ist er der liebenswürdigste Mensch, den ich überhaupt kenne und ein leidenschaftlicher Croquetspieler. Ihr werdet ja sehen. Ungeachtet seiner komischen Rolle eines alten Verliebten, Lisa gegenüber, muß man aber doch sehen, wie er sich aus einer so lächerlichen Situation zu ziehen weiß. Er ist sehr angenehm. Kennt Ihr Sappho Stolz? Das ist ein neuer, ein vollständig neuer Ton.«

Bezzy sprach in einem fort, aber an ihrem heiteren klugen Blicke merkte Anna doch, daß sie zum Teil ihre Lage erkenne und etwas im Schilde führe. Beide saßen in dem kleinen Kabinett bei einander.

»Ich muß aber doch an Aleksey schreiben.« Bezzy ließ sich an dem Schreibtisch nieder, warf einige Zeilen hin und steckte sie in ein Couvert. »Ich schreibe ihm, daß er kommen möge, mit uns zu essen. Es sei bei mir nur eine Einzelne Dame ohne Mann zur Tafel. Seht, ist das nicht zwingend? Doch entschuldigt, ich muß Euch für eine Sekunde verlassem, Siegelt das gefälligst und schickt es fort!« rief sie, schon von der Thür herüber, »ich muß noch eine Anordnung treffen!« –

Ohne sich einen Augenblick zu bedenken, setzte sich Anna mit dem Billet Bezzys an den Tisch und schrieb, ohne es zu lesen, darunter: »Ich muß Euch sehen; kommt an den Garten, der Wrede, ich werde um sechs Uhr dort sein.« Sie verschloß das Billet und Bezzy, welche soeben zurückkehrte, gab es in ihrer Gegenwart hinaus.

In der That entwickelte sich zwischen den beiden Frauen beim Thee, der ihnen auf dem Präsentierbrett in den kleinen Salon gebracht wurde, ein coy chat, wie es die Fürstin Twerskaja bis zur Ankunft ihrer Gäste in Aussicht gestellt hatte. Sie nahmen diejenigen durch, welche sie zum Besuch erwarteten und das Gespräch blieb schließlich bei der Lisa Merkalowa stehen.

»Sie ist sehr angenehm und mir stets sympathisch gewesen,« sagte Anna.

»Ihr müßt sie lieben; sie schwärmt für Euch. Gestern kam sie zu mir nach den Rennen und befand sich in Verzweiflung, daß sie Euch dort nicht angetroffen hatte. Sie sagt, Ihr wäret die echte Heldin für einen Roman und sie würde für Euch, falls sie ein Mann wäre, wohl tausend Dummheiten begehen. Stremoff hat ihr darauf geantwortet, daß sie ja auch so schon welche machte.«

»Aber sagt mir doch bitte, ich habe nie begreifen können,« begann Anna, nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatte, in einem Tone der deutlich zeigte, daß sie keine müßige Frage stellte, sondern das, wonach sie frug, für sie bedeutungsvoller war als vielleicht nötig, »sagt mir doch nur, was sie eigentlich für eine Beziehung zum Fürsten Kaluschskiy, dem sogenannten Mischka hat? Ich habe beide zu selten gesehen, wie steht es damit?«

Bezzy lächelte nur mit den Augen und blickte Anna aufmerksam an.

»Eine neue Mode,« sagte sie. »Man hat sie allgemein angenommen, und sieht eben den Wald vor Bäumen nicht.« »Aber welche sind also ihre Beziehungen zu Kaluschskiy?«

Bezzy brach plötzlich in ein lustiges nicht zu bezwingendes Gelächter aus, was bei ihr selten der Fall war.

»Da betretet ihr ja die Domäne der Fürstin Mjachkaja. Dies ist die Frage eines ›enfant terrible!‹ Bezzy schien offenbar an sich halten zu wollen es aber nicht zu können und brach abermals in das nämliche hinreißende Gelächter aus, mit welchem lachlustige Leute bisweilen lachen. »Man wird sie wohl fragen müssen,« antwortete sie endlich unter Lachthränen.

»Nein; Ihr lacht,« antwortete Anna, gleichfalls und unwillkürlich von diesem Lachen mit angesteckt, »aber ich habe das nie verstehen können. Ich begreife hier die Rolle des Ehegatten nicht.«

»Ehegatten? Der Mann der Lisa Merkalowa trägt seiner Frau das Plaid nach und steht stets zu ihren Diensten bereit. Aber was es dann noch weiter zwischen ihnen giebt, das will gar niemand wissen. Ihr wißt ja selbst, daß man in der guten Gesellschaft über gewisse Details der Toilette weder spricht, noch Betrachtungen anstellt. So ist es auch hier.«

»Werdet Ihr zu der Fete der Rolandak kommen?.« frug Anna, in der Absicht das Thema zu wechseln.

»Ich glaube nicht,« versetzte Bezzy und befaßte sich, ohne ihre Freundin anzublicken, aufmerksam damit, die kleinen durchsichtig schimmernden Schalen mit dem duftenden Thee zu füllen. Nachdem sie hierauf Anna eine Tasse zugeschoben hatte, nahm sie eine Cigarette hervor, steckte sie in ein silbernes Spitzchen und entzündete sie.

»Seht, ich befinde mich in einer glücklichen Lage,« fuhr sie fort, jetzt nicht mehr lachend und die Tasse in die Hand nehmend; »ich verstehe Euch, und ich verstehe Lisa. Lisa ist eine jener naiven Naturen, die, wie die Kinder, nicht wissen, was gut und was schlecht ist. Mindestens hat sie dies nicht gewußt, als sie noch sehr jung war. Jetzt aber wird sie wohl wissen, daß ihr diese Unkenntnis gut steht. Sie mag es jetzt vielleicht auch absichtlich noch nicht wissen wollen,« sprach Bezzy mit seinem Lächeln, »aber es steht ihr doch. Seht Ihr, man kann ein und dieselbe Sache tragisch anschauen, sich eine Pein daraus machen, Aber auch nüchtern und selbst von der heiteren Seite. Ihr seid vielleicht geneigt, die Dinge zu tragisch zu nehmen.

»Wie sehr wünschte ich, andere ebenso zu kennen, wie ich mich selbst kenne,« versetzte Anna ernst und gedankenvoll. »Bin ich schlechter als die anderen oder besser? Ich denke, schlechter.« –

» enfant terrible, enfant terrible,« wiederholte Bezzy, »so sind sie eben.« –