Drittes Kapitel

Am Ohr des Manitou.

Nachdem der Pferdedieb sich entfernt hatte, gab ich den Häuptlingsschmuck und die Revolver in den Koffer zurück. Dann konnten wir endlich, endlich essen. Der „junge Adler“ hatte wieder Lebensfarbe bekommen. Es war ihm sichtlich höchst unangenehm, daß wir Zeugen seiner Schwäche gewesen waren. Es lag ihm daran, von uns geachtet zu werden. Darum teilte er uns mit, daß ihm vor nun fast vier Tagen unten am Carriso-Creek sein Pferd gestohlen worden sei, und zwar mit dem ganzen Inhalt der Satteltaschen. Unterwegs gab es zu seiner Nahrung nur einige eßbare Wurzeln oder Beeren, weiter nichts. Er hatte sein schweres Paket nun selbst zu tragen, und so war es kein Wunder, daß er in so großer Übermüdung hier eingetroffen war. Er erfuhr, daß sein Lederanzug unangetastet bereit für ihn liege. Jetzt nun aß er mit uns, langsam und in der Weise eines Mannes, der sich in gebildeten Kreisen bewegt. Das Herzle sieht es außerordentlich gern, daß es ihren Gästen schmeckt. Ihr Gesicht strahlte jetzt vor Vergnügen. Ich hatte so meine eigenen Gedanken über ihn, sagte aber nichts. Auch Pappermann hätte wohl gar zu gern etwas Näheres über ihn erfahren; aber der Indianer machte trotz seiner Jugend einen derartigen Eindruck auf ihn, daß er es nicht wagte, ihn mit Fragen zu belästigen. Aber meine Frau, meine Frau! Der ist jede Unklarheit zuwider! Die muß in allen Dingen genau wissen, woran sie ist. Von indianischer Geduld und Zurückhaltung ist sie äußerst wenig entzückt. Sie beobachtete den „jungen Adler“. Ich sah es ihr an, daß er ihr außerordentlich gefiel. Und wehe dem, der ihr gefällt! Sie klopft ihm an das Herz, und was da drin ist, muß heraus, er mag wollen oder nicht. Nicht etwa, daß sie neugierig oder gar zudringlich ist; nicht im geringsten. Aber wenn sie jemand in Verlegenheit sieht und ihm helfen will, so hat sie eine ganz eigene Art, zu erfahren, in welcher Art und Weise das am besten zu geschehen vermag. So auch hier! Wir waren der alten Henne, die man uns auch mit vorgesetzt hatte, noch nicht bis auf das Gerippe gekommen, so hatte der „Junge Adler“ ihr schon gesagt, und zwar scheinbar ganz von selbst, daß ihm seine Waffen mit gestohlen worden seien, daß er kein Geld mehr habe und daß er nach dem Süden wolle; wohin, das gab er aber doch nicht an. Hierauf warf sie mir einen Blick zu, den ich verstand. Ich sollte ihn einladen, mit uns zu reiten. Und das war ja gerad der Grund gewesen, weshalb ich drei Pferde und nicht nur zwei hatte haben wollen. Ich legte ihm die betreffende Frage vor. Da ging ein frohes Leuchten über sein Gesicht. Er sprang auf, setzte sich aber sogleich wieder nieder, denn ein Indianer soll weder Freude noch Schmerz so offen zeigen. An diesem Aufleuchten seines Gesichtes sah ich, daß er, obwohl er mich nie gesehen hatte, doch vermutete, wer ich war.

„Ich bin Apatsche“, antwortete er. „Ich wollte zunächst nach dem Nugget-tsil.“

Während er dies sagte, sah er mich nicht an, sondern er schaute vor sich nieder; aber ich fühlte förmlich, wie gespannt er darauf lauschte, was ich hierauf antworten werde.

„Wir auch“, erwiderte ich so ganz unbefangen, als ob ich gar nicht daran denke, ihn zu beobachten und zu durchschauen. Und mich an Pappermann wendend, fragte ich ihn: „Kennt Ihr vielleicht die Devils pulpit, die hier in der Nähe liegen soll?“

„Ja“, antwortete er. „Und der Junge Adler kennt sie auch, denn er sagte mir damals vor vier Jahren, daß er von da oben heruntergekommen sei. Wollt Ihr hin?“

„Ja.“

„Soll ich Euch führen?“

„Wenn Ihr wollt?“

„Welche Frage! Ob ich will! Ich habe nur eine Bedingung, eine, einzige.“

„Welche?“

„Ich getraue mich kaum, sie Euch zu sagen.“

„Nur heraus damit! Alte Kameraden dürfen aufrichtig miteinander sein!“

„Auch wenn sie Pappermann heißen? Maksch Pappermann? Verteufelt unglückseliger Name! Sprecht ihn doch einmal englisch aus! Da klingt er noch viel schlimmer! Alle Welt lacht über ihn!“

„Heißt, wie Ihr wollt, doch redet von der Leber weg!“

Well! So sei es gewagt! Also, ich führe Euch nach der Devils pulpit, wenn Ihr mir erlaubt, dann noch weiter mit Euch zu reiten!“

Da fiel das Herzle schnell ein:

„Er erlaubt es – er erlaubt es!“

„Oho, oho!“ warf ich in strengem, widerstrebendem Ton ein.

„Oho, oho!“ lachte sie. „Laßt Euch ja nicht abschrecken, Mr. Pappermann! Er hat Euch gern, sehr gern, und ich auch. Und er hat drei Pferde und drei Maultiere, also mehr, als wir brauchen. Und vor allen Dingen, wenn er Euch nicht mitnehmen will, so muß er allein reiten, denn ich bleibe hier sitzen und weiche und wanke nicht vonEurer Seite!“

Da wurden die Augen des alten, guten Menschen feucht. Er reichte ihr seine Hand hinüber und sagte:

„Gott segne Euch, Mrs. Burton! Wie dankbar bin ich Euch! Er muß mich nun schon deshalb mitnehmen, weil ich mich verpflichtet fühle, für Euch durch jedes Wasser und jedes Feuer zu gehen!“

„Aber Euer Hotel hier – Euer Hotel?“ fragte ich.

„Geht mich nichts mehr an! Habe weder etwas darunterliegen, noch etwas daraufstehen. Bin überhaupt abgebrannt, vollständig abgebrannt. Bin ärmer als eine Kirchenmaus. Und nun so alt, so alt! ja, wenn ich anders hieße! Nicht Pappermann! Das ist ja der Grund, der einzige Grund, daß ich stets nur durch Pech und Elend waten mußte! Nehmt mich mit, bitte ich, nehmt mich mit! Noch bin ich nicht ganz unbrauchbar geworden, und meine letzte Kraft und mein letztes bißchen Leben soll Euch gehören, Mr. Shatterhand – – –“

Er hatte sich von seinem Herzenswunsch fortreißen lassen; er war zu weit gegangen; er hielt erschrocken inne. Da ging ein liebes, sonniges und dabei doch gerührtes Lächeln über das Gesicht des jungen Indianers, und er sagte:

„Nicht erschrecken, nicht erschrecken! Es ist kein Verrat. Ich wußte es. Und ich hätte es nicht verschwiegen, daß der Bruder unseres großen Winnetou und der beste Freund meines Volkes von mir erkannt worden ist. Ich war verpflichtet, ihm dies zu sagen.“

Da schlug das Herzle die Hunde hoch zusammen und rief aus.

„So wird es ja, wie ich wünsche! Sie dürfen beide mit, beide?“

„Ja“, antwortete ich. „Der junge Adler wird den dritten Schwarzschimmel reiten. Unser Pappermann bekommt die drei Maultiere mit dem Zelt. Er wird unser Majordomo. Er führt die Aufsicht über die Hauswirtschaft und natürlich auch über die Frau!“

Wie glücklich der alte Westmann war! Er erging sich in allen möglichen Ausdrücken der Dankbarkeit. Der Indianer aber war still, ganz still, um so tiefer aber grub sich das Glück in sein Inneres ein.

Nach dem Essen sorgten wir zunächst dafür, daß das Zelt wieder abgebrochen, zusammengeschnallt und mit allen dazugehörenden Utensilien von dem freien Platz herein in das Haus geschafft wurde; da war es mir sicherer als draußen. Während dies geschah, zeigte Pappermann hinaus nach dem erwähnten Platz und sagte:

„Schaut da hinaus! Was kommt dort gelaufen?“

„Das Maultier, das vierte Maultier!“ antwortete meine Frau.

„Ja! Es ist den Spitzbuben entkommen! Es ist obstinat geworden! Es hat sich losgerissen! Es wollte zu seinen Kameraden zurück! Ich hole es herein, sogleich – sogleich!“

Hierdurch gewannen wir eine Kraft zum Tragen des Gepäcks mehr, und die Zahl der Tiere, welche man Old Surehand gestohlen hatte, war nun wieder voll.

Später ging ich noch einmal in die Stadt, um für den „jungen Adler“ ein Gewehr und einen Revolver zu kaufen; sein Messer hatte er noch. Dann diktierte ich dem guten Pappermann einen Brief, den ich nicht gern selbst schreiben wollte. Er war an Hariman F. Enters gerichtet und lautete:

„Habe Wort gehalten und mich hier eingestellt. Lernte hier Eure Freunde Corner und Howe kennen. Bin darum weit eher fort, als ich eigentlich wollte. Trotzdem bleibt, was ich versprach. Wenn Ihr ehrlich seid, werde ich wieder zu Euch stoßen und Euch nach den beiden Orten führen, die ihr sehen wollt. Aber nur eben dann, wenn Ihr ehrlich seid!

Burton.“

Es war keine Kleinigkeit für Pappermann, diesen Brief zu schreiben. Er schwitzte dabei wie ein Holzhacker. Gegen drei Stunden dauerte es, ehe er fertig war, denn er mußte wegen Fehlern, Fettflecken und Klecksen, die er machte, so oft wieder neu anfangen, daß er schließlich wütend ausrief:

„Ist das eine Plage! Und ist das eine Qual! Einmal und nie wieder! Lieber sterben und verderben, als weißes Papier mit Tinte so schwarz machen müssen, daß man es dann lesen kann! Ich bin wahrhaftig zu allem bereit für Euch und für Eure Frau, für solche Marter aber nicht; nehmt es mir nicht übel!“

Daß ich mich unter den jetzt gegebenen Umständen nicht nach Trinidad setzte, um die Ankunft der Brüder Enters abzuwarten, verstand sich ganz von selbst. Wir hatten Besseres und Wichtigeres zu tun. Wie mein Name verschwiegen worden war, so sagten wir auch keinem Menschen, wohin wir von hier aus gingen. Auch der Wirt erfuhr es nicht.

Am Abend kehrten die Verfolger der Pferdediebe heim; sie hatten keinen einzigen von ihnen erwischt. Und der, welchen wir freigelassen hatten, schien doch nicht gleich wieder zum Dieb geworden zu sein, denn wir hörten davon, daß irgend jemandem ein Pferd weggekommen sei, nichts. Schon am nächsten Morgen verließen wir die Stadt, um in westlicher Richtung zunächst hinauf nach dem sogenannten Parkplateau zu kommen. Nicht einmal einen ganzen Tag waren wir in Trinidad gewesen. Und doch, so kurz dieser Aufenthalt, so bedeutend waren seine Folgen für uns. Das Wenigste davon war, daß wir nun zu Vieren anstatt zu Zweien ritten und daß wir nun infolge des Zeltes und seiner Ausstattung imstande waren, uns die Reise bequemer zu machen, als dies uns vorher als möglich erschienen war. Die Verteilung der Tiere war so, wie ich schon angegeben habe. Meine Frau, ich und der „junge Adler“ hatten die Rappschimmell während Pappermann das beste der Maultiere ritt und die drei anderen zum Tragen des Zeltes und des Lederpaketes des Indianers verwendete. Was für Dinge oder was für einen Gegenstand dieses Paket enthielt, das wußten wir nicht. Wir fragten auch nicht danach. Dem Gewicht nach schien es Eisen zu sein, aber kein gewöhnliches, sondern sehr wertvolles Eisen. Das schlossen wir aus der Sorgfalt, welche der Eigentümer während des Auf – und Abladens auf das Paket verwendete.

Es ist mir für das, was ich zu erzählen habe, leider nur der Raum eines einzigen Bandes gestattet, während ich mit diesen Ereignissen doch recht gut vier oder auch fünf Bände füllen könnte, ohne meine Leser zu ermüden. Darum muß ich so kurz wie möglich sein und so manches auslassen, was ich nur sehr ungern übergehe. Dahin gehört vor allen Dingen die ausführliche Beschreibung des Weges, den wir nahmen. Ich muß mich darauf beschränken, zu sagen, daß es hinauf nach dem Ratongebirge ging, hinter dem das herrliche Tal des Purgatorio sich niedersenkt, um es von den gigantischen Massen des „spanischen Pik“ zu trennen.

Es war ein großes, ein herrliches Gebirgspanorama, dem wir entgegenritten. Wir kamen ihm von Stunde zu Stunde näher, bis wir es erreicht hatten und uns dann immerfort inmitten von landschaftlichen Schönheiten befanden, die kein Ende nehmen wollten, sondern sich im Gegenteil stetig vermehrten und vergrößerten. Meine Frau, die jetzt zum ersten Mal mit da drüben war und stets gelächelt hatte, wenn ich der Meinung gewesen war, daß die Schönheiten des Harzes, des Schwarzwaldes, ja sogar der Schweiz sich unmöglich mit den landschaftlichen Wundern der Vereinigten Staaten vergleichen könnten, sah sich jetzt gezwungen, diese Zweifel fallenzulassen. Sie wurde still, ganz still. Und wenn sie das wird, so störe ich sie nicht, denn ich weiß, daß diese Wortlosigkeit bei ihr die Stille der Anbetung ist.

Es war um die Mittagszeit des dritten Tages, als wir an einem klar fließenden Wasser haltgemacht hatten. Da sprach ich mit ihr über die Unterschiede der landschaftlichen Schönheiten der Ebene und der Berge. Der „junge Adler“ hörte nach seiner Gewohnheit bescheiden schweigsam zu. Pappermann gab zuweilen ein treffendes Wort dazu, denn er hatte sehr viel gehört und sehr viel nachgedacht und war trotz der Niedrigkeit seines Lebensweges keineswegs unbegabt. Jetzt sagte er:

„Diesen Unterschied werdet Ihr morgen in einem sehr sprechenden Beispiel vor Augen haben. Da kommen wir an einen See der Ebene, der aber zwischen himmelhohen Bergen liegt.“

„Kenne ich ihn?“ fragte ich.

„Weiß nicht“, antwortete er. „Es ist der Kanubisee.“

„Von dem habe ich gehört. Sein Ebenbild oder vielmehr sein Urbild liegt im Staate Massachusetts. Ich bin von Lawrence aus dort gewesen. Dieser letztgenannte Kanubisee spielt in der Vergangenheit einiger Indianerstämme, besonders der Seneca, eine sehr wichtige Rolle. Seine im Sonnenschein funkelnden Wasser, seine weit und schön ausgebuchteten, mit sattem Grün geschmückten Inseln und Ufer waren so recht geeignet, der friedlichen Entwickelung des Stammeslebens als Unterlage zu dienen. Ich konnte mich von dem Anblick dieses Sees kaum trennen. Ich weiß, daß man einem hier oben liegenden Bergsee denselben Namen gegeben hat, und bin neugierig, zu sehen, ob er ihn verdient.“

„Wahrscheinlich verdient er ihn“, sagte Pappermann.

Er holte dabei tief, tief Atem.

„Wart Ihr mehrmals da?“ fragte ich.

„Wie oft! – Wie oft!“

Wieder tat er einen tiefen Atemzug. War dieser See vielleicht eine Stätte trüber Erinnerungen für ihn? Ich schwieg, um ihm nicht weh zu tun. Er sah lange, lange vor sich hin, dann begann er selbst damit:

„An diesem See habe ich jenen niederträchtigen Schuß in das Gesicht bekommen, der mich für das ganze Leben entstellte und verbitterte.“

„Von wem?“ fragte ich.

„Von einem gewissen Tom Muddy. Habt Ihr vielleicht jemals von diesem Schurken gehört?“

„Nein.“

„Er hieß wohl eigentlich nicht so, sondern anders. Seinen eigentlichen Namen habe ich nicht erfahren.“

„Seid Ihr ihm wieder begegnet?“

„Niemals, niemals, leider, leider! – Obgleich ich ein ganzes Menschenleben lang nach ihm gesucht habe, wie der Bettler nach dem ersparten Dollar, den er verloren hat und nicht wiederfinden kann. Ich spreche nicht gern davon; aber wenn es mich überkommt, wie stets, sobald ich den See erblicken so erzähle ich es Euch vielleicht heute abend. Für jetzt will ich Euch nur sagen, daß das mit den Seneca richtig ist.“

„Was?“

„Daß sie da unten in Massachusetts am Kanubisee wohnten. Wißt Ihr ihren eigentlichen Namen? Wie sie eigentlich heißen?“

„Ja. Senontowana.“

„Das stimmt. Der Name Seneca ist ihnen von den Weißen gegeben und aufgezwungen worden. Einer ihrer größten Häuptlinge hieß Sa-go-ye-wat-ha. Er liegt in Buffalo begraben. Man hat ihm da ein großes Denkmal gesetzt – – –“

„Obgleich er vor seinem Tod gebeten hat, ihn nur unter seinen roten Brüdern zu begraben, nicht etwa bei Bleichgesichtern!“ fiel meine Frau da ein.

„So kennt Ihr ihn? Habt von ihm gehört?“ fragte er sie.

„Wir waren an seinem Grab“, antwortete sie.

„Gott segne Euch dafür! Ich meine nämlich, wenn Ihr ein Grab besucht, so tut Ihr das nicht aus Neugierde, sondern weil Euch das Herz dazu treibt. Und ich habe eine ganz besondere Vorliebe grad für die Nation der Seneca.“

„Aus welchem Grund?“

„Weil – – weil – – weil – – – hm! Ich werde es Euch heute abend erzählen, nicht aber jetzt.

Herunter muß es nun doch einmal, weil diese alte Saite begonnen hat, zu klingen und zu zittern und gewiß nicht eher wieder aufhört, als bis wir den See im Rücken haben. Für jetzt aber erlaubt, daß ich schweige!“

Der Nachmittag führte uns inmerwährend bergan, bis wir eine Höhe erreichten, von welcher aus wir über eine weite, unter uns liegende, sich nach Westen dehnende Hochebene blickten. Die Sonne war im Sinken. In ihrem Strahl leuchtete aus der Mitte der Ebene ein großer funkelnder Diamant herauf zu uns, der rundum von einem weiten Kranz grüner Smaragde eingefaßt schien, deren Konturen flimmerten und glühten.

„Das ist der Kanubisee“, sagte Pappermann. „So nahe er uns zu liegen scheint, so weit ist er entfernt. Drei Stunden sind es von hier aus, bis man ihn erreicht. Darum lagern wir hier. Und zwar, wenn es Euch recht ist, an demselben Ort, an dem ich schlief, als ich zum ersten Mal in diese Gegend kam.“

Er führte uns nach einer auf drei Seiten ganz und auf der vierten auch noch halb eingeschlossenen Stelle, welche sehr guten Schutz gegen den hier oben sehr kühlen Nachtwind bot. Ein Wasser war in der Nähe. Futter für die Pferde gab es auch. So konnten wir uns also keinen besseren Lagerplatz wünschen. Das Zelt wurde schnell errichtet und ein Feuer angebrannt. Das Zelt war immer nur für meine Frau. Wir Männer zogen es vor, im Freien zu schlafen. Es war jetzt die wundersame Zeit des Indianersommers, in der man es selbst auf solcher Höhe des Nachts außerhalb des Zeltes aushalten kann.

Während des Essens wurde es Abend. Der Mond ging auf. Er stand im ersten Viertel. Die Luft war ohne Nebel, vollständig rein und klar. Wir konnten weit sehen, fast so weit wie am Tage, nur daß die Konturen jetzt unbestimmter waren und ineinander flossen. Der leuchtende Diamant war jetzt zur weißsilbernen Perle geworden. Pappermann begann, ohne von uns aufgefordert worden zu sein, zu erzählen.

„Genauso wie heut“, sagte er, „lag der See damals vor meinen Augen. Es zog mich zu ihm hinab. Ich wachte sehr zeitig auf und setzte mich auf das Pferd, um fortzureiten, ohne eigentlich ausgeschlafen zu haben. Es war in der Morgenfrühe kühl. Darum ritt ich ziemlich rasch und erreichte grad mit Sonnenaufgang den See. Ich sah im Gras Spuren von Menschen, von Indianern. Ich nahm mich also in acht, versteckte mein Pferd und ging den Spuren vorsichtig nach. Sie führten durch die Büsche an das Wasser. Dort angekommen, sah ich Hütten stehen, oder vielmehr Häuser. Nicht halbwilde Wigwams oder Zelte, sondern wirkliche Häuser, aus Balken, Bohlen, Planken und Schindeln hergestellt, genauso wie die Gebäude, aus denen früher, ehe die Weißen kamen, die Städte und Dörfer der Indianer bestanden. Mehrere Boote lagen am Ufer. Fischernetze waren zum Trocknen aufgehängt. Außerordentliche Sauberkeit überall. Nirgends ein Schmutz, eine Waffe, ein blutiger Rest eines Wildes, ein Zeichen von Jagd und Tod. Tiefes Schweigen ringsumher. Nichts regte sich. Die Türen waren geschlossen. Man schlief noch, und zwar ganz ohne Sorge, denn einen Wächter sah ich nicht. Es schien heute ein Ruhetag zu sein.

Ich schlich mich näher, bog um eine Ecke des Gebüsches und sah – sah – – sah das schönste Mädchen, ja bei Gott, das schönste, das allerschönste Mädchen, welches meine alten Augen, so lang ich lebe, jemals erblickten! ich bitte, es mir zu glauben! Sie saß auf einem hohen Steinblock des Ufers und schaute nach Osten, wo die Sonne soeben erschien. Sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibris geschmeckt, weit über den Rücken herunter. Als die Kolibris im ersten Strahl der Sonne zu funkeln begannen, erhob sie sich von ihrem Sitz, breitete die Arme aus und sagte im Ton der Andacht und Bewunderung:

O Manitou, o Manitou!

Weiter sagte sie nichts. Dann faltete sie die Hunde. Aber ich sage Euch, daß ich niemals in meinem Leben ein besser gemeintes und aufrichtigeres Gebet gehört habe, als diese einzigen zwei Wörter. So stand sie lange, lange, in die Sonne schauend. Ich blieb nicht stehen. Sie zog mich an wie ein Magnet, dem man nicht widerstreben kann. Ich schritt auf sie zu, aber langsam, zögernd, leise, in beinahe heiliger Scheu. Da sah sie mich. Sie erschrak nicht etwa. Sie bewegte keinen Fuß, keinen Finger, kein einziges Glied. Sie sah mich nur an. Aber mit so großen, offenen, erwartungsvollen Augen! In diesen Augen lag dieselbe Sonne, die dort im Osten aufgegangen war. Vor soviel Seltenheit und Schönheit wurde ich zum Dummkopf, zum Tölpel. Ich vergaß, zu grüßen. Heute kann ich mir wohl denken, wie klug und wie geistreich ich damals ausgesehen habe! Ich wußte und bemerkte nur das Eine, nämlich daß sie erwartete, von mir angesprochen zu werden. Das tat ich denn auch. Aber anstatt höflich zu sein und zu grüßen, beging ich die größte Unhöflichkeit, indem ich sie fragte: Wie heißt du? Sie antwortete: Ich heiße Aschta! Das kam mir zunächst wie ein Kosename vor; später aber erfuhr ich, daß Aschta ein wirkliches Indianerwort ist und soviel wie Güte bedeutet. Also, sie hieß die Güte, und das war sie auch. Ich habe sie niemals anders als still, fromm, wohltätig, rein und gütig gesehen. Kein Flecken war je an ihrem Gewand, und kein unlauteres Wort ist je über ihre Zunge gekommen. Ich kann Euch sehr wohl sagen, daß ich damals sehr oft am Kanubisee gewesen bin und mich monatelang in seiner Nähe herumgetrieben habe. Ich bin stundenlang und tagelang an ihrer Seite gewesen, habe aber nicht ein einziges Mal Etwas von ihr gesehen und gehört, wovon ich sagen konnte, das war nicht schön, das war nicht gut von ihr. Darum war ich auch nicht etwa der einzige, dem sie so ausnehmend gefiel. Wer da kam, der wollte nicht wieder fort, allein nur ihretwegen. So auch Tom Muddy und – – – der Siou Ogallallah.“

Er machte hier eine Pause. Das benutzte meine Frau, ihn auf eine Unterlassungssünde aufmerksam zu machen:

„Aber, Mr. Pappermann, Ihr habt doch noch gar nicht gesagt, wem die Häuser am See gehörten und wer ihr Vater war!“

„Habe ich noch nicht? Hm! Ja, ganz richtig. Sie kommt bei mir immer voran, und dabei vergesse ich alles Andere. So war es schon damals auch. Ihr Vater war ein Medizinmann der Seneca. Nicht etwa einer jener Quacksalber und Possenreißer, die sich heutzutage Medizinmänner nennen lassen, sondern ein wirklicher und berühmter! Der hatte, von den Weißen wegen seines großen Einflusses auf die Roten verfolgt und bedrängt, mit noch einigen ihm gleich edelgesinnten Indianern seine Heimat verlassen, um sich vor ihnen nach dem Wilden Westen zu retten. Er kam in diese Gegend. Er sah diesen See. Er war entzückt über seine Aehnlichkeit mit dem heimatlichen, schönen Wasserbecken. Er blieb da mit seinen Begleitern. Sie bauten sich Häuser, ganz in der alten Weise ihres Stammes, und nannten den See so, wie der in der Heimat geheißen hatte, nämlich Kanubisee. Diese neue Ansiedlung wurde sehr bald unter den weißen und roten Jägern des Westens bekannt und viel besucht. Sie bildete eine Friedensstätte für sie, an der sich Rot und Weiß, Freund und Feind treffen durften, ohne den Ausbrüchen des Hasses unterworfen zu sein. Denn es war zur Gewohnheit, ja, zum Gebot geworden, daß jede Feindschaft zu schweigen und nur Liebe und Friede zu walten habe.“

Er hielt für einige Augenblicke inne, holte tief Atem und sagte:

„Es war eine liebe, schöne Zeit! Die einzige Zeit meines Lebens, in der ich einmal wirklich Mensch gewesen bin, und zwar ein guter Mensch. Ich bitte Euch, mir das zu glauben!“

Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:

„Zu den Weißen, welche am Kanubisee verkehrten, gehörte Tom Muddy, und zu den Roten ein junger Medizinmann der Sioux Ogallallah, der zu dem Vater von Aschta gekommen war, um sein Schüler zu sein und die Geheimwissenschaften der roten Rasse bei ihm zu studieren. Wo er eigentlich wohnte, das wußte niemand. Er verschwieg es, um in der tiefen Einsamkeit, die er für seine Studien brauchte, nicht gestört oder nicht etwa gar von einem Feind belästigt zu werden. Aber ich vermutete, daß er sich unten an einem Nebenwasser des Purgatorio seine Hütte errichtet habe, die er nur verließ, um zu seinem Lehrer hinaufzusteigen und neue Anweisungen zu holen. Er war ein schöner, junger Mann, in allen Waffen geübt, und dennoch so friedlich gesinnt, als ob es auf der ganzen Erde überhaupt noch nie eine Waffe gegeben habe. Daß Aschta ihn allen anderen, die da kamen, vorzog, war gar kein Wunder. Ich aber wußte hiervon nichts, sondern ich erfuhr es erst durch Tom Muddy.

Der war weder ein schöner, noch ein häßlicher Kerl, aber zudringlich und roh. Niemand wollte etwas von ihm wissen. Er hatte ein Auge auf Aschta, oder sogar alle zwei; sie aber wich ihm auf Schritt und Tritt aus und vermied so viel wie möglich alle Gelegenheit, mit ihm sprechen zu müssen. Das ärgerte ihn gewaltig. Denn er hatte es sich wirklich in den Kopf gesetzt, daß sie seine Frau werden solle. Ich glaube gar, er liebte sie nicht nur, sondern er haßte sie auch, eben weil sie ihm ihre Abneigung so offen und ehrlich zeigte. Das stritt und kämpfte in seinem Innern. Am liebsten verkehrte er mit mir. Warum, das weiß ich eigentlich noch heute nicht. Wahrscheinlich, weil ich der wertloseste von allen war und es nicht über das Herz brachte, mich von ihm derart zurückzuziehen, wie die andern es taten. Ich hütete mich natürlich sehr, ihn merken zu lassen, daß auch in meinem Herzen eine herrliche, große und von allen Sünden reine Liebe aufgegangen war und daß ich mein Leben tausendmal hingegeben hätte, um der schönen Indianerin dies beweisen zu können. Zuweilen kam mir freilich der Gedanke, sie stehe mir zu hoch, aber in gewissen Stunden, in denen ich mich selbst betrachtete, faßte ich doch eine Art von Mut. Da sagte ich mir, daß ich doch kein so ganz übler Bursche sei und mich mit manchem, manchem anderen sehr wohl vergleichen und messen könne. Das waren die Augenblicke, in denen ich mir vornahm, offen und ehrlich mit ihr zu reden. Aber sobald ich dann in ihre Nähe kam, sank mir das Herz wieder vor die Füße, und es fiel mir kein Wort von alledem ein, was ich ihr hatte sagen wollen.

Da kam ich eines schönen Tages von einer längeren Jagdstreife zurück und erfuhr von Tom Muddy, daß der Siou Ogallallah bei dem Vater von Aschta um sie geworben und die Erlaubnis erhalten habe, sie des Nachts zu rauben – – –“

„Zu rauben?“ wurde er von meiner Frau unterbrochen. „War das notwendig?“

„Nicht nur notwendig, sondern auch schicklich. Ich habe mir sagen lassen, daß alle diese Gebräuche einen tiefer liegenden Grund und ihre eigene Bedeutung haben. Vater und Mutter haben ihr Kind, ihre Tochter erzogen, unter tausend schlaflosen Nächten, unter noch mehr Sorgen und Opfern. Da kommt ein fremder Mensch und nimmt sie von ihnen weg. Er raubt den Eltern den größten Teil des Herzens ihres Kindes, und dieses folgt ihm gern, ohne zu fragen, ob er es auch verdient. Diese inneren Vorgänge sollen durch die indianischen Verlobungsgebräuche äußerlich dargestellt werden. Die Tochter ist bereit, sich rauben zu lassen; aber die Eltern geben sich alle Mühe, dies zu verhüten. Sie wird eingesperrt, sehr wohl versteckt und scharf bewacht. Der Geliebte gibt sich ebenso große Mühe, die Eltern zu überlisten, und hilft das nicht, so greift er gar auch zur Gewalt. Es gibt da einen hochinteressanten Kampf zwischen dem gegenseitigem Scharfsinn, und der ganze Stamm befindet sich in Spannung, die einzelnen Phasen dieses Kampfes zu erfahren oder wohl gar daran teilzunehmen. Man hilft der einen oder der anderen Partei. Es kommt dabei zu Taten der Schlauheit und des persönlichen Mutes, durch welche der Werbende zeigt, was der Stamm dann später im öffentlichen Leben, in Krieg oder Frieden von ihm erwarten darf.“

„Als ich diese Neuigkeit von Tom Muddy erfuhr, war es mir, als ob ich von ihm einen schweren Faustschlag gegen die Stirn bekommen hätte. Das Gehirn begann mir zu brummen. Ich fühlte mich zunächst ganz dumm im Kopf. Tom Muddy aber war wütend. Er schwor das Blaue vom Himmel herunter, daß der Siou das Mädchen nicht entführen werde; es sei dafür gesorgt, daß ihm das nicht gelingen könne. Als ich ihn fragte, wodurch er das zu verhindern gedenke, verlangte er von mir einen Schwur, seinen Plan nicht zu verraten; dann solle ich ihn erfahren. Ich leistete den Schwur, doch natürlich nur, um die Ausführung dieses Planes zu verhüten. Da zeigte er mir seine Pistole. Sie war bis oben herauf mit Pulver geladen. Dieses Pulver sollte dem Siou in die Augen geschossen werden, um sein Gesicht zu entstellen und ihn zu blenden, für immer blind zu machen. Dann fällt es ihr gewiß nicht ein, seine Squaw zu werden! fügte er hinzu, bevor er sich entfernte. Aber noch ehe er ging, erinnerte er mich an meinen Schwur. Sollte ich ihn etwa verraten, so werde er nicht nur den Siou blenden, sondern auch mich.“

„Der ist ja gar kein Mensch gewesen, sondern ein Teufel!“ rief das Herzle aus.

„Wenn kein Teufel, so aber doch ein Schurke, dem nichts und nichts zu schlecht war, wenn es nur zum Ziel führte“, antwortete Pappermann. „Ich hielt es natürlich für meine Pflicht, die Missetat zu verhüten. Freilich, verraten durfte ich nichts. Doch hätten einige andeutende Worte gewiß genügt, den Siou die Gefahr, in der er sich befand, wenigstens ahnen zu lassen. Aber er war ja weder zu sehen noch zu sprechen. Von dem Augenblick an, an dem er die Erlaubnis erhalten hatte, Aschta zu rauben, hatte er sich in die tiefste Heimlichkeit zu hüllen und sich so vorsichtig anzuschleichen, als ob es sein Leben gelte. Da verstand es sich ganz von selbst, daß er nicht am Tage kommen konnte und daß ich mir die Nächte hindurch alle Mühe gab, ihn irgendwo zu erwischen. Das war gar nicht ungefährlich für mich, denn ich wußte, daß Torn Muddy genau dieselben Anstrengungen machte, an ihn heranzukommen. Ich hatte also die Doppelaufgabe, den einen zu vermeiden, den andern aber zu entdecken, und ich sage Euch, daß es gar nicht so leicht war, die nötige Vorsicht zu entwickeln. Es gehörte Übung dazu. So ging es über eine Woche lang, ohne daß meine Anstrengungen das geringste Ergebnis hatten. Dann kam eine mond- und sternenlose, feuchte Nacht, in der es zwar nicht regnete, aber es nässelte in einem fort. Trotzdem blieb ich nicht auf meinem warmen Lager, sondern kroch draußen herum, denn es war, als ob mir Jemand sage, daß grad in dieser höchst ungemütlichen Nacht etwas geschehen werde, was ich nicht versäumen dürfe. Ich kroch leise, leise an der Hinterseite des Hauses bis zur Ecke hin. Dort wollte ich liegen bleiben, um nach beiden Seiten hin lauschen zu können. Ich schob mich also, als ich die Ecke erreicht hatte, ein wenig vor und – – – Herrgott! Da lag schon Einer! Drüben auf der anderen Seite! Wir stießen fast zusammen. Er sah mich ebenso wie ich ihn, trotz der Dunkelheit und trotz der dicken, feuchten Luft. Aber wie ich ihn nicht erkannte, so konnte er auch mich nicht erkennen. Wer war es? Der Siou oder Tom Muddy? Schon öffnete ich den Mund, um ein leises, leises Wort zu sagen; da erhob der da drüben den Arm. Er hatte Etwas in der Hand. Ich konnte nur schnell das Gesicht zur Seite wenden, da krachte auch schon der Schuß. Ich bekam die ganze Ladung. Es ging kein Körnchen verloren. Doch glücklicherweise nicht in die Augen, sondern in die durch meine schnelle Bewegung dem Schurken zugewendete linke Seite des Gesichts. Ich hatte ihm zurufen wollen: Schieß nicht, schieß nicht! war aber nicht dazu gekommen und gab auch jetzt keinen Laut von mir, weil ich die Besinnung verloren hatte. Es war zwar nur ein armseliger, lumpiger Pistolenschuß und zwar ohne Blei oder Kugel, aber doch so ganz und gar nahe abgeschossen, daß ich aus meiner kauernden Lage niederfiel wie ein Sack, den man umgestoßen hat, und leblos liegenblieb, bis man mich fand und in das Innere des Hauses trug, um mich in das Leben zurückzubringen.“

„Man hatte nämlich den Schuß gehört und war herausgeeilt, um seiner Ursache nachzuforschen. Der Medizinmann kam; seine Frau kam; Aschta, seine Tochter, kam, und andere kamen auch. Während sie alle um mich beschäftigt waren, kam noch ein anderer, nämlich der Siou Ogallallah. Er kam geschlichen wie ein unhörbarer Windeshauch und war klug genug, die Situation sofort für sich auszunutzen. Als man mich in das Haus gebracht und dort niedergelegt hatte, erscholl draußen der laute Siegesruf der Ogallallah. Man horchte auf. Man vermißte die Tochter. Man wußte, woran man war: die Entführung war gelungen. Der Siou brauchte sich nur mit Aschta zu entfernen, so war sie sein. Aber das tat er nicht; er hatte es nicht nötig. Er hatte sie geholt, und sie war ihm gefolgt, aus der Aufsicht der Eltern hinaus. Das genügte! Er brachte sie wieder herein und wurde von den Eltern als Sohn empfangen. So war durch den Schuß Tom Muddys also grad das begünstigt und herbeigeführt worden, was er hatte verhüten sollen. Ich aber lag lange Zeit im Delirium und habe vor Schmerzen gepfiffen wie ein Hund, den irgend ein Vivi lebendig zu Tode schindet. Dann habe ich mich, sobald ich wieder auf den Beinen war, aus dem Staub gemacht, ohne Etwas zu verraten. Kein Mensch, als nur ich und Tom Muddy, kannte den Täter und den eigentlichen Grund des Schusses. Und dieser Schuft ist seit jener Nacht verschwunden, spurlos verschwunden, so heiß auch mein Verlangen gewesen ist, ihm wieder zu begegnen. Als ich dann nach einigen Jahren zum ersten Mal wieder nach dem Kanubisee kam, fand ich die Häuser leer; sie waren verlassen. Die Seneca waren von einer Bande weißer Buschklepper überfallen und getötet worden bis auf den letzten Mann. Von ihnen allen lebte nur noch Aschta, weil sie den See verlassen hatte, um dem Siou Ogallallah zu seinem Stamme zu folgen.“

„Habt Ihr sie wiedergesehen?“ fragte meine Frau.

„Nein, nie! Ich habe die Ogallallah stets als Feinde der Weißen betrachtet und mich gehütet, viel mit ihnen in Berührung zu kommen. Erkundigt habe ich mich freilich einige Male. Da erfuhr ich, daß die schöne Senecasquaw des Medizinmannes sehr glücklich sei. Er habe droben am Niobrara für sich und seine Schüler eine eigene Reservation gegründet und lebe dort nur für alte Totems und Wampums, die er sammle und für die Bücher, die er sich von den Bleichgesichtern schicken lasse. Er sei sogar unter den Weißen ein sehr geehrter und sehr berühmter Mann.“

Bei diesen letzten Worten Pappermanns fragte ich ihn schnell:

„Ihr kennt natürlich den Namen dieses Indianers?“

„Ja“, nickte er.

„Heißt er Wakon?“

„Ja, nur Wakon.“

„Es steht kein anderes Wort, kein anderer Name dabei?“

„Nur Wakon!“ wiederholte er.

„So kenne ich ihn, obgleich ich ihn noch nie gesehen habe. Er hat sein ganzes Leben und seine ganze Kraft dem Studium der Geschichte der roten Rasse gewidmet und Werke über sie geschrieben, die leider noch nicht erschienen sind, weil er sie erst dann veröffentlichen will, wenn auch der letzte Band vollständig vollendet ist. Man ist auf dieses sein Lebenswerk mit Recht ungewöhnlich gespannt.“

„Wie alt ist er jetzt?“ fragte das Herzle.

„Das ist Nebensache“, antwortete ich. „Wahrhaft große Männer pflegen nicht eher zu sterben, als bis sie wenigstens innerlich das erreicht haben, was sie erreichen wollten oder sollten. Die sogenannten Helden des Krieges und der Schlachtfelder sind hiervon natürlich ausgenommen. Seid Ihr müd?“

Diese letztere Frage richtete ich an Pappermann, der sich in seine Decke zu wickeln begann, als wolle er sich niederlegen.

„Müd eigentlich nicht“, antwortete er; „aber fast wie wieder von dem Schusse Tom Muddys getroffen. Das ist die Erinnerung! Ich habe sie sehr lieb gehabt, diese Indianerin, sehr! Ich habe niemals, niemals wieder ein Frauenzimmer daraufhin angesehen, ob ich sie zum Weibe haben möchte. Ich bin ein einsamer Mensch geblieben und werde wohl, wenn meine Stunde kommt, auch ebenso einsam sterben – – –. Ich will versuchen, zu schlafen. Gute Nacht!“

Wir erwiderten seinen Wunsch „gute Nacht“, doch ging er nicht in Erfüllung, weder bei ihm noch bei uns. Er wälzte sich wohl zwei Stunden lang von einer Seite auf die andere; dann wickelte er sich wieder aus seiner Decke, stand auf und ging fort, um sich durch eine Wanderung zu beruhigen. Er war um Mitternacht noch nicht wieder da; da schlief ich ein. Aber schon vielleicht nach zwei Stunden wachte ich wieder auf. Da saß er an seiner Stelle; er war zurückgekehrt, hatte sich aber nicht niedergelegt. So setzte ich mich also auch auf. Und kaum hatte ich das getan, so richtete sich der „junge Adler“ in die Höhe. Da erklang vom Zelt her die Stimme meiner Frau:

„Auch ich schlafe nicht! – Darf ich einen Vorschlag machen?“

„Welchen?“ fragte ich.

Sie öffnete die Leinwandspalte, an der sie gestanden hatte, noch weiter, trat ganz hervor und antwortete:

„Wollen aufbrechen! Fort! Hinunter nach dem See! Wir schlafen doch nicht wieder ein! Das sind die Folgen so alter Geschichten!“

Da sprang Pappermann auf und stimmte bei:

Well! Aufbrechen! Fort! Dann kommen wir genau zum Sonnenaufgang an, wie damals ich! Seid Ihr es zufrieden?“

Ich stimmte bei, und der „junge Adler“ natürlich auch. Das Zeit wurde abgebrochen. Dann ritten wir den breiten, bequemen Terrainabfall nach der Hochebene des Sees hinunter. Der Morgen begann leise zu grauen. Wir hatten grad genug Dämmerlicht für die Augen unserer Pferde, daß sie sahen, wohin sie traten. Dann wurde es heller und heller.

War es wirklich nur die Folge der Erzählung Pappermanns, daß wir nicht hatten schlafen können? Oder gab es irgendeine Bestimmung, die uns veranlaßt hatte, um so viel früher aufzubrechen, als erst in unserer Absicht gelegen hatte? Sonderbar!

Wir ritten still nebeneinander her. Wir erreichten die Ebene, auf der wir schneller vorwärts kamen. Der Morgen nahte. Es wurde Tag. Und grad als die Sonne aufging, erreichten wir den äußeren Rand des grünen Laub- und Blätterwaldes, der den See von allen Seiten umsäumte. Eine schmale, wiesenartige Lichtung führte in diesen Wald hinein. Sie wurde immer schmaler und bildete schließlich einen Weg von nur fünf oder sechs Meter Breite.

„Das ist derselbe Weg, den ich damals kam“, sagte Pappermann. „Nur ist der Wald jetzt höher und dichter geworden. Hier fand ich die Spuren. Und nur eine kurze Strecke weiter sehen wir das Wasser des Sees.“

Er ritt diese Strecke voran. Dann wendete er sich nach uns um, deutete aber vorwärts und sagte:

„Da sind die letzten Büsche. Und nun kommt der See und der hohe Stein, auf dem Aschta damals saß – – – mein Himmel!“

Er war um die erwähnten letzten Büsche gebogen, ritt aber nicht weiter, sondern blieb halten, stieß diesen Ausruf der Überraschung, des Erstaunens aus und starrte nach einem Punkt, der uns noch hinter dem Gesträuch verborgen war. Wir ritten schnell hin. Da sahen wir nun freilich, daß er sehr wohl Veranlassung hatte, zu erstaunen. Ja, unser Erstaunen war ebenso groß wie das seinige.

Wir hatten den See erreicht. Wir befanden uns an seinem östlichen Rand. Ja, er war es wert, mit dem gleichnamigen Kanubisee in Massachusetts verglichen zu werden. Doch hatten wir jetzt nicht Zeit, uns mit seiner Schönheit zu beschäftigen. Rechts von uns lagen die Überreste der einstigen Senecahäuser, von dem ersten Gruß der Sonne überflutet. Vor uns die vom leisen Morgenhauche bewegte, durchsichtig grünblaue Wasserfläche, deren reich eingebuchtete Ufer sich wie Kulissen aus- und ineinander schoben, von üppigem Grün bewachsen, dessen Blätter wie eingetaucht in flüssiges Metall erschienen. Und links von uns, wo die Büsche bis ganz nahe an das Ufer traten, der hohe, weiße, glattgewaschene Stein, und auf ihm stehend – – – eine junge Indianerin, genau, ganz genauso, wie Pappermann sie uns gestern am Abend beschrieben hatte: Sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibris geschmückt, weit über den Rücken herunter. Die Kolibris funkelten im Sonnenstrahl in allen Farben leuchtender Edelsteine; aber das Mädchen schaute nicht, wie damals, der Sonne entgegen, sondern ihr Angesicht war nach der Stelle gerichtet, an der wir ihr jetzt erschienen. Und dieses Mädchen war schön, sehr schön, sowohl von Angesicht, als auch von Gestalt. Sie bewegte kein Glied. Sie sagte kein Wort. Sie sah uns still und erwartungsvoll aus ihren großen, dunklen Augen entgegen.

Und, sonderbar! Pappermann glitt langsam von seinem Maultier herab, schritt ebenso langsam, ganz wie mechanisch auf sie zu, als ob ihn eine tiefe, heilige Scheu umfange, und fragte:

„Wie heißest du?“

„Ich heiße Aschta“, antwortete sie, genau wie ihm damals geantwortet worden war.

„Und wie alt bist du?“

„Achtzehn Sommer.“

Da strich er sich mit der Hand über das Gesicht und sagte, als ob er träume:

„Also nein! Das konnte ja gar nicht sein! Sie ist eine Andere, wenn auch ihr ähnlich, so ganz außerordentlich ähnlich!“

„Sprichst du von meiner Mutter?“ fragte nun sie.

„Man sagt, daß ich ihr überaus ähnlich sehe.“

„Du hast eine Mutter?“

„Ja.“

„Wie heißt sie?“

„Aschta, wie ich.“

„Und dein Vater?“

„Heißt Wakon. Wir wohnen weit im Norden von hier, am Niobrarafluß.“

Da schlug er die Hunde zusammen und rief:

„Sie ist eine Tochter von ihr – eine Tochter!“

Da bog sie ihren Oberkörper weiter vor, als ob sie vom Steine herunterspringen wolle, und sagte:

„Du kennst meinen Vater und meine Mutter? Und die Hälfte deines Gesichtes ist vom Pulver verbrannt! Heißest du vielleicht Pappermann?“

„Ja, so heiße ich.“

„Du warst zu derselben Zeit hier am Kanubisee, als Vater und Mutter einander kennenlernten?“

„Ja, zu derselben Zeit.“

Da stieg sie vom Stein herab und bat:

„Reiche mir deine Hände!“

Er tat es. Sie ergriff sie, küßte sie ihm einmal, zweimal, zog dann seinen Kopf zu sich heran, küßte ihn einmal, zweimal auch auf die dunkle Wange und sprach:

„Du bist der Retter meines Vaters! Hast dich für ihn geopfert. Warum kamst du nie zu uns? Vater und Mutter haben niemals aufgehört, sich nach dir zu erkundigen, doch ohne zu erfahren, wo du bist!“

Der alte Westmann zitterte vor Aufregung und Rührung. Er weinte.

„Woher weiß dein Vater, daß jener Schuß nicht mir, sondern ihm gegolten hat?“ fragte er. „Ich habe es nie verraten!“

„O doch! Aber ohne daß du es wolltest. Du hast es im Fieber erzählt. Vater hat jenen Menschen zweimal wiedergesehen, doch ohne ihn fassen zu können. Sein richtiger Name war nicht Tom Muddy, sondern Sander. Als gestern abend Euer Feuer wie ein ganz, ganz kleiner, flackernder Stern vom Berge leuchtete, sagte Mutter zu mir: So leuchtete damals das Lagerfeuer unseres weißen Retters von genau da oben herab, am Abend, bevor ich ihn zum ersten Mal sah.

„Deine Mutter ist hier?“ erkundigte er sich schnell.

„Sie war hier, ist es aber nicht mehr“, antwortete sie. „Es waren viele Frauen und Töchter hier, die aber mit dem Morgengrauen fortgeritten sind. Ich blieb allein zurück – – – als Wache, als Kundschafterin.“

„Als Kundschafterin?“ fragte er lächelnd. „Wenn wir nun Feinde wären?“

„So hättet ihr mich nicht zu sehen bekommen.“

„So hast du wissen wollen, wer wir sind?“

„Weil wir Euer Feuer gesehen hatten, ja.“

„Und woraus erkanntest du, daß wir nicht gefährlich seien?“

„Weil eine Squaw sich bei euch befand.“

„Ah! Ganz richtig, ganz richtig! Nun mußt du wohl schnell von hier fort?“

„Ja, um die Anderen einzuholen. Doch werde ich diesen Ort nicht mehr verlassen, ohne von dir erfahren zu haben, wann und wo wir dich sehen und treffen können.“

„Wohin reitet ihr?“

„Das darf ich nicht sagen.“

Da stieg der „junge Adler“ vom Pferd, trat hinzu und sagte:

„Du darfst! – Schau her! Ich bin dein Bruder.“

Er trug den neuen Lederanzug, den Pappermann ihm aufgehoben hatte; den alten hatte er weggeworfen. In diesem neuen Anzug nahm er sich sehr stattlich aus. Er deutete auf die rechte Seite der Brust, wo ein kleiner, zwölfstrahliger Stern aus Perlen eingesteckt war. Ich sah an ihrem Gewand an der gleichen Stelle ganz den gleichen Stern.

„Du bist ein Winnetou?“ f ragte sie, ihn jetzt genauer betrachtend.

„Ja.“

„Und ich bin eine Winnetah. Wir tragen also beide den Stern des großen Winnetou und sind also Bruder und Schwester. Ich bin ein Siou Ogallallah. Und du?“

„Ein Apatsche vom Stamm der Mescaleros.“

„Also von Winnetous Stamm. Ich bitte dich, mir deinen Namen zu sagen. Oder hast du noch keinen?“

„Ich habe einen“, lächelte er. „Man nennt mich den jungen Adler.“

Da machte sie eine Bewegung der Überraschung.

„Man weiß, daß ein Lieblingsschüler des berühmten Tatellah-Satah diesen Namen trägt. Er bekam ihn schon in früher Jugend, wo Andere noch lange Zeit ohne Namen sind. Kennst du ihn?“

„Ja.“

„Er war der Allererste, dem Tatellah-Satah erlaubte, den Stern unseres Winnetou zu tragen. Weißt du, wo er sich jetzt befindet?“

„Ja.“

„Darfst du es mir sagen?“

„Niemand verbietet es mir. Er steht vor dir.“

„Du, du bist es? Du selbst, du selbst?“ fragte sie, indem ein Glanz aufrichtiger Freude ihre Wangen überflog. „Man sagte, du seiest verschwunden?“

„Man sagte die Wahrheit“, antwortete er.

„Um den heiligen Ton der Friedenspfeife zu holen?“

„Ja. Und noch Schwereres dazu.“

„Man erzählte, du habest dir selbst dabei eine schwere, sehr schwere Aufgabe gestellt?“

„Auch das ist wahr.“

„Ist dir die Lösung gelungen?“

„Sie gelang. Unser großer, guter Manitou hat mich geführt und beschützt. Seit ich den Mount Winnetou verließ, sind über vier Jahre vergangen. Nun kehre ich zurück. Du hast denselben Weg?“

„Ja.“

„So will ich nicht fragen, wohin ihr heute reitet, denn ich weiß, daß ich dich wiedersehen werde.“

„Wünschest du das?“

„Ja. Und du?“

„Ich auch.“

„So bitte, gib mir deine Hand!“

„Ich gebe dir beide!“

Sie reichte sie ihm und schaute ihm mit großen, offenen Augen in das männlich schön gezeichnete, ernste Gesicht. Er aber sah über den See hinüber, wie in eine weite, weite Ferne hinein. Es gab eine kurze Zeit des Schweigens. Dann sagte er:

„Die Enkelin des größten Medizinmannes der Seneca, welche die Tochter Wakons ist, des Forschenden und Wissenden, und der Schüler des unerreichbaren Tatellah-Satah, bei dem die zertretene Seele der roten Rasse ihre einzige und letzte Zuflucht fand: das bist du, und das bin ich. Manitou ist es, der uns hier zusammenführte. Wir trennen uns nur zum Schein. Es soll ein Segen, ein großer Segen ausgehen von dem Ort, an dem wir uns wiederfinden. Sei gesegnet, du liebe, liebe, du schöne Winnetah!“

Er küßte ihr beide Hunde und fragte dann:

„Wann verläßt du diesen See?“

„Sofort“, antwortete sie. „Aber ehe ich gehe, muß ich dich fragen, wohin euer Ritt von hier aus zunächst gerichtet ist.“

„Nach der Devil pulpit. Kennst du sie?“

„Ja. Wie gut, daß ich dich fragte. Ich warne dich!“

„Vor wem?“

„Vor Kiktahan Schonka, dem alten Kriegshäuptling der Sioux Ogallallah.“

„Vor deinem eigenen Häuptling?!“

Pshaw!“ rief sie stolz aus. „Aschta kennt keinen Häuptling über sich. Es geht ein tiefer, tiefer Riß durch die Dakotahstämme. Die jungen Krieger sind für Winnetou, die alten aber gegen ihn. Nimm dich in acht! Ich weiß, daß Kiktahan Schonka nach der Devils pulpit kommt, um sich dort mit den Häuptlingen der Utah zu treffen und zu beraten. Hüte dich, ihnen in die Hunde zu fallen! Weißt du, daß man sagt, Old Shatterhand werde kommen?“

„Ich weiß es.“

„Und glaubst du, daß dieses Gerücht begründet ist?“

„Ich glaube es.“

„So werden wir ihn sehen, wenn es ihm gelingt, den Gefahren zu entgehen, die auf ihn lauern.“

„Kennst du sie, diese Gefahren?“

„Nein. Ich weiß nur, daß man hofft, ihn, wenn er wirklich kommen sollte, zu ergreifen. Ihn am Marterpfahle sterben zu lassen, war der glühende Wunsch aller Feinde seines Bruders Winnetou. Man sagt, er sei sehr alt und grau geworden. Im Alter kommt die Kraft dem Körper und die Energie der Seele abhanden. Wie würde man jubeln, wenn dem Hochbetagten jetzt nun geschähe, was er in der Jugend so oft vereitelt hat! Wenn ich wüßte, wann und wo er kommt, so stellte ich Späher aus, um ihn warnen zu lassen.“

„Sorge dich nicht um ihn, Aschta! Denn was deine Späher ihm sagen würden, das wurde ihm bereits gesagt.“

„So ist er gewarnt?“

„Ja.“

„Dem Manitou sei Dank! Nun kann ich gehen. Warte! Nur einen Augenblick!“

Sie entfernte sich nach der Ruine des nächsten Hauses, hinter welcher, wie wir dann sahen, ihr Pferd verborgen war. Sie stieg dort auf, kam herbeigeritten und blieb bei uns halten, um dem „jungen Adler“ die Hand zu reichen.

„Leb wohl!“ sagte sie. „Wir sehen uns wieder!“

Dann fragte sie Pappermann:

„Weißt du auch, daß ich diesen Ort nicht eher verlassen werde, als bis ich weiß, wo wir dich treffen werden? Sag mir einen Ort, der dir beliebt. Wir kommen!“

Pappermann wußte nicht, was er antworten sollte, darum erwiderte er:

„Ich reite mit dem jungen Adler; wohin, das weiß ich jetzt noch nicht.“

„Du wirst bei ihm bleiben?“

„Ja.“

„Wie lange?“

„Solange es ihm gefällt.“

„So bin ich zufrieden! Ich weiß, daß ich dich ganz bestimmt wiedersehen werde.“

Hierauf wendete sie sich zu meiner Frau und mir. Sie reichte auch uns beiden die Hand und sprach:

„Es wurde mir nicht gesagt, wer ihr seid; darum ist es verboten, zu fragen. Lebt wohl!“

Dann ritt sie davon, an den Ruinen vorüber, um nach den Büschen einzubiegen, hinter denen sie verschwand. Pappermann und der „junge Adler“ schauten hinter ihr drein, bis sie fort war; dann ging der Erstere ihr langsam, wie ein Träumender nach. Der junge Indianer blieb noch eine Weile an derselben Stelle stehen; dann wendete er sich mit einem Rucke um, als ob es ihm Anstrengung verursache, sich von dem Eindruck ihrer Persönlichkeit loszureißen. Wir beide aber stiegen nun auch von den Pferden, und ich machte mich darüber, die Spuren derer, welche hier gewesen waren, zu untersuchen. Das Herzle ging indessen an die Zubereitung des Morgenkaffees.

Früher hatten wir uns diesen Ritt natürlich ohne Kaffee und sonstige ähnliche Genüsse gedacht; aber da wir in Trinidad so ganz unerwartet zu Maultieren und einem sehr guten Zelt gekommen waren, so hatten wir uns vor unserer Abreise von dort mit einigen jener angenehmen und nützlichen Dinge versehen, welche dem sogenannten zivilisierten Menschen sogar im „Wilden Westen“ beinahe unentbehrlich sind. Daß hierzu auch der Kaffee gehörte, versteht sich ganz von selbst.

Ich ersah aus den Spuren, daß ungefähr vierzig Personen hier gewesen waren, unter ihnen nur zwei männliche, in denen ich die Führer vermutete. So etwas hätte früher nie stattfinden können; sie wären alle verloren gewesen. Allerdings waren sie lauter Indianerinnen und also, wenn auch nicht persönlich, so doch durch die Tradition mit den Eigenheiten und den Anforderungen der Wildnis vertraut.

Als Pappermann wiederkam, meldete er, daß Aschta genau nach Süd geritten sei, wohin auch alle anderen Spuren führten; unser Ziel aber lag westlich von hier. Dann fragte er, indem er sich zu uns niedersetzte:

„Ist das nicht ein Wunder, ein wahres Wunder? Genau wie damals, ganz genau? Und sie wissen es, daß der Schuß damals nicht mir gegolten hat! Und gesucht haben sie nach mir! Gesucht bis heutigen Tages! Diese guten, guten Menschen! Heute ist der größte Feiertag meines Lebens! Ja wahrlich, der größte Feiertag! Wenn es Winter und Dezember wäre, so würde ich sagen: Heut ist Weihnacht für mich, und der Herrgott hat beschert. Ja, der Herrgott selbst, denn kein Anderer kann so etwas geben, so ein Glück! So ein wirklich großes und wirklich wahres Glück!“

Hierauf wurde er still, sehr still. Denn je tiefer und reiner das Glück ist, desto weniger macht es Worte! Auch für mich hatte das Zusammentreffen mit dieser jungen, schönen Indianerin eine große Bedeutung, und zwar nicht nur eine rein äußerliche. Ich hatte von hier aus in die Zukunft, in die Ferne zu folgern und zu schließen. Besonders interessant mußten mir die zwei Perlensterne sein. Sie waren ein Erkennungszeichen. Der „junge Adler“ sagte nichts hierüber; so fragte ich also auch nicht. Ich wußte ja auch ohne Frage und Antwort, woran ich war. Es handelte sich hier ganz einfach um den großen Unterschied zwischen „Stamm“ und „Clan“ bei der roten Rasse.

Das ist ein Gegenstand von größter Wichtigkeit, obgleich es selbst ernsten Forschern noch nicht geläufig gewesen ist, ihm die Aufmerksamkeit zu widmen, die er ohne alle Frage verdient. Wie viele Menschen, besonders sogenannte Volks- oder gar Jugendschriftsteller, haben schon „lndianerbücher“ geschrieben, ohne von dem Außen- und Innenleben der amerikanischen Rasse auch nur die geringste, positive Kenntnis zu besitzen! Und das wird dann von Anderen, die noch weniger wissen, gelobt und warm empfohlen! Ich wurde schon von vielen, sogar von sehr vielen „lndianerschriftstellern“ besucht; aber es gab keinen, wirklich keinen Einzigen unter ihnen, der von dem Allerersten, was man da zu studieren hat, nämlich von den Clanverhältnissen, etwas wußte.

Wie in der Entwickelung der Menschheit im allgemeinen, so machen sich auch in der Entwickelung jeder einzelnen Rasse zwei einander grad entgegengesetzte Bestrebungen bemerkbar, nämlich der Zug der Zerklüftung und der Zug nach Vereinigung, oder sagen wir, der Zug nach Einheit und der Zug nach Vielheit. Die Zerklüftung beginnt ihren Weg bei dem, was man als Menschengeschlecht bezeichnet, geht über die Rasse, die Nation, das Volk, die Stadt, das Dorf immer weiter herab und hört erst beim abgelegenen Einödhof auf, dessen Besitzer sich nur bei gewissen Gelegenheiten darauf besinnt, daß er auch mit zur Menschheit gehört. Das ist der Weg des Patriotismus, der Vaterlands- und Heimatliebe, aber auch der Weg der nationalen Selbstüberhebung, der politischen Rücksichtslosigkeit. Der andere Weg ist dem direkt entgegengesetzt. Er führt zur Vereinigung aller Einzelnen durch einen einzigen, großen Gedanken zu einem einzigen, großen Volk. Welcher von diesen beiden Wegen der Weg zum wirklichen, zum wahren Glück ist, das hat die Menschheit noch bis heute nicht erkennen wollen, also muß sie es durch bittere Erfahrung kennen lernen.

Wie schmerzlich, ja, wie grausam diese Erfahrung ist, das zeigt sich bei keiner Rasse so deutlich wie bei der amerikanischen. Sie ist es, welche die Zerklüftung, die Zerspaltung am allerweitesten getrieben hat. Nirgends, selbst im fernsten, dunkelsten Orient nicht, ist die einst mächtige, imponierende Einheit in so kleine, winzige, ohnmächtige Brocken und Bröckchen zerrieben und zerkleinert worden wie bei den Indianern. Jeder dieser Brocken, jeder dieser vielen Stämme und jedes dieser unzähligen Stämmchen ist stolz auf sich selbst und stets bereit, aus lauter Selbstschätzung vollends zugrunde zu gehen. Diese Zersetzung hätte schon längst zur völligen Vernichtung geführt, wenn die großen Medizinmänner der Vergangenheit nicht bemüht gewesen wären, ihr entgegenzuarbeiten, und zwar in doppelter Weise, nämlich zunächst in theologischer und sodann in sozialer.

Der theologische Weg der Vereinigung lag in dem Gedanken, „Großer Geist“ oder „Großer, guter Manitou“. Die Forschung hat gezeigt und wird noch weiter zeigen, daß der echtblütige Indianer gläubiger Monotheist war und sich dabei glücklich fühlte, bis die zersetzende Vielgötterei sich von außen her tief in sein Inneres bohrte und den großen Niagarafall des Rassensturzes und der Rassen- und Sprachzerstäubung vorbereitete. Und der soziale Weg der Vereinigung wurde in dem Gedanken der Clans gegeben, durch welche die äußerlich zerspaltenen Stämme innerlich wieder verbunden und zusammengehalten werden sollten. Freilich darf man das Wort Clan hier nicht im englischen resp. schottländischen Sinn nehmen. Es wurde ein Clan der Wahrhaftigkeit, der Treue, der Wohltätigkeit, der Beredtsamkeit, der Ehrlichkeit gegründet. Wer sich in der Beredsamkeit üben wollte; wer sich vornahm, das ganze Leben hindurch wohltätig zu sein; wer sich stark genug fühlte, niemals eine Lüge zu sagen, niemals untreu oder unehrlich zu sein, der konnte dem betreffenden Clan beitreten und sich durch Wort und Handschlag verpflichten, das betreffende Gebot zu erfüllen und lebenslang zu halten. Wer es auch nur einmal übertrat, der wurde ausgestoßen und galt als ehrlos für immer. Der leichteren Unterscheidung wegen und um ein sichtbares Erkennungszeichen zu ermöglichen, nahm jeder Clan den Namen irgendeines Tieres an, dessen Bild als Merkmal diente. So habe ich bereits gesagt, daß der große Redner der Seneca, dessen Grab wir in Buffalo besuchten, zum Clan der Wölfe gehörte. Es gab einen Clan der Adler, der Geier,. der Hirsche, der Bären, der Schildkröten und so weiter.

In einen solchen Clan konnte ein jeder eintreten, wes Stammes er immer war. Selbst der Todfeind wurde angenommen und aus allen Kräften beschützt und unterstützt, wenn er die ihm auferlegte Bedingung treu und ehrlich erfüllte. So sehr zum Beispiel die Kiowas und die Navajos einander haßten und sich gegenseitig bis auf Blut und Tod verfolgten, sobald sie sich als Mitglieder eines Clan erkannten, war diese Feindschaft augenblicklich und für stets vergraben. Man kann sich denken, wie segensreich diese Clans wirkten! Leider, leider aber hörte das auf, als die „Bleichgesichter“ erschienen und ihnen gestattet wurde, auch beizutreten. Sie nützten die Clans nur für ihre persönlichen Zwecke aus und steckten die Vorteile ein, die ihnen daraus erwuchsen, ohne aber ihren Verpflichtungen nachzukommen. Dadurch büßten die Clans ihren guten Ruf, ihre moralischen Kredite ein und somit auch die großen, sozialen Wirkungen, auf welche hin sie von ihren Gründern berechnet waren. Es blieb der Zukunft vorbehalten, ob sie überhaupt wieder aufleben würden oder nicht.

Immer waren die Clans nach Tieren benannt, niemals aber nach einem Menschen. Wenigstens ist es mir nicht erinnerlich, von einem solchen Fall gehört zu haben. Vielmehr war ein solches Beispiel jetzt soeben zum ersten Mal an mich herangetreten: Ein Clan mit dem Namen Winnetou! Denn daß es sich um einen Clan handelte, verstand sich ganz von selbst, und das Erkennungszeichen für die Zugehörigen war der zwölfstrahlige Stern, den der „junge Adler“ und Aschta an ihren Gewändern trugen. Wann war dieser Clan gegründet? Vor wenigstens vier Jahren. Denn so alt war der Anzug, den der „junge Adler“ jetzt trug. Dieser junge Indianer war der Allererste, der in den neuen Clan aufgenommen wurde, und zwar von Tatellah-Satah, der also der Gründer dieser Winnetou-Vereinigung war, deren männliche Mitglieder sich als „Winnetou“ und die weiblichen sich als „Winnetah“ bezeichnen durften. Welchen höheren Zweck hatte dieser Clan? Und welche Verpflichtungen legte er seinen Mitgliedern auf? Ich fragte nicht, denn ich hoffte, es sehr bald zu erfahren. Daß seine Ziele eminent friedliche waren, konnte man schon aus der Stammesangehörigkeit der beiden Mitglieder ersehen, die ich jetzt kannte: ein Apatsche und eine Siou Ogallallah, also zwei Nationen angehörig, die sich unbedingt als Todfeinde zu betrachten hatten! – – –

Während des Kaffeetrinkens sagte uns Pappermann, daß wir heute Abend die Devils pulpit erreichen würden.

Er bat nur um eine Stunde Aufenthalt hier am Kanubisee, um sich da wieder einmal umsehen zu können. Dagegen hatten wir nichts. Wir hätten ihm sehr gern noch viel länger Zeit gegeben. Aber die Stunde war noch nicht vorüber, so kehrte er von seinem Rundgang schon zurück und sagte:

„Wollen aufbrechen, wenn es Euch recht ist! Und wenn ich noch länger hier herumkrieche, so finde ich doch mehr Bitterkeiten als Süßigkeiten, und das brauche ich mir alten Kerl doch wohl nicht anzutun!“

Recht hatte er. Auch dieser Kanubisee war schön, sehr schön, aber seine Wasser hatten für uns keinen frohen, sondern einen mehr als elegischen Schimmer, und so blieb er in unserer Erinnerung nur als der Ort einer kurzen Rast, auf welche neue Wanderung zu folgen hatte. Wir ritten in das Tal des Purgatorio hinab und folgten dort einem schmalen, kristallklaren Wasser, welches uns nach unserm Ziel zu führen hatte. Wir erreichten es, doch erst dann, als es bereits fast dunkel geworden war, so daß ich vorschlug, lieber heut noch außerhalb des Bereiches der „Teufelskanzel“ zu bleiben, weil wir vor diesem Ort gewarnt worden waren und wegen der Dunkelheit keine Zeit mehr hatten, ihn auf die Anwesenheit von feindlichen Indianern hin vorher zu untersuchen.

Well!“ sagte Pappermann. „So führe ich Euch nach einem Versteck, welches wohl kein Roter, und habe er noch so gute Augen, ausfindig machen wird. Ich fand es nur durch Zufall und glaube nicht, daß es jetzt außer mir einen Menschen gibt, der es kennt.“

„Das ist viel gesagt!“ bemerkte ich.

„Aber jedenfalls richtig!“ antwortete er. „Wir haben nur noch wenige Schritte zu reiten und dann einem kleinen Seitenwässerchen zu folgen, welches aus einem stillen, verborgenen Weiher quillt. Dieser Weiher ist nicht groß. Hohe Felsen, die man nicht ersteigen kann, umgeben ihn. Diese Felsen haben keine Lücke; nämlich so scheint es. Aber wenn man gerade durch den Weiher bis zur gegenüberliegenden Seite reitet, macht man die Bemerkung, daß es doch eine Seitenspalte gibt, die schief hindurchschneidet und nach dem eigentlichen Quell des Wassers führt, welches nicht im Weiher entspringt, sondern weiter drin, eben da, wo wir übernachten werden.“

„Ist die Lücke breit genug für unser Gepäck?“ erkundigte ich mich.

„Ja“, antwortete er. „Nur die Zeltstangen habe ich lang zu packen, anstatt quer.“

„Und wie tief ist der Weiher?“

„Höchstens einen Meter.“

„Damals!“

„Hm! Meint Ihr etwa, daß er tiefer geworden ist? Das habe ich meinem Leben noch nicht gehört. Stehende Wasser pflegen mit der Zeit seichter zu werden, aber doch nicht tiefer. Doch halt! Da sind wir am Seitenwässerchen! Werde hier also umpacken. Dann reiten wir nach dieser Seite zwischen die Felsen hinein.“

Wir halfen ihm, die Zeltstangen anders zu legen, und ließen ihn dann mit den Maultieren voran, um unser Führer zu sein. Es war grad noch soviel Tageslicht vorhanden, daß wir sehen konnten, wohin wir ritten. Wir kamen an den Weiher, der dunkel wie ein Rätsel erschien, ritten hindurch und sahen, drüben angekommen, daß es im Felsen allerdings eine von dichtem Grün maskierte Lücke gab, der wir seitwärts folgen konnten. Dann ging es noch eine Strecke am Wässerchen steil aufwärts, bis wir seinen Quellpunkt erreichten, der in einem großen, kreisförmigen Felsenloch lag, dessen Wände, wie es schien, sich senkrecht und unersteigbar in die Höhe reckten.

„So! Das ist der Ort!“ sagte Pappermann. „Da können wir hundert Jahre lang kampieren, ohne daß uns ein Mensch entdeckt.“

„Aber feucht, sehr feucht?“ fragte ich.

„Keineswegs! Die Feuchtigkeit fließt ja ab. übrigens haben wir Indianersommer, schon wochenlang ohne eine Spur von Regen.“

„Kann man da an den Wänden hinaufklettern?“

„Weiß nicht. Habe es damals nicht versucht. Bin niemals ein Kletterspecht gewesen.“

„Und kann jemand von da oben herunterschauen?“

„Da müßte er erst von hier hinauf. Von draußen bringt es Keiner fertig.“

„So bin ich beruhigt. Machen wir also erst ein Feuer, um sodann das Zelt aufzuschlagen!“

Beides war in Zeit von einer halben Stunde geschehen. Wir banden die Pferde und Maultiere nicht an, so daß sie sich bewegen konnten, wie sie wollten. Sie tranken sich erst tüchtig satt. Dann wälzten sie sich ebenso tüchtig im Moos, was sie gern tun, solange sie gesund in den Knochen und Gelenken sind. Und hierauf fanden sie so viel Blatt- und auch anderes Grün, daß wir getrost mehrere Tage hier bleiben konnten, ohne befürchten zu müssen, daß es ihnen an Futter mangele. Sie bedurften aber der Ruhe mehr als der Nahrung, denn der Ritt von dem Kanubisee bis hierher war doch weiter und anstrengender gewesen, als wir nach Pappermanns Worten vermutet hatten. Auch wir selbst fühlten uns ermüdet. Darum dauerte es nach dem Abendessen gar nicht lange, bis wir uns niederlegten. Und das war heut abend ganz anders als gestern. Heut schliefen wir sofort ein, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich nicht eher aufwachte, als bis Pappermann mich weckte.

„Mrs. Burton ist schon munter!“ entschuldigte er sich. „Sie hat schon heißes Wasser bestellt, um – – – hört Ihrs? Sie mahlt den Kaffee im Zelt, um Euch nicht aufzuwecken. Sagt Ihr ja nichts, daß ich es dennoch für richtig hielt, Euch einen Stoß zu versetzen! Der Mann sei doch immer Mann! Das ist er aber nicht, wenn er schläft!“

„So habt Ihr mich also nur um meiner Ambition willen geweckt?“ lachte ich.

„Yes! Old Shatterhand, und schlafen, wenn seine Frau schon munter ist! Das geht auf keinen Fall!“

Jetzt betrachtete ich mir die Oertlichkeit. Sie bot allerdings ein selten schönes Versteck. Es gab nirgends auch nur die geringste Spur, daß jemals ein Mensch an diesem abgelegenen Ort gewesen sei. Die Felsenwände waren überaus steil, aber nicht unersteigbar. Es gab Riesenbäume, die mehrere hundert Jahre alt waren und sich mit ihren Aesten und Zweigen so eng an das Gestein schmiegten, daß sie das Klettern erleichterten und unterstützten. Der „junge Adler“ hatte kaum seinen Kaffee zu sich genommen, so begann er den Versuch, in die Höhe zu kommen. Es gelang ihm ohne Schwierigkeit. Kaum war er oben angelangt, so ertönte sein lauter Ruf:

„Uff, uff! Ich sehe ein Wunder, ein Wunder!“

„Nicht so laut!“ warnte ich hinauf. „Wir wissen noch nicht, ob vielleicht doch Menschen in der Nähe sind!“

„Hier kann es keinen geben, der uns hört!“ antwortete er herab. „Da ist ringsum nichts als nur Luft!“

„So hoch! Und was liegt unten?“

„Devils pulpit!“

„Die Teufelskanzel? Wirklich?“

„Ja.“

„Das ist unmöglich, ganz unmöglich!“ widersprach Pappermann.

„Warum?“ fragte ich ihn.

„Weil ich es weiß. Und was Maksch Pappermann weiß, das weiß er ordentlich! Der Weg nach der Teufelskanzel führt tief nach links hinunter; wir aber sind rechts abgewichen. Und sie ist von allen Seiten von hohen, steilen Felsen umgeben, die kein Mensch erklimmen kann. Wie ist es da möglich, daß er sie sieht!“

„Er behauptet es aber!“

„Er irrt!“

„Ist es nicht auch möglich, daß Ihr Euch irrt?“

„Nein!“

„Daß der Weg von hier nach der Teufelskanzel Krümmungen macht, die Euch täuschen?“

„Es kann sich kein Mensch und kein Tier und kein Weg so sehr krümmen, daß er es fertigbringt, mich zu täuschen!“

Ich fragte den Indianer noch einmal, und er blieb bei seiner Behauptung, daß er die Devils pulpit sehe. Da auch er sie kannte, ergab das einen Widerspruch, der mich bestimmte, dem „jungen Adler“ zu folgen. Meine Frau ist keine üble Kletterin. Sie besucht Gebirgsgegenden sehr gern und zeigt sich da zuweilen kühner, als ich ihr erlauben darf. Sie kam mir nach. Doch Pappermann blieb sitzen.

„Bin mein Lebtag keine Gemse gewesen“, behauptete er, „und werde auch nun nicht erst eine werden. Ein ebener Weg, ein gutes Pferd und ein festgeschnallter Sattel; das ist es, was ich haben will. Steigt, so hoch ihr wollt; ich mache nicht mit!“

Als wir hinaufkamen, bot sich uns ein wunderbarer Anblick dar. Ich hatte die Teufelskanzel noch nie gesehen, war aber doch gleich beim ersten Blick überzeugt, daß sie es war, nichts Anderes. Das rief ich dem alten Westmann hinab. Da stand er denn doch auf und begann, sich langsam und sehr vorsichtig in die Höhe zu kraxeln. Es dauerte ziemlich lange, bis er uns erreichte.

„So! Da bin ich!“ sagte er. „Nun will ich einmal hinunterschauen, um zu sehen, welch ein unbegreiflicher Unsinn sich da – – –.“

Er hielt mitten im Satz inne, vergaß aber den Mund zuzumachen.

„Welchen Unsinn meint Ihr?“ fragte ich.

„Den Unsinn, daß, daß – – – Alle Teufel! Was ist mir da passiert!“

„Nun, ist es die Devils pulpit? Oder ist sie es nicht?“

„Sie ist es! O Pappermann, Maksch Pappermann, was bist du für ein Riesenschaf oder gar was für ein Kamel! Daran ist aber nur dieser unglückselige Name schuld! Denn nur, wer Pappermann heißt, kann sich eine so entsetzliche Blamage auf das Gewissen laden! Dieser Name, dieser Name! Der ist mein Unglück gewesen, solange ich lebe! Hätte mein Vater Müller oder Schulze oder Schmidt geheißen, meinetwegen auch Hanfstängel, Zuckerkant oder Pumpernickel, so wäre ich ebensogut ein Glückskind gewesen wie andere Leute auch. Aber Pappermann, Pappermann, das ist das Schrecklichste, was es gibt! Das hat mich verfolgt bis hierher! Und das wird mich auch noch weiter verfolgen, bis es nichts mehr an mir gibt, was überhaupt verfolgt werden kann!“

Er fühlte sich in hohem Grade unglücklich. Handelte es sich doch um seine Westmannsehre, die ihm über Alles ging. Eines derartigen Irrtums darf sich kein Berg-, Wald- und Savannenläufer schuldig machen, wenn er es nicht darauf ankommen lassen will, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Glücklicherweise aber war Niemand da, der Lust hatte, ihn bei diesem Fehler zu fassen, und als ich ihm versicherte, daß auch mir solche falschen Berechnungen schon wiederholt passiert seien, begann er, sich zu beruhigen.

Man denke sich ein plattes Dach, dessen steinernes Geländer aus schweren Felsenbrocken besteht. Dieses Dach ist mit Bäumen und dichtem Gebüsch besetzt, so daß man, wenn man da oben steht, von unten nicht gesehen werden kann. Tritt man an das Geländer heran und schaut hinab, so sieht man, daß die Felsenwand fast senkrecht in die Tiefe fällt. Auf diesem platten Dach befanden wir uns, und tief unter uns lag die Teufelskanzel.

Wer sich mit Geometrie beschäftigt hat, der weiß, was man unter einer Ellipse versteht. Weil aber nicht alle meine Leser Geometer sind, will ich mich hier nicht geometrisch, sondern als Laie ausdrucken, um leichter verstanden zu werden: Eine Ellipse ist ein Kreis, der so lang ausgezogen ist, daß er zu dem einen Mittelpunkt noch einen zweiten bekommen hat. Diese beiden Mittelpunkte werden auch Brennpunkte genannt. Wer einen Fischkessel in der Küche hat, der kennt die länglich runde Form einer solchen Ellipse. Und der Fischkessel mag zugleich auch ein Bild des länglich runden Bergkessels sein, zu dem sich unsere Felsenwand hinuntersenkte. Dieser Kessel bildete so genau eine Ellipse, als ob er nicht von der Natur, sondern von Menschenhand mitten in das gewaltige Kompakt der Bergmasse hineingebrochen worden sei. Wie ich dann später freilich sah, hatte die Natur allerdings zwar vorgearbeitet, die berechnende Kraft des Menschen aber nachgeholfen. Das war vor alten, ja uralten Zeiten geschehen und so lange her, daß die Felswände, welche erst ganz gewiß senkrecht und nackt gewesen waren, infolge der Verwitterung nun Risse, Sprünge, Ecken, Kanten, Höhlungen, Altane und andere Abweichungen von der lotrechten Linie zeigten, auf denen und in denen sich nach und nach ein kräftiger Baum- und Strauchwuchs nebst anderem Kräuter-, Stauden-, Gras- und Moosgrün angesammelt hatte. Auch der Boden des Kessels war mit grünender Vegetation bedeckt, doch machte ich in Beziehung auf diese Vegetation sofort zwei in die Augen fallende Beobachtungen. Nämlich es schien hier ein Pflanzenwuchs ursprünglich nicht beabsichtigt zu sein, denn es gab da einen vollständig sterilen Untergrund, und der mußte mit voller Berechnung hergeschafft worden sein, denn so weit das Auge reichte, gab es nur fruchtbares Land. Die Bäume, die da unten auf dem Grund des Kessels standen, hatten alle, so alt und so stark sie waren, keine Wipfel mehr. Und wo es noch welche gab, da waren sie vertrocknet. Das deutete darauf hin, daß sie sich nur von einer dünnen, angewehten Erdschicht nährten, mit den Wurzeln aber nicht in die Tiefe konnten oder dort keine Nahrung fanden. Und in der Tat, als ich später hinunterkam und nachschaute, fand ich, daß, so weit die Ellipse reichte, ihr ursprünglicher Boden so dicht, daß keine Pflanze einzudringen vermochte, mit starken Steinplatten belegt war, auf denen sich im Lauf der Zeit eine Schicht von Humuserde gebildet hatte, von welcher sich das später entstandene Baum- und Strauchwerk durch die Seitenwurzeln ernährte. Pfahlwurzeln gab es nicht. Daher die Verdorrung sämtlicher Wipfel!

Wozu einst diese Belegung des Bodens mit Platten? Das war die erste Frage, die ein aufmerksamer und vorsichtiger Beobachter hier zu beantworten hatte.

Die andere in die Augen fallende Beobachtung war die, daß ein Drittel dieser Vegetation vollständig unberührt zu sein schien, während man es den anderen beiden Dritteln gleich beim ersten Blick ansah, daß da Menschen verkehrt hatten, und zwar nicht allzu selten. Die Scheidelinie zwischen dem größeren, berührten Teil und dem kleineren, unberührten war sogar auffällig scharf gezogen. Es sah so aus, als ob ein strenges Verbot herrschte, dieses sehr dicht bewachsene Drittel der Ellipse zu betreten.

Weshalb und zu welchem Zweck diese Unterscheidung? Das war die zweite Frage, der man nachzuspüren hatte, wenn man den Anspruch erhob, für einen scharfen und zuverlässigen Beobachter zu gelten.

Und nun kommt die Hauptsache, die von allerhöchstem Interesse ist. Wenigstens war sie das für mich. Es gab nämlich auf dem sonst vollständig ebenen, ellipsenförmigen Boden des Felsenkessels zwei ziemlich bedeutende, künstlich hergestellte Erhöhungen, welche ganz das Aussehen hatten, als ob der Kessel einst in der Absicht hergestellt worden sei, ihn mit Wasser zu füllen und also eine Art von See zu bilden, aus dem die beiden Erhöhungen als Inseln hervorschauten. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich das zu- und abfließende Wasser so tief eingefressen, daß der Boden des Bassins erreicht und dieses einfach durch Auslaufen und späteres Versiegen des Wassers trocken geworden war.

Diese Beobachtung an sich hätte weiter nichts ergeben, als daß in uralter Zeit hier Menschen vorhanden gewesen seien, welche in Beziehung auf ihre Bauwerke und in Folge dessen auch anderweit bedeutend höher standen als die späteren Indianer, oder sagen wir richtiger, als die späteren Generationen. Aber diese beiden Erhöhungen – ich will dem Bild treu bleiben und sie Inseln nennen – hatten die höchst auffällige Eigentümlichkeit, daß sie in den zwei Brennpunkten der Ellipse lagen, und zwar ganz genau. Das konnte nicht Zufall, sondern das mußte Berechnung sein. Da entstand nun sofort die Frage: Welches war der Zweck dieser Berechnung, das Fazit dieses Exempels? Etwas Gewöhnliches, Alltägliches jedenfalls nicht. Ich dachte an die schwierigen, astronomischen Berechnungen, welche dem Bau der ägyptischen Pyramiden zu Grunde liegen, an die noch unaufgeklärten Geheimnisse der Teokalli und anderer Tempelwerke aus früherer Zeit, doch bin ich weder Fachmann noch Gelehrter und darf es unmöglich wagen, mich auf so schwierige, wissenschaftliche Spekulationen einzulassen. Aber ein Gedanke kam mir doch, wenngleich die Aufrichtigkeit mich zwingt, zu gestehen, daß er mir bedeutend kühner erschien, als ein einfacher Westmann, der nur die Absicht verfolgt, auf seine Sicherheit bedacht zu sein, sich gestatten darf. Aber er stellte sich wieder und immer wieder ein; er packte mich fester und fester und ließ mich nicht wieder los. Es war der Gedanke an jene im Altertum oft auch baulich behandelte Tatsache, daß man innerhalb einer gewissen geometrischen Figur an einem Punkt ganz deutlich das hört, was an einem anderen, entfernten Punkt leise gesprochen wird. Dieser Gedanke kam ohne mein Zutun, also ohne daß ich grübelte. Ich wies ihn ab. Aber er kehrte zurück, als der „junge Adler“ zu sprechen begann, und wollte seitdem nicht wieder weichen. Der Indianer deutete nämlich von da oben, wo wir standen, hinab in die Tiefe und sagte:

„Das ist die Kanzel. Wir stehen auf dem höchsten Teil der Wand, von der sie umschlossen wird. Es gibt zwei Kanzeln. Die eine, nämlich diese hier, ist den Bleichgesichtern bekannt; von der anderen aber wissen sie nichts. Die eine wird von ihnen die Kanzel des Teufels genannt – die andere würden sie wohl als die Kanzel des guten Manitou bezeichnen. Die roten Männer aber nennen diese hier Tscha Manitou und die andere Tscha Kehtikeh.“

„Welchen Punkt bezeichnet Ihr als Kanzel?“ fragte ich ihn. „Die längliche Runde dieses Felsenkessels erstreckt sich von Ost nach West. Es gibt eine Erhöhung im östlichen und eine im westlichen Teil. Welche von beiden ist die Kanzel?“

„Die im westlichen Teile“, antwortete er.

„So ist also die andere das Ohr?“

Er sah mich an und wußte nicht, was ich meinte. Da erklärte ich ihm:

„Von der Kanzel herab pflegt man doch zu sprechen. Und was der Redner spricht, soll gehört werden. Ihr aber erwähntet hier ein Ohr, welches hört. Ihr nanntet es Das Ohr Gottes. Wo liegt es?“

„Das weiß ich nicht. Jedenfalls ist derselbe Punkt gemeint, den die Weißen als Kanzel bezeichnen. Was ich hierüber weiß, das habe ich von Tatellah-Satah, meinem Lehrer, erfahren. An der einen Kanzel, nämlich an dieser hier, hört Gott, was der Teufel spricht, und verurteilt ihn zur Verdammnis. Und an der anderen Kanzel, welche den Weißen noch unbekannt ist, hört der Teufel, was Gott spricht, und wird dadurch von der Verdammnis erlöst.“

„Das ist ein tiefer, ein sehr tiefer Sinn, der jedenfalls hier irgendwo und irgendwie in ein äußeres Gewand gekleidet ist, nach dem ich suchen werde. Ihr seht doch, daß der östliche Teil des Kessels ein förmliches Pflanzendickicht bildet, während der westliche, größere Teil viel weniger bewachsen ist. Man scheint dort sogar zuweilen Holz niedergehauen zu haben, um Feuer zu machen.“

„Das tut man stets, wenn man zur Beratung hier ver sammelt ist.“

„Zur Beratung? Doch auch zur Jagd oder zu einem sonstigen Zwecke?“

„Nein. Dieser Ort ist jedem roten Mann heilig. Er ist nur für große, wichtige Beratungen bestimmt, die zwischen verschiedenen Nationen abgehalten werden. Nie wird man hier über unwichtige Dinge beraten! Und nie wird ein roter Mann diesen Ort betreten, ohne daß es eine große Zusammenkunft zweier oder mehrerer Nationen gilt!“

„Ah! – wirklich?“

„Ja,“ versicherte er. „Ich weiß das ganz genau! Und selbst bei großen Beratungen, wo viele, viele Krieger sich hier versammeln, wird es keiner von ihnen wagen, den östlichen Teil dieses Platzes zu betreten.“

„Warum?“

„Man sagt, da wohne der böse Geist, der Teufel, nach dem man die Kanzel benennt.“

„Höchst interessant, höchst sonderbar und höchst unklar! Was man sich von diesen beiden Kanzeln erzählt, ist jedenfalls viele hundert Jahre alt. Da läßt sich wohl denken, wie sehr man die Wahrheit vermischte. Glaubt Ihr daran?“

„Ich glaube an den Kern dieser Wahrheit.“

„Kennt Ihr ihn, diesen Kern?“

„Nein. Ich hoffe aber, ihn von Tatellah-Satah zu erfahren.“

„Es fragt sich, ob er selbst ihn kennt. Wenn er ihm bekannt wäre, hätte er, als er hier von dieser Kanzel sprach, sich anders ausgedrückt. Er hätte nicht Kanzel und Ohr als denselben Punkt bezeichnet. Glaubt auch Ihr, daß dort im östlichen Teil des Platzes sich der böse Geist aufhält, der Teufel?“

„Ich achte den Brauch meiner Väter, ohne zu fragen, ob er sich auf Wahrheit gründet oder nicht.“

„So werdet Ihr es also vermeiden, den heiligen Ort da unten zu betreten?“

„Wird Mr. Burton hinuntergehen?“

„Ja, ich gehe.“

„Mrs. Burton vielleicht auch?“

„Ja, ganz bestimmt auch sie.“

„So gehe ich sehr gern mit, wenn Beide es wünschen. Ich war vier Jahre lang bei den Bleichgesichtern und habe bei ihnen gelernt, die Seele eines Dinges vom Ding selbst zu unterscheiden. Die Seele ist mir heilig; ihr sichtbares Kleid aber verehre ich nicht. Doch ich achte es und würde es nur dann verletzen oder gar zerreißen, wenn ich Grund hätte, es für bös, also für schädlich zu halten.“

Wie dieser junge Indianer sprach! Wäre er mir nicht schon so sehr sympathisch gewesen, so wäre er es mir nun jetzt geworden. Jetzt fragte Pappermann, der sich bisher still verhalten hatte:

„Ich höre, Ihr wollt da hinunter?“

„Natürlich! Die Devils pulpit ist doch unser Ziel!“ antwortete ich.

„Wann?“

„Sofort!“

„So müssen wir satteln.“

„Ist nicht nötig. Wir laufen.“

„Oho!“ rief er verwundert aus. „Glaubt Ihr, daß Maksch Pappermann läuft, wenn er ein Pferd oder ein Maultier am Zügel hat?“

„Das glaube ich freilich nicht. Aber es hat Euch auch niemand zugemutet, zu laufen. Ihr bleibt nämlich hier.“

„Ich – –? Bleibe – –? Hier – – –?“ fragte er erstaunt.

„Ja.“

„Bin ich etwa nicht wert, mitgenommen zu werden?“

„Redet keinen Unsinn! Ich brauche Euch hier oben notwendiger als da unten. Wir wissen, daß die Feinde kommen. Ja, wir wurden extra gewarnt. Aber leider wissen wir keine bestimmte Zeit. Jeder Augenblick kann sie uns bringen. Sie können sich grad dann einstellen, wenn wir da unten sind und sie nicht kommen sehen. Grad darum beabsichtige ich ja, zu laufen, nicht zu reiten. Pferde machen deutlichere Spuren als Menschen. Und es könnte sich ereignen, daß wir wohl ganz glücklich entkommen könnten, uns aber, um dann auch sie zu retten, bloßstellen und in Gefahr begeben mußten – – –“

„Ah! Errate, errate!“ unterbrach er mich.

„Nun, was erratet Ihr?“

„Daß ich hier oben bleiben soll, um Wache zu halten, um aufzupassen?“

„Allerdings!“

„So ist das etwas anderes! Ich tue es gern und bitte, mich zu unterweisen.“

„Das ist sehr schnell geschehen. Wir wissen, daß die Sioux und die Utahs kommen werden. Die Ersteren sind von Norden, die Letzteren von Westen her zu erwarten. Für beide Fälle liegt der Talkessel so, daß sie nicht von der Seite kommen können, von der wir gestern kamen, sondern von der entgegengesetzten. Und diese Seite liegt hier so deutlich und so ausführlich vor Euren Augen, daß Ihr die Roten schon lange, ehe sie kommen, bestimmt entdecken müßt. Da gebt Ihr uns ein Zeichen.“

„Was für eins?“

„Einen langen, scharfen Pfiff.“

„Etwa so?“

Er steckte den gekrümmten Zeigefinger in den Mund und ließ eine Probe hören.

„ja, das genagt.“

„Schön! Aber wie steht es mit dem Weg hinunter zur Kanzel? Ihrseid noch nicht unten gewesen.“

„Ist auch nicht nötig. Der junge Adler kennt ihn ja. Und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, glaubt Ihr doch nicht etwa, daß ich mich verlaufen würde, nachdem ich die Devils pulpit von hier aus so deutlich vor mir liegen sah. Kommt!“

Wir stiegen wieder zum Lager hinab; nur Pappermann allein blieb oben. Ich nahm den zerlegten Henrystutzen aus dem Koffer und schraubte ihn zusammen.

„Willst du schießen?“ fragte das Herzle.

„Ängstige dich nicht. ich denke nur an Wild,“ beruhigte ich sie. „Der junge Adler wird sein Gewehr auch mitnehmen.“

Sie winkte verstohlen nach ihm hin. Mein Blick folgte dieser Richtung ebenso verstohlen. Ich sah, was sie meinte. Es war rührend, mit welch einer andächtigen Spannung er den Stutzen betrachtete und jeden Griff beobachtete, den ich tat, indem ich ihn lud.

„Uff!“ sagte er. „Das ist er! Das also ist er! Wie oft hörte ich von ihm sprechen! Darf ich ihn einmal berühren?“

„Hier ist er!“

Er nahm ihn in die Hand, doch ohne sich zu erlauben, ihn untersuchen zu wollen. Dann drückte er ihn wie in einer plötzlichen Aufwallung an sich und sagte:

„Wie oft wurde Winnetou durch ihn gerettet, wie oft! Ein einziges, ein einziges Gewehr!“

Bei diesen Worten gab er mir den Stutzen zurück. Ich nahm ihn und antwortete:

„So einzig, wie Ihr denkt, ist er längst nicht mehr. Ja, man hat mich ausgelacht, wenn ich von fünfundzwanzig Schüssen sprach. Es hat sogar kluge, sehr kluge Menschen gegeben, welche mich dieses Gewehres wegen einen Lügner und Schwindler nannten, obgleich sie von Handfeuerwaffen und vom Schießen so wenig verstanden, daß es mich geradezu erbarmte. Nun aber ist es schon lange her, daß ich nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar übertroffen worden bin. In Italien erfand Major Cei-Rigotti ein fünfundzwanzigschüssiges Armeegewehr, und dem englischen Kriegsminister wurde sogar ein achtundzwanzigschüssiges, welches 3100 Meter weit trägt, von einem schottischen Erfinder vorgelegt. übrigens wird dieser Stutzen zu seiner Zeit genau denselben Weg gehen, den jetzt Winnetous Silberbüchse geht.“

„Habt Ihr auch diese mit?“ fragte er, indem seine Augen leuchteten.

„Ja.“

„Darf ich sie sehen?“

„Später. Jetzt müssen wir jeden Augenblick für die Untersuchung der Devils pulpit sparen, denn wenn die Feinde angekommen sind, ist es zu spät dazu. Verlieren wir keine Zeit.“

Als ich das sagte, hörten wir über uns ein Lachen. Pappermann war es. Er kam herabgestiegen. Er hatte uns schon fast erreicht; da sagte er:

„Ja, oben bleiben soll ich! Und laufen wollen diese drei klugen Leute! Werden aber doch reiten müssen! Und werden mich dazu brauchen, sehr, sogar sehr.“

Indem er das sagte, fiel mir ein, wie recht er hatte. Das Herzle aber fragte:

„Reiten? Und Euch dabei auch brauchen? Gewiß nichts Wir gehen!“

„Nein, Ihr reitet!“ lachte er fröhlich. „Werdet mir schon einmal gehorchen müssen, ganz gleich, ob Ihr wollt oder nicht! Oder will Mrs. Burton vielleicht nasse Füße haben, einen Schnupfen, einen Husten, einen Katarrh und andere schöne Dinge? Das Niesen gar nicht gerechnet!“

Das war allerdings sehr richtig. Ein Westmann fragt freilich nicht danach, ob er feucht wird oder nicht, aber wenn er es vermeiden kann, so ist er einverstanden. Wir setzten uns also alle auf und ritten hinaus, über den Weiher hinüber. Dann schaffte Pappermann die Pferde wieder zurück. Wir aber folgten dem schmalen Wässerchen abwärts, bis wir die Stelle erreichten, an welcher wir gestern von der Richtung nach der Teufelskanzel abgewichen waren. Von da an hatte der größere Bach unser Führer zu sein, bis er allzu mutig wurde und sich in verschiedenen Sprüngen und Kaskaden direkt in die Tiefe stürzte. Das konnten wir nicht mitmachen. Wir stiegen also langsam und in bequemen Schlangenwindungen hinunter und machten dabei die Bemerkung, daß wir da nicht der geraden Richtung folgen konnten, sondern einen ganz ansehnlichen Bogen schlagen mußten, was Pappermann aber nicht berechnet hatte und darum zu der irrigen Ansicht gekommen war, daß das, was der „junge Adler“ sah, nicht die Teufelskanzel sein könne.

Unten in der Tiefe angekommen, sahen wir zunächst die schmale Spalte, welche das Wasser in uralter Zeit fast senkrecht in den Felsen gefressen hatte. Es sah fast aus, wie mit einer riesigen Säge hineingeschnitten. Ganz dasselbe hatte auch uns gegenüber am Ausgang des Kessels stattgefunden. Es war also erwiesen, daß der letztere einen halb natürlichen, halb künstlichen See gebildet hatte und später, als der Wasserabfluß seinen Grund erreichte, vertrocknet war. Welchen Zweck hatten die beiden Inseln gehabt? Etwa den, überhaupt nur Inseln zu sein? Das wollte mir nicht einleuchten. Ebenso wichtig war mir die Frage: Wurde dieser Zweck mit Hilfe des Wassers erreicht, so daß nun jetzt, wo es kein Wasser mehr gab, auch er nicht mehr nachgewiesen werden konnte? Der Bach war freilich noch da. Er floß auch noch immer lang durch den ganzen Kessel. Aber er hatte die Steinplatten nicht durchdringen und sich eine tiefere Rinne bohren können, sondern sie bildeten seinen Grund, auf dem er sich durch angeschwemmtes Geröll seine eigenen Ufer gebaut und befestigt hatte. Wir wurden von ihm zunächst in den östlichen, dichter bewachsenen Teil des Kessels geführt, verweilten uns da aber nicht, sondern hoben ihn uns für später auf, weil es galt, zunächst den westlichen Teil des Terrains kennenzulernen, weil von dieser Seite die Roten zu erwarten waren. Wir mußten also vor allen Dingen dort fertig sein, bevor sie kamen.

In diesem westlichen Teil gab es einige Stellen, an denen unter der aufgewühlten Erde die Steinplatten hervorschauten. Die Bäume, die es da gab, waren nicht hoch, und die Büsche nicht dicht. Sie hatten nur allzuoft das Material zu Lagerfeuern liefern müssen. Die zwischen ihnen liegenden, zahlreichen lichten Stellen waren so groß, daß Hunderte von Lagernden Platz finden konnten, ohne einander zu beengen. Die hier befindliche Insel war höher als der höchste Baum; was aber nicht viel sagen will, weil die Bäume ja keine bedeutende Höhe besaßen. Sie war nicht mit Grün bewachsen, sondern vollständig kahl. Eine Reihe von Stufen führte hinauf. Oben gab es in der Mitte einen hohen, steinernen Sessel und rund um ihn einen Kreis von niedrigeren Sitzen. Das war die „Teufelskanzel“, auf welcher die Häuptlinge zu beraten und das Ergebnis dann durch den Sprecher dem unten versammelten Publikum zu verkünden hatten.

Wir stiegen hinauf. Es war nicht das Geringste zu sehen, was uns als beachtenswert erschienen wäre. Natürlich visierte ich von hier aus, doch ohne Etwas davon zu sagen, die im östlichen Teil liegende andere Insel. Sie war genau ebenso hoch wie diese hier, doch umfangreicher und außerdem dicht bewachsen. Auch bis zu ihrer Oberfläche reichte keiner der Bäume herauf, und wenn es sich wirklich, wie ich mehr und mehr vermutete, um ein akustisches Geheimnis handelte, so gab es auf unserer jetzigen Höhe rundum keinen Gegenstand, durch den die Schallwellen hätten aufgefangen oder unterbrochen werden können. Hierauf stiegen wir wieder hinab. Wir waren mit diesem Teil des Kessels fertig und schauten einmal zur Höhe empor, ob es wohl möglich sei, unseren Pappermann zu sehen. Jedenfalls beobachtete er uns; aber da er wahrscheinlich so klug war, sich nicht ganz vor an die Brüstung zu wagen, konnten wir ihn nicht entdecken.

Nun begaben wir uns nach dem anderen, dem dichter bewachsenen Teil der Ellipse. Ich steuerte da direkt auf die zweite Insel zu, hemmte aber gar bald meinen eiligen Schritt, denn ich stieß auf Spuren, doch glücklicherweise auf solche, die man gern, sehr gern zu sehen pflegt. Auch dem „jungen Adler“ fielen sie auf der Stelle auf. Es sah fast so aus, als ob Kinder wiederholt durch die Him- und Brombeersträucher gebrochen seien. Wir waren zunächst still, aber als wir uns einmal rund um die Insel geschlichen hatten und nun wußten, woran wir waren, fragte ich:

„Herzle, hast du Appetit auf Bärenschinken oder Bärentatzen?“

„Mein Schreck!“ antwortete sie schnell und sogleich erregt. „Gibt es etwa Bären hier?“

„Ja.“

„Wohl gar Grizzlies?“

„Nein. So schlimm ist es nicht. Es ist ein ganz niederträchtig unschädlicher, schwarzer Bär, der auf dem linken Hinterbein hinkt. Er scheint einmal verwundet worden zu sein und hat sich also die Gefährlichkeit abgewöhnen müssen. Ich vermute in ihm einen leidenschaftlichen Vegetarier, der sich nicht die geringste Mühe geben wird, dir als Menschenfresser zu erscheinen. Er steckt hier droben auf der Insel.“

„Da oben?“ Sie schaute empor und fügte sofort hinzu: „Du hast Recht! Ich sehe ihn! Da guckt er herunter! Da, da!“

Sie zeigte mit der Hand hinauf. Da hob der „junge Adler“ auch schon sein Gewehr.

„Schießt nicht; schießt nicht!“ bat sie. „Er macht ein gar zu liebes, albernes Gesicht!“

Aber ihr Wunsch kam zu spät. Der Schuß krachte. Die Kugel war in das Auge gezielt und drang direkt in das Gehirn. Der Bär hatte hart am Rand der Insel gelegen und, als er uns sah, eine Bewegung gemacht sich aufzurichten. Nun sank er wieder nieder, wälzte sich unter der Wirkung des Schusses einmal nach vorn und kam dann heruntergerutscht, um tot vor unseren Füßen liegenzubleiben.

„Wie schade, wie schade!“ meinte das Herzle. „Wir konnten ihn leben lassen!“

„Zu seiner eigenen Qual?“ fragte ich, indem ich ihn untersuchte. „Schau her! Er war nicht verwundet, sondern er hatte das Hinterbein gebrochen, und da ihn keine Universitätsklinik aufnehmen wollte, so schleppte er es hinterher, bis ihn unsere Kugel erlöste.“

„Aber gebrochene Beine esse ich nicht!“ erklärte sie energisch.

„Ich auch nicht!“ stimmte ich ihr bei. „Sie müssen unbedingt erst eingerichtet und dann verbunden werden, natürlich in Gips. Hierauf spickt und bratet man sie, und dann werden sie gegessen!“

„Du bist ein lasterhafter Mensch!“ bestrafte sie mich, halb lachend und halb ernst. „Was wird nun mit dem Bär? Ich trage ihn nicht hinauf, wo wir wohnen.“

„So wird er von unserem Maksch geholt! Er ist über vier Jahre alt und wiegt wohl einige Zentner, aber wir haben ja Maultiere, ihn zu tragen. Wir müssen Alles fortschaffen, dürfen nichts von ihm hier lassen, der Indianer wegen, die wir erwarten. Jetzt ziehen wir ihm den Rock aus.“

Das ging sehr schnell. Der „junge Adler“ half und zeigte sich als geschickt und sauber. Als wir das Wild dann wieder in sein eigenes Fell gewickelt hatten, setzten wir unsere unterbrochenen Nachforschungen fort. Auch hier führten Stufen hinauf, die aber von Ranken fast unwegsam gemacht worden waren. Zu beiden Seiten dieser Stufen gab es je eine große Steintafel mit ziemlich wohlerhaltenen Meißelarbeiten. Diese Tafeln waren jedenfalls erst dann angebracht worden, als das Bassin kein Wasser mehr hatte. Sie enthielten Abbildungen der Insel. Auf der ersten Tafel sahen wir eine männliche Figur, welche hinaufsteigen wollte. Auf der zweiten erschien oben ein schreckliches Ungetüm, welches diesen Kühnen verschlang, noch ehe er hinaufgelangt war. Also eine Warnung, die Insel zu betreten! Warum das? Es schien hier also doch etwas vorhanden gewesen zu sein, was Niemand wissen durfte! Wir kletterten hinauf.

Oben angekommen, sahen wir, vom Gebüsch vollständig überwuchert, ein kleines, niedriges Gebäude, ungefähr einer Feldwächterhütte ähnlich, aber aus Steinplatten bestehend, sowohl die Wände als auch das Dach. Gleich daneben hatte sich der Bär sein Lager hergerichtet gehabt. Drinnen hätte er es wohl bequemer gehabt, aber er hatte nicht hineingekonnt, denn die Tür war zu. Sie ging in einer steinernen Standangel, die in den Platten selbst angebracht war. Wir öffneten. Die Hütte war leer, vollständig leer. Es konnten vier Personen da sitzen, mehr aber nicht. Für wen war dieses Häuschen bestimmt gewesen? Etwa für den Lauscher? Er saß hier versteckt und ungesehen. Auf der anderen Insel aber gab es weder ein solches Häuschen, noch verbergende Büsche. Er konnte also alles sehen; die aber, die er beobachtete, sahen ihn nicht.,

Eine weitere Entdeckung war auch hier oben nicht zu machen, und zwar aus dem sehr triftigen Grund, weil es überhaupt weiter nichts gab. Wenn das Geheimnis, nach dem ich suchte, wirklich vorhanden war, so fußte es ganz gewiß nicht auf scharfsinnigen, raffinierten Komplikationen, sondern auf der außerordentlich schlichten Anwendung eines höchst einfachen Naturgesetzes. Ich war im höchsten Grad gespannt, hielt aber meine Gedanken jetzt noch geheim. Doch zögerte ich nicht, die entscheidende Probe zu machen. Ich bat meine Frau, mit dem „jungen Adler“ nach der anderen Insel zurückzukehren und sich dort auf den großen Stuhl der Häuptlinge zu setzen.

„Wozu?“ fragte sie.

„Es gibt eine Überraschung, welche ich dir bereiten möchte.“

„Eine gute?“

„Ja, eine gute. Wenn es gelingt, wirst du dich freuen! Oder willst du dich lieber schlimm überraschen lassen? Das kann ich auch!“

„Nein! Lieber gut! Aber, muß es denn sein?“

„Ja! Ganz unbedingt!“

„Du bist seit einiger Zeit so außerordentlich geheimnisvoll! Hoffentlich ist das nur vorübergehend! Ich werde gehorchen.“

Sie entfernte sich mit dem Apatschen. Ich trat an den Rand der Insel und schaute ihnen nach. Ich sah sie beide über den Platz gehen, indem sie miteinander sprachen, bis an die „Kanzel des Teufels“. Sie stiegen hinauf. ich muß sagen, daß ich mich in großer, sehr großer Spannung befand. Ich lauschte.

Da erklang, nicht vor mir, also von da her, wohin ich schaute, sondern hinter mir die muntere Stimme meiner Frau:

„Er ruht nicht eher! Er wird es durchsetzen, hinter diese Ohr– und Kanzel-Sache zu kommen! Ich kenne ihn!“

Sie standen jetzt beide oben auf der Insel. Ich hatte das, was meine Frau sagte, erst von dem Augenblicke an gehört, an dem sie auf der Höhe der Kanzel erschienen waren. Ich sah sie stehen, aber nicht deutlich. Die Gesichter konnte ich nicht erkennen; dazu war die Entfernung zu groß. Auch die Arm- und Handbewegungen waren für mich unsichtbar. Es trat nach dem letzten Wort eine Pause ein; dann hörte ich das Herzle wieder:

„Nein; ich habe keine Ahnung. Er hat ja noch keine Zeit gehabt, es mir zu sagen oder gar zu erklären.“

Aus diesen Worten war zu schließen, daß der Apatsche auch Etwas gesagt hatte, was meinem Ohr aber entgangen war. Wahrscheinlich stand ich falsch, nämlich so, daß mich die von seinem Munde ausgehenden Schallwellen nicht treffen konnten. Meine Frau war am Rand ihrer Insel stehengeblieben. So stand auch ich. Der „junge Adler“ aber stand mehrere Schritte von ihr entfernt in der Mitte. Darum verließ auch ich den Rand und ging nach der Mitte zu. Die lag hier bei mir allerdings grad da, wo das Häuschen stand, also tief im Gesträuch, und es fragte sich also, ob dieses Gebüsch die Schallwellen nicht auffangen und unhörbar machen werde. Das geschah aber nicht. Denn kaum hatte ich das Häuschen erreicht, so hörte ich meine Frau viel deutlicher als vorher:

„Leider habe ich noch keinen gebraten. Ich muß mich da also ganz auf Euch verlassen. Sind die Tatzen wirklich das Beste? So delikat?“

Ganz ebenso deutlich hörte ich hierauf den jungen Apatschen antworten:

„Ohne allen Zweifel! Es gibt überhaupt nichts Delikateres!“

„Und müssen sie wirklich vorher solange liegen, bis sie Würmer bekommen?“

„Eigentlich, ja.“

„Pfui!“

„Warum pfui? Man entfernt die Würmer. Man ißt sie doch nicht mit!“

„Aber sie waren doch da! Das ekelt!“

„So wartet man nicht so lange!“

Da machte ich mir den Spaß, mit lauter Stimme dazwischen zu rufen:

„Auf keinen Fall! Man hat unbedingt zu warten, bis die Würmer da sind! Dann werden die Tatzen gebraten; die Würmer aber verfüttert man an die Rotkehlchen und Nachtigallen!“

Gleich sofort hörte ich das Herzle lachend sagen:

„Das ist mein Mann, der Schalk! Er ist uns nachgeschlichen. Wo steckt er denn?“

Ich vermutete, daß sie sich nach mir umschaute. Sehen konnte ich sie nicht mehr. Darum rief ich:

„Hier bin ich – hier!“

„Wo denn?“ fragte sie.

„Hier oben! Bei Maksch Pappermann!“

„Scherz! Sag es ernst!“

„Nun gut: Ich sitze da auf dem nächsten Baum!“

„Nichts als Allotria! Nimm doch Verstand an, und sprich vernünftig!“

„Ganz wie du willst! Der junge Adler mag in seine linke Westentasche greifen. Da stecke ich!“

„Uff, uff!“ rief der Genannte. „Jetzt weiß ich es, jetzt, jetzt!“

„Was?“ fragte sie.

„Er ist gar nicht da, gar nicht hier! Seine Stimme klingt bald von oben, bald von unten, bald von rechts und bald von links. Er steht noch da, wo wir ihn verlassen haben; aber er hat die Fähigkeit entdeckt, uns seine Stimme bis hierher zuzusenden!“

„Sollte das wirklich sein?“

„Gewiß!“

„Dann wäre das wohl die Überraschung, von welcher er sprach?“

„Sehr wahrscheinlich. Ihr sagtet soeben, daß er nicht eher ruhen werde, als bis er hinter diese Ohr– und Kanzel-Sache gekommen sei. Nun kann er ruhen. Er hat es schon entdeckt!“

Da sprach ich hinein:

„Er hat Recht. Ich ruhe!“

„Wo?“ fragte sie.

„Hier auf meiner Insel. Ich stehe vor dem Häuschen.“

„Wirklich? Oder foppst du noch immer?“

„Nein. Jetzt bin ich ernst. Ich habe Bildung angenommen. Ich stehe wirklich hier am Inselhäuschen und höre euch ebenso gut, wie ihr mich hört. Das ahnte ich. Ich werde euch den Sachverhalt erklären. Ich schickte euch nach der andern Insel, um die Probe auf meine Vermutung zu machen. Sie ist gelungen. Sie stellt mich außerordentlich zufrieden, wirklich außerordentlich!“

„Wenn das so ist, wie du sagst, so gleicht es fast einem Wunder!“ rief sie aus.

„Und ist doch ganz und gar kein Wunder, sondern nur die kluge, sorgfältige Anwendung eines einfachen Naturgesetzes.“

„Da können wir doch von da aus, wo du jetzt bist, die Verhandlungen der Indianer belauschen!“

„ja! Vom Anfang bis zum Ende! In aller Gemächlichkeit und Sicherheit! Denke dir!“

„Horst du mich denn wirklich ganz deutlich?“

„Genauso, als ob du hier bei mir stündest!“

„Ich dich ebenso!“

„Schön! Aber machen wir trotzdem einmal eine Probe auf die Stärke oder Schwäche des Tones und auf den Punkt, auf dem man stehen muß, um ja kein Wort zu verfehlen!“

Auch diese Probe gelang sehr gut. Nur was geflüstert wurde, war nicht zu verstehen; es klang wie ein Hauch, der keine Worte hat. Und wenn man laut rief, so rollte es fast wie Donner. Man konnte fast darüber erschrecken. Dabei ging die Deutlichkeit um einen Teil verloren, doch nur um einen sehr geringen. Aber Alles, was zwischen diesem Flüstern und diesem Donnern lag, klang genauso, als ob man sich nicht an zwei so entfernten Punkten, sondern an einem und demselben Ort befände.

Schließlich machte das vorsichtige und stets sichergehende Herzle den Vorschlag, unsere beiden Positionen einmal zu vertauschen.

„Du kommst hierher nach meiner Insel, und ich komme nach der deinen,“ sagte sie. „Unterwegs treffen wir einander. Du aber legst irgend Etwas, was ich dir jetzt sage, in das Häuschen hinein, damit ich mich überzeuge, daß du dich jetzt wirklich dort befindest.“

„So glaubst du jetzt immer noch, ich scherze?“

„Nein, denn hier bei uns bist du nicht, auch nicht in unserer Nähe. Wir würden dich sehen. Aber ich verstehe von Eurer Akustik und Euren Naturgesetzen so wenig, daß ich nur meinen Augen trauen kann, nicht aber der Wissenschaft oder gar deinem Schalk im Nacken!“

„So sag, was soll ich herlegen? Meine Uhr, mein Messer?“

„Nein, sondern etwas Poetisches!“

„Nun, was?“

„Einen Liebesbrief!“

„Oho! An wen?“

„An mich natürlich. Es ist ja keine Andere da. Nimm also ein Blatt aus deinem Notizbuch, und schreibe darauf, was ich dir jetzt diktiere!“

„Gut! Das Blatt ist da, der Bleistift auch. Nun sprich!“

Sie diktierte Folgendes:

„Mein teures Herzle! ich liebe Dich und bleibe Dir treu bis in den Tod. Zu Deinem nächsten Geburtstag bekommst Du fünfzig Mark für das Radebeuler Krankenhaus. Ich halte Wort und unterschreibe es mit meinem eigenen Namen!“

„Nun unterschreib aber auch!“ fügte sie hinzu.

„.Ist hiermit geschehen!“ meldete ich.

„So komm!“

Ich legte den Zettel in das Häuschen, stieg von meiner Insel hinunter und ging nach der ihrigen. Unterwegs trafen wir einander. Sie wollte mir wegen der fünfzig Mark einen triumphierenden Blick zuwerfen, brachte es aber nicht fertig. Sie reichte mir vielmehr die Hand, um sich zu bedanken, und ging dann mit dem „junger Adler“ weiter. ich beeilte mich, schnell nach der anderen Insel zu kommen. Als dies geschehen war und ich dann oben stand, verhielt ich mich sehr still und lauschte. Da hörte ich sie kommen. Sie sprachen miteinander. Klärchen ging sofort nach dem Häuschen. Ich hörte sie sagen:

„Da liegt das Blatt! Wirklich, wirklich!“ Sie las es und fuhr dann fort: „Genauso, wie ich es diktierte! Es kann also kein Zweifel mehr sein – – –“

„O doch!“ unterbrach ich sie schnell.

„Ach, du bist auch schon dort?“ fragte sie.

„Ja.“

„Und zweifelst?“

„Ganz bedeutend. Ich muß auch eine Probe machen, um mich zu überzeugen!“

„Welche Probe?“

„Du hast doch wohl auch deinen Bleistift bei dir?“

„Ja.“

„So nimm mein Blatt, und schreibe auf die andere Seite, was ich dir jetzt diktiere!“

„Schön! Ich habe das Blatt und den Stift. Es kann beginnen!“

Ich diktierte:

„Die gehorsamst Unterzeichnete gesteht hiermit vor der Staatsanwaltschaft des Königlich Sächsischen Landgerichtes zu Dresden reumütig ein, daß sie sich auf der Devils pulpit des amerikanischen Staates Colorado einer raffinierten Erpressung von 50 Mark, sage und schreibe fünfzig Mark, schuldig gemacht hat und hierfür – – –“

„Halt, halt! Nicht weiter!“ fiel mir ihre Stimme in das Wort. „Ich habe meine Sünden nur dir einzugestehen, nicht aber der Staatsanwaltschaft, die ich für Alles, was auf der Teufelskanzel geschieht, für völlig inkompetent erkläre. Deine fünfzig Mark gehören von jetzt an meinen Kranken; dabei hat es zu bleiben! Wenn es noch weiterer Proben bedarf, so mache andere, aber nicht solche!“

„Ich verzichte!“

„So komm, und bitte mir es ab! Was mich betrifft, so bedarf deine Entdeckung für mich keiner weiteren Beweise.“

„So gehen wir jetzt, um nach unserem Lager zurückzukehren. Ich komme nicht erst zu Euch, sondern wir treffen uns am Wasser, draußen vor dem Kessel.“

Als ich dort ankam, waren sie noch nicht da. Es dauerte noch einige Zeit, ehe sie sich einstellten.

„Wir mußten dich warten lassen,“ entschuldigte sich meine Frau. „Es galt doch, es dir so bequem wie möglich zu machen.“

„Was?“

„Deinen Lauscherposten, das Häuschen, in dem du dich doch wohl stundenlang oder wohl gar noch länger aufzuhalten haben wirst. Es mußte gereinigt werden. Dann haben wir trockenes Laub hineingeschafft, so viel, daß du es dir so behaglich machen kannst, wie die Verhältnisse es gestatten. Steigen wir jetzt nach oben?“

„Ja. Aber nur wir zwei. Der junge Adler kann hier bleiben und auf Pappermann warten, der den Bär zu holen hat. Das Tier ist zu schwer für einen; es gehören Zwei dazu.“

Der Apatsche war einverstanden. Er legte sich in das Moos, um auf den alten Westmann zu warten; wir beiden Andern aber machten uns auf den Weg nach dem Lagerplatz hinauf.

Dort angekommen, erfuhren wir, daß Pappermann uns vom Anfang bis zum Ende beobachtet hatte. Auch den Schuß hatte er gehört und sich gleich gedacht, daß er irgendeinem Wild gegolten habe. Aber was für ein Wild das sei, das wußte er nicht. Nun freute er sich darüber, daß es ein Bär gewesen war, und machte sich schleunigst mit zwei Maultieren auf, um ihn zu holen.

Da es der Sioux und der Utahs wegen galt, wachsam zu sein und der bisherige Wächter sich entfernt hatte, so überzeugte ich mich zunächst, daß es den Pferden an nichts mangelte, und dann kletterten wir nach unserem hochgelegenen Lauscherposten hinauf. Von da oben aus hatten wir die Ellipse der Devils pulpit so deutlich und so instruktiv unter uns liegen, daß es mir nicht schwer wurde, meiner Frau geometrisch nachzuweisen und zu erklären, in welcher Weise es zustande kam, daß man an je einem Brennpunkt Alles, was an dem anderen gesprochen wurde, so deutlich hören konnte. Als dann der Bär gebracht wurde, übernahm der „junge Adler“ die Wache hier oben, und wir stiegen wieder zum Zelt hinab, wo Pappermann dem Herzle ausführlich erklärte, wie man Bärentatzen einzuschnüren und in die Erde zu graben hat, so daß sie schnell mürbe werden, ohne daß Maden und Würmer sich einzustellen haben. Die Schinken wurden sorgfältig von allem Fett befreit, in Asche gewälzt und dann auch eingeschnürt, um aufgehoben und mitgenommen zu werden. Die Vorderkeulen aber unterwarf der alte Westmann einer anderen, sehr anstrengenden Prozedur. Sie sollten zuerst verzehrt werden und wurden darum von ihm geklopft, wohl eine Stunde lang, mit einer kurzen, starken Keule, die er sich aus einem Ast schnitt. Ich aber suchte inzwischen die verschiedenen Kräuter zusammen, welche ein jeder Kenner des „wilden“ Westens für unerläßlich hält, wenn er sich über am Spieß oder unter heißen Steinen gebratenes Bärenfleisch lobend aussprechen soll. So hatte ein Jeder zu tun, das Herzle aber am allermeisten, denn sie buk heut auch Brot, gleich für drei oder vier Tage, dazu einen leckeren Brombeerkuchen, zu dem die Beeren massenhaft in nächster Nähe unseres Zeltes standen. Hierdurch wurde die erste der von Trinidad mitgenommenen Mehlbüchsen leer, und das Herzle beeilte sich, sie mit dem zerlassenen Bärenfett zu füllen. Bärenfett ist nämlich im Westen ein sehr wichtiger Artikel, der sehr vielfach zur Benützung kommt und jeden Braten, sogar jedes Backwerk, wie Kenner behaupten, schmackhafter macht. Diese Wichtigkeit besaß er schon in alter, alter Zeit bei den Indianern, noch ehe die Weißen kamen. Fast jede Stadt und jedes Dorf besaß einen besonderen Stall oder Zwinger, in welchem Bären gezüchtet, gefüttert und gemästet wurden, um dann geschlachtet zu werden. Auch das ist einer jener Punkte, welche denen, die über die rote Rasse schreiben, ohne die hierzu nötigen Kenntnisse zu besitzen, noch völlig unbekannt sind. Die Vergangenheit der Indianer ist eben eine ganz andere, als man denkt!

Die Sioux kamen heute und auch morgen noch nicht. Wir, nämlich der „junge Adler“ und ich, benutzten diese freie Zeit, den Wortschatz, den meine Frau aus der Sprache und der Ausdrucksweise der Apatschen besaß, möglichst zu vermehren. Sie hatte den Wunsch, besonders Kolma Putschi damit zu erfreuen.

Erst am dritten Tag stellten sich die Erwarteten ein, und zwar gegen Abend. Wir sahen sie schon von weit draußen herkommen, über einen fernliegenden, kahlen Bergesrücken. Sie ritten einzeln hintereinander, im sogenannten Gänsemarsch, ganz so, wie es früher geschah, als man den Westen noch als „wild“ bezeichnete. In jener Zeit aber hätten sie sich gewiß sehr gehütet, ihren Weg über diesen nackten Berg zu nehmen, der ihnen sowenig Deckung bot, daß man sie sofort entdecken mußte. Da es sich um keinen Kriegszug handelte, wenigstens jetzt noch nicht, so waren sie noch nicht mit den Farben des Krieges bemalt, an denen es möglich ist, die Stämme und Nationen genau voneinander zu unterscheiden. Dennoch gab es einige Kennzeichen, besonders in Beziehung auf ihre Lanzen und besonders auf die Anschirrung, Ausschmückung und Halfterung ihrer Pferde, aus denen ich ersah, daß wir es da mit Utah-Indianern zu tun hatten, und zwar in sehr gemischter Zusammensetzung. Wir sahen – um mich eines gebräuchlichen Ausdruckes zu bedienen – wilde, halbwilde und zahme Utahs. Sie gehörten zu den Unterabteilungen der Pah-Utahs, der Tehsch-Utahs, der Kapote-, Wihminutsch- und Elkmountain-Utahs, der Yamba-, Pahwang- und sogar der Sempisch-Utahs. Unter den Kapote-Utahs sah ich einen alten, grauköpfigen Häuptling, bei dessen Anblick ich an Tusahga Saritsch denken mußte, von dem ich im dritten Bande von „Old Surehand“ erzählt habe. Ich bitte, das nachzulesen. Aber die Entfernung war leider so groß, daß ich die Gesichtszüge nicht deutlich erkennen konnte. Später stellte es sich heraus, daß ich mich nicht geirrt hatte; es war Tusahga Saritsch, der mir bekannte Häuptling der Kapote-Utahs, der sich damals nur notgedrungen mit uns aussöhnte, jetzt aber, wo er am Rande des Grabes stand, wieder zu unseren Feinden gehörte.

Als diese Utahs den Felsenkessel erreichten, ersahen wir aus ihrem Verhalten, daß dieser Ort auch für sie ein heiliger war. Sie betraten ihn nur mit Scheu. Sie brachten sich sogar Feuerholz mit, um die Bäume und Sträucher der Devils pulpit schonen zu können. Und sie bleiben nur im westlichen Teil; den östlichen, wo wir den Bären erschossen hatten, wagten sie nicht zu betreten. Und, was für uns das wichtigste war, sie umlagerten die Teufelskanzel nur im weiten Kreis. Keiner nahte sich ihr, und noch viel weniger hatte Einer von ihnen den Mut, sie zu ersteigen. Die Verhandlungen und Beratungen begannen jedenfalls erst nach dem Eintreffen der Sioux. Dann befanden sich „verschiedene Nationen“ beisammen, und hierauf erst war es erlaubt, die Kanzel zum Zweck der Diskussion zu betreten. Was dann besprochen wurde, das wollten wir hören, Unwichtiges aber nicht. Darum verzichteten wir darauf, uns jetzt schon anzuschleichen und um bloßer Neugierde willen uns in die Gefahr zu begeben, entdeckt zu werden, ohne daß wir irgendeinen Nutzen davon hatten. Wir blieben also in unserem Lager und nahmen uns vor, recht auszuschlafen, weil wir nicht wissen konnten, ob wir hierzu so bald wieder Gelegenheit hatten.

Am Abend sahen wir unten einige Feuer brennen, die aber so klein waren, daß sie für uns nicht ausreichten, die Gestalten der an ihnen sitzenden Indianer zu erkennen. Auch still ging es da unten zu, außerordentlich still. Es gab keinen Laut, der bis herauf in unsere Höhe drang. Wir schliefen gut. Nichts störte unsere Ruhe. Der nächste Tag verging, ohne daß die Sioux kamen. Aber am darauffolgenden Morgen sahen wir, daß die ausgestellten Posten sich einstellten, um das Erscheinen der Erwarteten zu melden. Diese kamen genauso im Gänsemarsch wie vorgestern die Utahs. Voran ritt ein sehr alter, sehr langer und sehr hagerer Häuptling, der sein Pferd von zwei gewöhnlichen Indianern führen ließ, daß es ja keinen Fehltritt tue. Er schien also nicht mehr gut bei Kräften zu sein. Daß er trotzdem einen so weiten Ritt unternahm, ließ darauf schließen, daß der Gedanke, der ihn jetzt nach dem Süden führte, ihn innerlich fanatisierte.

Er wurde von den Utahs mit großer Achtung empfangen. Als man ihn vom Pferd gehoben hatte, sah man erst, wie übermächtig lang und schmal und dünn er war. Wäre es nicht Lichter Tag gewesen, so hätte man ihn für ein Gespenst halten können. Das war, wie ich dann bald feststellte, Kiktahan Schonka, der „wachende Hund“, welcher den Apatschen und allen ihren Freunden den Untergang geschworen hatte. Man breitete für ihn einige weiche Decken gegenüber dem Utah-Häuptling Tusahga Saritsch aus und setzte ihn wie ein Kind da nieder. Hinter ihm wurden einige Pfähle eingeschlagen, damit er sich daran lehnen möge. In solchen menschlichen Ruinen pflegen Haß und Rachgier sich länger zu erhalten als in gesunden, widerstandsfähigen Personen.

Nun war es Zeit für uns, unsern Lauscherposten zu beziehen. Das Herzle wäre gar zu gern mitgegangen, sie konnte mir aber nichts nützen, sondern mich nur hindern. Pappermann verzichtete darauf, mich zu begleiten.

„Was soll ich da unten?“ fragte er. „Wer die Indsmen belauschen will, muß ihre Sprache besser, viel besser kennen als ich. Ich heiße zwar Maksch Pappermann und bin mit dem Gewehr in der Hand wohl kein unebener Kerl; aber grad da, wo die Sprachen und Dialekte anfangen, da hört meine Klugheit auf, vollständig auf! Ich bleibe also hier oben bei unserer Mrs. Burton und lasse mir von ihr einen neuen Brombeerkuchen backen. Oder nicht?“

Sie nickte.

So stieg ich also mit dem „jungen Adler“ durch den Wald den Berg hinab. Wir nahmen unsere Gewehre mit, um für alle Fälle auch eine weittragende Waffe in der Hand zu haben. Es versteht sich ganz von selbst, daß wir alle Vorsicht anwendeten, keine Spuren zu machen und nicht gesehen zu werden. Denn morgen war der Tag, den die beiden Sander uns bezeichnet hatten. Da kamen sie wahrscheinlich hier an. Es war aber auch möglich, daß sie sich eher einstellten und sich heimlich hier herumtrieben, um die Indianer zu belauschen, bevor sie sich von ihnen sehen ließen. Wir stiegen also nur an solchen Stellen hinab, die jeder Andere vermieden hätte, und taten, wie wir dann später bemerkten, sehr wohl daran. Unten angekommen, drangen wir sofort in das tiefste Dickicht ein, um so schnell wie möglich zu verschwinden.

Als wir unsern Lauscherposten und unser kleines Inselhäuschen erreicht hatten, sah ich, daß meine Frau uns da allerdings eine sehr bequeme Gelegenheit zum Sitzen und auch Liegen geschaffen hatte. Zunächst aber machten wir davon noch keinen Gebrauch, weil wir nun doch nahe genug waren, um uns die Roten betrachten zu können, wenn auch nicht mit den bloßen Augen, so aber doch durch mein Fernglas, welches ich mitgebracht hatte. Wir zählten genau vierzig Utahs und vierzig Sioux. Diese Zahl schien also vorher bestimmt worden zu sein. Jedenfalls handelte es sich nur um die Ober- und Unteranführer. Die gewöhnlichen Krieger, also die eigentlichen Truppen, von denen die Apatschen angegriffen werden sollten, waren nicht ganz bis hierher mitgenommen worden. Die beiden obersten Häuptlinge habe ich schon genannt. Außer ihnen gab es fünf Unterhäuptlinge der Sioux und fünf Unterhäuptlinge der Utahs. Die Übrigen waren Leute, die sich in irgendeiner Weise hervorgetan hatten und darum das Vertrauen der Anführer besaßen. Was mir auffiel, das war, daß man nicht die Friedenspfeife sofort und allgemein im Kreis herumgehen ließ. Man hatte sich in ganz gewöhnlicher Weise begrüßt und setzte sich dann zunächst zum Essen und zum Ausruhen nieder. Ich beobachtete vor allen Dingen Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch. Die Andern gingen mich jetzt weniger an. Den Letzteren erkannte ich, als ich mein Glas auf ihn richtete, sofort wieder. Er war alt, sehr alt geworden, viel älter als seine Jahre, und außerordentlich runzelig. Solche Leute befinden sich ja nicht im Besitz der Seelenkraft, die auch äußerlich jung erhält. Der Letztere hatte eine fürchterlich hervorstehende, sehr schmale und, fast möchte ich sagen, messerscharfe Nase, einen außerordentlich breiten Mund mit gar keinen Lippen, tief in ihren Höhlen liegende Augen und eine falsche, aus lauter Skalpen zusammengesetzte Perücke. Man soll ja nicht unlieb über seine Nebenmenschen urteilen, aber wenn ich ehrlich sein will, muß ich sagen, daß dieser Indsman mir gleich bei dem ersten Blick, den ich auf ihn warf, außerordentlich widerlich erschien.

Das Essen dauerte ziemlich lange, wohl über zwei volle Stunden. Dann begaben sich die Häuptlinge hinauf auf die Kanzel. Kiktahan Schonka konnte die Stufen nicht ersteigen. Er wurde mit Hilfe von Lassos gezogen und von unten nachgeschoben, bis er oben war. Von diesem Augenblick an begannen wir, zu hören. Die Friedenspfeifen wurden angezündet. Der Oberhäuptling der Utah stand auf, blies den Rauch nach den sechs Richtungen und hielt die erste Rede. Der Oberhäuptling der Sioux konnte sich nicht erheben; aber er wiederholte dieselben Stöße des Rauches und sprach sodann im Sitzen. Die Unterhäuptlinge folgten diesem Beispiel einer nach dem andern. Wenn ich diese zwölf Reden hier wiedergeben wollte, müßte ich fast einen ganzen Tag lang schreiben, um mit ihnen fertigzuwerden. Und doch bildeten sie nur die Einleitung zu den Verhandlungen, die gepflogen werden sollten. Man hatte hierfür drei volle Tage angesetzt, die wir also hier bei oder in der Hütte verbringen mußten, um ja nichts zu versäumen. Davor graute mir schon im voraus! Glücklicherweise aber stellte sich sehr bald eine triftige Veranlassung ein, diese lange Zeit derartig abzukürzen, daß aus den drei Tagen nur drei Stunden wurden, und diese Veranlassung – – – die war ich selbst!

Aber interessant, hochinteressant waren diese zwölf Reden, das darf ich gestehen. Sie begannen alle mit der Versicherung, daß die Apatschen und die mit ihnen verbündeten Nationen die niederträchtigsten Menschen seien, die man sich denken könne, daß aber der Gipfel dieser Niederträchtigkeit nur von Winnetou und Old Shatterhand, seinem Freunde, erreicht worden sei. Und diesem Winnetou solle jetzt ein Denkmal gesetzt werden! Auf dem Berge, der nach seinem Namen benannt worden ist! Ein Denkmal von purem, glänzendem Gold! Und dieses Gold haben alle, alle Stämme der Indianer zu liefern! Aus all den Bonanzen, Lagern und Nuggetverstecken, die man den Bleichgesichtern jahrhundertelang so sorgfältig verheimlicht habe! Da käme das Gold ja viele, viele Zentner schwer zusammen! Für diesen einen, verächtlichen Menschen, den man nie anders genannt habe als nur den Hund, den Coyoten, den Pimo, den Apatschen! Und von wem soll dieses Denkmal gefertigt werden? Von einem Bildhauer und von einem Maler! Von Young Surehand und Young Apanatschka, deren Väter Verräter an der ganzen roten Rasse und nichtswürdige Geschöpfe der Bleichgesichter waren! Dieses Denkmal ist jetzt einstweilen auf Leinwand gemalt und aus Thon zusammengeklebt. Es wird am Mount Winnetou ausgestellt, und die Häuptlinge, die berühmtesten Männer und Frauen aller roten Nationen sind eingeladen, sich dort einzustellen, um diese Figuren und Bilder zu sehen! Sogar Old Shatterhand wurde eingeladen, der räudige Hund!

Diese wahnsinnige Ueberhebung der Apatschen muß verhindert werden! Sie müssen erfahren, daß man wohl einem Utah- oder einem Siouxkrieger ein goldenes Denkmal setzen kann, nicht aber einem klaffenden Köter vom Rio Pecos her! Das Wann und das Wie zu beraten, sei man hier an der „Kanzel des Teufels“ zusammengekommen. Und was da beschlossen werde, das habe man auszufahren, und wenn die ganze indianische Rasse dabei vollends zugrunde gehe!

So weit war man gekommen; da trat eine Störung ein, die nicht nur von den Roten, sondern auch von uns beiden gesehen wurde. Sie kam in Gestalt eines Menschen am Bach dahergeschritten, und dieser Mensch war kein anderer als Sebulon L. Enters. Er hatte Sporen an den Stiefeln, war aber ohne Pferd. Er trug ein Gewehr und war genauso ausgerüstet, wie noch vor dreißig Jahren ein Westmann ausgerüstet zu sein pflegte. Die Sioux kannten ihn. Sie hinderten ihn nicht, heranzukommen. Sie führten ihn nach der Kanzel. Er mußte hinaufsteigen. Das sahen wir. Und nun hörten wir auch wieder Stimmen.

„Wer ist dieses Bleichgesicht?“ fragte Tusahga Saritsch.

„Ein Mann, den ich kenne,“ antwortete Kiktahan Schonka. „Ich habe ihn an die Kanzel des Teufels bestellt. Er sollte erst morgen kommen. Warum kommt er schon heut?“

Diese Frage war an Sebulon gerichtet. Sie klang gar nicht etwa höflich. Der Indianer pflegt den Weißen, den er als Spion gebraucht, stets nur verächtlich zu behandeln. Sebulon antwortete.

„Ich mußte mich beeilen, so bald wie möglich hierherzukommen, um euch zu warnen.“

„Vor wem?“

„Vor eurem ärgsten Feind, vor Old Shatterhand.“

„Uff, uff, uff, uff!“ ertönte es rund im Kreise, und auch Kiktahan Schonka selbst rief aus:

„Uff, uff! Old Shatterhand! Vor ihm warnen! Warum?“

„Er kommt hierher.“

„Uff, Uff! Woher weißt du das?“

„Er sagte es.“

„Wem?“

„Mir.“

„So sahst du ihn wohl?“

„Ja.“

„Und sprachst mit ihm?“

„Ja.“

„Wo?“

„Am fallenden Wasser des Niagara.“

„Uff! Wir wissen, daß er kommen soll. Aber daß er schon gekommen ist, das wußten wir noch nicht. Und er kommt nach der Devils pulpit?

„Ja.“

„Was will er hier?“

„Euch belauschen.“

„Uff, Uff! Das klingt ja, als ob er wüßte, daß wir hierherkommen, und was wir hier wollen!“

„Er weiß es.“

„Von wem?“

„Das sagte er nicht. Er reiste ab. Wir folgten hinterher. Wir trafen in Trinidad seine Spur. Er ist dort wieder fort, wahrscheinlich geraden Weges hierher.“

„Uff, uff, uff, uff!“ ging es wieder rund im Kreise, und Kiktahan Schonka rief zornig aus:

„Ist dieser Hund denn noch nicht alt genug, die Schärfe des Auges, der Ohren und der Nase zu verlieren? Konnte er nicht drüben, jenseits des großen Wassers, in seinem stinkenden Wigwam bleiben?“

„Und seine Frau mit ihm!“ fügte Sebulon hinzu.

„Seine Squaw, sagst du? – Hat er sie mit?“

„Ja.“

„Wirklich? Ist das wahr?“

„Natürlich! Ich sage es doch!“

„Sie war mit am Fall des Niagara?“

„Ja. Und auch in Trinidad war sie bei ihm. Wir hörten es, als wir hinkamen und uns erkundigten.“

„Uff, Uff! Das ist ein gutes Zeichen, ein sehr gutes Zeichen für uns! Sein Kopf ist schwach geworden! Er ist ein Greis, ein schwach gewordener Greis! Wer seine Squaw mit sich über das Wasser und nach dem Wilden Westen schleppt, der ist verrückt, der kann keinem Menschen mehr etwas schaden. Er mag immerhin kommen. Wir fürchten ihn nicht. Er kommt an den Marterpfahl, und sein Weib mache ich zu meiner Squaw!“

Da fiel Tusahga Saritsch, der Oberhäuptling der Utahs, ein:

„Mein Bruder spreche nicht zu schnell! Old Shatterhand kennt seine Squaw; du aber kennst sie nicht. Wenn er sie mitgenommen hat, so weiß er ganz bestimmt, daß er dies wagen darf, ohne daß er sich damit schadet. Er mag alt geworden sein; aber so hat er doch immer nur erst das Alter erreicht, in dem man weise und doppelt vorsichtig und bedenklich wird, nicht aber das, in dem gewöhnliche Menschen kindisch zu werden pflegen. Es ist wohl möglich, daß wir ihn jetzt noch mehr zu fürchten haben als früher, da er über dreißig Sommer junger war!“

„Und er ist nicht allein!“ stimmte Sebulon bei.

„Wer ist bei ihm?“ fragte Kiktahan Schonka.

„Ein alter, erfahrener Westmann, namens Max Pappermann.“

„Uff! Ich habe von einem gehört, der so heißt. Die Hälfte seines Gesichtes ist blau.“

„Das ist er!“

„Dieser, dieser! Er hat meinem größten Gegner im eigenen Stamme, dem Siou Wakon, das Leben gerettet. Möge der böse Geist ihn vernichten! Er ist tapfer und listig zugleich. Wenn er bei Old Shatterhand ist, so haben wir ihn zu fürchten!“

„Und noch ein Anderer ist bei ihm,“ fuhr Sebulon fort. „Nämlich ein junger Mescalero-Apatsche, welcher der Junge Adler heißt.“

„Etwa der junge Adler, der zu den Bleichgesichtern ging, um fliegen zu lernen?“

„Daß weiß ich nicht. Aber ich hörte in Trinidad, er sei vier Jahre lang bei den Bleichgesichtern gewesen und kehre jetzt zu seinem Stamm zurück.“

„So ist er es! Er ist ein Schüler Wakons. Er schickt ihm viele Briefe und bekommt viele Antworten darauf. Er ist einer der Ersten unter denen, die sich Jungindianer nennen und von weiter nichts als von Humanität und Bildung, von Versöhnung und Liebe reden. Und er ist auch einer der ersten vom Clan Winnetou. Er soll überhaupt ein Blutsverwandter von Winnetou sein. Wenn er sich bei Old Shatterhand befindet, so müssen wir uns alle Mühe geben, diese drei Männer und die Squaw in unsere Hände zu bekommen. Wo hast du dein Pferd?“

„Jenseits des Berges bei meinem Bruder,“ antwortete Sebulon. „Er blieb bei den Pferden zurück. Ich aber schlich mich zu Fuß hierher, um nach Spuren zu suchen und die Gegend zu erkunden.“

„Welchen Weg von Trinidad aus schluget ihr ein?“

„Wir kamen über den Kanubisee.“

„Habt Ihr auf diesem Weg Spuren von Old Shatterhand gefunden?“

„Kein. Aber Spuren vieler Weiber, die am See gelagert haben.“

„Das waren die verführten Frauen unseres eigenen Stammes, die sich Jungindianerinnen nennen. Sie ziehen auch nach dem Mount Winnetou, um das Denkmal zu sehen und ihre Nuggets dafür hinzugeben. Wir können sie nicht hindern, das zu tun; aber wir werden die Apatschen dafür bestrafen. Hat Old Shatterhand von dem Mount Winnetou gesprochen?“

„Nein“

„Auch nicht von dem Weg, den er einschlagen will?“

„Auch nicht. Wir erfuhren nur, daß er beabsichtigte, nach der Devils pulpit zu gehen, um Kiktahan Schonka, den Häuptling der Sioux, dort zu sehen.“

„So ist er immer noch der unermüdliche, listige Späher, der er immer war! Aber dem Marterpfahl, dem er so oft entgangen ist, dem entkommt er dieses Mal nicht. Wenn er sich nähert, kann er nur da von der östlichen Höhe kommen, von welcher wohl auch du gekommen bist?“

„Ja“

„Ich werde sofort die ganze Umgebung hier durchsuchen lassen. Du aber kehre zurück zu deinem Bruder, und bringe ihn her! Die Beratung ist unterbrochen, bis wir uns überzeugt haben, daß Old Shatterhand sich nicht in der Nähe befindet.“

Sebulon L. Enters entfernte sich. Wir sahen ihn nach dem Weg zurückgehen, den er gekommen war. Es war der unsrige. Wie gut also, daß wir so vorsichtig gewesen waren, erkennbare Spuren zu vermeiden. Auch Tusahga Saritsch verließ mit sämtlichen Unterhäuptlingen die Kanzel. Sie stiegen hinab, um sich alle an der Nachforschung nach uns zu beteiligen. Nur Kiktahan Schonka allein blieb zurück. Es schlichen sich also vierzig Sioux und vierzig Utahs von dannen, um nach uns zu suchen. Das war keine Kleinigkeit. Zwar traute ich weder Pappermann noch meiner Frau die Unvorsichtigkeit zu, ihr Versteck während unserer Abwesenheit zu verlassen, aber der kleinste und geringste Umstand konnte Veranlassung zu der Entdeckung werden, daß ein verborgener Pfad aus dem stillen Weiher noch weiter führte. Und was uns beide selbst betraf, so durften wir uns keineswegs so sicher fühlen, daß jede Entdeckung ausgeschlossen war. Es brauchte unter den achtzig Indianern nur ein einziger zu sein, der keine Angst vor dem „bösen Geiste“ hatte und sich nicht scheute, in den östlichen Teil der Ellipse einzudringen, so mußte er unsere Spuren unbedingt sehen. Es war notwendig, meinem Gefährten zu sagen, was in diesem Fall zu geschehen hatte. Wir hatten bisher nur immer englisch mit ihm gesprochen, aus dem einfachen Grund, weil meine Frau überhaupt keinen indianischen Dialekt verstand und auch Pappermann sich höchstens nur im halb englischen, halb indianischen Slang auszudrücken vermochte. Nun aber, da wir allein waren, konnte ich dem „jungen Adler“ die Freude machen, seine Muttersprache zu hören.

„Hat mein junger Bruder Alles verstanden, was gesprochen wurde?“ fragte ich ihn.

„Ich hörte Alles“, antwortete er.

„Weiß er, daß nun hundert und ein halbes hundert Augen nach uns suchen?“

„Ich weiß es.“

„Glaubst du, daß man uns findet?“

„Nein.“

„Ich ebenso. Aber ein vorsichtiger Krieger hat sich auf Alles vorzubereiten. Es sind zwei Fälle zu bedenken. Weiß mein junger Bruder, welche ich meine?“

„Ja.“

„So sage sie!“

„Man kann uns hier entdecken, und man kann unser Lager da oben entdecken.“

„Ganz richtig! Es ist also nötig, zu wissen, wie wir uns in beiden Fällen zu verhalten haben. Sollte man uns hier finden, so wäre es eine unverzeihliche Torheit, hinauf zu Pappermann und meiner Squaw zu fliehen und uns von den Utahs und Sioux belagern zu lassen. Mein junger Bruder hätte sofort hinaufzueilen und beide mit den Pferden und Maultieren herauszuschaffen. Ich aber würde die Roten mit meinem Stutzen inzwischen im Zaum halten. Der Ausgang aus diesem Kessel ist eng. Es käme keiner von ihnen hinaus, ohne von meiner Kugel getroffen zu werden.“

„Und wenn man nicht uns, aber unser Lager entdeckt?“ fragte er.

„So hätte ich auch da keine Sorge. Pappermann hält doch Wache. Er hat unbedingt gesehen, daß alle Roten sich plötzlich entfernten, daß sie nachforschen gegangen sind. Er wird sich also mit seinem Gewehr am Weiher verstecken und aufpassen. Auch der dortige Ein- und Ausgang ist sehr eng. Es genagt ein einziger Mann, ein ganzes Heer zurückzuweisen. Und wir beide kämen den Indsmen dann in den Rücken. Wir haben also nicht den geringsten Grund, besorgt zu sein. Warten wir darum ruhig ab, was geschieht!“

Es dauerte über eine Stunde, ehe der erste Indianer zurückkehrte. Ihm folgten nach und nach auch die andern. Man hatte nichts gefunden. Aber man fühlte sich nun zu größerer Vorsicht veranlaßt. Man stellte Wächter aus, allerdings zu spät. Leider aber standen sie auch da, wo wir unbedingt vorüber mußten, wenn wir uns entfernen wollten.

Dann kamen die beiden „Enters“ geritten. Da wurde mit der Beratung wieder begonnen. Die Häuptlinge stiegen wieder auf die Kanzel. Sie sprachen aber nicht laut, sondern so, daß wir ihre Stimmen nur als unterdrücktes Gemurmel vernahmen, jedenfalls der beiden Weißen wegen, die man ausnutzen wollte, ohne sie in das Vertrauen zu ziehen. Als man dann übereingekommen war, welchen Auftrag sie auszuführen hatten, ließ man sie auf die Kanzel kommen, und Kiktahan Schonka fragte sie in seinem bereits angedeuteten, nicht sehr achtungsvollen Tone:

„Ihr wißt noch ganz genau, was ich mit euch besprochen habe?“

„Ganz genau,“ antwortete Sebulon, der überhaupt das Wort für sich und seinen Bruder zu führen schien.

„Und seid ihr noch heut bereit, die Bedingungen, welche zwischen euch und uns vereinbart wurden, zu erfüllen?“

„Ja, noch heut.“

„So komrnt eine neue Aufgabe für euch dazu, nämlich uns Old Shatterhand und seine Squaw in die Hände zu treiben. Seid ihr bereit dazu?“

„Nur dann, wenn es lohnt.“

„Es lohnt!“

„Was zahlt ihr für sie und ihn?“

„Viel, sehr viel! Doch ist es heut noch nicht Zeit, über diesen Preis zu reden. Wenn wir ihn selbst fangen, bezahlen wir euch natürlich nichts. Wir bleiben noch drei volle Tage hier und passen auf. Kommt er, so entgeht er uns sicherlich nicht; wir nehmen ihn fest. Dafür bekommt ihr nichts. Aber da er Trinidad schon vor euch verlassen hat und noch immer nicht da ist, so sind wir überzeugt, daß er seinen Plan geändert hat und gar nicht nach der Devils pulpit geritten ist. Er ist vielmehr am Kanubisee auf unsere Squaws getroffen, die ja so wahnsinnig sind, für ihn und Winnetou zu schwärmen, und da hat es dem alten Mann wohlgetan, von den Weibern sich preisen und anbeten zu lassen. Er ist mit ihnen gezogen.“

„Das ist möglich, sehr leicht möglich,“ sagte Sebulon schnell. „Wir sahen nämlich auch einige Männerspuren.“

„Das genügt! Er ist es gewesen. Und nun ist es an euch, nach dem Preise zu ringen, den wir auf seine Ergreifung setzen. Glücklicherweise kennen wir das nächste Ziel, nach dem diese Frauen jetzt reiten. Es ist nämlich der Tavuntsit-Payah. Kennt Ihr ihn?“

„Nein.“

„Mein berühmter Bruder Tusahga Saritsch kennt ihn sehr genau und wird euch den Weg dorthin sofort beschreiben.“

Auch ich hatte von einem Tavuntsit-Payah noch nie gehört und paßte also scharf auf, um mir jetzt kein Wort entgehen zu lassen. Der Oberhäuptling begann die Beschreibung des dorthin führenden Weges. Er war sehr ausführlich dabei, und man denke sich meine Überraschung und meine Freude, als ich am Schluß erkannte, daß dieser Tavuntsit-Payah kein anderer Berg war als mein Nugget-tsil, nach dem auch wir ja wollten! Die Brüder Enters machten sich einige Bemerkungen in ihre Notizbücher; dann fuhr Kiktahan Schonka fort:

„Ihr reitet also dorthin, um euch an Old Shatterhand zu hängen, und laßt ihn nicht wieder los. Getraut ihr euch, dies zu erreichen?“

„Ganz gewiß! Aber wie bringen wir ihn euch? Wann und wohin? Und wird er uns gutwillig folgen?“

„Er wird. Ist euch der Name Pa-wiconte bekannt?“

„Nein.“

„Dorthin ziehen wir von hier aus, um uns mit den Komantschen und Kiowas gegen die Apatschen zu vereinigen. Ihr sollt ihm das nicht etwa verraten, sondern ihr sollt ihm nur sagen, daß, wie ihr erfahren habt, die Kiowas und die Komantschen sich dort versammeln. Seine ungeheure und unbezähmbare Neugierde wird ihn verführen, dorthin zu reiten, um sich anzuschleichen und uns zu belauschen. Dabei ergreifen wir ihn.“

„Und unser Lohn?“

„Den besprechen wir, wenn ihr kommt und uns meldet, daß er nahe.“

„Und wenn wir nicht einig mit euch werden?“

„So braucht ihr ihn doch nur zu warnen, dann bekommen wir ihn nicht!“

„Warum sagt ihr uns nicht schon heut den Preis?“

„Weil wir heut noch gar nicht wissen, womit wir ihn später zahlen können, ob in Tieren, ob in Nuggets oder in Waren, Waffen und Sachen, die wir erbeuten. Glaubt ihr uns etwa nicht?“

„Wir glauben euch.“

„So seid ihr jetzt entlassen und könnt gehen. Wir raten euch, keine Stunde zu versäumen, um Old Shatterhand so bald wie möglich einzuholen. Je schneller und gewissenhafter ihr verfahrt, desto sicherer ist der Erfolg und desto größer wird der Lohn.“

Sie stiegen von der „Kanzel“ hinab und gingen zu ihren Pferden. Hariman F. Enters hatte während der ganzen Zeit kein einziges Wort gesagt. Die Häuptlinge schwiegen, bis sie die beiden fortreiten sahen. Dann sagte der Oberhäuptling der Utahs nur das eine Wort:

„Schufte!“

„Schurken!“ fügte Kiktahan Schonka hinzu. „Sie sind nicht des Anspeiens wert! Glaubt mein Bruder etwa, daß sie für ihren Verrat auch nur soviel bekommen werden, wie ein Grashalm oder eine ausgeraufte Vogelfeder wert ist?“

„Und das ganze, große Geschäft, welches sie mit euch und uns machen wollen – – –?“ fragte Tusahga Saritsch.

„Wird ihnen nicht ein einziges Pferdehaar einbringen,“ lachte der alte Sioux. „Sie zahlen den Preis; wir aber behalten, was wir haben. Ist mein roter Bruder einverstanden?“

„Ja. Mein Bruder ist sehr klug!“

Pshaw! Es gehört keine Klugheit dazu, ein Bleichgesicht zu betrügen!“

„Aber die Verräter werden fordern, daß wir unser Versprechen halten und ihnen den Preis zahlen.“

„Das werden sie nicht. Wer nicht mehr lebt, kann keine Forderung stellen. Ist mein roter Bruder auch hiermit einverstanden?“

„Ja.“

„Und die Andern auch?“

„Ja, ja, ja, ja – – –!“ rief es rund im Kreise.

Da konnte ich mich nicht halten; ich rief mit lauter Stimme ganz dasselbe Wort:

„Schufte!“

Es folgte eine tiefe Stille. Dann hörte ich:

„Uff, uff –-uff, uff! Wer war das? Was war das? Woher kam das?“

Ich legte das Glas an die Augen und sah, daß sie die Köpfe bewegten und nach allen Seiten schauten.

„Schurken!“ fügte ich ebenso laut hinzu.

Wieder tiefe Stille. Aber ich sah, daß sie sich von ihren Sitzen erhoben, Einer nach dem Andern. Sogar der ewig lange Kiktahan Schonka stand auf.

„Auch ihr seid nicht des Anspeiens wert!“ fuhr ich fort.

Abermals tiefe Stille. Dann hörten wir die halblaute, hastige Stimme des alten, langen Siou:

„Uff, Uff! Das ist kein Mensch!“

„Kein Mensch!“ stimmte Tusahga Saritsch bei.

„Weiß mein roter Bruder, was man in alten Wampums über die Kanzel des Teufels, auf der wir uns befinden, lesen kann!“

„Ja.“

„Daß hier der gute Geist Alles hört, was der böse Geist spricht?“

„Ja.“

„Und ihn dafür bestraft?“

„Sogar sehr streng, sehr streng! Meist mit dem Tod!“

„Ob er es war, der jetzt sprach, der gute Geist? Was ist zu tun? Ich bleibe nicht hier!“

„Ich auch nicht!“

„Fort mit euch!“ gebot ich ihnen. „Fort, fort!“

Das wirkte sofort. Sie rannten und sprangen alle spornstreichs die Stufen hinab. Nur Kiktahan Schonka konnte das nicht. Und doch war grad er derjenige, der sich am allermeisten fürchtete.

„Helft mir; helft mir!“ brüllte er. „Ich will hinunter, ich auch, ich auch!“

Aber die Häuptlinge hatten es sehr eilig. Sie halfen ihm nicht. Es mußten einige Andere kommen, um ihren Allerobersten hinunterzuschaffen. Dabei verlor er die Skalpperücke. Er achtete gar nicht darauf. Sie mußte hinter ihm hergetragen werden, bis er sein Pferd erreichte. Da setzte er sie auf und erteilte den Befehl, sofort von hier aufzubrechen und die Devils pulpit zu verlassen, deren Ansehen jedenfalls nun in der Weise gestiegen war, daß sie noch zehnmal heiliger galt als vorher. Man war nun nur darauf bedacht, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Man verzichtete sogar darauf, auf Old Shatterhand zu warten, um ihn hier zu fangen. Die Posten und Wächter wurden zurückberufen, und dann ritten sie davon, alle Achtzig, im Gänsemarsch, wie sie gekommen waren.

Indem wir ihnen nachschauten, spielte ein fröhliches Lächeln um die Lippen des „jungen Adlers“, und ich glaube, ich habe auch nicht geweint.

„Dieser Sieg freut mich mehr,“ sagte er, „als wenn wir mit ihnen gekämpft und sie alle erschlagen hätten. Es ist ein Sieg der Wissenschaft, nicht des blutigen Tomahawk.“

„Ist dir dieser Teil der Wissenschaft bekannt?“ fragte ich ihn.

„Ja. Ich mußte ihn kennenlernen. Die Akustik gehört zur Lehre von der Luft. Ich ging zu den Bleichgesichtern, um die Aerostatik und Aeronautik zu studieren. Ich weiß, daß schon die alten Assyrier, Babylonier und Ägypter das Geheimnis kannten, an dem einen Punkt sehr deutlich zu hören, was an einem andern, entfernten Punkt gesprochen wird. Ich bin so froh und so stolz, heut erfahren zu haben, daß die Ahnen der heutigen roten Rasse in diesem Wissen nicht hinter jenen Völkern zurückgestanden haben. Es ist unsere Pflicht, Alles, was uns seitdem verlorengegangen ist, in die erwachende Seele unserer Nation zurückzurufen. Wir bitten den großen, guten Manitou, uns Kraft und Fröhlichkeit zu diesem wichtigen und schönen Werk zu verleihen!“

Es war zum ersten Male, daß er aus sich herausging und in dieser Weise sprach. Ich wunderte mich keineswegs über das, was ich hörte. Er war ein stiller, hochbegabter junger Mann. Und er besaß die nötige Energie, auch Ungewöhnliches zu erreichen. Auf seinem schönen, ernsten Gesicht lag jetzt ein warmer, beinahe sonniger Schein, so köstlich lieb und sympathisch, wie er so oft die Züge meines herrlichen Winnetou durchgeistigt und umflossen hatte. Es kam mir vor, als sei der „junge Adler“ in diesem Augenblick meinem unvergeßlichen roten Freund außerordentlich ähnlich geworden, fast wie Bruder und Bruder!

Als der letzte der achtzig Indianer verschwunden war, verließen wir unsern Lauscherposten. Doch kehrten wir nicht direkt nach oben zurück, sondern wir gingen zunächst nach dem vorderen Teil des Kessels, wo die Indsmen gewesen waren, und schritten den Platz ab, um nachzuschauen, ob aus ihren Spuren vielleicht etwas für uns Brauchbares zu lesen sei. Es gab nichts. Aber als ich schließlich noch einmal hinauf auf die Pulpit stieg, wo die Häuptlinge gesessen hatten, sah ich auf einer der Stufen, ganz im hintern Winkel derselben, einen Gegenstand liegen, der vor der Ankunft der Indianer sicher noch nicht dagelegen hatte, weil er sonst ganz bestimmt von mir bemerkt worden wäre. Ich hob diesen Gegenstand auf und betrachtete ihn. Es waren zwei kleine, niedliche Hundepfötchen, nicht etwa nur die Krallen, sondern die Pfötchen, glatt abgeschnitten und an den Schnittflächen mit Hirschsehne sehr sorgfältig zusammengenäht, so daß sie ein Doppelhändchen bildeten, dessen Finger nach entgegengesetzter Richtung lagen. Ich zeigte es dem „jungen Adler“.

„Eine Medizin!“ rief er aus.

„Sehr wahrscheinlich! – Aber wessen Medizin?“ fragte ich.

„Kiktahan Schonka!“

„Hoffen wir es! Aber wie konnte er sie verlieren? Medizinen pflegt man doch im verschlossenen Medizinbeutel zu tragen! Es sind Hundefüße, nicht vom Fuchs oder Wolf, und der Häuptling der Sioux heißt der wachende Hund. Ich zweifle also nicht, daß er es ist, der sie verloren hat. Aber wie war es möglich, daß dies geschah? Mein junger, roter Bruder, schaue nach!“

Ich gab sie ihm. Er betrachtete sie sehr aufmerksam, reichte sie mir dann zurück und antwortete:

„Diese Medizin hat nicht im Medizinbeutel gesteckt, sondern sie war an den Gürtel genäht. Man sieht sehr deutlich die Stiche. Sie ist losgerissen worden, als man den Häuptling am Lasso über die Stufen emporzog oder als man ihm wieder herunterhalf. Dieser Fund ist außerordentlich wichtig!“

„Allerdings, aber auch gefährlich. Wenn Kiktahan Schonka seinen Verlust bald bemerkt, kehrt er unbedingt nach hier zurück, um zu suchen. Bemerkt er ihn später, so weiß er freilich nicht genau, wo er die Medizin verloren hat, ob hier oder nachträglich unterwegs. Auf keinen Fall aber dürfen wir noch länger hier verweilen. Gehen wir!“

Ich steckte die Medizin sorgfältig ein. Dann verließen wir den Platz und stiegen nach unserem Lager empor. Wir waren von dort aus so scharf beobachtet worden, daß Pappermann wußte, daß wir kamen. Er brachte uns die Pferde, damit wir nicht nötig hätten, durch das Wasser des Weihers zu waten.

„Ist schnell gegangen, ungeheuer schnell!“ sagte er. „Kommen sie wieder?“

„Nein, hoffentlich nicht,“ antwortete ich.

„Sonderbar! Man pflegt sonst oft tagelang zu beraten! Warum sind sie so schnell fort? Und habt Ihr Etwas erlauscht?“

„Wartet, bis wir drin bei meiner Frau sind! Die will dasselbe wissen!“

Das war sehr richtig. Sie schaute uns, als wir kamen, so gespannt entgegen, daß ich es nicht über das Herz brachte, sie auch nur einen Augenblick warten zu lassen, sondern ihr sofort entgegenrief:

„Gelungen! Alles gelungen!“

„Wirklich – wirklich?“ fragte sie.

„Ja.“

„So steig ab; setz dich her, und erzähle!“

Dabei setzte sie sich auch schon selbst nieder und klopfte mit der Hand auf die Stelle neben sich, wo ich als gehorsamer Ehemann mich schleunigst niederzulassen hatte. Ich befolgte diesen Befehl und gab dem „jungen Adler“ einen Wink, nach der Höhe zu steigen und inzwischen Wache zu halten, damit ich, falls Kiktahan Schonka zurückkäme, es sofort erführe. ich machte meinen Bericht so kurz wie möglich. Als ich mit ihm zu Ende war, sprang das Herzle in ihrer energischen, schnell entschlossenen Weise wieder auf und rief:

„Also einpacken, einpacken! Wir müssen augenblicklich fort!“

Damit griff sie auch schon nach Kochtopf und Kaffeemühle. Ich aber blieb sitzen und fragte:

„Wohin?“

„Den beiden Enters nach!“

„Du allein?“

„Allein? – Ich? – Wieso?“

„Ja, wenn du fort willst, so mußt du das eben allein tun! Ich nämlich bleibe noch hier.“

„Was gibt es hier noch zu tun?“

„Nichts.“

„Und da willst du bleiben?“ Sie war erstaunt. Sie wendete sich an Pappermann: „Nichts! Und doch will er bleiben! Versteht Ihr das, Mr. Pappermann?“

„Wenigstens noch nicht ganz,“ antwortete dieser. „Aber wenn er noch warten will, so hat er seine Gründe, und gegen diese wird wohl nichts zu machen sein!“

„Gründe? Hm! Die hat er immer! Wenigstens ich habe ihn noch niemals ohne irgend einen Grund gesehen!“

„Taugten sie etwas, oder taugten sie nichts?“ fragte der Alte.

„Hm! Triftig waren sie fast immer!“

„Na, also! Setzt Euch in Gottes Namen wieder nieder, und habt zu diesem Mann Vertrauen! Er weiß, was er will. Wir bleiben noch hier.“

„Für wie lange?“

„Wahrscheinlich bis morgen früh.“

„Ist das wahr?“ fragte sie mich.

„Ja,“ nickte ich.

„So willst du also die beiden Enters laufenlassen?“

„Wenigstens für heut, aber nicht für länger. Ich kenne ja ihren Weg! Oder wünschest du, daß wir sie schon heut einholen und uns dann ganz unnütz mit ihnen schleppen? ja, wir brauchen sie; sie werden in gewissen Dingen die Quellen sein, aus denen wir schöpfen; aber ich halte es trotzdem nicht für nötig, sie Tag und Nacht und immer und immer bei uns zu haben. Wenigstens mir wäre das lästig.“

„Mir auch. Du hast Recht.“

„Schön! Wir reiten also erst morgen früh. Es steht uns zu jeder Zeit frei, sie einzuholen.“

Da war sie einverstanden. Wir brauchten nicht zu hetzen. Wir konnten uns in Muße auf den kommenden Ritt vorbereiten. Von den Indianern kam keiner zurück. Der Wachende Hund hatte also seinen Verlust noch nicht bemerkt. Wie groß dieser Verlust war, das weiß nur der zu ermessen, der über die Entstehung, die Bedeutung und den Wert einer indianischen Medizin unterrichtet ist. Die Folge wird zeigen, welche Wirkung das Abhandenkommen der beiden Hundepfötchen auf den alten Kiktahan Schonka äußerte.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Erstes Kapitel

Vorzeichen.

Es war in der Frühe eines schönen, warmen, hoffnungsreichen Frühlingstages. Ein lieber, lieber Sonnenstrahl schaute mir zum Fenster herein und sagte: „Grüß dich Gott!“ Da kam das „Herzle“ aus ihrem Erdgeschoß herauf und brachte mir die erste Morgenpost, die soeben vom Briefträger abgegeben worden war. Sie setzte sich mir gegenüber, wie alltäglich mehrere Male, so oft die Briefe kommen, und öffnete zunächst die Kuverts, um mir dann den Inhalt vorzulegen. Aber noch ehe sie damit beginnen kann, höre ich die Frage klingen: „Wer ist das Herzle? So heißt doch eigentlich niemand. Das muß ein Kosename sein.“

Ja, es ist allerdings ein Kosename. Er stammt aus dem ersten Band meiner „Erzgebirgischen Dorfgeschichten“. Da kommt ein „Musterbergle“, ein „Musterdörfle“, ein „Mustergärtle“ und ein „Musterhäusle“ vor, in dem das „Herzle“ mit ihrer Mutter wohnt. Dieses „Herzle“ ist der, wenn auch nicht körperliche, aber doch seelische Abglanz meiner Frau, und wenn ich das Porträt, indem ich an ihm arbeitete, so liebgewann, daß ich es „Herzle“ nannte, so versteht es sich wohl ganz von selbst, daß dieser Name so nach und nach auch auf das Original mit überging. Doch nicht Für alle Fälle! Nämlich wenn Wolken am Himmel stehen, an denen ich aber immer nur selbst schuld bin, so sage ich „Klara“. Sind diese Wolken im Verschwinden, so sage ich „Klärchen“. Und sind sie weg, so sage ich „Herzle“. Meine, Frau aber sagt zu mir niemals anders als nur „Herzle“, weil niemals Wolken macht.

Sie hat, während die obere Etage meine Zimmer enthält, das ganze Parterre des Hauses inne. Da waltet sie als unermüdlicher, fleißiger Wirtschaftsengel, empfängt die immer zahlreicher werdenden Besuche meiner Leser und beantwortet alle die vielen Briefe, deren eigenhändige Erledigung mir selbst unmöglich ist. Vorgelesen aber werden sie mir alle, wobei sie derart zu verfahren pflegt, daß die besonders wichtigen oder besonders interessanten einstweilen beiseite gelegt und bis zum Schluß der Vorlesung aufgehoben werden.

So auch heute. Als alles Andere erledigt war, blieben zwei Sachen, die uns gleich beim ersten Blick als Besonderheiten erschienen und darum ausgeschieden worden waren, nämlich ein Brief aus Amerika und ein anthropologisches Fachblatt aus Oesterreich. Im letzteren war die Ueberschrift eines längeren Artikels durch Blaustrich hervorgehoben. Sie lautete: „Das Aussterben der indianischen Rasse in Amerika und ihr gewaltsames Verdrängen durch die Kaukasier und Chinesen.“ Ich bat das Herzle, den Artikel sogleich vorzulegen, denn ich hatte zufälligerweise Zeit dazu. Sie tat es. Der Verfasser war ein wohlbekannter, hervorragender Universitätsprofessor. Er schrieb mit großer Herzenswärme, und Alles, was er über die „Roten“ sagte, war nicht nur wohltuend, sondern auch gerecht. Ich hätte ihm dafür die Hand drücken mögen. Aber er beging einen Fehler, der ebenso allgemein wie unbegreiflich ist. Nämlich er verwechselte die Indianer der Vereinigten Staaten mit der ganzen Rasse, die über Nord- und Südamerika ausgebreitet liegt. Er verwechselte ferner den seelischen Schlaf der Rasse mit ihrem körperlichen Tod. Und er schien die Hauptaufgabe des Menschengeschlechts in der Entwicklung der völkerschaftlichen Sonderheit und Individualität zu suchen, nicht aber in der sich immer mehr ausbreitenden Erkenntnis, daß alle Stämme, Völker, Nationen und Rassen sich nach und nach zu vereinigen und zusammenzuschließen haben zur Bildung des einen, einzigen, großen, über alles Animalische hoch erhabenen Edelmenschen. Erst dann, wenn die Menschheit sich von innen heraus, also aus sich selbst heraus, zu dieser harmonischen, von Gott gewollten Persönlichkeit geboren hat, wird die Schöpfung des wirklichen „Menschen“ vollendet sein und das Paradies sich uns, den bisher Sterblichen, von neuem öffnen.

Der Brief aus Amerika war höchstwahrscheinlich im „Fernen Westen“ zur Post gegeben worden, aber wo, das war an dem ungeöffneten Kuvert nicht zu ersehen, denn beide Seiten desselben zeigten so viele Stempel und mit der Hand geschriebene Ortsnamen, daß das alles unleserlich geworden war. Nur die Adresse hatte, wohl infolge ihrer echt indianischen Kürze, ihre ursprüngliche Deutlichkeit behalten. Sie bestand nur aus drei Wörtern und lautete:

M a y.
Radebeul.   Germany.

Wir öffneten den Umschlag und zogen ein Stück Papier heraus, welches sichtlich mit einem großen Messer, wahrscheinlich Bowieknife, beschnitten und dann zusammengefaltet worden war. Es enthielt folgende Zeilen in englischer Sprache, die ich natürlich verdeutsche; sie waren von einer schweren, ungeübten Hand mit Bleistift geschrieben:

„An Old Shatterhand.

Kommst Du nach dem Mount Winnetou? Ich komme ganz gewiß. Vielleicht sogar auch Avaht-Niah, der Hundertundzwanzigjährige. Siehst Du, daß ich schreiben kann? Und daß ich in der Sprache der Bleichgesichter schreibe?

Wagare-Tey.
Häuptling der Schoschonen.“

Als wir das gelesen hatten, schaute ich das Herzle überrascht an, und sie mich ebenso. Nicht etwa das frappierte uns, daß wir einen Brief aus dem fernen Westen bekamen, und zwar von einem Indianer. Das geschieht sehr oft. Aber daß dieser Brief von dem Häuptling der Schlangenindianer kam, der mir noch nie geschrieben hatte, das verwunderte mich. Sein Name Wagare-Tey bedeutet soviel wie „Gelber Hirsch“. Ich bitte, über ihn in meinem Band „Weihnacht“ nachzulesen. Damals, also vor nun über dreißig Jahren, war er noch jung und ziemlich unerfahren, aber ein guter, ehrlicher Mensch und ein treuer, zuverlässiger Freund meines Winnetou und mir. Sein Vater Avaht-Niah war über achtzig Jahre alt, ein Ehrenmann durch und durch, und hatte den großen Einfluß, den er besaß, stets nur zu unsern Gunsten in Anwendung gebracht. Wegen dieses seines hohen Alters und weil ich nie wieder von ihm hörte, hatte ich ihn dann für tot gehalten. Nun aber ersah ich aus dem Brief, daß er noch lebte und sich in guter körperlicher und geistiger Verfassung befand. Denn, wäre dieses letztere nicht der Fall gewesen, so hätte der Schreiber desselben unmöglich sagen können, daß der oberste Kriegsanführer der Schoschonen vielleicht auch mit nach dem Mount Winnetou kommen werde.

Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, wo dieser Berg lag. Ich wußte nur, daß die Apatschen sich mit den ihnen befreundeten anderen Stämmen dahin einigen wollten, irgendeinen nach seiner Lage, seinen Eigenschaften und seiner Wichtigkeit ausgezeichneten Berg nach dem Namen ihres geliebtesten Häuptlings zu nennen. Davon, daß dies geschehen sei, hatte ich nichts gehört, und noch viel weniger war mir mitgeteilt worden, auf welchen Berg die Wahl gefallen war. Doch soviel konnte ich mir denken, daß es nicht einer war, der außerhalb des Bereiches, in dem die Apatschen sich bewegen, liegt. Und weil die Schlangenindianer ihre Lager- und Weideplätze viele Tagesritte davon im Norden haben, so war es gewiß ein ganz außerordentlicher Fall, daß ein Mann, der über hundertundzwanzig Jahre zählte, es sich zutraute, diese Reise machen zu können, ohne von der Not, sondern nur von seinem jung gebliebenen Herz dazu getrieben zu sein.

Und warum wollte er mit seinem Sohn so weit nach Süden kommen? Das wußte ich nicht. Ich fand auch durch kein noch so scharfes und noch so kompliziertes Nachdenken eine einwandfreie Antwort auf diese Frage. Ich konnte nichts tun, als warten, ob sich auch von anderer Seite dergleichen Zuschriften einstellen würden. Den Brief zu beantworten, war unmöglich, weil ich den jetzigen Aufenthaltsort der beiden Häuptlinge nicht kannte. Auf alle Fälle aber war es kein unwichtiger Grund, der sie veranlaßte, das ihnen so fernliegende Gebiet der Apatschen aufzusuchen. Ich nahm an, daß dieser Grund sich nicht auf enge, rein persönliche Verhältnisse bezog, sondern eine allgemeinere Bedeutung hatte, und da meine Adresse da drüben bekannt ist und ich mit vielen, dort lebenden Personen, von denen ich in meinen Büchern erzählt habe und noch erzählen werde, im Briefwechsel stehe, so durfte ich wohl hoffen, bald weiteres zu erfahren.

Und wie gedacht, so geschehen! Kaum zwei Wochen später kam ein zweiter Brief, aber von einer Seite, von welcher ich am allerwenigsten ein Lebenszeichen oder gar eine Zuschrift erwartet hätte. Das Kuvert zeigte genau dieselbe Adresse, und der englisch geschriebene Inhalt lautete, in die deutsche Sprache übersetzt, wie folgt:

„Komm an den Mount Winnetou zum großen, letzten Kampf! Und gib mir endlich Deinen Skalp, den Du mir schon zwei Menschenalter lang schuldig bist! Dieses läßt Dir schreiben

To-kei-chun,
der Häuptling der Racurroh-Komantschen.“

Und nur eine Woche später erhielt ich, auch wieder unter derselben Adresse, folgende Zuschrift:

„Hast Du Mut, so komme herüber nach dem Mount Winnetou! Meine einzige Kugel, die ich noch habe, sehnt sich nach Dir!

Tangua,
ältester Häuptling der Kiowas.

Geschrieben von Pida, seinem Sohn, dem jetzigen Häuptling der Kiowas, dessen Seele die Deinige grüßt.“

Diese beiden Briefe waren im höchsten Grad interessant, und zwar nicht nur psychologisch. Fast schien es, als ob sie von To-kei-chun und Tangua an dem gleichen Ort und unter dem gleichen Einfluß diktiert worden seien. Beide hatten mich noch genauso unversöhnlich wie ehedem. Ganz eigenartig war es, daß der Sohn des letzteren mich trotz dieses Hasses grüßte, doch fiel es mir nicht schwer, diese Dankbarkeit zu verstehen. Aber wichtiger, viel wichtiger als das Alles war, daß auch die Feinde der Apatschen hinauf nach dem Mount Winnetou wollten. Es wurde da von einem „großen, letzten Kampf“ gesprochen. Das klang außerordentlich gefährlich. Ich begann, besorgt zu werden, ernstlich besorgt! Oder gab es da drüben jemand, etwa einen alten, früheren Gegner, der sich jetzt, in meinen alten Tagen, den Spaß machen wollte, mich zu foppen und zu einer Einfaltsreise nach Amerika zu bewegen? Aber nach der Hälfte eines Monats erhielt ich folgenden Brief, der in Oklahoma aufgegeben war und für mich ein Dokument bildete, dem ich vollsten Glauben zu schenken hatte:

„Mein lieber, weißer Bruder!

Der große, gute Manitou in meinem Herzen gebietet mir, Dir zu sagen, daß ein Bund der alten Häuptlinge und ein Bund der jungen Häuptlinge nach dem Mount Winnetou berufen ist, um über die Bleichgesichter zu Gericht zu sitzen und über die Zukunft der roten Männer zu entscheiden. Du wirst kommen, und ich werde kommen. Meine Seele freut sich auf die Deinige. Ich zähle die Tage, Stunden und Minuten, bis ich Dich sehen werde!

Dein roter Bruder
Schahko Matto,
Häuptling der Osagen.“

Auch dieser Brief war englisch geschrieben, und zwar von seinem Sohn, dessen Handschrift ich kannte, weil ich im Briefwechsel mit ihm stehe. Zudem hatte Schahko Matto sein ledernes Totem beigelegt, was er immer tat, wenn es sich um etwas Wichtiges handelte. Ich konnte also die Vermutung einer Fopperei fallenlassen. Die Sache war Wirklichkeit, war Ernst. Der Gedanke, hinüberzugehen, begann, mich lebhaft zu beschäftigen. Freilich aber war es, um diesen Gedanken zum Entschluß zu bringen, nötig, vorher erst noch Näheres und Bestimmteres zu erfahren. Und das ließ nicht lange auf sich warten. Ich erhielt einen großbogigen, wie amtlich zusammengelegten Schreibebrief, welcher den Zweck hatte, eine Einladung zu sein, aber seines Tones wegen war er schon richtiger als eine „Zufertigung“ zu bezeichnen. Ich gebe ihn in deutscher Uebersetzung, die Ueberschrift abgerechnet:

"Dear Sir,

In den vorjährigen Versammlungen der Häuptlinge wurde einmütig beschlossen, den hierzu geeignetsten Berg des Felsengebirges forthin mit dem Namen Winnetous, des berühmtesten Häuptlings aller Nationen, zu bezeichnen. Es wurde hierzu die höchstwahrscheinlich auch Ihnen wenigstens geographisch bekannte Kulmination gewählt, auf welche der geheimnisvolle Medizinmann Tatellah-Tatah (Thousand-years) sich zurückgezogen hat. Am Fuß resp. auf den Stufen dieses Berges sollen um die Mitte des heurigen September folgende Versammlungen abgehalten werden:

1. Das Campmeeting der alten Häuptlinge.

2. Das Campmeeting der jungen Häuptlinge.

3. Das Campmeeting der Häuptlingsfrauen.

4. Das Campmeeting aller außerdem berühmten roten Männer und roten Frauen.

5. Das Schlußmeeting unter der Leitung des hier unterzeichneten Komitees.

Es wird in Ihr Belieben gestellt, sich hierzu persönlich einzufinden und bei dem Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter zu melden, wobei Ihnen der Gegenstand aller dieser Beratungen bekanntgegeben wird. Zugleich werden Sie darauf aufmerksam gemacht, daß diese Meetings ebenso wie sämtliche Vorbereitungen zu ihnen vor den Angehörigen anderer Rassen vollständig geheimzuhalten sind. Wir verpflichten Sie hiermit zur strengsten Diskretion und fühlen uns berechtigt, anzunehmen, daß wir Ihre ehrenwörtliche Versicherung, zu schweigen, bereits bekommen haben. Nummernmarken für die bei unsern Zusammenkünften Ihnen anzuweisenden Platze haben Sie sich bei dem unterzeichneten Schriftführer persönlich abzuholen. Sämtliche Reden zum Beratungsgegenstand sind des besseren Verständnisses wegen in englischer Sprache zu halten.

Hochachtungsvoll

Das Komitee.

Gezeichnet:

Simon Bell (Tscho-lo-let),
Professor der Philosophie, als Vorsitzender.
Edward Summer (Ti-iskama),
Professor der Klassikal-Philologie,
als Stellvertreter des Vorsitzenden.
William Evening (Pe-widah),
Agent, als Schriftführer.
Antonius Paper (Okih-tschin-tscha),
Bankier, als Kassierer.
Old Surehand,
Partikulier, als Direktor.“

„Ich hoffe, das Du auf alle Fälle kommst. Betrachte mein Haus als das Deinige, auch wenn wir nicht daheim sind. Ich bin als Direktor jetzt leider stets unterwegs. Es gibt für Dich eine ungeheuer freudige Überraschung. Du wirst entzückt sein über die Leistung unserer beiden Jungens.

Dein alter, treuer Old Surehand.“

Ich füge zu diesem langen Brief gleich den folgenden, kürzeren, der bei mir eintraf. Er lautete:

„Mein Bruder!

Ich weiß, daß Du eingeladen bist. Versäume ja nicht, Dich einzustellen! Ich freue mich unbeschreiblich auf Dich. Die beiden Boys werden Dir noch besonders schreiben. Dein

Apanatschka,
Häuptling der Kanean-Komantschen.“

Diese „beiden Boys“ oder wie Old Surehand sich ausgedrückt hatte, „unsere beiden Jungens“, schrieben mir hierauf folgende Zeilen:

„Hochverehrter Herr!

Als Sie uns einst von unserem falschen, niedrigen Kunstweg so streng hinüber nach dem höheren, ja allernächsten wiesen, versprachen wir Ihnen, nur erst dann an die Oeffentlichkeit zu treten, wenn wir imstande seien, durch wirkliche und unanfechtbare Meisterwerke zu beweisen, daß die rote Rasse in keiner Weise weniger begabt ist, als irgendeine der anderen Rassen, auch in Beziehung auf die Kunst. Wir erbten unsere Begabung von unserer Großmutter, die, wie Sie wissen, eine Vollindianerin, ja, in rein äußerer Beziehung sogar ein Vollindianer war. Wir sind bereit, den von Ihnen verlangten Beweis jetzt nun zu führen. Sie versprachen uns, wenn diese Zeit gekommen sei, sich trotz der weiten Entfernung hier bei uns einzustellen, um unsere Werke zu prüfen. Wir sind der Meinung, daß wir diese Prüfung nicht zu fürchten haben, und erwarten Sie um die Mitte des September am Mount Winnetou, um Sie willkommen zu heißen. Wir haben erfahren, daß Sie, wie sich ganz von selbst verstand, eingeladen sind, an diesen verschwiegenen und hochwichtigen Beratungen teilzunehmen, und hegen die feste Ueberzeugung, daß Sie sich durch nichts abhalten lassen werden, zur rechten Zeit am angegebenen Ort zu erscheinen. In größter Hochachtung sind wir Ihre ganz ergebenen

Young Surehand.
Young Apanatschka.“

Diese Zuschrift hatte Hände und Füße. Sie machte mir Freude, obgleich sie von den beiden „Jungens“ nur zu dem Zweck, mir einen tüchtigen Rippenstoß zu versetzen, in dieser Weise verfaßt worden war. Wer meine beiden Reiseerzählungen „Winnetou“ und „Old Surehand“ gelesen hat, kann sich sehr leicht denken, wer diese beiden Boys sind. Wer sie noch nicht gelesen hat, den muß ich bitten, dies nachzuholen, um den vorliegenden Band, der zu gleicher Zeit auch der vierte Band von „Old Surehand“ und „Satan und Ischariot“ ist, verstehen zu können.

Wie man sich erinnern wird, hatte sich herausgestellt, daß Old Surehand und Apanatschka Brüder waren, die man ihrer Mutter, einer körperlich, seelisch und geistig hochbegabten Indianerin, unterschlagen hatte. Um diesen Raub aufzuklären, hatte sie, als Indianer verkleidet, unter dem Namen Kolma Putschi viele Jahre lang die Städte des Ostens, die Savannen und die Urwälder durchforscht, ohne dieses Ziel zu erreichen, bis es Winnetou und mir gelang, die von ihr gesuchten Spuren und infolgedessen dann auch die beiden Söhne zu entdecken, den einen als hochberühmten Westmann und den andern als nicht weniger berühmten Komantschenhäuptling, zwei außerordentlich wertvolle Menschen, deren Freundschaft mir treugeblieben ist, trotz aller Wandlungen, welche sowohl ihr als auch mein Leben seit damals durchzumachen hatte.

Beide heirateten später ein schönes, intelligentes Schwesternpaar aus dem besonderen Stamm Winnetous, also der Mescaleroapatschen, und jedem von ihnen war sodann die Freude beschert, einen Sohn zu besitzen, auf den alle Begabungen Kolma Putschis in noch vermehrtem Grad vererbt worden waren. Sie hatten die Mittel, diese Gaben ausbilden zu lassen. Young Surehand und Young Apanatschka wurden nach dem Osten gebracht, um Künstler zu werden, der erstere Architekt und Bildhauer und der letztere Maler und Bildhauer. Die auf sie gesetzten Hoffnungen erfüllten sich. Sie gingen später auf einige Jahre nach Paris, um dort die berühmtesten Ateliers zu studieren, dann nach Italien und endlich gar nach Ägypten, wo sie sich die Aufgabe stellten, sich dort mit den Gesetzen der einstigen Gigantenkunst vertraut zu machen. Auf dem Rückweg kamen sie über Deutschland, um mich aufzusuchen. Sie waren mir sehr sympathisch. Ich hatte meine Freude an ihnen, und zwar nicht allein deshalb, weil sie meinen unvergleichlichen Winnetou fast als einen Halbgott verehrten. Auch ihr künstlerisches Wollen und Können war hervorragend und schien noch wachsen zu können. Leider aber war es in echt amerikanischer Weise auf den Abweg des Busineß hinübergeleitet worden, und so geschah es, daß sie von mir anstatt eines Lobes eine sehr ernste Warnung zu hören bekamen, die sie mir, wie ich aus ihrem Brief ersah, bis heute noch nicht vergessen und vergeben hatten. Dies war wohl auch der Grund, daß ich weder von ihren Vätern noch von ihnen selbst über ihre Zukunftspläne und ihr jetziges künstlerisches Schaffen unterrichtet worden war. Ganz besonders schweigsam gegen mich aber verhielt man sich über die Gründe, welche die beiden jungen Leute veranlaßt hatten, grad die Kolossaldarstellungen der alten Ägypter zu studieren. Das hatte Geheimnis bleiben sollen. Jetzt aber begann ich zu ahnen, daß die „Meisterwerke“, zu deren Begutachtung ich eingeladen war, hierzu in Beziehung standen.

Ich kann ganz und gar nicht behaupten, daß die Briefe, welche in so schneller Folge bei mir anlangten, mir Freude bereiteten. Warum sagte man mir nicht gleich offen und ehrlich, um was es sich eigentlich handelte? Wozu diese heimliche Campmeetingspielerei? Große und fruchtbare Gedanken werden in heiliger, unberührter Einsamkeit geboren, nicht aber in langen Reden, die doch nur auf kurze Erfolge berechnet sein können! Warum diese Trennung der alten Häuptlinge von den jungen? Wozu noch extra die roten Frauen? Wer waren die „außerdem berühmten roten Männer und roten Frauen“? Etwa die Herren dieses mir so sonderbar, ja sogar verdächtig vorkommenden Komitees? Sie wollten das Schlußmeeting leiten, also die Beschlüsse sämtlicher Versammlungen beeinflussen und korrigieren! Die Namen der beiden Professoren, geborener Indianer, kannte ich. Sie hatten einen guten Klang. Aber den Ton, in dem sie an mich schrieben, hätte sich kein Sam Hawkens, kein Dick Hammerdull und kein Pitt Holbers gefallen lassen. Der Schriftführer und der Kassierer waren mir vollständig fremd. Und Old Surehand als Direktor? Was sollte das heißen? Wozu hier einen besonderen „Direktor“? Etwa um die moralische Verantwortung oder gar die pekuniäre Garantie auf ihn zu werfen? Old Surehand war ein Westmann allerersten Ranges gewesen; aber ob er auch imstande war, es mit der geschäftlichen Smartneß eines geriebenen, amerikanischen Pfiffikus aufzunehmen, das wußte ich leider nicht. Die Sache kam mir um so bedenklicher vor, je länger und intensiver sie mich beschäftigte. Auch meiner Frau gefiel sie nicht. Und weil ich sie hierbei mit erwähne, so sei zugleich gesagt, daß auch sie ein Schreiben bekam, nämlich folgendes:

„Meine liebe, weiße Schwester!

Nun werden meine Augen Dich endlich, endlich sehen; meine Seele sah Dich schon längst. Der Gebieter Deines Hauses und Deiner Gedanken wird nach dem Mount Winnetou kommen, um mit uns über Großes und Schönes zu beraten. Ich weiß, er wird diese Reise nicht tun, ohne daß Du ihn begleitest. Ich bitte Dich, ihm zu sagen, daß ich das beste unserer Zelte für Dich und ihn bereithalten werde und daß ich Dein Kommen vorempfinde als einen lieben, warmen Strahl der Sonne, die meinem Leben unbekannt gewesen ist bis nun, da es zum Scheiden gehen will. So komm also, und bring mir Deine Menschenliebe, Deine Herzensgüte und – – – Deinen Glauben an den großen, gerechten Manitou, den ich gern ebenso deutlich fühlen möchte, wie Du, meine Schwester, ihn fühlst.

Kolma Putschi.“

Ich muß erwähnen, daß das Herzle mit Kolma Putschi in Briefwechsel stand und heut noch steht, und daß diese Zuschrift nicht ohne Einfluß auf unsere Entschließungen war. Wenn ich wirklich ging, so verstand es sich nun ganz von selbst, daß ich diese Reise nicht allein unternahm. Es liefen noch mehrere Briefe ein. Ich wähle unter ihnen nur noch einen aus, weil er mir als der wichtigste von allen erscheint, die ich über diesen Gegenstand bekam. Er war von einer geradezu kalligraphisch geübten Hand auf sehr gutes Papier geschrieben und in das große Totem dessen, der ihn diktiert hatte, gehüllt. Dieses Totem bestand aus papierdünnem Antilopenleder, welches durch eine Behandlung, die nur die Indsmen kennen, die Weiße des Schnees und die Glätte des Porzellans erhalten hatte. Die einpunktierten Charaktere waren mit Zinnober und einer andern, mir unbekannten Farbe rot und blau gefärbt. Der Inhalt lautete:

„Mein weißer, älterer Bruder!

Ich fragte Gott nach Dir. Ich wollte wissen, ob Du noch unter Denen weilst, von denen man sagt, daß sie leben. Die Antwort kam durch die Benachrichtigung, daß man Dich eingeladen habe, an den Septemberberatungen hier in meinen Bergen, deren heilige Stille und Ruhe für immer vernichtet werden soll, teilzunehmen. Sei um aller Derer willen, die Du einst hier liebtest und vielleicht noch heute liebst, gebeten, diesem Ruf Folge zu leisten. Eile herbei, wo Du auch seist, und rette Deinen Winnetou! Man will ihn falsch verstehen, und man will auch mich nicht begreifen. Du hast weder mich, noch habe ich Dich jemals gesehen. Wie ich nie einen Laut Deiner Stimme vernahm, so hörtest auch Du niemals den Klang der meinigen. Heut aber schreit meine Angst weit über das Meer hinüber zu Dir, so laut, so laut, daß Du es hören wirst und unbedingt kommen mußt.

Niemand weiß, daß ich Dich rufe. Nur der dies schreibt, mußte es erfahren. Er ist meine Hand; er schweigt. Wende Dich, bevor Du hier erscheinst, nach dem Nugget-tsil. Die mittelste der fünf großen Blaufichten wird zu Dir sprechen und Dir sagen, was ich diesem Papier nicht anvertrauen kann. Ihre Stimme sei Dir wie die Stimme Manitous, des großen, ewigen und alliebenden Geistes! Ich bitte Dich noch einmal: Komm, o komm, und rette Deinen Winnetou. Man will ihn Dir erwürgen und erschlagen!

Tatellah-Satah,
der Bewahrer der großen Medizin.“

Was den in diesem Brief erwähnten Nugget-tsil betrifft, so versteht man unter Nuggets die mehr oder weniger großen, gediegenen Goldkörner, welche von den Goldsuchern entweder einzeln, zuweilen aber auch in ganzen, reichhaltigen Nestern gefunden werden. Tsil bedeutet in der Apatschensprache soviel wie Berg. Nugget-tsil heißt also soviel wie „Goldkörnerberg“. Auf diesem Berg sind bekanntlich der Vater und die Schwester meines Winnetou von einem gewissen Sander ermordet worden. Später, kurz vor dem Tod Winnetous, den er im Innern des Hancockberges fand, teilte er mir mit, daß er sein Testament für mich auf dem Nugget-tsil vergraben habe, und zwar zu Füßen seines dort bestatteten Vaters; ich werde da viel Gold zu sehen bekommen, sehr viel Gold. Als ich hierauf nach dem Nugget-tsil ritt, um das Testament zu holen, wurde ich dabei von diesem Sander überrascht und von einer Schar von Kiowa-Indianern, bei denen er sich befand, gefangengenommen. Der Anführer dieser Schar war der damals noch jugendliche Pida, der mich jetzt, nach über dreißig Jahren, in dem Brief seines Vaters, des ältesten Häuptlings Tangua, aus seiner „Seele“ grüßte. Sander stahl das Testament und entfloh mit ihm, um das Gold zu holen, dessen Fundstelle in der letztwilligen Verfügung Winnetous beschrieben war. Ich machte mich von den Kiowas frei und eilte ihm nach. Ich kam an Ort und Stelle an, als er den Schatz soeben gefunden hatte. Das Versteck lag auf einem hohen Felsen am Ufer des einsamen Bergsees, den man „Das dunkle Wasser“ zu nennen pflegt. Als er mich sah, schoß er auf mich. Was dann geschah, das ist im letzten Kapitel von „Winnetou“, Band III, zu lesen.

Und in Beziehung auf Tatellah-Satah, den „Bewahrer der großen Medizin“, mußte ich gestehen, daß es stets einer meiner Herzenswünsche gewesen war, diesen geheimnisvollsten aller roten Männer einmal zu sehen und zu sprechen; nie aber hatte eine Gelegenheit bereit gestanden, mir dieses wirklich herzliche Verlangen zu erfüllen. Tatellah-Satah ist ein Name, welcher der Taossprache angehört und wörtlich übersetzt „Tausend Sonnen“ heißt, in seiner Anwendung aber „Tausend Jahre“, bedeutet. Der Träger desselben hatte also ein so ungewöhnliches, ja außerordentliches Alter, daß man die Höhe des letzteren unmöglich bestimmen konnte. Ganz ebensowenig wußte man, wo er geboren worden war. Er gehörte keinem einzelnen Stamm an. Er wurde von allen roten Völkern und Nationen gleich hoch verehrt. Was Hunderte und Aberhunderte von einzelnen Medizinmännern im Laufe der Zeit an Geistesgaben und Kenntnissen besessen hatten, das sprach man ihm, dem Höchstgestiegenen, in voller Summe zu. Um zu begreifen, was das heißt, muß man wissen, daß es grundfalsch ist, sich einen indianischen „Medizinmann“ als einen Kurpfuscher, Regenmacher und Gaukler vorzustellen. Das Wort Medizin hat in dieser Zusammensetzung nicht das Allergeringste mit der Bedeutung zu tun, die es bei uns besitzt. Es ist für die Indianer ein fremder Ausdruck, dessen Sinn sich bei ihnen derart verändert hat, daß wir uns dabei grad das Gegenteil von dem zu denken haben, was wir uns bisher dabei dachten.

Als die Roten die Weißen kennenlernten, sahen, hörten und erfuhren sie gar manches, was ihnen gewaltig imponierte. Am meisten aber erstaunten sie über die Wirkung unserer Arzneimittel, unserer Medizinen. Die Sicherheit und Nachhaltigkeit dieser Wirkung war ihnen schier unbegreiflich. Sie erkannten die unendliche Größe der göttlichen Liebe, welche sich in diesem Geschenk des Himmels an das Geschlecht der Menschen offenbarte. Sie hörten das Wort Medizin zum erstenmal, und sie verbanden mit ihm den Begriff des Wunders, des Segens, der göttlichen Liebe und des für die Menschen unbegreiflichen Geheimwirkens in heiligster Verborgenheit. Kurz, der Ausdruck „Medizin“ wurde für sie gleichbedeutend mit dem Wort Mysterium. Sie nahmen die Benennung „Medizin“ in alle ihre Sprachen und Dialekte auf. Alles, was mit ihrer Religion, ihrem Glauben und ihrem Forschen nach ewigen Dingen in Beziehung stand, wurde als „Medizin“ bezeichnet. Ebenso auch alle diejenigen Tatsachen europäischer Wissenschaft und europäischer Zivilisation, die sie nicht begreifen konnten, weil sie weder die Anfänge noch die Entwickelungen derselben kannten. Sie waren aufrichtig und ehrlich genug, unumwunden zuzugeben, daß die Vorzüge der Bleichgesichter zahlreicher und größer seien als diejenigen der roten Männer. Sie trachteten, den ersteren nachzueifern. Sie nahmen von ihnen vieles Gute, leider aber auch vieles Böse an. Sie waren so kindlich und so naiv, so manches, was bei den Weißen nur auf dem Fuß des Gewöhnlichen oder gar des Niedrigen stand, für ungewöhnlich, für hoch, für heilig zu halten und sich für immer anzueignen, ohne vorher zu prüfen und ohne zu fragen, welche Folgen das bringen werde. So nahmen sie auch das Wort „Medizin“ bei sich auf und bezeichneten damit ihr Allerhöchstes und Allerheiligstes, ohne zu wissen, daß sie gerad dieses Höchste und Heiligste damit beleidigten und entwürdigten. Denn zu der Zeit, als sie dies taten, hatte der Ausdruck Medizin nicht etwa den guten, ehrenden Klang wie heut. Er besaß den starken Beigeschmack von Hokuspokus, Quacksalberei und Windbeutelei, und als die Indianer in ihrer Unbefangenheit die Träger ihrer allerdings noch bei den Anfängen stehenden Theologie und Wissenschaft als „Medizinmänner“ bezeichneten, ahnten sie nicht, daß sie damit den bisherigen guten Ruf dieser Leute für immer vernichteten.

Wie hoch diese letzteren standen, ehe sie Gelegenheit hatten, die „Zivilisation“ der Weißen kennenzulernen, ersehen wir heutigen Tages erst nach und nach, indem wir unsere Forschung tiefer und tiefer in die Vergangenheit der amerikanischen Rasse hinuntersteigen lassen. Diese Vergangenheit zeigt uns zahlreiche Punkte, auf denen die Völker Amerikas auf gleicher Stufe mit den Weißen standen. Alles, was bei jenen Völkern und in jenen Reichen Gutes, Großes und Edles geschah, entsprang jenen geistigen Quellen und den Köpfen jener Männer, welche von ihren Nachkommen später als „Medizinen“ und „Medizinmänner“ bezeichnet wurden. Hiermit sind Theologen, Politiker, Strategen, Astronomen, Tempelbaumeister, Maler, Bildhauer, Quipu-Entzifferer, Professoren, Aerzte, kurz, alle diejenigen Personen und Stände zusammengefaßt, durch welche die intellektuellen und ethischen Potenzen jener Zeiten sich betätigten. Es gab unter diesen später als „Medizinmänner“ bezeichneten Koryphäen genau ebenso berühmte und hochberühmte Namen wie in der Entwicklungsgeschichte der asiatischen und europäischen Rassen, und sie sind nicht für immer, sondern nur für einstweilen verschollen, weil unsere Kenntnis und unser Verständnis noch nicht soweit vorgeschritten sind, jenes geschichtliche Dunkel zu erleuchten. Wenn die Medizinmänner der Gegenwart nicht mehr die Medizinmänner der Vergangenheit sind, so trägt der Indianer gewiß nicht allein die Schuld daran. Die geistige Elite der Inkas, der Tolteken und Azteken, also die „Medizinpflegerschaft“ der Peruaner und Mexikaner, stand gewiß nicht auf einem sehr viel niedrigeren Niveau als die Abenteurer eines Cortez und Pizarro, und wenn diese damalige Höhe sich infolge der spanischen Invasion zur heutigen Tiefe neigte, so daß wir jetzt die Indianer einfach und kurzerhand als „Wilde“ bezeichnen, so brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, daß auch ihre Medizinmänner mit herabgekommen sind. Sie waren gezwungen, diesen Niedergang mitzumachen.

Trotzdem aber sind sie noch lange nicht das, wofür wir sie halten. Ich habe noch keinen Weißen kennengelernt, der von irgendeinem Medizinmann in seine Geheimnisse und Anschauungen eingeweiht worden ist oder der wenigstens die Symbolik der betreffenden Gebräuche derart begreift, wie sie begriffen werden muß, ehe man behaupten kann, über sie sprechen oder gar schreiben zu dürfen. Ein wirklicher Medizinmann, der es ernst mit seinem Amt und seiner Würde nimmt, gibt sich nie zu Schaustellungen her. Die sogenannten Medizinmänner der von Zeit zu Zeit hier bei uns herumvagabundierenden Völkerwiesenindianer sind alles andere, aber nur keine wirklichen Medizinmänner, und an ihren Verrenkungen, Sprüngen und sonstigen Possen würde ein solch letzterer gewiß ebensowenig teilnehmen, wie zum Beispiel bei uns ein ernstgesinnter Gottes- oder Weltgelehrter auf den Gedanken kommen könnte, auf einem Jahrmarkt oder Vogelschießen für Geld und öffentlich einen Schuhplattler oder einen Purzelbäumler zu tanzen.

Ich bitte meine Leser, diese Ausführungen ja nicht für langweilig oder gar für überflüssig zu halten. Ich mußte das sagen, denn es gilt, von nun an gerecht zu sein und von den bisherigen Fehlern, die wir in der Psychologie der roten Rasse begingen, endlich einmal abzulassen. Wenn wir in Tatellah-Satah einen jener alten, hochstehenden Medizinmänner der Vergangenheit kennenlernen, die wie Säulen im Bild eines Tagesscheidens stehen, so war ich als gewissenhafter und wahrheitstreuer Zeichner verpflichtet, den forschenden Blick auf die Betrachtung dieses Gemäldes vorzubereiten.

Der geheimnisvolle Mann, von dem ich mit so großer Hochachtung spreche, war nicht etwa mein Freund gewesen, o nein! Aber ja auch nicht mein Feind! Er war überhaupt keines Menschen Feind. Sein Denken und Fühlen war absolut gerecht und absolut human, sein Handeln ebenso. Aber wie er zu mir stand, das war noch schlimmer und noch niederdrückender, als wenn er mein Feind gewesen wäre. Ich war nämlich für ihn gar nicht vorhanden. Er übersah mich vollständig. Warum? Weil er mich seit dem Tag, an welchem der Vater und die Schwester meines Winnetou ermordet worden waren, als ihren eigentlichen Mörder betrachtete. Sie war aus eigenem Wunsch und auf Wunsch ihres ganzen Stammes zu meiner Frau bestimmt gewesen, ich aber hatte sie abgewiesen. Sie hieß Nscho-tschi, und sie trug diesen Namen mit Recht. Nscho-tschi heißt auf deutsch „Schöner Tag“, und als sie starb, ging eine helltagende, schöne Hoffnung der Apatschen mit ihr aus dem Leben, besonders eine liebe, große Hoffnung des alten Medizinmannes Tatellah-Satah. Sie war für ihn die schönste und beste Tochter sämtlicher Apatschenstämme, und er behauptete, daß sie damals nicht erschossen worden wäre, wenn ich mich nicht abweisend, sondern entgegenkommend verhalten hätte. Ich gab dies zwar unumwunden zu, fühlte mich aber von jedem Selbstvorwurf so vollständig frei, als ob die liebe, aufopferungsvolle Freundin heut noch lebte. Sie hatte nach dem Osten gewollt, um sich eine höhere Bildung anzueignen, und war unterwegs mit Intschu-tschuna, ihrem Vater, erschossen worden, um beraubt zu werden. Nie war es Winnetou, ihrem Bruder, eingefallen, deshalb, weil sie diese Reise meinetwegen unternommen hatte, auch nur den Schatten einer Anklage gegen mich zu richten; Tatellah-Satah aber hatte mich dafür aus seinem Buch, aus seinem Leben und aus allen seinen Berechnungen gestrichen, und zwar für immer und ewig, wie es schien. Er wohnte seit Menschengedenken in größter Einsamkeit hoch oben im Gebirge. Nur Häuptlinge durften sich ihm nahen, und auch das so selten wie möglich. Es mußte sich um Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit handeln, ehe jemand die Erlaubnis bekam, zu ihm emporzusteigen. Nur Winnetou, sein ganz besonderer Liebling, durfte kommen, so oft es ihm beliebte. Ihm wurde jeder Wunsch erfüllt, dessen Erfüllung überhaupt möglich war, aber nur der eine nicht, den er oft vergebens äußerte, nämlich der, mich einmal mitbringen zu dürfen.

Und nun jetzt, nach so langer Zeit, auf einmal diese dringende Einladung! Das konnte nur sehr ernste und sehr gewichtige Gründe haben, Gründe, die keine gewöhnlichen und alltäglichen Ziele verfolgten, sondern sich auf Besseres und Wertvolleres bezogen, als ich jetzt, da ich seinen Brief soeben erst erhalten hatte, schon zu durchschauen vermochte. Aber es stand nun fest, daß ich hinüberging und daß ich zur rechten Zeit auf dem Nugget-tsil eintreffen Würde, um die mir bezeichnete Blaufichte zu mir sprechen zu lassen. Und ebenso bestimmt war es, daß das Herzle mich begleitete.

Als sie das hörte, jubelte sie nicht etwa auf, sondern sie zeigte mir ganz im Gegenteil ihr ernsthaftestes Gesicht. Sie dachte an die Anstrengungen einer solchen Reise und an die Gefahren eines solchen Rittes durch den Westen. Denn daß die von nah und fern herbeieilenden vielen Häuptlinge sich nicht der Eisenbahn bedienen würden, verstand sich ganz von selbst; das war überhaupt schon durch die Heimlichkeit, mit der Alles zu geschehen hatte, ausgeschlossen. Aber sie dachte, indem sie von diesen Anstrengungen und Gefahren sprach, nicht an sich selbst, sondern nur an mich. Es gelang mir jedoch sehr leicht, sie zu überzeugen, daß man jetzt zwar noch von einem „Westen“, aber schon langst nicht mehr von einem „Wilden Westen“ sprechen könne und daß ein solcher Ritt für mich nur eine Erholung, nicht aber eine Beschwerde sei. Was sie selbst betrifft, so war sie gesund, mutig, geschickt, ausdauernd und frugal genug, um mich begleiten zu können. Sie beherrschte die englische Sprache, und sie hatte durch das fleißige Zusammenstudieren und Zusammenarbeiten mit mir sich so ganz nebenbei auch eine Menge indianischer Wörter und Redensarten angeeignet, die ihr zustatten kommen mußten. Auch was das Reiten betrifft, so war ihr unser letzter längerer Aufenthalt im Orient eine gute Lehrzeit gewesen. Sie hatte sich da ganz geschickt benommen und nicht nur Pferde, sondern auch Kamele gut zu behandeln gelernt.

Und wie stets und überall, so zeigte sie sich auch hier als klug berechnende, wirtschaftlich vorausschauende Hausfrau. Ich hatte von einigen amerikanischen Verlagsbuchhändlern Offerten erhalten, die sich auf die Herausgabe meiner Werke in englischer Sprache für da drüben bezogen. Diese Herren sollte ich, so meinte das Herzle, bei dieser Gelegenheit persönlich aufsuchen, um, falls sie auf meine Bedingungen eingingen, mit ihnen bequemer abschließen zu können, als es aus der Ferne und brieflich möglich war. Um die Deckelbilder vorzeigen zu können, machte sie sich von den Originalen derselben photographische Kopien im Großformat, die ihr sehr gut gelangen, denn das Herzle versteht das Photographieren viel, viel besser als ich. Am besten gelang ihr der Sascha Schneidersche zum Himmel aufstrebende Winnetou. Von demselben Künstler besitze ich auch zwei prächtige, ergreifende Porträts von Abu Kital, dem Gewaltmenschen, und Marah Durimeh, der Menschheitsseele. Auch diese beiden, die für die nächsten Bände bestimmt sind, wurden photographiert, um mitgenommen zu werden, und zwar nicht auf Karton, sondern unaufgezogen, also so dünn, daß sie im Koffer fast gar keinen Raum einnahmen und zusammengerollt oder zusammengebrochen in die Rocktasche gesteckt werden konnten.

Ich bitte, auch diese rein geschäftlichen Bemerkungen nicht für langweilig oder gar für überflüssig zu halten. Man wird im Verlauf der Erzählung sehen, daß einige dieser Bilder eine nicht gewöhnliche Wichtigkeit in der Kette der Ereignisse erhielten. Wer mich kennt, der weiß, daß es für mich keinen „Zufall“ gibt. Ich führe Alles, was geschieht, auf einen höheren Willen zurück, mag man diesen Willen als Gott, als Schicksal, als Fügung oder sonst irgendwie bezeichnen. Diese Fügung waltete auch hier, dessen bin ich überzeugt. Die Buchhändlerofferten verliefen und zerronnen später zu nichts; ich fand gar keine Zeit, diese Herren aufzusuchen. Ihr Zweck war nur, den Anstoß zu dem Gedanken zu bilden, die Buchdeckel zu kopieren und diese Abzüge mitzunehmen.

Noch klarer und noch deutlicher trat dieser Schicksalszweck bei einer anderen Verlagsofferte hervor, die mir aber nicht schriftlich, sondern mündlich gemacht wurde, und zwar auffälligerweise genau zu derselben Zeit und auch von einem Amerikaner. Besonders beachtenswert sind hierbei die Nebenumstände, durch welche der Gedanke, es nur mit einem Zufall zu tun zu haben, vollständig ausgeschlossen wurde.

Ich habe hier in Dresden einen Freund, der ein viel in Anspruch genommener Arzt und Psychiater ist. Besonders auf dem letzteren Gebiet hat er ganz bedeutende Erfolge errungen. Er wird da als Autorität bezeichnet und von Fremden nicht weniger als von Einheimischen zu Rate gezogen. Dresden ist bekanntlich eine vielbesuchte Fremdenstadt.

Bei einem Besuch, den dieser Freund uns machte, nicht etwa Sonntags, wo er frei war, sondern mitten in der Woche, und zwar abends spät, also zu einer Zeit, in der wir noch niemals von ihm aufgesucht worden waren, kam die Rede auf unsern Entschluß, mit dem Norddeutschen Lloyd nach New York zu fahren.

„Etwa um Nuggets zu holen?“ fragte er so schnell, als ob er nur auf diese unsere Mitteilung gewartet hätte.

„Wie kommen Sie grad auf Nuggets?“ antwortete ich.

„Weil ich heut eines gesehen habe. Es war so groß wie ein Taubenei und wurde, als Berlocke gefaßt, an der Uhrkette getragen“, antwortete er.

„Von wem?“

„Von einem Amerikaner, der mir übrigens noch viel interessanter war als dieses sein Klümpchen Gold. Er sagte mir, er sei nur für zwei Tage hier, und erbat sich mein Gutachten in einer Angelegenheit, die für jeden Psychologen, also auch für Sie, mein lieber Freund, ein Fall allerersten Ranges ist.“

„Wieso?“

„Es handelte sich um den in einer Familie sich vererbenden Zwang zum Selbstmord, einen Zwang, der unbedingt sämtliche Glieder der Familie ergreift, ohne auch nur ein einziges zu verschonen, und bei dem einzelnen ganz leise, leise beginnt, um nach und nach an Stärke zu wachsen, bis er unwiderstehlich wird.“

„Ich hörte schon von solchen Fällen und lernte einen derart Belasteten sogar persönlich kennen. Es war noch dazu ein Schiff sarzt, mit dem ich von Suez nach Ceylon fuhr. Wir verbrachten eine ganze, helldunkle Sternennacht auf dem Oberdeck über psychologische Fragen. Da gewann er Vertrauen zu mir und teilte mir mit, was er sonst Keinem sagte. Ein Bruder und eine Schwester hatten sich bereits das Leben genommen; der Vater ebenso. Mutter war vor Gram und Angst gestorben. Eine zweite Schwester schickte ihm jetzt während seiner Auslandstour Briefe nach, daß sie dem unglückseligen Drang unmöglich länger widerstehen könne, und er selbst war nur deshalb Arzt geworden, um, falls kein Anderer helfen könne, vielleicht selbst den Weg der Rettung zu finden.“

„Was ist aus ihm und seiner Schwester geworden?“

„Das weiß ich nicht. Er versprach mir, zu schreiben und mir seine heimatliche Adresse anzugeben, hat dies aber nicht getan. Er war Oesterreicher. Stand es mit diesem Ihrem Amerikaner ebenso traurig?“

„Ob mit ihm selbst, kann ich nicht sagen. Er nannte keine Namen, auch den seinigen nicht, und tat so, als ob er nur von Bekannten spreche, nicht aber von seiner eigenen Familie. Aber der Eindruck, den er auf mich machte, war ein solcher, daß ich ihn für persönlich beteiligt halte. Er hatte so unendlich traurige Augen. Er schien ein guter Mensch zu sein, und es tat mir wirklich aufrichtig leid, ihm keine sichere Hilfe in Aussicht stellen zu können.“

„Aber doch wenigstens Trost?“

„Ja, Rat und Trost. Aber denken Sie sich so eine Fülle von Unheil: Die Mutter hatte Gift genommen. Der Vater war spurlos verschwunden. Von fünf Kindern, die lauter Söhne waren, lebten nur noch zwei. Sie alle sind verheiratet gewesen, aber von ihren Frauen verlassen worden, weil bei ihren Kindern der Drang zum Selbstmord schon im Alter von neun oder zehn Jahren eingetreten ist und sich derart schnell entwickelt hat, daß nur ein einziges von ihnen das Alter von sechzehn Jahren erreichte.“

„Sie sind also alle tot?“

„Ja, alle. Nur die erwähnten beiden Brüder leben noch. Aber sie kämpfen mit dem Mordzwang Tag und Nacht, und ich glaube nicht, daß einer von ihnen so stark sein wird, diesen Dämon in sich zu besiegen.“

„Schrecklich!“

„Ja, schrecklich! Aber ebenso rätselhaft wie schrecklich! Dieser unglückselige Drang existiert nämlich nur erst in der zweiten Generation; vorher war er nicht vorhanden.

Leider konnte mir nicht gesagt werden, bei wem er sich zuerst äußerte, ob bei der an Gift gestorbenen Mutter oder bei dem verschollenen Vater. Auch erfuhr ich nicht, ob diese Krankheit etwa seit irgend einem Ereignis datiert, welches mit großen oder gar unheilvollen seelischen Erschütterungen verbunden war. Das Würde doch wenigstens einen Anhalt geben. So aber mußte ich mich darauf beschränken, anstrengende Arbeit für Körper und Geist anzuraten, treue Pflichterfüllung, die mit heiterer, aber ja nicht niedriger Zerstreuung abzuwechseln hat, und vor allen Dingen fortwährende Übung und Weiterstählung der Charakter- und Willenskräfte, auf die es hier in diesem Fall am meisten anzukommen hat.“

„Haben Sie den Stand dieser unglücklichen Familie erfahren?“

„Ja. Das war ja eine der Hauptfragen, die ich vorzulegen hatte. Der verschollene Vater war Westmann, Squatter, Trapper, Goldsucher und sonst alles Derartige gewesen und hat von Zeit zu Zeit das, was er dabei erübrigte, heimgebracht. Das sind oft ganz ansehnliche Summen gewesen. Er hat die Manie gehabt, Millionär werden zu wollen. Das wurde zwar nicht erreicht, aber reich, ziemlich reich ist die Familie doch geworden. Die fünf Brüder vereinigten sich zu einem Großgeschäft in Pferden, Rindern, Schafen und Schweinen – –“

„Sie hatten also wohl viel mit den großen Schlächtereien zu tun?“ unterbrach ich ihn.

„Allerdings.“

„Das konnte bei dieser Veranlagung nur schädlich sein, sehr schädlich!“

„Unbedingt! Massentötung von Schlachtvieh! Warmer Blutdunst! Immerwährender Fleisch- oder gar Kadavergeruch! Hieraus folgende Verhärtung des Mitgefühles! Förmliche Auffütterung und Anmästung jenes innerlichen Dämons! Ich habe das dem Amerikaner ganz offen gesagt und ihn gewarnt. Da teilte er mir mit, daß er das gar wohl gefühlt habe und darum für die beiden Brüder der Ratgeber und Helfer gewesen sei, das Geschäft zu verkaufen. Das sei im vorigen Jahr geschehen, doch ohne daß sich hierauf eine Veränderung oder gar Verringerung des Leidens eingestellt habe. – Doch, da unterhalte ich Sie noch am späten Abend mit Dingen, die Ihnen und mir nur die Nachtruhe verderben können. Ich bitte um Verzeihung und bin so pfiffig, mich, um nicht von Ihnen fortgewiesen zu werden, jetzt selbst hinauszuwerfen. Schlafen Sie wohl!“

Er brach so kurz ab und entfernte sich so schnell, wie es sonst seine Art gar nicht war. Genau ebenso verhielt es sich überhaupt mit seinem heutigen Kommen. Es war, als habe er uns so ganz außerhalb der gewohnten Zeit nur deshalb aufgesucht, um uns auf diesen Amerikaner aufmerksam zu machen. Das Herzle hatte dasselbe Gefühl wie ich.

„Er ist mir heut gar nicht wie ein besuchender Freund, sondern wie ein Bote vorgekommen“, sagte sie. „Sollte es mit diesem Yankee irgendeine Bewandtnis haben, die auch uns angeht? So darf ich freilich nur dich fragen, nicht aber andere, die es für selbstverständlich halten würden, mich auszulachen!“

Ich gab ihr recht. Aber siehe da: Am nächsten Vormittag, zur Besuchszeit, so um elf Uhr, saß ich bei der Arbeit. Da hörte ich die Hausglocke. Es wurde jemand eingelassen. Ich hatte gesagt, daß ich heute absolut für niemand zu sprechen sei. Dennoch kam nach einiger Zeit das Herzle zu mir herauf, legte eine Visitenkarte vor mich hin und sagte:

„Verzeih! Ich kann nicht anders; ich muß dich doch unterbrechen! Es ist gar zu sonderbar – du wirst dich wundern.“

Ich warf einen Blick auf die Karte. „Hariman F. Enters“ stand darauf, nur dieser Name, weiter nichts. Ich sah das Herzle erwartungsvoll an.

„Ja, es ist wirklich erstaunlich“, nickte sie. „Er hat das taubeneigroße Nugget an der Uhrkette.“

„Wirklich? – Wirklich?“

„Ja! Und die ganz auffallend traurigen Augen sind auch da!“

„Und was will er?“

„Mit dir reden.“

„Ich habe keine Zeit. Hast du ihm das gesagt? Er mag wiederkommen!“

„Er muß noch heut fort, sonst versäumt er das Schiff. Er sagt, er gehe nicht fort, ohne mit dir gesprochen zu haben. Er bleibe sitzen, bis du kommst. Du sollst ihm sagen, was die Zeit kostet, die du dadurch versäumst; er werde sofort bezahlen.“

„Das ist amerikanischer Unsinn! Hat er dir gesagt, was er ist?“

„Verlagsbuchhändler. Er scheint kein Wort Deutsch sprechen zu können. Er will dir den Winnetou abkaufen.“

„Hast du ihm hierauf vielleicht schon Bescheid gegeben?“

„Ich teilte ihm mit, daß wir schon ähnliche Offerten von drüben bekommen haben und nächstens mit dem Lloyd hinübergehen werden, um das zu erledigen.“

„Du, Herzle, das war nicht sehr gescheit von dir!“

„Warum nicht?“

„Wer nach dem Westen gehen will, der hat sich vor allen Dingen in der Schweigsamkeit zu üben, ganz gleich, ob es da drüben noch wild zugeht oder nicht.“

„Aber wir sind ja noch gar nicht drüben!“

„Ich habe gesagt, schon wenn man hinüber will, verstanden, will! übrigens brauchen wir, um schweigsam sein zu müssen, gar nicht erst hinüber, denn er ist schon hier hüben bei uns.“

„Wo?“

„Unten bei dem Amerikaner. Dieser Mr. Hariman F. Enters ist der amerikanische Westen.“

„Meinst du?“

„Gewiß! Du wirst bald sehen, daß dies richtig ist. Mag er sein, wer er will, und mag er wollen, was er will, wir spielen jetzt Amerika. Er ist gekommen, sich bei uns anzuschleichen. Drehen wir den Spieß um! Geh jetzt hinab und sag, daß ich kommen werde; aber teile ihm nicht mehr mit. Sprich mit ihm überhaupt so wenig wie möglich!“

Sie ging, und ich folgte ihr nach einiger Zeit nach. Mr. Enters war ein wohlgebauter, glattrasierter Mann im Alter von ungefähr vierzig Jahren. Er machte einen wohlwollenerweckenden Eindruck, ohne grad das Benehmen eines hochgebildeten Mannes zu zeigen. Er trat bescheiden auf, war aber trotzdem dabei auch ein wenig Protz. Das von den traurigen Augen, das stimmte. Lachen schien er gar nicht zu können, und wenn er ja einmal lächelte, so machte das mehr den Eindruck der Qual als der Heiterkeit. Meine Frau stellte uns einander vor. Wir verbeugten uns und saßen uns dann einander gegenüber. Ich bat ihn, mir zu sagen, womit ich ihm dienen könne. Er antwortete, indem er fragte:

„Ihr seid Old Shatterhand?“

„Man nannte mich so“, erwiderte ich.

„Auch jetzt noch?“

„Höchstwahrscheinlich.“

„Ihr geht nächstens wieder hinüber?“

„Ja.“

„Wohin? Bis wie weit?“

„Weiß ich noch nicht.“

„Mit welchem Schiff?“

„Ist noch unbestimmt.“

„Auf wie lange?“

„Das wird sich erst drüben entscheiden.“

„Ihr besucht alte Bekannte?“

„Vielleicht.“

„Werdet Ihr Euch mehr nach dem Norden oder nach dem Süden der Staaten wenden?“

Da stand ich von meinem Sitz auf, verbeugte mich, drehte mich um und ging nach der Tür.

„Wohin wollt Ihr, Mr. May?“ rief er da hastig hinter mir her.

Ich blieb stehen und antwortete:

„Wieder an meine Arbeit. Ich habe Euch aufgefordert, mir mitzuteilen, was Ihr von mir wünscht. Anstatt dies zu tun, legt Ihr mir eine ganze Reihe von Fragen vor, zu denen Euch absolut kein Recht gegeben ist. Hierauf zu antworten, habe ich keine Zeit!“

„Ich habe Mrs. May gesagt, daß ich sofort bezahle, was das kostet“, warf er ein.

„Das könnt Ihr nicht. Ihr seid zu arm dazu, viel zu arm!“

„Glaubt Ihr? Mache ich wirklich einen so armen Eindruck? Ihr irrt Euch, Sir!“

„Gewiß nicht. Denn selbst wenn Ihr Euch im Besitz von tausend Milliarden befändet, so wäret Ihr trotzdem außerstande, sogar dem allerärmsten Teufel auch nur eine Viertelstunde der ihm von Gott gegebenen, vollständig unersetzlichen Lebenszeit zu bezahlen!“

„Wenn Ihr das so betrachtet, so mag es sein. Bitte, setzt Euch wieder nieder! Ich werde mich so kurz wie möglich fassen.“

Er wartete, bis ich diesen seinen Wunsch unter scheinbarem Zögern erfüllt hatte, und fuhr dann fort:

„Ich bin Verlagsbuchhändler. Ich kenne Euern Winnetou – – –“

„Sprecht und lest Ihr Deutsch?“ unterbrach ich ihn.

„Nein“, antwortete er.

„Wie könnt Ihr da diese Erzählung kennen? Sie ist meines Wissens noch nicht in das Englische übersetzt.“

„Sie wurde in einer mir befreundeten Familie, in welcher auch deutsch gesprochen wird, gelesen und mir zuliebe gleich während des Lesens übersetzt. Was ich da hörte, interessierte mich derart, daß ich einen jungen, stellenlosen Deutschamerikaner zu mir nahm, um sie mir in voller Muße nach und nach derart vorlesen zu lassen, daß ich alles verstand und mir die notwendig erscheinenden Notizen machen konnte.“

„Ah, Notizen! Wozu Notizen?“

Ich bemerkte, daß diese Frage ihn in Verlegenheit brachte. Er versuchte, dies zu verbergen, und antwortete:

„Natürlich nur rein literarische, als Buchhändler, selbstverständlich! Ich habe dann auf meinen weiten Ritten durch den Westen diese Notizen bei mir gehabt und Alles, was in Euern drei Bänden steht, nachgeprüft. Darum bin ich imstande, Euch sagen zu können, daß Alles stimmt, Alles, sogar oft die geringsten Kleinigkeiten.“

„Danke!“ sagte ich kurz, als er mich hierbei ansah, ob dieses Lob einen Eindruck auf mich machen werde.

„Nur zwei Orte“, fuhr er fort, „konnte ich noch keiner Prüfung unterziehen, weil ich sie noch nicht aufzufinden vermochte.“

„Welche, Sir?“

„Den Nugget-tsil und das Dunkle Wasser, in welchem Sander sein wohlverdientes Ende fand. Werdet Ihr vielleicht auf Eurer jetzigen Reise an diese Stellen kommen?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber ich höre, daß Ihr schon wieder so überflüssige Fragen bringt, anstatt mir zu sagen, was Ihr wollt – – –!“

Ich machte Miene, wieder aufzustehen.

„Bleibt sitzen, bleibt sitzen!“ rief er schnell. „Ich bin ja sofort wieder bei der Sache, oder vielmehr, ich habe mich von ihr noch gar nicht entfernt. Ich wollte Euch nur zeigen, daß ich Eure Bücher geprüft und der Uebersetzung in die englische Sprache für wert gefunden habe.“

„Geprüft? Dazu gehören lange Jahre!“

„Haben es auch, haben es auch!“ nickte er eifrig, ohne zu bemerken, daß jetzt ich der Anschleichende war. „Es hat eine sehr lange Zeit gedauert, ehe ich alle die Orte berühren konnte, um die es sich da handelte.“

„Vertrug sich das mit Eurem Geschäft?“

„Gewiß, gewiß. Wir hatten damals ein Grossogeschäft in Pferden, Rindern, Schweinen und Schafen und trieben uns bei unseren Einkäufen sehr viel im alten Westen herum.“

„Ihr sagt wir. Also Kompagnons?“

„Ja, aber keine Fremden, sondern brüderliche Kompagnie. Wir waren fünf Brüder, sind aber jetzt nur noch zwei. Auch noch Kompagniegeschäft, aber nicht in Pferden und Rindern, sondern in Büchern. Wir wollen Euch Eueren Winnetou abkaufen – – –“

„Nur ihn?“ fiel ich ihm in die Rede.

„Ja, nur ihn“, erwiderte er.

„Warum nicht auch die andern Bücher, die doch auch Reiseerzählungen sind?“

„Weil sie uns nicht interessieren.“

„Ich denke, es kommt hierbei mehr darauf an, was die Leser interessiert?“

„Mag sein; bei uns aber ist das anders. Wir wollen nur den Winnetou, weiter nichts.“

„Hm! Wie denkt Ihr Euch dieses Geschäft?“

„Sehr einfach: Ihr verkauft ihn uns mit allen Rechten, ein für allemal, und wir bezahlen ihn Euch ein für allemal.“

„Wann geschieht diese Zahlung?“

„Sofort. Ich bin imstande, Euch eine Anweisung an jede Euch beliebige Bank zu geben. Wieviel verlangt Ihr?“

„Wieviel bietet Ihr?“

„Je nachdem! Wir dürfen drucken, so viel wir wollen?“

„Wenn wir einig werden, ja.“

„Oder auch, so wenig wir wollen?“

„Nein.“

„Wie? Was? Nicht?“

„Nein! Natürlich nicht!“

„Wieso? Warum?“

„Ich schreibe meine Bücher, damit sie gelesen werden, nicht aber damit sie verschwinden.“

„Verschwinden?“ fragte er unter einer Bewegung der Überraschung. „Wer hat Euch gesagt, daß sie verschwinden sollen?“

„Gesagt wurde es allerdings noch nicht; aber Ihr erwähntet doch, daß auch so wenig gedruckt werden darf, wie Euch beliebt.“

„Ganz natürlich. Wenn wir sähen, daß die Bücher im Englischen keinen Anklang fänden, so würden wir eben darauf verzichten, sie zu drucken. Das versteht sich doch wohl von selbst!“

„Ist das Euer Ernst?“

„Ja.“

„Sagt, hat Eure Reise nach Deutschland noch andere Zwecke?“

„Nein. Ich habe keinen Grund, Euch zu verheimlichen, daß ich nur dieser Eurer drei Bücher wegen herübergekommen bin.“

„So tut es mir leid, daß Ihr diese Reise so ganz umsonst gemacht habt. Ihr bekommt die Bücher nicht.“

Ich war wahrend dieser Worte aufgestanden. Auch er erhob sich von seinem Stuhl. Er war nicht imstande, die völlig unerwartete, große Enttäuschung zu verbergen, die ihn ergriff. Sein Blick wurde ängstlich, und seine Stimme vibrierte, als er fragte:

„Verstehe ich Euch da recht, Sir? Ihr wollt den Winnetou nicht verkaufen?“

„Wenigstens nicht an Euch. Ich gebe meine Bücher nicht einzeln zur Uebersetzung. Wer eins oder nur einige wünscht, der ist gezwungen, sie alle zu nehmen.“

„Aber wenn ich Euch nun für diese drei Bände so viel zahle, wie Ihr für alle verlangt?!“

„Auch dann nicht.“

„Seid Ihr denn gar so reich, Mr. May?“

„Nein, keineswegs. Von Reichtum ist bei mir keine Rede. Ich habe nichts als mein gutes, für mich und meine Zwecke grad so zureichendes Auskommen, mehr nicht. Aber das genügt mir vollständig. Und wenn Ihr meine Erzählung Winnetou wirklich kennt, so wißt Ihr, daß ich überhaupt nicht nach Reichtum trachte, sondern nach höherstehenden, wertvolleren Gütern, mit denen ich meine Leser erfreuen und segnen will. Dazu ist notwendig, daß meine Bücher den richtigen Verleger finden, und daß Ihr der nicht sein könnt, davon habt Ihr mich soeben überzeugt.“

Meine Frau sah und hörte es mir an, daß an diesem meinem Entschluß nicht zu rütteln war. Der Yankee tat ihr leid. Er stand mit einer Miene und in einer Haltung vor uns da, als ob ein nicht wieder gut zumachendes Unheil über ihn hereingebrochen sei. Er zögerte, meinen Bescheid als mein letztes Wort zu betrachten. Er machte Einwendungen. Er brachte Gründe. Er gab Versprechungen, doch vergeblich. Schließlich, als gar nichts helfen wollte, sagte er:

„Ich gebe die Hoffnung trotz alledem nicht auf, daß ich den Winnetou doch noch von Euch bekomme. Ich sehe, daß Mrs. May dieser Sache viel weniger abgeneigt ist, wie Ihr. Beratet Euch mit ihr, und gebt mir Zeit, inzwischen mit meinem Bruder, der doch mein Kompagnon ist, zu reden.“

„Wollt Ihr dann etwa wieder herüberkommen? Das würde ebenso nutzlos sein wie Eure jetzige Reise,“ erklärte ich.

„Herüber zu kommen, habe ich nicht nötig, weil Ihr ja, wie ich höre, baldigst hinübergeht. Gebt mir irgendeine Adresse da drüben an, und bestimmt mir einen Tag, an dem Ihr dort zu treffen seid, so stelle ich mich ein.“

„Auch das hätte keinen Erfolg!“ versicherte ich.

„Könnt Ihr das jetzt schon wissen? Ist es nicht möglich, daß ich nach der Besprechung mit meinem Bruder Euch ein Anerbieten machen kann, welches Euern Zwecken und Wünschen besser entspricht als das heutige?“

Ich fühlte, daß er innerlich davor zitterte, auch noch hiermit abgewiesen zu werden. Auch ich hatte Mitleid, aber ich durfte diesem Gefühl nicht die Herrschaft über meine Entschlüsse einräumen. Das Herzle bombardierte mich mit bittenden Blicken, und als dies nicht schnell genug wirken wollte, ergriff sie gar meine Hand. Da sagte ich:

„Gut, so mag es sein. Geben wir uns Zeit zum überlegen! Meine Frau war noch niemals mit da drüben. Sie erwartet ganz besonders, den Niagarafall zu sehen. Wir werden also von New York aus mit dem Hudsondampfer nach Albany fahren und von da mit der Bahn nach Buffalo, von wo aus es bis zu den Fällen nur noch eine Stunde ist. In Niagara-Falls wohnen wir auf der kanadischen Seite, und zwar im Clifton-Hotel, wo ich – – –“

„Das kenne ich; das kenne ich sehr gut!“ unterbrach er mich. „Da ist man sehr gut aufgehoben. Ein Hotel allerersten Ranges, still, vornehm, mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet und – – –“

„Well!“ fiel nun ich ihm in die Rede, um ihm dieses Lob, mit dem er nur sich selbst in das Licht stellen wollte, abzuschneiden. „Wenn Ihr es kennt, so ist es ja gut. Also dort sind wir zu finden.“

„Wann?“

„Das weiß ich jetzt noch nicht. Am besten ist es, Ihr setzt Euch mit der Verwaltung dieses Hauses in Verbindung, daß sie Euch von unserer Ankunft sofortige Nachricht gibt.“

„Richtig! Das ist das beste, und das werde ich tun!“

Dabei blieb es. Es gab hüben und drüben noch einige höfliche Abschiedsworte, dann war dieser Besuch, der viel größere Wichtigkeit besaß, als selbst ich jetzt dachte, beendet.

Das Herzle konnte nicht ganz mit mir zufrieden sein. Sie ist so sehr zum Mitleid und Erbarmen geneigt, und der ängstliche, gequälte Blick dieses Mannes wollte ihr noch tagelang nicht aus dem Sinn kommen.

Sie meinte, daß ich nicht höflich genug und zu abweisend mit ihm verfahren sei.

„Warum tatest du das?“ fragte sie.

„Weil er mich belog“, antwortete ich. „Weil er nicht offen und ehrlich war. Weißt du, wer er ist?“

„Ja.“

„Nun, wer?“

„Einer der beiden übriggebliebenen Söhne jener unglücklichen Familie, deren Glieder alle durch Selbstmord sterben.“

„Ja, das ist er allerdings, aber zugleich auch etwas anderes. Er heißt nicht Enters.“

„Du glaubst, er führt einen falschen Namen?“

„Ja.“

„Hältst ihn also für einen Schwindler, einen Hochstapler?“

„Nein. Grad weil er ein ehrlicher Mann ist, trägt er nicht seinen eigentlichen, richtigen Namen. Er schämt sich desselben. Ich vermute sogar, daß er nur infolge meiner drei Bände Winnetou auf diesen Namen verzichtete.“

Sie war so erstaunt hierüber, daß sie mich weiterzufragen vergaß. Darum fuhr ich unveranlaßt fort:

„Hältst du es für möglich, daß ich überzeugt bin, seinen wirklichen Namen zu wissen?“

„Sage ihn!“ forderte sie mich auf.

„Dieser Mann heißt nicht anders als Sander.“

Da warf sie mir im höchsten Erstaunen die atemlose Frage hin:

„Welchen Sander meinst du? Den Mörder von Winnetous Vater und Schwester?“

„Ja. Der Mann, der bei uns war, ist sein Sohn.“

„Unmöglich, unmöglich!“

„Gewiß, gewiß!“

„Beweise es!“

„Das ist eigentlich gar nicht nötig. Du müßtest es ebenso schnell und leicht erraten haben wie ich.“

„Wirklich? Bis jetzt erkenne ich nur das Eine, daß du ihn für einen Lügner hältst, weil er sich Enters anstatt Sander nennt.“

„Wie falsch von dir, wie falsch! Wüchsen meine Folgerungen nur aus diesem einen Punkt heraus, so wäre ich ein außerordentlich schlechter Fährtenleser, ein Greenhorn, ein Hans Tapps, und hätte mich meiner Logik wegen rot und blau zu schämen. Ich bitte dich aber, daran zu denken, daß er sich extra einen Vorleser engagierte, um sich sofort Notizen machen zu können. Wie lange ist es wohl her, daß er dies tat?“

„Eine ganz beträchtliche Reihe von Jahren. Das sagte er ja selbst.“

„Schön! Und wozu hat er sich diese Notizen gemacht?“

„Aus rein literarischen Gründen, zu Buchhändlerzwecken. Auch das sagte er selbst.“

„Ganz richtig! Und hier liegt die Lüge, bei welcher die Fährte beginnt, die zu seinem richtigen, wirklichen Namen führt. Er selbst hat zugegeben, daß er Großhändler in allerlei Schlachtvieh war, und du weißt sehr genau, wann er aufgehört hat, dies zu sein. Oder nicht?“

„Doch! Dieses Geschäft wurde erst im vorigen Jahr verkauft. Das hat er gestern beim Arzt gesagt.“

„Und dennoch schon vor so langen Jahren bereits rein buchändlerische Notizen? Glaubst du das?“

„Nein! Jetzt nicht mehr! Du, jetzt fange auch ich an, klarzusehen. Vielleicht ist es gar nicht einmal wahr, daß er jetzt Buchhändler ist!“

„Fällt ihm gar nicht ein! Aber mit diesem Gedanken hast du dich neben mich auf die richtige Fährte gestellt! Ueberlege folgendes: Kaum hat er bei einem Bekannten von meinem Winnetou gehört, so engagiert er sich einen besonderen Mann zum Uebersetzen und Vorlesen dieser Erzählung. Ist etwa anzunehmen, daß er bei diesem Bekannten dem Vorlesen aller drei Bände beigewohnt hat?“

„Gewiß nicht.“

„Das ist auch meine Meinung. Er hat nur Einiges oder gar nur Weniges gehört. Wenn er sich sofort hierauf einen besonderen Privatübersetzer engagierte, um das ganze Werk unter vier Augen kennenzulernen, so muß dieses Einige oder dieses Wenige von außerordentlicher Wichtigkeit für ihn gewesen sein, muß irgendeinen Punkt seines tiefsten Seelenlebens gepackt und ergriffen haben. Oder glaubst du daß diese Wichtigkeit vielleicht doch schon eine rein literarische, eine buchändlerische gewesen ist?“

„Nein.“

„Oder eine geschäftliche?“

„Ebensowenig. Sie war, wie du ganz richtig vermutest, eine psychologische, eine seelische.“

„Das heißt mit andern Worten, daß sie sich auf sein Innenleben, auf sein Privatleben, auf sein Familienleben, also auch auf seine Familienverhältnisse bezog. Er machte während der Vorlesungen Notizen. Warum und wozu? Doch nicht etwa nur, um nichts zu vergessen. Was Einen so tief in der Seele packt, das merkt man sich gewiß, auch ohne Notizen zu machen. Er hat zugegeben, daß diese Notizen ihm als notwendig erschienen seien und ihm auf seinen Nachforschungen im Westen jahrelang als Führer gedient haben – –“

„Etwa nach dem verschollenen Vater?“ fiel da das Herzle ein.

Da nickte ich ihr zu und antwortete:

„Du, das war fein, sehr fein! Ja allerdings, nach dem verschollenen Vater! Ich wollte noch einige andere Folgerungen und Schlüsse herbeiziehen, um mich dir begreiflich zu machen; da du mir aber gleich mit diesem Hauptergebnisse kommst, so ist das, wenigstens für einstweilen, nicht mehr nötig. Ich habe nur noch auf die Dringlichkeit zu zeigen, mit welcher er die Lage der beiden Orte zu erfahren versuchte, die er, wie er sich ausdrückte, noch nicht aufzufinden vermochte. Ich meine selbstverständlich den Nugget-tsil und das Dunkle Wasser.“

„Muß sich diese Dringlichkeit nur auf Sander beziehen?“

„Ja.“

„Nicht auf irgendeine andere Person? Und auch nicht auf die Nuggets?“

„Nein. Von Personen käme nur ich allein in Betracht, denn alle Andern sind unwichtig oder gar tot, und anzunehmen, daß er grad meinetwegen so jahrelang den Westen durchforscht habe, wäre lächerlich. Er hat ja durch seinen heutigen Besuch bewiesen, daß er sehr wohl weiß, wie schnell und wie leicht ich zu finden bin. Und was die Nuggets betrifft, so hat er ja gelesen, daß sie für immer verloren sind und von keinem Menschen mehr gefunden werden können. Also: Von den Ereignissen am Nugget-tsil und am Dunklen Wasser kommen nur zwei Personen in Betracht, nämlich Sander und ich; alle Andern sind unendlich nebensächlich, sind verschwunden; ich aber habe auszuscheiden; folglich bleibt nur noch Sander. Und nun, paß auf, Herzle, kommt noch ein Hauptgrund, auf den ich mich stütze! Dieser sogenannte Mr. Enters will meinen Winnetou kaufen. Wozu? Etwa um ihn übersetzen, drucken und verbreiten zu lassen?“

„Nein, sondern um zu verhindern, daß die Erzählung da drüben in englischer Sprache erscheint. Da hattest du Recht. Das hörte man den Worten dieses Mannes an, besonders auch dem Schreck, den er nicht verbergen konnte, als er gegen alle seine Erwartung hörte, daß er die Bücher nicht bekommt. Man soll da drüben die Vergangenheit und die Taten seines Vaters nicht kennenlernen.“

„Ja. Zwar wollte ich das erst folgern, und du kommst meinem logischen Schluß vor; aber es ist das für mich eine Tatsache, an der ich nicht im geringsten zweifle. Er hat geglaubt, mich mit einer Tasche voll Dollars übertölpeln zu können, obwohl er aus dem Winnetou wissen mußte, daß ich auf solchen Köder nicht gehe. Dieser sein Besuch bei mir und sein Antrag waren eigentlich eine Beleidigung, die ich anders hätte beantworten sollen, als ich sie beantwortet habe.“

„So zürnst du mir nun wohl?“

„Zürnen? Wofür?“

„Dafür, daß ich dich veranlaßt habe, ihn nicht ganz endgültig abzuweisen und ihm noch eine Zusammenkunft zu gewähren.“

„O nein! Ich lasse mich selbst von dir nicht dazu bestimmen, irgendein höheres, vielleicht gar ethisches Gut für niedriges Geld zu verkaufen, und du, du würdest ganz gewiß die allerletzte sein, mir so etwas zuzumuten. Ich bin auf das Wiedersehen am Niagara eingegangen, weil es sehr triftige Gründe dafür gibt, die beiden Brüder Enters oder Sander von nun an nicht wieder aus dem Auge zu lassen. Du weißt ja, daß es eine Gewohnheit jedes erfahrenen Westmannes ist, gefährliche Leute sich niemals in den Rücken kommen zu lassen.“

„Gefährlich?“ fragte sie. – „Allerdings.“

„Wieso? Ich halte diesen Enters, obwohl er ein Sander zu sein scheint, doch für einen guten Menschen.“

„Ich auch. Aber kann nicht selbst die personifizierte Güte einmal obstinat werden? Liegt in der Niedergeschlagenheit und, ich möchte fast sagen, in dem krankhaften Tiefsinn dieses Mannes nicht etwas Explodierbares, vor dem man sich zu hüten hat? Und kennen wir seinen Bruder? Du weißt, Geschwister brauchen nicht von gleichem Charakter und gleichem Temperament zu sein. Ich bin überzeugt, daß wir ihn in Niagara kennenlernen werden, und dann wird es sich ja finden, wie wir uns zu beiden zu stellen haben, um sie nicht zu zwingen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Der Doktor sprach gestern von einem Dämon in ihnen. Dieser Dämon hat uns hier aufgefunden, hat uns entdeckt. Es ist der Sandersche Zwang zum Morde. Du siehst, unsere Reise beginnt, sehr interessant, ja hochinteressant zu werden, noch ehe wir die ersten Schritte tun.“

„Siehst du Gefahr voraus?“

„O nein! Ich sehe nur, daß wir hinüber müssen, um den Mount Winnetou und Tatellah-Satah, den Bewahrer der großen Medizin, kennenzulernen. Er schreibt mir, daß ich Winnetou retten soll. Habe ich das zu tun, so gibt es für mich keine Gefahr. Etwa für dich?“

„Für mich ebensowenig. Ich gehe fröhlich mit!“

„Dann vorwärts also, und wohlauf zur glücklichen Fahrt!“ – – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Fünftes Kapitel

Am Deklil-to.

Ich hatte den nächsten Tag dazu bestimmt, einen Überblick über die ausgegrabenen Skripturen zu gewinnen, sah mich aber leider in der Hoffnung, dies tun zu können, getäuscht. Wir saßen noch beim Morgenkaffee, da tauchte am südlichen Rande der Lichtung die Gestalt eines Indianers unter den Bäumen hervor und kam auf uns zu. Es war der Winnetou von gestern abend. Er wendete sich nur an den „Jungen Adler“. Uns andere schien er mit keinem Blick zu berühren. Er sprach seine Muttersprache, nicht englisch.

„Es kommen Reiter“, meldete er.

„Woher?“ fragte unser junger Freund.

„Zwischen Nordwest und West.“

„Wie viele?“

„Eine große Schar. Man konnte sie nicht zählen. Sie waren noch zu weit entfernt.“

„So komm wieder, sobald es möglich ist, ihre Zahl zu bestimmen!“

Der Winnetou entfernte sich, kehrte aber schon nach vielleicht zehn Minuten zurück und berichtete:

„Es sind Reiter und Reiterinnen. Zwanzig Männer und viermal zehn Squaws, mit vielem Gepäck auf Maultieren hinterher.“

„Wie weit entfernt von hier?“ fragte der „junge Adler“.

„Sie werden in einer Viertelstunde den Nugget-tsil erreichen.“

„Sie mögen kommen. Man beobachte sie, aber ohne sich von ihnen sehen zu lassen. Es sind die Squaws der Sioux, die nach dem Mount Winnetou wollen. Wer die Männer sind, das weiß ich jetzt noch nicht. Wir reiten von hier nach dem Deklil-to. Ich glaube nicht, daß ich deiner Hilfe noch einmal bedarf.“

Hierauf entfernte sich der Winnetou, ohne eine einzige Silbe, die nicht von seiner Pflicht geboten war, auszusprechen. Das war Disziplin! Als unser alter, guter Pappermann erfuhr, wen wir hier bei uns zu erwarten hatten, kam er in eine Aufregung, die er zwar verbergen wollte, aber nicht verbergen konnte. Die Gebrüder Enters fühlten sich unsicher. Sie fragten, ob sie sich vielleicht zurückziehen sollten.

„Ihr gehört jetzt zu uns, und ihr bleibt bei uns“, antwortete ich. „Wie ich eigentlich heiße, ist zu verschweigen.“

Damit war diese Sache abgemacht. Ich sah mit meinem Herzle den Nahenden mit großem Interesse entgegen, obgleich ich es bedauerte, auf die Durchsicht der Manuskripte nun verzichten zu müssen. Es verging eine Viertelstunde nach der anderen. Diese Leute nahmen sich Zeit. Endlich, nach über einer Stunde, hörten wir schon von weitem den Lärm, den sie machten. Sie kamen zu Fuß. Die Pferde waren wegen der steilen Stellen, die es gab, unten am Berg gelassen worden. Wir wurden bemerkt, noch ehe sie unter den Bäumen hervorgetreten waren. Das schlossen wir aus dem Umstand, daß die lauten Stimmen jetzt plötzlich verstummten. Hierauf sahen wir einen sehr langen und sehr hageren Menschen erscheinen, der sich in einem sonderbar hochbeinigen, schlingernden Gang auf uns zu bewegte. Er war nicht indianisch gekleidet, sondern er trug einen sehr eleganten Yankeeanzug mit einem sehr weißen und sehr hohen Kragen und ebenso weißen, glänzenden Manschetten. An seiner Brust prahlte eine große, echte Nadelperle, und an seinen Fingern glänzten verschiedene Diamanten nebst anderen Edelsteinen. Aber seine Hände waren groß, sehr groß, seine Füße ebenso, und seine Nase – – oh, diese Nase! Die konnte nur von einer riesennasigen indianischen Mutter und einem noch riesennasigeren armenischen Vater stammen und war dann an ihren beiden Seiten derart abgeschliffen worden, daß sich nur die dünne Scheidewand erhalten hatte. Zu dieser Nase erschienen die wimperlosen, zudringlichen Äuglein viel zu klein. Das Gesicht war schmal. Der Kopf glich einem Vogelkopfe, aber dieser Vogel war ganz gewiß kein kühner Adler, sondern nur ein monstreschnabeliger Pfefferfresser.

Also dieser Mann kam auf uns zugeschlingert, blieb vor uns stehen, ohne zu grüßen, betrachtete uns, Einen nach dem Anderen, wie leblose Gegenstände oder wie völlig wertlose Personen, die sich das gefallen lassen müssen, und fragte dann:

„Wer seid ihr?“

Seine Stimme klang scharf und spitz. Leute mit solchen Stimmen pflegen gefühl- und rücksichtslos zu sein. Er erhielt nicht sogleich eine Antwort, darum wiederholte er seine Frage:

„Wer seid ihr? Ich muß das wissen!“

Mir und dem Herzle fiel es nicht ein, ihm Rede zu stehen, dem „Jungen Adler“ noch viel weniger. Die beiden Enters hatten Grund, sich nicht hervorzutun, und so war es schließlich Pappermann, welcher das Wort ergriff:

„Ihr müßt das wissen? Ihr müßt? Ah, wirklich? Wer zwingt Euch dazu?“

„Zwingt?“ fragte der Mann erstaunt. „Von einem Zwang ist keine Rede. Ich will?“

„Ah, Ihr wollt! Das ist freilich etwas Anderes! Nun, so wollt einmal! Bin neugierig, wie weit Ihr es mit diesem Eurem Willen bringt!“

„Genauso weit, wie ich eben will! Wenn es Euch etwa beliebt, mir mit Albernheiten zu antworten, so haben wir die Mittel in den Händen, Euch zu zwingen, ernst zu sein!“

Wir Anderen alle saßen. Nur Pappermann hatte gestanden, als der Fremde kam. Er schritt jetzt langsam auf ihn zu, stellte sich gewichtig vor ihm auf und fragte:

„Zwingen? Uns zwingen? Etwa Ihr? Den Mann, der das sagt, muß ich mir doch einmal genauer betrachten!“

Er faßte ihn bei den Armen, drehte ihn nach rechts, nach links, schließlich ganz um sich herum, schüttelte ihn, daß alle Knochen wackelten, und sagte dann:

„Hm! Sonderbar! Bin doch sonst nicht so dumm! Aber aus diesem Kerl werde ich mir nicht klug. Ihr seid kein Ganzindianer, sondern nur ein halber? Ist das richtig?“

Der Gefragte wollte aufbrausen, anstatt willig und direkt zu antworten, da aber schüttelte der alte Westmann ihn zum zweiten Mal und warnte:

„Halt! Keine Grobheiten oder gar Beleidigungen! Die vertrage ich nicht! Wer hierher kommt und uns, ohne zu grüßen, zwingen will, uns aushorchen zu lassen, wie es ihm beliebt, der ist erstens ein ungezogener Mensch und zweitens ein Schafskopf sondergleichen. Hier ist unser Lagerplatz. Nach den Gesetzen der Prärie gehört er uns, bis wir ihn verlassen. Wir waren eher da als Ihr. Wir sind hier daheim. Wer unser Heim betritt, der hat höflichst zu grüßen und sich auszuweisen, wer er ist und was er will. Verstanden? Und nun sagt mir vor allen Dingen erst einmal Euern Namen! Aber schnell! Ich scherze nicht! Sondern ich pflege solche Vögel, wie Ihr seid, sehr schnell richtig pfeifen zu lehren!“

Er hielt ihn noch an beiden Armen fest, so fest, daß der Fremde das Gesicht vor Schmerz verzog und kleinlaut antwortete:

„So laßt doch wenigstens los! Mein Name ist Okih-tschin-tscha. Bei den Bleichgesichtern heiße ich Antonius Paper!“

„Antonius Paper und Okih-tschin-tscha? Schön! Aber ein Ganzindianer seid Ihr nicht?“

„Nein.“

„Sondern nur ein halber, ein Mischling?“

„Ja.“

„Eure Mutter war Indianerin?“

„Ja.“

„Von welchem Stamme?“

„Sioux.“

„Und Euer Vater?“

„Der kam aus dem gelobten Land herüber und war von Geburt Armenier.“

„Schade, jammerschade!“

„Wieso?“

„Es tut mir so leid um das gelobte Land, daß es sich die Ehre, Euch geboren zu haben, hat entschlüpfen lassen! Die Armenier sind, wenn sie herüberkommen, immer Händler. Ihr wohl auch?“

„Ich bin Bankier!“ erwiderte der Fremde stolz. „Nun aber laßt mich los! Und sagt auch, wer Ihr seid!“

„Das soll geschehen. Ich bin ein alter, wohlbekannter Prärieläufer und heiße Pappermann, Maksch Pappermann, verstanden? Nebenbei ist es mein ganz besonderes Metier, grobe Leute höflich und dumme Menschen gescheit zu machen. Ihr seid nicht allein? Eure Begleiter stecken noch da drüben unter den Bäumen?“

„Ja.“

„Es sind Frauen dabei?“

„Ja.“

„Siouxfrauen, die nach dem Mount Winnetou wollen?“

„Ja. Woher wißt Ihr das?“

„Das ist meine Sache, nicht Eure. Wer sind die Männer dabei?“

„Das sind die Herren vom Komitee mit ihrer Dienerschaft und den Führern.“

„Was für ein Komitee?“

„Das Komitee für den Denkmalbau eines – – –“

Er hielt inne. Es fiel ihm ein, daß Weiße als Mitwisser ja eigentlich ausgeschlossen seien. Darum fuhr er fort:

„Fragt sie selbst! Ich bin nicht ermächtigt, über die Zwecke dieses Komitees Auskunft zu erteilen! Und laßt mich nun doch endlich los!“

Da schüttelte Pappermann ihn noch einmal tüchtig durch, gab ihn dann frei und sagte:

„So kehrt zu ihnen zurück, und sagt ihnen meinen Namen! Besonders den Damen! Es sind einige dabei, die mir beistimmen werden, daß man hier zu grüßen hat!“

Herr Antonius Paper schlingerte wieder über die Lichtung hinüber, bis er unter den Bäumen verschwand. Sein Indianername Okih-tschin-tscha bedeutet in der Siouxsprache soviel wie „Mädchen“. Er schien sich also schon von Jugend auf durch männliche Taten und männliche Eigenschaften nicht allzusehr ausgezeichnet zu haben. Er war der Kassierer des „Denkmalkomitees für Winnetou“. Man wird sich erinnern, daß gerade er und sein Verhältnis zu Old Surehand mir gleich von Anfang an als nicht vertrauenswert erschien. Nun ich ihn heut zum ersten Mal sah, war der Eindruck, den er auf mich machte, kein günstiger. Das Herzle dachte ebenso.

„Ein Mischling!“ sagte sie. „Du bist doch immer der Meinung, daß diese Halbblutleute meist nur die schlimmen Eigenschaften ihrer Eltern erben?“

„Ja, meist. Aber schau! Man kommt!“

Kaum hatte der Halbindianer da drüben den Namen Pappermann genannt, so hörten wir den frohen Ruf einer weiblichen Stimme, und gleich darauf erschienen zwei Frauengestalten, die mit eiligen Schritten über die Lichtung herüberkamen. Die Eine war Aschta, die wir am Kanubisee gesehen hatten, die Andere wahrscheinlich ihre Mutter. Die übrigen Ladies folgten ihnen auf dem Fuß, hinter ihnen die Männer in langsameren, würdigeren Schritten.

Wir standen alle auf.

„Mir wird ganz schwach!“ sagte Pappermann.

Er lehnte sich an den nächsten Baum. Aber seine alten, guten, treuen, ehrlichen Augen standen weit offen und waren mit seligem Ausdruck auf die beiden, sich nähernden Frauen gerichtet.

Man sah sofort, daß diese Beiden Mutter und Tochter waren, so sprechend ähnlich, so fast völlig gleich zeigten sie sich nicht nur in Beziehung auf ihre Gesichtszüge, sondern auch in Hinsicht auf ihren Gang, ihre Haltung und die Art, sich zu bewegen und sich auszudrücken. Dazu kam, daß sie völlig gleich gekleidet waren. Die vierzig Indianerinnen stimmten in ihren Anzügen überhaupt alle überein. Auch trugen sie alle den Stern des Clan Winnetou.

Aschta hießen beide. Sie kamen Hand in Hand. Die Mutter war beinahe fünfzig Jahre alt, aber immer noch schön, und zwar von jener Schönheit, an welcher die Seele nicht weniger Anteil hat als der Körper.

„Da ist er!“ sagte die Tochter, indem sie auf Pappermann zeigte. „Und dort steht der Junge Adler, von dem ich dir auch erzählte.“

Aber die Mutter achtete jetzt nicht auf den Letzteren, sondern nur auf den Ersteren. Sie gab die Hand ihrer Tochter f rei, blieb einen Augenblick stehen, ließ ihren Blick über ihn gleiten und sagte:

„Ja, er ist es, der Liebe, der Gute, der Bescheidene!“

Sie trat bis ganz zu ihm heran, ergriff seine Hände, hob ihre schönen, dunklen, aber klaren Augen zu seinem Gesicht empor und fragte:

„Warum kamt Ihr nicht? Warum seid Ihr uns ausgewichen, immer und immerfort? Es ist grausam, den Dank der Herzen, die es ehrlich meinen, abzulehnen. Bitte, gebt mir Eure Stirne; ja, gebt sie mir!“

Er bog den Kopf nieder. Sie hob die Hände, zog ihn näher und küßte ihn auf die Stirne und auf die beiden Wangen. Da konnte er sich nicht länger halten. Er brach in ein lautes Schluchzen aus, drehte sich um und entfernte sich mit eiligen Schritten, in den Wald hinein.

„Hier wird geküßt!“ hörte man eine scharfe, spitze Stimme erklingen.

Das war der Halbindianer, der bei den anderen Männern hinter den Frauen stand. Aller Augen richteten sich auf ihn.

„Welch ein Wort“, rief Aschta, die Tochter, aus. „Er soll es büßen!“

Sie hob drohend den Arm und eilte zornig auf ihn zu.

„Aschta!“ erklang da die Stimme der Mutter. „Berühre ihn nicht! Er ist schmutzig!“

Die Tochter hemmte ihren Schritt und ging zur Mutter. Diese nahm sie wieder bei der Hand und sagte, so daß alle es hörten:

„Komm, wir gehen, den Andern, den Freund, den Retter zu suchen, denn er steht höher, tausendmal höher als jener dort, der es wagt, über Dankbarkeit zu spotten!“

Beide entfernten sich in der Richtung, nach welcher Pappermann den Platz verlassen hatte. Ich war der Meinung, daß hierauf zwischen uns und den Neuangekommenen ein kurzer Verlegenheitszustand eintreten werde, der unbedingt überwunden werden mußte, aber ich hatte mich geirrt. Mr. Antonius Paper oder vielmehr Mr. Okihtschin-tscha schien eine dicke Haut zu besitzen, durch welche Strafreden, wie die soeben angehörte, nicht zu dringen vermochten. Er tat, als ob nicht das Geringste vorgefallen sei, und ergriff sofort wieder das große Wort, indem er sich an die bei ihm stehenden Gentleman wendete, die alle indianisch gekleidet waren, obgleich man ihnen ansah, daß sie nicht mehr der Prärie oder dem Urwald angehörten:

„Der Sprecher der hier lagernden Gesellschaft hat sich leider entfernt. Er kann uns also nicht sagen, wer die Anderen, die Zurückgebliebenen sind. Wir werden es aber erfahren. Ich sorge dafür!“

Er kam auf uns zu.

„Der Unglückselige!“ sagte das Herzle. „Er wird doch nicht etwa mit dir anbinden?“

„Er würde sofort wieder abgebunden sein!“ lachte ich vergnügt.

Ihre Befürchtung erwies sich als begründet. Der Mann wendete sich an mich. Alle Welt schaute nach ihm und war auf seine Fragen und meine Antworten gespannt.

„Mr. Pappermann hat es für gut gehalten, sich zurückzuziehen“, begann er; „ich frage also nun Euch. Wie ist Euer Name?“

„Ich heiße Burton“, antwortete ich.

„Und die Lady da neben Euch?“

„Ist meine Frau.“

„Die beiden Gentlemen, die hinter Euch stehen?“

„Sind Brüder. Mr. Hariman Enters und Mr. Sebulon Enters.“

Den „jungen Adler“ sah er nicht, weil dieser abseits stand. Er fuhr in seinem Verhör fort:

„Wo kommt Ihr her?“

„Aus dem Osten.“

„Wo wollt Ihr hin?“

„Nach dem Westen.“

„Redet nicht so dumm! Das ist ja eben der Westen, wo Ihr seid! Und wenn ich einmal frage, so will ich Namen und Orte wissen, nicht aber alberne Ausdrücke, aus denen man sich nichts nehmen kann!“

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, so bekam er eine derartige Ohrfeige von mir, daß er sich halb um sich drehte und dann niederstürzte. Hierauf wendete ich mich nach rechts:

„Die Ladies wollen verzeihen, daß es hier genauso aus dem Wald schallt, wie hineingesprochen wird; wir sind ja eben im Wald!“

Und nach links hinüber fügte ich hinzu:

„Ich bitte einen der andern Gentlemen, die Unterhaltung mit mir fortzusetzen. Mr. Paper wird wahrscheinlich darauf verzichten.“

„Verzichten?“ rief er aus, indem er sich vom Boden aufraffte. „Fällt mir nicht ein! Ich bin geschlagen worden – geschlagen! Das erfordert Strafe – sofortige Strafe!“

Er suchte hastig in seinen Taschen herum und brachte zunächst ein Messer hervor, eine sehr elegante, sogenannte Sicherheitsklinge, die er sehr behutsam, um sich ja nicht selbst zu stechen, öffnete. Dann kam ein kleiner, allerliebster Salonrevolver zum Vorschein, den er entsicherte und spannte. Nach diesen großartigen Vorbereitungen wollte er sich von neuem an mich machen. Die Folge wäre eine noch größere Blamage gewesen, zu der es aber nicht kam, denn einer der Gentlemen schob ihn beiseite und sagte:

„Steckt diese Waffen wieder ein, Mr. Paper! Mit gewalttätigen Leuten spricht man anders!“

Er tat mit verbindlichem Lächeln zwei Schritte auf mich zu, machte mir eine noch verbindlichere Verbeugung und begann:

„Wir wünschen, uns Euch vorzustellen, Mr. Burton. Ich bin Agent, Agent für alles mögliche, und heiße Evening. Hier steht Mr. Bell, Simon Bell, Professor der Philosophie. Und da steht Ihr Mr. Edward Summer, der auch Professor ist, nämlich Professor der Klassikal-Philologie. Genügt Euch das?“

Man sah es ihm an, daß er erwartete, mir außerordentlich imponiert zu haben, und ich gestehe auch gern ein, daß diese beiden Professoren bisher meine Hochachtung besaßen; gesehen hatte ich sie noch nie. Ich war also gern bereit, so höflich wie möglich zu sein und ihnen in jeder Weise entgegenzukommen, zumal diese vier Männer im Verein mit Old Surehand ja das Komitee bildeten, in dessen Hände das Schicksal des geplanten Winnetoudenkmals gegeben war. Ich verbeugte mich also ebenso verbindlich, wie er es getan hatte und antwortete:

„Ich fühle mich geehrt, so hervorragende Männer der Wissenschaft kennenzulernen, und erkläre mich bereit, dies, wenn ich Euch dienen kann, zu beweisen.“

„Das ist mir lieb, sehr lieb! Ich werde Euch sofort Gelegenheit geben, diesen Beweis zu führen. Wir sind nämlich in einer wichtigen Angelegenheit gekommen, diesen Platz hier zu besichtigen. Wir glaubten, niemand hier zu finden. Eure Gegenwart ist uns störend.“

So unendlich höflich, wie er das sagte, so unendlich rücksichtslos war es auch. Ich sah die beiden Professoren an und antwortete nicht sogleich.

„Ihr versteht mich doch?“ fragte er.

„Gewiß“, erwiderte ich. „Es ist ja deutlich genug.“

„Nun?“

„Ihr wünscht, daß wir uns entfernen?“

„Ja.“

„Wir alle?“

„Alle!“

„Wie weit?“

„Welch eine Frage! Ich meine ganz selbstverständlich nicht nur zehn oder zwanzig oder fünfzig Schritte! Ihr sollt fort von hier, vollständig weg, weg, weg!“

„Wünschen das auch die Herren Professoren?“

Die Herren bejahten diese Frage sehr energisch, und der Agent fügte noch überdies erklärend hinzu:

„Ihr scheint ein übermäßig gewalttätiger Mann zu sein. Unsere Angelegenheit aber ist eine so zarte, feine und diskrete, daß Ihr ganz gewiß an keine Stelle paßt, an der wir uns befinden.“

„Das sehe ich ein, Mr. Evening; ja wirklich, das sehe ich ein. Wir werden diesen Platz also verlassen.“

„Nicht nur zum Schein?“

„Nein.“

„Und wann?“

„Sofort. Ich bitte nur um soviel Zeit, als wir nötig haben, das Zelt abzubrechen und die Pferde zu satteln.“

„Die sei Euch gern gewährt. Ich sehe, Ihr seid vernünftiger, als wir dachten!“

Ich wendete mich mit meiner Frau nach dem Zelt und bat die beiden Enters, uns zu helfen.

„Wie schade! jammerschade!“ klagte das Herzle leise. „Diese uns so heilige Stätte in dieser Weise verlassen zu müssen!“

Ich sah ihr an, das Weinen stand ihr nahe.

„Sei ruhig, Schatz!“ bat ich. „Wir kommen auf dem Rückweg wieder her, und gewiß in anderer Weise und in anderer Begleitung!“

„Aber muß es denn sein? Müssen wir denn weichen? Grad diesen Menschen weichen? Haben wir nicht ein viel, viel größeres Recht, hier zu sein, als sie? Ist es nicht vielleicht eine Schwäche von dir?“

„Im Gegenteil, ein Sieg.“

„Da möchte ich dich fast bitten, mir dies zu beweisen!“

„Ist gar nicht nötig, du wirst es ganz von selbst einsehen, und zwar noch ehe wir gehen. Wir liefern hier unser erstes, bedeutendes Avantgardegefecht für unser Ideal. Du wirst den Sieg bald sehen, vielleicht auch hören! Ich bitte, dich mit dem Einpacken soviel wie möglich zu beeilen!“

Mit diesem Einpacken ging es bedeutend schneller, als wir dachten. Die Herren vom Komitee hatten die Güte, uns einige von ihren Hands zur Hilfe zu stellen, so daß wir grad fertig und zum Aufbruch bereit waren, als Aschta, die Mutter und Aschta, die Tochter mit Pappermann aus dem Wald zurückkehrten. Sie kamen Hand in Hand, er in der Mitte, auf beiden Seiten von Mutter und Tochter geführt. Sein altes, liebes Gesicht strahlte im Ausdruck einer tiefen, reinen, heiligen Freude. Als er die Maultiere bepackt sah, uns beiden Pferden stehend und den „Jungen Adler“ sogar schon im Sattel sitzend, rief er verwundert aus:

„Was ist das? Wollt ihr etwa fort?“

„Ja, fort“, antwortete ich. „Steigt auf!“

„Unmöglich! Ich habe versprochen, zu bleiben!“

„So bleibt! Wort muß man halten! Ich aber habe versprochen, den Nugget-tsil zu verlassen, und zwar sofort.“

„Wem?“

„Den Gentlemen da.“

Ich deutete dabei auf die Herren vom Komitee.

„Wir sind ihnen zu gewalttätig!“ fügte Hariman Enters hinzu, um seinem Ärger Luft zu machen.

„Nicht zart, nicht fein, nicht diskret genug!“ vervollständigte Sebulon Enters. „Sie meinen, daß Mr. Burton an keine Stelle paßt, an der sie sich befinden!“

„Das ist eine Lüge, eine ganz unverschämte, flegelhafte Lüge!“ brauste Pappermann auf. „Mr. Burton ist ein Gentleman, wie es hier unter uns wohl keinen –“

„Still!“ unterbrach ich ihn. „Wem habt Ihr versprochen, hierzubleiben?“

„Diesen beiden Ladies.“

„Wie lange hierzubleiben?“

„Das wurde nicht gesagt. Gewiß aber war gemeint, bis wenigstens morgen. Wir haben uns soviel zu erzählen. Müßt Ihr wirklich fort, wirklich?“

„Ja, unbedingt! Ihr könnt ja hierbleiben und morgen nachkommen!“

„Was? Euch allein lassen, Euch und Mrs. Burton? Da wäre ich ja der größte Halunke, den es gibt! Nein, nein! Ich reite mit! Ich bitte die Ladies, mir mein Wort zurückzugeben! Sie werden es tun, gewiß, gewiß! Denn ich verspreche ihnen, daß wir uns bald, sehr bald wiedersehen!“

Er küßte ihnen in bärenhafter, aber um so rührender Zartheit die Hände und ging zu seinem auch schon gesattelten Maultier. Da richtete sich die Mutter hoch auf und fragte mit lauter, gebieterischer Stimme über den Platz hinweg:

„Was ist hier geschehen? Ich will es wissen, ich, das Weib Wakons, des Unbestechlichen, der sich weigerte, Mitglied dieses Komitees zu sein! Wer sagt es mir, wer?“

„Der wird es dir sagen, der da kommt“, antwortete ihre Tochter, indem sie auf den „jungen Adler“ deutete, der sein Pferd in tänzelndem Schritt nach der Stelle trieb, wo beide standen.

Als er sie erreicht hatte, rief er mit weithin vernehmbarer Stimme:

„Ich bin ein Winnetou vom Stamm der Apatschen. Ich kehre aus den Wohnorten der Bleichgesichter heim zur Stätte meiner Ahnen. Man nennt mich den jungen Adler – –“

„Der junge Adler – – der junge Adler – – der junge Adler!“ raunte es von Mund zu Mund. Man kannte diesen Namen, obgleich sein Träger noch so jung an Jahren war.

Er fuhr fort:

„Ich erkläre hiermit im Namen aller Winnetous vom Stamm der Apatschen, daß dieses Komitee nicht würdig ist, die große Frage, vor deren Lösung wir hier stehen, zu entscheiden! Der Schlag in das Gesicht war wohl verdient, war die einzig richtige Antwort, die es gab! Nicht nur Antonius Paper, sondern das ganze Komitee hat ihn erhalten. Ich habe gesprochen. Howgh!“

Er nahm sein Pferd vorn hoch, um den Platz zu verlassen.

„Auch du willst fort?“ fragte die Mutter.

„Auch ich? Vor allen Dingen ich! Doch sehen wir uns wieder“, antwortete er.

„Wann und wo?“ fragte die Tochter.

„Am Mount Winnetou.“

Diese beiden Fragen und Antworten wurden nicht in englischer Sprache, sondern im Apatsche ausgesprochen. Die Mutter fügte in leiserem Ton hinzu:

„Du bist ein Liebling Wakons, meines Gatten. Du wirst auch ihn am Mount Winnetou sehen. Kommst du vielleicht schon vor den Tagen der Ausstellung zu Tatellah-Satah?“

„Ich hoffe es.“

„So sag ihm, daß Aschta, das Weib Wakons und zugleich die Tochter des größten Medizinmannes der Seneca, im Kampf gegen den Unverstand mit allen Frauen der roten Rasse an seiner Seite steht.“

„Ich danke dir in seinem Namen. Wie kommt es, daß ihr trotzdem mit dem Komitee dieses Unverstandes reitet?“

„Der Zufall führte uns mit ihnen zusammen. Sie hingen sich an uns, obgleich wir das nicht wünschten. Sie wollen erfahren, was wir in unserm Campmeeting am Mount Winnetou beraten und beschließen werden. Wir teilen es ihnen nicht mit. Wir übergeben dir unsern Freund und Retter und bitten dich, über ihn zu wachen. Wer ist das Bleichgesicht, welches sich mit seiner Squaw bei dir befindet?“

„Hat Pappermann es euch nicht gesagt?“

„Nein. Wir fragten ihn, aber er schwieg. Doch scheint er diese beiden sehr, sehr hochzuachten.“

Ich hielt so nahe bei ihnen auf dem Pferd, daß ich diese Worte hörte. Die Mutter glaubte, von mir, dem Weißen, nicht verstanden zu werden. Der „junge Adler“ warf einen fragenden Blick herüber.. Er hätte den beiden Frauen gar so gern gesagt, wer ich war. Ich gab ihm mit den Augenlidern die Erlaubnis dazu. Da trieb er sein Pferd noch einen Schritt weiter an sie heran und sprach:

„Wenn dieser Weiße und seine Squaw nicht erfahren sollen, was ihr jetzt mit mir redet, so müßt ihr leiser sprechen.“

„Warum?“

„Er versteht die Sprache der Apatschen.“

Sie erschrak.

„So hat er uns ja schon verstanden!“ hauchte sie schnell und verlegen.

„Allerdings, und zwar jedes Wort. Aber du hast nicht nötig, zu erschrecken. Er ist ein Freund Winnetous, und er ist auch der deinige, der Eurige. Er will nicht, daß man jetzt schon seinen Namen erfährt; aber wenn ihr mir versprecht, verschwiegen zu sein, so darf ich ihn euch nennen.“

„Wir werden verschwiegen sein!“

„Nun wohl, es ist Old Shatterhand.“

„Old Shat – – –!“ Sie konnte den Namen vor Ueberraschung nicht ganz aussprechen. Sie erbleichte für einen Augenblick. Dann rötete sich unter der zurückkehrenden Blutwelle ihr Gesicht um so mehr. „Ist das wahr? – Ist das wahr?“

„Ja, es ist wahr; er ist es“, versicherte der „Junge Adler“.

„Der beste, der wahrste, der treueste Freund und Bruder unseres Winnetou! Zum ersten Mal im Leben sehe ich ihn! O könnte ich – – könnte ich – –!“

Sie sprach auch diesen Satz nicht ganz aus. Sie schlug die Hände zusammen und schaute wie hilflos zu mir empor. Ihre Tochter aber trat zu mir heran und küßte, ehe ich es verhindern konnte, meinen Steigbügelriemen. Ebenso schnell zog sie auch den Rocksaum meines Herzle an die Lippen.

„Und das ist seine Squaw – – – seine Squaw!“ fuhr die Mutter fort. „O, hätte ich doch nicht versprochen, zu schweigen! Ich würde vor Freude jubeln, jubeln, jubeln!“

Da schwang das Herzle sich vom Pferd, umarmte sie, küßte sie auf Mund und Wangen und sagte in englischer Sprache:

„Ich verstehe nicht, was Ihr sprecht, aber ich lese es aus Euren Augen und von Euren Lippen. Ich liebe euch beide! Ich begrüße euch! Wir sehen uns wieder, bald, bald! Jetzt aber müssen wir fort!“

Sie gab der Tochter denselben dreifachen Kuß wie der Mutter und stieg dann wieder auf das Pferd. Ich reichte den beiden lieben, schönen Indianerinnen die Hand und sagte:

„Wakon, der unermüdliche Forscher und Finder, steht hoch in meinem Geist und noch höher in meiner Seele; denn es ist die Seele seiner Nation, nach der er sucht. Ich freue mich, gehört zu haben, daß ich ihn am Mount Winnetou sehen werde. Und ich bin stolz darauf, schon heut seiner Squaw und seiner Tochter begegnet zu sein. Am meisten aber beglückt es mich, zu wissen, daß wir Verbündete sind. Das Andenken Winnetous gehört in die Herzen unserer Männer und Frauen, in die Seelen unserer Völker, nicht aber auf die kahlen, windigen Höhen prahlerischer Oeffentlichkeit. Ich bitte, zu verschweigen, daß ihr mich hier getroffen habt. Wir sehen uns wieder! Zur rechten Zeit an der richtigen Stelle!“

Wir ritten fort, mit höflichem Gruß für die Frauen, doch ohne einen Blick für die Männer. Es ging langsam dieselben Steilungen hinab, die wir heraufgekommen waren. Unten sahen wir die Pferde derer stehen, die uns vertrieben hatten; sie kümmerten uns nicht. Dann, als der Weg eben wurde und wir aus dem Wald herauskamen, konnten wir eine größere Schnelligkeit entwickeln und unsern Ritt beeilen. Denn nun wir einmal den Nugget-tsil verlassen hatten, galt es, unser nächstes Ziel, den Deklil-to so bald wie möglich zu gewinnen, weil der größte Teil der Strecke zwischen hier und dort aus feindlichem Land bestand. Die alten, blutrünstigen Zeiten waren ja, Gott sei Dank, vorüber, aber der Haß, der damals regierte, war noch nicht tot; der lebt heute noch. Das war sehr deutlich aus den Briefen zu ersehen, die ich von To-kei-chun, dem Häuptling der Racurroh-Komantschen, und von Tangua, dem ältesten Häuptling der Kiowa, erhalten hatte. Unser Weg führte durch das Gebiet dieser beiden Stämme, und ich war mir sehr wohl bewußt, daß ich, wenn auch keinen wirklichen Leichtsinn, aber doch gewiß ein Wagnis beging, indem ich mit meiner Frau, die den doch immerhin möglichen Gefahren nicht gewachsen sein konnte, grad diese schlimme Gegend durchquerte. Ich hatte kein ganz gutes Gewissen, hütete mich aber, ihr dies zu sagen.

Sie hatte keine Ahnung von diesen meinen Gedanken. Sie war ganz unbefangen. Ja, noch mehr, sie war sogar sehr heiter. Während wir auf ebenem Boden im köstlichen Galopp nebeneinander dahinflogen, warf sie mir von der Seite her zuweilen einen heimlich sein sollenden Blick zu, den ich aber doch wohl bemerkte. Ich verstand diese Blicke. Sie kann kein Unrecht ertragen, auch dann, wenn dieses Unrecht nicht in einer Tat, sondern nur in einem Gedanken besteht. Es muß heraus. Sie muß es bekennen. Eher läßt es ihr keine Ruhe. Sie hatte jetzt so etwas, was sie loswerden wollte. Daher ihre Blicke. Endlich, als sie wieder einmal so forschend herüberschaute, sah ich ihr voll in das Gesicht und forderte sie lachend auf:

„Na also, heraus damit!“

„Womit?“ fragte sie.

„Mit dem Geständnis!“

„Geständnis? Was sollte ich wohl zu gestehen haben?“

„Irgend Etwas.“

„Aber was?“

„Das hoffe ich von dir zu erfahren!“

„So? Höre, was hältst du wohl von einer Ehe, in welcher die arme, unglückliche Frau ihren Mann nie ansehen darf, weil er bei jedem Blick, den sie auf ihn richtet, glaubt, sie habe ihm ein Geständnis zu machen?“

„Meine Meinung lautet dahin, daß diese arme, unglückliche Frau sehr glücklich verheiratet ist, denn sie hat einen Mann, der sie kennt und durchschaut!“

„Hm! Der aber trotzdem nicht weiß, was sie ihm bekennen und gestehen soll, denn er sagt immer nur: Ich hoffe, es von dir zu erfahren! Leider ist es in diesem jetzigen, einen, einzigen Fall endlich, endlich einmal richtig, daß ich dir Abbitte zu leisten habe. Ich war nicht einig mit dir. Wenn auch nur im Stillen, aber doch.“

„Nicht einig? Inwiefern?“

„Ich wäre so gern da oben geblieben. Ich wollte nicht weichen. Ich hielt es wirklich für eine Schwäche von dir, ihnen Platz zu machen.“

„Und aber nun?“

„Ja, aber nun! Du hattest Recht! Wären wir geblieben, so hätte es nur Gehässigkeiten gegeben, herüber und hinüber. Also eher eine Niederlage, als einen Sieg. Auch an eine ruhige Durchsicht der ausgegrabenen Manuskripte wäre nicht zu denken gewesen. Hier aber sind wir frei, ohne Zank und Streit und Bitterkeit, und – – das erste, große Avantgarde-Gefecht, von dem du sprachst, ist gewonnen.“

„Das siehst du ein?“

„Aber gern, sehr gern! Diese ältere Aschta, die Frau Wakons, hat mir imponiert. Sie ist ein Charakter, eine groß angelegte Frau. Kein einziges von all den Komiteemitgliedern reicht geistig an sie heran. Die ist wahrlich nicht nach dem Mount Winnetou unterwegs, um dort Suffragettenreden zu halten! Die weiß, was sie will! Aber sie sagt es nicht; das imponiert mir ganz besonders! Indem du dich vertreiben ließest, hast du dir in ihr eine Helferin gewonnen, die nicht zu unterschätzen ist.“

„Ja“, lachte ich fröhlich, „es wird eine Amazonenschlacht zwischen ihr und dem Komitee! Ich bin außerordentlich gespannt auf die Entwicklung, der wir nicht etwa nur als Zuschauer entgegengehen, sondern an der wir als Mitwirkende sehr eng beteiligt sind. Wir hörten, daß Kiktahan Schonka ein unerbittlicher Feind von Wakon ist. Ich vermute, daß Wakon an der Spitze der jungen Sioux ebenso nach dem Mount Winnetou kommen wird, wie Kiktahan Schonka die alten Sioux nach dem dunklen Wasser führt. Zwei feindliche Richtungen desselben Stammes, die auf fremdem Gebiet aufeinanderplatzen! Wie kurzsichtig! Grad hieran ging die Rasse zugrunde! Dem muß gesteuert werden! Also du bist wieder einverstanden mit mir?“

„Vollständig. Wo lagern wir heute abend?“

„An der Nordgabel des Red River. Morgen kommen wir an die Salzgabel desselben Flusses, an welcher damals das Dorf der Kiowas lag. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wir werden aber trotzdem die Stelle vermeiden, um unser möglichstes zu tun, Niemandem zu begegnen.“

Es geschah, wie ich gesagt hatte. Wir erreichten gegen Abend die Nordgabel des roten Flusses und machten an ihrem Wasser Lager. Sehr interessant war, was wir während unseres Gespräches da von Pappermann erfuhren. Er hatte nämlich während seiner Unterhaltung mit den beiden Aschtas aus einigen Äußerungen der Mutter geschlossen, daß der Kassierer Antonius Paper bemüht gewesen war, sich um die Hand der Tochter bewerben zu dürfen. Man hatte ihn rundweg abgewiesen, und nun benutzte er jede Gelegenheit, hierfür in seiner ihm eigenen Weise Rache zu nehmen.

Als der Alte dies erzählte, beobachtete ich den „jungen Adler“. Er tat, als ob er es gar nicht höre. Er sagte kein Wort und bewegte keinen Zug seines Gesichtes. Aber grad diese Unbeweglichkeit sprach deutlicher, als lauter Zorn hätte sprechen können.

Noch ehe wir uns an diesem Abend schlafen legten, beschrieb ich meinen Gefährten den Weg, den ich damals, um Sander zu verfolgen, von dem Dorf der Kiowas gemacht hatte. Von da aus nach dem Rio Pecos und von dort hinauf nach dem „dunklen Wasser“. Es gab von der Stelle aus, an der wir uns heute befanden, einen direkteren, einen näheren Weg. Schlugen wir diesen ein, so konnten wir uns sofort von hier aus nach West wenden, ohne erst nach der Salzgabel des Red River zu reiten. Ich hatte damals nur darum nicht den kürzeren, sondern den weiteren Weg gemacht, weil er von Sander, den ich verfolgte, eingeschlagen worden war. Ich stellte es nun jetzt meinen Begleitern anheim, sich eine von beiden Routen zu wählen. Sie waren so klug, sich für die kürzere zu entscheiden, und so kam es, daß wir eher in die Nähe des Zieles gelangten, als sie andernfalls von uns erreicht worden wäre.

Die Gegend, durch welche wir zuletzt ritten, war öd und wasserlos. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm erfreute das Auge. Es gab nur Stein und Felsen, weiter nichts. Das Gelände war bisher ziemlich eben gewesen, begann aber nun, langsam zu steigen. Es war schon Mittag. Wir hielten aber nicht an, um zu essen oder auszuruhen, denn es fehlte das Wasser, auf das wir erst später, wenn wir höher hinaufkamen, rechnen durften. Da sahen wir einen Reiter, weit vor uns draußen, der hinter einer kleinen Anhöhe verborgen gewesen war und nun langsam hervorkam, um uns entgegen zu reiten. Er hatte uns von diesem seinem Versteck aus beobachtet. Warum blieb er nicht verborgen? Warum kam er schon jetzt hervor? Er konnte uns ja noch gar nicht genau erkennen. Ein erfahrener Krieger hätte gewartet, bis er uns in größerer Nähe hatte. Lag der Grund etwa nur darin, daß die alten Zeiten der Gefahr vorüber waren und man darum überhaupt nicht mehr so vorsichtig zu sein brauchte wie früher?

Es war ein Indianer. Er lenkte sein Pferd langsamen Schrittes auf uns zu. Dann hielt er an, um uns an sich kommen zu lassen. Er war keineswegs von hoher, breiter, sehniger Gestalt, sondern eher klein als groß zu nennen. Seine Kleidung bestand aus buntem Pueblostoff. Unter dem aus Agavefasern geflochtenen Hut floß das dunkle Haar lang auf den Rücken hernieder. Im Gürtel trug er ein Messer, am Riemen ein leichtes Gewehr. Sein Pferd war kein gewöhnlicher Gaul, und die Haltung des Reiters durfte als selbstbewußt, ja, ich möchte sagen, als indianisch-edel bezeichnet werden. Das Gesicht, ganz selbstverständlich vollständig bartlos, wollte mir bekannt erscheinen; nur wußte ich nicht gleich, warum, woher und wohin. Er hatte weichere Linien und eine hellere, wärmere Farbe, als Indianer gewöhnlich zu haben pflegen. Und der Blick seines milden, ernsten, offenen Auges, welches fast an Winnetous Schwester Nscho-tschi erinnerte – ah, da kam es mir, da wußte ich es mit einem Mal, wo und wann ich diesen Indianer gesehen hatte! Und in demselben Augenblick wurde ich auch von ihm erkannt. Ich war zufällig am Ende unseres kleinen Trupps geritten. Darum traf mich sein Auge zu allerletzte Es vergrößerte sich unter dem Eindruck der Überraschung, der Freude. Die Wangen röteten sich zusehends, fast wie bei einem jungen Mädchen, dem von dem erregten Puls das Blut in das Gesicht getrieben wird. Er wollte das zwar verbergen, brachte es aber nicht fertig, während er es aber mir ganz gewiß nicht ansehen konnte, daß ich mich seiner erinnerte. Ich konnte mich beherrschen, er aber nicht; ich war ja ein Mann; er aber war keiner. Und nun wußte ich auch, warum er so gegen alle männliche Vorsicht nicht versteckt geblieben, sondern auf uns zugeritten war! Er sah fast verlegen aus und vergaß, uns anzureden. Darum ergriff Pappermann, der an unserer Spitze ritt, das Wort. Er hielt sein Pferd an und sagte:

„Wir grüßen unsern roten Bruder. Ist das der richtige Weg nach dem Pa-wiconte?“

Der Gefragte antwortete:

„Ich gehöre zu dem Stamm der Kiowas. Pa-wiconte aber ist ein Siouxwort, doch kenne ich es ja, dieser Weg ist der richtige nach dem See. Wollen meine Brüder hin?“

„ja.“

„So warne ich sie.“

„Warum.“

„Pa-wiconte heißt Wasser des Todes. Reitet ihr hin, so kann der See allerdings sehr leicht zu einem Wasser des Todes für euch werden.“

Pappermann hatte in seinem indianisch-englischen-spanischen Kauderwelsch gefragt; die Antwort war ihm in einem ziemlich guten Englisch geworden. Die Stimme des Kiowa klang wie die Stimme einer Frau, die sich bemüht, tief wie ein Mann zu sprechen.

„Warum drohst du uns mit dem Tod?“ erkundigte sich der alte Jäger.

„Ich drohe nicht, sondern ich warne“, erwiderte der Rote.

„Beides ist gleich, wenn wir nur den Grund erfahren!“

„Gründe, wie dieser, sind nicht billig. Man teilt sie nur den besten Freunden mit.“

„Wir sind deine Freunde!“

„Das sagst wohl du; ich aber kenne dich nicht.“

„So wisse, wer wir sind: Ich heiße Maksch Pappermann und bin schon vierzig Jahre lang als Westläufer bekannt. Da sind zwei Gentlemen, die Hariman und Sebulon Enters heißen. Der dritte Gentleman dort hinten ist Mr. Burton, und die Lady hier ist Mrs. Burton, seine Frau. Und unser roter Bruder da an meiner Seite ist ein Sohn der Apatschen und wird der junge Adler genannt.“

Der Kiowa sah uns in der Reihenfolge, in der wir nacheinander aufgezählt wurden, mit scharfem, forschendem Auge an. Nur bei mir ließ er den Blick sinken. Bei meiner Frau war es, als ob er sie durchbohren wolle. An den „jungen Adler“ ritt er nahe heran und sprach:

„Man erzählt bei uns von einem jungen Adler der Apatschen, welcher aus dem Stamm Winnetous und sogar sein Verwandter ist. Bist du etwa dieser?“

„Ich bin es“, antwortete unser Begleiter.

„Du hast diesen Namen schon als Knabe bekommen, weil du einen f reien Kriegsadler fesseltest und ihn zwangst, dich durch die Luft vom hohen Horst zur Erde zu tragen. Ist das richtig?“

„Es ist richtig.“

„So reiche ich dir meine Hand. Ich sehe den Stern der Winnetou auf deiner Brust. Auch ich bin ein Winnetou, doch habe ich jetzt noch Grund, es nur wenige sehen zu lassen. Schau her! Vertraust du mir?“

Er hob den Auf schlag seiner Jacke; da kam der zwölfstrahlige Stern zum Vorschein.

„Ich vertraue dir!“ versicherte der „junge Adler“.

„So erlaube mir, euer Führer zu sein! Ich habe euch erwartet.“

„Du – –? Uns – –?“ fragte der Apatsche. „Unmöglich!“

„Es ist nicht nur möglich, sondern wirklich. Glaube es mir!“

Der „junge Adler“ schien doch irre werden zu wollen. Ein Angehöriger der feindlichen Kiowas! Der Stern konnte leicht den Zweck haben, böse Absichten zu verdecken! Ich bekam einen schnellen, fragenden Blick herübergeworfen und gab mit einem bejahenden Augenzwinkern heimliche Antwort. Da entschied der „junge Adler“:

„Ja, sei unser Führer!“

Er wollte weitersprechen, kam aber nicht dazu, denn Sebulon Enters richtete die schnelle, ganz unvorbereitete Frage an den Kiowa:

„Sind die Sioux schon da?“

„Was für Sioux?“ fragte dieser.

„Die von dem alten Häuptling Kiktahan Schonka angeführt werden und nach dem Pa-wiconte wollen. Und die Utahs mit ihrem Anführer Tusahga Saritsch?“

Da verschwand der freundliche Ausdruck aus dem Gesicht unseres neuen Bekannten; sein Blick wurde schärfer, und er fragte:

„Kennt Ihr diese beiden Häuptlinge?“

„Ja“, antwortete Enters.

„Ich hörte, ihr seid Brüder?“

„Die sind wir.“

„Kiktahan Schonka hat euch nach dem Pa-wiconte gesandt?“

„Ja.“

„So beeilt euch, schleunigst hinzukommen! Ihr werdet dort erwartet. Meldet euch bei Pida, dem Häuptling der Kiowas, dem Sohn des alten berühmten Häuptlings Tangua! Der wird euch zu Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch bringen.“

„Beeilen sollen wir uns? Warum?“

„Das weiß ich nicht. Es wurde mir gesagt.“

„Aber was wird dann aus euch? Wann und wo treffen wir euch wieder?“

Diese Frage wurde an mich und meine Frau gerichtet. Ich antwortete:

„Sorgt euch nicht um uns! Wenn ich euch jetzt verspreche, daß ihr uns zur rechten Zeit und an der richtigen Stelle treffen werdet, so werde ich ebenso Wort halten, wie ich in Beziehung auf die Teufelskanzel Wort gehalten habe. Reitet also getrost weiter! Ihr könnt euch auf jedes Wort, welches hier dieser Kiowa euch sagt, verlassen.“

„Und dieser Pa-wiconte ist wirklich das dunkle Wasser, in dem unser Vater starb?“

„Ja. Ihr habt die Beschreibung der Örtlichkeit in meinem Buch gelesen. Ihr werdet sie sofort erkennen.“

„Aber der Weg ist uns unbekannt. Wie lange reitet ihr noch mit?“

Da antwortete der Kiowa schnell an meiner Stelle:

„Ihr reitet von jetzt an allein. Die andern weichen von der bisherigen Richtung ab. So will des Kiktahan Schonka, und dem habt ihr zu gehorchen! Euer Weg braucht euch nicht zu sorgen. Er geht genau geradeaus. Sobald ihr in die Nähe des Sees gelangt, werdet ihr auf Posten treffen, welche euch zu Pida führen.“

Er sagte das in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Die beiden Enters gehorchten. Sie trennten sich von uns und ritten weiter. Es schien, als ob sie uns nur ungern verließen, obgleich sie doch darauf gefaßt gewesen waren, sich von uns scheiden zu müssen, um uns an die Feinde zu verraten. Als sie außer Hörweite waren, wendete sich der Kiowa an den „jungen Adler“:

„Kennt mein Bruder diese zwei Männer?“

„Wir kennen sie genau“, nickte dieser.

„Wißt ihr, daß sie eure Feinde sind?“

„Ja.“

„Daß sie euch an Kiktahan Schonka auszuliefern haben?“ „Auch das wissen wir.“

„Und dennoch reitet ihr mit ihnen? Uff, uff! Das ist ganz genau wie einst Winnetou oder Old Shatterhand! Lieber mitten in der Gefahr, als nur an ihrem Rande!“

Bei diesen Worten glitt ein warmer Seitenblick über mich hin. Dann fuhr er fort:

„Aber warum begleitet ihr sie nach dem See, der euch Verderben droht? Etwa nur, um sie zu entlarven und zu bestrafen? Nein! Ihr hattet auch noch andere, wichtigere Gründe. Darf ich sie erraten?“

„Tue es!“

„Ihr wolltet die Zusammenkunft der Kiowas und Komantschen mit den Sioux und Utahs belauschen. Habe ich recht?“

„Mein roter Bruder scheint sehr scharf zu denken!“

Jetzt lächelte der Kiowa und sagte: „Pida, der Freund Old Shatterhands, denkt noch viel schärfer!“ „Bist du etwa sein Abgesandter? Handelst du in seinem Auftrag?“

Da hob der Kiowa seine schönen, ehrlichen Augen zu mir empor und antwortete:

„Nein! Er weiß nichts von dem, was ich tue. Er ist der Häuptling seines Stammes und der Sohn seines Vaters. Als dieses beides hat er Euer Feind zu sein. Aber er liebt Old Shatterhand, und er verehrt ihn wie keinen anderen Menschen. Darum wünscht er in seinem Herzen, daß Old Shatterhand, wie er immer siegte, so auch jetzt wieder siegen möge, aber nicht mit den Waffen, sondern in Liebe und Versöhnung. Er will nicht wissen, was ich tue; darum tue ich, was ich will, ohne ihn zu fragen. Ich führe euch nach dein besten Ort, den es für euch und eure Absichten gibt.“

„Nicht nach dem Wasser des Todes?“

„O doch! Aber auf einem Umweg, damit man euch nicht sehe. Auf diesem gelangt ihr nicht nur an das Wasser des Todes, sondern auch an das Haus des Todes. Fürchtet ihr euch vor Geistern?“

„Nur Lebende sind zu fürchten, nicht aber die Toten. Ich hörte noch nie von einem Haus des Todes. Wo liegt es?“

„Am See. Es war unbekannt. Es wurde erst vor zwei Jahren entdeckt. Man fand es voller Gebeine aus uralter, uralter Zeit, mit zahllosen Totems, Wampums und anderen heiligen Dingen. Das alles hat man geordnet, wohl mehrere Wochen lang. Dann wurde das Kalumet des Geheimnisses darüber geraucht, und Niemand mehr darf es betreten. Wer es dennoch wagt, sich der Stelle des Ufers zu nähern, die nach dem Haus führt, wird von den Geistern derer, die einst hier starben, getötet.“

„Und dennoch willst du es wagen?“

„Ja.“

„Welch ein Mut!“

Es war nicht zu ersehen, ob der „junge Adler“ diesen Ausruf ernst oder ironisch meinte. Der Kiowa sah vor sich nieder, hob dann schnell den Kopf und antwortete lächelnd:

„Allein würde ich es nicht tun; mit Euch aber kann mir nichts geschehen. Das weiß ich so genau, als hätte ich es aus dem Mund unseres großen guten Manitou selbst gehört. Ihr kennt mich nicht. Ihr dürft mir wohl mißtrauen. Aber ich bitte Euch, mir dennoch zu folgen! Ich kann Euch keine andere Sicherheit als höchstens nur die Frage geben: Kennt Ihr vielleicht Kolma Putschi?“

„Ja.“

„Sie ist meine Freundin. Und kennt Ihr vielleicht gar auch Aschta, die Squaw von Wakon, des berühmtesten Mannes der Dakotastämme?“

„Auch diese.“

„Wir wohnen weit voneinander entfernt, aber wir verkehren öfters durch besondere Boten. Ich hoffe, beide in nächster Zeit persönlich zu sehen, trotz der Feindschaft, die zwischen unseren Völkern waltet. Habt Ihr nun Vertrauen zu mir?“

Diese Mühe, uns Zuversicht einzuflößen, war rührend. Wer weiß, was er alles wagte, um uns zu Diensten zu sein! Und er schien gar nicht zu ahnen, daß er dadurch, daß er diese beiden Frauen seine Freundinnen nannte, sich selbst als Weib bezeichnete. Ich antwortete:

„Wir haben Vertrauen. Wir hatten es gleich vom ersten Augenblick an, als wir dich sahen. Führe uns also! Wir werden dir folgen.“

„So kommt!“

Die beiden Enters hatten sich schon eine große Strecke entfernt. Wir folgten zunächst langsam ihrer Spur, damit sie nicht sehen möchten, nach welcher Seite wir ritten, und erst als sie am Horizont verschwunden waren, wichen wir von unserer bisherigen Richtung nach rechts ab, weil wir, um nach dem „Haus des Todes“ zu kommen, nicht in direkter Linie nach dem See zu trachten hatten, sondern ihn umgehen mußten. Der Kiowa ritt voran, und Pappermann hielt sich an seiner Seite, jedenfalls um ihn auszufragen und kennen zu lernen. Ich hörte, daß er sich zunächst bei ihm erkundigte, woher er die Brüder Enters kenne.

„Ich kenne sie nicht“, lautete die Antwort. „Aber Kiktahan Schonka hat einen Boten gesandt, um seine Ankunft zu melden. Er ließ durch diesen Boten sagen, daß zwei Bleichgesichter eintreffen würden, die Brüder seien und sich verpflichtet hätten, Old Shatterhand, seine Squaw, einen alten, weißen Jäger, der ein blaues Halbgesicht habe, und den jungen Adler der Apatschen an die Sioux auszuliefern; diese Vier seien dem sicheren Tod geweiht. Da machte ich mich auf, sie zu retten. Ich entfernte mich einen halben Tagesritt vom See und blieb an einer Stelle, an der sie vorüber mußten, sobald sie kamen. Ich wartete gestern und heut. Da sah ich euch erscheinen. Die Zahl stimmte: Ein Indianer, vier weiße Männer und eine weiße Squaw. Ich ritt auf euch zu und nahm mir vor, euch vor allen Dingen von den gefährlichen Brüdern zu trennen. Das ist geschehen.“

„So glaubt Ihr also, Mr. Burton sei Old Shatterhand?“

„Ja. Irre ich mich?“

„Fragt ihn selbst!“

„Das ist nicht nötig. Wäre er es nicht, so hättet Ihr sogleich mit einem Nein geantwortet. Die Auskunft, die Ihr nicht gegeben habt, ist also deutlich genug.“

Weiter war nichts zu hören, weil die beiden Voranreitenden jetzt den Schritt ihrer Pferde beschleunigten. Aber das Herzle sagte zu mir:

„So ist es mit deinem Inkognito also vorbei!“

„Noch nicht“, antwortete ich.

„Glaubst du, daß dieser Kiowa schweigt?“

„Wenn ich es wünsche, ja.“

„So gefällt er dir?“

„Gewiß!“

„Mir auch. Weißt du, er hat so etwas Aufrichtiges und zugleich Wehmütiges an sich. Die Wehmut blickt allerdings fast aus jedem indianischen Auge, aber hier tritt sie doppelt deutlich hervor. Es ist, als ob dieser Mann einen tiefen, andauernden Gram in sich trage. Man sollte helfen können! – Meinst du nicht?“

„Hm! Mein Herzle möchte freilich gern allen Leuten helfen, doch ist innerem Kummer nicht so leicht beizukommen, wie du denkst. Man muß ihn vor allen Dingen erst kennenlernen, und du weißt, die Indianer sind verschwiegen.“

„Oh, was das betrifft, da kennst du mich. Was ich einmal wissen will, das frage ich gewiß heraus!“

„Ja, leider, leider!“

„Sogar aus Indianern!“

„Gewiß, gewiß! Ich kenne dich! Du fragst es heraus, ganz gleich, ob die Menschen weiß oder rot, gelb, grün oder blau aussehen! Aber der hier ist verschwiegen.“

„Denkst du?“

„Ja. Der sagt dir nichts!“

„Hm! Wollen wir wetten?“

„Ich wette nie. Das weißt du doch.“

„Was zahlst du mir, wenn ich schon morgen früh seinen ganzen Kummer kenne?“

„Was forderst du?“

„Nochmals fünfzig Mark für unser Radebeuler Krankenhaus!“

„Kind, werde mir nicht zu teuer!“ rief ich erschrocken aus. „Wieviel zahlst du denn, wenn du morgen früh nichts erfahren hast?“

„Das doppelte, nämlich zur Strafe hundert Mark!“

„Das ist freilich höchst anständig, ja sogar nobel! Das Krankenhaus könnte also bei dieser Wette nur gewinnen. Aber woher nimmst du die hundert Mark?“

„Von meinem Kredit bei dir!“

„Ich danke, danke! Für Wetten kreditiere ich keinen Pfennig. Versuche es dort mit dem alten Pappermann! Vielleicht gelingt es dir, ihn für dein Krankenhaus zu interessieren!“

„Der arme Teufel! Hat weder in seinem Hotel noch auf seinem Hotel noch etwas stehen! So sagte er doch wohl? übrigens bitte ich dich, ihn von dem Kiowa zu trennen.“

„Warum?“

„Weil ich von jetzt an hingehöre!“

„Ah? Du willst deine Forschung sogleich beginnen?“

„Ja. Ich muß unbedingt erfahren, was dieser Indianer auf dem Herzen hat. Denke dir, wenn man ihm helfen könnte! Also bitte, ruf Pappermann von ihm weg!“

Ich tat es mit heimlichem Vergnügen, denn es verstand sich für mich ganz von selbst, daß auch der Kiowa den herzlichen Wunsch hegte, sich an meine Frau zu machen und sie so gründlich wie möglich auszufragen. Diese beiden blieben von jetzt an während des ganzen Nachmittages beisammen. Sie fanden sichtlich Gefallen aneinander. Und ich hatte keinen Grund, sie dabei zu stören.

Das Terrain stieg höher und höher. Wir näherten uns zusehends den Bergen, zwischen denen das „Dunkle Wasser“ liegt. Gegen Abend sahen wir seitwärts von uns die Linie des Waldes, welcher den See verkündet. Dort hatten wir damals am Abend gelagert, ehe wir früh vollends bis an das Wasser geritten waren. Heut schlugen wir einen Bogen um Wald und See herum, überschritten einen breiten, aber nicht sehr tiefen Bach, welcher den Ausfluß des hochinteressanten Wasserbeckens bildete, ließen die Pferde hier trinken und lenkten sie dann zwischen steilen Felsen nach einer dicht bewaldeten Höhe empor, auf welcher die Stelle lag, die für heute unser Ziel zu bilden hatte. Das „Haus des Todes“ noch zu erreichen, war es zu spät, denn es dunkelte bereits so sehr, daß wir uns beeilen mußten, noch vor vollständiger Nacht das Zelt aufzuschlagen und aus Steinen eine Feuerstelle zu errichten, durch welche die Flamme für andere unsichtbar wurde. Uebrigens versicherte uns der Kiowa, daß wir hier oben vor Lauschern völlig bewahrt seien. Der Ort, an dem wir uns befanden, gehörte schon zu dem Gebiet, welches nicht betreten werden sollte. Es bedurfte nur noch eines kurzen Abstieges, um an das „Haus des Todes“ zu gelangen, doch war dieser Abstieg so steil, daß er während der Abenddämmerung nicht hatte gewagt werden können. Wir waren gezwungen, damit bis morgen früh zu waren. Unten am See lagerten, getrennt voneinander, die Kiowa und die Komantschen. Die Sioux und die Utahs waren noch nicht da, wurden aber für jeden Augenblick erwartet.

Während der „junge Adler“ die Pferde besorgte, errichtete ich mit Pappermann das Zelt. Der alte Westläufer befand sich in schlechter Laune. Er hustete und knurrte vor sich hin, als ob er etwas sagen wolle, aber den Anfang nicht finden könne. Darum fragte ich ihn direkt, was mit ihm sei.

„Was soll mit mir sein!“ antwortete er, doch so, daß ich es allein hörte. „Ich ärgere mich!“

„Worüber?“

„Und ich traue nicht!“

„Wem?“

„Dem Kiowa!“

„Warum?“

„Das fragt Ihr noch? Seht Ihr denn nichts, gar nichts? Habt Ihr nicht selbst auch Augen?“

„Wofür?“

„Wofür? Sonderbares Fragen! Worüber? Wem? Warum? Wofür? Und auf solche abgerisserte Silben soll man eine verständige Antwort geben können! Wißt Ihr, wie langes her ist, seit wir diesen Kiowa getroff enhaben?“

„Fast sechs Stunden.“

„Richtig!. Und was hat er in diesen sechs Stunden gemacht?“

„Uns hierher geführt.“

„Das meine ich nicht. Das war seine Pflicht. Er hat aber etwas getan, was ganz und gar nicht seine Pflicht gewesen ist! Ja, ganz und gar nicht! Aergert Ihr Euch nicht auch darüber?“

„Ich? Es ist mir nichts bekannt, worüber ich mich zu ärgern hätte!“

„So? Wirklich? Nichts, gar nichts? Ist das nichts, wenn dieser Indianer sechs volle Stunden lang unaufhörlich neben Eurer Lady reitet und derart mit ihr spricht, daß sie weder Augen noch Ohren für andere Leute hat, auch nicht für Euch selbst? Ist das wirklich nichts?“

Also das war es! Er war eifersüchtig auf den Kiowa! Er hatte meine Frau gern, sehr gern, und es machte ihn, den alten, vereinsamten Menschen, glücklich, wenn sie sich unterwegs mit ihm ein Viertel- oder ein halbes Stündchen unterhielt. Um dieses Glück sah er sich heute gebracht. Ich tat aber, als ob ich kein Verständnis dafür habe und antwortete.

„Ja, das ist allerdings nichts. Es gab während der ganzen Zeit nichts Wichtiges, was ich, mit meiner Frau hätte besprechen müssen. Ich ersehe also gar keinen Grund, der mich hätte veranlassen müssen, ihre Unterhaltung mit diesem unseren neuen Freund abzubrechen.“

„Freund? Freund nennt Ihr ihn? Hm!“

„Soll ich nicht?“

„Nein! Man hat vorsichtig zu sein! Ich heiße Maksch Pappermann und bin ein alter, erfahrener Kerl. Ehe ich Jemand meinen Freund nenne, pflege ich tage-, wochen- und monatelang zu prüfen! Auch Ihr pflegt sonst außerordentlich vorsichtig zu sein, noch vorsichtiger als ich. Heute aber seid Ihr ganz wie aus- oder umgewechselt. Ich warne Euch! Ich meine es gut! Ich bitte Euch, nehmt es von mir an! Wollt ihr?“

„Ja. Sie sollen nicht wieder sechs Stunden lang miteinander reden.“

„So recht, so recht! Ich finde das außerordentlich vernünftig von Euch. Wenn Ihr in dieser Weise redet, werfe ich meinen Ärger über den Haufen und fange wieder an, zu lachen. Glaubt Ihr, daß wir hier wirklich sicher sind? Nichts zu befürchten haben?“

„Vollständig sicher.“

„Es ist doch toll, was für ein Vertrauen Ihr zu diesem Roten habt!“

„Ihr irrt. Ich vertraue ihm, weil ich mir selbst vertraue. Ich höre nicht auf ihn, sondern nur auf mich. Es war doch auch bei Euch von Mißtrauen keine Rede!“

„Ja, zuerst! Aber diese Schwatzhaftigkeit kam mir verdächtig vor. Mir scheint, er hat Mrs. Burton ausgefragt und wird nun das, was er hörte, da unten bei den Kiowas und Komantschen erzählen!“

„Das befürchte ich nicht. Uebrigens ist er noch gar nicht unten bei ihnen.“

„Well! Ich passe auf! Mir soll nichts entgehen! Ich lasse mich nicht betrügen!“

Damit war die Sache für jetzt abgemacht. Als ich das Herzle nach dem Essen ein wenig ironisch fragte, ob es ihr gelungen sein, hinter das Geheimnis des Indianers zu kommen, antwortete sie:

„Leider noch nicht. Er ist verschwiegen.“

„Aber du hast doch beinahe sechs Stunden lang nur allein mit ihm gesprochen! Nennst du das schweigen oder verschwiegen sein?“

„Man kann sprechen, ohne zu plaudern. Wir haben nicht über sein eigenes, kleines Leid, sondern über das große, erhabene Leid der ganzen roten Rasse gesprochen. Er denkt sehr richtig, und er fühlt tief. Ich habe ihn liebgewonnen, sehr lieb!“

„Oho!“

„Ja, wirklich! Es ist mir da freilich etwas begegnet, was ich dir gestehen muß.“

„Schon wieder ein Geständnis?“

„Leider, leider! Ich begreife es nicht! Wenn er so lieb und warm für seine Nationen sprach, wenn er es so tief beklagte, daß wir Weißen die Roten für minderwertig halten, da wurden seine schönen, ehrlichen Augen feucht, und es stieg in mir auf, als müsse ich ihn auf Stirn und Wange küssen und ihm die Tränen mit meinen Händen trocknen. Das muß ich dir sagen. Er ist ein Mann. Ich wiederhole: Ich verstehe es nicht!“

„Wenn nur ich es verstehe, liebes Kind“, antwortete ich.

„Und verstehst du es?“

„Ja“

„Und erteilst du mir Absolution?“

„Sehr gern. Sprechen wir morgen weiter hierüber. Hast du vielleicht erfahren, wo das Kiowadorf jetzt liegt, in dem ich damals zu Tode gemartet werden sollte?“

„Ja. Es lag an der Salzgabel des Red-River. Jetzt aber liegt es weit im Westen davon, auch an einem kleinen Flüßchen, dessen Name mir aber entfallen ist. Er hat dich sofort erkannt, als er dich heut erblickte.“

„Ah? So sah er mich also nicht zum ersten Male?“

„Nein. Er kennt dich von damals her. Er war im Dorf, als man dich brachte. Er stand dabei, als du mit Händen und Füßen an die Pfähle gebunden warst. Er hat mir alles erzählt, so ausführlich, wie ich es nicht einmal von dir selbst erfahren habe.“

„Sprach er auch vom alten Sus-Homascha [Fußnote], der mich so gern retten wollte?“

„Ja. Sus-Homascha hatte zwei Töchter. Die eine war die Frau des jungen Häuptlings Pida. Ihre Ehe war außerordentlich glücklich und ist es auch noch heute. Sie war von Santer überfallen und mit einem Schlage auf den Kopf betäubt worden. Man hielt sie für tot. Man holte dich. Man behauptet noch heut, daß du ihr das Leben gerettet habest. Darum ist Pida noch heut in unerschütterlicher Dankbarkeit dein Freund. Denke dir, seine Frau ist mit hier?“

„Unten am See? Bei den Kiowa?“

„Ja. Als man erfuhr, daß auch Old Shatterhand mit nach dem Mount Winnetou geladen sei, ließ sie sich nicht halten. Sie wollte ihren Retter wiedersehen. Es scheint überhaupt mit den Frauen der Kiowas eine ähnliche Bewandtnis zu haben wie mit den Squaws der Sioux. Auch sie haben sich zusammengetan; auch sie wollen mitberaten. Sie sind nicht in den Dörfern zurückgeblieben, aber wo sie sich befinden, das konnte ich noch nicht erfahren.“

„Du vergißt dein eigentliches Thema. Du sprachst von den zwei Töchtern des alten Sus-Homascha. Die Eine war Pidas Frau. Die Andere – – –“

Das fiel das Herzle schnell ein:

„Ja, die Andere, die hieß Kakho-Oto. Sie wollte und sie sollte deine Squaw werden, damit du gerettet würdest; du aber wiesest sie ab. Sie war trotzdem so edel, dir zur Flucht zu verhelfen. Sie lebt noch. Sie ist ledig geblieben. Nie hat ein Mann sie berühren dürfen, und sie ist es, die alle die vielen Jahre, welche zwischen damals und jetzt liegen, dazu verwendet hat, dein und Winnetous Andenken auch bei den Kiowas zu heiligen und Eure Ideale der Edelmenschlichkeit, der Friedfertigkeit und der Nächstenliebe in ihnen wachsen und groß werden zu lassen. Sie wünscht nichts sehnlicher, als nach dem Mount Winnetou kommen und dich dort sehen zu können. Du aber sollst sie nicht wiedererkennen. Sie ist inzwischen alt geworden und wohl auch häßlich dazu. Sie hofft, daß du sie sehen kannst, ohne zu wissen, wer sie ist. Sie hat uns den Kiowa entgegengeschickt, um uns zu warnen und hierher zu führen. Wir können uns auf ihn verlassen. Er wird sich so verhalten, als ob er nicht zu seinem Stamm, sondern ganz zu uns gehöre, und uns jeden Wunsch erfüllen, der mit seiner Heimatliebe und Indianerehre vereinbar ist. Freust du dich darüber?“

„Ja, herzlich! Und deine eigene Freude wird eine doppelte sein, wenn du diesen treuen Mann noch näher kennenlernst. Bitte, laß uns heut‘ zeitig zur Ruhe gehen. Es ist möglich, daß morgen ein ereignisvoller Tag wird, der ausgeruhte Kräfte von uns verlangt.“

Sie war einverstanden. Sie zog sich sehr bald in ihr Zelt zurück, und auch wir anderen legten uns schlafen. Unter anderen Umständen hätte ich für diese Nacht die Wache unter uns verteilt, da ich aber wußte, wer der Kiowa war und daß ich ihm vertrauen durfte, war es nicht nötig, diese Vorsichtsmaßregel zu treffen. Unser alter Pappermann aber war anderer Meinung über ihn. Er legte sich in seine Nähe, um ihn während der Nacht zu beaufsichtigen. Ich hatte keinen Grund, ihn daran zu hindern.

Am anderen Morgen wachte ich nicht von selbst auf, sondern ich wurde geweckt, und zwar von dem, von dem ich soeben gesprochen habe, von Pappermann. Er sah ganz erregt aus, hatte ein rotes Gesicht und sagte:

„Verzeiht, Mr. Burton, daß ich Euch aus dem Schlaf störe! Es sind Dinge geschehen, schreckliche Dinge! Dinge, die mich veranlaßten, Euch sofort zu wecken!“

„Was ist es?“ fragte ich, indem ich schnell aufsprang.

„Etwas Entsetzliches! Etwas Fürchterliches!“

„Also was? Sagt es schnell!“

„So schnell, wie Ihr wollt, kann ich das nicht. Ich muß Euch da erst vorbereiten.“

„Ist nicht nötig! Nur heraus damit?“

„Es ist nötig! Sogar sehr! Wenn ich Euch nicht vorher vorbereite, fallt Ihr vor Schreck um wie ein Klotz, den niemand wieder aufheben kann.“

„Ich?“

„Ja.“

„Vor Schreck?“

„Wie ich sage: vor Schreck!“

„Nur ich allein?“

„Ja!“

„Nicht auch Ihr?“

„Nein, ich nicht! Obgleich auch ich erschrak, als ich es sah. Ja, wahrhaftig, auch ich erschrak! Ich erschrak so, als ob sie meine eigene Frau wäre, nicht aber die Eurige!“

„Ah! So betrifft es meine Frau?“

„Ja! Natürlich! Eure Frau!“

„Gott sei Dank!“

Ich holte tief Atem. Der alte, brave Jäger sah so aus, als ob es sich wirklich um ein sehr böses, nie wieder gut zu machendes Ereignis handle. Vielleicht gar um ein Ereignis, durch welches unsere guten Pläne vernichtet würden. Darum hatte er mir, dem sonst so ruhigen, denn doch eine Art Schreck eingejagt. Nun er aber von dem Herzle sprach, war ich sofort beruhigt.

„Gott sei Dank?“ fragte er. „Ihr habt Gott gar nicht zu danken!“

„Ist ihr ein Unglück geschehen?“

„Hm, wie man es nimmt! Vielleicht ihr nicht, aber Euch! Ihr werdet mit Händen und Füßen dreinschlagen!“

„Das glaube ich nicht.“

„Oho! Ich bin zwar niemals verheiratet gewesen, aber ich kann mir trotzdem denken, wie es einem zumute ist, wenn so etwas geschieht. Ich würde den Kerl zerreißen!“

„Welchen Kerl?“

„Welchen? Ihr ahnt also immer noch nichts?“

„Nichts! Rein gar nichts!“

„So muß ich es Euch sagen, wirklich sagen! Aber verspreche mir vorher, nicht umzufallen!“

„Gut! Also, ich falle nicht um!“

„Und nicht sofort zuzuschlagen, besonders auf mich!“

„Auch das; ich schlage nicht zu!“

Well, so will ich es wagen. Also hört!“

Anstatt noch näher an mich heranzutreten, wie man es bei intimen Mitteilungen zuweilen zu machen pflegt, trat er zwei Schritte zurück und sagte:

„Sie ist Euch untreu!“

„Wer?“

„Welch eine Frage! Wer! Natürlich Eure Frau! Das Herzle, wie Ihr sie nennt, wenn Ihr deutsch mit ihr sprecht!“

„Gott sei Dank!“ wiederholte ich. „Nun wird mir das Herz vollends leicht! Ich dachte wunder was für ein Unheil Ihr mir zu beichten hättet!“

All devils! Mir bleibt der Verstand stehen! Ich sage diesem Mann da, daß ihm seine Frau untreu geworden ist, und da schreit er zum zweiten Male: Gott sei Dank! Und da versichert er allen Ernstes, daß ihm das Herz vollends leicht geworden sei! Begreife, wer das kann! Ich nicht!“

Und wieder näher zu mir herantretend, fuhr er in sehr ernstem Ton fort:

„Auch ich habe sie lieb gehabt, sehr lieb, euer Herzle. Ich habe sie geachtet und verehrt. Ich habe sie für die beste, die liebste, die vernünftigste und die vortrefflichste Frau der ganzen Welt gehalten. Ich wäre für sie in das Feuer und in das Wasser gesprungen. Ich hätte für sie mein altes Leben gelassen, zehnmal, hundertmal und tausendmal! Das ist nun vorbei, vollständig vorbei! Es kann mir nicht einfallen, für sie auch nur in ein kleines Streichholzflämmchen oder in einen Kaffeelöffel voll Wasser zu springen. Sie ist es nicht wert, nicht wert! So einen Mann zu haben, so einen! Und ihm dennoch untreu zu werden! Und zwar mit was für einem, mit was für einem!“

„Wer ist denn dieser eine? Oder vielmehr dieser andere?“

„Erratet Ihr das nicht?“

„Nein.“

„Ja, begreiflich! Es ist auch wirklich gar nicht zu erraten. Wenn nur wenigstens ich es wäre! Oder irgendein anderer Weißer! Aber Euch um einer Rothaut willen untreu zu werden, das ist stark, das ist sogar noch stärker als stark! Das ist einfach niederträchtig!“

„Rothaut sagt Ihr? Der junge Adler liegt noch dort an seiner Stelle; der Kiowa aber ist nicht mehr da; er ist fort. Ihr meint also den?“

„Ja, den! Eure Frau ist nämlich auch fort!“

„Ist das alles?“

„Nein, sondern es kommt noch viel, sehr viel dazu. Soll ich es Euch erzählen?“

„Ja, bitte!“

„Das kam so: Ich war wütend auf den Kerl, weil er gestern am Nachmittag so lange und so unausgesetzt mit ihr gesprochen hatte. Ich habe Euch schon gesagt, daß dies meinen Verdacht erregte. Ich nahm an, daß er Eure Frau aushorchen wollte, um uns alle dann an die Indianer da unten zu verraten. Ich beschloß, ihn zu beobachten, und ich tat es. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Am frühen Morgen erwachte er sehr zeitig. Eure Frau trat aus ihrem Zelt. Sie pflegt des Morgens und des Abends zu beten; das weiß ich nun. Sie tut das nie im Zelt, sondern stets unter freiem Himmel. Sie geht dabei zur Seite, damit man es nicht sehe. So auch heute. Als sie sich entfernt hatte, stand der Kiowa auf und folgte ihr. Das kam mir verdächtig vor. Ich ließ eine Zeit vergehen, und als weder sie noch er zurückkehrte, schlich ich mich ihnen nach. Was denkt Ihr, was ich sah?“

„Nun, was?“

„Sie saßen auf einem Stein!“

„Weiter nichts?“

„Nebeneinander!“

„Weiter nichts?“

Er sah mich verwundert an und fuhr in erhöhtem Ton fort: „In inniger Umarmung!“

„Weiter nichts?“

Da rief er mich an:

„Sie schnäbelten miteinander!“

„Weiter nichts?“

„Der Rote gab Eurem Herzle einen Kuß!“ schrie er mir zu. „Weiter nichts?“

„Und Euer Herzle küßte ihn wieder!“ brüllte er mir in das Gesicht.

„Weiter nichts? Weiter gar nichts?“ fragte ich sehr freundlich und ruhig.

Da wich er von mir zurück, schlug die Hände zusammen und jammerte:

„Hab mir’s gedacht – hab mir’s gedacht! Nun ist das Unglück da! Wenn auch in anderer Gestalt als ich mir dachte! Er fällt nicht um, und er schlägt nicht zu; aber er ist verrückt geworden vor Schreck! Er ist übergeschnappt, vollständig übergeschnappt! Er sagt weiter nichts als weiter, immer weiter!“

„O, ich kann auch noch anderes sagen“, lachte ich. „Sitzen sie denn noch dort – auf dem Stein?“

„Ich hoffe es!“

„Was? Ihr hofft es?“

„Ja! Ich hoffe es sogar sehr! Um sie überführen zu können! Um sie mit Euch zu überraschen!“

„Das wollen wir tun!“

„Wirklich?“

„Ja, und zwar sofort!“

„So kommt! Ich führe Euch!“

„Wartet nur noch einen einzigen Augenblick! Ich muß Euch nämlich vorher sagen, daß ich mit diesem Kiowa nicht so streng verfahren werde, wie Ihr wahrscheinlich erwartet. Wir haben in den letzten Tagen verschiedene Male über die Kiowa gesprochen. Ihr wißt, was ich bei ihnen erlebte, als ich zum letzten Mal dort war?“

„Ja. Jedermann weiß es. Und Eure Frau hat es mir unterwegs noch einmal ganz ausführlich erzählt. Daß Ihr zu Tode geschunden werden solltet und nur durch die Tochter eines berühmten Kriegers, welcher Eine Feder hieß, gerettet wurdet.“

„Richtig! Diese Tochter hieß Kakho-Oto. Ihr habe ich mein Leben zu verdanken.“

„Wollt Ihr um ihretwillen etwa diesem Kiowa verzeihen, der Euch um Eure Frau betrügt?“

„Ja.“

„Hört! Das geht nicht! Das wäre Schwäche, unverzeihliche Schwäche!“

„Das bestreite ich. Nun kommt!“

„So wollt Ihr wirklich nichts tun, wirklich gar nichts?“

„Gar nichts!“

„Auch Eurer Frau nicht?“

„Nein.“

Da fuhr er auf:

„Herr – – –! Mr. Burton! Ich muß Euch sagen, daß – daß – – – daß ich eine Bitte, eine sehr, sehr große Bitte habe.“

„Welche?“

„Erlaubt wenigstens mir, diesen roten Halunken bei der Parabel zu nehmen und ihm ein Dutzend Ohrfeigen herunter zu hauen!“

„Würde Euch das ein Vergnügen machen?“

„Ein großes, ein ganz unbändiges!“

„So tut es!“

„Ihr habt nichts dagegen?“

„Ganz und gar nichts. Schlagt zu, so viel und so kräftig lhr wollt!“

„So rufe nun jetzt ich: Gott sei Dank! Das sollen Ohrfeigen sein, wie es nicht gleich wieder welche gibt! Nun kommt! Schnell, schnell!“

Er schritt voran, und ich folgte. Er führte mich durch das Gebüsch nach einer kleinen Blöße, die er aber nicht sofort betrat, sondern er blieb zwischen den beiden letzten Sträuchern stehen, deutete hindurch und sagte leise:

„Da schaut! Dort sitzen sie noch! Wie gefällt Euch das?“

Das Herzle saß mit dem Kiowa auf einem niedrigen Felsstück, welches einen sehr bequemen Sitz bildete. Sie hatte den rechten Arm um seine Schulter geschlungen und hielt mit der linken Hand seine beiden Hände fest. Er war etwas kürzer als sie. Sein Kopf lehnte zärtlich an ihrer Seite. Pappermann sah mich an, als ob er einen gewaltigen Zornesausbruch erwarte. Ich lächelte aber. Das regte ihn auf.

„Ihr lacht?“ fragte er, zwar leise, aber doch sehr eindringlich. „Ich frage Euch allen Ernstes, wie Ihr das findet?“

„Etwas intim, weiter nichts“, antwortete ich.

„Etwas intim – – –! Weiter nichts –!“ wiederholte er. „Nun, ich finde es weit mehr als nur intim von diesem Halunken; ich finde es verbrecherisch! Und da Ihr mir gestattet habt, ihm ein Dutzend MauIschellen herunter zu hauen, so werde ich ihn keinen Augenblick länger, als nötig ist, darauf warten lassen! Also paßt auf! Es geht los! Sofort – sofort!“

Er drang zwischen den beiden Büschen durch und eilte auf die Gruppe zu. Ich folgte ihm mit derselben Schnelligkeit. Die beiden vermeintlichen Inkulpaten standen auf, sobald sie uns erblickten. Pappermann schien sein Rächeramt ausüben zu wollen, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen. Er packte den Kiowa mit der Linken bei der Brust und holte mit der Rechten aus, um zuzuschlagen. Da griff ich rasch zu, hielt ihm diese Rechte fest und sagte:

„Halt, lieber Freund! Lassen wir ja keine der Vorschriften außer acht, die einem jeden Gentleman für solche Fälle gegeben sind!“

„Welche Vorschriften?“ fragte er, indem er sich bemühte, mir seinen Arm zu entziehen.

„Wenn zwei Gentlemen die Absicht haben, einander zu beohrfeigen, so sind sie unbedingt verpflichtet, vorher sich einander vorzustellen!“

„Was heißt das, sich einander vorzustellen?“

„Einander zu sagen, wer und was sie sind.“

„Das ist hier unnötig, denn wir kennen uns ja schon. Dieser rote Halunke, den Ihr einen Gentleman nennt, weiß, daß ich Maksch Pappermann bin, und ich weiß, daß er kein Gentleman, sondern eben ein roter Schurke ist. Darum kann ich – – –.“

„Aber seinen Namen habt Ihr noch nicht beachtet. Dieser Gentleman ist nämlich eigentlich eine Lady und wird, solange ich es weiß, Kakho-Oto genannt. So! Nun schlagt zu!“

Ich gab ihm seinen Arm frei. Aber er bewegte ihn nicht. Er schaute mir wortlos in das Gesicht, als ob er verstummt sei.

„Ka-kho-O-to?“ fragte er endlich wie geistesabwesend.

„Ja“, nickte ich.

„Kein – – Gentleman – – – sondern eine Lady!“

„Ganz so, wie ich sagte!“

„Also wohl gar die Tochter von Eine Feder, die Euch damals das Leben gerettet hat?“

„Ja, dieselbe!“

Da holte er tief, tief Atem, machte ein äußerst verzweifeltes Gesicht und rief aus:

„Alle guten Geister! Das kann nur mir passieren, mir, der ich Maksch Pappermann heiße! 0 dieser unglückselige Name, dieser unglückselige Name! Wo hat sich jemals, wenn irgendeiner einen anderen ohrfeigen wollte, herausgestellt, daß dieser andere eine Lady ist! Und nun ich so selig war, einmal so aus ganzem Herzen zuhauen zu können, muß das mir, grad mir passieren! Ich bin blamiert für alle Zeit! Sogar für alle Ewigkeit! Ich trete ab! Ich werde unsichtbar! Ich verschwinde!“

Er drehte sich um und rannte fort. Doch, an den Büschen angekommen, blieb er für einen Augenblick stehen und rief zurück:

„Aber, Mr. Burton, ein Freundschaftsstreich war das ganz und gar nicht von Euch!“

„Wieso?“ fragte ich.

„Ihr hättet mir diese Blamage sehr wohl ersparen können! Brauchtet mir nur zu sagen, daß diese Lady kein Mann, sondern ein Frauenzimmer ist!“

„Euch dieses Geheimnis zu verraten, dazu war ich nicht befugt. Ich hatte Euch nicht verschwiegen, daß der Kiowa Vertrauen verdient. Das war genug. Warum habt Ihr mir nicht geglaubt?“

„Weil ich ein Esel bin! Ein kompletter Esel! Mit allem möglichen,. was zu einem wirklichen Esel gehört! Ich Schaf!“

Nun verschwand er. Kakho-Oto stand mit gesenkten Augen vor mir. Ihre Wangen waren vor Verlegenheit tief gerötet. Ich zog sie an mich, küßte sie auf die Stirn und sagte in ihrer Muttersprache:

„Ich danke dir! Ich habe dein gedacht, bis ich dich wiedersah. Willst du uns Schwester sein? Uns beiden?“

„Wie gern! Dir und ihr!“ antwortete sie. Dann eilte sie in tiefer Bewegung fort.

Das Herzle fragte mich zunächst, warum Pappermann ausgeholt habe, um zuzuschlagen. Einige Worte genügten, sie hierüber zu verständigen. Sie lachte herzlich. Dann bedankte sie sich bei mir dafür, daß ich ihr nicht mitgeteilt hatte, wer der Kiowa eigentlich sei. Hätte ich das getan, so wäre ihr die köstliche Überraschung des heutigen Morgens verloren gewesen. Dann kehrten wir zum Zelt zurück, wo ich ein kleines Feuer machte, an dem sie den Kaffee bereitete. Zu diesem stellten sich Pappermann und Kakho-Oto ein. Beide bemühten sich, möglichst gleichgültig zu erscheinen. Aber dem alten, braven Westmann ging der Pudel, den er geschossen hatte, doch zu nahe. Er betrachtete die Indianerin immerwährend von der Seite her. Als „Frauenzimmer“ schien sie ihm ausnehmend zu gefallen. Plötzlich griff er nach ihrer Hand, zog sie an seine Lippen und knurrte reumütig:

„Und so etwas habe ich beohrfeigen wollen! Bin ich da nicht selbst Maulschellen wert?“

Damit war die Sache zwischen beiden abgemacht; sie wurden die besten Freunde.

Nach dem Frühstück wurde das Zelt abgebrochen. Wir sattelten die Stangen desselben lang anstatt quer, weil Kakho-Oto sagte, daß der Weg nach dem „Haus des Todes“ ein sehr schmaler sei. Er führte zuweilen so steil bergab, daß wir bald nicht mehr reiten konnten, sondern absteigen mußten. Wir folgten einem schmalen, aber sehr reißenden Bach, welcher eine tiefe Schlucht gegraben hatte, die in zahlreichen Windungen zur Tiefe ging. Eine Aussicht gab es da nicht. So waren wir weit über eine halbe Stunde lang abwärts geklettert, da sahen wir plötzlich eine hohe, fast vollständig nackte Schutthalde vor uns liegen, die aber nicht aus gewöhnlichem, kleinem Schutt, sondern aus großen Felsstücken bestand, welche den Anschein hatten, als ob vor vielen Jahrhunderten hier ein gewaltiger Bergsturz stattgefunden habe.

„Wir sind beim Haus des Todes angekommen“, sagte Kakho-Oto, indem sie auf diese Felsentrümmer deutete.

„Das ist es?“ fragte ich. „So sind die Felsen hohl?“

„Ja. Sie sind nicht von oben herabgefallen, sondern künstlich aufgebaut. Kommt!“

Sie führte uns um eine Ecke der Felsenstätte, und da standen wir vor einem massiven, mehr breiten als hohen Tor, welches keine bogenförmige, sondern eine gerade Schließung hatte. Die beiden Seitensteine hatten eine Breite von über zwei Metern. Sie zeigten gut erhaltene Relieffiguren von Häuptlingen, welche im Begriff standen, durch das Tor in das Innere des Tempels zu treten. Die Häuptlinge waren charakterisiert durch ein, zwei oder drei Adlerfedern, die sie im Kopfhaar trugen. Auch der Oberstein war mehrere Meter hoch. Er zeigte die Figur eines Beratungsaltars, auf welchem Häuptlinge ihre Medizinen opferten.

„Aber das ist ja gar kein Haus des Todes, gar keine Begräbnisstätte,“ sagte ich, „sondern ein Beratungstempel in dessen Altar die Medizinen aufbewahrt werden, bis das, was man beraten hat, ausgeführt worden ist!“

Kakho-Oto lächelte

„Das weiß ich wohl“, sagte sie, „aber wir dürfen das dem gewöhnlichen Volk nicht sagen, sonst würde die Stätte nicht so heilig gehalten, wie die Häuptlinge es wünschen. übrigens gibt es so viele Leichen hier, daß der Ausdruck Haus des Todes gar wohl auch berechtigt ist. Gehen wir sogleich hinein?“

„Wie weit ist es von hier bis zum See?“

„Bis zum Wasser nur zweihundert Schritte.“

„So müssen wir vorsichtig sein. Es kommen nicht nur einheimische, sondern auch fremde Indianer her, welche das Verbot, diesen Ort hier zu betreten, wohl kaum beachten werden. Wir müssen also vor allen Dingen unsere Pferde verbergen und uns Mühe geben, keine Spuren zu verursachen. Erst wenn das geschehen ist, betreten wir den Tempel. Suchen wir also nach einer Stelle, die sich zum Versteck für uns und die Pferde eignet!“

„Die ist bereits gefunden“, sagte Kakho-Oto. „Ich habe gesucht, noch ehe ich den See verließ, um euch entgegenzureiten. Kommt!“

Sie führte uns eine kurze Strecke zurück und dann in eine Seitenschlucht hinein, aus welcher wieder eine dritte Vertiefung abzweigte, die grad groß genug war, sich für unsere Zwecke ganz vortrefflich zu eignen. Es gab da Wasser und Grünfutter mehr als genug. Wir sattelten ab, hobbelten die Pferde und die Maultiere an und gaben ihnen unsern alten Pappermann als Wächter. Er war ganz damit einverstanden, nicht „überall mit herumkriechen zu müssen“; so drückte er sich aus. Wir andern aber kehrten nach dem „Haus des Todes“ zurück.

Dort wieder angekommen, schritten wir zunächst die Umgebung ab. Es war die Spur weder eines Menschen noch eines Tieres zu sehen. Wir verwischten mit Hilfe von Zweigen unsere Fährte sofort hinter uns her. Als wir vorhin von der Höhe unseres gestrigen Lagers herabkamen, waren wir an die Rückseite des Baues gelangt. An dieser Seite befand sich, wie bereits beschrieben, das Tor. Dies war hinter Büschen und Bäumen derart verborgen gewesen, daß kein Mensch geahnt hätte, daß hier ein Tempel stehe. Erst als zufällig ein verlassenes, aber nicht ausgelöschtes Lagerfeuer weiter um sich gefressen und das Gebüsch zerstört hatte, war das Tor sichtbar und das Geheimnis verraten worden. Man sah die Spuren des Feuers noch jetzt am verräucherten Gestein. Als wir von der Hinter- nach der Vorderseite des vermeintlichen natürlichen Felsensturzes gelangten, sahen wir das Wasser des Sees in der bereits angegebenen Entfernung vor uns liegen. Die an- und übereinandergehäuften Quader und Steinbrocken waren also vom See aus sehr deutlich und auch weithin zu sehen, machten aber einen so natürlichen Eindruck, daß gewiß kein Mensch von selbst auf den Gedanken gekommen wäre, daß es sich um ein künstliches Bauwerk handle. Der Felsenabsturz war so steil und derart angeordnet, daß man ihn unmöglich ersteigen konnte. Nur in den Winkeln, wo sich im Lauf der Zeit der Staub der Lüfte angesammelt hatte, gab es ein wenig Grün, sonst aber war alles nur glatter, lebloser Stein.

Hierauf konnten wir zur Betrachtung des Innern gehen. Durch das Tor eingetreten, befanden wir uns in einem nicht allzu weiten, aber sehr hohen Raum, dessen Bau ein ganz eigentümlicher war. Man denke sich einen auseinandergeschnittenen, also halben Zuckerhut, der mit seiner geraden, senkrechten Schnittfläche am Felsen lehnt, während seine gebogene, halbkegelförmige Wand von den Felsenstücken gebildet wurde, aus denen der vermeintliche Bergsturz bestand. Diese Wand ging also nicht senkrecht, sondern schief nach innen empor. Sie bildete keine glatte Fläche, sondern ihre riesigen Quader lagen derart neben- und übereinander, daß immer auf einen vorstehenden ein zurückliegender folgte. Hierdurch wurden Nischen gebildet, die zur Aufbewahrung von Mumien, Skeletten oder einzelnen Knochenteilen dienten.

Am Boden, genau auf der Mitte desselben, stand ein steinerner Altar. Er besaß, wie wir erst später bemerkten, im Innern eine Höhlung, auf welcher eine schwere, glatte Platte lag. Die Seitenflächen dieses Altars zeigten vierundzwanzig Relieffiguren, nämlich zwölf Adlerfedern und zwölf festgeschlossene Hände. Es wechselte je eine Hand mit einer Feder ab. Die geschlossene Hand ist das Zeichen der Verschwiegenheit. Die Figuren sagten also, daß nur Häuptlinge sich diesem Altar nahen durften und daß über alles, was da beraten und vorgenommen wurde, die Geheimhaltung zu beobachten sei. Die Platte sah in ihrer Mitte schwarz aus. Es hatte bei jeder Beratung ein Feuer auf ihr gebrannt. Besondere Sitze, wenn auch nur aus Stein, sah man nirgends.

Die Beleuchtung dieses fremdartigen Raumes war, fast möchte ich sagen, eine magische. Es herrschte, genau abgemessen, ein Zweidritteldunkel. Das wenige Licht, was es gab, kam durch die Quadermauer. Man hatte von Stelle zu Stelle in ihr einen Quader ausgelassen, so daß entstanden waren, durch welche der Schein des Tages Zutritt finden konnte. Aber die Mauer war außerordentlich dick, so daß eine jede dieser Oeffnungen schon mehr einen tiefen Gang nach außen bildete, dessen Ende von unten aus nicht zu ersehen war. Zudem waren die Oeffnungen von draußen sehr fürsorglich verkleidet worden, damit man sie nicht etwa vom See aus bemerken möge. Es ging also von dem hereinbrechenden Lichte der größte Teil verloren, noch ehe es das Innere des Tempels erreichte. Ich habe eine ähnliche geheimnisvolle Beleuchtung in einigen ägyptischen Königsgräbern gefunden, die allerdings sehr niedrig sind. Dieser Tempel am „See des Todes“ hatte aber eine solche Höhe, daß die Wirkung sich unendlich steigerte. In jeder Nische eine dunkle, hockende Mumie, die kaum zu erkennen war, oder ein helleres Skelett in kauender Stellung, oder eine Sortierung von Schädeln, Arm- oder Beinknochen, die keinen Zusammenhang besaßen. Das alles Ueberreste einstiger Existenzen! Denn über jeder Nische war eine Adlerfeder eingehauen, zum Zeichen, daß diese Körperteile einst Häuptlingen gehörten.

Die Luft, in der wir uns befanden, war gut, denn die Oeffnungen waren zahlreich. Sie gingen bis hinauf an die Spitze. Es war also genug Zusammenhang mit der äußeren Atmosphäre vorhanden. Und, was mir besonders als wichtig erschien, man konnte von Oeffnung zu Oeffnung, also, um mich so auszudrücken, von Fenster zu Fenster gelangen. Oder vielmehr, man hatte das früher gekonnt, denn es führten von Fenster zu Fenster und von Nische zu Nische freie, aus der Mauer ragende Stufensteine empor, die bis zum Boden hinabgereicht hatten. Jetzt aber fehlten die untersten dieser Stufen. Man hatte sie abgehauen. Daß dies erst vor kurzer Zeit geschehen war, sah man an der zurückgebliebenen Fläche, die von ihrer dunkleren Umgebung hell abstach.

„Schade, daß diese Stufen jetzt nun fehlen“, sagte das Herzle.

„Warum?“ fragte ich.

„Weil ich gern da einmal hinauf möchte.“

„Klettergemse!“ scherzte ich.

Sie klettert nämlich gern. Ich muß bei Gebirgswanderungen sie immer besonders abhalten, gefährliche Stellen zu betreten.

„Tyrannisiere mich nicht!“ antwortete sie. „Ich kenne dich genau; niemand wünscht so sehnlichst wie du, da hinaufzusteigen. Du mußt in alle Nischen gucken. Und du mußt durch jedes Fenster hinausteigen, um zu wissen, was draußen zu sehen ist. Willst du das leugnen?“

„Nein. Zwar, daß ich in jede Nische gucken will, ist übertrieben. Aber daß ich unbedingt einmal zu irgendeinem Fenster hinaussteigen dazu fühle ich mich geradezu verpflichtet. Es ist unerläßlich, von da oben aus Umschau zu halten. Ich muß wissen, wie weit man von da aus den See überschaut. Vielleicht sieht man von hier oben aus etwas, was man sonst nicht sehen würde.“

„Aber wie kommst du bis da hinauf, wo die Stufen beginnen?“

„Sehr einfach: Wir bauen eine Leiter.“

„Sehr richtig, sehr richtig!“ spendete sie mir Beifall. „Wir bauen eine Leiter, und zwar sofort. Komm, schnell!“

Wir gingen hinaus. Ich fand sehr leicht zwei lang aufgeschossene Stangenhölzer und schnitt die nötigen Quersprossen dazu. Riemen waren genug da. Bald war die Leiter fertig. Wir gingen wieder hinein, legten sie an und stiegen hinauf. Sie reichte grad bis zu der niedersten der noch vorhandenen Stufen. Von dieser aus stiegen wir weiter nach oben, ohne Geländer, auf frei aus der Mauer ragenden Steinen, die als Stufen galten. Das war nicht ungefährlich. Ein jeder dieser Steine mußte geprüft werden, bevor man sich ihm anvertraute. So kamen wir an vielen Nischen vorüber, deren Inhalt wir untersuchten.

Ich sehe davon ab, diese Mumien und Skelette zu beschreiben. Ich liebe es nicht, als Schriftsteller zu gelten, der seine Erfolge im Sensationellen, Blutigen oder Schaudererweckenden sucht.

Als wir hoch genug gekommen waren, stiegen wir in eine der obersten Fensteröffnungen. Sie war so groß, daß wir aufrecht in ihr stehen konnten, ja sogar noch bedeutend größer. Sie glich einem Gang. Wir hatten neun Schritte zu tun, ehe wir aus ihr in das Freie traten. Da standen wir hoch oben auf dem künstlich aufgeführten Bergsturz und überschauten einen großen Teil des Sees. Aber wir waren vorsichtig; wir blieben nicht aufrecht, sondern wir setzten uns. Wie leicht konnte ein Kiowa oder ein Komantsche in der Nähe sein, der uns sofort bemerken mußte, wenn wir so gedankenlos waren, uns in ganzer Figur zu zeigen. Und richtig! Es war nicht nur einer da, sondern wir sahen viele, sogar sehr viele. Sie ritten zweihundert Schritte entfernt am Ufer des Sees an uns vorüber, langsam, müd und still, im Gänsemarsch, immer einer hinter dem andern.

„Das sind die Sioux des alten Kiktahan Schonka“, sagte ich. „Die Utahs sind entweder schon vorüber, oder sie kommen erst hinter ihnen her.“

„So sind wir gerade zur rechten Zeit gekommen“, sagte das Herzle. „Nun gibt es wohl Gefahr?“

„Für sie, ja, aber nicht für uns“, antwortete ich.

Der junge Adler war still; aber Kakho-Oto meinte:

„So muß ich euch verlassen. Werdet ihr mir aber vertrauen? Werdet ihr mir zutrauen, daß ich nichts tue, was euch schaden könnte?“

„Wir glauben an dich“, antwortete ich ihr in ihrer Muttersprache. „Wann dürfen wir dich wieder erwarten?“

„Das weiß ich nicht. Ich gehe, um zu beobachten, was geschieht, um es euch dann zu sagen. Habe ich euch nichts zu berichten, so komme ich nicht. Erfahre ich aber Wichtiges, so kehre ich sehr schnell zurück. Wo treffe ich euch?“

„Da, wo du willst.“

„So bitte ich dich, möglichst dort, wo jetzt die Pferde stehen, zu bleiben. Begib dich nicht unnötig in Gefahr! Unternimm es vor allen Dingen nicht, uns zu beschleichen! Ich wache für euch. Meine Augen sind eure Augen! Ihr werdet alles erfahren, was ich selbst erfahren kann.“

Ich versprach, ihr diesen Wunsch zu erfüllen; dann entfernte sie sich. Wir aber blieben noch hier oben, um die vorüberziehenden Roten zu beobachten. Es dauerte lange Zeit, ehe die Sioux passiert waren. Dann kamen die Utahs. Es tat mir innerlich wehe, diese kurzsichtigen, haßerfüllten Leute so daherschleichen zu sehen.

„Wer wird gewinnen?“ fragte das Herzle; „sie oder wir?“

„Wir!“ antwortete ich zuversichtlich. „Siehst du nicht ganz deutlich, daß es nicht unser Verderben ist, welches da an uns vorüberzieht, sondern unser Sieg?“

„Woran soll ich das merken?“

„An ihrer Langsamkeit, ihrer Haltung, ihrer Gleichgültigkeit und, vor allen Dingen, an ihren leeren Futterbeuteln und Satteltaschen?“

„Wieso?“

Auch der junge Adler sah mich fragend an.

Ich fuhr fort: „Sie haben keinen Proviant, weder für sich, noch für ihre Pferde.“

„Den bekommen sie doch jedenfalls von ihren jetzigen Verbündeten, den Kiowas und Komantschen.“

„Das ändert nichts, denn das ist nur für einstweilen. Diese alten Indianer sind leichtsinniger, viel leichtsinniger, als früher die jungen jemals waren. Sie denken nur an die Vergangenheit und sind unfähig, die Gegenwart zu begreifen. Zog man früher in den Krieg, so tat man das in einzelnen Trupps, nicht aber gleich in der Stärke von tausend Mann. Und diese Trupps waren leicht zu erhalten und zu pflegen. Es gab Büffel zur Jagd, und der Weg wurde möglichst über die grasigsten Prärien genommen, die den Pferden das nötige Futter spendeten. Der Indianer machte im Frühling Fleisch für sechs Monate und im Herbst wieder Fleisch für sechs Monate. Da gab es so große Vorräte von geriebenem und getrocknetem Fleisch, daß es zu jeder Zeit leicht war, sich für lange Kriegszüge zu verproviantieren. Wo sind jetzt die Büffel? Wo die anderen jagdbaren Tiere? Wo gibt es jetzt einen Indianer, der in seinem Zelt Fleischvorräte für Monate hat? Wo sind die Pferde, die es früher gab? Auf die man sich in Hunger und Durst, in Frost und Hitze, in Wind und Wetter, in jeder Gefahr und selbst beim schwersten, verwegensten Todesritt verlassen konnte? Das gab es früher; jetzt aber ist alles anders. Wer da glaubt, in der alten Weise verfahren zu können, der ist verloren. Mein Bärentöter hängt daheim. Mein Henrystutzen und meine Revolver stecken im Koffer. Sie haben sich überlebt. Was aber tun Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch? Sie sind ausgezogen mit tausend Sioux und tausend Utahs. Mit Leuten und mit Pferden, die keine Spur von Kriegsgewohnheit besitzen. Und, vor allen Dingen, ohne den nötigen Proviant! Nun sind sie gezwungen, bei den Kiowas und Komantschen zu betteln. Wo aber haben die ihre Fleisch- und Brotvorräte? Sie haben nichts! Auch sie werden ausziehen zu zwei Tausenden, zusammen also wahrscheinlich viertausend Mann und viertausend Pferde, ohne den mitzuschleppenden Troß! Woher den täglichen Proviant, das Futter, das Wasser für so unvernünftig viele nehmen? Es braucht kein einziger von ihnen erschossen oder erstochen zu werden. Sie kommen vor Hunger um, vor Hunger und Durst, alle, alle! Indem ich sie hier an uns vorbeireiten sehe, ist es mir, als ob sie nicht Körper seien, sondern verschmachtete Seelen, die nach dem Jenseits ziehen, um dort in ihren leeren, ewigen Jagdgründen vollends zu verhungern!“

„Uff, uff!“ rief der junge Adler, dem meine Darstellung sofort einleuchtete.

Das Herzle aber war still. Auch sie sah ein, daß ich recht hatte; aber diese Einsicht erhob sie nicht, sondern sie drückte sie nieder. Ihr gutes Herz sah sofort viertausend untergehende Menschen vor sich, und daß es unsere Aufgabe war, an diesem Untergang mitzuwirken, das tat ihr leid und wehe.

Als der letzte der Utahs vorüber war, stiegen wir wieder hinab, versteckten die Leiter sehr sorgfältig, so daß sie selbst von einem scharfen Auge nicht entdeckt werden konnte, und kehrten dann zu Pappermann und unseren Pferden zurück.

„Kakho-Oto war hier“, meldete er. „Sie sattelte sehr eilig und ritt dann fort. Sie sagte, Ihr wüßtet schon, wohin.“

Nun schlugen wir das Zelt auf und machten es uns bequem. Ich war entschlossen, dem Wunsche unserer Freundin gehorsam zu sein und uns keiner Gefahr auszusetzen. Es war auf alle Fälle am besten, wir blieben hier still verborgen, ohne uns zu regen. So gab es also Zeit und Gelegenheit, das Vermächtnis meines Winnetou vorzunehmen und durchzusehen. Ich öffnete die Pakete, und dann waren wir beide, sowohl das Herzle als auch ich, für den ganzen Vor- und Nachmittag in ihren Inhalt vertieft. Ueber diesen Inhalt habe ich an anderer Stelle zu sprechen; für jetzt will ich nur sagen, daß wir noch nie etwas ähnliches gelesen hatten, und daß der Schatz, der sich uns hier auf tat, unendlich größer war, als wenn er Geld und Edelsteine im Gewicht von vielen Zentnern enthalten hätte.

Gegen Abend stellte sich Kakho-Oto ein. Sie meldete uns, daß die Kiowas, Komantschen, Utahs und Sioux nun alle versammelt seien, und zwar über viertausend Mann stark, von jedem Stamm etwas über tausend Krieger. Also genauso, wie ich es vermutet hatte. Am Vormittage hatte man gegessen. Am Nachmittage waren die verschiedensten Vorberatungen abgehalten worden. Es hatte sich nach langen Widersprüchen endlich Einigkeit ergeben, so das eine nachträgliche Hauptberatung eigentlich überflüssig gewesen wäre, wenn sie nicht als Schlußzeremonie alles Vorhergehende zu krönen gehabt hätte.

„Also diese Hauptberatung findet statt?“ fragte ich.

„Ja“, antwortete die Freundin.

„Wann?“

„Grad um Mitternacht.“

„Wenn ich doch dabeisein könnte, ohne gesehen zu werden!“

Da fiel das stets besorgte Herzle schnell ein:

„Nein! Daraus wird nichts! Das ist zu gefährlich!“

„Wieso gefährlich?“

„Wenn sie dich erwischen, ist es um dich geschehen! Ich als deine Frau habe vor allen Dingen darauf zu sehen, daß du zu jeder Zeit mir wenigstens am Leben bleibst!“

Kakho-Oto lächelte. Das tat ich auch und fragte das Herzle:

„Aber wenn es sich nun herausstellt, daß es nicht gefährlich ist?“

„So gehe ich mit, um die Sache zu prüfen! Als Junggeselle Westmann sein, ist keine Kunst. Aber sich noch als Westmann geberden, wenn man schon längst verheiratet ist, und seine Frau bei sich hat, das wird einem jeden vernünftigen Mann so fern wie möglich liegen! Wenn wir Frauen einmal jemand belauschen, so wird gleich ein großes Hallo darüber gemacht. Aber wenn die Herren Männer im Wald herumkriechen, um Indianer zu behorchen, da behauptet man, es sei erstens notwendig und zweitens gehöre es zur Kühnheit und zum Heldentum. Ich habe da einen sehr guten Gedanken, der diese gefährliche Lauscherei vollständig unnötig macht.“

„Welchen?“

„Kakho-Oto nimmt an dieser Hauptberatung teil und sagt uns dann, was gesprochen worden ist.“

Da lachte ich laut auf und entgegnete:

„Diesen Gedanken nennst du gut? Er ist so töricht wie möglich! Nie wird ein gewöhnliches weibliches Wesen an einer derartigen Häuptlingsversammlung teilnehmen dürfen!“

„Wirklich nicht?“

„Nein!“

„Das ist eine Schande! Aber erfahren müssen wir auf alle Fälle, was, beraten worden ist! Wie fangen wir das an?“

Da lächelte die Freundin abermals und antwortete:

„Ihr werdet bei dieser Versammlung zugegen sein.“

„Wir? Wir beide?“ fragte das Herzle schnell.

„Ja.“

„Ich denke, als Frau darf ich nicht!“

„Es geschieht im Geheimen. Niemand wird euch sehen. Die Häuptlinge kommen nämlich nach dem Haus des Todes. Der Medizinmann der Komantschen will es so, und der Medizinmann der Kiowas stimmt ihm bei. Sie behaupten, das,Haus des Todes sei schon vor Jahrtausenden ein Beratungshaus der Anführer gewesen und solle es nach seiner Entdeckung jetzt nun wieder sein. Zugleich sei es die Begräbnissttte der Häuptlinge. Weibern sei es bei sofortiger Todesstrafe verboten, gewöhnlichen Kriegern ebenso, außer sie kommen zur Bedienung der Häuptlinge mit.“

„Das ist ja vortrefflich!“ meinte das Herzle. „Sie kommen also um Mitternacht?“

„Ja, kurz vorher, denn die Zeremonie hat genau um Mitternacht zu beginnen.“

„Da stellen wir uns zeitig ein, vielleicht schon um elf!“

„Aber du doch nicht!“ sagte ich.

„Warum nicht?“ fragte sie.

„Du hast doch soeben erst gehört, daß Weibern der Zutritt bei sofortiger Todesstrafe verboten ist! Das ist mir zu gefährlich! Ich als dein Mann habe vor allen Dingen darauf zu sehen, daß du zu jeder Zeit mir wenigstens am Leben bleibst! Ich fühle mich also zu der Erklärung verpflichtet, daß du von der Teilnahme an diesem nächtlichen Abenteuer vollständig ausgeschlossen bist!“

„Oho! Ich verweigere den Gehorsam! Nimmst du deine Erklärung nicht sofort zurück, so gehe ich auf der Stelle nach dem Haus des Todes und verstecke mich dort bis Mitternacht, um euch alle miteinander zu belauschen, nicht nur die Indianer, sondern auch euch!“

„Wohin willst du dich verstecken?“

„Das weiß ich noch nicht.“

„Das muß man aber wissen!“

„Schon vorher?“

„Gewiß! Es ist sehr schnell gesagt: ich verstecke mich. Aber den richtigen Platz zu finden, das erfordert Ueberlegung, die nicht zu spät kommen darf. Wir wissen noch nicht, wie viele Personen sich einstellen werden – – –“

„Ich weiß es,“ fiel Kakho-Oto ein. „Es kommen Kiktahan Schonka, Tusahga Saritsch, Tokeichun und Tangua, die vier Oberhäuptlinge, sodann die beiden Medizinmänner der Kiowas und der Komantschen und außerdem fünf Unterhäuptlinge von jedem der vier Stämme. Auch einige gewöhnliche Krieger sind dabei, um das nötige Feuerholz und Tangua zu tragen, der nicht gehen kann. Jeder Stamm wird sein eigenes Beratungsfeuer brennen. Das Feuer für alle aber wird auf dem Altare angezündet, der die Medizinen der Oberhäuptlinge zu empfangen hat, bis das, was die Beratung ergeben hat, auch ausgeführt worden ist.“

„So können wir also annehmen“, fuhr ich nun fort, „daß wenigstens dreißig Personen vorhanden sein werden. Wo und wie sie sich verteilen und plazieren, das wissen wir nicht. Es gibt somit im unteren Teil des Hauses, im Parterre, im Flur, auf dem Fußboden, keine einzige Stelle, an der wir sicher sein könnten, nicht bemerkt zu werden. Es ist da überhaupt kein einziger Gegenstand vorhanden, hinter dem wir uns verstecken könnten. Es steht da ganz allein nur der Altar, um den sie sich versammeln werden.“

„So verstecken wir uns oben!“ rief das Herzle. „Mit Hilfe der Leiter! In den Nischen, in den Luftlöchern, in den Fenstervertiefungen!“

„Ganz recht!“ nickte ich. „Aber denkst du dabei auch an die Feuer?“

„Soll ich das? Wozu?“

„Wozu? Welche Frage! Um nicht zu ersticken oder durch immerwährendes Räuspern und Husten dich wenigstens zu verraten! Es werden fünf Feuer brennen, vier Stammes- und ein Altarfeuer. Diese Feuer werden mit Holz, Reisig usw. genährt. Das gibt, zumal wenn dieses Material nicht ganz trocken ist, einen so bedeutenden Rauch und Qualm, daß es da oben, wohin du steigen willst, gar nicht auszuhalten ist, außer wir finden einen Platz, wo dieser Qualm und Rauch uns nicht erreicht.“

„Denkst du, daß es einen solchen gibt?“

„Ich hoffe es. Unten können wir uns freilich nicht verstecken; wir müssen hinauf. Aber auch nicht zu hoch, weil wir da nichts hören würden. Es gilt, die Windrichtung zu erkennen und den Luftzug zu berechnen. Das Tor und alle Fensteröffnungen stehen offen. Es wird also Luftzug mehr als genug vorhanden sein. Aber nach welcher Seite geht er? Ich schlage vor, das wir probieren! Wir haben fast noch eine Viertelstunde Zeit, ehe es Abend wird. Gehen wir schnell nach dem Haus, um ein Feuer anzuzünden und zu sehen, wohin der Rauch entweicht.“

„Und dabei erwischt zu werden!“ warnte Pappermann.

„Es kommt niemand“, versicherte Kakho-Oto. „Wir können es unbesorgt tun.“

Mein Vorschlag wurde also ausgeführt. Wir begaben uns nach dem alten Bauwerk und sammelten unterwegs soviel dürres Holz, wie nötig war, den geplanten Versuch zu machen. Die Leiter wurde wieder hervorgeholt. Als das Feuer brannte, blieb Pappermann unten, um es zu schüren; wir vier anderen aber stiegen hinauf und beobachteten die durch die Wärme verursachte Luftbewegung und den abziehenden Rauch. Hierdurch entdeckten wir die für uns am besten geeignete Stelle und stiegen wieder hinab, um das Feuer auszulöschen und jede Spur desselben sorgfältig zu vertilgen. Dann kehrten wir nach unserem Lagerplatz zurück. Kakho-Oto aber verabschiedete sich von uns, um sich zu ihren Kiowas zu verfügen und am nächsten Morgen zeitig wiederzukommen. Während meine Frau uns am Lagerfeuer das Abendessen bereitete, gossen wir uns mit Hilfe des vorhandenen Bärenfettes und einer aufgedrehten, ungefärbten Baumwollschnur einige kleine Kerzen, die wir nötig hatten, um bei unserem nicht ungefährlichen Aufstieg in die Höhe des Hauses nicht ganz und gar im Dunkeln zu sein. Denn gefährlich war es immerhin, auf den frei aus der Mauer ragenden Stufensteinen, die keine Spur von Brüstung oder Geländer hatten, ohne hellere Beleuchtung emporzuklimmen. Jedem Ausgleiten mußte unbedingt der Absturz folgen. Darum wollte ich mit dem jungen Adler allein hinauf. Das Herzle war da eigentlich recht überflüssig, zumal sie von den Verhandlungen, die ganz selbstverständlich indianisch geführt wurden, kein Wort verstehen konnte. Aber gerade, weil sie die Gefahr erkannte, bestand sie darauf, uns begleiten zu dürfen, weil sie mehr Besorgnis für mich als für sich selbst hatte und die Ueberzeugung hegte, daß ich in ihrer Gegenwart vorsichtiger sein würde als ohne sie.

Als die elfte Stunde nahte, brachen wir auf und hinterließen unserem Pappermann die Weisung, falls wir gegen Morgen noch nicht zurück sein sollten, vorsichtig nachzuschauen, was uns im Haus des Todes festgehalten habe. Wir nahmen unsere Revolver mit, obwohl wir keineswegs glaubten, sie brauchen zu müssen. Im Hause angekommen, zündeten wir die drei Kerzen an. Der Aufstieg war noch schwieriger, als ich vorausgesehen hatte, und zwar der Leiter wegen. Wir brauchten sie, um zur untersten Stufe hinaufzukommen, und da wir sie unmöglich stehenlassen konnten, weil sie uns verraten hätte, mußten wir sie mit hinaufnehmen. Ich stieg voran, dann folgte das Herzle, der „junge Adler“ hinter ihr her. Indem ich vorn und er hinten die Leiter waagrecht faßte, bildete sie für meine Frau ein mitwandelndes Sicherheitsgitter, an dem sie sich im Falle der Not zu halten vermochte. Wir gelangten langsam, sehr langsam, aber doch glücklich hinauf. Da schoben wir die Leiter in die tiefe Fensteröffnung, so daß sie in ihr vollständig verschwand, löschten unsere kleinen, fast ganz unzureichenden Licht aus und stiegen durch die Oeffnung, welche auf den künstlichen Felsensturz mündete, hinaus ins Freie.

Es gab über uns einen hellen Sternenhimmel. Das von ihm niederfallende Licht reichte hin, uns den See als eine mattsilberne Fläche zu zeigen, die im Schattenrahmen der Ufersträucher lag. Wir brauchten nicht lange zu warten, so bewegte es sich da vorn. Es kamen Gestalten, langsam und einzeln, eine hinter der anderen. Je näher sie kamen, um so deutlicher konnten wir sie erkennen. Freilich, ihre Gesichtszüge nicht. Auch die Gestalten waren nicht scharf konturiert. Aber daß es Indianer waren, darüber gab es keinen Zweifel. Auch die Bahre sahen wir, auf welcher der Häuptling der Kiowas getragen wurde. Sie bestand aus einer Decke, welche zwischen zwei Stangenhölzern befestigt war. Andere trugen große Holz- und Reisigbündel. Wir zählten vierunddreißig Personen. Wir warteten, bis die letzte von ihnen im Innern des Hauses verschwunden war, und schlüpften dann auch hinein. Wir hatten da eine undurchdringliche Dunkelheit vor uns und setzten uns nieder.

Geheimnisvolles Geräusch ließ sich in der Tiefe unter uns hören, weiter nichts. Niemand sprach, kein Ruf, kein Befehl, kein Kommando erscholl. Es schien alles sehr genau vorher besprochen worden zu sein. Da sprang irgendwo ein Funke auf, noch einer und noch einer. Diese Funken verwandelten sich in kleine Flämmchen. Die Flämmchen wurden zu Flammen, die Flammen zu brennenden Feuern. Es gab vier Feuer, welche die Ecken eines Quadrates bildeten, in dessen Mitte der Altar stand. Um diese Feuer lagerten sich phantastische Indianergruppen, die Häuptlinge jedes Stammes um ihre besondere Flamme. Der Rauch stieg empor, aber er belästigte uns nicht er verschwand durch die Oeffnungen der gegenüberliegenden Seite. Auch der Schein der Feuer stieg empor; aber je höher, um so ungenügender und geheimnisvoller wirkte er. Beim Flackern der Flammen schien sich nicht nur unten, sondern auch hier oben alles zu bewegen, die Nischen, die Mumien, die Gerippe, die verworrenen Teile der Knochen. Das Herzle griff nach meiner Hand, drückte sie krampfhaft fest und flüsterte mir zu:

„Wie geisterhaft, ja, gespensterhaft! Fast fürchte ich mich!“

„Wünschest du dich weg von hier?“ fragte ich.

„Nein, nein! So etwas gibt es ja niemals, niemals wieder! Denke, wir sind im Inferno!“

Das Bild, welches sie da brachte, war nicht unzutreffend; ich aber hätte lieber gesagt, im Fegefeuer. Was da unten beschlossen werden sollte, war Sünde, ja; aber es hatte nicht unbedingt zur Verdammung zu führen; wir selbst waren ja da, um ihm ein besseres Ende, einen glücklichen Ausgang zu geben. Mir kamen die Gestalten da unten vor, nicht als ob sie Abkömmlinge vergangener Jahrtausende, sondern die zu erlösenden Seelen jener uralten Zeiten seien, die sich hier versammelt hatten zur letzten, bösen Tat, in deren Schoß die Befreiung aus der Finsternis zu suchen und zu erfassen war. Indem ich dies dachte, erklang das erste Wort, welches gesprochen wurde:

„Ich bin Avat-towah, der Medizinmann der Komantschen. Ich sage: es ist Mitternacht!“

Und eine zweite Stimme schloß sich an:

„Ich bin Onto tapa, der Medizinmann der Kiowa. Ich fordere auf, die Verhandlung zu beginnen!“

„Sie beginne!“ rief Tangua.

„Sie beginne!“ rief To-kei-chun.

„Sie beginne!“ rief Tusahga Saritsch.

„Sie beginne!“ rief Kiktahan Schonka.

Auch jetzt konnten wir die Gesichtszüge der Genannten nicht erkennen. Wir sahen nur ihre Gestalten und hörten ihre Stimmen wie aus einer nicht mehr zur Erde gehörenden Unterwelt herauf. Da trat der Medizinmann der Komantschen an den Altar und sprach:

„Ich stehe vor dem heiligen Bewahrungsort der Medizinen. Im Tempel unseres alten, berühmten Bruders Tatellah-Satah hängt die Riesenhaut des längst schon ausgestorbenen Silberlöwen, auf welcher folgendes geschrieben steht: Bewahret eure Medizinen! Das Bleichgesicht kommt über das große Wasser und über die weite Prärie herüber, um euch eure Medizinen zu rauben. Ist er ein guter Mensch, so wird es euch Segen bringen. Ist er ein böser Mensch, so wird es ein Wehklagen geben in allen euren Lagern und in allen euern Zelten.

Hierauf trat auch der Medizinmann der Kiowas an den Altar und sprach:

„Aber neben diesem Fell des Silberlöwen hängt die Haut des großen Kriegsadlers; auf der steht geschrieben:

Dann wird ein Held erscheinen, den man den jungen Adler nennt. Der wird dreimal um den Berg der Medizinen fliegen und sich dann zu euch niederlassen, um euch alles wiederzubringen, was das Bleichgesicht euch raubte. Ich frage euch, die Oberhäuptlinge der vier vereinigten Stämme: Wollt ihr den Beschlüssen treu bleiben, welche heute unter euch getroffen worden sind?“

„Wir wollen“, antworteten alle vier.

„Und seid ihr bereit, eure Medizinen hier niederzulegen zum Pfand dafür, daß ihr alles tun werdet, es auch auszuführen?“

Ein lautes, vierfaches Ja erscholl.

„So bringt sie her, und gebt sie ab!“

Sie taten es. Sogar Tangua ließ sich zum Altar tragen, um seine Medizin mit eigener Hand abzugeben. Kiktahan Schonka klagte, indem er dem Medizinmann die seinige überreichte:

„Es ist nur die Hälfte. Die andere Hälfte ging unterwegs verloren, als Manitou seine Augen von mir wendete. Er kehre mir sein Antlitz wieder zu, damit mir nicht auch diese andere Hälfte noch verloren gehe! Die Last meiner Winter drückt mich dem Grabe zu. Soll ich jenseits des Todes ohne Medizin erscheinen, und für ewig verloren sein? Schon um mich vor diesem Untergang zu retten, bin ich gezwungen, alles zu tun, um zu halten, was ich heute versprach!“

Die Platte wurde vom Altar gehoben und dann, als die Medizinen im Innern desselben verschwunden waren, wieder daraufgelegt. Dann häufte man Holz und Reisig darüber und steckte es in Brand, doch nicht nach unserer, sondern nach indianischer Weise, so daß nur ein kleines Feuer entstand, in welches nur die Spitzen der Hölzer ragten, die, wenn sie verzehrt waren, immer nachgeschoben wurden. Das war das „Feuer der Beratung“, die nun begann. Sie war sehr feierlich. Sie wurde durch das sehr umständliche Rauchen der Friedenspfeife eingeleitet. Man hielt trotz der vorangegangenen Vorberatungen noch sehr ausführliche Reden. Es wäre wohl interessant, wenn ich diese Reden hier wörtlich wiederholte. Einige von ihnen gestalteten sich zu wahren Meisterstücken der indianischen Redekunst. Aber der Mangel an Raum gebietet mir, nicht so umständlich zu sein, wie diese Indianer es waren. Es genügt, zu sagen, daß wir auf unserem Platze alles, was gesprochen wurde, sehr deutlich verstanden. Es ging uns fast kein einziges Wort verloren. Das Resultat der Verhandlungen war für uns folgendes:

Die vier Stämme planten einen Überfall des Lagers der Apatschen und ihrer Freunde am Mount Winnetou. Durch diesen Überfall sollte die geplante Verherrlichung Winnetous vereitelt werden. Zugleich hoffte man, dadurch in den Besitz großer Beute und all der Schätze zu kommen, welche jetzt in diesem Lager zusammenflossen. Es waren das besonders die freiwilligen Gaben an Nuggets und anderen Edelmetallen, die, entweder von ganzen Stämmen, Clans und Gesellschaften oder von einzelnen Personen gespendet, herbeigetragen wurden. Man wollte hier am dunklen Wasser noch einige Tage bleiben, um von dem bisherigen langen Ritte auszuruhen, und dann nach einem Ort marschieren, den sie „das Tal der Höhle“ nannten. Dieses Tal lag in der Nähe des Mount Winnetou und bot, wie man sagte, selbst für eine so große Zahl von Kriegern ein sicheres Versteck. Aus diesem Versteck heraus sollten dann die Apatschen und ihre Verbündeten überfallen werden.

Von höchstem Interesse für uns war ein ganz besonderer Punkt, den wir erlauschten. Die vier verbündeten Stämme hatten nämlich einen Kumpan bei den Apatschen, der es übernommen hatte, sie über alles zu unterrichten, ihren Streich mit vorzubereiten und ihnen die passendste Zeit zu seiner Ausführung anzugeben. Dieser Spion und Verräter war um so gefährlicher, als er nicht zu den gewöhnlichen, gleichgültigen Personen gehörte, sondern mit im Denkmalkomitee saß und als Mitglied desselben alles mögliche wußte und allseitig ein besonderes Vertrauen genoß. Das war Mr. Antonius Paper, mit dem indianischen Namen Okih-tschin-tscha und dem schlingernden Gange. Dies zu erfahren, hatte ganz besonderen Wert für uns. Für diese seine Mitwirkung war ihm ein bedeutender Anteil an der Beute, über dessen Höhe man aber nicht sprach, verheißen worden. Die Oberhäuptlinge schienen eine Scheu zu haben, sich vor ihren Unterhäuptlingen über diesen Punkt deutlich auszudrücken. Es wurden da die Gebrüder Enters mitgenannt, welche das, was man ihnen versprochen hatte, nicht bekommen sollten, weil man es diesem Antonius Paper auszuzahlen hatte, dem man seinen Lohn aber auch vorenthalten wollte, weil er an die beiden Enters zu entrichten wäre. Es handelte sich da jedenfalls um eine große Lumperei, über die man nicht gern sprach. Ich vermutete, daß man alle drei, sowohl Paper als auch die Enters, um ihren Lohn betrügen und sie dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen wollte.

Als die Zeremonie zu Ende war, wurde das Beratungsfeuer auf dem Altar von den beiden Medizinmännern ausgelöscht. Sie strichen die Asche von der Platte und traten dann um einige Schritte von dem Altar zurück. Hierauf sagte der Medizinmann der Komantschen in feierlichem Ton:

„So oft das heilige Feuer über den Medizinen erlischt, ist das Wort des Silberlöwen zu wiederholen: Bewahret eure Medizinen! Das Bleichgesicht kommt über das große Wasser und über die weite Prärie herüber, um euch eure Medizinen zu rauben!…“

Und der Medizinmann der Kiowas fügte hinzu:

„So oft das heilige Feuer über den Medizinen erlischt, ist auch das Wort des großen Kriegsadlers zu wiederholen: Es wird ein Held erscheinen, den man den jungen Adler nennt. Der wird dreimal um den Berg fliegen und sich dann zu euch niederlassen, um euch die geraubten Medizinen wiederzubringen. Dann wird die Seele der roten Rasse aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwachen, und was getrennt war, wird zur geeinigten Nation und zum großen Volk werden!“

Von jetzt an sprach niemand mehr, aber man blieb sitzen, bis die Feuer nach und nach verlöschten und schließlich auch der letzte noch glimmende Funke verschwunden war. Dann geschah der Aufbruch. Die Indianer verließen das Haus genauso, wie sie gekommen waren: langsam und still, einzeln, einer hinter dem andern. Unsere Blicke folgten ihnen, bis sie das Wasser des Sees erreichten und dann nach beiden Seiten abschwenkten. Das Herzle holte tief, tief Atem.

„Welch ein Abend! Welch eine Nacht!“ sagte sie. „Das werde ich nie, nie vergessen! Was tun wir jetzt?“

„Wir steigen hinab und holen uns die Medizinen“, antwortete ich.

„Dürfen wir das?“

„Eigentlich ist es verboten. Es steht der Tod darauf. Kein Indianer würde wagen, sich an ihnen zu vergreifen. Für uns ist es einfach ein Gebot der Notwendigkeit.“

Der „junge Adler“ hörte das. Er sagte nichts dazu. Wir brannten unsere drei Lichter wieder an, griffen zu unserer Leiter und stiegen langsam und äußerst vorsichtig wieder hinab. Unten angekommen, traten wir an den Altar. Da fragte der junge Apatsche in seiner Muttersprache:

„Du willst sie wirklich nehmen?“

„Ja, unbedingt“, antwortete ich. „Sie sind eine Macht in meiner Hand, und zwar eine große, segensreiche Macht.“

„Das weiß ich. Aber ich bin Indianer, und ich kenne die Bedeutung und die Unverletzlichkeit der Medizinen, die an solcher Stelle niedergelegt worden sind. Weißt du, was meine Pflicht mir hier gebietet?“

„Ja. Du hast zu verhindern, daß ich sie berühre. Sogar Gewalt hast du zu gebrauchen. Aber, habe ich etwa die Absicht, sie nicht heilig zu halten, sie zu verletzen?“

„Nein. Die hast du nicht. Und du bist Old Shatterhand, ich aber bin ein Knabe. Ein Kampf mit dir wäre mein Tod. Dennoch bitte ich dich um die Erlaubnis, eine Bedingung stellen zu dürfen!“

„Du darfst.“

„Wenn du das Bleichgesicht des Silberlöwen sein willst, welches zu uns herüberkommt, uns unsere Medizinen zu nehmen, so laß mich der junge Indianer des Kriegsadlers sein, der vom Mount Winnetou herniederkommt, um seinen Brüdern ihre Medizinen zurückzugeben!“

„Kannst du das?“

„Wenn du willst, ja!“

„Fliegen?“

„Ja.“

„Dreimal um den Berg?“

„Ja!“

Das war ein ganz eigenartiger, vielleicht sogar ein großer Augenblick. Dieses Dunkel! Dieser schauerliche Ort! Ein Bleichgesicht im Greisenalter. Ein hochbegabter, kühner Indianer im hoffnungsreichsten Jugendalter! Beide hier am Altar einander gegenüberstehend, mit kleinen, winzigen Lichtern in den Händen, deren spärlicher Schein von der Finsternis schon zwei, drei Schritte weit verschlungen wurde! Er sprach vom Fliegen. Er versicherte, es zu können, und zwar mit einer Stimme und in einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß! Er meinte körperliches Fliegen. Ich aber dachte ebenso sehr auch an den seelischen, an den geistigen Flug, den er, der Typus seiner verjüngten Nation, zu nehmen hatte, wenn er ihr die im Verlauf der Jahrtausende verlorengegangenen „Medizinen“ zurückbringen wollte. Aber ich hatte ein großes, ein warmes und ich möchte sagen, ein heiliges Vertrauen zu ihm.

„Ich glaube dir!“ antwortete ich. „Ich nehme sie jetzt. Aber ich gebe sie dir, sobald du sie von mir verlangst!“

„Deine Hand darauf!“

„Hier!“

Wir reichten einander die Hände.

„So nimm sie!“ sagte er und griff nach der Platte, um mir zu helfen, sie auf die Seite zu schieben. Sie war fast noch heiß. Ich nahm die Medizinen aus dem geöffneten Altar. Wir schoben die Platte in ihre vorige Lage zurück und verließen dann, nachdem wir die Lichter verlöscht hatten, das Haus, um nach unserm Lagerplatz zurückzukehren. Die Leiter nahmen wir mit, damit sie nicht nachträglich noch zur Verräterin an uns werde. Unser Aufenthalt am „Dunklen Wasser“ hatte von jetzt an als beendet zu gelten. So kurz er gewesen war, So sehr konnten wir mit seinen Ergebnissen zufrieden sein.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Sechstes Kapitel

Am Mount Winnetou.

Es war ungefähr eine Woche später. Wir hatten während der letzten Nacht am unteren Klekih Toli gelagert und ritten nun am frühen Morgen an seinem Ufer aufwärts. Klekih Toli ist ein Apatschewort. Es heißt so viel wie „weißer Fluß“. Dieser Fluß hat ein bedeutendes Gefälle. Er kommt in zahlreichen Kaskaden vom Mount Winnetou herab. Der weiße Schaum dieser Kaskaden ist es, der ihm seinen Namen gegeben hat. Er ist tief eingeschnitten. Darum sind seine Ufer hoch und steil, oben mit Wald und unten mit Buschholz bewachsen. Da, wo er aus dem gewaltigen Massiv des Mount Winnetou tritt, bildet er mehrere Wasserfälle, welche ihrer Umgebung ein höchst energisches Aussehen erteilen.

Wir waren vier Personen; das Herzle, der „junge Adler“, Papperrnann und ich. Die beiden Enters hatten wir am „Dunkeln Wasser“ nicht wieder zu sehen bekommen, zumal kein besonderer Grund für uns vorhanden war, ein solches Wiedersehen herbeizuführen. Daß wir ihnen irgendwo und irgendwann wieder begegnen würden, verstand sich ganz von selbst. Kakho-Oto war am Morgen nach der Beratung im „Haus des Todes“ zu uns gekommen und hatte uns berichtet, daß im Lager der Roten nichts Besonderes geschehen sei. Sie fragte uns nicht, was wir erlauscht hätten; darum schwiegen auch wir darüber, um sie nicht mit sich selbst und ihren Stammespflichten in Konflikt zu bringen. Vor allen Dingen wurde ihr verheimlicht, daß wir uns in den Besitz der Medizinen gesetzt hatten. Je weniger Personen das wußten, um so besser war es für uns. Als wir ihr unsern Entschluß kundgaben, sofort weiter zu reiten, tat ihr diese schnelle Trennung wehe. Sie hätte uns gern begleitet, sah aber wohl ein, daß dies mehr eine Belästigung als eine Erleichterung für uns gewesen wäre und daß sie mehr und besser für uns wirken konnte, wenn sie bei den Kiowa blieb. Doch wurde verabredet, uns unter allen Umständen am Mount Winnetou wiederzusehen.

Diesem Berg waren wir jetzt nun nahe, obgleich wir ihn noch nicht sahen, der tiefen Flußrinne wegen, in der wir ritten. Es gab vom „Dunkeln Wasser“ aus einen anderen, bequemeren Weg nach dem Mount Winnetou, den wir aber vermieden hatten, weil wir annahmen, daß er unter den jetzigen Verhältnissen belebter sein werde, als wir wünschtet. Wir wollten unnütze Begegnungen vermeiden und am liebsten dort plötzlich eintreffen, ohne vorher gesehen und beachtet worden zu sein. Darum kamen wir von einer nicht gerade übermäßig wegsamen Seite her und waren nun aber doch gezwungen gewesen, nach dem Ydekih Toli einzubiegen, um nicht an unserem Ziel vorüberzugehen. Daß wir dadurch auf einen jetzt viel betretenen Weg geraten waren, bemerkten wir an den Spuren von Menschenfüßen und Pferdehufen, die uns in die Augen fielen. Und gar bald sahen wir auch einige Indianer, welche an einer Stelle, an der wir vorüber mußten, zwischen den Büschen hockten. Es waren ihrer vier. Ihre Pferde weideten am Wasser. Sie waren unbemalt und nur mit der Lanze bewaffnet, trotzdem aber sofort als Kanean-Komantschen zu erkennen. Als sie uns erblickten, richteten sie sich aus ihrer hockenden Stellung auf und schauten uns entgegen. Sie bildeten einen Posten, den man hier aufgestellt hatte, um alle, die hier vorbeikamen, zu kontrollieren. Der „junge Adler“ ritt uns voran und still grüßend an ihnen vorbei. Ihn ließen sie passieren, uns aber hielten sie an.

„Wohin wollen meine weißen Brüder?“ fragte der Älteste von ihnen.

„Nach dem Mount Winnetou“, antwortete ich.

„Was wollen sie dort?“

„Wir wollen zu Old Surehand.“

„Der ist heut nicht dort.“

„Und zu Apanatschka, dem Häuptling der Kanean-Komantschen.“

„Auch der ist nicht dort. Sie sind beide miteinander fortgeritten.“

„So werde ich dort warten, bis sie wiederkommen.“

„Das ist unmöglich.“

„Warum?“

„Es dürfen jetzt keine Bleichgesichter nach dem Mount Winnetou.“

„Wer hat es verboten?“

„Das Komitee.“

„Wem gehört der Mount Winnetou? Gehört er dem Komitee?“

„Nein“, antwortete er verlegen.

„So hat dieses Komitee auch nichts zu befehlen und nichts zu verbieten!“

Ich trieb mein Pferd zum Weitergehen an. Da griff er mir in die Zügel und sagte:

„Ich muß Euch anhalten. Ich darf Euch nicht vorüberlassen. Ihr habt umzukehren!“

„Versuche es!“

Bei diesen Worten nahm ich mein Pferd vorn hoch und schüttelte ihn ab. Die drei andern wollten Pappermann und das Herzle zurückhalten. Mein Pferd tat einen Satz mitten zwischen sie hinein und trieb sie auseinander. Pappermann rief lachend aus:

„Mich zurückweisen! Den Maksch Pappermann festhalten! Hat man schon einmal so etwas erlebt? Wer es wagt, mich anzufassen, den steche ich auf der Stelle nieder!“

Er ließ sein Maultier einige Sprünge dorthin tun, wo die vier Lanzen in der Erde steckten. Im nächsten Augenblick war ich auch dort. Zwei rasche Griffe, und die Lanzen befanden sich in unseren Händen. Er nahm die eine durch die Lederschlinge an den Arm und senkte die andere zum Stoß. Ich tat ganz dasselbe.

„So!“ lachte er. „Wer nicht erstochen sein will, der mache sich aus dem Weg! Vorwärts!“

Wir ritten weiter.

Die Komantschen waren junge Leute. Der Älteste von ihnen zählte gewiß noch nicht dreißig Jahre. Sie stammten also nicht aus der alten kriegerischen Zeit. Sie wußten vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollten. Sie schwangen sich auf ihre Pferde und kamen hinter uns her. Sie baten uns, ihnen ihre Lanzen wiederzugeben und ja nicht weiterzureisen, sondern zu warten, bis sie uns nach vorn gemeldet hätten. Dann würden wir erfahren, ob wir unsern Weg fortsetzen dürften oder nicht. Da es nicht in unserer Absicht liegen konnte, sie vor ihren Kameraden zu blamieren, so gaben wir ihnen ihre Lanzen wieder, setzten unseren Weg aber ununterbrochen fort. Sie getrauten sich nicht mehr, dies zu verhindern, und ritten hinter uns her, denn ohne Beaufsichtigung durften sie, wie es schien, uns nicht lassen.

Nach ungefähr einer Stunde kamen wir an einen zweiten Posten, der auch aus vier Personen bestand. Diese machten denselben Versuch, uns anzuhalten. Wir weigerten uns, zu gehorchen. Die ersten vier fühlten sich jetzt stärker als vorher. Da stieg ich vom Pferd, ging zu dem Maultier, welches meinen Koffer trug, öffnete ihn, nahm die beiden Revolver nebst Munition heraus, steckte die letztere zu mir, spannte die Revolver, ging fünfundzwanzig Schritte zur Seite, zielte und gab schnell hintereinander acht Schüsse ab. Jeder der Komantschen bekam einen Ruck in den Arm, in dem er die Lanze hielt. Ich hatte alle acht durchlöchert. Ich lud wieder, kehrte dann zu meinem Pferd zurück, stieg auf und sagte:

„Jetzt habe ich nur auf die Lanzen gezielt. Von jetzt an aber ziele ich auf die Männer. Merkt euch das!“

Wir ritten weiter. Sie blieben eine kleine Weile, leise miteinander sprechend, halten; dann kamen sie hinter uns her, alle acht, ohne es aber zu wagen, sich uns mehr, als wir wünschtet, zu nähern.

Nach wieder einer Stunde erreichten wir den nächsten Posten, der ebenso wie die vorigen aus vier Mann bestand, die nur Lanzen trugen. Auch sie wollten sich uns in den Weg stellen; als sie aber sahen, daß wir begleitet wurden, wichen sie zur Seite, ließen uns vorüber und schlossen sich ihren hinter uns reitenden acht Stammesgenossen an. Das machte dem Herzle Spaß.

„Nun ist es genau ein Dutzend!“ sagte sie. „Und wir sind nur drei Männer und eine Frau! Sind das jene kühnen Rothäute, von denen man liest und erzählt? Sind das jene Komantschen, die man als die verwegensten unter allen Indianern schildert?“

„Irre dich nicht“, antwortete ich. „Sie sind jung, sind ungeübt. Gib ihnen eine Handvoll Erfahrung, so wirst du sehen, daß sie ihren Vätern nichts nachgeben. Wir haben sie einfach verblüfft; das ist alles!“

Jetzt hatten wir anderthalb Stunden zu reiten, ehe wir den nächsten Posten erreichten. Da stand eine geräumige Blockhütte, bei der zahlreiche Holzklötze lagen, die als Sessel dienen sollten. Hier waren mehr Menschen als nur vier. Ich zählte zehn: acht Indianer und zwei Weiße. Der Pferde waren ebenso viele. Den beiden Weißen schienen die Roten nicht vornehm genug zu sein. Sie hatten sich abseits von ihnen gesetzt. Sie frühstückten aus ihren Satteltaschen und tranken Brandy dazu. Die Flasche stand zwischen ihnen. Das sahen wir von weitem. Als wir aber näher kamen, erkannten wir den Irrtum: die zwei waren nicht Weiße, sondern ein Indianer und ein Halbindianer, aber so wie Weiße gekleidet, während die Komantschen die Tracht ihres Stammes zeigten. Und diese beiden waren uns nicht einmal fremd, sondern Bekannte, sehr gute Bekannte von uns. Nämlich der Halbindianer war Herr Okih-tschintscha, genannt Antonius Paper, und der Ganzindianer hatte sich uns als Mr. Evening vorgestellt, Agent für alles mögliche. Neben ihnen lagen ihre Flinten und einige geschossene Vögel. Sie schienen sich also auf einer Jagdpartie zu befinden.

Sie sprangen beide auf, als sie uns erkannten.

„Halloo, Halloo!“ rief Paper aus. „Das ist ja dieser ekelhafte Burton mit seinem blauen Boy! Also darum ritt der junge Adler so schnell vorüber! Er will sie einschmuggeln! Haltet sie auf! Sie dürfen nicht weiter! Ergreift sie! Nehmt sie gefangen!“

Diese Aufforderung war an die Indianer gerichtet. Mr. Evening aber fügte warnend hinzu:

„Nehmt euch aber in acht! Gewalttätige Menschen! Dieser Burton ist gewohnt, augenblicklich zuzuschlagen!“

Wir achteten nicht auf diese Rufe, sondern lenkten unsere Tiere nach dem Wasser und stiegen ab, um sie trinken zu lassen. Es war die Zeit dazu. Indem wir das taten, erstatteten unsere zwölf bisherigen Begleiter Bericht über uns. Wir hörten zwar nicht, was sie sagten, konnten uns aber sehr wohl denken, daß sie sich nicht in Lob und Preis über uns ergingen.

„Dieser Paper wird doch nicht etwa so töricht sein, wieder mit dir anzubinden!“ meinte das Herzle besorgt.

„Er wird es sehr wahrscheinlich!“ antwortete ich. „Derartige Menschen werden niemals klug!“

„Schlägst du wieder?“

„Nein.“

„Gott sei Dank! Ich sehe das gar nicht gerne!“

„Hier ist ein anderer Ort. Da kann man sich auch anders wehren.“

Kaum hatte ich das gesagt, so kam der Genannte auf uns zugeschlingert, stellte sich grad vor mich hin und sagte:

„Heut rechnen wir ab, Mr. Burton, vollständig ab. Ihr seid mein Gefangener!“

Ich antwortete nicht.

„Habt Ihr es gehört?“ fragte er. „Gäbe es hier Handschellen, so würde ich sie Euch anlegen lassen. Denn solche Halunken – – –“

„Halunken?“ fragte ich schnell, ihn unterbrechend.

„Ja, Halunken! Denn nur ein Halunke kann – – –“

Er konnte den angefangenen Satz nicht vollenden, denn ich packte ihn mit beiden Händen oberhalb der Hüften, trat mit ihm ganz nahe an das Wasser heran und schleuderte ihn, soweit ich konnte, in den hier ziemlich tiefen Fluß hinein.

„Hilfe, Hilfe!“ brüllte er noch in der Luft.

Dann sank er unter, kam aber schnell wieder zum Vorschein, begann wie ein Hund zu paddeln und wurde von der reißenden Strömung fortgetragen.

„Hilfe, Hilfe!“ schrie er weiter.

„Holt ihn heraus! Holt ihn heraus!“ rief William Evening, der Agent für alles. „Laßt ihn nicht ertrinken, laßt ihn nicht ertrinken!“

Die Indianer beeilten sich, dem im Wasser Treibenden zu folgen und ihn mit Hilfe ihrer Lanzen an das Ufer zu ziehen. Ich aber ging auf den Agenten zu, lächelte ihn ebenso verbindlich an, wie er mich am Nugget-tsil angelächelt hatte, machte ganz so, wie er dort, eine noch verbindlichere Verbeugung und sagte mit seinen eigenen, dortigen Worten:

„Wir sind in einer wichtigen Angelegenheit an diesen Platz gekommen. Wir glaubten, niemand hier zu finden. Eure Gegenwart ist uns störend.“

Er sah mich groß an.

„Ihr versteht mich doch?“ fragte ich ihn genauso, wie er mich gefragt hatte.

Da kam ihm die Einsicht. Er erinnerte sich der Szene und begann zu ahnen, daß ich jetzt im Begriff stand, den Spieß herumzudrehen.

„Gewiß“, antwortete er. „Es ist ja deutlich genug.“

„Nun?“

„Ihr wünschet, daß wir uns entfernen?“

„Ja.“

„Wann?“

„Sofort! Sonst helfe ich nach!“

Ich zog den Revolver. Zugleich nahm Pappermann den seinen aus der Tasche.

„Wir gehen; wir gehen!“ versicherte der Agent für alles sehr eindringlich und sehr schnell. „Da bringen sie Mr. Paper. Hoffentlich hat ihm der Schreck nicht die Kraft geraubt, auf das Pferd zu steigen!“

„Sollte dies der Fall sein, so bin ich sehr gern bereit, ihn sofort wieder stark zu machen. Wem gehört der Hut, der dort am Aste hängt?“

„Mr. Paper.“

„So paßt auf, was ich tue!“

Die Indianer hatten Herrn Okih-tschin-tscha aus dem Wasser gezogen. Er triefte. Er hatte, wie es schien, genug. Er beeilte sich, in das Innere des Blockhauses zu kommen. Noch hatte er es nicht erreicht, so hob ich den Revolver und zielte nach dem Hute. Ich traf. Paper erschrak so über den Schuß, daß er stehen blieb. Ich deutete nach der durchlöcherten Kopfbedeckung und sagte:

„Das war der Hut! Nun kommt der Mann, der mich arretieren wollte! Ich gebe Mr. Antonius Paper nur fünf Minuten Zeit. Hat er sich dann nicht davongemacht, so bekommt er ein zweites Loch, aber nicht durch den Hut, sondern durch den Kopf. Fare well, Mr. Evening! Ich hoffe, Ihr macht Euch ebenso schnell von dannen!“

Da hob Pappermann auch seinen Revolver und rief mir zu:

„Also fünf Minuten, nicht mehr! Dann ich den einen und Ihr den andern!“

Da griff Herr Okih-tschin-tscha schnell nach seinem durchlöcherten Hut, stülpte ihn auf und rannte nach seinem Pferd. Der Agent für alles packte alles, was er aus der Satteltasche genommen hatte, auch die Brandyflasche, wieder hinein, raffte die beiden Gewehre auf, denn Antonius Paper hatte das seinige vor Angst vergessen, und noch waren die fünf Minuten nicht vorüber, so ritten beide, ohne sich umzusehen, in größter Eile davon.

Nichts imponiert dem Indianer mehr als Mut und Energie. Unser Verhalten flößte den Komantschen Achtung ein. Die Folge hiervon zeigte sich sofort. Der Aelteste von ihnen kam zu uns heran und fragte:

„Meine weißen Brüder kennen, wie man mir sagt, Old Surehand?“

„Ja“, antwortete ich.

„Und auch Apanatschka, unsern Häuptling?“

„Auch ihn. Ich kenne sogar Joung Surehand und Joung Apanatschka. Die beiden Väter und die beiden Söhne nennen mich ihren Freund.“

„Haben sie dir gesagt, was hier geschehen soll?“

„Ja. Sie haben mir Briefe darüber geschrieben. Sie haben mich eingeladen, nach dem Mount Winnetou zu kommen.“

„Hast du diese Briefe mit?“

„Ja.“

„Ich bitte dich, sie mir zu zeigen, damit ich sie lese!“

„Sehr gern, sehr gern!“

Ich mußte zwar den Koffer wieder öf fnen, zögerte aber gar nicht, es zu tun. Das Herzle half mir dabei. Es gibt Augenblicke, in denen ihr der Schalk im Nacken sitzt; dann hat man sich vor ihr in acht zu nehmen. Jetzt war ein solcher Augenblick. Sie öffnete nicht meinen, sondern ihren Koffer, nahm vier quittierte Hotelrechnungen aus Leipzig, Bremerhaven, New York und Albany heraus, reichte sie dem Komantschen hin und sagte:

„Hier! Von den beiden Vätern und von den beiden Söhnen!“

Er machte mit der Hand ein Zeichen der Hochachtung und griff nach den Papieren. Er betrachtete sie sehr eingebend. Sein Gesicht nahm dabei mehr und mehr den Ausdruck an, den man als Kennermiene bezeichnet. Er wendete sich an seine Leute und bestätigte, indem er die Rechnungen einzeln emporhob:

„Es stimmt; es ist wahr! Hier ist der Brief von Old Surehand und hier von Joung Surehand, hier von Apanatschka und hier von Joung Apanatschka. Auf allen diesen Briefen steht, daß diese Bleichgesichter Freunde sind und daß sie nach dem Mount Winnetou kommen sollen!“

Seine Kameraden wußten wahrscheinlich sehr genau, welche Künste ihm zuzutrauen seien und welche nicht, denn einer von ihnen fragte:

„Kannst du es denn lesen?“

„Nein“, antwortete er; „aber ich sehe es. Howgh!“

Er gab dem Frager die „Briefe“ hin. Dieser prüfte sie ebenso eingehend und rief dann, indem er sie weitergab:

„Auch ich sehe es. Howgh!“

So gingen die Rechnungen weiter von Hand zu Hand. Ein jeder gab sein entscheidendes: „Auch ich sehe es, Howgh!“ dazu, und dann bekamen wir sie zurück, wobei der Anführer unser Schicksal entschied:

„Also dürfen meine weißen Brüder mit ihrer Squaw getrost weiterreisen. Die Krieger der Kanean-Komantschen haben ihren Häuptlingen mehr zu gehorchen als dem Komitee!“

Wir steckten die Rechnungen wieder in den Koffer. Das Herzle reichte dem wackeren Schriftverständigen die Hand zum Abschied und sprach:

„Mein roter Bruder ist nicht nur klug und verständig, sondern auch in der Deutung unserer Totems und Wampums sehr wohl bewandert. Er hat ein sehr gutes Herz. Ich danke ihm und werde mich seiner stets gern erinnern.“

Das war ihm fast zu viel. Er war beinahe starr vor Glück. Seine Augen strahlten. Er hielt ihre Hand fest, als ob er sie nicht wieder hergeben wolle, und stammelte endlich:

„Meine weiße Schwester hat strahlende Worte, wie die Sonne klingende Strahlen hat. Ich danke ihr! Ich hoffe, wir sehen sie wieder!“

Auch wir gaben ihm die Hand; dann ritten wir weiter.

Meine Frau nahm an, daß der uns vorangeeilte „junge Adler“ an irgendeiner Stelle anhalten werde, um auf uns zu warten. Ich aber war anderer Meinung. Er hatte sich von uns getrennt, um uns bei den zu erwartenden interessanten Szenen nicht zu stören. Er wollte denen, die innerlich gegen uns standen, Gelegenheit geben, sich zu blamieren, und um das zu erreichen, durfte er nicht bei uns sein. Ich war also überzeugt, daß wir ihn erst an Ort und Stelle wiedersehen würden.

Wir kamen an noch mehreren anderen Wachtstationen vorüber. Die dort befindlichen Indianer hielten uns nicht an. Sie wichen vor uns zur Seite. Die argwöhnischen Blicke, die sie dabei auf uns warfen, sagten nur zu deutlich, daß sie eine Instruktion erhalten hatten, die für uns keine freundliche war. ich vermutete, daß uns durch Mr. Okih-tschin-tscha ein Empfang bevorstand, auf den uns zu freuen wir keine Veranlassung hatten.

Es gab Anzeichen, daß wir uns unserem Ziel näherten. Bei gewissen Krümmungen des Flusses erschien uns ein ganz eigenartig gebildeter Bergkoloß, der, je weiter wir vorrückten, immer höher und höher stieg und alle anderen Höhen, zwischen denen der Fluß sich hindurchzuwinden hatte, weit überragte. Schließlich lag ein Zelt oder ein Halbzelt an unserem Weg, bald wieder eins, hierauf wieder und wieder eins. Sie mehrten sich. Sie traten immer enger zusammen. Es sah ganz So aus, als ob wir durch die äußerste Gasse einer weit ausgedehnten Lagerstadt nach ihrem Mittelpunkt ritten. Vor diesen Zelten saßen Indianerinnen, die uns neugierig und mit ungewöhnlichem Interesse betrachteten. Man sah ihnen an, daß sie von unserm Kommen unterrichtet waren. Kinder gab es keine. Die hatte man nicht mit nach dem Mount Winnetou bringen dürfen. Auch Männer sahen wir nicht. Die waren uns schon voraus, um bei der Szene zugegen zu sein, die uns erwartete.

Nun verbreiterte sich das Tal des Flusses sehr schnell, bis die Uferhöhen plötzlich derart nach beiden Seiten zurückwichen, daß wir die ganze vor uns liegende Hochebene mit einem einzigen Blick zu überschauen vermochten. Der Eindruck, den das, was wir sahen, auf uns machte, war ein derartiger, daß wir wie mit einem gemeinsamen Ruck unsere Pferde und Maultiere anhielten.

„Herrlich! Herrlich!“ rief ich aus.

„Mein Gott, wie schön, wie schön!“ sagte das Herzle. „Gibt es denn wirklich so etwas auf Erden?“

Und der alte Pappermann stimmte ein:

„So eine Stelle habe ich freilich noch nicht gesehen, noch nie, noch nie!“

Man denke sich einen gigantischen weit über tausend Meter aufsteigenden Riesendom, vor dem sich ein ebenso riesiger, freier Platz ausbreitet, der durch mehrere Stufenreihen in eine obere und eine untere Hälfte geschieden ist. Der Dom steht auf der westlichen Seite dieses Platzes und geht nach und nach in viele andere Türme über, die in perspektivischer Verjüngung im geheimnisvollen Blaugrau des Westens verschwinden. Auf den anderen drei Seiten ist der Platz von niedrigeren Bergen rundum derart eingefaßt, daß es nur eine einzige Lücke gibt, nämlich das Flußtal im Osten, durch welches wir heraufgekommen sind. Dieser Riesendom ist der Mount Winnetou. Sein Hauptturm steigt wie eine von den kühnsten Naturgewalten improvisierte Gotik hoch über die Wolken empor. Seine Zackenspitze besteht aus nacktem Gestein, welches aus weichen, grünschimmernden Mattendächern emporwächst. Zwischen diesen Zacken liegt weißglänzender Schnee, den unaufhörlich die Sonne küßt, bis er sich, in Liebe aufgelöst, aus Wasserstaub in Wasserstrahl verwandelt und dann von Stein zu Stein, von Schlucht zu Schlucht zur Tiefe springt. Da, wo der Turm sich zum eigentlichen Domgebäude weitet, sammeln sich diese Wasser und bilden mit den von den Nachbarbergen strömenden Bächen einen See, aus dem zu beiden Seiten je ein Wasserfall wohl über sechzig Meter schroff hinunterstürzt und dann, der eine nach Süden, der andere nach Norden, fließt, um die Hochebene, also den freien Domplatz, zu umfassen und dann im Osten sich zu dem Klekih Toli-Flusse zu vereinen, an dem wir heut heraufgeritten sind. Unterhalb der grünen Matten hoch oben auf dem Riesenturm beginnt der erste lichte, dann aber immer dunkler und dichter werdende Wald, der den See geheimnisvoll umfaßt und dann am Dom herniedersteigt, bis er den freien Platz erreicht und hierauf, sich in Gebüsch verwandelnd, in die saftgrasige Prärie der Ebene übergeht. Dieser See heißt Nahtowapa-apu. Am östlichen Teil des dicht bewachsenen Domes liegt das Portal, ein breit geöffnetes Höhental, in welchem man zum hohen, langen First des eigentlichen Bergmassives und zu dem „See der Medizinen“ steigt. über diesem Portal erhebt sich der Nebenturm des Mount Winnetou, welcher zwar nicht so hoch und nicht so schwer wie der Hauptturm ist, aber z. B. in Tirol doch als eine Dolomitennadel allerersten Ranges gelten würde. Auch er ist dicht bewaldet. Aus dem dunklen Grün der Tannen und Fichten steigen die helleren Hochgebirgswiesen empor. Auf halber Höhe steht ein altindianischer Wartturm, von dem aus man die ganze Ebene und die oberen Windungen des Flusses zu überschauen vermag. Und einige Fuß weiter herab weichen Berg und Wald zurück, um ein weit hervorragendes Plateau zu bilden, auf welchem, einer uneinnehmbaren Festung ähnlich, eine nach beiden Seiten lang ausgestreckte Reihe von Gebäuden steht, deren Alter ganz gewiß noch über die Tolteken- und Aztekenzeit zurückweicht und auf jene graue Vergangenheit deutet, deren Reste jetzt so außerordentlich selten sind. Da oben wohnt Tatellah-Satahl der „Bewahrer der großen Medizin“. Man geht durch den vorderen Teil des Tales und dann durch ein Seitental hinauf zu ihm. Doch ist es keinem Menschen gestattet, ohne seine besondere Erlaubnis diesen Weg zu betreten.

Der Hauptturm des gigantischen Domes ist der eigentliche Mount Winnetou, der Nebenturm aber der „Berg der Medizinen“. Und dieser letztere ist es, von dem es heißt, daß der „junge Adler“ dreimal um ihn fliegen werde, um dem roten Mann die verlorengegangenen Medizinen zurückzubringen.

Die hochebene Prärie vor dem Mount Winnetou war so groß, daß ihr Durchmesser die Länge fast einer ganzen Reitstunde betrug. Sie war jetzt nicht leer, sondern mit Hütten und Zelten besetzt, welche in ihrer Gesamtheit eine ganze Stadt bildeten. Weil nun die eine Hälfte der Ebene höher lag als die andere, zerfiel diese Stadt in eine Ober- und eine Unterstadt. Dies nur der Lage nach. Ob auch in anderer Beziehung ein Unterschied zwischen beiden herrschte, war in der kurzen Zeit, die wir betrachtend auf sie hinblickten, nicht zu sehen. Die untere Stadt war dichter besetzt als die obere. Die letztere enthielt nur Zelte; in der ersteren gab es auch kleinere Blockhütten und weitläufige Holzbauten, deren Zweck wir nicht sogleich erkannten. Einige von ihnen schienen Lagerhäuser zu sein. Andere hatten das Aussehen von Hotels oder Restaurationen. Vielleicht waren es auch Versammlungshäuser. Vor den Zelten steckten die Lanzen ihrer Besitzer. Zwischen ihnen weideten die Pferde. Zahlreiche Feuer brannten, an denen gebacken und gebraten wurde, denn es war kurz über Mittagszeit. Es herrschte überhaupt ein reges Leben. Man sah keinen einzigen Weißen, nur lauter Rote. Die meisten von ihnen trugen indianische Kleidung. Ein großer Platz war zu Kampf- und Reiterspielen abgesteckt, ein anderer für Beratungen und andere öffentliche Angelegenheiten. Auf dem letzteren sah ich ungefähr zwanzig nebeneinanderliegende Sitzplätze, welche höher waren als der ebene Boden. Wahrscheinlich für das Komitee und andere hervorragende Personen. Es waren grad jetzt eine Menge Menschen dort, deren ganze Aufmerksamkeit auf uns gerichtet zu sein schien, denn sie deuteten, sobald wir erschienen, zu uns herüber und sprachen auch sehr laut dabei.

Grad vor uns ging eine uralte, steinerne Brücke über den Fluß, eine von der Art, daß man hüben hoch hinauf und drüben wieder tief hinunter muß. Solche Brücken eignen sich sehr gut zur Verteidigung des betreffenden Flußüberganges. Diese Stelle war also schon in uralter Zeit als eine geographisch und strategisch sehr wichtige betrachtet worden. Drüben auf der anderen Seite hielt eine Schar von Indianern zu Fuß. Sie sahen uns an, als ob sie auf uns warteten. Wir aber nahmen uns Zeit. Wir genossen den Anblick des grandiosen, unvergleichlichen Gebirgspanoramas und der hochinteressanten Staffage, welche sich innerhalb der gegebenen Riesenlinien klein und belanglos bewegte. Waren die Menschen früherer Jahrtausende vielleicht größer gewesen als die heutigen? Hierher gehörten doch eigentlich wohl Enakssöhne, die auf elefantengroßen Pferden reiten, und Fürsten, deren Throne bis in die Wolken reichen! Die Sonne stand hoch, scheinbar senkrecht über uns. Sie warf nur geringen Schatten um unsere Füße. Sie leuchtete in jeden Winkel, in jede Spalte und Ritze, in alles Verborgene. Kein Wölkchen stand am Himmel; kein Lüftchen ging vorüber. Die Erde war hier so bedeutend, so hoch, so stark, so kerngesund. Ein Duft von Kraft und Willensfreude erquickte Auge und Herz. Hier oben war der rechte Platz für neue, gute und glückliche Menschheitsgedanken!

Nun ritten wir weiter, die Brücke hinauf und hinunter. Drüben wurden wir sofort von den Roten umringt. Ja, sie hatten auf uns gewartet. Sie waren beauftragt, uns gefangen zu nehmen. Ein jeder von ihnen trug ein farbiges Band um den Arm; sie bildeten, wie wir dann erfuhren, die Ordnungspolizei des Komitees. Als sie uns zwischen sich genommen hatten, fragte der, welcher ihr Anführer war, in englischer Sprache:

„Ihr seid die Bleichgesichter, welche unsern Mister Antonius Paper in das Wasser geworfen haben?“

„Ja, die sind wir“, antwortete Pappermann in fröhlichem Ton.

„So werdet ihr bestraft!“

„Von wem?“

„Vom Komitee!“

Pshaw! Wo ist denn dieses famose Komitee?“

„Da drüben!“

Er deutete nach dem Beratungsplatz.

„So geht hinüber und sagt, wir kommen gleich! Solche Leute muß man sich einmal genau betrachten!“

„Wir tun, was uns beliebt! Wir gehen nicht voran, sondern wir gehen mit euch! Wir arretieren euch! Wir bringen euch hinüber!“

„Ihr uns?“ lachte er. „Versucht es einmal!“

Er ließ sein vortreffliches Maultier einen Kreis um sich selbst schlagen, und wir folgten seinem Beispiel. Die Roten flogen auseinander; mehrere wurden zur Erde gerissen. Wir aber jagten davon, direkt nach dem Platz hinüber. Sie sprangen schreiend hinter uns her. Dort angekommen, sprengten wir mitten in den Menschenhaufen hinein, jagten ihn auseinander und sprangen dann aus dem Sattel.

„Dieser Platz ist gut“, sagte ich, „hier bleiben wir. Herunter mit dem Gepäck!“

„Oho!“ rief da eine Stimme hinter mir, „der tut ja, als ob er gar nicht Gefangener sei, sondern hier zu befehlen hätte!“

Ich drehte mich nach ihm um. Es war Herr Okih-tschin-tscha, genannt Antonius Paper. Neben ihm stand William Evening, der Agent für alles.

„Gefangener?“ fragte ich, indem ich, die Hände nach ihnen ausstreckend, auf sie zuging.

Da verschwanden sie schnell hinter den anderen. Ihre Stelle wurde sofort von Simon Bell und Edward Summer, den beiden Professoren, eingenommen. Der erstere machte eine gebieterische Handbewegung und sprach:

„Zurück mit Euch! Ich bitte, das Verhältnis zwischen uns und Euch nicht zu verkennen! Ihr seid arretiert!“

„Von wem?“

„Von uns! Ihr habt schon am Nugget-tsil gehört, daß Eure Gegenwart uns störend ist. Sie ist es auch noch heute!“

„Ah, wirklich?“

„Ja, wirklich!“

„Hm! Das ist doch nicht zu glauben!“

„Glaubt, was Ihr wollt, doch was ich sage, gilt: Ihr seid arretiert!“

„Das heißt doch wohl, wir werden von euch festgenommen und festgehalten?“

„Allerdings; das heißt es!“

„Also, wenn jemand Euch störend ist, so arretiert Ihr ihn, so haltet Ihr ihn fest! Sonderbar! Diese Art der Logik konnte ich von einem Professor der Philosophie wohl kaum erwarten!“

Da fuhr er mich an:

„Schweigt! Wir arretieren Euch nicht, weil uns Eure Gegenwart unangenehm ist, sondern weil Ihr es gewagt habt, Euch an einer Person unseres Komitees zu vergreifen! Das muß bestraft werden!“

„Hiebe bekommt er, Hiebe!“ rief Antonius Paper.

Da ballte Pappermann die Faust und drängte auf ihn zu. Dadurch bildete sich eine Lücke zwischen den uns umringenden Anwesenden, welche uns erlaubte, zwei Personen zu sehen, die sich dem Versammlungsort genähert hatten und auf die sich da abspielende Szene aufmerksam geworden waren. Sie trugen jetzt nicht europäische Kleidungsstücke, sondern indianische Anzüge. Trotzdem oder vielmehr grad darum erkannte ich sie sofort, nämlich Athabaska und Algongka, die beiden Häuptlinge aus dem Hotel am Niagarafall.

„Was tut man hier?“ fragte der erstere, indem er sich an Professor Bell wendete.

„Wir arretieren zwei gefährliche Tramps mit ihrer Squaw, die sich an Okih-tschin-tscha vergriffen und ihn in das Wasser geworfen haben. Es wird ein Präriegericht abzuhalten sein, um sie zu bestrafen. Wir bitten, an dieser Sitzung teilzunehmen.“

Er hatte im Tone großer Hochachtung gesprochen.

„Zeigt sie uns!“ gebot Algongka.

Man machte ihnen Platz, so daß sie uns sahen. Ja, das waren noch Häuptlinge von altem Schrot und Korn! Ihre Gesichter zeigten nicht die geringste Spur von Überraschung. Ganz so, als ob wir erst gestern Abend auseinandergegangen seien, so küßten sie dem Herzle die Hand, drückten mir die meinige und wendeten sich dann an die Professoren.

„Von Tramps ist hier keine Rede“, versicherte Athabaska. „Das sind Mistres und Mister Burton, die wir sehr achten und lieben. Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!“

„So richtig“, stimmte Algongka bei. „Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich! Howgh!“

„Aber dieser Burton hat mich in das Wasser geworfen!“ begehrte Antonius auf.

Athabaska mochte ihn schon kennen. Er fragte ihn in halb ironischem und halb geringschätzendem Tone:

„Solltet Ihr etwa ertrinken?“

„Ja, gewiß!“ antwortete er.

„Seid Ihr denn ertrunken?“

„Nein!“

„Mr. Burton tut gewiß nichts ohne Grund. Geht also hin und springt wieder hinein, und wenn Ihr dann ertrinkt, so seid Ihr quitt mit ihm!“

Her Okih-tschin-tscha war also abgetan. Professor Summer aber fühlte sich in seiner Würde als stellvertretender Vorsitzender gekränkt. Er als jetziger Theoretiker konnte sich dem Eindruck der kraftvollen Persönlichkeiten dieser beiden durch die schwere, praktische Lebensschule gegangenen Häuptlinge nicht entziehen. Sie imponierten ihm, und das war ihm wohl ärgerlich. Darum versuchte er, ihnen gegenüber seine Autorität geltend zu machen, indem er sich mit den Worten an sie wendete:

„Ich mache euch darauf aufmerksam, Meschschurs, daß es nach unseren Satzungen jedem Weißen verboten ist, sich am Mount Winnetou sehen zu lassen. Und diese Personen hier sind ja Weiße!“

Er sagte das in ziemlich scharfem Ton. Es klang ganz so, als ob hier schon gewisse Reibungen stattgefunden hätten, von denen wir noch nichts wußten.

Athabaska richtete sich in seiner ganzen Länge auf. Um seine Lippen spielte ein stolz ironisches Lächeln, als er mit der Frage antwortete:

„Darf ich fragen, von wem die Satzungen stammen?“

„Von uns, dem Komitee! Wir haben sie aufgestellt, und zwar aus guten, wohlerwogenen Gründen!“

„Und von wem stammt dieses Komitee? Wer hat es eingesetzt? Wer hat ihm die Macht erteilt, Gesetze zu geben und gewaltsam auszuführen? Könnt ihr euch auf die Autorität Gottes oder der Vereinigten Staaten berufen? Ihr seid ein Komitee von Old Surehands und Apanatschkas Gnaden, weiter nichts? Ihr habt euch selbst gewählt. Nun aber kommen wir, um diese Wahl und eure Satzungen zu prüfen!“

Er sprach ernst und stolz, fast wie ein König. Die beiden Professoren stachen von dieser seiner Größe ganz entschieden ab. Er warf einen Blick rundum und fuhr dann fort:

„Dies ist der Beratungsort, an dem sich das Schicksal der roten Nation entscheiden soll. Wer sind die Männer, die diese Entscheidung treffen? Ich sehe hier zwanzig Sitze. Fünf von ihnen sind sehr hoch, die anderen etwas niedriger. Für wen sind diese fünf?“

„Für uns, das Komitee.“

„Und die anderen?“

„Für die Häuptlinge, welche zu den Beratungen eingeladen werden.“

„Wie heißen sie?“

Er nannte die Namen, Athabaska und Algongka waren auch mit dabei, auch alle, die mir geschrieben hatten. Athabaska fuhr fort:

„Ich vermisse einen Häuptling, und zwar gerade denjenigen, dessen Namen ich am allerliebsten hörte, nämlich Old Shatterhand.“

„Er ist ein Weißer!“

„Wohl gar nicht mit eingeladen?“

„Doch! Wir haben ihn angewiesen, sich die Nummermarke für seinen Platz beim Schriftführer zu holen.“

„Und ihr meint, daß er dies tu? Was für Menschen ihr seid? Und das nennt sich ein Komitee! Ich sage euch, falls Old Shatterhand wirklich kommt, wird er sich den Platz nehmen, der ihm beliebt, nicht aber den, den ihr ihm bietet! Und wir beide, Athabaska und Algongka, verzichten überhaupt auf diese, von euch bestimmten Sitze. Wie kommt das Komitee dazu, sich höher zu setzen als die alten, berühmten Häuptlinge der eingeladenen Nationen? Wer hat Sie befugt, über unsern Sitzen sich Throne zu errichten? Macht Platz! Wir gehen. Wir gehören nicht hierher!“

Er nahm mich und meine Frau bei der Hand und schritt vorwärts. Die Roten wichen vor uns zurück. Gleich aber blieb er wieder stehen, wendete sich an die Professoren zurück und sagte:

„Es ist der größte aller Fehler, grad Bleichgesichter, die unsere Rasse lieben, von den Beratungen am Mount Winnetou auszuschließen. Kein Mensch steigt ohne die Hilfe anderer Menschen empor. So auch die Völker, die Nationen, die Rassen. Streicht euren steinernen Winnetou und euch so rot an, wie ihr wollt, Ihr werdet durch alle diese Räte es doch nicht verhüten, daß ihr dann gezwungen seid, über euer törichtes Werk noch tiefer als tief zu erröten!“

Dann wendete er sich zu mir:

„Ich kenne Eure Gesinnungen und Gefühle für das arme Volk der Indianer. Und dennoch bin ich überrascht, Euch hier zu sehen. Wißt Ihr, um was es sich hier handelt?“

„Ich vermute, daß man Winnetou ein gigantisches, steinernes oder ehernes Denkmal setzen will.“

„So ist es. Diese Idee geht von Old Surehand und Apanatschka aus, die ihre Söhne gern berühmt wissen wollen. Denn diese sind es, welche das Denkmal zu fertigen haben. Es wurde ein Komitee eingesetzt, diese Sache zu leiten. Es ergingen Einladungen an alle Stämme der roten Nation. Diese Angelegenheit wurde mit derselben Smartneß behandelt, wie man eine Eisenbahn- oder Oelgesellschaft gründet. Man begann sehr zeitig und sehr still. Man legte vor allen Dingen Beschlag auf die herrliche Gotteswelt, in der Ihr Euch hier befindet. Der Berg wurde Mount Winnetou genannt. Man will hier eine Stadt gründen, die Winnetou-City heißen soll und nur von Indianern bewohnt werden darf. Man pumpt in der Nähe schon Öl. Man hat den einen Wasserfall schon in Ketten geschlagen, um Elektrizität zu gewinnen. Dadurch ist mit der Zerstörung des herrlichen Landschaftsbildes und der Entweihung und Beschmutzung aller Ideale unseres großen Tatellah-Satah begonnen. Man fällt den Wald. Man zerstört ihn durch Steinbrüche, die man in den Felsen schlägt, um Material für den Kollossalbau des Denkmales und der Häuser zu gewinnen. Man will sogar das Wunder dieser Gegend, den herrlichen Schleierfall, vernichten, um Platz für Profangebäude zu gewinnen. Das wißt Ihr wahrscheinlich noch nicht. Ihr werdet es aber sehr bald erfahren, dies und noch viel mehr dazu.“

Er machte eine Pause, welche Algongka benutzte, einzufallen:

„Man gibt vor, durch dieses Denkrnalsprojekt alle roten Stämme vereinen zu können. Es ist aber gerade das Gegenteil, welches man erreicht. Man entzweit uns mehr und mehr, innerlich und äußerlich. Ihr seht das schon an dem Platz, der vor Euch liegt: hier die Unterstadt und dort die Oberstadt. Hier unten haben sich die Anhänger des Denkmalplanes festgesetzt; droben wohnen die Gegner desselben, zu denen auch wir gehören. Und hoch oben über uns allen grollt Tatellah-Satah und läßt sich vor niemand sehen. Seit man hier baut, ist er kein einziges Mal herabgekommen und hat auch keinem einzigen Menschen erlaubt, zu ihm hinaufzukommen. Er verkehrt nur mit den Winnetous, durch welche er mit der Menschenwelt in Verbindung steht. Auch wir sahen ihn noch nicht. Wir ließen ihm unsere Ankunft melden; er aber forderte Geduld, bis Einer gekommen sei, den er mit Schmerzen erwarte. Dann sei es Zeit für ihn, sein Haus zu verlassen und sich denen zu zeigen, die gleichen Gefühles und gleichen Willens mit ihm sind.“

„Wer mag der Eine sein?“ fragte das Herzle.

„Das wissen wir ebensowenig wie der Winnetou, der uns diese Botschaft brachte. Aber wir warten, und wir wünschen, daß der Betreffende bald kommen werde. Euer Ziel, Mr. Burton, ist uns unbekannt. Seit Ihr nur aus Zufall hier?“

„Nein,“ antwortete ich.

„So war es Eure Absicht, nach dem Mount Winnetou zu kommen?“

„Ja.“

„Und hier zu bleiben?“

„Und hier zu bleiben, bis die Verwicklungen behoben sind.“

„Wo werdet ihr wohnen? In der Unter- oder in der Oberstadt?“

„Droben bei Euch.“

„So bitten wir Euch, Euer Zelt in unserer unmittelbaren Nähe aufzuschlagen. Vielleicht erfahren wir dann auch, wenn es euch beliebt, wer euch, den Weißen, veranlaßt hat, Eurer Reise grad und genau nur dieses Ziel zu geben.“

„O, was das betrifft, so könnt Ihr das schon jetzt erfahren. Ich wurde eingeladen, herzukommen. Und außerdem wäre ich auch ohnedies nach dem Mount Winnetou geritten, weil Ihr so viel und so interessant nicht nur von diesem Berge spracht, sondern auch von den Plänen, welche hier zur Ausführung kommen sollen.“

„Wir? Wir beide?“ fragte er.

„Ja, ihr beide.“

„Wann und wo?“

„Im Clifton-Hotel, am Niagarafall.“

„Dort? Ja, da haben wir Euch zwar kennen und sehr, sehr schätzen gelernt, aber doch nicht von dem Mount Winnetou gesprochen!“

„Ja, nicht mit mir, aber doch miteinander! Ich hörte zu, denn ich saß am nächsten Tisch.“

„Uff, uff!“ rief er aus.

„Uff, uff!“ rief auch Athabaska. „Wir unterhielten uns in der Sprache der Apatschen. Wir waren überzeugt, daß dort niemand sie versteht. Ihr aber verstandet uns doch?“

Ich wollte antworten; da aber ertönten von der Oberstadt her laute Rufe. Es ging durch die Zeltgassen eine Bewegung, die uns näher kam. Man eilte nach allen Seiten, um eine Botschaft zu verbreiten. Nicht mehr lange, so verstanden wir, was man sich sagte.

„Tatellah-Satah kommt! Tatellah-Satah kommt!“ rief man einander zu.

„Ist es möglich?“ fragte Algongka.

„Ist es wahr?“ erkundigte sich Athabaska. „Dann müßte ja der hier eingetroffen sein, auf den er wartet! Wer ist das? Wer hat ihn gesehen?“

Und da erschienen zwei Reiter oder vielmehr zwei Reiterinnen, die aus der Oberstadt im Galopp herabgeritten kamen. Sie überflogen mit ihren Blicken die Unterstadt, sahen den Menschenhaufen, den wir bildeten, und lenkten ihre Pferde auf uns zu. Es waren die beiden Aschtas, Mutter und Tochter.

Bei uns angekommen, sprangen sie von ihren Pferden, eilten, ohne eine andere Person anzusehen, auf uns zu und begrüßten uns mit rührender, mir beinahe unverständlicher Freude. Aber das Verständnis kam mir sofort, als die Mutter ihrem Gruß die Worte hinzufügte:

„Nun sind wir erlöst; nun sind wir erlöst! Und zwar durch Euch, Mr. Burton!“

„Erlöst? Durch mich?“ fragte ich.

„ja, durch Euch! Denn nun ist das Warten zu Ende, und Tatellah-Satah wird mit Taten beginnen, mit Taten! Der junge Adler kam hier an und ritt sofort zu ihm hinauf, um Euch zu melden. Vom Wachtturm aus wurde ausgeschaut und, als ihr kamt, das Zeichen herabgegeben. Nun verläßt der größte Medizinmann aller roten Völker zum erstenmal seit langer Zeit sein hohes Felsenschloß, um Euch entgegen zu kommen. Wir sind so froh, so froh!“

Sie drückte mir wieder und wieder die Hand und küßte dann das Herzle. Dann bekam auch unser alter, braver Pappermann den ihm gebührenden Teil des herzlichen Willkomms. So sehr Athabaska und Algongka ihre Gesichtszüge in der Gewalt hatten, jetzt konnten sie doch ihr Erstaunen nicht verbergen; aber sie fanden keine Zeit, es in Worten auszudrücken, denn es nahte sich von der Oberstadt her ein Reiterzug, der unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Voran ritt der „junge Adler“. Dann folgte in zwei Abteilungen die Leibgarde des Medizinmannes, auf kohlschwarzen Rossen, deren Schabracken aus den Fellen von Silberlöwen bestanden. Die Reiter waren auserlesene junge Leute, alle genauso gekleidet wie einst Winnetou sich zu kleiden pflegte, nicht mit Lanzen und Flinten bewaffnet, sondern nur mit Messer und Revolver im Gürtel und den Lasso in Schlingen von der Schulter zur Hüfte herab. Ein jeder trug das Zeichen des Winnetou auf der Brust. Als sie in unsere Nähe gelangten, lenkte der „junge Adler“ zu uns herüber, deutete auf unsere Gruppe und hielt dann an. Auch alle anderen hielten. Ihre Reihen lösten sich, und aus ihrer Mitte ritt der Gebieter hervor, langsam auf uns zu, fast bis zu uns heran, parierte da sein Tier und überflog uns mit prüfendem Blick.

Er wurde von einem herrlichen, schneeweißen Maultier getragen, dessen Mähne in langgeflochtenen Zöpfen fast bis zur Erde niederhing. Die Schabracke bestand aus jenem unvergleichlichen altindianisehen Federgeflecht, von dem jeder Quadratdezimeter ein ganzes Vermögen kostet. Die Bügel waren von purem Gold, inkaperuanisch ziseliert. Ein Mantel hüllte ihn ein, so daß man den Anzug, den er darunter trug, nicht sah. Dieser Mantel war von blauer Farbe, aber von einem Blau, wie ich noch niemals eines gesehen habe und wahrscheinlich auch keines wieder sehen werde. Der Stoff war außerordentlich fein, wie allerfeinste, indische Seide, aber dennoch keine Seide, sondern von jenem längst verschwundenen sagenhaften Gewebe, von dem man erzählt, daß nur die Frauen der alten, südamerikanischen Herrscher es herzustellen verstanden. Sein Kopf war unbedeckt, und dennoch aber wohlbedeckt, und zwar von einem außerordentlich reichen, starken, silberglänzenden Haar, welches zu beiden Seiten in langen Zöpfen bis auf die Steigbügel niederfiel.

„Marah Durimeh!“ flüsterte das Herzle mir zu.

Sie hatte recht. Genauso trug auch meine alte, herrliche, meinen Lesern wohlbekannte Marah Durimeh ihr Haar. Auch seine Gesichtszüge waren den ihren derart ähnlich, daß es mich beinahe erstaunte. Vor allem die Augen, diese großen, weit offenen, unerforschlichen, selbst aber alles erforschenden Augen, in denen der Ausdruck einer unerbittlichen Strenge und doch auch wieder einer heiligen Güte lag, die alles verstehen und alles verzeihen konnte. Und als er zu sprechen begann, erschrak ich fast. Es überlief mich kalt. Seine Stimme war unbedingt die Marah Durimehs, so voll, so tief, so wirkungsstark, ein klein wenig männlicher gefärbt, aber doch genau dieselbe!

„Wer von euch ist Old Shatterhand?“ fragte er, indem sein Blick uns prüfte.

Bei seinem Erscheinen war jedermann verstummt, so tief wirkte seine geheimnisvolle, unwiderstehliche Persönlichkeit. Als er aber diesen Namen nannte, flüsterte es rund um mich her:

„Old Shatterhand? Old Shatterhand? Ist doch nicht hier! Kann unmöglich hier sein! Oder doch, oder doch?“

„Ich bin es“, antwortete ich, indem ich hervortrat und langsam auf ihn zuschnitt.

Eine Sekunde lang war es, als ob sein Blick mich umfassen und verbrennen wolle, dann schwang er sich mit jugendlicher Leichtigkeit aus dem Sattel, um mir einige Schritte entgegenzukommen und dann meine Hände zu fassen. So standen wir nun voreinander, ernst, unendlich ernst, und doch mit inniger Freude. Auge in Auge. Fest ineinandergetaucht. Uns beide der Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblickes voll und ganz bewußt. Da begann er wieder zu sprechen:

„Man sagte mir, du seist ein Greis geworden. Du bist keiner! Das Menschenleid kann zur Matrone werden, doch nie die Menschenliebe, die uns vereint, obgleich ich dich seit kurzem erst verstehe. Ich heiße dich willkommen!“

Er küßte mich, drückte mich an sich und küßte mich wieder und wieder. Dann ergriff er meine Hand und wendete sich an die Schar der Anwesenden:

„Ich kenne euch nicht. Ich bin Tatellah-Satah, und hier an meiner Seite steht Old Shatterhand. Aber irrt euch nicht in uns! Wir sind nicht nur das, sondern wir sind mehr. Ich bin die Sehnsucht der roten Völker, welche, nach Osten schauend, auf Erlösung warten. Und er ist der anbrechende Tag, der über Länder und Meere wandert, um uns die Zukunft zu bringen. So soll ein jeder Mensch zugleich auch die Menschheit bedeuten, und was ihr hier an meinem Berg tut, mag es recht oder unrecht sein, das tut ihr nicht für euch und nicht für den heutigen Tag, sondern für Jahrhunderte und Jahrtausende und für die Völker aller Erdenländer!“

Und das Wort nun wieder an mich richtend, fuhr er fort:

„Steig auf dein Pferd und folge mir! Du bist mein Gast! Der liebste, den ich kenne! Was mein ist, sei auch dein!“

„Ich bin nicht allein,“ antwortete ich.

„Ich weiß es. Es wurde mir vom Nugget-tsil gemeldet. Bring mir die Squaw, von der meine Späher sagen, sie sei wie Sonnenschein! Bring mir ihr Pferd! Und bring mir auch den alten, treuen Jäger!“

Ich holte das Herzle. Es war ihr, als müsse sie vor ihm niederknien und ihm die Hände küssen. Er aber zog sie an sich und sprach:

„Noch nie berührten meine Lippen ein Weib. Du sollst die erste sein, die erste und die letzte, die einzige!“

Er küßte sie auf die Stirn und auf die Wangen. Dann bat er:

„Steig auf! Ich hebe dich!“

Pappermann hatte ihr Pferd gebracht. Der „Bewahrer der großen Medizin“ faltete seine Hände zum Bügel. Das Herzle trat hinein und wurde von ihm in den Sattel geschwungen. Hierauf bekam auch Pappermann einen gütigen Händedruck und den Befehl, sich mit dem Gepäck uns anzuschließen. Bevor Tatellah-Satah selbst wieder aufstieg, hielt ich es für geraten, ihm zunächst unsere Freundinnen, die beiden Aschtas, und dann auch Athabaska und Algongka vorzustellen. Er gewann sich ihre Herzen sofort durch die Art und Weise, in der er das entgegennahm. Dann schwang er sich wieder auf sein Maultier und geleitete uns zu seinen Trabanten, welche mit uns in derselben Ordnung davonritten, in der sie gekommen waren: Voran der „junge Adler“, dann die Hälfte der Winnetous, hierauf Tatellah-Satah mit dem Herzle und mir, hinter uns Pappermann mit den Gepäckmaultieren und dann die andere Hälfte der Leibgarde. So ging es aus der Unterstadt hinauf in die Oberstadt und dann dem Innental zu, welches ich als Portal des Mount Winnetou bezeichnet habe. überall, wo wir vorüberkamen, standen rechts und links die Indianer, um ihrem größten und berühmtesten Forscher und Gelehrten in ihrer stillen und doch so laut sprechenden Art und Weise ihre Hochachtung und Huldigung darzubringen. Es war als ob ein König oder ein Heiliger an ihnen vorüberziehe, nach ihrer Anschauung vielleicht beides zugleich. Das Herzle war sehr bleich, war tief ergriffen, und mir ging es nicht anders.

Als wir die von Zelten besetzte Vorebene des Mount Winnetou hinter uns hatten, öffnete sich die kompakte Masse des Vorderberges zu einem hohen, breiten Felsentor, durch welches wir das in das Innere des Berges führende Tal betraten. Die Wände dieses Tales stiegen hoch an; sie waren bewaldet.

„Bevor wir hinauf zum Schlosse reiten, führe ich euch zu meinem Wunder“, sagte Tatellah-Satah. „Ich meine den Schleierfall, den es nur hier, sonst nirgends gibt. Ihr werdet vorher noch anderes sehen, nämlich das berühmte Ohr des Teufels, dessen Zweck man nicht mehr kennt, und das Modell zur Winnetoustatue, an welchem Young Surehand und Young Apanatschka arbeiten.“

Ich antwortete nicht; ich blieb still. Ich tat, als ob mich dieses Ohr des Teufels gar nicht interessiere. Bekanntlich hatten wir den alten Kiktahan Schonka und seinen Verbündeten Ttisahga Saritsch in der Bergellipse kennengelernt, welche den Namen Tscha Manitou, Ohr Gottes, führt. Wir erfuhren dort, daß es eine zweite, derartige Ellipse gibt, die man Tscha Kehtikeh, das Ohr des Teufels, nennt. War damit der Ort gemeint, von dem der Medizinmann jetzt sprach? Das Herzle schaut mich an. Sie war der Meinung, daß es meine Pflicht sei, mich über diesen Gegenstand zu äußern. Ich aber schüttelte leise den Kopf. Als der Junge Adler an der Devils pulpit von dem Ohr Gottes und dem Ohr des Teufels sprach, hatte er gesagt, daß er das Geheimnis dieser beiden Orte von Tatellah-Satah zu erfahren hoffe; ich aber war der Meinung gewesen, daß der Medizinmann selbst noch nicht alles wisse. Darum hielt ich es für richtiger, nicht eher hierüber zu sprechen, als bis ich erfahren hatte, wie weit seine Kenntnis dieses Gegenstandes reiche.

Der Boden, auf dem wir ritten, glich keineswegs einem Wildnispfad, sondern einer alten, jämmerlich ab- und ausgefahrenen deutschen Dorf straße, auf welcher schwere Lastwagen verkehren. Es gab tief eingeschnittene Wagengeleise und Pferdespuren, die darauf schließen ließen, daß die hier transportierten Lasten nicht ohne Tierquälerei bewegt worden waren. Das Herzle konnte nicht umhin, eine bedauernde Bemerkung hierüber zu machen. Ich antwortete. Tatellah-Satah war still. Aber seine Brauen zogen sich zusammen, und sein Gesicht legte sich in strenge Züge.

Dieser Fahrweg führte bergan, doch so langsam, daß man es kaum bemerkte. Bald zweigte links ein breiter Reitweg ab, der schneller zur Höhe stieg.

„Unser Weg hinauf zum Schlosse“, erklärt der Alte. „Wir aber bleiben jetzt noch unten; wir reiten weiter.“

Nach vielleicht einer Viertelstunde mündete das Tal ganz plötzlich auf einen freien Platz, der schmal begann, aber nach und nach immer breiter und breiter wurde. Mit dieser Breite wuchs die Steilheit der Felsen. Diese letzteren zeigten zu beiden Seiten unseres Weges je einen nicht genau kreisförmigen Einschnitt. Beide Einschnitte lagen einander gegenüber. Sie bildeten riesige Felsennischen, zur rechten und linken Seite des Platzes gelegen. Es fiel mir auf, daß die eine so tief und breit und auch genauso abgerundet wie die andere war. Ich gewann den Eindruck, daß zwar die Natur die Bildnerin gewesen war, daß aber die Menschenhand nachgeholfen hatte, und zwar vor mehreren Tausenden von Jahren. Daß diese Menschenarbeit nicht nur einen besonderen Zweck, sondern auch einen tieferen Sinn gehabt hatte, verstand sich ganz von selbst. Ich hatte sogleich meine eigenen Gedanken hierüber, zumal mir ein Umstand in die Augen fiel, der mich sofort an die Devils pulpit erinnerte, wo wir die Beratung der Utahs und der Sioux belauscht hatten. Nämlich im vorderen Teil der beiden Nischen bestand der Boden aus sehr fest zusammengefügten Steinplatten, die keine Vegetation aufkommen ließen. Und über diese Platten erhob sich in beiden Nischen ein kanzelartiger Felsen, der einer kleinen, früheren Insel glich und Stufen hatte. Das gemahnte direkt an jene Beratungskanzel, auf deren Stufen ich die kleinen Hundepfötchen gefunden hatte, welche einen Teil der Medizin des alten Kiktahan Schonka bildeten. Der hintere Teil beider Nischen aber war derart mit Gestrüpp, Gesträuch und Bäumen besetzt, daß man sich hinter diesen Büschen leicht eine zweite Kanzel denken konnte, ähnlich derjenigen, auf welcher der Bär sein Lager aufgeschlagen hatte und von uns erlegt worden war. Wenn man nicht tiefer dachte, konnte man also sehr wohl auf den Gedanken kommen, daß jede dieser Nischen eine Wiederholung des ellipsenförmigen Talkessels bedeute, der uns als die Devils pulpit bekannt geworden war. Ich sage mit Absicht, „wenn man nicht tiefer dachte“, denn ich hatte große Lust, diesen Vergleich nicht für einen tief sinnigen, sondern für einen oberflächlichen zu halten, fand aber keine Zeit, weiter nachzudenken, weil Tatellah-Satah jetzt das Schweigen unterbrach, indem er, nach rechts und links deutend, sagte:

„Das sind die Ohren des Teufels, auf dieser Seite eines und auf der anderen Seite eines. Hast du schon einmal von ihnen gehört?“

„Nicht von zweien, sondern nur von einem“, antwortete ich.

„In Wirklichkeit ist auch nur ein einziges da; denn das eine ist richtig, und das andere ist falsch. Aber welches das richtige und welches das falsche ist, das weiß man bis heute noch nicht.“

„Aber früher hat man es gewußt?“

„Ja. Dieses Wissen ist aber wieder verlorengegangen. Ich gab mir alle Mühe, es zurückzufinden, doch leider ohne Erfolg. Es gibt zwei Teufelskanzeln, die eine hier, die andere droben in Colorado. Die dortige ist das Ohr Gottes; die hiesige ist das Ohr des Teufels. Ich werde dir erzählen, was diese Namen bedeuten, doch nicht jetzt, sondern später.“

Wir ritten weiter.

Der Platz, auf dem wir uns befanden, war bis jetzt noch von über tausendjährigen, breitwipfeligen Laubbäumen besetzt gewesen, die uns die Aussicht benahmen, doch als wir an ihnen vorüber waren, wurde der Blick in die Ferne frei, und wir hielten unsere Pferde an, denn das, was wir sahen, fesselte uns sofort und derartig, daß es uns innerlich und äußerlich ganz in Anspruch nahm.

„Das ist das Wunder; von dem ich sprach, der Schleierfall“, sagte der Medizinmann, indem er vorwärts deutete.

Wir konnten den hohen, hinteren Teil des breiten Platzes übersehen. Da oben, aber für uns unsichtbar, weil wir uns in der Tiefe befanden, lag der bereits erwähnte „Geheimnis- oder Medizinensee“. Von ihm aus warf sich die Höhe so steil zu uns herab, daß ihre Bewegung eine genau senkrechte war, und zwar in ihrer ganzen Breite. Ich habe schon erwähnt, daß dieser See zwei Wasserfälle speiste, welche zu beiden Seiten des Mount Winnetou niederfielen, um den „Weißen Fluß“ zu bilden. Aber in diesen Katarakten entfernte er nicht das ganze Wasser, welches ihm überflüssig war, sondern es gab noch einen dritten Weg, sich von ihm zu befreien, nämlich eben durch den Schleierfall. Während der See nach außen die beiden schmalen Fälle speiste, lief er nach innen in breitester Weise über, von einer bis zur anderen Seite des Platzes, auf dem wir uns unten befanden. Die Linie, auf der er dies tat, war vollständig gerad und vollständig horizontal, so daß das Wasser gleichmäßig verteilt, glatt und eben, wie ein polierter Spiegel, in das Tal herniederstürzte.

Dieser Spiegel war gewiß fünfzig Meter hoch. Seine Glätte wurde keinem einzigen Punkt getrübt und sein Zusammenhang um keinen Zentimeter unterbrochen. Und da er die ganze Breite des Innentales einnahm, so kann man sich wohl denken, was für einen tiefen, tiefen Eindruck er machte! Es war jetzt kurz nach Mittag. Die Sonne stand hoch. Ihre Strahlen fielen schräg auf den Wasserspiegel und wurden von ihm derart gebrochen und zurückgegeben, daß es schien, als ob er nicht aus Wasser, sondern aus flüssigem Gold, Silber und Kupfer und aus fallenden Strömen von Diamanten, Rubinen, Saphiren, Smaragden, Topasen und anderen Edelsteinen bestehe. Das erschien allerdings wie ein Wunder! Noch wunderbarer aber war, daß dieser Fall unten nicht etwa einen See oder eine andere, derartige Wasseransammlung bildete, sondern sofort und restlos in der Erde verschwand.

„Wo sieht man dieses Wasser wieder?“ fragte ich Tatellah-Satah.

„Im Tal der Höhle, fünf Reitstunden weit von hier“, antwortete er.

Das war mir sehr interessant, denn dieses Tal der Höhle war ja der Ort, an dem Kiktahan Schonka mit seinen Verbündeten sich verstecken wollte. Tatellah-Satah fuhr fort:

„Um diese Tageszeit ist der Fall wie von Gold und Edelsteinen gewebt, nicht aber ein Schleierfall. Doch schaut ihn Euch später an! Des Abends oder des Nachts, im Dunkel, im Halbdunkel, im Mondschein, im Sternenschein, im vereinigten Mond- und Sternenschein! Da ist es, als ob man sich auf einem anderen Stern, in einer anderen Welt befinde, nicht aber auf dieser Erde, der nichts mehr heilig gilt!“

Er deutete dabei auf ein im Entstehen begriffenes Bauwerk, welches in kurzer Entfernung vor dem Wasserfall aus der Erde und derart zum Himmel strebte, als ob ihm die Aufgabe gestellt sei, dieses Wunder zu entweihen. Es bestand jetzt aus einem ungeheuer schweren, massigen Postamente von zehn übereinander liegenden Riesenstufen, die so breit und so hoch waren, daß ihr Gewicht viele Tausende von Zentnern betrug und jedenfalls darauf berechnet war, ungeheure Lasten zu tragen. Auf diesem Piedestal erhoben sich zwei Balkengerüste, mit deren Hilfe an dem unteren Teil einer Kolossalstatue gearbeitet worden war. Das eine Bein war bis zum Knie, das andere bereits bis zur Hälfte des Oberschenkels entwickelt. Man sah deutlich, daß die Figur eine indianische Reithose und Mokassins tragen sollte.

„Welch eine Sünde!“ klagte das Herzle. „So ein formloses Menschenwerk grad vor so ein Gotteswunder zu stellen! Wer ist der Mann, der das ersonnen hat?“

„Es ist nicht einer, sondern es sind vier!“ antwortete Tatellah-Satah. „Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne!“

„Was? Wie?“ rief ich aus. „Soll diese Figur hier etwa Winnetou werden?“

Der Medizinmann nickte nur.

„Unmöglich! Hierher!? Ich denke, man will ihn auf die Höhe des Berges stellen!“

Seit wir uns in diesem Tal befanden, waren wir nicht mehr in der Mitte, sondern an der Spitze der Trabanten geritten. Der „junge Adler“ befand sich also bei uns. Er antwortete:

„Das ist richtig. Die endgültige Figur soll auf den hohen Bergesvorsprung, den ich Euch noch zeigen werde. Das Modell steht in der Unterstadt- in einem besonderen Gebäude. Dieses hier soll der Probeversuch sein. Von ihrem Gelingen hängt es ab, ob der Plan auszufahren ist oder nicht. Zu so einem Kolossalwerk sind auch kolossale Mittel nötig. Um diese Mittel zusammenzubekommen, muß man die Geber für das Werk begeistern. Darum hat man gerade diesen Platz für die Probestatue gewählt. Old Surehand und Apanatschka bauen sie aus ihren eigenen Mitteln. Die Mittel zur Ausführung des eigentlichen Werkes erwartet man von der roten Nation. Um diese zu begeistern, ist der Platz hier am Schleierfall am geeignetsten. Da soll die Statue vorgeführt werden. Da soll sie beleuchtet werden, des Nachts, mit Elektrizität, mit Lampions und künstlichem Feuerwerk. Man rechnet dabei auf die jedenfalls großartige, überwältigende Mitwirkung des Schleierfalles.“

„Und das duldet Ihr?“ fragte das Herzle, das außerordentlich kunstempfindlich ist und sich durch diesen Plan wie innerlich verwundet fühlte.

„Ich nicht!“ antwortete Tatellah-Satah, indem er wie schwörend die Hand erhob. „Doch stand ich allein. Ich konnte nur vorbereiten und mußte warten. Nun aber der gekommen ist, auf den ich hoffte, gebe ich ihm dieselbe Frage: Und das duldest du?“

Er richtete sie an mich. Da stieg etwas ganz Eigentümliches, etwas Unbeschreibliches in mir auf.

„Habe ich Einfluß auf dein Volk, auf deine Rasse?“ fragte ich ihn. „Nein!“

„Nein?“ fragte er. „Und hättest du ihn nicht, so bist du doch, der du bist. Ich brauche dein Auge; ich brauche dein Ohr; ich brauche deine Hand; ich brauche dein Herz. Wenn du mir das gibst, so werde ich siegen!“

Da reichte ich ihm die Hand und antwortete:

„Hier Auge und Ohr, hier Hand und Herz. Ich bin dein!“

Da drückte er mir die Hand, daß es mich fast schmerzte, und sprach:

„So heiße ich dich zum zweiten und zum höchsten Male willkommen! Du sollst mein Gast sein, wie noch niemand mein Gast gewesen ist – – –“

Schnell unterbrach ich ihn:

„Laß mich dein Gast sein, wie ich es wünsche, anders nicht!“

„Und was wünschest du?“

„Ein freier Mann zu sein, kommen und gehen zu dürfen, ohne gehindert zu werden. Vertrauen bei dir zu finden, so wie du dir selbst vertraust!“

„So sei es! Du bist dein eigener Herr, und alles, was ich habe, ist dein!“

Da kam es wieder über mich wie vorhin. Ich deutete auf das schwer lastende Bauwerk und sprach:

„So sage ich dir: Eher werden diese Quadern von selbst in der Erde verschwinden, auf die man sie gegründet hat, als daß man meinen Winnetou mit Lampions und Feuerwerk beschimpft! Doch versuchen wir es zunächst in Liebe!“

„Ja, zunächst in Liebe“, stimmte er bei. „Kommt, kehren wir um; wir sind hier fertig!“

Wir ritten den Weg, den wir gekommen waren, zurück, bis wir die Stelle erreichten, an welcher der Reitpfad zur Seite ab hinauf nach dem Schloß führte. Dem folgten wir. Unterwegs erfuhren wir von dem „jungen Adler“, daß der Platz am Schleierfall jetzt regelmäßig von Arbeitern wimmelte und heute nur deshalb so leer und einsam gewesen sei, weil alle Kräfte nach den Steinbrüchen mußten, um neue Quadern zu holen. Das Herzle war sehr ernst und nachdenklich geworden. Sie sah, daß ich sie daraufhin beobachtete und wohl gern den Grund erfahren hätte; darum sagte sie, ohne diese meine Frage abzuwarten:

„Dein Wort, daß diese Quadern wohl eher in die Erde verschwinden werden, als daß du Lampions und Feuerwerk duldest, hat sich wie ein Gewicht auf mich gelegt. Es kommt bei dir so häufig vor, daß das, was du sagst, in Erfüllung geht, selbst wenn andere es für vollständig unmöglich halten. Zuweilen ist diese Erfüllung eine geradezu wörtliche. Und als du vorhin sprachst, hatte ich das Gefühl, als ob das, was du sagtest, eine solche Prophezeiung sei, aus dir selbst herausgestiegen, ohne alle Ahnung, woher es kommt.“

„Und das bedrückt dich nun?“ fragte ich.

„Bedrücken? Nein! Es hebt mich ganz im Gegenteil innerlich empor. Es macht mich fest. Es ist mir, als ob ich ein unerbittliches Schicksal nahen höre, welches uns zu Hilfe kommt. Das macht mich still und sinnend.“

Während dieses kurzen Redewechsels hatten wir eine Stelle des Weges erreicht, von welcher aus man frei nach der Spitze des Vorberges zu schauen vermochte. Da hielt Tatellah-Satah sein Maultier an, deutete empor und fragte:

„Seht ihr innerhalb der südlichsten Felsennadel das riesige Adlernest, welches für Menschen nicht erreichbar scheint?“

Wir sahen es. Der Medizinmann fuhr fort:

„Da hinauf stieg der junge Adler, als er noch Knabe war. Er wollte sich aus dem Horst des großen Kriegsadlers seinen Namen und seine Medizin holen. Aber der Riemen zerriß, an dem er hing. Er stürzte in das Nest und konnte nicht wieder hinauf. Er tötete die zwei jungen. Da kam die Alte. Er kämpfte mit ihr und zwang sie, ihn aus jener fürchterlichen Höhe herunter in das Tal zu tragen. Nun sind ihre Federn, ihre Krallen und ihr Schnabel sein Schmuck, die Krallen und Schnäbel der jungen aber seine Medizin. Er wird seitdem der junge Adler genannt. Ich aber bin sein Pate, denn als er mit der Adlern geflogen kam, saß ich vor meiner Tür, und er landete gerade vor meinen Füßen.“

Das klang wie ein Märchen oder gar wie eine Münchhauseniade, und doch war es wahr; das verstand sich ganz von selbst, Der „junge Adler“ hatte es nicht gehört; er war weiter fortgeritten und wir folgten ihm, ohne daß ich den Alten bat, uns den Vorgang ausführlicher zu erzählen. Dem Herzle aber sah ich es an, daß sie entschlossen war, es sobald wie möglich zu hören und sich zu diesem Zweck an den jungen Mann selbst zu wenden.

Der Reitweg führte in zahlreichen Windungen so weit an der Innenseite des Berges empor, bis die Höhe des „Schlosses“ erreicht worden war. Dann wendete er sich nach der vorderen, also nach der östlichen Seite des Mount Winnetou, von welcher aus, als wir sie erreichten, wir die Ober- und die Unterstadt in der Tiefe vor uns liegen sahen. Von da unten war der „junge Adler“ hier heraufgeritten, um Tatellah-Satah unsere Ankunft zu melden. Hoch über uns sahen wir den Wachtturm ragen. Der „Bewahrer der großen Medizin“ deutete da hinauf und sagte zu dem „jungen Adler“:

„Da oben wirst du wohnen. Jetzt aber kommst du mit uns, die Pfeife des Friedens und der Gastlichkeit zu rauchen.“

Das „Schloß“ bestand nicht etwa aus nur einem oder nur einigen Gebäuden. Es bildete eine Felsenstadt für sich. Die Jahrhunderte und Jahrtausende hatten an ihr gebaut. Darum waren alle amerikanischen Bauarten und Baustile hier vertreten, von dem erstbewohnten Felsenloch und der ersten Kordillerenhütte bis zur altperuanischen Festung, zum altmexikanischen Versammlungshaus und zum steinernen Wigwam nördlicher Gegenden. Es gab da gewaltige Felsen- und Adobeswerke nach Art der Pueblostämme. Die wurden, wie ich dann später sah, als Vorratshäuser benutzt, in denen seit undenklichen Zeiten große Mengen von Getreide und getrockneten Nahrungsmitteln aufbewahrt wurden, ohne verderben zu können. Da ragten Mauern, die aus noch größeren Riesensteinen bestanden, als ich z. B. in Baalbek und anderen berühmten orientalischen Orten gesehen hatte. Wir ritten an allen möglichen indianischen Zelten, Hütten, Häusern, Palästen, Balkonen, Veranden, Dächern, Tennen, Scheunen und Schuppen vorüber, die sich wie ein langgestrecktes, festes Mauerband um die Höhe des Berges legten und als steinerne Größe aus uralter Zeit hinunter in die Tiefe schauten, wo in der Ober- und Unterstadt das kleine Volk der Gegenwart sich mit allen Kräften dagegen wehrte, endlich einmal größer werden zu sollen. Aber so aufrichtig ich die rote Rasse liebe und so gern ich nur Gutes, Edles und Großes von ihr berichten möchte, so muß ich doch der Wahrheit die Ehre geben und darum offen bekennen, daß alle diese Bauwerke trotz ihrer teilweisen Riesenhaftigkeit mir doch so niedrig und so geistesabwesend vorkamen, daß sie mir weder imponieren noch mich erfreuen konnten. Sie machten alle einen so – so – – indianischen Eindruck auf mich. Es war nichts an ihnen, was zum Himmel strebte. Wir sahen so wenig Fenster. Es gab kein Verlangen nach freier, gesunder Luft, nach Licht und Tageshelle. Und es gab unter allen diesen Gebäuden kein einziges, welches gleich einer Kirche oder einer Moschee empor zur Höhe strebte. Hiervon bildete der Wachtturm die einzige Ausnahme; aber sein Zweck wies doch auch nur nach unten, nicht nach oben. Er war zur Beherrschung der Tiefe da, nicht aber als Fingerzeig für ein geistiges Aufwärtsstreben.

Diese Beobachtung tat mir weh. Und dem Herzle auch; das sah ich ihr an. Sie empfindet viel zarter, viel feiner als ich. Ihre Seele steht dem Leid des Erden- und des Menschenlebens viel offener als die meine. Und hier lag das ungeheure Leid einer ganzen, großen, fast untergegangenen Rasse in untrüglichen, steinernen Beweisen vor unsern Augen! Selbst der Wachtturm hatte nicht eigentlich Turmesgestalt, sondern er bildete ein niedriges, vierseitiges Prisma mit vollständig ebener Dachfläche. Die Indianer haben keine Türme, keine Minareh. Sie haben die Winke ihrer Riesenbäume nicht verstanden; sie haben keine Dome gebaut. So sind sie auch geistig an der Erde geblieben. Sie sahen den Vogel fliegen. Der Adler stand ihnen hoch. Ihr stolzester Schmuck bestand aus seinen Federn. Aber es ihm nachzutun und sich über den Boden zu erheben, dieser Gedanke bewegte sie nicht. Fliegen lernen! Fliegen lernen! Wer das nicht will, bleibt unten, sei er Volk oder sei er Person. Die andern überholen ihn. Er aber kriecht auf der Erde weiter und wird in ihr so ganz und gar verschwinden, daß von ihm kaum ein Gedächtnis übrigbleibt. Das ist das Schicksal des Indianers, wenn er nicht im letzten Augenblick noch fliegen lernt.

Dieser Eindruck des Felsenschlosses wurde dadurch gemildert, das es wohlbevölkert war. überall standen Leute, auf den Zinnen, auf den Dächern, an den Luken, vor den Taren, auf den Gassen; Männer, Frauen und Kinder. Die Männer genau wie Winnetou gekleidet, mit dem Sterne auf der Brust, auch die Frauen außerordentlich sauber und intelligenten Auges, die Kinder ebenso. Nirgends die indolenten Papusengesichter, denen man anderwärts begegnet. Und auch nirgends auf den Gesichtern der Ausdruck der stummen Klage oder jenes nationalen Trübsinns, der auf jede Freude und auf alles Glück verzichtet zu haben scheint. Ich sah nur intelligente Züge, nur heitere Mienen. Man freute sich. Man lachte. Tatellah-Satah wurde mit tiefen Verneigungen und respektvollen Handbewegungen begrüßt. Man widmete ihm die größte, die aufrichtigste Ehrfurcht, und – man liebte ihn. Mit größter Wißbegier waren die Augen auf mich und das Herzle gerichtet. Man wußte, wer es war, den der „Bewahrer der großen Medizin“ in eigener Person abgeholt hatte. Man nannte meinen Namen; man rief ihn mir jubelnd zu; denn man wußte, daß nun die so lange hinausgeschobene Aktion beginnen werde.

„Und das ist seine Squaw – – seine Squaw – – – seine Squaw!“ hörte ich sagen.

Ich erwähne, daß das Wort „Squaw“ nicht etwa einen unterschätzenden Beigeschmack besitzt. Es gibt Romanschriftsteller, welche die Indianerfrauen als rechtlos, als die Sklavinnen ihrer Männer schildern. Das ist grundfalsch. In Wahrheit hat es schon Indianerfrauen gegeben, welche Häuptlinge gewesen sind. Die Stellung der Frau wird besonders auch dadurch erhöht, daß die Erbfolge sich gewöhnlich in weiblicher Linie vollzieht. Dem Verstorbenen folgt nicht sein eigener Sohn, sondern der Sohn seiner Schwester. Es war also keineswegs etwas Ungewöhnliches, daß man dem Herzle dieselbe Aufmerksamkeit schenkte wie mir.

Wir ritten durch das breite, sehr tiefe Tor eines sich lang ausstreckenden Gebäudes, dessen Außenmauer durch schmale, schießschartenförmige, aber sehr hohe Oeffnungen unterbrochen wurde. Jede dieser Oeffnungen führte auf einen steinernen Balkon, von welchem aus man die ganze Vorebene des Mount Winnetou überblicken konnte. Durch dieses Tor gelangten wir in einen sehr geräumigen Hof, in welchem uns ein zweites, ähnliches Gebäude gegenüberstand. Auch dieses hatte ein Tor, welches in einen zweiten Hof, zu einem dritten Gebäude führte. So stieg eine ganze Folge von miteinander abwechselnden Höfen und Gebäuden in einer Felsspalte empor, die unten sehr breit war und nach oben immer enger wurde. Demgemäß waren auch die Gebäude und Höfe unten sehr breit und wurden dann um so schmaler, je höher sie stiegen. Die Seiten der Höfe wurden von den beiden Wänden der Felsenspalte gebildet, und an allen diesen Seiten führten tief eingehauene Pfade rechts und links nach dem Wald empor, auf dessen Wiesen der kostbare Pferdebestand des berühmten Medizinmannes weidete.

Im untersten, größten Hofe stiegen wir ab. Tatellah-Satah führte uns in das Haus, mich, das Herzle und den „Jungen Adler“. Niemand durfte uns folgen. Er leitete uns über Stufen zur Etage empor, nach einem ziemlich großen und ziemlich hohen Raum, in dessen Mitte eine von sechs ungeheuren Grizzlybären getragene Platte stand. Auf ihr lagen wohl über ein Dutzend Friedenspfeifen mit allem Zubehör. Hier wurden die gewöhnlichen Gäste empfangen; uns aber führte er weiter, durch eine ganze Reihe der verschiedensten Räume, bis wir an einen ledernen, köstlich gegerbten und bemalten Vorhang gelangten, den er mit der Aufforderung zurückschlug:

„Tretet ein, und setzet euch nieder; ich kehre schnell zurück.“

Wir taten es und sahen gleich mit dem ersten Blick, daß wir uns in einem kleinen, mit großer Liebe behüteten Heiligtum befanden. Zwei mit Glas verschlossene Luken spendeten helles Licht. Das Ganze war als Zelt eingerichtet, doch nicht als Kriegs-, sondern als Friedenszelt, dessen Bahnen abwechselnd aus höchst seltenen weisen Biber- und weißen Präriehuhnfellen bestanden. Vier schlohweiße Büffelfelle lagen am Boden, derart arrangiert, daß sie weiche Sitze bildeten, während die Köpfe mit den starken Hörnern als Ellbogen- und Rückenstütze dienten. Zwischen ihnen trugen vier Jaguarköpfe eine große, polierte Schale, die aus dem heiligen Pfeifenton des Nordens geschnitten war. Auf ihr lag ein Kalumet. Es war nicht groß, nicht kostspielig, sondern weit eher klein und ganz gewöhnlich. Es zog durch nichts, durch gar nichts den Blick auf sich, und doch erkannte ich es sofort als die wertvollste und unschätzbarste Friedenspfeife, die es hier gab und überhaupt geben konnte.

„Winnetous Pfeife!“ rief ich aus. „Die Pfeife, die er trug, als ich ihn kennenlernte! Welch eine Überraschung, welche Freude!“

„Irrst du dich nicht vielleicht?“ fragte das Herzle.

„Unmöglich!“

„So muß ich sie betrachten.“

Sie wollte hintreten und zugreifen.

„Halt!“ bat ich. „Rühre ja nichts an! Ich sehe, hier ist ein heiliger Ort; den haben selbst Freunde, wie wir sind, heilig zu halten!“

Ich führte sie zu den Fenstern. Wir hatten die Ebene mit ihren Zelten und Blockhäusern unter uns liegen. Es schienen soeben wichtige Personen angekommen zu sein; das ersahen wir aus der Bewegung, die es gab. Wir fanden aber keine Zeit zur Beobachtung, denn Tatellah-Satah kam jetzt. Er hatte den Mantel abgelegt, und nun sahen wir, was für ein Gewand er darunter getragen hatte, nämlich einen ganz gewöhnlichen indianischen Anzug von weichgegerbtem, naturfarbenem Leder, ohne eine Spur von verschonender Stickerei oder sonstigem Schmuck.

Er nahm zunächst das Herzle bei der Hand und führte sie dahin, wo sie sich setzen sollte. Sein Sitz war ihr gegenüber. Ihm zur Rechten war mein Platz und zur Linken der des „jungen Adlers“. Der alte Pappermann war unten bei den Pferden geblieben. Tatellah-Satah setzte sich zunächst nicht. Er blieb stehen und sprach:

„Mein Herz ist tief bewegt, und meine Seele kämpft mit dem Leid vergangener Zeiten. Als zum letzten Mal hier an dieser Stelle das Kalumet geraucht wurde, war es ein Rauch des Abschiedes. Hier, wo jetzt unsere weiße Schwester sitzt, saß Nscho-tschi, die schönste Tochter der Apatschen, die Hoffnung unseres Stammes; hier wo jetzt Old Shatterhand sitzt, saß Winnetou, mein Liebling, den keiner so kannte wie ich; hier, an Stelle des jungen Adlers, saß Intschu-tschuna, der kluge und tapfere Vater dieser beiden. Sie waren gekommen, um Abschied von mir zu nehmen. Nscho-tschi wollte nach dem Osten, in die Städte der Bleichgesichter, um ein Bleichgesicht zu werden. Im Innern meines Auges standen Tränen. Die Trägerin aller unserer Wünsche und Hoffnungen verließ uns, weil ihre Liebe uns nicht mehr gehörte. Es war ein trüber Tag; draußen heulte der Sturm, und in meiner Seele war es dunkel. Sie gingen. Nscho-tschi kehrte nicht zurück. Sie wurde mit ihrem Vater ermordet. Nur Winnetou kam. Ich haderte mit ihm. Ich zürnte dem, um dessentwillen die Tochter unseres Stammes sich von uns gewendet hatte. Da legte Winnetou sein Kalumet in diese Schale und schwor, daß er diese Pfeife nicht eher wieder berühren werde, als bis ich erlaube, daß sein Bruder Shatterhand sich hier zu uns setze und den Gruß des Friedens mit uns rauche. Er war noch oft, noch oft bei mir. Er wohnte und übte und arbeitete monatelang am Mount Winnetou, nie aber hat er dieses Zelt wieder betreten, und nie hat es ein anderer betreten dürfen. Nur sein Schwur saß hier und wartete, wartete lange, lange Zeit. Winnetou starb. Er starb am Herzen Old Shatterhands. Ich zürnte mehr als vorher. Mir schien, als sei die Zukunft der Apatschen mit ihm gestorben. Ich war der Bewahrer der Medizinen. Ich ahnte die Geschichte und die Geheimnisse unserer Rasse. Ich hatte diese Rasse vom Untergang, vom Tod retten wollen. Ihre Seele sollte erwachen in Winnetou, dem gedankentiefsten, dem edelsten der Indianer. Nun war er tot, und die Seele seiner Rasse war gestorben. So glaubte ich, ich Tor!“

Er hielt inne, schaute eine kleine Weile durch das Fenster, welches ich geöffnet hatte, und fuhr dann fort:

„Es kamen helle, sonnige Tage. Die Stimme des Lebens drang wieder zu mir herein. Und wo ich sprechen hörte, sprach man von Winnetou. Er lebte. Er kam vom Hancockberg, wo er erschossen wurde, über Prärien, Täler und Berge in seine Heimat zurück. Immer näher und näher. Er war nicht tot. War er überhaupt gestorben? Seine Taten wachten auf. Seine Worte wanderten von Zelt zu Zelt. Seine Seele wurde laut. Sie begann zu sprechen, zu predigen. Sie schritt durch die Täler. Sie stieg auf die Berge. Sie kam zu uns herauf, zum Berg der Medizinen. Sie kam zu mir herein, und als ich sie erkannte, da war es zwar die Seele Winnetous, zugleich aber auch die Seele seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse. Sie ließ sich bei mir nieder. Ich hörte sie täglich und stündlich. Zu allen Türen, zu allen Luken, zu allen Oeffnungen drang der Name Winnetou zu mir herein. Er war im Munde aller roten Nationen. Er wurde zur Turmesflamme, die über die Savannen und über die Berge leuchtet. Wer Gutes, Reines und Edles wollte, der sprach von Winnetou. Wer nach Hohem, nach Erhabenem trachtete, der redete von ihm. Winnetou wuchs zum Ideal. Er ist die erste geistige Liebe seiner Rasse! Ich lernte viel begreifen, was ich früher nicht begreifen konnte. Ich lernte, still und ruhig sein, wenn ich oft und oft Old Shatterhand neben Winnetou nennen hörte. Ich stieg zu der Erkenntnis empor, daß diese beiden unzertrennlich sind im großen Menschheitsgedanken. Trat ich dann in Stunden inneren Kampfes in dieses Zelt, in dem ich jetzt zu euch spreche, so sah ich Winnetou seelisch vor mir stehen, wie er das Kalumet in die Schale legte und seine Hand zum Schwur erhob, sie ohne seinen Bruder Shatterhand nicht wieder zu berühren.“

Wieder machte er eine Pause. Wir hörten ferne Stimmen durch das offene Fenster klingen. Sie stiegen von der Stadt herauf. Es waren Begrüßungsrufe. Tatellah-Satah ging hin, schaute hinab und sagte:

„Es sind Häuptlinge angelangt; sie tragen den Federschmuck. Wer sie sind, werden wir bald erfahren.“

Dann kehrte er zu uns zurück und fuhr fort:

„Nie habe ich so deutlich wie jetzt, in diesem Augenblick, gefühlt, daß Winnetou noch lebt. Old Shatterhand kam über Land und Meer herüber, und es geht von ihm eine geheimnisvolle Bestätigung aus, daß es für seinen roten Bruder nicht die alten lügenhaften ewigen Jagdgründe gibt, die nur für die Herdenmenge erfunden waren. Ich habe Old Shatterhand geschrieben. Ich habe ihn gebeten, zu kommen, um seinen Bruder Winnetou zu retten. Aber ich bin überzeugt, daß Old Shatterhand sehr wohl weiß, von wem diese Bitte ausgegangen ist: nicht von Tatellah-Satah, sondern von Winnetou, von der Seele der roten Nation, die von ihren eigenen Söhnen niedergerungen und erstickt werden soll. Sie will empor! Sie will fliegen lernen! Sie will nicht nur essen und trinken und daran verhungern, sondern sie will mehr. Sie will teilhaben an allem, was Manitou der ganzen Menschheit gab, nicht nur einzelnen Nationen. Sie will nicht länger Kind bleiben, denn wehe dem Volk, welches sich sträubt, mündig zu werden! Sie will wachsen. Da aber eilt die Torheit der Unverständigen herbei, dem Kind vorzulegen, daß es ein Mann, ein Held, ein Riese sei, und diese Lüge in Erz und Marmor zu verewigen. Das ist ein Mord und, da er von Personen unserer eigenen Rasse ausgeht, eine Vernichtung unserer selbst. Das kann Tatellah-Satah nicht dulden, und das darf auch Old Shatterhand nicht dulden! Ich bin so froh, so glücklich, daß er gekommen ist, uns seine Hand zu bieten. Er sitzt zu meiner Rechten wie damals Winnetou. Es drängt mich, zu denken, er sei wirklich Winnetou. Und ebenso sei unsere weiße Schwester keine andere als Nscho-tschi, der Liebling unseres Volkes. Ich bin Tatellah-Satah, der Bewahrer der großen Medizin. Ich heiße euch willkommen. Ich fühle tief in mir die Nähe dessen, den ich liebte, wie ich keinen andern liebte. Er sehe und höre, daß heut sein Schwur in Erfüllung geht. Old Shatterhand ist hier. Ich habe ihn gehaßt; nun aber liebe ich ihn. Er sei mein Bruder, wie ich der seine bin. Das Kalumet unseres Winnetou soll es bezeugen!“

Er griff nach der Pfeife, füllte sie, setzte sie in Brand, tat die sechs ersten Züge, blies den Rauch nach oben, nach unten und nach den vier Himmelsrichtungen, sprach die gebräuchlichen Formeln dazu und reichte dann mir die Pfeife. Ich stand auf und sprach:

„Ich grüße meinen Winnetou, und ich lausche dem Erwachen seines Volkes. Ich war stets er, und er war stets ich. So sei es auch heut, und so bleibe es immerdar! Dies genug der Worte; lassen wir Taten sprechen! Die Zeit dazu ist schon heut!“

Hierauf tat ich dieselben sechs Züge und gab dem Medizinmann das Kalumet dann wieder. Er reichte es dem Herzle und sprach:

„Nimm du es hin, wie unsere Nscho-tschi! Sie spreche jetzt zu uns aus deinem Munde!“

Das war eine große Ehre. Ich freute mich darüber, doch nicht ohne eine kleine Bangigkeit. Sie sollte sprechen! Was würde sie sagen? Und sie sollte rauchen! Den scharfen, mit Sumach vermischten Tabak! Sie hatte nur ein einziges Mal in ihrem Leben geraucht, zum Scherz, eine halbe Zigarette. Sie schaute mich an und las in meinen Augen die Warnung: „Herzle, ich bitte dich um Gottes willen, blamiere mich nicht etwa!“ Sie aber lächelte zuversichtlich, nahm die Pfeife, stand auf und sprach:

„Ich liebe Nscho-tschi, die Tochter der Apatschen. Ich kam an ihr Grab und betete. Da fühlte ich, daß es kein Grab, kein Tod, keine Leiche sei. Nur Ueberflüssiges verwest; alles andere aber bleibt. So wie sie, schwand auch dein Volk; seine Seele aber blieb. Und seid ihr stark genug, so wird sie sich den neuen, herrlichen Körper schaffen, der ihr schon längst gebührte. Gib mir dein Herz, o Tatellah-Satah; das meinige ist schon dein eigen!“

Sie tat mutig alle sechs Züge und gab die Pfeife dann zurück. Als sie sich wieder niedersetzte, hatte sie feuchte Augen; aber es war nicht zu unterscheiden, ob es die Rührung oder eine Folge des Tabaks war.

Hierauf bekam auch der „junge Adler“ das Kalumet. Er erhob sich und sprach:

„So weit die Erde reicht, ist jetzt eine große Zeit. Doch ist diese Zeit nicht vollendet; sie steht nur erst im Werden. Sie ist noch jung; sie hat sich zu entwickeln und wir mit ihr. Die Menschheit steigt zu ihren Idealen auf. Steigen auch wir! Bleiben wir nicht unten, wie bisher! Schon regt der junge Adler seine Schwingen. Fliegt er dreimal um den Berg, so fährt der rote Mann aus dem Scheintod auf, und der Tag, der ihm gehört, bricht heran!“

Auch er tat die vorgeschriebenen sechs Züge und gab das Kalumet dann an den „Bewahrer der großen Medizin“ zurück.

Dieser hatte es langsam auszurauchen, ohne daß weiteres dabei gesprochen wurde. Hierauf war die Zeremonie vollendet. TatellahSatah geleitete uns nach dem erstbeschriebenen, großen Raum mit den vielen Friedenspfeifen. Da zeigte er auf einen dort wartenden, riesenhaften Indianer und sagte:

„Das ist Intschu-inta, euer Diener. Er wird euch nach eurer Wohnung führen. Er sagt euch alles, was ihr wissen wollt. Er war der Liebling Winnetous. Sei er nun auch der eurige! Nur einmal bitte ich euch, meine Gäste auch beim Essen zu sein, nur heut am ersten Tage, in einer Stunde; dann aber seid ihr stets und in allem frei, könnt aber zu mir kommen, so oft es euch beliebt.“

Er reichte uns die Hand und zog sich dann zurück. Wir gingen zunächst nach dem Hof hinab, wo wir unsere Pferde gelassen hatten. Da stand aber nur der Hengst des „jungen Adlers“ und das Maultier, welches sein Paket trug. Er stieg auf und ritt davon, hinauf nach dem Wachtturm, der ihm zur Wohnung angewiesen war. Unsere Pferde und Maultiere waren, wie wir von Intschu-inta erfuhren, von Pappermann nach unserm Quartier geführt worden, wohin wir ihnen jetzt nachfolgten.

Intschu-inta war, wie bereits gesagt, ein wahrer Hüne von Gestalt, gewiß schon über 6o Jahre alt, doch von noch jugendlicher Rüstigkeit. Ein wahrheitsliebender, treuer, stolzer Charakter. Wenn er als unser „Diener“ bezeichnet worden war, so war er das freiwillig. Es hatte nichts mit dem Begriff der Unterordnung, der Gehorsamleistung zu tun. Er war trotzdem in jeder Beziehung sein eigener, selbständiger Herr. Er führte uns durch die schon erwähnten Tore nach dem zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Innenhof. Das dort stehende Gebäude war für uns bestimmt, ganz allein nur für uns.

„Es ist Winnetous Haus,“ erklärte uns das „Gute Auge“.

„Wohnte er da?“ fragte ich.

„Stets, so oft er kam“, antwortete der Diener. „Die Räume, in denen Old Shatterhand wohnen wird, sind noch ganz genauso, wie sie von Winnetou verlassen wurden, als er zum letzten Male hier war. Wenn Intschu-tschuna kam, wohnte er bei seinem berühmten Sohn. Und ebenso Nscho-tschi. Unsere weiße Schwester wohnt in den Stuben, welche von der schönen, gütigen Schwester Winnetous bewohnt worden sind.“

Auch dieses Gebäude hatte Balkone vor den schmalen Schartenöffnungen der Mauerfronten. Infolge der hohen Lage mußte es da einen noch weiteren Fernblick geben als unten bei Tatellah-Satah. Unsere Pferde und Maultiere waren in einem stall- oder schuppenartigen Nebengebäude untergebracht. Wir aber stiegen die Treppe zu den Wohnräumen empor und gelangten da zunächst in eine große, indianisch ausgestattete Stube, in welcher hohe Tongefäße zum Waschen standen. Es gab da zahlreiche Sitze verschiedener Art und auch eine Platte mit Friedenspfeifen.

„Das ist der Empfangssalon“, lächelte das Herzle.

Die Wände waren mit allerlei Waffen ausgestattet. Ich sah einige Messer, Pistolen und Flinten, die ich kannte. Sie hatten Jagdgenossen von uns gehört. Der Diener führte uns durch das ganze Gebäude. Es hätte bequemen Raum für 30-40 Gäste gehabt, und ich müßte mehrere Druckbogen füllen, um die Einrichtung und Ausstattung auch nur einigermaßen zu beschreiben. Darum unterlasse ich das jetzt, zumal ich später, wenn ich „Winnetous Testament“ veröffentliche, auf dieses Haus und seine Räume zurückzukommen habe.

Mit welchen Gefühlen ich die drei nebeneinanderliegenden Stuben betrat, welche den Zweck gehabt hatten, Winnetou zum eigentlichen Gebrauch zu dienen, kann man sich wohl denken. Links lag die Schlafstube. Hieran stieß die bedeutend größere Wohnstube. Hierauf folgte die ebenso große Arbeitsstube. Aus jedem dieser drei Räume konnte man hinaus auf den Balkon treten, um die herrliche Aussicht, die sich da bot, zu genießen. In der Schlafstube gab es ein sehr weiches, sehr hohes und außerordentlich sauberes Lager von Fellen und Decken. Hierzu einige Wassergefäße zum Waschen und Trinken, weiter nichts. Die Wohnstube war halb europäisch, halb indianisch eingerichtet. Es gab niedrige und hohe Sitze, niedrige und hohe Tische. Auf diesen Tischen lag und an den Wänden hing gar mancher Gegenstand, den ich kannte, weil er von mir stammte. Darunter zwei Photographien, die ich für gut getroffen gehalten hatte. Jetzt waren sie ziemlich verblichen. An der einen Wand hingen wohl gegen 20 Blätter mit Versuchen, diese Photographien nachzuzeichnen.

„Er muß dich doch sehr, sehr lieb gehabt haben!“ sagte das Herzle, indem sie diese Blätter eingehend betrachtete. „Seine Hand ist nicht talentlos gewesen. Er traf, war aber ungeübt, noch nicht einmal Schüler! Es ist das so außerordentlich rührend!“

In der Arbeitsstube stand – – ein Schreibtisch, ja, wirklich ein Schreibtisch, mit Kästen, Federn, Tinte und vielem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Hier hatte er, der Herrliche, sich im Schreiben geübt. Hier war er, der Bändiger der wildesten Pferde, der Meister im Gebrauche einer jeden Waffe, auf die Jagd nach orthographischen Schnitzern gegangen! Mein lieber, lieber, mein einziger Winnetou! Und hier hatte er die bedeutsamsten Kapitel seines „Testaments“ geschrieben, dessen Veröffentlichung mir übertragen worden ist!

Auch anderes hatte er hier gearbeitet, mit Messer und Zange, mit Hammer und Feile, sogar mit Nadel und Zwirn! Nichts war ihm zu niedrig und zu klein gewesen. Sogar eine Ledermappe zu machen, hatte er versucht. Als ich sie öffnete, lag ein einziges Blatt darin. Darauf stand in großen Buchstaben geschrieben: „Charly, mein Charly, wie liebe ich Dich!“ Und als ich es umwendete, war auch die andere Seite beschrieben, doch klein und wie mit zitternder Hand: „Charly, ich sterbe für Dich. Ich weiß es, ich weiß es! Dein Winnetou.“

Intschu-inta stand dabei und sah, daß das Herzle, als wir das lasen, weinte. Auch mir stand ein Tropfen im Auge. Er, der starke Mann, drehte sich um und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht.

„Es ist hier alles so sauber! Grad als ob er erst vor einer Stunde hier gewesen sei!“ sagte sie. „Wer hat hier auf Ordnung gehalten? Wer hat gewischt?“

„Ich,“ antwortete er.

„Wann?“

„Jeden Tag.“

„Seit wann?“

„Seit er zum letzten Male hier war.“

„Diese lange, lange Zeit? Jeden Tag? Trotzdem er nicht mehr kommen konnte? Trotzdem er nicht mehr lebte?“

Da schüttelte er leise den Kopf, lächelte ebenso leise und antwortete:

„Er sagte stets, es gäbe keinen Tod, das habe ihm sein Bruder Shatterhand versichert. Und ich glaubte ihnen beiden. Ich glaube es auch noch heut.“

Er strich mit der Hand über den Lederanzug, der da an der Wand hing, und fuhr fort:

„Diese Leggins und diese Jacke trug er stets, wenn er die Absicht hatte, die Wohnung nicht zu verlassen. Bin ich hier allein, so ist es mir oft, als höre ich die Lederfalten dieses Anzuges rauschen. War das Winnetou? Ging er unsichtbar hinter mir vorüber? Wenn ich hier eintrete, ist es mir oft, als stehe er da draußen auf dem Altane, die Hände gefaltet, um zu beten, wie er zu tun pflegte, wenn ihn eine Sehnsucht oder ein Leid bewegte. Er nannte mich seinen Freund; ich aber war stolz darauf, mich seinen Diener nennen zu dürfen. Ich legte ihm die Hände unter die Füße und wäre tausendmal gern für ihn gestorben. Aber er hat sterben müssen. Denn nicht sein Leben, sondern sein Tod hat alle Stämme der Apatschen und alle roten Völker aufgeschreckt, doch endlich die Augen zu öffnen und einzusehen, wie köstlich das Leben eines einzelnen Menschen ist, um wieviel köstlicher und unersetzlicher also das Leben einer ganzen Nation, einer ganzen Rasse! Wir waren blind. Wir sind nun sehend geworden! Wie habe ich ihn lieb gehabt, wie lieb, wie unendlich lieb!“

Und plötzlich stand er vor mir, faßte meine Hand und bat:

„Nimm seine Stelle ein! Nimm sie ein! Nicht nur hier im Hause, sondern auch hier bei mir!“

Er klopfte sich an die Brust. Dann nahm er auch das Herzle an der Hand und fuhr fort:

„Und dich flehe ich an, sei uns Nscho-tschi! Sprich zu den Frauen, die sich hier versammeln wollen! Führe sie nicht zu Worten, sondern zur Tat! Tatellah-Satah ist Priester, aber nicht Krieger. Bedenkt das wohl! Darum war es die Sehnsucht unseres großen Winnetou, seinen weißen Bruder in dieses Haus zu leiten. Die Seele, die hier erwacht, braucht Schutz und Schirm vor ihrem eigenen Volk. Sie hofft auf euch, auf euch!“

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Siebentes Kapitel

Kämpfe.

Der Mount Winnetou liegt im südlichen Winkel zwischen Arizona und Neumexiko. Die dortigen freien Indianer erkennen keine Regierung über sich an. Das „Komitee des Denkmals für Winnetou“ war so pfiffig gewesen, sich an den Vereinigten-Staaten-Kongreß zu wenden, und hatte die Erlaubnis erhalten, „am Mount Winnetou eine Stadt namens Winnetou anzulegen, dem einstigen Häuptling der Apatschen dort ein Denkmal beliebiger Höhe und beliebigen Umfanges zu setzen und alle Einrichtungen zu treffen und alle Bauten vorzunehmen, die zur Erreichung dieser löblichen Zwecke nötig sind“. So lautete die Genehmigung, welche der betreffende Delegierte ihnen erwirkte.

Hieraufhin hatten sie ihr Werk begonnen, ohne sich um die Traditionen und Rechte anderer zu bekümmern. Die Stämme der Apatschen waren leicht gewonnen, weil es sich angeblich um ihren Liebling Winnetou handelte. Auch einige Komantschenstämme dazu, denn Apanatschka war ja der Häuptling der Kanean-Komantschen. Einen Häuptling, auf den alle Stämme der Apatschen hörten, gab es seit Winnetou nicht mehr, und was den alten Tatellah-Satah betraf, dessen Einfluß sich über alle roten Stämme erstreckte, so war er zwar nicht zu bewegen gewesen, in das Projekt zu willigen, aber Old Surehand und Apanatschka glaubten, daß es ihnen doch noch gelingen werde, ihn auf ihre Seite hinüber zu ziehen. Sie rechneten hierbei auf den Zwang der Tatsachen, der unwiderstehlich ist, und begannen also, zu schaffen und zu bauen, ohne seine Einsprüche zu beachten. Ein jeder seiner Einwürfe wurde mit der allerdings sehr wahren Behauptung zurückgewiesen, daß man die Genehmigung des Kongresses habe und eine höhere Autorität nicht anerkenne. Old Surehand und Apanatschka waren nicht mehr die Indianer resp. die Westmänner, als die ich sie vor Zeiten kennengelernt hatte. Sie waren infolge ihrer Reichtümer und weit verzweigten Geschäftsverbindungen hoch über ihre früheren Anschauungen und Verhältnisse hinausgewachsen. Sie gehörten innerlich schon längst nicht mehr zu den Roten, sondern zu den Weißen. Dafür, daß der Indianer in jedem Augenblicke bereit ist, für seine rote Farbe zu sterben, war ihnen das Verständnis abhanden gekommen. Sie wollten mit ihrem Projekte ein „Geschäft“ machen, und sie wollten ihre Söhne zu einer Berühmtheit emporschrauben, aus welcher neue Reichtümer zu schöpfen waren.

Aber Tatellah-Satah war nicht der Mann, der auf das, was er für richtig hielt, so leicht verzichtete, wie sie dachten. Er wich zunächst dem Zwang, aber nur scheinbar. Er konnte sie nicht hindern, den Wasserfall in elektrische Drähte zu fesseln, den Wald durch Steinbrüche zu entweihen und eine Menge roter Arbeiter herbeizuziehen, die sich ganz gewiß nicht hierzu hergegeben hätten, wenn sie nicht von ihren Stämmen ausgestoßenes Gesindel gewesen wären. Aber er sandte zu den Mescaleros, den Llaneros, den Jicarillas, den Taracones, den Nawachos, den Tschiriguais, den Pinalenjos, den Kojoteros, den Gilas, den Lipans, den Mimbrenjos und den Kupferminenindianern. Das sind lauter Apatschenstämme, welche den „Bewahrer der großen Medizin“ als den bedeutendsten Mann ihrer ganzen Rasse verehren.

Er ließ ihre Häuptlinge kommen. Er sprach mit ihnen. Er erklärte ihnen, daß es sich hier weniger um die Ehrung ihres Winnetou, als vielmehr um eine Ehrung Young Surehands und Young Apanatschkas handle und überhaupt um ein ganz gewöhnliches Geschäft. Es gelang ihm sogar, ihnen klarzumachen, daß es eine Versündigung an Winnetou, dem in jeder Beziehung Bescheidenen, sei, ihn auf ein so laut hinausschreiendes Piedestal zu heben. Er bewies ihnen, daß dies den Untergang ihres Volkes nicht verzögern, sondern nur beschleunigen könne, weil es die anderen Stämme neidisch gegen die Apatschen reize. Kurz, er erwirkte sich bei den Häuptlingen einen durchschlagenden Erfolg und schickte sie zu ihren Leuten zurück, um nun ihrerseits auf diese einzuwirken. Der Clan der „Winnetous“ war bereits gegründet; der wirkte mit. Die eigentliche, offene Aktion gegen das Stadt- und Denkmal-Komitee verschob Tatellah-Satah auf die Zeit der großen Meetings, die am Mount Winnetou abgehalten werden sollten. Diese Zeit war nun fast nahe. Er wollte zunächst sondieren. Er mußte wissen, wer von den Häuptlingen für und wer gegen das Projekt war. Doch hatte er sich bis jetzt noch niemandem gezeigt. Er war auf seinem „Schloß“ verborgen geblieben und heute zum ersten Male seit langer Zeit herabgekommen, um mich zu sich hinaufzuholen.

Das erzählte er uns während des Mittagessens, zu dem er uns geladen hatte. Es fiel ihm dabei gar nicht etwa ein, diese streitigen Dinge zu beklagen. Sein Blick war scharf und weitschauend. Er erkannte sehr wohl, daß es fast nur allein auf ihn ankam, die gegenwärtigen Verhältnisse zur Basis einer neuen, hoffnungsreichen Zukunft auszugestalten. Ein derartiges Zusammenströmen aller Arten von Indianern wie jetzt war wohl in Jahrhunderten nicht wieder zu erwarten, ganz abgesehen davon, daß diese Rasse überhaupt zu verschwinden hatte, wenn es nicht jetzt gelang, ihr neues, inneres Leben einzuhauchen. Darum war er fest entschlossen, diese Gelegenheit beim Schopfe zu fassen und der erwachenden Seele seiner Rasse eine breite Bahn zu schaffen. Die Eigenschaften, welche hierzu nötig waren, besaß er wohl alle, außer einer einzigen. Ich meine die initiative Offenheit, die aggressive Ehrlichkeit. Die besitzt der Indianer nicht. Er hat sie besessen, gewiß; aber sie ist ihm im Umgange mit den niemals worthaltenden Bleichgesichtern verlorengegangen. Er war gezwungen, sich auf die heimliche List zurückzuziehen, und das ist ihm schließlich zum Charakter, zum Merkmal geworden. Nur ganz hervorragend edle Indianer, wie z. B. Winnetou, haben sich nicht gescheut, dann, wenn es nötig war, zum ehrlichen, offenen Angriff zu schreiten und dies sogar schon vorher anzukünden; gewöhnlich aber hält der Indianer es nicht für klug, in dieser Weise zu verfahren. Darum hatte Tatellah-Satah so lange gezögert. Und darum hatte er mein Kommen erwünscht. Ich will mich eines bekannten, vulgären Ausdruckes bedienen, indem ich sage: Er traute mir den Mut zu, ganz offen das „Karnickel“ sein zu wollen, „welches angefangen hat“. Darum war es ihm von größter Wichtigkeit gewesen, sobald wie möglich zu erfahren, auf welcher Seite ich zu suchen sei, auf der seinen oder auf derjenigen der Denkmalbauer. Seit er vom Nugget-tsil aus benachrichtigt worden war, daß ich treu zu ihm stehen werde, fühlte er sich von einer seiner größten Sorgen befreit. Er hatte von Tag zu Tag gehofft, daß ich kommen werde, und nun ich endlich eingetroffen war, fragte er mich, ob ich bereit sei, in Wirklichkeit sein „Shatterhand“, seine Schmetterhand zu sein, mit deren Hilfe es ihm möglich werde, seine Gegner niederzuwerfen.

„Ich bin bereit“, antwortete ich. „Und ich schlage vor, daß wir sofort beginnen, womöglich gleich jetzt, noch heut. Zunächst in Güte und Liebe, dann aber, wenn das nicht wirkt, mit allen möglichen Fäusten!“

Das befriedigte ihn vollständig. Er gab mir Generalvollmacht, zu tun, was mir beliebte, und über alles zu verfügen, was mir als nötig erschien. So war ich also Herr meiner selbst und ohne jede Fessel oder Schranke, die mich beengen konnte. Das nutzte ich ganz selbstverständlich ohne Zögern aus.

Es galt zunächst, das Modell der Statue zu sehen. Darum ritten wir gleich nach dem Essen hinab nach der Stadt, ich, das Herzle, Pappermann und Intschu-inta, der Diener. Der letztere bat mich, sechs junge, aber trotzdem erfahrene und rüstige „Winnetous“ mitnehmen zu dürfen, die meine Leibgarde seien. Tatellah-Satah wünsche das so. Ich willigte sehr gern ein. Ich hatte sehr viel vor, wobei mir diese Leute von großem Nutzen sein konnten.

Wir ritten nicht direkt nach der Stadt, sondern ich lenkte, unten im Innental angekommen, zunächst nach dem Schleierfall ein. Wir untersuchten seine ganze Umgebung, auch die zwei Teufelskanzeln zu beiden Seiten des freien Platzes. Wir taten das so unbefangen wie möglich, um nicht aufzufallen, und ich äußerte kein einziges Wort über die Gedanken, die ich dabei hatte. Aber der „Diener“ war, wie ich sehr bald bemerkte, ein sehr scharfer Beobachter, was mich gar nicht wundernahm, da Winnetou ihn erzogen hatte. Er forschte nach jedem meiner Blicke. Er dachte nach. Er kombinierte. Er kam infolge seines wohlgeübten Scharfsinns sehr bald auf die richtige Fährte. Als wir umkehrten, um nun auf dem schon beschriebenen, tief ausgefahrenen Talweg hinaus nach der Stadt zu reiten, lenkte er sein Pferd für einige Augenblicke neben das meinige und sagte:

„Old Shatterhand wollte nicht den Schleierfall sehen.“

Ich schaute ihn fragend an.

„Auch nicht den angefangenen Winnetou, den man bauen will“, fuhr er fort.

„Was denn?“ forschte ich.

„Die zwei Ohren des Teufels, das richtige und das falsche.“

Er hatte recht. Nur dieser beiden „Ohren“ wegen hatte ich den Weg nach dem Innental eingeschlagen. Sie waren mir außerordentlich wichtig. Noch viel wichtiger als der herrliche Wasserfall an sich.

„Hm!“ brummte ich.

Das trieb ihn an, aus sich herauszugeben.

„Ich kenne sie“, versicherte er. „Aber es ist nicht wahr, was man von ihnen sagt. Man kann stehen, wo man will, so hört man nichts.“

„Hast du schon überall gestanden?“

„Ja, überall. Sogar hinten, wo niemand hingehen darf, weil es verboten ist. Aber auch da hört man nichts.“

„Versprichst du mir, verschwiegen zu sein?“

Er legte die Hand auf das Herz und antwortete:

„Dir ebenso gern wie einst unserm Winnetou!“

„So wirst du bald hören lernen. Ich werde dir zeigen, wie man das macht. Kennst du das Tal der Höhle am Mount Winnetou?“

„Ganz genau!“

„Vielleicht auch die Höhle?“

„Ebenso.“

„Ist sie groß? Ist sie lang?“

„Sehr groß und sehr lang! Man reitet von hier aus fast fünf Stunden, bis man sie erreicht, und doch ist sie so lang, daß sie bis zum Schleierfall geht und erst in seiner Nähe endet.“

„Wir reiten morgen früh hin, um sie zu untersuchen. Bereite alles vor. Doch sage keinem Menschen ein Wort!“

Jetzt war dieser Redewechsel zu Ende, denn wir hatten nun das Innental hinter uns, ritten durch das Felsentor und sahen die Zeltstadt vor uns liegen. Es herrschte jetzt in ihr ein regeres Leben als zur Stunde unserer Ankunft. Eine Reiterschar kam uns entgegen. Sie wollte allem Anscheine nach hinauf nach dem Schloß. Als diese Leute uns erblickten, hielten sie an. Nur zwei von ihnen ritten weiter, bis sie uns erreichten. Das waren Athabaska und Algongka. Sie saßen wunderbar zu Pferde. Nachdem sie in indianisch höflichster Weise gegrüßt hatten, sagte Athabaska:

„Wir wollten nach dem Berge, um Old Shatterhand, den Gast der roten Männer, zu begrüßen. Wir hatten ihn lieb, noch ehe wir ihn sahen. Wir achteten ihn sehr hoch, als wir ihn dann kennenlernten, ohne seinen Namen zu wissen. Und nun er hier eingetroffen ist und sich genannt hat, dürfen wir nicht warten, bis er zu unsern Zelten kommt, sondern wir reiten zu ihm, weil er der Höhere ist.“

„Kann es unter Brüdern einen geben, der höher steht als die andern?“ fragte ich. „Wir gehören einem einzigen Vater, und der heißt Manitou. Wir stehen einander gleich. Ich besuche meine Brüder. Ich bitte, an ihren Zelten die Pfeife des Willkommens mit ihnen rauchen zu dürfen!“

Diese Höflichkeit erfreute sie. Algongka antwortete:

„Wir sind stolz auf diesen Wunsch unsers weißen Bruders. Er komme mit uns. Er wird Freunde sehen. Bekannte aus früherer Zeit, die hier angekommen sind. Als sie hörten, daß er schon anwesend sei, baten sie uns, mit nach dem Berg reiten zu dürfen, um sich an seinem Angesicht zu erfreuen. Dort warten sie.“

Er zeigte auf die Gruppe, welche halten geblieben war. Wir ritten hin. Wer waren sie? Wen erkannte ich sofort, trotz der langen Zeit, die zwischen dem damals und der jetzigen Stunde lag? Es waren Wagare-Tey, der Häuptling der Schoschonen, Schahko Matto, der Häuptling der Osagen, und mehrere ihrer Unterhäuptlinge. Wie groß unsere Freude war, uns wiederzusehen! Auch Avaht Niah war da, der „Hundertundzwanzigjährige“! Sollte man das für möglich halten? Ganz selbstverständlich hatte er jetzt nicht mit nach dem Berg reiten können. Er war vor seinem Zelt sitzen geblieben und ich bat, ihn zuerst aufsuchen und begrüßen zu dürfen. Man hatte Wagare-Tey und Schahko Matto veranlassen wollen, ihre Zelte in der Unterstadt aufzuschlagen; sie aber waren so klug gewesen, sich nach den Verhältnissen zu erkundigen, und was sie da hörten, hatte sie veranlaßt, nach der Oberstadt zu reiten, um sich Athabaska und Algongka beizugesellen.

Wir ritten zunächst nach dem Zelt Wagare-Teys, der mit seinem alten Vater beisammen wohnte, hatten uns aber kaum hierzu in Bewegung gesetzt, so kamen uns zwei Kanean-Komantschen entgegen, die auch hinauf nach dem Schloß wollten, aber, als sie uns sahen, halten blieben und sich an mich wendeten. Sie waren von Young Surehand und Young Apanatschka geschickt, um mich zu diesen beiden jungen Künstlern einzuladen, die bei unserer Ankunft abwesend gewesen waren. Sie hatten, als sie dann kamen, gehört, daß ich eingetroffen sei, und forderten mich nun durch diese ihre Boten auf, zu ihnen zu kommen, weil sie beabsichtigten, mir gleich noch heut ihr Kunstwerk, die Statue Winnetous, zu zeigen. Schon öffnete ich den Mund, um Antwort zu geben, da forderte Athabaska mich durch eine Handbewegung auf, still zu sein, und nahm die Sache selbst in die Hand, indem er zu den beiden Komantschen sagte:

„Ihr seht hier Athabaska und Algongka, die Häuptlinge der fernsten, nördlichen Völker, ferner Schahko Matto, den Häuptling der Osagen, und Wagare-Tey, den Häuptling der Schoschonen. Kehrt sofort zu Young Surehand und Young Apanatschka zurück, und sagt ihnen, daß wir mit ihnen zu sprechen haben, sogleich! Sie sollen augenblicklich kommen. Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges!“

Er sprach in einem derartigen Ton, daß die beiden Boten kein Wort zu entgegnen wagten und sich schleunigst davonmachten. Dann setzten wir unsern Weg nach den Zelten fort. Die, welche Athabaskal Algongka, Wagare-Tey und Schahko Matto gehörten, standen nahe beisammen. Wir sahen, noch ehe wir sie erreichten, den Hundertundzwanzigjährigen sitzen. Sein weißes, nach hinten gebundenes Haar hing ihm lang über dem Rücken herab. Er war kein Skelett wie Kiktahan Schonka. Er konnte sich noch ziemlich leicht bewegen. Sein Auge war klar und der Ton seiner Stimme so frisch und bestimmt wie bei einem Fünfzig- oder Sechzigjährigen. Er stand, als er uns kommen sah, ohne fremde Hilfe von der Erde auf und erfuhr von Wagare-Tey, seinem Sohn, daß der Trupp so schnell zurückkehre, weil man mich ganz unerwartet getroffen habe, mich und meine Squaw. Sein Gesicht war voll unzähliger, kleiner Fältchen, die es aber nicht im geringsten verunzierten. Es hatte keinen einzigen Flecken, keinen einzigen Zug, keine einzige häßliche Stelle, durch welche seine Reinheit, was im Alter doch häufig vorzukommen pflegt, beeinträchtigt worden wäre. Er war ein schöner, ein wirklich schöner Greis! Als er mich sah, erkannte er mich sofort. Seine alten, guten Augen strahlten vor Freude. Er kam auf mich zu, legte beide Arme um mich, zog mich an sich und rief aus:

„O Manitou, o Manitou, du Großer und du Gütiger! Wie danke ich dir für dieses Glück, für diese Freude! Wie sehnte ich mich, den besten, den aufrichtigsten Freund aller roten Völker noch einmal zu sehen, bevor ich das unbekannte Wasser des Todes mit kühn schwimmendem Arm zerteile! Meine Sehnsucht ist erfüllt. Ich erfuhr, daß er kommen werde. Da beschloß ich, auch zu kommen. Das Alter streckte den dürren Arm nach mir aus, mich festzuhalten. Ich aber fühlte mich jung und riß mich los. In meinem Herzen erklang eine Stimme, die mir sagte, daß ich zu meinem weißen Bruder eilen müsse, denn er bringe uns die Güte, die Liebe und die Einheit zurück, die uns einst verlassen haben. Und kaum bin ich gekommen, so kommt auch er! Und du bist seine Squaw?“

Diese Frage war an das Herzle gerichtet. Wir waren von den Pferden gestiegen. Sie stand neben mir.

„Sie ist es“, antwortete ich.

Da streckte er den Arm nach ihr aus, zog sie grad so an sich wie mich und fuhr fort:

„Er bringt uns eine Freundin, eine weiße Schwester. Sie sei uns willkommen in unseren Zelten und in unseren Seelen! Ich bin der Aelteste von allen. Setzt euch im Kreise und bringt mir das Kalumet. Es soll eine der letzten und der schönsten Ehren sein, die Versammlung des Grußes zu leiten. Old Shatterhand setze sich zu meiner Rechten, seine Squaw zu meiner Linken. Man entzünde das Feuer der Freude!“

Wie gesagt, so getan. Es war ein außerordentlich rührendes, gegenseitigem Willkommenheißen, welches sich nun entwickelte. Die Pfeife ging unaufhörlich von Hand zu Hand. Tausend Erinnerungen tauchten auf, sie alle mit dem herzlieben Namen Winnetou verknüpft. Doch hatten wir jetzt keine Zeit, uns ihnen hinzugeben. Das mußte für später verschoben werden.

Mitten in diese lebhafte, frohe Szene hinein kamen Young Surehand und Young Apanatschka. Sie waren zu Pferde wie überhaupt dort jedermann. Sie stiegen ab. Aber niemand schien sie zu sehen. Sie wollten sich zu uns setzen, aber keiner rückte zu, und keiner machte ihnen Platz. So standen sie eine ganze, lange Weile. Dann gingen sie zu ihren Pferden, um wieder fortzureiten. Nun endlich wurden sie beachtet. Athabaska rief ihnen zu:

„Die Söhne von Old Surehand und Apanatschka mögen näher treten!“

Sie kehrten wieder um. Seine Stimme hatte jenen unwiderstehlichen Ton, dem man gehorchen muß, auch wenn man nicht gehorchen will. Alles war plötzlich still. Niemand sprach. Man konnte das leise Knistern des kleinen Feuers hören. Da fragte Athabaska die beiden:

„Sind Young Surehand und Young Apanatschka Häuptlinge?“

„Nein“, antworteten beide.

„Ist Old Shatterhand Häuptling?“

„Ja.“

„Es sind schon fast siebzig schwere Winter, die er verlebte; sie aber haben noch nicht einmal dreißig leichte Sommer hinter sich. Und doch gehen sie nicht zu ihm, sondern sie verlangen, daß er zu ihnen komme! Seit wann ist es bei den roten Männern Sitte, daß das Alter der Jugend zu gehorchen hat und die Erfahrenheit der Unerfahrenheit? Wir wollen, daß unser Volk vom Schlaf auferstehe. Wir wollen, daß es seine Rechte und seine Pflichten erkennen lerne. Wir wollen, daß es sich zu den gebildeten Nationen zähle. Wie aber sollen wir das erreichen, wenn wir nicht einmal das Gesetz der wildesten unter den Wilden achten, daß die Jugend das Alter ehre?“

Da warf Young Surehand stolz ein:

„Wir sind Künstler!“

„Uff, uff!“ rief Athabaska aus. „Ist das etwas Besseres, als Mensch zu sein und als alt und erfahren zu sein? Ihr seid Künstler? Habt ihr das schon bewiesen? Vielleicht ist Old Shatterhand auch einer. Er hat sich noch nicht als Künstler bezeichnet. Ihr aber nennt euch so. Darum werden wir euch prüfen, ob euch dieser Name zukommt oder nicht. Und selbst wenn ein Künstler etwas so Hohes und so Herrliches wäre, daß kein anderer Mensch ihn zu erreichen vermochte, so müßte man doch von ihm wohl erst recht die Tugenden fordern, die man an jedem gewöhnlichen Menschen zu sehen verlangt. Fragt eure Väter, und fragt Kolma Putschi, was sie Old Shatterhand verdanken! Hat er nun für diese seine Taten und für alle Liebe, die er ihnen erwies, den Söhnen nachzulaufen, weil diese von sich behaupten, Künstler zu sein? Was soll denn diese eure Kunst? Uns ein Riesenbild von Winnetou geben! Könnt ihr das? Ich glaube, nicht! Unser großer Winnetou war vor allen Dingen bescheiden. Er diente. Er achtete und ehrte das Alter selbst im geringsten Menschen. Seine größte Lust war, zu helfen, zu tragen, zu beglücken. Ihr aber seid zu stolz, selbst seinem besten Freund den ersten Besuch, den Höflichkeitsbesuch, der nicht euch, sondern ihm gebührt, zu machen. Ihr habt also Winnetou niemals verstanden und begriffen. Wie könnt ihr uns da ein Bild von ihm geben, welches wahr und ehrlich und nicht erlogen ist? Wo sind eure Väter? Sind sie anwesend?“

„Noch nicht. Sie ritten heute früh fort. Sie kehren erst am Abend wieder.“

„So sagt ihnen, wenn sie kommen, folgendes: Die hier versammelten Häuptlinge verlangen von ihnen, daß sie zu Old Shatterhand kommen, um ihn für ihre Söhne um Verzeihung zu bitten. Wir aber werden nach Verlauf einer Stunde bei eurem tönernen Winnetou eintreffen, um zu prüfen, ob ihr Künstler seid oder nicht. Jetzt könnt ihr gehen!“

Sie stiegen auf ihre Pferde und ritten fort, ohne ein einziges Wort der Entschuldigung zu sagen oder der Verteidigung zu wagen. Und als wir nach Verlauf der angegebenen Zeit bei dem großen, hohen Blockhause ankamen, in welchem sie an dem Modell gearbeitet hatten, standen sie an der Tür und empfingen uns still und ehrerbietig wie Leute, die gern zürnen möchten und aber doch nicht dürfen. Sie waren übrigens ganz prächtige und sympathische junge Menschen, und ich sah es dem Herzle an, daß sie im Innern gern bereit war, sie zu verteidigen. Sie nickte und lächelte ihnen heimlich zu; ich aber durfte ihnen nur einen grüßenden Blick geben, weiter nichts, um Athabaska nicht zu beleidigen.

Als wir in das Gebäude traten, sahen wir da sämtliche „Herren vom Komitee“ versammelt. Sie hatten sich eingestellt, um auf die Häuptlinge einzuwirken, wurden aber von diesen derart als Luft behandelt, daß sie es gar nicht wagten, sich ihnen zu nähern oder gar etwa einen von ihnen anzusprechen.

Das Haus war rund wie ein Zirkus gebaut und enthielt nur einen einzigen Raum. Die mit Leinwand überkleidete Holzblockmauer zeigte ein wohlgelungenes Panorama des hiesigen Platzes mit dem Mount Winnetou und seinen beiden riesigen Felsentürmen. Den vorderen, kleineren Turm mit dem „Schlosse“ Tatellah-Satahs und den größeren, höheren mit der von hoch oben stolz herabschauenden gigantischen Winnetoufigur, selbstverständlich jetzt nur erst projektiert. Als Modell vollendet aber ragte diese Figur in der Mitte des Raumes. Sie war ungefähr acht Meter hoch und stand unter der günstigen Wirkung des durch die offenen Dachfalten hereinbrechenden Oberlichtes. Für die dunklen Abendstunden war elektrische Beleuchtung vorhanden, die hierzu nötige Elektrizität wurde ohne großen Kostenaufwand am Wasserfall erzeugt. Es war berechnet, daß sie später für die ganze Stadt Winnetou ausreichen werde.

Mein erster Blick war nach dem Gesicht Winnetous. Es war getroffen, überraschend getroffen. Und doch erschien es mir fremd. Es waren seine Züge, ganz genau seine Züge; aber sie waren nicht so freundlich ernst, so gütig und so lieb, wie ich sie kennengelernt hatte, sondern sie zeigten einen fremden Ausdruck, der ihm im Leben niemals eigen gewesen war. Dieser Ausdruck harmonierte allerdings mit der aggressiven Bewegung, welche der Figur von ihren Verfertigern erteilt worden war. Die Kleidung war mit peinlichster Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Die mit Stachelschweinborsten geschmückten Mokassins, die gestickten Leggins, der eng anliegende, fast faltenlose, lederne Jagdrock, die über die Schulter geschlagene, prächtige Santillodecke, unter welcher die Schlingen des von der rechten Achsel nach der linken Hüfte gehenden Lassos hervorschauten. Am Gürtel hing der Pulver- und Kugelbeutel früherer Zeit. Daneben steckte das Messer, unweit davon eine Pistole und ein Revolver. Den rechten Fuß wie zum Sprung vorgesetzt, stützte sich die Figur auf die in der linken Hand gehaltene Silberbüchse, während die rechte Hand einen geladenen zweiten Revolver drohend vorstreckte. In dieser vorwärts strebenden Bewegung hatte die Gestalt etwas aal- oder schlangenhaftes. Oder man dachte an einen Panther, der sich aus seinem Hinterhalt hervorschnellt, um sich auf die Beute zu stürzen. Hierzu paßte der nicht etwa nur drohende, sondern gierige Ausdruck des Gesichtes, welcher um so befremdender oder abstoßender wirkte, je deutlicher die Schönheit dieses Gesichtes trotz alledem hervortrat.

„Schade, jammerschade!“ flüsterte mir das Herzle zu.

„Leider, leider!“ antwortete ich. „Und sie sind Künstler, wirkliche Künstler!“

„Ganz zweifellos! Nur die Auffassung ist falsch. Es ist eine Sünde, eine ungeheure Sünde! Wie man Winnetou so etwas antun konnte, das begreife ich nicht! Und diese Figur soll auf die Höhe des Berges!“

„Niemals, niemals! Ich dulde das nicht. Und wenn man mich nicht hört, so greife ich zum letzten Mittel und zertrümmere sie vor aller Augen!“

Die Häuptlinge waren still. Sie schritten langsam rund um das Bild, um es von allen Seiten zu betrachten, sagten aber nichts. Young Surehand und Young Apanatschka standen in der Nähe. In ihren Gesichtern drückte sich nicht die geringste Spannung aus. Sie waren vollständig überzeugt, daß der Eindruck ihres Werkes auf uns ein unvermeidlich imponierender sei. Die Herren vom Komitee waren derselben Meinung. Sie hatten erwartet, uns in Ausrufe des Entzückens ausbrechen zu hören. Als aber Minute um Minute verging, ohne daß einer von uns ein Wort verlautete, begannen sie, uns Vorspann zu leisten, indem sie nun ihrerseits das taten, was wir unterliegen. Sie ergingen sich in lobenden Interjektionen, um uns zu verleiten, diesem ihrem Beispiel zu folgen. Aber die Wirkung, die sie erreichten, war dieser ihrer Absicht gerade entgegengesetzt: Die Häuptlinge wendeten sich dem Ausgang zu. Sie schritten hinaus, einer nach dem andern. Ich folgte mit dem Herzle. Da kam das Komitee, die beiden Künstler voran, uns nachgeeilt. Sie wollten Auskunft haben. Athabaska war der erste, der in den Sattel kam. Er wartete, bis wir andern oben saßen, und wendete sich dann an die Fragenden:

„Dieser euer Winnetou ist die größte Lüge, die jemals hier zwischen den Bergen erklang. Zerschmettert sie! Da hinauf kommt sie mir nie, nie, nie!“

Er deutete bei diesen Worten nach der Höhe, auf welcher die Figur errichtet werden sollte.

„Nie!“ stimmte Algongka bei.

„Nie – – nie – – nie – nie!“ fielen auch die anderen Häuptlinge nebst ihren Unterhäuptlingen ein.

„Und sie kommt hinauf!“ rief Young Surehand.

„Ja, sie kommt hinauf!“ behauptete auch Young Apanatschka. „Beweist es, daß es eine Lüge ist!“

Und Mr. Antonius Paper, der immer Voreilige, kam demonstrativ zu uns herangeschlingert und schmetterte uns an:

„Wir sind das Komitee zur Errichtung des Winnetoudenkmals. Was wir beschließen, das geschieht. Die Figur kommt hinauf, hinauf!“

Er fuchtelte dabei mit den Armen, grad vor Schahko Mattos Pferd. Dieser gab schnellen Schenkeldruck, ritt ihn über den Haufen und antwortete:

„Wirklich? Ihr seid das Komitee? So setzen wir euch ab und wählen ein anderes!“

„Ja, ein anderes, ein anderes!“ riefen die Unterhäuptlinge, während Mr. Antonius Paper sich vom Boden aufraffte und hinter den andern Mitgliedern des Komitees Schutz suchte.

Da kam dem ersten Vorsitzenden, Professor Bell, eine Ahnung, daß es mit ihrem Vorhaben denn doch nicht so sicher stehe, wie er bisher angenommen hatte, und daß der jetzige Augenblick vielleicht wohl gar der entscheidende sei. Er tat einige Schritte zu mir herbei und fragte:

„Welcher Meinung seid denn Ihr, Mr. Shatterhand? Ich bitte Euch, mir das zu sagen!“

„Oh, auf das, was ich denke, kommt es hier doch gar nicht an“, antwortete ich.

„Das ist nicht wahr!“ entgegnete er. „Ich bin überzeugt, daß man tun wird, was Ihr vorschlagt. Darum ersuche ich Euch, mir zu sagen: Was schlagt Ihr vor?“

„Dazu ist jetzt wohl nicht die richtige Zeit und hier auch nicht der richtige Platz. Ich kenne überhaupt den mir angewiesenen Platz noch nicht. Ich kann also erst dann sprechen, wenn ich meine Nummermarke habe. Vielleicht hat euer Schriftführer die Güte, sie mir nach meiner jetzigen Wohnung zuzustellen.“

Hierauf ritt ich davon. Die anderen folgten sogleich. In der Oberstadt angekommen, gab es nur noch eine kurze Beratung. Wir alle waren der Ansicht, daß nichts geschehen konnte, bevor wir mit Old Surehand und Apanatschka gesprochen hatten. Das war also abzuwarten. Hierauf verabschiedeten wir uns von den Häuptlingen und ritten nach den Zelten der Siouxfrauen, um unsere Freundinnen, die beiden Aschtas, für heute abend zu uns einzuladen. Sie sagten freudig zu. Dann kehrten wir nach dem „Schlosse“ zurück, übergaben dort unsere Pferde und stiegen durch den Wald zu Fuß nach dem Wachtturm hinauf, um den „jungen Adler“ aufzusuchen und für den Abend auch mit einzuladen. Es waren mehrere Indianer und Indianerinnen bei ihm, die er mit leichten Zimmer- und Flechtarbeiten beschäftigte, warum und wozu, das fragte ich nicht.

Tatellah-Satah war heut nicht mehr zu sehen. Er hielt es für richtig, mich ganz mein eigener Herr sein zu lassen, wie auch ich mir vorgenommen hatte, ihn nicht eher aufzusuchen, als bis es nötig war. So blieben wir am Abend mit unsern drei lieben Gästen allein und beobachteten mit stiller Freude, in wie unendlich zarter Weise die Herzen der jungen Leute sich einander mehr und mehr näherten. Ich hatte es für möglich gehalten, daß Old Surehand und Apanatschka sich noch heut am Abend bei mir einstellen würden. Das geschah aber nicht. Dafür aber fand ich, als ich am andern Morgen aufstand, einen Boten von ihnen vor. Sie ließen mir sagen, daß ich wohl wüßte, wie sehr sie mich liebten und achteten, und wie sehr sie sich freuten, mich wiederzusehen; aber es sei ihnen unmöglich, mich in der Wohnung ihres Feindes Tatellah-Satah aufzusuchen. Ich hätte zu entscheiden zwischen ihnen und ihm; ein Drittes gebe es nicht. Uebrigens seien sie, falls ich zu ihnen nach der Unterstadt komme, zu jeder Zeit für mich zu sprechen. Abbitte zu leisten, liege kein Grund vor, da es für ihre Söhne unmöglich gewesen sei, mich auf dem „Schlosse“ aufzusuchen.

Es fiel mir nicht ein, mir diese Botschaft zu Herzen zu nehmen. Es wirkten da jedenfalls Dinge, die ich nicht kannte und auch nicht kennen zu lernen nötig hatte. Es gab hier nur eines zu beachten, nämlich: Wer nicht will, der muß! Und heut früh hatte ich am allerwenigsten Lust und Zeit, mich mit persönlichen Streitfragen zu befassen. Ich mußte nach dem „Tal der Höhle“, um topographisch orientiert zu sein, wenn die Feinde kamen, sich dort zu verstecken.

Intschu-inta, unser riesiger „Diener“, stand mit seiner Leibgarde schon seit dem Morgengrauen bereit, uns dorthin zu begleiten. Er hatte für alles gesorgt, für Speise und Trank, für Lichter, Fackeln, Stricke, Haken und alle möglichen anderen Gegenstände, deren wir bedurften, um die Höhle so, wie es notwendig war, kennenzulernen. Sie hatte für mich eine ungewöhnliche Wichtigkeit. Es wäre mir wohl schwer geworden, bestimmte, klare Gründe hierfür anzugeben. Es handelte sich dabei mehr um eine Ahnung als um ein bestimmtes, sicheres Wissen. Aber seit ich gesehen hatte, wie plötzlich der Schleierfall in der Erde verschwand, und seit ich wußte, daß die unterirdische Höhle bis nahe an diesen Fall heranreichte, war es mir, als ob sie in unsern hiesigen Erlebnissen eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen werde.

Zum besseren Verständnis dessen, was nun kommt, erinnere ich an die berühmte Mammuthöhle in Kentucky in den Vereinigten Staaten, die mit ihren Seitenhöhlen eine Länge von über dreihundert Kilometern besitzt. Ihr Hauptgang erstreckt sich unter der Erde sechzehn Kilometer weit. Es gibt da unzählige Schächte, Stollen, Gänge, Schluchten, Hallen, Stuben, Säle, Grotten, Dome, Teiche, Seen, Bäche, Flüsse und Wasserfälle. So ungefähr dachte ich mir die Höhle am Mount Winnetou, und die Folge zeigte, daß ich mich da nicht geirrt hatte. Sie war zwar nicht von gar so riesigen Dimensionen, aber der Wunder gab es auch hier genug. Besonders war es die überaus reichliche und unvergleichliche Stalaktitenbildung, welche wir bestaunten.

Der Weg nach der Höhle ging nicht durch die Stadt und dann den „weißen Fluß“ entlang, sondern man ritt auf der anderen Seite von der Höhe hinab und hatte dann einem Bach zu folgen, der den Vorsatz gefaßt zu haben schien, alle diejenigen, die sich seiner Leitung anvertrauten, dahin zurückzuführen, woher sie gekommen waren. Es ging immer rundum, doch in Schraubenlinien immer tiefer hinab. Dabei bekamen wir besonders den kleinen Mount Winnetou, auf dem Tatellah-Satah wohnte, von allen möglichen Gesichtspunkten aus zu sehen. Einmal konnten wir das große Kriegsadlernest, welches unser Freund, der „junge Adler“, erklettert hatte, besonders deutlich erkennen. Das war der Grund, daß das Herzle den „Diener“ fragte, ob er über diesen Vorgang unterrichtet sei. Heut war nur Pappermann, nicht aber auch der „Junge Adler“ bei uns; so konnten wir also über dieses sein Erlebnis sprechen, ohne indiskret zu sein.

„Ja, ich weiß alles“, antwortete Intschu-inta. „Ich stand ja neben Tatellah-Satah, der vor seiner Tür saß, als der junge Adler vom Horst des Kriegsadlers herabgeflogen kam und grad zu unsern Füßen landete. Ich habe dieses Weibchen, welches viel, viel größer als das Adlermännchen war, dann mit erschlagen helfen. Einen stärkeren, größeren und gewaltigeren Vogel als dieses Weibchen gab es nie im ganzen Leben. Wie alt sie war, das wußte man schon längst nicht mehr. Jedermann kannte sie. Sie litt kein Männchen bei sich; sie biß und jagte es fort. Man schrieb ihr ungeheure Kräfte zu. Man behauptete, sie könne einen ausgewachsenen Präriewolf zum Horst tragen. Damals zählte der junge Adler zwölf Jahre. Er wohnte hier bei uns. Er war ein Verwandter Winnetous und der Liebling aller derer, die ihn kannten. Trotz dieser seiner großen Jugend ging er nach Norden, um sich den Ton zu seiner Friedenspfeife aus den heiligen Steinbrüchen von Dokota zu holen. Als er mit dem Ton zurückkam und die Pfeife geschnitten war, erklärte er, daß er sich nun auch seine Medizin erbeuten wolle. Er ging vierzig Tage in die Wüste, um zu fasten, und da träumte ihm, daß er der junge Adler heißen werde und darum die beiden jungen Kriegsadler aus dem Horst holen solle; ihre Krallen und Schnäbel seien seine Medizin. Er war vom Fasten schwach. Er wog kaum noch die Hälfte von vorher. Dennoch wagte er es, das Gebot des Traumes sofort auszuführen, ohne sich recht zu erholen. Er nahm einen Lasso, steckte ein Messer und viele Riemen zu sich und begann den Aufstieg in die Höhe des Horstes. Droben angekommen, fand er das Nest unzugänglich. Um es zu erreichen, mußte man ein Stück darüber hinausklettern und sich dann am Lasso herablassen. Er tat das. Er befestigte den Lasso am überhängenden Felsen und griff sich dann daran hinunter. Aber der Lasso war zu kurz. Als er das Ende erreichte, schwebte er noch hoch über dem Nest und die Kräfte verließen ihn. Er öffnete die Hände und sprang in das Nest herab. Der Lasso schwebte hoch über ihm hin und her und war nicht mehr zu erreichen.“

„Wie fürchterlich!“ rief das Herzle aus. „Gab es keinen Weg aus dem Nest?“

„Nein“, lächelte der Erzähler. „Adler pflegen nicht an Wegen zu horsten. Die Adlermutter war abwesend; die beiden jungen aber lagen da. Sie rissen die Schnäbel auf und kreischten den Eindringling angstvoll an. Er tötete sie, schnitt ihnen die Köpfe und die Krallen ab, steckte diese ein und warf die Körper in die Tiefe. Dann begann er zu überlegen, wie er sich wohl entfernen könne. Aber es war keine Möglichkeit zu ersehen. Hoch über ihm der Lasso, den er nicht erreichen konnte, unter ihm die grausige Tiefe, und er selbst im schwindelnden Felsenhorst, aus dem keine Ratte, keine Maus einen Rettungsweg gefunden hätte, viel weniger ein Mensch! Und indem er das erkannte, sah er die Alte kommen, mit einem kleinen Wild in den Fängen, welches sie für ihre Jungen erbeutet hatte. Sobald sie ihn sah, ließ sie es fallen und schoß mit heiseren Schreien auf ihn zu. Er zog sein Messer, um sich zu verteidigen. Aber in demselben Augenblick war es, als ob eine laute, warnende Stimme ihm zurief: Töte sie nicht, und verletze sie nicht, sonst bist du verloren! Sie ist deine einzige Rettung!“

„Ah, fliegen!“ sagte das Herzle, tief Atem holend.

„Ja, fliegen“, nickte Intschu-inta. „Das war das Einzige; weiter gab es nichts.“

„Der arme Knabe! Wie ermöglichte er das?“

„Nicht der arme Knabe! Sondern der kühne, der kluge, der mutige Knabe! Hier kann es kein Bedauern geben, sondern nur ein Bewundern! Der Horst liegt auf einem kleinen Felsenvorsprung, von dem aus ein schmaler Riß in das Innere des Gesteines führt, um aber bald zu enden. Da lagen die Hölzer und Knüppel der früheren Jahrgänge des Horstes, denn der Kriegsadler baut sein Nest jährlich immer neu und also immer höher. Es gelang dem Knaben, sich in diesen Riß zu retten, noch ehe das kreischende Raubvogelweib den Horst erreichte und den wütenden Angriff begann. Er kroch nach und nach fast ganz unter die Hölzer und verteidigte sich mit ihnen. Dabei dachte er eifrig darüber nach, wie er sich retten könne. Er war so klug, einzusehen, daß dies nur dadurch möglich sei, daß der Adler ihn hinunter in die Tiefe trage. Er fragte sich, ob er trotz seiner jetzigen Leichtigkeit nicht doch zu schwer für diesen Vogel sei. Indem er das dachte, ließ die Alte von ihrem Angriff ab, um nach ihren Jungen zu suchen. Dadurch gewann er Zeit zu ruhigerem Ueberlegen.“

„Er war zu schwer!“ fiel das Herzle ängstlich ein.

„Allerdings war das anzunehmen“, stimmte Intschu-inta bei. „Einen sicheren, ruhigen Flug konnte es also nicht geben, ganz abgesehen davon, daß der Adler sich aus allen Kräften sträuben würde, ihn zu tragen. Aber wenn kein eigentlicher Flug, so war es doch wohl auch kein eigentlicher Sturz in die Tiefe. Es war vorauszusehen, daß die Flügelschläge die Jähheit und Stärke dieses Sturzes mildern würden. Es galt also, den Adler so zu fesseln, daß er den Knaben weder mit dem Schnabel noch mit den Krallen verletzen, aber doch fliegen konnte. Schlingen und Fesseln, mit denen man dies erreicht, sind einem jeden Indianer, sogar auch den Kindern, geläufig. Kaum war der Gedanke gefaßt, so wurde seine Ausführung vorbereitet. Riemen waren mehr als genug da. Mit Hilfe eines passenden, aus dem Horst gezogenen Holzes und dreier Riemen wurde schleunigst ein Knebel gefertigt, der den Adler zwang, Kopf und Hals gradeaus zu strecken. So war ihm der Gebrauch des gefährlichen Schnabels verwehrt. Für die Fänge oder Krallen gab es eine fünffache Schlinge, die später noch zu verstärken war. Für den Leib eine Schleife, welche den Zweck hatte, die Flügel zu schließen und eng an den Körper zu zwingen, natürlich nur bis zu dem Augenblick, an dem der Flug zu beginnen hatte. Mehrere Hölzer wurden fest in die Felsenspalte geklemmt, so daß sich eine Art von Gitter zum Schutz des darinsteckenden Knaben bildete. Wollte der Adler ihn fassen, so war er gezwungen, den Kopf durch dieses Gitter zu stecken, der dann sehr leicht mit der Schlinge gepackt und festgehalten werden konnte.“

Meine Frau war außerordentlich gespannt, ich nicht viel weniger. Pappermann las dem Erzähler die Worte fast von den Lippen weg. Intschu-inta fuhr fort:

„Kurze Zeit, nachdem diese Vorkehrungen getroffen waren, kehrte die Adlersfrau zurück. Sie schien die Leichen ihrer Kinder gefunden zu haben, denn sie fuhr in einer bedeutend größeren Wut als vorher auf ihren Feind los. Sie besann sich nicht im geringsten, den Kopf durch das Gitter zu stecken. Sofort legte sich ihr die Schlinge um den Hals, und mochte sie sich noch so sehr wehren, einige Minuten später war ihr der Knebel angelegt, der sie zwang, Kopf und Hals geradeaus zu strecken Sie wehrte sich aus Leibeskräften, mit den Flügeln und den Krallen. Die letzteren wurden sehr leicht in Schleifen gefangen und dann fest ineinandergebunden. Um die ersteren zur Ruhe zu bringen, mußte der Knabe den gewaltigen Raubvogel, der sich aber nun schon nicht mehr wehren konnte, halb zu sich in den Felsenspalt ziehen, um ihm die Schwingen an den Leib zu drücken und dann mit Riemen festzubinden. Als dies geschehen war, konnte der Adler sich nicht mehr bewegen. Er war vollständig überwältigt; der Sieger aber hatte nicht die geringste Verletzung davongetragen, der Vogel ebenso. Das Schwierigste war vorüber; das Kühnste konnte beginnen, nämlich der fliegende Sturz oder der stürzende Flug in die grausige Tiefe.“

„Gott sei Dank, daß ich es nicht war!“ meinte Pappermann. „Mir wäre dieses Wagnis gewiß nicht gelungen. Wen das Schicksal dazu verurteilt hat, Pappermann zu heißen, der muß auf fester Erde bleiben, sonst geht er sicher kaputt! Doch weiter, schnell weiter! Ich bin gespannt!“

Der Diener fuhr fort:

„Nun das Raubtier gebändigt war, konnte der Knabe die Felsenspalte wieder verlassen. Er trat vor und schaute in den Abgrund. Es kam keine Spur von Zagen über ihn. Es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Augenblick zu zögern. Jetzt war der Adler noch bei voller Kraft. Je schwächer er wurde, desto gefährlicher war der Sprung von dem Horst in das gähnende Nichts hinaus. Der Vogel stank nach Wild und Blut. Seine großen, runden Augen glühten vor Haß und Wut. Und doch konnte nur er allein der Retter sein, weiter niemand, weiter nichts! Das sind Rätsel, die nur Einer lösen kann, ein einziger, und dieser einzige ist gut, ist ewig gut! Der Knabe befestigte sich die besten seiner Riemen unter den Armen hindurch über Brust und Rücken, band sie an die Krallen des Adlers, doch so, daß ihm die schlagenden Flügel des Vogels das Gesicht nicht verletzen konnten, und zog den letzteren bis hart an den Rand des Abgrundes. O Manitou, o Manitou! rief er aus. Dann durchschnitt er die beiden Riemen, welche die Flügel fest an den Leib gehalten hatten. Der Adler regte sie; er bemühte sich, sie auszubreiten, aber er konnte sich nicht aufrichten, weil ihm die Krallen zusammengebunden waren. O Manitou, o Manitou! betete der Knabe noch einmal. Dann schloß er die Augen, glitt langsam über den Rand des Felsens hinaus und zog den Vogel nach.“

„Weiter, weiter!“ rief Pappermann. „Ich kann es nicht erwarten!“

„Ja, schnell, schnell!“ bat auch das Herzle. Intschu-inta gehorchte:

„Ich habe gesagt, daß der Knabe die Augen schloß. Stürzte er? Nein. Er wäre in einigen Sekunden unten in der Tiefe aufgeschlagen. Aber die Sekunden vergingen, und er lebte noch. über ihm rauschten Flügel. Er schwankte hin und her. Der Adler schrie in einem fort. Sein Kreischen klang über Berg und Tal, das jedermann zur Höhe schauen mußte. Da öffnete der Knabe die Augen. Er sah, daß er fiel, beständig fiel, aber nicht stürzend, sondern langsam, in einer abwärts gehenden Schraubenlinie. Der Adler wehrte sich. Er wollte nicht nieder. Er arbeitete mit allen Kräften seiner Schwingen. Aber der Knabe war zu schwer; der zog ihn hinab, bis in die Nähe des Schlosses. Da erreichten sie den festen Boden. Aber der Knabe war noch nicht gerettet. Er hatte sein Messer nicht mehr. Er konnte die Riemen nicht durchschneiden, sich nicht vom Vogel befreien, der sich bemühte, wieder aufzusteigen. Es entspann sich ein Kampf, in dem der Adler stärker als der Knabe war. Er schlug ihn mit den Schwingen; er riß ihn hin und her. Leute eilten herbei. Die Angst vor ihnen verdoppelte die Kräfte des Adlers. Er überwand die an ihm hängende Last. Er ging noch einmal in die Luft, wenn auch nicht hoch. Er flog eine kurze Strecke weit, dann sank er wieder zur Erde, die er grad vor uns erreichte, vor Tatellah-Satah und vor mir. Da lag ein Stein. Ich hob ihn auf, und wir erschlugen den Riesenvogel. Der Knabe war gerettet. Die Flügelschläge hatten ihn arg mitgenommen; aber er lächelte. Er jubelte sogar. Denn er hatte erreicht, was er erreichen wollte, nämlich seine – – Medizin. Seitdem wird er der junge Adler genannt, und das Fliegen ist es, wovon er am liebsten spricht. Er ist sogar nach den Städten und Dörfern der Bleichgesichter gegangen, um es dort zu lernen.“

„Und kann er es?“ fragte das Herzle.

„Das weiß ich noch nicht. Aber er ist schon seit gestern dabei, sich eigene FlügeI zu bauen. Also scheint er es doch zu können. Das dürfen aber nur wir wissen, andere nicht.“

Wir waren während dieser Erzählung eine gute Strecke vorwärts gekommen und folgten nun einer ganzen Reihe von Tälern und Schluchten, welche miteinander im Zusammenhange standen, aber nach so verschiedenen Richtungen führten, daß es oft schwer war, zu sagen, ob wir nach Nord oder Süd, nach Ost oder West ritten. Schon waren wir über drei Stunden unterwegs. Da stießen wir auf einen kleinen Fluß, dessen Wasser man es ansah, daß es nicht aus einer erdigen oder gar lehmigen, sondern aus einer felsigen Gegend kam.

„Das ist das Wasser der Höhle, an dem wir nun aufwärts reiten werden“, sagte Intschu-inta. „Es kommt aus der Höhle und führt uns also direkt nach unserem Ziele.“

Wir schwenkten in diese Richtung ein. Als wir an dieses Wasser kamen, hatten wir den tiefsten Punkt unseres heutigen Weges erreicht. Nun ging es wieder aufwärts, dem Mount Winnetou zu, wenn auch von einer anderen Seite. Wir hatten einen großen Umweg gemacht. In der Luftlinie standen wir dem Berg ganz bedeutend näher. Das Tal des Flüßchens war eng und dabei dicht mit Nadelholz bewachsen. Oft fanden wir vor lauter Baumwuchs kaum genug Platz zum Vorwärtskommen. Das dauerte weit über eine Stunde lang. Dabei wurden die Seiten des Flußtales immer höher und höher. Dann kam eine Stelle, wo sie plötzlich weit auseinandertraten und wohl eine halbe Reitstunde lang in schnurgerader Richtung verliefen. Dadurch entstand eine große, lange, pfannenähnliche Bodenvertiefung, deren Sohle der Fluß wie eine mit dem Lineal gezogene Schnur durchschnitt. Eine ganz erstaunliche Vegetation von Riesenbäumen stieg zu beiden Seiten hoch empor. Zwischen den gigantischen Stämmen gab es dichtes Unterholz in Menge. Dicht war auch das Gesträuch, welches den Boden dieser Felsenpfanne bedeckte. Einzelne Laub- und Nadelkronen ragten daraus empor. Hier gab es Laub und Gras in reicher Menge, zum Futter für die Pferde. Allerdings, wenn die Pferde nach Tausenden zählten und nicht nur einige Tage, sondern längere Zeit zu bleiben hatten, so reichte auch diese Menge nicht aus.

„Das ist das Tal der Höhle“, sagte Intschu-inta.

„Und wo ist die Höhle?“ fragte das Herzle.

„Ganz hinten, am Ende des Tales, wo es direkt an den Mount Winnetou stößt. Kommt!“

Wir ritten weiter.

Also hier war es, wo die verbündeten Sioux, Utah, Kiowa und Komantschen sich verstecken wollten. Der Platz war gar nicht übel von ihnen gewählt. Nur lag er von uns sehr weit entfernt, und wer uns von hier aus überfallen wollte, der hatte vorher einen fünf Stunden langen, mühsamen Weg zurückzulegen. Oder gab es vielleicht einen kürzeren, bequemeren Weg? Und war er unseren Gegnern bekannt? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie erschienen mir der Beobachtung wert. Und sonderbar, kaum hatte ich ihnen Raum gegeben, so parierte ich mein Pferd und winkte den anderen, auch innezuhalten. Ich sah nämlich eine Spur. Ich stieg ab, sie zu untersuchen. Sie stammte von zwei Pferden, die nicht denselben Weg wie wir gekommen waren, sondern links von der Höhe herab, und zwar vor höchstens einer Stunde. Es gab also zwei Reiter, die da vor uns waren. Wer sie waren, konnte ich aus den Spuren nicht ersehen, jedenfalls aber Indianer. Ich nahm meinen Revolver aus der Tasche. Wir ritten weiter, aber langsam und vorsichtig, so geräuschlos wie möglich, immer einer hinter dem andern, ich voran. Wir folgten den Spuren, die in dem weichen, von den Höhen herabgeschwemmten Boden sehr deutlich zu sehen waren. Sie führten am Fluß hin, zwischen den Büschen hindurch, nach dem hinteren Teil der Talpfanne.

„Sie sind nach der Höhle“, sagte Intschu-inta. „Sie kennen sie!“

„Und zwar so gut“, fügte ich hinzu, „daß sie quer über die wilden Vorberge gekommen sind und sie dennoch gefunden haben. Ihre Kenntnis ist also genauer noch als die deine.“

Wir näherten uns dem Ende des Tales. Es hörte da auf, wo der Fluß direkt aus dem Innern des Berges trat. Eine Oeffnung führte hinein. Sie war dreimal breiter als der Fluß und nur so hoch, daß ein Reiter hinein konnte, ohne sich bücken zu müssen. Das war der Eingang zu der großen Höhle, die wir kennenlernen wollten. Vor diesem Eingange gab es einen kleinen, freien Platz, der von dem herabstürzenden Steingeröll bestrichen wurde und darum vegetationslos war. Am Rand dieses Platzes angekommen, hielten wir an, denn nun sahen wir die beiden Reiter, die wir suchten. Sie waren abgestiegen und lagen auf dem Bauch an der Erde, mit den Köpfen über etwas Weißes gebeugt, was ein Papier oder sonst dem ähnliches zu sein schien. Ihre Pferde knusperten von den letztjährigen Zweigen der Büsche. Die beiden Sättel lagen in der Nähe, dabei einige Taschen und Pakete, auch die Gewehre.

Wir stiegen ab und führten unsere Pferde eine kleine Strecke zurück, um sie dort anzubinden, sonst konnten wir durch sie verraten werden. Dann kehrten wir wieder nach dem Buschrand zurück, um die beiden Männer zu beobachten.

„Kennst du sie?“ fragte ich das Herzle.

„Nein“, antwortete sie.

„Du hast sie aber gesehen!“

„Nein, gewiß nicht!“

„Aber doch! Sogar mehrere Stunden lang!“

„Wo?“

„Im Hause des Todes, bei der Beratung der Häuptlinge. Es sind die beiden Medizinmänner der Kiowa und der Komantschen, welche den Altar öffneten.“

„Wirklich?“

„Ganz gewiß!“

„Dein Auge ist sicherer als das meine. Ich habe sie nur bei dem ungewissen, flackernden Licht der Feuer gesehen.“

„Ich auch. Aber der Westmann gibt sich vor allen Dingen Mühe, sich die Gesichtszüge derer, die ihm wichtig sind, so gut wie möglich einzuprägen. Darin bist du nicht geübt. Das Papier, mit dem sie sich beschäftigen, kann kein gewöhnliches sein. Mir scheint, es ist eine Karte oder so etwas. Sie fahren mit den Fingern darauf herum, heftig, als ob sie sich stritten. Sie sprechen dabei so laut, daß man es sogar hier bei uns fast hören kann. Ich schleiche mich hin, sie zu belauschen.“

„Ich mit?“

„Nein, liebes Herzle“, lachte ich. „In welcher Sprache willst du lauschen? Und dein Anschleichen dürfte wohl etwas laut ausfallen.“

„Schade! Ich möchte gern auch mittun! Wie nun, wenn sie dich ermorden wollen? Erschießen, erschlagen oder erstechen?“

„So kommst du schnell, mir zu helfen!“

„Das darf ich?“

„Ja, das darfst du! Du darfst sogar dabei schreien und brüllen und heulen, so sehr und so viel du nur willst!“

„So geh! Ich komme sogar auf alle Fälle!“

Ich gab Pappermann und Intschu-inta die nötige Anweisung und trat dann zwischen die Büsche, um mich zu den Indianern hinzuschleichen. Das fiel mir nicht schwer, denn sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie weder Augen noch Ohren für etwas anderes zu haben schienen. Ich kam so nahe an sie heran, daß ich von dem Strauch aus, der mich verbarg, mit meiner Hand den Fuß des auf dem Bauch ausgestreckten Kiowa hätte ergreifen können. Das Thema, welches sie behandelten, war von größter Wichtigkeit, nicht nur für sie, sondern ebensosehr auch für mich.

Das, was ich für Papier gehalten hatte, war nicht Papier, sondern Leder, seidendünn pergamentartig zubereitetes Leder, auf beiden Seiten beschrieben oder wohl auch bemalt. Die eine Seite enthielt eine genaue Zeichnung des Mount Winnetou und den Situationsplan des „Schlosses“, welches der „Bewahrer der großen Medizin“ bewohnte. Auf der anderen Seite befand sich eine ebenso genaue Karte des Inneren der großen Höhle, vor welcher wir uns befanden. Das wußte ich schon nach Verlauf der ersten Minute, in der ich lauschte. Die Unterhaltung war sehr bewegt. Die Karte wurde bald hinum- und bald wieder herumgedreht. Man nannte, suchte und fand die verschiedensten Namen, Stellen und Punkte. Das alles hörte ich und merkte es mir. Ich erfuhr, daß die Karte dem Medizinmann der Komantschen gehörte. Sie war ein ur-, uraltes Erbstück seiner Familie. Niemand außer ihm durfte von ihr wissen, und nur der große, hochwichtige Zweck, der heut und hier zu verfolgen war, hatte ihn veranlaßt, dieses Geheimnis zu lüften. Der Medizinmann der Kiowa war außerordentlich begierig darauf, den Inhalt dieser ledernen Urkunde genau kennenzulernen und sich einzuprägen.

„Also es ist gewiß und wahrhaftig und wirklich so, wie es hier steht?“ fragte er.

„Ja, wirklich!“ nickte der Komantsche.

„Wir liegen jetzt hier, an dieser Stelle?“

Dabei deutete er auf den betreffenden Punkt der Karte.

„Ja“, antwortete der andere.

„Und von hier aus kann man unterirdisch bis auf den Mount Winnetou kommen? Nicht nur gehend, sondern sogar zu Pferde?“

„Gewiß, zu Pferde.“

„Und auf diesem Weg willst du uns und unsere viertausend Krieger nach oben führen, um Tatellah-Satah und seinen ganzen Anhang zu überfallen? Uff, Uff! Das ist ein großer Plan, ein sehr großer Plan! Hat mein roter Bruder diesen Weg schon einmal gemacht? Ist er schon einmal oben gewesen?“

„Nein, aber einer meiner Ahnen hat es heimlich versucht, und es gelang. Der Weg endet an mehreren Stellen; es gelang ihm aber nur, das eine Ende zu erreichen, nach dem auch ich gelangen will.“

„Das ist hinter dem Schleierfall?“

„Ja, Das ist der einzige Punkt, den man zu Pferde erreichen kann. Zu den anderen Punkten kann man nur zu Fuß kommen.“

„Aber wenn es nicht gelingt? Wenn über viertausend Menschen in der Höhle stecken, ohne vor- oder rückwärts zu können? Bedenke mein Bruder, was so viele Menschen und so viele Pferde brauchen!“

„Ich habe es bedacht. Ich bin darum vorausgeritten, um die Höhle vorher zu untersuchen. Und ich nahm dazu nur dich, meinen roten Bruder, mit, keinen andern Menschen, weil du ebenso ein Bewahrer der Medizin bist wie ich und Tatellah-Satah. Dir darf ich vertrauen.“

„So laß uns keine Zeit verlieren, sondern beginnen!“

Er stand auf.

Sie hatten sich also nicht gezankt, sondern es hatte infolge ihrer Lebhaftigkeit nur so geschienen. Der Komantsche erhob sich auch vom Boden. Er legte die Karte mit großer, sorgfältiger Langsamkeit zusammen, um sie dann einzustecken. Da richtete auch ich mich auf, trat hinter dem Gezweig hervor und sagte:

„Meine roten Brüder werden wahrscheinlich doch ein wenig Zeit verlieren, ehe sie beginnen!“

„Uff!“ rief der Kiowa erschrocken. „Ein Weißer!“

„Uff, uff! Ein Bleichgesicht!“ rief zu gleicher Zeit auch der Komantsche.

Ich riß ihm das Pergament aus der Hand, steckte es nicht in seine, sondern in meine Tasche, stellte mich so, daß sie nicht zu ihren Gewehren konnten, und fuhr fort:

„Ich nehme diese Karte einstweilen zu mir, weil ich euch helfen werde, den darauf bezeichneten Weg durch die Höhle zu finden!“

Nun hatten sie sich von ihrer Ueberraschung erholt. Sie richteten sich hoch und kampfbereit auf.

„Wer bist du, daß du es wagst, mich zu bestehlen?“ fragte der Komantsche.

Dabei näherte er sich mir, um zu seinem Gewehr zu gelangen. Ich zog den Revolver, spannte ihn und antwortete:

„Ich stehle nicht! Wenn diese Karte dein rechtmäßiges Eigentum ist, wirst du sie wiederbekommen. Weg von den Gewehren, sonst schieße ich! Ich bin nicht allein!“

Ich winkte. Da kamen Pappermann, Intschu-inta und die Winnetous, das Herzle langsam hinterher.

„Uff, uff!“ rief der Kiowa, als er Pappermann erblickte. „Ein halbes, blaues Gesicht!“

„Und eine weiße Squaw!“ fügte der Komantsche hinzu, jetzt wirklich erschrocken.

„Ihr habt von diesem blauen Gesicht und von dieser Squaw gehört. Wer also bin ich?“ fragte ich.

„Old Shatterhand!“ antwortete der Komantsche.

„Old Shatterhand!“ rief auch der Kiowa. „Unser Feind, unser grimmigster Feind!“

„Das ist eine Lüge! Ich bin keines Menschen Feind. Ja, ich könnte wohl eher der Feind eines Weißen als eines Roten sein! Fragt eure Häuptlinge, wie ich sie geschont habe! Fragt eure alten Krieger, ob sie ein Wort des Hasses von mir hörten oder euch eine einzige Tat der Rache von mir berichten können! Ich liebe alle Menschen, und ich liebe auch euch. Ich will euer Glück und trete darum jeder eurer Absicht entgegen, die euch zum Unglück führt. Eine solche Absicht ist es, die ihr heut verfolgt. Ich dulde nicht, daß sie zur Ausführung kommt. Setzt euch wieder nieder, und gebt eure Messer ab. Ihr seid gefangen!“

„Wir sind nicht gefangen, sondern – – –“

Mit diesen Worten sprang der Komantsche auf mich ein, doch wich ich einen Schritt nach rechts, faßte ihn an der Seite und warf ihn zur Erde. Intschu-inta, der Riese, kniete ihm auf die Brust und überwältigte ihn ohne alle Mühe. Ebenso verfuhr der wackere, alte Pappermann mit dem Kiowa. In kürzester Zeit waren die beiden Gefangenen derart gefesselt, daß sie sich nicht rühren konnten. Wir setzten uns zu ihnen nieder. Die Winnetous holten unsere Pferde. Ich aber nahm vor allen Dingen die Karte wieder aus der Tasche und schlug sie auf, um sie genau zu betrachten. Sobald ich den ersten Blick auf sie geworfen hatte, wußte ich, woran ich war. Ich wendete mich an den Komantschen:

„Avat-towah, der Medizinmann der Komantschen, mag mir sagen, ob er eine große Sammlung von Büchern, also eine Bibliothek, besitzt.“

„Ich habe keine“, antwortete er. „Es gibt bei allen Männern der Komantschen keine.“

„Weiß Avat-towah vielleicht, wo es eine gibt?“

„Hier am Mount Winnetou, bei Tatellah-Satah.“

„Sonst nirgends?“

„Ich weiß keine andere.“

„So wirst du diese Karte nicht wiederbekommen. Ich habe sie ihrem rechtmäßigen Eigentümer auszuliefern. Sie gehört Tatellah-Satah. Sie wurde ihm gestohlen.“

„Das ist eine Lüge!“ brauste der Medizinmann auf.

„Das ist keine Lüge, sondern die Wahrheit.“

„Beweise es!“

„Sofort! Nur besitzt du wahrscheinlich nicht die Kentnisse, welche dazu gehören, zu verstehen, was ich sage. Diese Karte ist nämlich numeriert, und zwar im alten Pokontschidialekt der Mayasprache. Hier unten, in dieser Ecke, stehen die Hunderter: Jo-tuc: d. h. fünfmal vierzig; das bedeutet also zweihundert. Und hier in der anderen Ecke stehen die Zehner und Einer: wuk-laj; das heißt sieben und zehn, also siebzehn. Diese Karte ist also Nummer zweihundertsiebzehn der betreffenden Bibliothek oder einer ihrer Abteilungen. Ich werde sie Tatellah-Satah zeigen, und es wird sich heraustellen, daß sie ihm gehört.“

„Nichts hast du ihm zu zeigen, und nichts hat ihm zu gehören! Diese Karte ist gestohlen, aber erst jetzt von dir! Du bist der Dieb!“

„Schweig, sonst geb ich dir eins auf das Maul, alter Spitzbube!“ unterbrach ihn Pappermann. „Wo sind die Brüder Enters?“

Das war kein übler Trick, daß er diesen Namen brachte. Die beiden Roten erfuhren dadurch in bequemster Weise, daß wir nicht so unwissend waren, wie sie wahrscheinlich annahmen. Sie konnten ihre Ueberraschung nicht ganz verbergen, doch beherrschten sie sich schnell, und der Komantsche fragte in gleichgültigem Ton:

„Enters? Wer ist das?“

„Das sind die zwei Brüder, die versprochen haben, uns an euch auszuliefern. Nun wißt ihr genug, um überzeugt sein zu können, daß wir gar keinen Grund und gar keine Lust haben, euch in Samt und Seide einzuwickeln. Sagt noch ein einziges Wort, was uns nicht gefällt, so setzt es Hiebe, ganz gewaltige Hiebe ab!“

Es wäre zwar besser gewesen, wenn Pappermann mich hätte reden lassen; aber heut war es nach seinen früheren Jahren zum ersten Mal seit langer, langer Zeit, daß er wieder einmal Gefangene vor sich hatte, und so gönnte ich dem alten, braven Burschen ganz gern die billige Genugtuung, ein wenig zu bramarbasieren. Die beiden Medizinmänner waren von jetzt an still. Der Name Enters hatte sie bedenklich gemacht.

Wir mußten zunächst essen. Das Herzle packte also die mitgebrachten Speisen aus und legte uns vor. Die Pferde wurden abgesattelt. Sie durften trinken und sich dann ihr grünes Futter suchen. Mir war die Karte ganz selbstverständlich wichtiger als das Essen. Ich studierte sie genau und zog dabei Intschu-inta zu Rate, der mir versichert hatte, daß er die Höhle genau kenne. Da stellte sich ein Widerspruch zwischen ihm und der Karte heraus. Nach der letzteren gab es hier unten im Tal allerdings nur den einen Eingang zur Höhle, vor dem wir uns befanden, droben auf der Höhe aber drei verschiedene Ausgänge, zwei schmale und einen breiten. Der breite war der Pferdeweg, der hinter dem Schleierfall mündete. Die beiden anderen waren Fußwege, die an einer gewissen Stelle von dem Pferdeweg abzweigten, noch eine Strecke beisammen blieben und dann sich teilten. Der eine mündete droben im Schloß; an welcher Stelle, das war nicht zu sagen; es genau zu bestimmen, war die Zeichnung zu klein. Der andere stieg nicht ganz so hoch. Er ging im Binnental aus; wie es schien, in der Nähe der angefangenen Riesenstatue Winnetous oder einer der beiden Teufelskanzeln. Intschu-inta aber kannte keinen dieser drei Ausgänge. Er wußte zwar, daß früher, in alten Zeiten, mehrere Ausmündungen der Höhle vorhanden gewesen seien, doch habe man sie zugeschüttet. Warum, das wußte er nicht. Er behauptete, daß der Höhlenweg immer breit und sehr gut gangbar, im Innern des Berges aufwärts führe, bis er plötzlich schmal werde und dann vor einer Tropfsteingruppe ende. Diese Gruppe liege etwas seitwärts vor dem Schleierfall, den man noch in der Höhle stürzen höre, wenn man scharfe Ohren habe.

Wer hatte nun recht? Intschu-inta oder die Karte? Jedenfalls die letztere. Ich beschloß also, mich auf sie zu verlassen, wenigstens in Beziehung auf den oberen Teil der Höhle und die dort befindlichen Ausgänge. Bis dorthin aber konnte ich der Ortskenntnis des „Dieners“ vollständig trauen. Darum beschloß ich, die Pferde nicht hier zu lassen, sondern mitzunehmen. Wir hatten angenommen, nach dem Eingang zurückkehren zu müssen; aber wenn es oben einen so breiten und bequemen Ausgang gab, wie er auf der Karte verzeichnet war, so befanden wir uns dort ja schon daheim und hatten nicht nötig, den Rückweg durch die Höhle zu machen und dann noch fünf Stunden weit nach Hause zu reiten. Intschu-inta blieb zwar dabei, daß wir, zumal mit den Pferden, unbedingt gezwungen sein würden, wieder umzukehren; ich aber war der Ansicht; daß kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken gekommen sein könne, die drei Ausgänge völlig zuzuschütten. Ich nahm vielmehr an, daß sie nur maskiert, also versteckt worden seien, und verließ mich da auf meine Kombination und auf meine guten Augen.

Sofort nach dem Essen bereiteten wir uns zur Durchforschung der Höhle vor. Wir selbst hatten Fackeln und Lichter mitgebracht, und als wir die Pakete der beiden Gefangenen öffneten, sahen wir, daß auch sie sehr reichlich damit versehen waren. Der Feuchtigkeit und Kühle wegen hatten wir uns große, dünne, aber wasserfeste indianische Decken mitgenommen, die wir wie Mäntel um uns legen konnten. Die Pferde wurden wieder gesattelt, die Medizinmänner auf die ihrigen festgebunden, einige Fackeln angebrannt, und dann begannen wir den unterirdischen Ritt, von dem ich mir so gute Erfolge versprach, obgleich ich gar nicht wußte, woher sie kommen sollten.

Ich würde mehrere Druckbogen brauchen, um das Innere dieser wunderbaren Höhle auch nur einigermaßen zu beschreiben, doch kann ich dies einstweilen unterlassen, da sich mir später reichlich Gelegenheit geben wird, sie so zu schildern, wie sie es verdient. Sie kommt in Winnetous Testament des öfteren vor und ist dort der Schauplatz von Begebenheiten, über die ich jetzt noch schweigen muß. Wir ritten durch eine geradezu herrliche Unterwelt. Voran Intschu-inta mit einem Winnetou als Fackelträger, hinter ihnen ich mit dem Herzle, hierauf die Gefangenen, dann Pappermann mit den übrigen Winnetous, von denen einer die zweite Fackel trug. Wo es nötig war, zündeten wir uns zu den Fackeln auch noch Lichter an.

Der Weg ging unausgesetzt aufwärts, und zwar oft ziemlich steil. Die Höhle war sogar an ihren niedrigsten Stellen so hoch, daß wir nirgends von den Pferden zu steigen brauchten. Kein einziger der unterirdischen Räume, durch die wir kamen, glich einem anderen. Es folgte Abwechslung auf Abwechslung, Ueberraschung auf Ueberraschung. Oft war die Ueberraschung so groß, daß wir uns lauter Ausrufe der Bewunderung nicht enthalten konnten. Es war ein Reich der herrlichsten Tropfsteinmärchen, welches wir da kennenlernten. Die köstlichen Gedanken, zu Spat, Aragonit und Sinter erstarrt, wuchsen als Stalaktiten von oben herab. Ebenso köstliche Stalagmiten stiegen ihnen von unten aus entgegen, um sich mit ihnen zu Pfeifen, Säulen, Orgeln und anderen Gebilden zu vereinigen, von denen man kaum glauben konnte, daß sie der Erde angehörten. Wir aber hatten leider nicht Zeit zu eingehender Betrachtung, die wir uns für später aufheben mußten. Es drängte uns vorwärts, vorwärts, hinauf nach der Stelle, wo es sich zu entscheiden hatte, ob wir weiter konnten oder nicht. So ritten wir durch Gänge und Tunnels, durch kleine Kammern und riesige Säle, durch Refektorien und Kirchen, durch Vorhöfe und weite Säulenhalle, durch Veranden und Korridore. Wir kamen an Abgründen vorüber, in deren Tiefe der Fluß rauschte. Wir schlüpften zwischen dünnen Wasserfäden hindurch, die wie aus unsichtbaren Gartenschläuchen spritzten. Wir kamen über Stellen, wo es zu regnen schien. Wir sahen Kaskaden springen und Wasserstrahlen aus unsichtbaren Dachtraufen stürzen. Aber wir verweilten uns nicht: weiter ging es, immer weiter, bis endlich der breite Weg zu Ende war. Er wurde mit einem Male so schmal und so unbequem, daß nur noch Fußgänger vorwärts konnten.

„Du siehst, daß ich recht hatte“, sagte Intschu-inta. „Der Weg für Pferde ist zu Ende. Er führt nicht weiter. Es gibt keine Mündung, die hinter dem Schleierfall einen Ausgang bildet.“

Er schien recht zu haben. Wir befanden uns in einem breiten Gang, der vor einer Doppelgruppe von Stalaktiten und Stalagmiten haltmachte und sich dann als sehr schmaler Weg von dieser Gruppe nach rechts wendete. Nach der Karte aber machte er diese Wendung nicht, sondern er ging geradeaus, nachdem er den schmalen Pfad von sich abgezweigt hatte. Das war der entscheidende Punkt! Jetzt mußte es sich zeigen, ob ich mich auf meine Augen und auf mein Kombinationsvermögen verlassen konnte oder nicht! Ich begann, die Tropfsteingruppe zu untersuchen, und sah sehr bald daß es gar keiner großen Klugheit bedurfte, das Richtige zu entdecken.

Stalaktiten sind nämlich Tropfsteine, die sich von oben, also von der Decke herab, bilden. Unter Stalagmiten aber versteht man die Tropf steine, die aus dem Boden in die Höhe wachsen. Treffen beide in der Mitte zusammen, so bilden sich nach und nach Säulen und Säulengruppen. Die Stalagmiten entstehen anders als die Stalaktiten. Beide sind sehr leicht voneinander zu unterscheiden, weil sie nicht dieselbe Struktur besitzen. Hier nun sah ich sogleich; daß die von oben herabhängenden Tropfsteine echt waren; die von unten emporragenden aber waren nicht echt; sie waren Stalaktiten, keine Stalagmiten. Sie waren nicht an dieser Stelle entstanden, sondern man hatte sie hergeschafft und hier zusammengestellt. Warum und wozu? Sehr einfach: Um den breiten Pfad abzuschneiden, um ihn zu maskieren, zu verbergen, ganz genauso, wie ich vermutet hatte.

Ich rüttelte an dem äußersten dieser Steine; er ließ sich bewegen. Ich schaffte ihn zur Seite. Um das zu tun, war ich vom Pferde gestiegen. Die anderen folgten diesem Beispiele und halfen, auch die nächsten Steine zu entfernen. Dadurch wurde schon nach kurzer Zeit der breite Weg wenigstens so weit frei, daß wir uns von seiner Fortsetzung überzeugen konnten. Wir vergrößerten die Bresche, bis ein Mann hindurch konnte. Da forderte ich Pappermann und einen der fackeltragenden Winnetous auf, mir in die Lücke zu folgen. Ich wollte sehen, was dahinter lag. Die anderen sollten warten und inzwischen noch so viele Steine zur Seite schaffen, bis auch die Pferde passieren konnten.

Wir drei nahmen zu der einen, brennenden Fackel noch eine zweite als Reserve mit und drangen dann weiter vor, natürlich zu Fuße. Es ging jetzt noch steiler empor als vorher. Bald hörten wir es vor uns rauschen, dann brausen, dann donnern, ganz wie in der unmittelbaren Nähe des Niagarafalles. Dieses Brausen und Tosen wurde so stark, daß wir unsere eigenen Worte nicht mehr hörten. Die Wand zu unserer Rechten sank in die Tiefe;, die zu unserer Linken blieb. Von oben dämmerte es, als ob der Tag durch eine starke Milchglasscheibe zu uns herniederschaue. Und plötzlich, nach einer Biegung des Weges, sahen wir ihn stürzend herniederbrausen, den Schleierfall, in die Unterwelt, in der er sich zu dem Flüßchen bildete, an dem wir vorhin nach der Höhle geritten waren. Es wehte ein so scharfer Wind, daß wir die Hüte festhalten mußten. Wir schritten wie auf einer Felsenstraße der Schweiz. Auf der einen Seite die Felswand, auf der anderen der gähnende Abgrund, in dem der Wasserfall verschwand. Keine Barriere schützte uns. Aber der Weg war fest und so breit, daß vier Pferde nebeneinander gehen konnten. So passierten wir den Wasserfall in seiner ganzen Breite, bis wir an ihm vorüber waren, das Oberlicht verschwand und wir uns wieder nur auf das Licht unserer Fackel verlassen mußten. Hierauf ging es durch einen sehr aufwärts strebenden Stollen, der nicht geraden Laufes, sondern gebogen war. Hier ließ sich das Geräusch des Wasserfalles wieder vernehmen. Es wurde immer stärker und stärker, und als es so stark geworden war, daß es uns beinahe betäubte, sahen wir wieder den Schein des Tages, doch nicht von oben, sondern von vorn. Wir gingen darauf zu und befanden uns wenige Augenblicke später im Freien. Oder vielmehr nicht eigentlich im Freien, sondern zwischen der tosenden Masse des Schleierfalles und dem hochaufstrebenden Felsen, von dem sie sich, herunterstürzte. Wir standen hart an dem Abgrund, in dem sie verschwand. Da unten waren wir soeben vorbeigekommen. Wir befanden uns genau in derselben Lage, wie die Besucher des Niagarafalles, die sich hinter die herniederschmetternde Wogenwand bringen lassen, um dann später davon erzählen zu können. Man brauchte nur zwischen Wasser und Felsen nach dem äußersten Ende des Falles zu gehen, um durch ein dort befindliches Pflanzengestrüpp hinaus auf die feste, trockene Erde zu gelangen.

Ich wußte nun genug. Wir kehrten also nach der Stelle zurück, an der sich unsere Begleiter befanden. Als wir dort ankamen, waren sie mit ihrer Arbeit noch nicht fertig. Die fortzuschaffenden Steine besaßen ein derartiges Gewicht, daß lange Zeit dazu gehörte, sie entfernen. Das benutzte ich zu einer weiteren Exkursion. Ich wollte nun auch wissen, wohin der schmale Weg uns führte. Hierzu ließ ich mich aber nicht von Pappermann, sondern von Intschu-inta und einem Fackelträger begleiten. Das Herzle bat, mitgehen zu dürfen, und ich willigte ein, obgleich ihre Gegenwart uns das Suchen nicht erleichtern, sondern nur erschweren konnte.

Ich rechnete, daß wir uns hier fast genau unter der Stelle befanden, auf welcher da oben die gewichtige Winnetoustatue sich im Bau zu erheben begann. Von hier aus bis zu der Stelle, wo der schmale Weg sich nach der Karte in zwei noch schmälere Wege teilte, war gar nicht weit. Als wir hingelangten, sah ich augenblicklich, daß hier wieder Stalaktiten anstatt Stalagmiten lagen. Man hatte also auch da maskiert. Intschu-inta merkte nichts. Er blieb nicht stehen. Er ahnte nicht, daß sich hier einer der schmalen Wege abzweigte, und ging mit dem Fackelträger weiter. Ich folgte ihnen, ohne etwas zu sagen. Der Weg, den sie versäumten, war jedenfalls derjenige, der bei den Teufelskanzeln mündete. Den wollte ich mir aber für mich allein aufheben. Der weitere Weg führte nach der Karte hinauf zum Schloß, und den hätte ich sehr gern heute noch kennengelernt. Wir folgten darum dem schmalen Weg so weit, bis er zu enden schien.

„Da hört er auf“, sagte Intschu-inta, indem er stehenblieb.

„Und geht nicht weiter?“ fragte ich.

„Nein. Genau wie vorhin!“

„Ja, genau wie vorhin! Nimmt man die Steine weg, die ihn verhallen, so sieht man sofort, daß er nicht alle ist, sondern sich hinter den Steinen fortsetzt. Fort mit ihnen!“

Diese Stalaktiten waren nicht schwer. Ich hob einige zur Seite. Intschu-inta half. Was ich gedacht hatte, das zeigte sich: der Weg ging weiter. Hier war es gar nicht nötig, alle Steine zu entfernen. Es genügte, über sie hinwegzusteigen. Dann hinderte uns nichts mehr, weiterzugehen. Wir taten es. Aber von hier an hörten die Tropfsteine auf. Es gab nur noch Höhlen ohne Sinterbildung. Und sie lagen immer eine höher als die andere. Man hatte zu steigen. Schließlich hörte diese Bildung natürlicher Hohlräume ganz auf, und es ging zwischen Felsenspalten empor, auf künstlichen Stufen und Gängen, die übermauert waren. Dabei war die Luft außerordentlich trocken und rein. Ich hatte nicht nach der Uhr gesehen und auch weder die Stufen noch unsere Schritte gezählt; aber es war mir, als ob wir schon weit über eine Viertelstunde emporgestiegen seien; da hörten die Stufen plötzlich auf. Wir konnten nicht weiter. Wir befanden uns auf einer schmalen steinernen Treppe. Unter uns die Stufen, rechts Mauer, links Mauer, über uns Mauer. Nirgends eine Tür, ein Fenster, eine Oeffnung oder sonst etwas dem ähnliches! Wie da hinauskommen?

Grad über der letzten, also obersten Stufe war eine Steinplatte angebracht. Sie konnte nicht schwer sein, denn sie war höchstens drei Spannen im Geviert. Ich versuchte, sie zu heben. Es ging nicht. Sie hatte zwei Vertiefungen, die jedenfalls nicht ohne Absicht angebracht worden waren. Ich konnte das Heft meines Messers hineinstecken. Dadurch gewann ich einen Griff, die Platte zu verschieben. Ich versuchte dies nach vorn, nach hinten, nach rechts – – vergeblich. Aber nach links bewegte sie sich endlich. Ich hatte das Gefühl, als ob sie auf einer Rolle laufe. Es entstand über mir eine viereckige Oeffnung, durch welche ich steigen konnte. Ich tat dies aber nicht sofort, sondern ich war so vorsichtig, meinen Kopf nur erst bis zu den Augen hineinzustecken. Was sah ich?

Einen sehr hohen, achteckigen, gemauerten Raum mit zwei Türen. Die Wände waren vollständig mit Passifloren überwachsen, deren Ranken bis hinauf an die Decke reichten, wo es rundurn zahlreiche Oeffnungen gab, das nötige Licht hereinzulassen. Die Ranken waren so dicht, daß man von der darunterliegenden Mauer nichts sehen konnte. Sie grünten und blühten, und zwar fast überreich. Daß dies noch jetzt in der ziemlich späten Jahreszeit geschah, war wohl eine Folge der Höhenlage und auch des Umstandes, daß die Vegetation nicht im Freien stattfand, sondern auf das Innere eines geschlossenen Raumes angewiesen war. Die Passionsblume hat bekanntlich über zweihundert Arten; hier aber waren nur zwei derselben vertreten. Die eigentliche Flächenbekleidung wurde von Passiflora quadrangularis gebildet, deren Prachtblumen, innen rosenrot angehaucht, einen Durchmesser von zehn Zentimeter besaßen. Das ergab rundum eine Blütenpracht sondergleichen. Von diesem Untergrund stach an der einen Wand eine vollständig weiß blühende Passiflora incarnata ab, die so gezogen und beschnitten war, daß sie ein vier Meter hohes, aufrechtstehendes Kreuz bildete, ein ganz auffälliges Zeichen des Christentums hier an diesem mir fremden, geheimnisvollen Orte. Mir gegenüber gab es eine Tür, welche nicht geöffnet war. Und da, wo ich mich befand, schien auch eine zu sein, nur konnte ich sie nicht eher sehen, als bis ich höher stieg und dann aus der Oeffnung heraustrat. Da stellte es sich denn heraus, daß hier auf unserer Seite des Passiflorenraumes mehrere Stufen zu einem Ausgange emporführten, welcher verriegelt war. Ich stieg hinauf, schob den Riegel zurück und öffnete. Da stand ich draußen im Freien, nahm mir aber nicht Zeit, die Stelle zu bestimmen, an der ich mich befand, sondern machte die Tür wieder zu, ging die Stufen wieder hinab und forderte Intschu-inta auf, heraufzukommen und mir zu sagen, ob er wohl wisse, wo wir seien. Er tat es. Kaum sah er den Raum, so rief er verwundert aus:

„Uff! Das ist die Blumenkapelle, in welcher Tatellah-Satah zu beten pflegt!“

„Zu wem betet er da?“ fragte ich.

„Zum großen, guten Manitou. Zu wem sonst?“

„Aber da ist doch das Kreuz, das Sinnbild des Christentums?“

„Das stammt von Winnetou. Er hat es gepflanzt. Er sagte, das sei das Zeichen seines Bruders Old Shatterhand. Er verstehe es noch nicht, aber er werde es verstehen lernen, je höher es hier wachse. Er hatte dich so lieb, so unendlich lieb!“

Man kann sich wohl denken, wie tief mich das ergriff! Aber ich mußte diese Rührung schnell überwinden und fragte weiter:

„Wohin führt die Tür, die uns da gegenüberliegt?“

„Nach Tatellah-Satahs Schlafgemach.“

„Und die hier über den Stufen?“

„Hinaus auf den Berg. Niemand hat geahnt, daß es außerdem eine Falltür gibt, durch die wir jetzt gekommen sind!“

Der Verschluß dieser Falltüre bestand in der Platte, welche ich von ihrem Platze entfernt hatte. Sie war unter den Fußbodensteinen derjenige, welcher von der Seite her direkt an die unterste Stufe stieß, in die er, weil sie hohl war, hineingeschoben werden konnte. Indem ich das getan hatte, war die Falltüre geöffnet worden. Ich brauchte ihn nur in seine vorige Lage zurückzuschieben, so war sie wieder zu.

Nun stieg auch das Herzle mit dem Fackelträger herauf. Sie brach beim Anblick der unzähligen Leidensblumen in einen Ausruf der Bewunderung aus. Sie hatte da unten im Gange nicht gehört, was mir von Intschu-inta gesagt worden war. Dennoch erriet sie sofort den Zweck dieses Raumes.

„Das ist ein Zimmer zum Gebet!“

Mit diesen Worten schritt sie nach der Mitte der Stube. Dort stand eine Bank, die mit einem Fell überkleidet war. Sie setzte sich darauf, dem Kreuz grad gegenüber, und sprach weiter:

„Hier sitzt Tatellah-Satah, um mit Gott, seinem einzigen Herrn, zu sprechen. Er hat das Kreuz vor sich, das Erdenleid, welches den einzelnen Menschen und ganze Völker erlöst. Da betet er für die Erlösung seiner Rasse. Hier möchte ich sitzen und mit ihm beten, daß ihn der Herrgott erhöre!“

„Tue es!“ antwortete ich. „Wir gehen jetzt fort, doch nur, um wiederzukommen.“

„Hierher?“ fragte sie.

„Ja, hierher.“

„Wann?“

„Vielleicht schon in einer halben Stunde. Ich kehre in die Unterwelt zurück, um die beiden Gefangenen zu holen und auf diesem verborgenen Weg in das Schloß zu bringen. Da sieht sie kein Mensch außer uns. Ich wünsche, daß niemand von ihren Angehörigen und Genossen erfahre, wo sie sich befinden. Es hat keinen Zweck, daß du uns in die Höhle zurückbegleitest. Du müßtest doch mit uns wieder hier herauf.“

„Gut, so bleibe ich. Aber was tue ich, wenn mich jemand hier erwischt?“

„Du würdest als Freundin behandelt werden, sei es, wer es sei. Uebrigens ist es gar nicht nötig, daß du dich erwischen läßt. Du brauchst nur hier die Stufen hinauf und in das Freie zu gehen, so bleibst du ungesehen. Es würde wohl niemandem einfallen, nachzusehen, ob die Tür angelehnt ist oder nicht.“

„Ja, richtig! Also, ich warte hier.“

Sie setzte sich wieder auf die Bank. Wir anderen aber stiegen wieder in den Gang hinab. Wir Iießen ihn nicht offen, sondern ich schob die Steinplatte wieder vor. Dann kehrten wir nach der Stelle zurück, wo unsere Gefährten auf uns warteten. Sie waren mit ihrer Arbeit, die Stalaktiten wegzuräumen, fast zu Ende. Ich setzte mich nieder, um die wenigen Minuten zu warten. Als ich still saß, fühlte ich, daß es von der Decke auf mich niedertropfte. Aber es war nicht Wasser, sondern zerriebenes Gestein. Es streute wie Mehl oder Sand auf mich herab. Zuweilen war auch ein erbsen-, bohnen- oder nußgroßes Stück dabei. Ich schaute empor. Das Licht unserer Fackeln reichte nicht bis ganz hinauf, trotzdem sah ich grad über mir einen schmalen Riß, aus dem es bröckelte. Das war in einer solchen Höhle nichts Auffälliges. Darum kam ich gar nicht auf den Gedanken, nach den Ursachen dieses Risses zu fragen. Und doch war es, wir sich später zeigte, von außerordentlicher Wichtigkeit für uns.

Als der breite Weg freigeworden war, sagte ich, daß wir uns hier zu trennen hätten. Die beiden Medizinmänner hatten mit mir, Intschuinta und einem Fackelträger zu Fuß nach oben zu steigen. Die andern aber ritten, indem sie unsere ledigen Pferde mitnahmen, unter Pappermanns Führung den vorhin von uns entdeckten Weg empor, der hinter dem Schleierfall mündete. Von dort aus hatten sie sich sogleich nach dem Schloß zu wenden. Wir warteten, bis sie fort waren. Dann verband ich den Medizinmännern die Augen und verbat mir alles Widerstreben. Hierauf nahm ich den Komantschen und Intschu-inta den Kiowa beim Arm. Der Fackelträger schritt voran. So stiegen wir den schon einmal gemachten Weg nach dem Passiflorenraum empor. Das ging, weil die Augen der Gefangenen verbunden waren, so langsam, daß wir nicht, wie ich gesagt hatte, nach einer halben Stunde, sondern erst nach über einer ganzen Stunde droben bei den letzten Stufen ankamen. Da machte ich mich daran, die Platte auf die Seite zu schieben. Indem ich dies tat, hörte ich Stimmen. Es schien jemand bei meiner Frau zu sein. Ich öffnete die Falltür so geräuschlos wie möglich. Dann schob ich vorsichtig nur den oberen Teil meines Kopfes, bis an die Augen, hinaus, um zu sehen, wer da sprach. Das Herzle war verschwunden, jedenfalls durch die Treppentür hinaus, in das Freie. Jetzt saß Tatellah-Satah auf der Bank, dem Kreuz gegenüber. Bei ihm standen zwölf Apatschenhäuptlinge, jüngeren Alters, von denen ich keinen kannte. Der Älteste von ihnen war nicht über fünfzig Jahre alt. Der alte „Bewahrer der großen Medizin“ sprach mit sehr bewegter Stimme zu ihnen. Ich hörte die Fortsetzung des angefangenen Satzes:

„Unser guter Manitou ist größer, millionenmal größer, als die roten Männer bisher glaubten. Sie nahmen an, er sei nur ihr Gott, nicht aber auch der Gott aller anderen, die da leben. Falls dies auf Wahrheit beruhte, wie klein wäre er da, wie klein! Der Gott einiger armen Indianerscharen, die von den Bleichgesichtern zermalmt, zerquetscht und zertreten werden Wie groß und wie mächtig müßte dagegen der Gott der Weißen sein! Und wie sehr müßten wir da wünschen, daß dieser Gott der Weißen an Stelle des ohnmächtigen Manitou der Indianer trete! Doch dieser Wunsch wurde uns erfüllt, noch ehe wir ihn empfanden. Schaut hin auf das Kreuz! Es blüht, um uns zu Erlösen. Es nimmt uns Manitou, um Manitou uns zu geben. Es sagt uns, daß es nur einen einzigen gibt, den Allmächtigen, den Allweisen, den Allstarken, den Allgütigen, und daß wir ihn seiner Allstärke und seiner Alliebe berauben, indem wir ihn nur für uns haben wollen, für uns allein, die wir die unglücklichste aller Nationen sind und die schwächste aller Rassen. Das Kreuz ruht in der Erde und ragt zu Gott empor. Das ist das eine, was es bedeutet. Aber es breitet seine beiden Arme aus, um jedermann und alle Welt zu umfangen. Das ist das andere, was es bedeutet. Niemand von uns hat das gewußt. Old Shatterhand war es, der uns dieses Wissen brachte. Wir aber nahmen es nicht an. Ein einziger nur bewegte diese Kunde in seinem Herzen. Dieser einzige war Winnetou. Er beobachtete; er prüfte. Er begann zu glauben. Und je fester dieser sein Glaube wurde, desto öfter kam er zu mir, um mich zu bitten, diese Leidensblumen und dieses Kreuz an die Lieblingsstätte meiner Gebete pflanzen zu dürfen. Es war sein inniger Wunsch, Old Shatterhand zu mir zu bringen. Sein weißer Bruder sollte hier, an dieser Stelle, sehen, wie der Kreuzesgedanke und die Überzeugung von einem einzigen, großen Manitou im Herzen seines roten Bruders Wurzel gefaßt und sich zur Blüte und Frucht entwickelt habe. Ich aber war dagegen. Ich haßte Old Shatterhand. Da ging Winnetou, der Herrliche, der Unvergleichliche, hin und kam nicht wieder. Doch was in seinem Herzen lebte, das kehrte zurück. Das kam zu mir. Das trieb mich tagtäglich hierher, in diesen Raum. Das lehrte mich nachdenken. Das brachte mir Licht. Das lehrte mich beten, nicht zu dem schwachen, kleinen Manitou der roten Männer, sondern zu dem gewaltigen, unendlichen, erhabenen Manitou Old Shatterhands, der allein imstande ist, uns, seine roten Kinder, neu zu beseelen, damit wir endlich werden, was wir werden sollten, aber nicht geworden sind. Heut ist er da, Old Shatterhand, dem ich mein Haus und mein Herz versagte. Heut liebe ich ihn. Heut weiß ich es, daß ich nichts vermag ohne ihn, ganz ebenso, wie die rote Rasse ohne die weiße nichts vermag. Er wird das Bleichgesicht sein, welches die uns verlorengegangenen Medizinen zurückzubringen hat. Wißt ihr, was das bedeutet? Er wird es sein, der uns in Liebe vereint, obgleich wir uns im Haß zerstören wollen. Und während wir – –“

Er hielt mitten im Satz inne. Unsere Fackel, die wir noch nicht hatten auslöschen können, begann sehr laut zu knistern. Sie sprühte Funken. Sie gab Rauch, der neben mir aus der Oeffnung stieg und von den Indianern sofort gerochen und gesehen wurde. Sie schauten alle zu mir her. Tatellah-Satah stand überrascht von seinem Sitze auf. So blieb mir nichts anderes übrig, als, um mich sehen zu lassen, aus der Bodenöffnung zu steigen.

„Old Shatterhand!“ rief er aus. „Old Shatterhand, von dem ich spreche!“

„Old Shatterhand! Er ist’s? Er ist’s?“ wurde er von den Häuptlingen gefragt.

„Ja; er ist es!“ antwortete er. „Ein Loch im Boden! Wo führt es hin? Wo kommst du her?“

Diese letzteren Worte waren an mich gerichtet. ich ging auf ihn zu, zog die Karte, die ich dem Medizinmann der Komantschen abgenommen hatte, aus der Tasche, faltete sie auseinander, gab sie ihm und antwortete:

„Schau hier nach! So wirst du sehen, woher ich komme.“

Er sah die Ueberschrift, und er sah die Zahl, da rief er auch schon aus:

„Aus der geheimen Bibliothek! Die hochwichtige Karte, die einem meiner Ahnen gestohlen worden ist! Nach deren Dieb wir bisher vergeblich forschten! Im Verdacht stand der damalige Medizinmann der Komantschen, der mehrere Wochen lang hier Gast gewesen war und die Bibliothek sehr oft betreten hatte. Und jetzt bringt Old Shatterhand sie mir! Welch ein Wunder, welch ein großes Wunder! Von wem hast du sie?“

„Von dem Urenkel des Diebes. Ich zeige dir ihn.“

Es genügte ein Ruf von mir, so kamen Intschu-inta und der Fackelträger zu uns heraufgestiegen und brachten die beiden Gefangenen mit. Sie wurden von den Apatschenhäuptlingen sofort erkannt. Diese letzteren wollten in laute Ausrufe der Verwunderung ausbrechen, ich aber wehrte ihnen durch eine Handbewegung ab und sagte leise:

„Still! Sie dürfen nicht sehen und hören, wo sie sind! Ich erzähle nachher. Gibt es hier im Schlosse einen Ort, wo es möglich ist, Gefangene derart aufzubewahren, daß sie weder entfliehen noch von anderen Leuten gesehen werden können?“

„Wir haben sehr gute und sehr sichere Gefängnisse hier“, antwortete Tatellah-Satah.

„So mag Intschu-inta sie dort unterbringen und dann wiederkommen. Ich brauche ihn noch.“

Tatellah-Satah gab seinem riesigen Diener mit unterdrückter Stimme die nötigen Befehle, worauf dieser sich mit den beiden Medizinmännern und dem Fackelträger entfernte, um sie nach dem Verließ zu schaffen. Da wurde über den Treppenstufen die Tür geöffnet, die ins Freie führte, und das Herzle ließ sich sehen. Es war ihr gelungen, sich rechtzeitig zurückzuziehen. Nun, da sie durch die angelehnte Tür sah, daß ich wieder da war, glaubte sie, sich auch mit sehen lassen zu dürfen. Man kann sich denken, daß dies das Erstaunen der Häuptlinge nicht verringerte.

Ich erzählte ihnen, so viel ich zu erzählen für nötig hielt, denn zum vollständigen Mitwisser meiner Ansichten und Pläne wollte ich keinen von ihnen machen. Grad als ich fertig war, kehrte Intschu-inta zurück. Er meldete, daß die Gefangenen fest eingeschlossen und daß Pappermann und seine Begleiter vom Wasserfall her auf dem Schloß eingetroffen seien. Ich teilte ihm mit, daß er mich jetzt noch einmal hinunter in die Höhle zu begleiten und zu diesem Zweck zwei neue Fackeln zu besorgen habe. Das Herzle fragte, ob auch sie dabei sein rnüsse. Als ich das verneinte, bat mich TatelIah-Satah, ihm meine Squaw anzuvertrauen. Er erwarte den Besuch von Kolma Putschi und werde sich sehr freuen, die beiden Frauen miteinander bekannt zu machen. Ich hatte natürlich nicht das geringste dagegen und stieg, als Intschu-inta mit den Fackeln kam, mit ihm wieder in die Höhle hinunter. Es sei bemerkt, daß die zwölf Apatschenhäuptlinge erst heut während unserer Abwesenheit hier angekommen waren und ihre Zelte in der Oberstadt aufgeschlagen hatten. Sie bildeten den Stab sämtlicher Apatschenstämme, auf welche Tatellah-Satah sich verlassen konnte.

Ich hatte meinen ganz besonderen Grund, noch einmal hinunter in die Höhle zu steigen. Da ich einmal darüber war, sie kennenzulernen, wollte ich sie auch gleich ganz kennenlernen; denn es gab einen kleinen Teil, den ich noch nicht kannte. Ich erinnere daran, daß der breite, reitbare Weg, der vom „Tal der Höhle“ aus durch die letztere führte, droben hinter dem Schleierfall in das Freie mündete. An der Stelle, wo er mit Stalaktiten versetzt worden war, die wir entfernt hatten, zweigte von ihm ein schmaler Weg nach rechts, der nur für Fußgänger zur Höhe führte. Sein eigentliches Ende fand dieser schmale Weg ganz oben im Passiflorenraum. Bis dorthin waren wir ihn gegangen. Aber schon unten in der Höhle zweigte von ihm ein zweiter, schmaler Weg ab, an dem wir vorbeigekommen waren, ohne daß meine Begleiter etwas von ihm bemerkten. Nur mir allein war die Stelle aufgefallen, an welcher die als Stalagmiten verwendeten Stalaktiten andeuteten, daß auch hier ein früher gangbarer Weg mit Steinen versetzt und maskiert worden sei. Nach dieser Stelle kehrten wir jetzt zurück. Ich hatte nur Intschu-inta mitgenommen, weil er der Vertraute des Medizinmannes war, denn um eine sehr vertrauliche Sache handelte es sich jetzt bei der neuen Entdeckung, die ich machen wollte. Nämlich wenn ich die oberirdischen und die unterirdischen Oertlichkeiten miteinander in Verbindung brachte, so ergab sich für mich folgendes: Der breite Weg mündete im Bergtal, hinter dem Wasserfalle. Der schmale Weg mündete in seinem letzten, höchsten Ende droben im Schlosse. Die zwischen beiden liegende Abzweigung dieses schmalen Weges, die ich jetzt suchte, mußte also zwischen dem Wasserfall und dem Schloß münden. Und wenn ich mich da fragte, welcher Ort hierzu wohl am geeignetsten sei, so stieß meine Vermutung immer nur auf die Teufelskanzel, oder, wie sie hier genannt wurde, auf das „Ohr des Teufels“, an dem wir vorbeigekommen waren, als der Medizinmann uns den Schleierfall zeigte. Es stimmte in jeder Beziehung, daß dieser Ort mit der geheimnisvollen, großen Höhle in Verbindung stand. Wer weiß, was für wichtige Zusammenhänge vor Jahrtausenden hier oben und da unten stattgefunden hatten. Darum war es jetzt für mich, der ich diesen Zusammenhängen nachspürte, sehr wohl geraten, dies so diskret wie möglich zu tun und keinen Menschen in das Vertrauen zu ziehen, der dieses Vertrauen nicht verdiente. Dies war der Grund, weshalb ich nur den altbewährten, treuen Intschu-inta mitgenommen hatte.

Als wir die betreffende Stelle erreichten, an der ich eine Abzweigung des schmalen Weges vermutete, blieben wir stehen, um die am Boden liegenden Steine zu untersuchen. Auch sie waren nicht Stalagmiten, sondern Stalaktiten, also nicht hier an Ort und Stelle entstanden, sondern zu irgendeinem Zweck hergeschafft. Wir beseitigten so viele von ihnen, wie nötig war, um Einsicht zu gewinnen, und entdeckten da nun allerdings sehr bald den offenen Pfad, der hinter ihnen aufwärts führte. Meine Vermutung hatte mich also nicht getäuscht. Es fragte sich nur noch, wo er oben mündete. Wir mußten ihm folgen.

Wir ruhten zunächst einige Augenblicke von der Anstrengung aus, welche uns das Beiseiteschaffen der schweren Steine verursacht hatte. Es war für diese kurze Zeit still, vollständig still um uns, und so hörten wir ein eigenartiges, prasselndes Geräusch, welches aus der Ferne zu uns drang, wahrscheinlich aus der Gegend, in welcher unser schmaler Weg vom breiten abzweigte. Was war das, oder wer war das? Befand sich jemand dort? Unsere Sicherheit erforderte, dies schleunigst zu erfahren. Wir nahmen also die Fackeln hoch und eilten nach der Richtung, aus welcher der Schall zu uns gedrungen war. Dort sahen wir, daß es sich nicht um die Anwesenheit von Menschen handelte, sondern um ein Herabbröckeln des Deckengesteines, und zwar genau an derselben Stelle, an welcher ich gesessen und den beginnenden Spalt über mir bemerkt hatte. Dieser Spalt war jetzt breiter und größer als vorher. Es waren ganz beträchtliche Sinterstücke herabgefallen. Jedenfalls lockerte sich etwas da oben. Wer hier vorüber wollte, der hatte von jetzt an vorsichtig zu sein. Doch nahm ich diesen Gedanken sehr gleichgültig auf, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung von der eigentlichen Ursache dieses Phänomens.

Wir kehrten zu der Stelle zurück, an der wir beschäftigt gewesen waren, und folgten von da aus dem neu entdeckten, schmalen Seitengang, dessen Mündung wir noch nicht kannten. Der riesige lntschu-inta war erstaunt.

„Es ist, als ob du Winnetou seist“, sagte er. „Alles hörst du; alles siehst du; alles findest du! Wir aber, die wir schon ewig hier wohnen, hören nichts, sehen nichts und finden nichts! Du bist wie er, und er war wie du!“

Auch dieser Pfad führte von Höhle zu Höhle empor, aber viel steiler als der andere. Dann gab es künstliche Stufen, die in hartem Stein gehauen waren. Schließlich standen wir vor dem Ende. Aber dieses Ende bestand nicht aus einer Tür, einer Mauer, einem Stein, sondern aus unzähligen Wurzeln und Wurzelfasern, die aus dem Boden traten, der hier nicht aus Stein, sondern aus Erde gebildet war, und die schier undurchdringlich vorwärts strebten. Da mußten wir unsere Messer zu Hilfe nehmen. Und sie halfen. Indem wir alles, was uns im Wege war, wegschnitten und hinter uns schafften, drangen wir Schritt für Schritt vor und standen schließlich nicht mehr vor Wurzeln und lichtscheuen Ranken, sondern hinter einem dichten Gebüsch, durch dessen Gezweig hindurch das Tageslicht uns grüßte. Wir löschten die Fackeln aus.

Das Gebüsch wuchs mit noch anderem Gesträuch aus einem Steinhaufen heraus, der jedenfalls nicht natürlich entstanden, sondern künstlich hierhergebracht worden war, um den Gang, aus der wir kamen, zu verbergen. Indem wir hindurchkrochen, gaben wir uns Mühe, die Aeste und Zweige so wenig wie möglich zu verletzten. Dann standen wir – – – wo? Am linken „Ohr des Teufels“, also ganz so, wie ich vermutet hatte; das rechte Ohr lag jenseits des Fahrweges grad gegenüber.

„Uff, uff!“ sagte Intschu-inta. „Es geschehen Wunder!“

„Die Neuentdeckung von etwas so sehr Altem ist kein Wunder“ antwortete ich. „Wir befinden uns an eurer Devils pulpit.

„Deren Geheimnis kein Mensch entdecken kann!“

„Nicht? Wirklich nicht!“

„Nein. Nicht einmal Winnetou hat es gekonnt!“

„So warte! Vielleicht bist du es, der es kann!“

„Ich?“ fragte er erstaunt.

„Ja, du!“

„Unmöglich!“

„Ganz und gar nicht unmöglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Willst du schweigen, sogar gegen Tatellah-Satah, wenigstens einstweilen?“

„Ich will!“ versicherte er, mich erwartungsvoll anschauend.

„Gut! Sehen wir uns erst um! Steigen wir hinauf, auf das Ohr des Teufels, um seine Verhältnisse kennen zu lernen!“

Wir stiegen hinauf. Als wir oben waren, befand ich mich fast ganz genau in derselben Lage und in denselben Verhältnissen, wie auf der ersten Devils pulpit, wo der „junge Adler“ den Bär erlegte und ich mich dann mit dem Herzle von Kanzel zu Kanzel unterhielt. Es gab auch hier zwei Kanzeln, genau wie dort. Und drüben über der Straße gab es wieder zwei, die in ganz derselben Ausmessung zueinander standen. Für einen oberflächlichen Denker schien es hier also nicht nur eine, sondern zwei Ellipsen zu geben, in deren Brennpunkten man das leise Gesprochene laut hören konnte, nämlich die eine diesseits und die andere jenseits des Fahrweges. Der schärfer Denkende aber mußte gleich bei dem ersten Blick sehen, daß es weder hüben noch drüben eine besondere, wirkliche Ellipse gab, sondern daß diese Figur erst dann zustande kam, wenn man beide Abteilungen durch Verbindungslinien über den Fahrweg herüber vereinigte. Dann gab es allerdings eine große Doppelellipse mit vier Brennpunkten, hüben zwei und drüben zwei, bei deren richtiger Benutzung sich verschiedene Schallexperimente ermöglichten, die dem nicht Eingeweihten als Wunder erscheinen mußten.

Das sah man, wie gesagt, schon bei dem ersten Blicke, doch wurde dieser Blick schnell wieder von seinem Gegenstand abgezogen, und zwar durch eine höchst augenfällige Veränderung, die sich seit unserm letzten Hiersein in der umgebenden Szenerie vollzogen hatte. Nämlich die angefangene Winnetoustatue war inzwischen gewachsen, und zwar in einer Weise, die mir nur dann begreiflich wurde, wenn ich sah, wie groß heut die Zahl der Lastgeschirre war, auf denen die fix und fertig zubereiteten Quader von den Steinbrüchen herbeigeschleppt wurden, und wie groß die Zahl der Arbeiter, welche damit beschäftigt waren, diese Quader zur Figur zusammenzusetzen und mit schon vorgebohrten eisernen Spindeln, Klammern und Bolzen zu befestigten. Die Figur war bereits bis zum Unterleib gediehen; der künstliche Felsen, an den sie sich anzulehnen hatte, war im Entstehen, und die Gerüste, auf denen die Monteure zu arbeiten hatten, waren zwar erst heut entstanden, ließen aber Dimensionen vermuten, die in das Riesenhafte gingen. Als Intschu-inta sah, daß ich meine Aufmerksamkeit jetzt darauf richtete, sagte er:

„Sie arbeiten wie im Fieber. Sie sind ihrer Sache nicht mehr sicher. Sie sehen jetzt täglich mehr und mehr, daß nicht alle Welt ihrer Meinung ist. Darum soll diese Figur schleunigst fertiggestellt werden, um auf die Tausende von Festgenossen, welche man erwartet, den Eindruck zu machen, den man sich von ihr verspricht. Als ich vorhin die Fackeln holte, erfuhr ich, daß man entschlossen ist, jetzt Tag und Nacht an der Figur zu arbeiten, weil man gehört hat, daß auch du dagegen bist. Man hatte geglaubt, dich leicht auf die Seite schieben zu können.“

„Ah! Besonders wohl Mr. Okih-tschin-tscha, genannt Antonius Paper? Laß ihn schieben, laß ihn schieben! Wir aber wollen zu unsern jetzigen Pflichten zurückkehren. Es war doch unsere Absicht, zu versuchen, ob du es nicht vielleicht bist, der imstande ist, da Geheimnis eurer Devils pulpit zu entdecken. Wir haben hier zwei Kanzeln. Drüben sind auch zwei. Wir befinden uns hier auf der ersten; da bleibe ich jetzt; du aber gehst hinüber, auch auf die erste. Da stellst du dich hin und nennst in ganz gewöhnlichem Tone zehn Zahlen. Ich kann das hier hüben nicht hören, werde dir aber so dieselben Zahlen sagen.“

„Mir sagen?“ fragte er. „Höre ich es denn?“

„Ja.“

„Unmöglich!“

„Warte es ab! jetzt geh‘! Aber tue geheim! Sag‘ niemand, w n du gehst und was du dort willst!“

Er machte ein sehr ungläubiges Gesicht und entfernte sich. Ich schaute ihm nach, ohne mich aber von den Arbeitern und Fuhrleuten, welche auf dem Fahrweg verkehrten, sehen zu lassen. Sie beachteten ihn nicht. Er ging über den Weg hinüber und stieg auf die erste Kanzel. Man kann sich wohl denken, wie gespannt ich darauf war, ob das Experiment gelingen werde. Ich lauschte. Da, Gott sei Dank, da kamen sie, die zehn Zahlen, nämlich alle geraden der Reihe nach von zwei bis zwanzig. Ich wartete nur einen Augenblick, dann wiederholte ich sie ebenso langsam und deutlich, wie er sie ausgesprochen hatte.

„Uff, uff!“ hörte ich ihn dann verwundert rufen. „Bist du das wirklich, oder bist du es nicht?“

„Ich bin es“, antwortete ich.

„Und du hast mich gehört?“

„So genau wie du jetzt mich. Nun gehst du jetzt auf die andere Kanzel, auf die zweite, und sagst etwas anderes.“

„Was?“

„Irgend etwas. Du sprichst eine Frage aus, und ich antworte dir. Also, jetzt!“

„Gut, ich geh‘!“

Auch ich stieg von meiner Kanzel herab und ging nach der anderen. Da gab es kein Gebüsch; ich war also schnell oben. Da hörte ich ihn drüben kommen. Büsche raschelten, Zweige knackten. Dann war er oben und fragte:

„Bist du noch dort? Hörst du mich?“

„Ja, ich höre dich“, antwortete ich ihm, ohne ihm aber zu sagen, daß ich inzwischen auch meinen Platz gewechselt hatte.

„Soll ich vielleicht wieder zählen?“

„Ja. Zehn andere Zahlen.“

Er sagte die ungeraden Zahlen von einunddreißig bis neunundvierzig auf, und ich wiederholte sie ihm. Dann ließ ich ihn wieder nach der ersten Kanzel zurückkehren, um noch weitere zehn Zahlen auszusprechen. Ich sah ihn drüben kommen. Er stieg hinauf. Jedenfalls zählte er jetzt; ich hörte aber nichts. Nun wußte ich alles. Es handelte sich wirklich um eine Doppelellipse. Man konnte hören oder nicht hören, gehört werden oder nicht gehört werden, ganz wie es einem beliebte. Es kam nur auf die Orte an, die man wählte. Ich stieg von meiner Kanzel herab und ging nach dem Fahrweg zu. Da sah er mich und kam auch.

„Du hast beim letztenmal nicht geantwortet“, sagte er. „Oder habe ich dich überhört? Welch ein Wunder, welch ein Wunder! Uff, uff! Auf so weit kann kein Mensch das gewöhnliche Wort verstehen, und doch habe ich dich verstanden! Wie ist das zu erklären?“

„Denke darüber nach! Du bist es doch, der das Geheimnis erraten soll!“

„Du scherzest! Warum soll ich mühsam erraten, was du genau schon weißt! Denn wüßtest du es nicht, so hättest du mir nicht die richtigen Plätze anweisen können. Werde ich es erfahren?“

„Wenn Tatellah-Satah es erlaubt, ja.“

„Aber jetzt darf ich ihm nichts davon sagen?“

„Keinem Menschen! Du könntest großes Unheil anrichten, wenn du es auch nur einem einzigen verrietest. Jetzt komm‘ hinauf nach dem Schloß; die Sonne geht schon unter!“

Der Himmel war, so weit man ihn hier im Tal sehen konnte, von golddurchsichtigen Wölkchen überhaucht. Ein diamantenes Flammenzucken ging von Westen aus. Das blitzte und flimmerte im herrlichen Spiegel des Schleierfalles wider. Wie schade, wie jammerschade, daß die grad vor dem Fall sich erhebende tote steinerne Figur den Genuß dieser Schönheit fast unmöglich machte! Wir standen an der Krümmung der Straße und des Tales, an welcher man, von der oberen Stadt kommend, den Schleierfall zum erstenmal erblickte. Wir waren da stehen geblieben, um seinen Anblick zu genießen. Und nun störte uns diese fatale Figur, die, dem leichten duftigen Schleier entgegengesetzt, so schwer, so belastend, so bedruckend wirkte. Die Holzgerüste, welche sich vor diesem Schleier erhoben, taten dem Auge förmlich wehe, zumal man sie ohne Lot errichtet zu haben schien. Sie standen schief. Es gab nur einen einzigen Träger, der wirklich senkrecht stand. Diese Beobachtung machte ich nur so nebenbei. Sie erschien mir völlig unwichtig. Aber im Verlauf der irdischen Ereignisse gibt es nichts wirklich Bedeutungsloses; das sollte ich auch hier bald sehen.

Wir gingen nun nach dem Schlosse. Intschu-inta war unterwegs sehr still. Das Ergebnis unserer Nachforschung beschäftigte ihn innerlich. Oben angekommen, trennten wir uns. Er ging zu Tatellah-Satah, ich aber nach meiner Wohnung, wo ich das Herzle vermutete. Sie war auch da, und zwar nicht allein. Kolma Putschi war bei ihr. Beide saßen nebeneinander, Hand in Hand. Als ich eintrat, standen sie auf und kamen mir entgegen. Ihre Gesichter hatten den Ausdruck tiefer, ernster Rührung. Der Name Kolma Putschi ist dem Moquidialekt entnommen. Er bedeutet so viel wie Schwarzauge oder Dunkelauge. An diesem Auge, welches seinen Glanz noch immer besaß, erkannte ich sie sogleich wieder, obwohl sie sich übrigens se verändert hatte. Sie war bedeutend älter als ich. Ihre früher elastische Gestalt hatte sich gebeugt. Ihr grauglänzendes Haar war dünn gewordenen Zöpfen um den unbedecktem Kopf gelegt. Ihr sehr gealtertes Gesicht bestand aus lauter kleinen, winzigen, eng aneinander liegenden Fältchen. Und doch war es schön, dieses Gesicht. besaß jene von innen heraussprechende Schönheit, welche man Altersschönheit bezeichnet. Sie pflegt das Produkt vielen Leidens und Denkens zu sein. Ganz selbstverständlich war Kolma Putschi nicht mehr männlich, sondern weiblich gekleidet. Sie blieb vor mir stehe schaute mich lange, lange prüfend an und sagte dann, in ernstes Gesicht zu lächeln begann:

„Ja, das ist er! Noch ganz wie früher! Trotz der vielen, vielen Jahre, welche vergangen sind, seit wir uns nicht mehr sahen! Darf Shatterhand begrüßen?“

Sie fragte das, ohne mir die Hand entgegenzustrecken. Ich antwortete:

„Was gäbe es für einen Grund, dies nicht zu dürfen?“

„Die Feindschaft!“

„Welche Feindschaft? Ich kenne keine.“

„Auch ich kannte sie nicht; nun aber habe ich sie kennengelernt. Old Shatterhand ist in Beziehung auf das Denkmal unser Gegner!“

„Vielleicht Gegner, keineswegs aber Feind. Ich habe Kolma Putschi geachtet, geliebt und bewundert, so lange ich sie kenne, und werde ihr diese Freundschaft bewahren, so lange ich lebe. Ich bitte um ihre Hand, die so kühn und tapfer sein konnte und doch so mild und so edel zu gleicher Zeit.“

Da wurde ihr Gesicht wie heller, warmer Sonnenschein, der aus jedem Fältchen zu mir ausstrahlte. Wir reichten uns die Hände. Ich zog sie fest an mich heran und küßte sie auf die lieben, guten, einst so tieftraurigen Augen. Dann nahmen wir beieinander Platz, um das durch mein Kommen unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Da sah und hörte ich denn, daß Kolma Putschi im Verlauf der letzten Jahrzehnte viel, sehr viel gelernt hatte. Sie war mit Young Surehand und Young Apanatschka, ihren Enkeln, geistig emporgewachsen, aber leider nicht über die Anschauungen und Ansichten dieser Enkel hinaus. Sie schwärmte für die geplante, rein äußerliche Winnetou-Apotheose, und sie war überzeugt gewesen, daß ich und das Herzle ganz ebenso schwärmen würden. Als Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen entstanden, hatte sie geglaubt, daß es nur unseres Kommens bedürfe, um diese Konflikte zu lösen. Sie war in den letzten Tagen nicht hier gewesen und erst mit Old Surehand und Apanatschka zurückgekehrt. Da hatte sie dann alles erfahren, daß wir angekommen seien, daß man uns abstoßend und geringschätzig behandelt habe und daß uns aber von Tatellah-Satah die große Genugtuung bereitet worden sei, von ihm persönlich nach dem Schlosse abgeholt zu werden, um dort als seine besonderen Gäste in seiner Nähe zu wohnen. Das hatte die Spaltung zwischen Oberstadt und Unterstadt erweitert. Man befürchtete in der Unterstadt, daß nun grad Old Shatterhand, den man hatte auf die Seite schieben wollen, sich in der Denkmalsfrage das entscheidende Wort anmaßen werde, und das hatte Old Surehand und Apanatschka veranlaßt, zu erklären, daß sie fest entschlossen seien, mich in meiner Wohnung bei Tatellah-Satah nicht aufzusuchen. Kolma Putschi aber hatte es nicht über das Herz gebracht, in derselben Weise schroff zu sein. Sie hatte sich bei dem „Bewahrer der großen Medizin“ anmelden lassen, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, uns bei ihm besuchen zu dürfen, und er hatte sehr gern eingewilligt. Nun hatten die beiden Frauen während meiner Abwesenheit schon stundenlang beisammen gesessen und inniges Wohlgefallen aneinander gefunden. Das war zwar nur eine kurze Zeit, aber dem Herzle schien es trotzdem schon gelungen zu sein, ihrer Gastin das zu geben, was diese von ihr erwartete. Der Brief, den Kolma Putschi zu uns hinübergeschrieben hatte, schloß bekanntlich mit den Worten: „So komm also, und bring mir Deine Menschenliebe, Deine Herzensgüte und – – – Deinen Glauben an den großen, gerechten Manitou, den ich gern ebenso deutlich fühlen möchte, wie Du, meine Schwester, ihn fühlst.“ Diese Liebe, diese Güte und dieser Glaube, sie waren jetzt da. Was ich als Mann in scharfem Tone hätte sagen müssen, das hatte das Herzle in freundlicher Eindringlichkeit gesagt. Als ich jetzt kam, war Kolma Putschi schon mehr als halb zu unserer Ansicht herüberbekehrt, und es bedurfte nur noch weniger Worte, um ihr meine Ansichten und Entschlüsse zu präzisieren. Als sie mich bat, doch nach der Unterstadt zu kommen und Old Surehand und Apanatschka aufzusuchen, antwortete ich:

„Das darf ich nicht. Ich bin Gast Tatellah-Satahs, und wer ihn meidet, den habe auch ich zu meiden.“

„Steht es so, wirklich so?“ fragte sie besorgt.

„Ja, so!“ bestätigte ich. „Nach den Gesetzen der roten Männer ist das Haus meines Wirtes auch mein Haus. Wer es verachtet verachtet auch mich!“

„Verzeih! Wenn du von Verachtung sprichst, so irrst du dich. Niemand wird es wagen, dich zu verachten!“

„Falsch! Nicht ich bin es, der sich irrt. Ich wurde eingeladen, dem Mount Winnetou zu kommen. Ich kam. Man hatte mich zu empfangen, mich zu begrüßen, mich willkommen zu heißen. Wer das getan? Niemand kam zu mir. Ich wurde aufgefordert, zu euch kommen, euch nachzulaufen. Nun sollst du die Antwort hören, ich euch hierauf erteile.“

Das Herzle gab mir einen heimlichen Wink, doch nicht in energischen Ton zu sprechen; es war ja doch eine Frau, die ich vor mir hatte. Ich aber wußte gar wohl, was ich wollte, und fuhr in der Weise fort:

„Ich bitte Kolma Putschi, zu Old Surehand und Apanats gehen und ihnen zu sagen, daß ich sie für morgen zum Mittagessen zu mir einlade, hierher, in meine Wohnung. Es werden auch noch Personen geladen sein, doch wer sie sind, das weiß ich jetzt nicht.“

Da wurde ihr Gesicht noch ernster, als es so schon war.

„Du meinst, daß meine Söhne kommen werden?“ fragte sie.

„Ich hoffe es!“

„Zu Mittag?“

„Genau zu Mittag, keine Minute später.“

„Und wenn sie nicht kommen?“

Bei dieser Frage waren ihre Augen in größter Spannung auf mich gerichtet. Ich antwortete:

„So nehme ich das als die größte Beleidigung, die mir widerfahren ist; der Kampfplatz wird sofort abgesteckt, und die Kugeln werden sprechen!“

„Zwischen solchen Freunden, wie ihr gewesen seid?“

„Ein Freund, der mich beleidigt, ist schlimmer als ein Feind! Sag ihnen das! Teile ihnen mit, daß ich zwar grau geworden, aber noch immer der Alte bin! Wenn sie nicht kommen, schießen wir uns. Und dann wird euer ganzes Komitee zum Teufel gejagt und ein anderes, würdigeres gewählt. Winnetou war Häuptling der Apatschen. In welcher Weise er zu ehren ist, darüber haben nur Apatschen zu bestimmen!“

„Wenn Old Shatterhand droht, so ist das, was er droht, so sicher und gewiß, als sei es bereits geschehen. Du sprichst im Ernst?“

„Im vollsten Ernst! Weshalb hat Winnetou gelebt? Weshalb ist er gestorben? Etwa um einen jungen Maler und einen jungen Bildhauer berühmt zu machen? Und wie haben diese beiden unerfahrenen Leute ihn dargestellt? Wo ist sein Geist, wo seine Seele? Jeder Cowboy, Runner, Loafer oder Tramp kann genau in derselben Rowdy-Pose stehen wie die tönerne Figur da unten, von der man uns sagte, daß sie Winnetou bedeute! Bitte, liebes Herzle, zeige ihr einmal einen anderen Winnetou, nämlich den unseren!“

Meine Frau ging, den betreffenden Koffer zu öffnen, und brachte die photographischen Abzüge, welche sie daheim gemacht hatte. Als ich zu ihr trat, um den betreffenden herauszusuchen, benutzte sie diese Gelegenheit, mir leise zuzuraunen:

„Sei doch gut! Nicht so grob! Sie weint ja beinahe! Sie ist doch nicht schuld daran!“

„Mehr als du denkst!“ antwortete ich ebenso leise. „Sie versteht nichts von Kunst und vergöttert ihre Enkel. Laß mich nur!“

.Ich habe schon früher gesagt, daß ich den Sascha Schneiderschen, zum Himmel strebenden Winnetou mitgebracht hatte. Wir besaßen mehrere Abzüge davon. Ich nahm einen und befestigte ihn mit vier Nadeln an die Wand; dann brannte ich die Lampe an, denn es war inzwischen fast dunkel geworden. Das Licht fiel von beiden Seiten auf das Bild. Das Kreuz, welchem Winnetou entgegenschwebt, begann zu leuchten.

„Das ist unser Winnetou“, sagte ich, „nicht der eurige. Schau dir ihn an!“

Sie hob die Augen und sagte nichts. Sie trat näher hinzu und sagte nichts. Sie trat wieder zurück, Schritt um Schritt, und sagte nichts. Dann, an der gegenüberliegenden Wand angekommen, ließ sie sich in sitzende Stellung nieder, hielt ihre Augen unablässig auf das Bild gerichtet und sagte noch immer nichts. Aber in ihrem Gesichte glänzte der Schein einer höheren Freude. Es war etwas seelisch Schönes und seelisch Glückliches über sie gekommen, was sie nicht verstand und nicht zu deuten wußte. Da bewegte sich der Türvorhang neben ihr, und es trat jemand herein, dessen Kommen wir am allerwenigsten erwartet hatten, nämlich Tatellah-Satah. Er hatte mir vollständige Freiheit gewährt und sich vorgenommen, mich so wenig wie möglich zu stören; nach der heutigen Entdeckung aber und nach dem Bericht, den Intschu-inta ihm höchstwahrscheinlich erstattet hatte, war es ihm Bedürfnis gewesen, mich aufzusuchen, um Näheres zu erfahren. Er sah das Bild, blieb unter der Türe stehen und beobachtete es mit immer größer werdenden Augen. Dann trat er herein in das Zimmer, schritt langsam näher und näher, wich wieder zurück, tat einige Schritte vorwärts, während in seinem Gesicht die Gedanken kamen und gingen. Seine Augen leuchteten mehr und mehr. Es kam ein frohes Erkennen über ihn.

„Uff, uff!“ rief er endlich aus. „Das ist Winnetou? Der wirkliche Winnetou? Also unser Winnetou?“

Ich nickte.

„Aber nicht sein Körper, sondern seine Seele!“ fuhr er fort. „Sie schwebt zum Himmel! Ueber ihm das Kreuz! ähnlich dem Passiflorenkreuz, welches er in meinem Haus und in meinem Herzen pflanzte! Seinem Haar entfällt die Häuptlingsfeder! Das letzte Irdische, was noch an ihm haftete! Nun ist er erlöst! Nun ist er frei! Wie schön, wie schön!“

Er stand wie verzückt. Seine Lippen bewegten sich, doch hörte man die Worte nicht, die ihnen entschlüpfen wollten. Erst nach einiger Zeit sprach er laut:

„Das ist er; ja, das ist er! Könnten wir ihn unsern Völkern doch so zeigen, wie wir hier ihn sehen! Könnten wir ihm doch ein Denkmal setzen, welches ihn genauso gibt, wie ich ihn in diesem Augenblick empfinde – als Seele!“

„Das können wir!“ antwortete ich.

„Wirklich?“ fragte er.

„Ja! Das können wir, und das werden wir!“

„Unmöglich!“

„Warum unmöglich?“

„ihn als Seele zu zeigen? In Erz, in Marmor oder in sonstigem Gestein?“

„Nicht in Erz und nicht in Stein! Und doch höher und herrlicher ragend als die steinerne Gestalt, welche sich auf dem Mount Winnetou erheben soll!“

„Ich verstehe dich nicht!“

„Du wirst mich verstehen. Vielleicht schon morgen. Komm! Setz dich! Ich habe dir noch mehr zu zeigen.“

Er folgte dieser Aufforderung. Da erhob Kolma Putschi sich von ihrem Platz. Sie hatte ihr erstauntes Schweigen bis jetzt beibehalten; nun aber sagte sie, sich an mich wendend:

„Old Shatterhand hat gesiegt, wie immer. Doch nicht allein. Sondern mit seinem Freund und Bruder Winnetou.“

Bei diesen Worten deutete sie auf das Bild und fuhr dann fort:

„Freilich, einen solchen Winnetou bringt weder Young Surehand noch Apanatschka fertig! Ich gehe jetzt. Ich werde deine Einladung zum Mittagessen überbringen, und ich hoffe, sie stellen sich ein, die du zu sehen wünschest. Würdest du ihnen deinen Winnetou zeigen?“

„Wenn sie ihn zu sehen wünschen, ja.“

„So lebt wohl! Ich wußte bisher nicht, daß es Bilder gibt, die mächtiger und eindringlicher predigen, als Worte predigen können!“

Sie ging.

Ja, sie hatte bisher nicht geahnt, welche eine Sprache die wahre Kunst besitzt. Ich aber wußte es. Und darum hatte ich ihr dieses Bild gezeigt, für dessen Stimme in ihrem Herzen die tiefste Resonanz zu hoffen war. Sie hatte ihn ja persönlich gekannt, den es darstellte. Sie hatte ihn verehrt und geliebt. Und sie hatte es ihm zu verdanken, daß ihr einst so freudeloses Leben eine so unerwartete Wendung zum Glück genommen hatte. Da konnte sein Bild ja ganz unmöglich ohne Wirkung auf sie sein. Und diese Wirkung nahm sie jetzt mit sich heim. Meine Strenge war berechnet, und ich erwartete, daß diese Rechnung stimmen werde. Als sie sich entfernt hatte, begann Tatellah-Satah:

„Ich komme, um dich über deine Höhlenforschung zu hören und dir sodann die Bibliothek zu zeigen, aus welcher die Karte gestohlen worden ist. Doch sprechen wir vorher erst über dieses Bild. Hast du vielleicht nur dieses eine? Dann darf ich den Wunsch nicht aussprechen, den ich hege.“

„Ich besitze mehrere.“

„So bitte ich dich, mir eines davon zu schenken!“

„Nimm dieses hier! Es ist dein!“

„Ich danke dir! Ist es nicht sonderbar, daß Old Shatterhand immer der Gebende ist, so oft er zu seinen roten Brüdern kommt? Was er von ihnen bekommt, ist wenig, denn sie sind arm. Was aber er gibt, das sind innere Reichtümer, für die es keine äußere Bezahlung gibt. Wenn ich in dieser Weise von Old Shatterhand spreche, so meine ich nicht ihn allein, sondern das Bleichgesicht überhaupt, dem wir von jetzt an nur noch Gutes zu verdanken haben werden. Glaubst du, mit diesem Bild die Gegner zu besiegen?“

„Nicht mit Winnetous Bild, sondern durch Winnetou selbst. Das Bild soll nur der Schlüssel sein, der mir die Herzen und das Verständnis öffnet. Während die da unten am Schleiersee am Monument bauen, lasse auch ich bauen.“

„Was?“

„Auch eine Figur, eine Winnetoufigur. Aber unendlich größer, schöner und edler, als sie je ein Künstler herstellen könnte.“

„Und wer baut sie? Du?“

„Ich? O nein! Wenn kein Künstler das vermag, so vermag ich es doch noch viel weniger! Der Baumeister, der Bildhauer ist Winnetou selbst! Und sein Werk ist ein Meisterwerk. Es ist schon vollendet. Ich brauche es nur aufzustellen.“

„Wo hast du es?“

„Hier, im Nebenzimmer. Ich grub es aus. Am Nugget-tsil. Es ist sein Vermächtnis. Es sind die Manuskripte, welche er schrieb. Laß also die Surehands und die Apanatschkas da unten am Wasserfall bauen! Wir bauen auch! Hier oben, bei dir, im Schlosse. Wessen Bau eher fertig wird und welcher der wertvollere ist, das wird sich finden! Ich bitte dich um die Erlaubnis, morgen ein Mittagessen zu geben. Punkt zwölf. Ich ließ Old Surehand und Apanatschka durch Kolma Putschi laden.“

„Uff! Die kommen nicht!“

„Sie kommen! Denn ich ließ ihnen sagen, daß ich, falls sie mich durch Absage beleidigen, die Kugeln sprechen lassen werde.“

„So kommen sie!“

„Ich lade alle deine Häuptlinge dazu. Auch Athabaska und Algongka, Wagare-Tey, Avaht-Niah, Schako Matto und andere. Nur dich nicht. Denn du hast höher zu stehen, als alle die, welche ich nannte.“

„Tue, was dir beliebt: du weißt, daß du Herr hier bist. Sag‘ Intschu-inta alles, was du brauchst, besonders die Speisen, welche du wählst. Er wird dir alles besorgen. Darf ich fragen: Wozu dieses Mittagessen?“

„Erstens, um Old Surehand und Apanatschka herbeizuzwingen. Zweitens und hauptsächlich aber, um mit diesen Häuptlingen allen das zu bilden, was die Bleichgesichter als einen Lesezirkel bezeichnen. Sie haben täglich des Abends hier oben im Schloß zu erscheinen. Du übernimmst den Vorsitz, und ich lese vor, was Winnetou geschrieben und allen roten, weißen und anderen Menschen hinterlassen hat.“

„Uff, uff! Vortrefflich, vortrefflich!“ rief der „Bewahrer der großen Medizin“ aus.

„In diesen Papieren ist sein Geist und ist seine Seele enthalten. Während ich lese, tritt aus ihnen seine klare, reine, edle und wahrhaft große Persönlichkeit hervor. Im Innern des Zuhörers bildet sich die seelische, also die wirkliche, die wahrheitstreue Figur meines und deines Winnetou. Und wer diese in sich fühlt, wer sie geistig gesehen und begriffen hat, der ist für das Komitee und für Mr. Okih-tschin-tscha alias Antonius Paper verloren. Stimmst du mir bei?“

Er reichte mir die Hand und sprach:

„Ich bin von ganzem Herzen einverstanden! Zwar kenne ich das, was unser Winnetou geschrieben hat, nicht wörtlich, aber er hat mich oft einen Blick in diese Gedanken tun lassen, und so vermute ich, daß der von dir vorgeschlagene Weg wahrscheinlich ohne häßlichen Kampf zum Frieden führt. Also, ich bin einverstanden.“

„So nimm dein Bild, und erlaube mir, dir noch ein zweites zu zeigen.“

Ich gab ihm das erstere und steckte einen großen Abzug von Marah Durimeh an dessen Stelle. Kaum sah er diesen, so erhob er sich von seinem Sitz und rief aus:

„Wer ist das? Bin das ich? Ist das meine Schwester? Ist es meine Mutter? Oder eine Ahne von mir?“

„Es ist Marah Durimeh, von der ich dir noch viel erzählen werde.“

„Du sagst Marah Durimeh. Ist das gleichbedeutend mit unserer Königstochter Marimeh?“

„Ja; doch davon später. Da wir einmal hier bei den Bildern sind, zeige ich dir noch ein drittes.“

Ich steckte neben Marah Durimeh einen Abzug von Abu Kital an die Wand. Es war ein ganz eigentümlicher Eindruck, den dieses Porträt auf Tatellah-Satah machte. Er sah es starr an, schloß hierauf die Augen, dachte nach und sagte dann, ohne die Augen zu öffnen:

„Den kenne ich! Den hat mir Winnetou beschrieben. Und dabei sagte er mir, er habe diese Beschreibung von dir! Das kann nur der Gewaltmensch sein, dessen bloßer Anblick schon dem Herzen weh tut! Du hast ihn Abukal genannt.“

„Richtig! Nur der Name ist falsch. Er heißt Abu Kital, nicht Abukal. Ich habe mit Winnetou oft über ihn gesprochen.“

„Ich kann ihn nicht ersehen, bitte dich aber doch, ihn später einmal genau betrachten zu dürfen.“

„Nimm ihn mit. Nimm auch Marah Durimeh mit. Du kannst sie beide behalten; ich habe mehrere Exemplare.“

„So schlage sie mir ein, und gib sie mir!“

Ich tat dies. Erst als er sie in der Hand hatte, öffnete er die wieder und sprach:

„Ich gehe; ich nehme sie mit, alle drei. Sie halten mich in Gedanken fest. Ich bin ihr Gefangener. Nun fehlt mir für heut die Zeit, dir die Bibliothek zu zeigen. Ich werde es morgen tun oder später. Also, sprich mit Intschu-inta über alles, was du zum Mittagessen brauchst! Ich gehe.“

Es war ein eigentümliches Gefühl, welches er uns zurückließ Unsere Photographien hatten gar nicht den Zweck gehabt, in dem Mount Winnetou genommen zu werden, und nun schien uns hier von Wichtigkeit zu sein. Für das Herzle aber gab es zunächst noch viel größere Wichtigkeiten, und es versteht sich ganz von selbst daß sich diese alle auf das morgige Mittagessen bezogen. Die Einladung war von mir ausgegangen; darum fühlte sie sich als Wirtin. Sie war der Ansicht, daß sie mit Intschu-inta den Speisezettel besprechen habe. Sie ließ also den riesigen Diener kommen. Das machte mir Spaß. Als er sich einstellte, gab er uns vor allen Dingen die Versicherung, daß von allem, was wir brauchten, Fleisch, Mehl und anderes, mehr als genug vorhanden sei. Das klang so tröstlich, daß das Herzle Mut bekam. Sie stellte ein Menü auf. Eine Suppe Schaumklößchen, Huhn, Fisch, Braten, Kochfleisch, Salat, süße Speise, Käse usw. Vor allen Dingen lag ihr sehr viel an einem Ragout von Wildbret und einem Flammeri von Gries mit Beerensaue. Intschu-inta hörte andächtig zu und nickte zu allem. Er hatte alles; er wußte alles; er kannte alles; und er versprach alles. In Wahrheit ab wurde sein Gesicht immer länger und länger. Als sie die verschiedenen Gewürze erwähnte und dabei nach einer Peppermill fragte versicherte er, daß mehr als zwanzig Stück vorhanden seien. Da strahlte sie vor Vergnügen.

„Hörst du, es ist alles, alles da!“ jubelte sie. „Das wird ein Essen, mit dem ich Ehre einlege!“

„Liebes Herzle, willst du dir diese schönen Sachen nicht vielleicht erst einmal zeigen lassen?“ fragte ich.

„Ja, das werde ich!“ antwortete sie. „Aber du darfst nicht dabei sein!“

„Warum nicht?“

„Ich brauche dich nicht! Topfgucker verderben den Brei?“

„So gehe hin und koche! Meine Wünsche begleiten dich bis in die Küche!“

„Ich danke dir! Leb‘ wohl! Ich komme bald wieder.“

Sie entfernte sich froh-elastischen Schrittes. Intschu-inta folgte ihr. Aber ehe er ganz hinaus war, drehte er sich noch einmal um und warf mir einen derart hilflosen und verlegenen Blick zu, daß ich mir Mühe geben mußte, nicht laut aufzulachen. Nach einer Stunde brachte man mir das Abendbrot. Das Herzle ließ mir sagen, ich solle allein essen; sie käme noch nicht. Nach wieder einer Stunde schickte sie Intschu-inta und gab mir durch ihn die Nachricht, daß sie noch zwei Stunden brauche, um fertigzu werden. Ich wollte ihn fragen, um Näheres zu erfahren; aber er verschwand so schnell, daß ich gar nicht zu Wort kam. Ich las in Winnetous Manuskripten. Als die zwei Stunden vorüber waren, erklang hinter mir von der Tür her die Stimme meiner Frau:

„Geh‘ immer schlafen, wenn du müde bist! Ich habe noch längere Zeit zu tun!“

Ich drehte mich schnell nach ihr um, sah aber nur noch den Vorhang wackeln; sie selbst war schon wieder fort. Ich wartete noch eine Stunde; dann ging ich nach Winnetous Schlafzimmer und legte mich nieder. Wie lange ich geschlafen hatte, das weiß ich nicht. Da wachte ich auf. Ich fühlte ihre frische, gesunde Körperatmosphäre. Sie war da. Sie stand unter der Tür, die von meinem Zimmer nach der Wohnung von Winnetous Schwester führte, die jetzt die ihrige war. Ich räusperte mich. Da fragte sie:

„Bist du wach?“

„Ja; soeben erst aufgewacht“, antwortete ich. „Wieviel Uhr ist es?“

„Gleich drei Uhr.“

„Und so lange warst du in der Küche?“

„Ja; aber das ist gar keine Küche, sondern etwas ganz anderes, was ich dir am Tag zeigen muß. Es ist hier alles kolossal –.“

„Wie steht es mit der Schaumklößchensuppe?“

„Die gibt es natürlich nicht.“

„Mit dem Wildbretragout?“

„Auch nicht.“

„Mit dem Griesflammeri in Beerensauce?“

„Höre, ich glaube gar, du willst mich hänseln!“

„Und mit den zwanzig Peppermills?“

„Bitte, sei still! Du bist ein höhnischer Charakter! Ein abstoßender, unsympathischer Mensch, vor dem man sich in acht zu nehmen hat! Ist das der Lohn dafür, daß ich mich so redlich plage, um deinem Mittagessen Ehre zu machen? Bedenke doch: Neun Indianerinnen und vier Indianer in dem großen, riesigen Gewölbe, welches man hier als Küche zeigt! Was haben die rennen, laufen und arbeiten müssen! Und was werden sie noch zu arbeiten haben, bis das Essen beginnen kann! Es wird großartig! Ich backe sogar Pfannkuchen. Es ist alles dazu da! Nun aber gute Nacht!“

„Auf wie lange?“

„Auf nur zwei Stunden. Bis fünf Uhr. Dann muß ich wieder fort Alle dreizehn Personen sind wieder bestellt.“

„Mein armes Herzle!“

„O bitte! Hier gibt es gar nichts zu klagen! Ich fühle mich unendlich glücklich, für so viele und so berühmte Indianerhäuptlinge kochen, braten und backen zu dürfen! Niemals hätte ich mir das träumen lassen! Also, gute Nacht!“

Sie zog sich in ihre Wohnung zurück, und ich schlief wieder ein Als ich erwachte, war es schon später Morgen, und auf meiner Decke lag ein vom Herzle geschriebener Zettel, dessen Zeilen folgendermaßen lauteten: „Ich bin seit 5 Uhr munter. Es geht alles prächtig. Das Essen wird großartig. Du kannst schlafen bis halb 12. Da komm ich, dich zu wecken. Mit dem Speisesaal bin ich fertig; er steht bereit. Solltest du eher aufwachen, so inspiziere ihn, ob vielleicht etwas fehlt. Ueber die Gäste haben wir nichts Bestimmtes besprochen; darum hat ich an deiner Stelle alles eingeladen, was Häuptling heißt. Ist das ein Fehler? Zu essen haben wir genug. Es gibt sogar chinesischen Tee aus gerösteten Erdbeerblättern und einen ganzen Haufen Corn-Salad aus wildgewachsenen Rapunzeln. Dein Herzle.“

Das war so echt Klara! Alle Sorge nimmt sie mir ab. Ich soll womöglich nichts weiter tun als essen, trinken und schlafen, damit ich so lange wie möglich lebe. Ich stand schnell auf und rief Intschu-inta. Als er kam, teilte er mir mit, daß zwei Weiße da seien, die seit einer Stunde auf mich warteten.

„Zwei Weiße?“ fragte ich. „Ich denke, es ist Weißen verboten, hierher zu kommen!“

„Sie sind Freunde von Okih-tschin-tscha. Der hat es ihnen erlaubt.“

„Ah so! Haben sie ihre Namen genannt?“

„Ja; sie sind Brüder und heißen Enters.“

„Die kenne ich. Wo sind sie?“

„Noch im Hof. Soll ich sie heraufbringen?“

„Nein. Ich gehe hinunter. Was tut meine Frau? Wo steckt sie jetzt?“

„Noch immer in der Küche; da gebietet sie wie eine Königin; da strahlt sie wie eine Sonne, und da arbeitet sie wie das ärmste Weib eines Coyoteindianers. Sie hat heute früh eine Gehilfin bekommen, über die sie sehr glücklich ist.“

„Wen?“

„Aschta, die unvergleichliche Frau Wakons, des berühmten Medizinmannes der Sioux. Diese hatte unten im Lager gehört, daß Old Shatterhands Squaw es übernommen habe, die Wirtin unserer heutigen Gäste zu sein, und ging sofort herauf zu ihr, um sie zu bitten, ihr helfen zu dürfen. Nun werden es zwei Wirtinnen sein, eine europäische und eine indianische, die sich vorgenommen haben, die Bedienung der Häuptlinge selbst zu überwachen. Doch schau, wer kommt da unten?“

Wir standen am Fenster. Er zeigte nach der Unterstadt. Dort war ein Zug von vielleicht hundert Indianern angekommen, in Leder gekleidet und wie es schien, sehr gut beritten. Welchem Stamm sie angehörten, konnten wir nicht erkennen. Sie hielten sich dort nicht auf, sondern wendeten sich nach der oberen Stadt. Eine hochgewachsene, stolz zu Pferde sitzende Gestalt ritt ihnen voran. Ich hatte keine Zeit, sie weiter zu beobachten, denn die Brüder Enters warteten auf mich. Als ich in den Hof kam, hatten sie sich um möglichst wenig beachtet zu werden, in einen abgelegenen Winkel zurückgezogen. Hariman freute sich, mich zu sehen; das war ihm anzumerken. Sebulon war zurückhaltender wie immer.

„Ihr seid gewiß überrascht, uns hier zu sehen, Mr. Burton“, sagte der erstere. „Wir können keine langen Reden halten, denn niemand da unten soll wissen, daß wir mit Euch verkehren. Warum habt ihr Euch am dunklen Wasser nicht von uns sehen lassen?“

„Weil wir schneller fort mußten, als wir gedacht hatten“, antwortete ich. „Sind die vier Stämme noch dort?“

„Heut‘ nicht mehr; sie sind unterwegs. Sie kommen in drei Tagen hier an.“

„Wie stark?“

„Ueber viertausend Reiter.“

„Wo verstecken sie sich?“

„In einem fern von hier liegenden Tal, welches das Tal der Höhle heißt.“

„Kennt Ihr es?“

„Nein. Wir werden es aber heut schon aufsuchen, um später zu wissen, woran wir sind. Die Hauptsache war, uns bei Euch anzumelden.“

„Wie kommt es, daß man Euch zugelassen hat? Man wollte doch keine Weißen hier dulden!“

„Wir waren an Mister Antonius Paper empfohlen.“

„Von wem?“

„Von Kiktahan Schonka. Da ließ man uns passieren.“

„Wo haltet ihr euch jetzt auf?“

„Eben bei Antonius Paper, dem Schurken!“

„Was? Wie? Schurke? Wie kommt ihr dazu, ihn so zu nennen?“

„Weil er einer ist! Wir kamen hierher, um ehrlich gegen ihn zu sein. Wir richteten alles an ihn aus, was uns von Kiktahan Schonka anvertraut worden war. Er tat, als sei er unser allerbester Freund. Er veranlaßte uns sogar, bei ihm zu bleiben. Dann aber belauschten wir ihn im Gespräch mit dem Agenten Evening, und da erfuhren wir, daß er der größte Schuft ist, den es geben kann. Denkt Euch, Mister Burton, wir beide sollen von Kiktahan Schonka, Paper und Evening ausgenutzt werden, ohne etwas dafür zu bekommen. Ja, noch schlimmer: Wenn man uns nicht mehr braucht, sollen wir auf die Seite geschafft werden und verschwinden. Ist so etwas zu denken?“

„Ich denke es mir nicht nur, sondern ich weiß es schon längst. Ich weiß sogar noch mehr. Nämlich Paper und Evening werden von dem alten Kiktahan Schonka ebenso betrogen wie ihr. Auch sie sollen verschwinden, wenn der große Streich gelungen ist. Die verbündeten Häuptlinge wollen nichts geben, sondern alles für sich behalten.“

All devils! Da seid Ihr ja der einzige ehrliche Mensch, den es hier gibt! Wir stecken mitten zwischen Lügnern und Verrätern! Gebt uns guten Rat, Mister Burton; wir brauchen ihn!“

Was ich ihnen riet, versteht sich ganz von selbst. Sie sollten bei Paper bleiben, die Augen offen halten und mir alles mitteilen, was sie beobachteten. Das weitere würde sich dann finden. Als sie fortgingen, war ich ihrer bedeutend sicherer als vorher. Doch ehe sie sich entfernten, fragte Sebulon in etwas zaghafter Weise:

„Darf ich erfahren, wie es Mistreß Burton geht?“

„Ich danke“, antwortete ich. „Sie befindet sich sehr wohl. Sie spricht oft von Euch.“

„Wirklich, wirklich?“

„Ja. Ich glaube sogar, sie hat Euch gern.“

Da nahm sein Gesicht einen ganz eigentümlichen, glücklichen Ausdruck an, der alles Schlimme, was sonst von ihm zu denken war, vergessen ließ. Seine Lippen bewegten sich, als ob er noch etwas sagen wollte, doch wurde es nicht laut.

Als sie zum Tor hinaus wollten, mußten sie zur Seite treten. Ein Reiter kam herein. Ich erkannte den hohen stolzen Mann, der den vorhin angekommenen Indianern vorangeritten war. Er beachtete die Brüder nicht, kam bis zu mir herangeritten, schaute mich an und sagte in kurzer, bestimmter Weise:

„Noch sah ich dich nie! Aber du bist Old Shatterhand?“

„Der bin ich“, antwortete ich.

„Ich komme direkt zu dir, zu keinem andern. Ich hörte, daß du hier oben wohnst. Daß meine Squaw bei der deinen sei. Ich kam soeben an. Ich bin Wakon. Ich bringe euch die auserlesene Jugend meines Stammes.“

In seinem Gesicht strahlte die Freude des Erkennens. Er schwang sich vom Pferd und begrüßte und umarmte mich wie einen alten, sehr lieben und sehr werten Bekannten.

„Ich bin dein Freund“, fügte er hinzu. „Laß mich dein Bruder werden. Zeig‘ mir deine Squaw und auch die meine, damit ich beide begrüße!“

Ich hatte keine Ahnung, wo die sogenannte Küche zu suchen war. Zum Glück erschien in diesem Augenblick unser riesiger Intschu-inta, der uns nach der richtigen Stelle brachte. Das war im Parterre, hinter einer großen, offenen Halle. Man sah uns kommen. Da traten sie heraus, die beiden, die wir suchten: das Herzle, die Ärmel aufgeschlagen und die beiden Arme bis an die Ellbogen mit Teig beklebt, und Aschta, die Mutter, auch beide Ärmel aufgeschlagen, die Arme aber glänzend von Backfett, Salat und ähnlichen guten Dingen. Wir lachten alle vier. Eine gegenseitige Berührung war unmöglich. Darum nahm die Begrüßung einen weniger intimen Verlauf, worauf wir beiden Männer unsere Frauen ihrem schmackhaften Beruf zurückgaben.

Intschu-inta nahm das Pferd des Medizinmannes in Verwahrung. Ich aber hielt mich für verpflichtet, Wakon zunächst zu Tatellah-Satah zu führen. In seinem Haus angekommen, hörten wir, daß er sich in der Bibliothek befinde. Diese lag im zweiten Haus. Ich übergehe die Begrüßung dieser hochbedeutenden Männer, auch die sehr wichtige Konferenz und Aussprache, welche hierauf folgte. Dann geleitete Tatellah-Satah uns durch die sämtlichen Räume der Bibliothek und nach dem dritten und vierten Haus, wo wir den Tempel und die weit ausgedehnten Räume fanden, in denen die geheimnisvollen Zeugen vergangener Jahrhunderte und Jahrtausende untergebracht waren. Eigentlich betrachten konnten wir nichts;, dazu war die Zeit zu kurz. Es handelte sich nur um einen schnellen, allgemeinen und nur orientierenden Blick auf all die Reichtümer und Herrlichkeiten, von deren Vorhandensein die Angehörigen der außeramerikanischen Rassen gar nichts ahnten. Wenn ich „Winnetous Testament“ veröffentliche, werde ich auf diese Räume zurückkommen und habe dann Zeit, ihrer so ausführlich zu gedenken, wie sie es verdienen. Eins nur will ich erwähnen. Nämlich wir sahen im Tempel die Riesenhaut des „längst ausgestorbenen Silberlöwen“, von welcher der Medizinmann der Komantschen im „Haus des Todes“ gesprochen hat. Dieser Löwe war allerdings ganz bedeutend größer gewesen, als die jetzigen Pumas sind. Die Schrift war noch vorhanden. Daneben hing die Haut des großen Kriegsadlers, die von dem Medizinmann der Kiowas erwähnt worden war.

Wir waren mit diesem unserem Rundgange noch lange nicht zu Ende, so mußte ich Tatellah-Satah bitten, uns für heute zu entlassen. Es waren nur noch Minuten, so mußten unsere Gäste erscheinen. Es gab da zwei Punkte, an die ich mit großer Spannung dachte. Der eine war, ob Old Surehand und Apanatschka erscheinen würden oder nicht. Hierauf kam sehr viel an. Der andere Punkt betraf das Mahl und das ganze Arrangement dieses sehr wichtigen, festlichen Empfanges. In letzterer Beziehung hatte ich mich auf Intschu-inta verlassen, der von Tatellah-Satah mehr als genügend instruiert worden war. Und in ersterer Beziehung war abzuwarten, ob wir uns mit den Künsten der roten und der weißen Küchenfee blamieren würden oder nicht. Ich bat Wakon, mir beim Empfange der Gäste ebenso beizustehen, wie seine Aschta meinem Herzle im Backen und Braten Hilfe leistete. Er war gern einverstanden.

Der Empfang fand nicht in demselben Raum statt, in dem später gegessen werden sollte, sondern in dem, wo die Platte mit den Friedenspfeifen stand. Kaum hatten wir uns da eingestellt, so kamen die ersten Gäste; die anderen folgten schnell hinterher. Die beiden letzten waren – – Old Surehand und Apanatschka. Als sie eintraten, suchten sie mit den Augen nach mir. Sie sahen mich, und da brach alles, alles, was früher gewesen war, durch, und all der gegenwärtige Zwist war verschwunden. Sie eilten jubelnd auf mich zu, drückten mich wieder und wieder an sich und baten, sich zu meiner Rechten und Linken niedersetzen zu dürfen. Wie froh ich war! Ich wußte nun mit einem Mal, daß ich gewonnen hatte.

Die Pfeifen wurden gefüllt. Ich hatte die Gäste zu begrüßen. Ich tat dies in kurzer, doch herzlicher Weise. Die Zeremonie des Rauchens braucht nicht beschrieben zu werden. Ein jeder antwortete. Als das vorüber war, galt es, den Hauptgegenstand des heutigen Tages in das Auge zu fassen. Eben wollte ich aufstehen und eine hierauf bezügliche Ansprache halten, da ging die Tür auf, und wer trat herein? Tatellah-Satah, der „Bewahrer der großen Medizin“. Sobald sie ihn sahen, erhoben sich alle Anwesenden ehrerbietig von ihren Plätzen. Ich brannte schnell eine Pfeife an und gab sie ihm. Er tat die vorgeschriebenen sechs Züge der Begrüßung, gab sie mir wieder und sprach so kurz und prägnant, wie nur jemand spricht, der zu gebieten versteht:

„Ich bin Tatellah-Satah. Ihr seid die Stimmen meines über alles geliebten Volkes. Ihr sollt erklingen, und ich will hören. Der edelste aller Männer dieses Volkes war Winnetou, der Häuptling der Apatschen. Ihm soll ein Denkmal werden. Was heißt das? Der Gedanke Winnetou soll äußerlich Gestalt gewinnen. Einige von euch denken sich diese Gestalt von Erz oder Stein. Sie soll auf der kalten, einsamen Höhe des Berges stehen. Wir andern denken uns diese Gestalt von Fleisch und Blut, nicht tot, sondern lebend. Ein jeder, der zur roten Rasse gehört, soll ein Tropfen dieses warmen, edlen Blutes sein. Der Winnetou der erstgenannten wird gehämmert, gemeißelt oder gegossen. Unser Winnetou aber soll sich von innen heraus entwickeln, aus dem Herzen heraus. Die ganze rote Rasse soll sich zu einem einigen Winnetou gestalten, der hoch über allem, was niedrig ist, auf den lichten Höhen des Lebens steht. Ein Stolz für uns und eine Freude für Manitou, den Allergrößten und Allerreinsten!“

Sich nun an Old Surehand und Apanatschka wendend, fuhr er fort:

„Ihr und eure Söhne seid für den steinernen Winnetou. Ob das richtig ist oder falsch, will ich nicht allein bestimmen. Ihr selbst sollt auch mit entscheiden. Ihr laßt euern Winnetou am Wasserfall stehen, damit wir ihn sehen und bewundern mögen. Wohlan, so bitten wir euch, dasselbe tun zu dürfen. Er soll nicht nur vor euern Augen, sondern in euch selbst entstehen. Ihr sollt ihn nicht nur sehen, sondern auch fühlen und empfinden. Dann sollt ihr sie beide vergleichen, den eurigen und den unsrigen. Und ist dies geschehen, so werden wir wissen, für welchen wir uns entscheiden. Wer stimmt mir bei?“

„Howgh!“ antwortete ich.

„Howgh!“ fielen alle diejenigen ein, die bisher gleicher Meinung mit mir gewesen waren.

„Howgh!“ riefen sogar auch Old Surehand und Apanatschka, teils hingerissen von der Erscheinung und der Beredsamkeit des Alten, teils aber auch, weil sie ihn nicht ganz verstanden und darum ihr Projekt noch immer als siegreich betrachteten. Hierauf sprach Tatellah-Satah weiter:

„Ich lade euch alle ein, zu mir zu kommen, heute abend, sobald es dunkel geworden ist. Bringt auch Young Surehand und Young, Apanatschka mit, die beiden Künstler, die nur ihren steinernen Winnetou kennen, den andern, den lebendigen, aber nicht. Sie sollen die wahre Kunst kennenlernen, welche nicht darin besteht, das Irdische abzukonterfeien, sondern das Himmlische im Irdischen nachzuweisen. Sie sollen heut abend bei mir den sprechen hören, den sie daoben auf dem Berg versteinern wollen. Sie sollen erfahr er von ihnen verlangt. Und haben sie das von ihm gehört, so wollen wir sie fragen, ob sie noch darauf bestehen, uns ein totes Bild zu geben, anstatt Leben, Fleisch und Blut. Also, ich erwarte euch alle, alle. Ich habe gesprochen!“

Er winkte mit der Hand, drehte sich um und verschwand aus dem Zimmer. Niemand sprach ein Wort, so tief war der Eindruck, den er hervorgebracht hatte. Da erschien Intschu-inta und meldete, daß das Mahl bereitet sei. Das brachte wieder Bewegung in die Versammlung, welche sofort aufbrach, dem Ruf der roten und der weißen Köchin zu folgen.

Das gute Herzle überraschte mich durch zweierlei. Erstens hatte sie ihr indianisches Frauengewand angelegt, aus seidenweicher gefertigt und mit uralten Perlen und Fransen verziert. Und zweitens war das von ihr und Aschta getroffene Arrangement ein so frappantes und gelungenes, wie ich es nicht hatte erwarten können. Es waren, ohne daß ich es gemerkt hatte, sehr viele Hände tätig gewesen, den Raum zu einem indianisch festlichen zu gestalten, und das Mahl war geradezu raffiniert bereitet und zusammengestellt, wenn es auch dabei Genüsse gab, über die ein englischer oder französischer Koch die Hände über den Kopf zusammengeschlagen hätte. Aber grad das, was ich für am gewagtesten hielt, das aßen die Häuptlinge am liebsten. Wenn mir angst über ein neues Gericht wurde, über dessen Unbefangenheit ich sehr im Zweifel war, da griffen sie am schnellsten zu. Sie fanden alles wunderbar. Was vorgelegt wurde, verschwand, als sei es nie dagewesen. Aber es wurde ergänzt. Es kam immer mehr und mehr. Es wollte gar kein Ende nehmen, bis schließlich doch der eine und der andere das Messer beiseite legte und ernstlich erklärte, daß es ihm am Atem fehle. Der rote Mann ißt gern und ißt viel. Und grad da, wo alles aufhören wollte, wurden noch ganze Berge von Pfannkuchen gebracht, mit allen möglichen und unmöglichen Dingen gefüllt. Das kam von diesem nichtsnutzigen Wesen, dem Herzle, dem es ganz gleichgültig ist, ob man an zu viel Pfannkuchen stirbt oder nicht, wenn sie einem nur gut bekommen. Und sie wurden alle! Und sie bekamen! Dann aber saßen die würdigen Häuptlinge sehr still und sehr satt nebeneinannder, und es war beiden, sowohl der roten als auch der weißen Köchin sehr deutlich anzusehen, daß sie sich in diesem Augenblick als Siegerinnen fühlten; wir aber waren die Geschlagenen.

Natürlich war die Unterhaltung während des Essens eine außerordentlich lebhafte gewesen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, aus was für Personen und Charakteren sich die Gesellschaft zusammensetzte. Ich saß, wie bereits erwähnt, zwischen Old Surehand und Apanatschka. Was während der Zeit, in der wir einander nicht gesehen hatten, mit uns geschehen war, das hatten wir uns sehr bald in großen, allgemeinen Zügen mitgeteilt. Auch über die Frage, ob ich in Old Surehands Landhaus vorgesprochen habe und wie ich zu seinen Pferden und Maultieren gekommen sei, wurde verhältnismäßig schnell hinweggegangen. Jetzt lag ihnen vor allen Dingen daran, mich womöglich für ihr Denkmalsprojekt zu gewinnen, und so bildete dies das einzige Thema für den ganzen weiteren Verlauf des Essens. Ich aber ließ mich in nichts ein. Ich stritt mich nicht. Aber indem ich ihnen erzählte, was wir am Nugget-tsil ausgegraben hatten, bereitete ich, ohne daß sie etwas davon bemerkten, die Wirkung des heutigen Abends vor. Old Surehand und Apanatschka waren kürzlich an der Pazific gewesen, von welcher aus die Umgebung des Mount Winnetou zu verproviantieren und mit allen erforderlichen Lebensbedürfnissen zu versehen war. Auch das war ein Geschäft, bei dem man viel Geld zu verdienen hoffte. Die Verbindung mit der Bahn mußte durch einen regen Wagen- und Packtierverkehr unterhalten werden. Diesen einzurichten, war die höchste Zeit, weil die Menschenflut, die man erwartete, hier nun bald einzutreffen hatte.

Nach dem Festmahl kehrten alle in ihre Zelte heim. Nur Wakon blieb mit seiner Squaw bei uns. Wir vier hatten uns gegenseitig schnell liebgewonnen. Ihre Tochter war oben im Wachtturm bei den Arbeiterinnen, die von dem „jungen Adler“ beschäftigt wurden. Ich schlug vor, zu ihm hinaufzuspazieren. Aschta war schnell einverstanden und bat, auch den alten, guten Pappermann mitzunehmen. Wakon aber hatte den Wunsch, in Winnetous Zimmer bleiben und dessen „Testament“ durchsehen zu dürfen. Das gestattete ich ganz selbstverständlich sehr gern. Pappermann wurde gerufen; dann stiegen wir durch den Wald zu dem „Adler“ empor.

Dieser f reute sich auf richtig, als er uns sah, und führte uns auf das platte Dach seiner Wohnung. Dort gab es große Heimlichkeiten, von denen ich jetzt noch nichts erzählen möchte. Es handelte sich, soviel sah ich sogleich, um einen Flugapparat, aber um keine der bis jetzt bekannten Konstruktionen. Ich sah für heute nur zwei eigenartige flordünne Flügel im Entstehen und zwei hohle Körper, oder sagen wir, zwei enganliegende Gewänder, welche außerordentlich kunstreich aus stahlharten aber federleichten Binsen geflochten waren. Es gab hierzu einen kleinen, nicht sehr schweren aber sehr wirkungsvoll len Motor, den er sich aus dem Osten mitgebracht hatte. Das war das Paket gewesen, welches er trug, als er in Trinidad zu uns kam. Die Körper waren noch nicht fertig. Es wurde noch an ihnen gearbeitet, und zwar schien Aschta, die jüngere, sich vorgenommen zu haben, sie gänzlich fertig zu stellen.

Es war eine wunderbare Aussicht hier oben. Darum blieben wir so lange da, bis wir nicht länger warten konnten. Dann stiegen wir wieder hinab nach unserer Wohnung, wo wir Wakon so vertieft in seine Lektüre fanden, daß er es fast überhörte, daß wir bei ihm eintraten. Er legte das Heft, in dem er soeben gelesen hatte, beiseite, stand auf und sprach:

„Ja, das ist Winnetou, Winnetou selbst! Wenn wir heute abend den vorlesen, wird er sich riesengroß und riesenstark in uns erheben und alle Gegner aus dem Feld schlagen. Ich fühle ihn schon in mir, mild, ernst, rein, keusch und edel, nur aufwärts strebend zur irdisch möglichsten Vollkommenheit. Das wird ein herrliches, ein schöpferisches Entstehen in uns selbst. Davon soll meine Squaw nicht ausgeschlossen sein. Ich nehme Aschta mit!“

„Und auch mich!“ bat das Herzle. „Oder ist es uns Frauen verboten, mit anwesend zu sein?“

„Eigentlich ja“, antwortete ich. „Aber niemand wird wagen, euch zurückzuweisen. Es handelt sich nicht um eine Häuptlingsversammlung, denn Young Surehand und Young Apanatschka sind auch geladen. Wo diese sein dürfen, dürft auch ihr erscheinen.“

Eben als ich dies sagte, kam Kolma Putschi. Sie sagte uns, daß Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne schon bei Tatellah-Satah seien. Sie habe sich mit ihnen eingestellt, um bei uns anzufragen, ob Aschta und das Herzle gesonnen seien, sich zu beteiligen. Da wünsche sie, sich ihnen anzuschließen. Das wurde ihr ganz selbstverständlich gewährt. Ich nahm, als wir nun gingen, nur die ersten beiden der Hefte mit, die Winnetou für mich geschrieben hatte.

Als wir bei Tatellah-Satah ankamen, waren schon alle anderen Eingeladenen anwesend. Er hatte sich nach dem herrlichen Passiflorenraum bringen lassen, nach welchem er nun auch uns geleitete. Da waren aus Fellen zahlreiche Sitze bereitet. Hohe, aus dem Wachse wilder Bienen bereitete Kerzen brannten. Damit die köstliche Blütenluft nicht durch die vielen Lichterflammen verunreinigt werde, stand die in das Freie führende Treppentür offen. Für den Vorleser, der war ich, gab es einen erhöhten Sitz, zu dessen Seiten, um mir das nötige Licht zu geben, die Kerzen vervielfacht waren. Als wir eintraten, standen die Anwesenden alle auf. Daß wir unsere Frauen mitbrachten, schien ihnen ganz verständlich zu sein. Tatellah-Satah forderte sie durch einen Wink auf, ihre Sitze wieder einzunehmen. Er selbst blieb stehen, um einige Worte des Grußes und der Einleitung zu sprechen. Er erklärte den Zweck unserer heutigen Zusammenkunft und Vorlesung und forderte die Versammelten auf, ihre Augen nach innen zu richten, um die Ankunft dessen, dem dieser Abend gewidmet war, ja nicht zu übersehen. Dann begann die Vorlesung. Die ersten Zeilen lauteten:

„Ich bin Winnetou. Man nennt mich den Häuptling der Apatschen. Ich schreibe für mein Volk. Und ich schreibe für alle, die da Menschen sind auf Erden. Manitou, der Große, der Allgütige, breite seine Hände aus über dies mein Volk und über alle, die es ehrlich mit ihm meinen!“

Als diese Worte erklangen, ging eine tiefe, fast möchte ich sagen, eine heilige Bewegung durch die Versammlung.

„Winnetou!“ „Winnetou!“ „Winnetou!“ hauchte es rundum.

Ich las weiter. Ein voller, inhaltsreicher Lapidarstil war meinem unvergleichlichen roten Bruder eigen gewesen, wie stets im Sprechen, so auch hier im Schreiben. Das wuchtete. Das hob empor! Und das riß hin! Den Inhalt dessen, was ich vorlas, wird man kennenlernen, wenn das Testament im Druck erscheint. Es entstand die Seele des Knaben Winnetou, die Seele der einstmals jungen, roten Rasse. Sie entwickelte sich; sie wuchs. Die Schicksale Winnetous waren die Schicksale seiner Nation. In dem ersten Heft, aus dem ich vorlas, beschrieb er seine Kindheit, in dem zweiten sein Knabenalter. Ich saß der offenen Tür grad gegenüber. Als ich zwischen den Zeilen einmal aufblickte, sah ich eine Gestalt, welche draußen vor der Tür, im Freien, erschien. Sie kam nicht herein. Sie setzte sich draußen nieder, um zuzuhören. Die Gestalt war jung. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Das Haar hing ihr lang und voll über den Rücken herab. War es Winnetou? Hatte er sich aus jener anderen Welt herniedergelassen, um dabei zu sein, wenn sein Vermächtnis laut zu sprechen begann?

Die Zuhörer waren bis tief in ihr Innerstes gefesselt. Ihre Augen hingen an meinem Mund. Sehr häufig erklang ein leises oder auch ein lauteres „Uff!“ Die Spannung war groß. Sie ließ nicht nach, sondern sie wuchs. Die sitzende Gestalt draußen vor der Tür regte sich nicht, so gefangen war sie von dem, was sie hörte. Ich las bis Mitternacht; da wollte ich aufhören; aber kein einziger der Anwesenden war damit einverstanden.

„Weiter, weiter!“ bat man von allen Seiten.

Wakon erbot sich, an meiner Stelle fortzufahren. Ich willigte ein. Er las und las, noch stundenlang, bis draußen der Morgen tagte und man sehen konnte, daß der vor der Tür Sitzende und so aufmerksam Zuhörende der „junge Adler“ war. Da stand ich auf und bat, Schluß zu machen; heute abend sei bessere Zeit als jetzt, in der Vorlesung fortzufahren. Nur in der Hoffnung auf dieses letztere war man einverstanden. Man erhob sich von den Sitzen. Kein einziger sprach ein Wort. Es erschien wie eine Entweihung, jetzt anderes zu sagen. Da deutete Tatellah-Satah hinaus nach dem östlichen Horizont und sprach:

„Meine Brüder mögen sehen, daß der Tag im Erscheinen ist, der junge Tag, den die Sprache der Menschen den Morgen nennt. Zur selben Zeit ist in mir und, wenn Manitou es will, in ihnen auch ein Tag erschienen, ein neuer, junger, schöner Tag, schöner als alle die Tage, die vergangen sind. Ich meine den neuen, großen, herrlichen Tag der roten Nation. Er wurde in diesen unserm Winnetou geweihten Stunden in euch geboren. Fühlt ihr ihn? Und fühlt ihr tief in euch die Seele dessen, um dessen Testament wir uns versammelten, zu erfüllen, was er uns in ihm erläutert und verheißen hat! Fühlt ihr sein Bild, welches in euch wachsen will?“

„Es ist da!“ antwortete Athabaska.

„Ja, es ist da!“ rief Aschta, die Begeisterte.

„Es ist da; es ist da!“ stimmten auch die anderen bei.

Sogar Old Surehand und Apanatschka bestätigten es. Nur ihre Söhne sagten noch nichts. Auch sie fühlten die tiefe Wirkung des Manuskriptes. Aber sie wußten, daß ihr Plan um so unausführbarer wurde, je mehr diese Wirkung sich vertiefte. Darum drängten sie das, was über ihre Lippen wollte, jetzt noch zurück.

„Und kommen meine Brüder heute abend wieder?“ erkundigte sich Tatellah-Satah. „Ich erwarte sie zu ganz derselben Zeit.“

„Wir kommen“, versicherte Algongka.

„Ja, wir kommen“, sagte Kolma Putschi, die ganz gewonnen war.

„Wir kommen; wir kommen!“ riefen alle anderen. Und dieses Mal waren auch die Stimmen der zwei jungen Künstler dabei.

So brachen wir auf und gingen heim. Bei uns angekommen, gestand das Herzle, ehe wir zur Ruhe gingen:

„Glaubst du, daß ich wirklich ein neues Wesen, eine seelische Gestalt in mir fühle, die vorher nicht vorhanden war?“

„Ich glaube es. Doch bitte, sprechen wir ja nicht in Rätseln. Es ist die Gedankenwelt Winnetous, die uns ergriffen hat und uns erobern wird, ob wir mögen wollen oder nicht. Gute Nacht, Herzle!“

„Gute Nacht! Ich glaube, wir siegen!“ – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Die Railtroublers

Die Railtroublers

Der Senat und das Haus der Repräsentanten der Vereinigten Staaten beschließen:

„1. Der Landstrich, in den Territorien Montana und Wyoming liegend, nahe dem Ursprunge des Yellowstone River, ist hierdurch von jeder Besitznahme, Besiedelung und jedem Verkaufe unter den Gesetzen der Vereinigten Staaten ausgenommen und soll als ein öffentlicher Park oder Lustplatz zum Wohle und Vergnügen des Volkes betrachtet werden. Jedermann, der sich diesen Bestimmungen zuwider dort niederläßt oder von irgend einem Teile Besitz ergreift, soll als Übertreter des Gesetzes angesehen und ausgewiesen werden.

2. Der Park soll unter die ausschließliche Kontrolle des Sekretärs des Innern gestellt werden, dessen Aufgabe es sein wird, so bald als tunlich solche Vorschriften und Anordnungen zu erlassen, als er zur Pflege und Erhaltung desselben für notwendig erachtet.“

Als mir die Bekanntmachung dieses Gesetzes in die Hände kam, freute ich mich herzlich über die Hochherzigkeit, mit welcher der Vereinigte-Staaten-Kongreß durch diese Beschlußfassung dem Volke ein Geschenk erhielt, welches zu kostbar war, als daß man es hätte gestatten können, daß die Spekulation und Gewinnsucht sich seiner bemächtige.

Tausende werden diese Bekanntmachung gelesen haben, ohne zu ahnen, was ihnen damit geboten wurde. Viele, sehr viele werden vielleicht gelächelt haben, daß die Regierung der Vereinigten Staaten einen 9500 Quadratkilometer großen Park, eine im wilden, unzugänglichen Felsengebirge liegende Landesfläche als Lust- und Erholungsplatz der Unterthanen reserviert. Die Zukunft aber wird beweisen und hat schon bewiesen, daß diese ganz ohne Beispiel dastehende Handlung einer der dankeswertesten Vorgänge ist, den Millionen seiner Zeit noch segnen werden.

Dieser Park ist nämlich ein Stück Wunderland, wie es auf Erden wohl kaum zum zweitenmal gefunden werden dürfte. Die ersten märchenhaften Nachrichten von demselben erhielt General Warren im Jahre 1856. Er fühlte sich durch dieselben veranlaßt, eine Expedition dahin auszurüsten, welche aber nicht so glücklich war, ihr Ziel zu erreichen. Erst zehn Jahre später gelang es Anderen, den Schleier teilweise zu lüften und die Welt eine reiche, nie geahnte Fülle der großartigsten Naturwunder ahnen zu lassen. Im Sommer des Jahres 1871 drang Professor Hayden erfolgreich vor, und seine Berichte, so sachlich und nüchtern sie auch gehalten waren, begeisterten den Kongreß zu dem Entschlusse, jenes außerordentliche Land nicht dem gemeinen Schacher in die Hände zu liefern.

Jenseits der weiten westlichen Prairien, fern noch hinter dem Höhenzuge der Blackhills, ragen die gigantischen Mauern des Felsengebirges zum Himmel empor. Man möchte sagen, hier habe nicht die Hand, sondern die Faust des Schöpfers gewaltet. Wo sind die Zyklopen, die solche Basteien zu türmen vermögen? Wo sind die Titanen, die solche Lasten bis über die Wolken treiben könnten? Wo ist der Meister, der jene Firnen mit ewigem Schnee und Eise krönte? Hier hat der Schöpfer ein Gedächtnis seiner Wunder errichtet, welches nicht imposanter und ergreifender sein könnte.

Und hinter jenen gigantischen Mauern, da wallet und siedet, da dampft und brodelt es noch heut aus den kochenden Tiefen des Erdinnern hervor; da treibt die dünne Erdkruste Blasen, da zischen glühende Schwefeldämpfe empor, und mit einem Getöse, welches dem Kanonendonner gleicht, sprühen riesige Geyser ihre siedenden Wassermassen in die zitternden Lüfte. Plutonische und vulkanische Gewalten kämpfen gegen die Gestaltungen des Lichtes. Die Unterwelt öffnet von Minute zu Minute den Rachen, um die Feuer der Tiefe emporzuspeien und die Gebilde des Tages in den tosenden Schlund hinabzusaugen.

Hier ist oft jeder einzelne Schritt mit Todesgefahren verbunden. Der Fuß kann durch die trügerische Kruste brechen, der dampfende Katarakt den müden Wanderer erfassen, der unterhöhlte Felsen mit dem Ruhenden in den gähnenden Abgrund stürzen. Aber diese Todesfelder werden einst Tausende von Wallfahrern sehen, welche in den heißen Quellen und ozonreichen Lüften Heilung ihrer Leiden suchen, und dann wird man auch jene wunderbaren Schlüfte und Klüfte entdecken, in denen die geizige Einsamkeit Schätze an Steinen und anderen Werten aufgespeichert hat, welche man an anderen Orten mit Gold aufwiegen würde. – – –

Es rief mich eine kleine geschäftliche Angelegenheit nach Hamburg, wo ich einen Bekannten traf, dessen Anblick alle Erinnerungen plötzlich aufleben ließ. Er war aus St. Louis, und wir hatten in den Sümpfen des Mississippi gar manches Stück Wild miteinander geschossen. Er war reich, sehr reich und bot mir freie Passage an, wenn ich ihm die Freude machen wolle, ihn nach St. Louis zu begleiten. Da ergriff mich die Prairiekrankheit mit voller, siegreicher Gewalt; ich sagte zu, telegraphierte nach Hause, um mir meine Gewehre und sonstigen Ausrüstungsstücke schleunigst kommen zu lassen, und nur fünf Tage nach unserem Wiedersehen schwammen wir bereits auf dem dienstfertigen Rücken der Elbe dem deutschen Meere und dem Ozean entgegen.

Drüben angekommen, vertieften wir uns für einige Wochen in die Wälder des untern Missouri; dann mußte er zurückkehren, während ich stromaufwärts nach Omaha City ging, um von da aus auf der großen Pacific-Bahn weiter nach Westen vorzudringen.

Ich hatte meine guten Gründe, gerade diese Route einzuschlagen. Ich hatte das Felsengebirge von den Quellen des Frazer-Flusses bis zum Hell Gate Paß, vom Nordpark bis hinunter zur Wüste Mapimi kennen gelernt, doch die Strecke vom Hell Gate Paß bis zum Nordpark, also eine Strecke von über sechs Breitegraden, war mir noch fremd geblieben. Und gerade hier sind die interessantesten Punkte des Gebirges zu suchen: die drei Tetons, die Windriverberge, der Südpaß und ganz besonders die Quellgegenden des Yellow Stone, Schlangenflusses und Columbia.

Dorthin war außer dem schleichenden Indianer oder einem flüchtigen Trapper noch kein Mensch gekommen, und es zog mich förmlich, mich an dem Wagnisse zu versuchen, in jene unwirtlichen, nach der Sage der Rothäute von bösen Geistern belebten Schluchten und Canons einzudringen.

Freilich war dies nicht so leicht, wie es sich erzählen läßt. Welche umständlichen und umfangreichen Vorbereitungen trifft der Schweizreisende, ehe er sich anschickt, einen der Alpenberge zu besteigen! Und was ist sein Unternehmen gegen dasjenige eines einsamen Westmannes, der es wagt, im Vertrauen nur auf sich allein und seine gute Büchse Gefahren entgegen zu gehen, von denen der zahme europäische Tourist gar keine Ahnung hat! Aber gerade diese Gefahren sind es, die ihn locken und bezaubern. Seine Muskeln sind von Eisen und seine Sehnen von Stahl; sein Körper kennt keine Anstrengungen und Entbehrungen, und alle Tätigkeiten seines Geistes haben durch unausgesetzte Übung eine Energie und Schärfe erlangt, die ihn selbst noch in der größten Not ein Rettungsmittel finden lassen. Daher ist seines Bleibens nicht in zivilisierten Distrikten, wo er seine Fähigkeiten nicht üben und betätigen kann; er muß hinaus in die wilde Savanne, hinein in die todbringenden Abgründe des Gebirges, und je drohender die Gefahren auf ihn einstürmen, desto mehr fühlt er sich in seinem Elemente, desto höher wächst sein Mut, desto größer wird sein Selbstvertrauen, und desto inniger hält er die Überzeugung fest, daß er selbst in der tiefsten Einsamkeit von einer Hand geleitet wird, die stärker ist als alle irdische Gewalt.

Was mich betrifft, so war ich zu einem solchen Unternehmen wohl vorbereitet. Nur eins fehlte mir, ohne das es geradezu unmöglich ist, in den dark and bloody grounds zu bestehen – ein gutes, zuverlässiges Pferd; doch verursachte mir dieser Mangel keine Kopfschmerzen. Den alten Wallach, der mich bis Omaha getragen hatte, verkaufte ich dort und setzte mich mit der festen Überzeugung in den Bahnwagen, daß ich ein gutes Pferd, sobald ich es brauchte, auch wohl bekommen würde.

Es gab damals auf dieser Bahn noch immer Strecken, welche nur interimistisch befahrbar waren. Daher erblickte man während der Fahrt an vielen Stellen noch Arbeiter, welche beschäftigt waren, den Bau von Brücken und Viadukten nachzuholen oder solche Punkte, welche bereits schadhaft geworden waren, wieder auszubessern. Diese Leute hatten, wenn sie nicht in der Nähe einer der damals wie Pilze aus der Erde schießenden Ansiedelungen arbeiteten, sich gewöhnlich ein Camp, ein Lager errichtet, welches mit einigen Befestigungen versehen war. Dieses letztere war notwendig der Indianer wegen, welche den Bau der Eisenbahn als einen Eingriff in ihre Rechte betrachteten und ihn auf alle Weise zu verhindern und zu erschweren suchten.

Aber auch noch andere Feinde gab es, Feinde, welche fast noch furchtbarer als die Rothäute waren.

Es treibt sich nämlich in der Prairie eine Menge Gesindels umher, welches sich aus denjenigen Elementen rekrutiert, welche der zivilisierte Osten ausgestoßen hat, Existenzen, welche auf alle Weise bankerott geworden sind und nun vom Leben nichts weiter zu erwarten haben, als was sie durch ein verbrecherisches Durchschweifen des Westens zu erreichen vermögen. Diese Menschen rotten sich bald zu diesem, bald zu jenem verderblichen Zwecke zusammen und sind mehr zu fürchten, als selbst die wildesten Indianerhorden. Zur Zeit des Eisenbahnbaues hatten sie es ganz besonders auf die jungen Ansiedelungen und auf die Camps abgesehen, welche entlang der Bahnstrecke entstanden, und es war daher nicht zu verwundern, daß diese Camps Befestigungen erhielten und die Bewohner derselben selbst während der Arbeit bewaffnet gingen.

Wegen der Angriffe, welche diese Räuber auf die Camps und kleinen Wagentrains unternahmen, wobei sie gewöhnlich den Schienenweg zerstörten, um den Zug zum Stehen zu bringen, wurden sie Railtroublers, Schienenstörer genannt. Man hatte ein scharfes Auge auf sie, so daß sie schließlich ihre Überfälle nur dann unternehmen konnten, wenn sich mehrere ihrer Trupps vereinigt hatten, so daß sie sich also zahlreich genug wußten. Übrigens herrschte gegen sie eine solche Erbitterung, daß jeder gefangene Railtroubler nichts anderes als den sicheren Tod zu erwarten hatte. Diese Banden mordeten ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes, darum konnte auch gegen sie von keiner Gnade die Rede sein.

Es war Sonntag nachmittag, als wir mit dem Zuge Omaha verließen. Unter den Reisegefährten befand sich kein einziger, der mein Interesse mehr als vorübergehend in Anspruch nahm. Erst am nächsten Tage stieg in Fremont ein Mann ein, dessen Äußeres sofort meine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Da er in meiner unmittelbaren Nähe Platz nahm, so hatte ich die beste Gelegenheit, ihn zu beobachten.

Sein Anblick bot eigentlich etwas so Komisches, daß ein oberflächlicher Beobachter gewißlich Mühe hatte, ein belustigtes Lächeln zu verbeißen; ich aber war an derartige Erscheinungen gewöhnt, um meinen vollen Ernst bewahren zu können. Der Mann war von kleiner Statur, dabei aber so dick, daß man ihn ohne große Mühe hätte kugeln können. Er trug einen Schafpelz, dessen rauhe Seite nach außen gekehrt war. Diese rauhe Seite war früher jedenfalls behaart gewesen, jetzt aber war die Wolle verschwunden, und nur hier und da erblickte man ein kleines, einsames Flöckchen, welches auf dem nackt gewordenen Leder das Aussehen einer Oase in der Sahara hatte. Vor Zeiten mochte dieser Pelz seinem Besitzer gepaßt haben, dann aber war er unter dem Einflusse von Schnee und Regen, von Hitze und Kälte so zusammengeschwunden, daß sein unterer Rand das Knie nicht mehr erreichte; er konnte nicht mehr zugeknöpft werden, und die Ärmel hatten sich bis in die Gegend des Ellbogens nach rückwärts konzentriert. Unter diesem Pelze sah man eine rotflanellene Jacke und eine Lederhose, welche jedenfalls einmal schwarz gewesen war, jetzt aber in allen Regenbogenfarben funkelte und ganz das Aussehen hatte, als ob es ihre Bestimmung sei, dem Besitzer als Wisch-, Tisch- und Taschentuch zu dienen. Unterhalb dieser antediluvianischen Hose erblickte man die nackten, blau gefrorenen Fußknöchel des Mannes und dann ein Paar Schuhe, die eine ganze Ewigkeit aushalten konnten. Sie waren aus rindsledernen Stiefeln geschnitten und hatten Doppelsohlen, die mit so starken Nägeln beschlagen waren, daß man mit ihnen hätte ein Krokodil tottreten können. Auf dem Kopfe trug er einen Hut, der außer der Fasson auch einen Teil der Krämpe verloren hatte. Um diejenige Körpergegend, welche vor Jahren einmal Taille gewesen war, jetzt aber eine wahrhaft staunenswerte Ausdehnung erhalten hatte, schlang sich ein alter Schal, dessen Farbe leider vollständig abhanden gekommen war und in welchem eine urahnenhafte Reiterpistole neben einem Bowiemesser steckte. Neben diesen beiden Waffen hing ein Kugel- und ein Tabakbeutel, ein kleiner Spiegel, wie man ihn auf deutschen Jahrmärkten für zehn Pfennige kauft, eine eingestrickte Feldflasche und vier Patenthufeisen, welche dem Pferde wie Schuhe angezogen und dann festgeschraubt werden können. Daneben erblickte ich ein Etui, dessen Inhalt mir jetzt noch verborgen war; später erfuhr ich, daß es ein vollständiges Rasierzeug enthielt, in der wilden Prairie höchst unnütz, wie mir schien.

Das Wunderlichste aber an diesem Manne war sein Angesicht. Dasselbe war so vollständig glatt rasiert, als ob er soeben aus dem Laden eines Friseurs gekommen sei. Die beinahe rosenroten Wangen waren so dick und fest, daß das kleine, kurze Stumpfnäschen zwischen ihnen beinahe verschwand und die zwei braunen, lebhaften Augen Mühe hatten, über sie hinwegzusehen. Sobald die mehr als vollen Lippen sich öffneten, erblickte man zwei Reihen blendend weißer Zähne, die ich aber sofort in Verdacht hatte, unecht zu sein. An der linken Seite des Kinnes hing eine gurkenähnlich gestaltete Verhärtung oder Wucherung, welche das Spaßhafte der Erscheinung dieses Mannes noch erhöhte, ihn aber nicht im mindesten zu genieren schien.

So saß er vor mir und hielt zwischen den kurzen, dicken Elefantenbeinen ein Schießgewehr eingeklemmt, welches der Flinte meines alten Sam Hawkens ähnelte wie ein Ei dem andern. Es erinnerte mich überhaupt fast noch mehr an diesen, als mich Sans-ear an ihn erinnert hatte.

Er hatte mit einem einfachen „Good day, Sir!“ bei mir Platz genommen und schien sich dann nicht im geringsten weiter um mich zu bekümmern. Erst eine Stunde später bat er mich um die Erlaubnis, eine Pfeife rauchen zu dürfen. Das fiel mir auf, denn ein echter, rechter Trapper oder Fallensteller kümmert sich nicht darum, ob das, was ihm zu tun beliebt, von Andern gutgeheißen wird.

„Raucht, soviel Ihr wollt, Master!“ antwortete ich. „Ich werde Euch Gesellschaft leisten. Wollt Ihr Euch eine von meinen Zigarren anstecken?“

„Danke, Sir!“ meinte er. „Diese Dinger, welche man Zigarren nennt, sind mir zu nobel. Ich halte es mit meiner Pfeife.“

Er hatte nach Trapperart die kurze, schmierige Pfeife an einer Schnur am Halse hängen. Als er sie gestopft hatte, beeilte ich mich, ein Hölzchen hervorzulangen; er aber schüttelte abwehrend mit dein Kopfe, griff in die Tasche seines Pelzes und brachte eines jener Prairien-Feuerzeuge zum Vorschein, welche Punks genannt werden und trockenen Baummoder als Zunder enthalten.

„Auch so eine noble Erfindung, diese Zündhölzer, die nichts für die Savanne taugen,“ bemerkte er. „Man darf sich nicht verwöhnen.“

Damit war das kurze Gespräch beendet, und er schien nicht die mindeste Lust zu haben, ein neues anzuknüpfen. Er rauchte ein Kraut, dessen Duft mich sehr lebhaft an Walnußblätter erinnerte, und widmete dabei der Gegend seine ganze Aufmerksamkeit. So erreichten wir die Station Nordplatte an dem Vereinigungspunkte des Nord- und Südplatte-Stromes, Hier stieg er für kurze Zeit aus und machte sich an einem der vorderen Wagen zu schaffen. Ich bemerkte, daß sich in demselben ein Pferd befand, welches jedenfalls ihm gehörte.

Als er wieder eingestiegen war und der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, beobachtete er sein bisheriges Schweigen, und erst als wir am Nachmittage in Cheyenne am Fuße der Black Hills hielten, fragte er:

„Geht Ihr von hier aus vielleicht mit der Koloradobahn nach Denver zu, Sir?“

„Nein,“ antwortete ich.

Well, so bleiben wir Nachbarn.“

„Fahrt Ihr sehr weit mit der Pacific?“ fragte ich ihn.

„Hm! Ja und nein – wie es mir einfällt. Und Ihr?“

„Ich möchte am liebsten nach Ogden City.“

„Ah! Ihr wollt die Mormonenstadt sehen?“

„Ein weniges, und dann hinauf nach den Windriverbergen und den Tetons.“

Er musterte mich mit einem sehr ungläubigen Blick und meinte:

„Da hinauf? Das bringt nur ein sehr kühner Westmann fertig. Habt Ihr Gesellschaft?“

„Nein.“

Jetzt blickten mich seine kleinen Äuglein förmlich belustigt an, und er fragte:

„Allein? Hinauf nach den drei Tetons? Mitten unter die Sioux und grauen Bären! Pshaw! Habt Ihr vielleicht einmal gehört, was ein Sioux oder ein grauer Bär zu bedeuten hat?“

„Ich denke!“

„Ah! Hm! Darf ich fragen, was Ihr seid, Sir?“

„Ich bin Writer.“

„Writer? Schriftsteller? So! Ihr macht also Bücher?“

„Ja.“

Jetzt lachte er am ganzen Gesichte. Es gab ihm, ganz so wie früher dem kleinen Sans-ear, gewaltigen Spaß, daß ein Schriftsteller den Gedanken gefaßt hatte, ganz allein und nur auf sich selbst angewiesen, den gefährlichsten Teil des Felsengebirges aufzusuchen.

„Schön!“ sagte er kichernd. „So wollt Ihr wohl über die drei Tetons ein Buch schreiben, mein werter Master?“

„Vielleicht!“

„Und Ihr habt wohl einmal ein Buch gesehen, in welchem ein Indianer oder ein Bär abgebildet war?“

„Versteht sich,“ antwortete ich sehr ernsthaft.

„Und nun glaubt Ihr, daß Ihr da mitmachen könnt?“

„Allerdings.“

„Und Ihr habt wohl gar auch eine Flinte mit, die da in Euere Decke eingewickelt ist?“

„Ja.“

„So will ich Euch einen guten Rat geben, Sir! Steigt schleunigst aus, und macht, daß Ihr wieder nach Hause kommt! Ihr seid zwar ein langer, starker Kerl, aber Ihr seht mir gar nicht aus, als ob Ihr ein Eichhorn schießen könntet, viel weniger einen Bären. Das Lesen hat Euch den Kopf benebelt. Es wäre jammerschade um Euer junges Leben, wenn Euch beim Anblick eines Wildkätzchens der Schlag rühren sollte! Ihr habt gewiß einmal den Cooper gelesen?“

„Ja.“

„Dachte es mir! Habt vielleicht auch von berühmten Prairiemännern gehört!“

„Ja,“ antwortete ich abermals im bescheidensten Tone.

„Von Winnetou, von Old Firehand, von Old Shatterhand, von dem dicken Walker oder von dem langen Hilbers?“

„Von allen,“ nickte ich.

Das dicke Männchen ahnte gar nicht, daß er mir wenigstens ebensoviel Spaß machte, wie ich ihm.

„Ja,“ meinte er, „solche Bücher und Geschichten sind gefährlich, denn sie stecken an. Das klingt so schön und leicht, aber Master, nehmt mir’s nicht übel, Ihr dauert mich! Dieser Winnetou ist ein Apachen-Häuptling, der mit tausend Teufeln kämpfen würde; dieser Old Firehand schießt Euch jede einzelne Mücke aus dem Schwarm heraus, und Old Shatterhand hat noch niemals einen Fehlschuß getan und schlägt die stärkste Rothaut mit einem einzigen Hiebe zu Brei. Wenn einer von diesen Kerls sagt, daß er hinauf will zu den drei Tetons, so ist das zwar immer noch ein ganz gewaltiges Wagnis, aber man denkt doch, daß er es bestehen kann; aber Ihr – ein Büchermacher? Pshaw! Wo habt Ihr denn Euer Pferd?“

„Ich habe keines.“

Jetzt konnte er sich nicht länger halten; er platzte mit einem lauten Gelächter heraus:

„Hihihihi, kein Pferd, und hinauf nach den drei Tetons! Seid Ihr verrückt, Sir?“

„Ich glaube nicht. Wenn ich jetzt noch kein Pferd habe, so werde ich mir doch eins kaufen oder fangen.“

„Ah! Wo denn?“

„Da, wo es paßt.“

„Ihr, Ihr selbst wollt es Euch fangen?“

„Ja.“

„Das ist lustig, Sir! Ihr habt zwar einen Lasso da um Eure Schultern gewickelt, aber damit fangt Ihr keine Fliege, viel weniger einen wilden Mustang!“

„Warum?“

„Warum? Na, weil Ihr das seid, was man da drüben im alten Lande einen Sonntagsjäger nennt!“

„Und warum haltet Ihr mich für einen solchen?“

„Das ist doch einfach! Weil alles an Euch so nett und sauber ist. Seht Euch einmal einen tüchtigen Waldläufer an, und vergleicht ihn mit Euch! Eure hohen Reitstiefel sind neu und, wahrhaftig, sie sind ganz blank gewichst! Euere Leggins sind vorn feinsten Elenleder; Euer Jagdhemde ist ein Meisterstück aus der Hand einer indianischen Squaw; Euer Hut hat wenigstens zwölf Dollar gekostet, und Euer Messer samt den Revolvern haben sicherlich noch keinem Menschen weh getan! Könnt Ihr schießen, Sir?“

„Ja, ein wenig. Ich bin sogar einmal Schützenkönig gewesen!“ antwortete ich mit einer sehr wichtigen Miene.

„Schützenkönig! Ah, dann seid Ihr am Ende gar ein Deutscher?“

„Freilich!“

„Hm! So, so! Also ein Deutscher seid Ihr? Nach einem hölzernen Vogel habt Ihr geschossen, und Schützenkönig seid Ihr da geworden? So sind diese Deutschen! Old Shatterhand soll zwar auch ein Deutscher sein, aber das ist ja nur eine Ausnahme! Sir, ich bitte Euch herzlich, kehrt sobald wie möglich um, sonst geht Ihr zu Grunde!“

„Wollen sehen! Wo steckt denn eigentlich dieser Old Shatterhand, von dem Ihr redet?“

„Ja, wer weiß das! Als ich das letztemal da droben am Fox-Head war, traf ich den berühmten Sans-ear, der mit ihm geritten war. Dieser sagte mir, daß Old Shatterhand wieder hinüber sei ins Afrika, in die dumme Gegend, welche man die Wüste Sahara nennt. Dort schlägt er sich wohl mit den Indianern herum, welche den Namen Araber führen. Dieser Mann hat seinen Namen Shatterhand davon, daß es ihm ein Leichtes ist, mit der bloßen Faust einen Feind niederzuschlagen; er hat das sehr oft getan. Seht Euch dagegen einmal Eure Händchen an! Sie sind so zart und weiß wie die Hände einer Lady, und man merkt sofort, daß Ihr nur mit Papier umgeht und keine andere Waffe kennt als den Gänsekiel. Nehmt meinen Rat zu Herzen, Sir, und geht nach dem alten Germany zurück. Unser Westen ist keine Gegend für einen Gentleman von Eurer Sorte!“

Mit dieser Warnung beendete er das Gespräch, und ich gab mir keine Mühe, es wieder anzuknüpfen. Richtig war allerdings, daß ich zu Sans-ear gesagt hatte, ich würde später in die Sahara gehen.

Wir passierten die Station Sherman; dann wurde es wieder Abend. Die erste Station, welche wir beim Lichte des folgenden Morgens erblickten, war Rawlins. Hinter diesem Orte beginnt eine öde, wüste Gebirgslandschaft, deren einzige Vegetation in Artemisia-Büschen besteht, ein ungeheueres, unfruchtbares Bassin ohne Leben, ohne Flüsse oder Bäche, eine Gebirgs-Sahara, die keine einzige Oase kennt. Bald schmerzt der mit Alkalien gesättigte Boden mit seiner blendenden Weiße das müde Auge, und bald nimmt diese Wüste einen Charakter finsterer, tief melancholischer Größe an, hervorgebracht durch nackte Lehnen, dürre Abhänge und steile Felswände, welche von Sturm, Flut und Blitz zerrissen worden sind.

In dieser trostlosen Gegend liegt die Station Bitterer Bach, doch ist von einem Bache keine Rede, sondern das Wasser muß über siebzig Meilen weit herbeigeholt werden. Und dennoch wird sich hier einst ein reges, vielleicht großartiges Leben entfalten; denn es befinden sich hier unerschöpfliche Kohlenfelder, welche dieser Wüste eine Zukunft garantieren.

Wir dampften weiter, über Station Carbon und Green River hinaus, welche letztere 846 Meilen westlich von Omaha liegt. Das traurige Aussehen der Gegend hörte auf; die Vegetation begann wieder, und die Höhenzüge erhielten ein freundliches, erquickendes Kolorit. Wir hatten eben ein herrliches Tal durchsaust und fuhren hinaus auf eine freie, offene Ebene, als die Maschine in kurzer Reihenfolge jene gellenden Pfiffe ausstieß, welche das Zeichen einer drohenden Gefahr sind. Wir schnellten von unseren Sitzen empor; die Bremsen kreischten, die Räder knirschten – der Zug kam zum Stehen, und wir sprangen aus den Waggons hinaus auf die sichere Erde.

Der Anblick, welcher sich uns bot, war ein schauderhafter. Man hatte hier einen Arbeiter- und Fouragezug überfallen, und die Strecke war bedeckt von den verbrannten und halbverkohlten Trümmern desselben. Der Überfall war während der Nacht geschehen. Die Railtroublers hatten die Schienen aufgerissen, und infolgedessen war der Zug entgleist und den ziemlich hohen Damm hinabgestürzt. Was nun geschehen war, konnte man ahnen. Es waren beinahe nur noch die Eisenteile des verunglückten Zuges vorhanden. Man hatte in jeden Waggon, nachdem er beraubt worden war, ein riesiges Feuer gelegt, und in der Asche fanden wir die traurigen Überreste vieler Menschen, welche bereits bei dem Sturze verunglückt oder dann später von Railtroublers getötet worden waren. Kein Einziger schien lebend entkommen zu sein.

Es war ein Glück für uns, daß die offene Gegend es unserem Maschinisten erlaubt hatte, die Gefahr noch rechtzeitig zu bemerken, sonst wären wir auch den Damm hinabgestürzt. Die Lokomotive hielt kaum einige wenige Ellen von der Stelle, wo die Zerstörung begann.

Die Aufregung der Passagiere und des Zugpersonales war eine ganz bedeutende, und es ist geradezu unmöglich, die Kraftworte und Interjektionen wiederzugeben, welche ringsum zu hören waren. Man durchwühlte die noch rauchenden Trümmer, aber es gab nichts mehr zu retten, und nachdem der Tatbestand konstatiert worden war, konnte man nichts weiter tun, als die Strecke schleunigst wieder herzustellen, wozu jeder amerikanische Zug die notwendigen Werkzeuge bei sich führt. Der Zugführer erklärte, er müsse sich darauf beschränken, auf der nächsten Station Anzeige zu erstatten; das Übrige, und also auch die Verfolgung der Verbrecher, sei dann Sache der Jury, welche dort jedenfalls sogleich gebildet werde.

Während die andern Passagiere noch unnötigerweise in den Trümmern wühlten, hielt ich es für das Beste, mich einmal nach den Spuren der Railtroublers umzusehen. Das Terrain zeigte eine offene, mit Gras bewachsene und nur von wenigen Büschen unterbrochene Fläche. Ich ging eine ziemliche Strecke auf dem Geleise zurück und schlug sodann um die rechte Seite der Unglücksstelle einen Halbkreis, dessen Grundlinie von dem Bahnkörper gebildet wurde. Auf diese Weise konnte mir bei nur einiger Aufmerksamkeit nichts entgehen.

In der Entfernung von vielleicht dreihundert Schritten von der Unglücksstätte fand ich zwischen einigen Büschen das Gras niedergedrückt, als ob hier eine ziemliche Anzahl von Menschen gesessen hätte, und die noch im Grase erkennbaren Spuren führten mich an eine zweite Stelle, wo man die Pferde angehobbelt gehabt hatte. Diesen Platz untersuchte ich sehr sorgfältig, um die Anzahl und Beschaffenheit der Pferde kennen zu lernen; dann setzte ich meine Forschung weiter fort.

Am Schienenwege traf ich mit meinem dicken Nachbar zusammen, welcher, wie ich erst jetzt bemerkte, denselben Gedanken mit mir gehabt und die links von der Unglücksstelle gelegene Gegend abgesucht hatte. Er blickte verwundert auf und fragte:

„Ihr hier, Sir? Was tut Ihr?“

„Das, was ein jeder Westmann tun wird, wenn er in eine ähnliche Lage kommt: ich suche nach den Spuren der Railtroublers.“

„Ihr? Ah! Werdet auch viel finden! Das sind gescheite Kerls gewesen, welche es verstanden haben, ihre Spuren wieder zu verwischen. Ich habe nicht das Mindeste entdeckt; was wird da so ein Greenhorn finden, wie Ihr doch seid?“

„Vielleicht hat das Greenhorn bessere Augen gehabt als Ihr, Master,“ antwortete ich lächelnd. „Warum sucht Ihr hier auf der linken Seite nach Spuren? Ihr wollt ein alter, erfahrener Savannenläufer sein und seht doch nicht, daß sich das Terrain hier rechts viel besser zu einem Lagerplatze und Versteck eignet als links da drüben, wo fast gar kein Buschwerk zu sehen ist.“

Er blickte mir sichtlich überrascht in das Gesicht und meinte dann:

„Hm, diese Ansicht ist nicht übel! So ein Büchermacher scheint doch zuweilen einen guten Gedanken zu haben. Habt Ihr etwas gefunden?“

„Ja.“

„Was?“

„Dort hinter den wilden Kirschensträuchern haben sie gelagert, und dahinten bei den Haselbüschen standen die Pferde.“

„Ah! Da muß ich hin, denn Ihr habt doch nicht die richtigen Augen, um zu sehen, wie viele Tiere es gewesen sind!“

„Es waren sechsundzwanzig.“

Wieder blickte er mich mit einer Gebärde der Überraschung an.

„Sechsundzwanzig?“ fragte er ungläubig. „Woraus erkennt Ihr das?“

„Aus den Wolken jedenfalls nicht, sondern aus den Spuren, Sir,“ lachte ich. „Von diesen sechsundzwanzig Pferden waren acht beschlagen und achtzehn unbeschlagen. Unter den Reitern befanden sich dreiundzwanzig Weiße und drei Indianer. Der Anführer der ganzen Truppe ist ein Weißer, welcher mit dem rechten Fuß hinkt; sein Pferd ist ein brauner Mustanghengst. Der Indianerhäuptling aber, der bei ihnen war, reitet einen Rapphengst, und ich glaube, daß er ein Sioux ist vom Stamme der Ogellallah.“

Das Gesicht, welches der Dicke mir jetzt machte, läßt sich gar nicht beschreiben. Der Mund stand ihm vor Erstaunen offen und die kleinen Äuglein blickten mich mit einem Ausdrucke an, als ob ich ein Gespenst sei.

All devils!“ rief er endlich. „Ihr phantasiert wohl, Sir?“

„Seht selbst nach!“ antwortete ich trocken.

„Aber wie wollt Ihr wissen, wie viel es Weiße oder Indsmen waren? Wie wollt Ihr wissen, welches Pferd braun oder schwarz gewesen ist, welcher Reiter hinkt und zu welchem Stamme die Rothäute gehörten?“

„Ich habe Euch gebeten, selbst nachzusehen! Und dann wird es sich ja zeigen, wer bessere Augen hat, ich, das Greenhorn, oder ihr, der erfahrene Westmann.“

Well! Schön! Werden sehen! Kommt, Sir! Ein Greenhorn und erraten, wer diese Kerls gewesen sind!“

Unter Lachen eilte er der bezeichneten Stelle zu, und ich folgte ihm langsamer nach.

Als ich ihn wieder erreichte, war er so eifrig mit der Betrachtung der Spuren beschäftigt, daß er mich gar nicht beachtete. Erst als er wohl zehn Minuten lang die Umgebung auf das sorgfältigste abgesucht hatte, kam er zu mir und sagte:

„Wahrhaftig, Ihr habt recht! Sechsundzwanzig sind es gewesen, und achtzehn Pferde waren unbeschlagen. Aber das andere ist Unsinn, reiner Unsinn! Hier haben sie gelagert, und in dieser Richtung sind sie auch wieder davongeritten. Weiter sieht man nichts!“

„So kommt, Sir,“ meinte ich. „Ich will Euch einmal zeigen, welchen Unsinn die Augen eines Greenhorns sehen!“

Well, ich bin neugierig!“ nickte er mit einer sehr belustigten Miene.

„Seht Euch einmal die Pferdespuren genauer an; drei Tiere wurden abseits gehalten und waren nicht vorn, sondern übers Kreuz gekoppelt; das waren also jedenfalls Indianerpferde.“

Er bückte sich nieder, um den Abstand der einzelnen Hufstapfen genau auszumessen. Der Grasboden war feucht und die Spuren waren für ein geübtes Auge recht leidlich zu erkennen.

By god, Ihr habt Recht!“ rief er erstaunt. „Das waren Indianergäule.“

„So kommt jetzt weiter, da zu der kleinen Wasserlache! Hier haben sich die Indsmen die Gesichter abgewaschen und dann wieder mit den Kriegsfarben neu bemalt. Die Farben waren mit Bärenfett abgerieben. Seht Ihr die kleinen, ringförmigen Eindrücke im weichen Boden? Da haben die Farbennäpfchen gestanden. Es ist warm gewesen, und die Farben waren infolgedessen dünn und haben getropft. Seht Ihr hier im Grase einen schwarzen, einen roten und zwei blaue Tropfen, Sir?“

Yes! Wahrhaftig, es ist wahr!“

„Und ist nicht schwarz, rot und blau die Kriegsfarbe der Ogellallah?“

Er nickte nur; sein verwundertes Gesicht sagte mir, was sein Mund verschwieg. Ich fuhr fort:

„Nun kommt weiter! Als die Truppe hier angekommen ist, hat sie hier neben der sumpfigen Lache gehalten; das zeigen die Hufeindrücke, welche sich mit Wasser gefüllt haben. Nur zwei sind vorgeritten, also jedenfalls die Anführer; sie wollten rekognoszieren und die Andern mußten bescheiden zurückbleiben. Seht hier die Pferdespur im Moraste! Das eine Pferd war beschlagen und das andere nicht; dieses letztere trat hinten tiefer als vorn; es saß ein Indianer darauf; der andere Reiter aber war ein Weißer, denn sein Pferd hatte Eisen und trat vorn tiefer als hinten. Ihr kennt wohl den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie ein Indsman und ein Weißer zu Pferde sitzt?“

„Sir, ich möchte nur wissen, woher Ihr –“

„Gut!“ unterbrach ich ihn. „Nun paßt genau auf! Sechs Schritte weiter vor haben sich die Pferde gebissen; das aber tun nach einem so langen und anstrengenden Ritte, wie diese Leute hinter sich hatten, nur Hengste. Verstanden?“

„Aber wer sagt Euch denn, daß sie einander gebissen haben, he?“

„Erstens die Stellung der Hufstapfen. Das Indianerpferd ist hier gegen das andere aufgesprungen; das werdet Ihr zugeben. Und zweitens, seht Euch einmal die Haare an, welche ich hier in der Hand halte! Ich fand sie vorhin, als ich die Spuren untersuchte, ehe ich Euch traf. Da sind vier Mähnenhaare von brauner Farbe, welche das Indianerpferd dem anderen ausgerissen hat und sofort fallen ließ. Weiter vorn aber fand ich diese zwei schwarzen Schwanzhaare, und aus der Stellung der Stapfen ersehe ich ganz genau: das Indianerpferd biß das andere in die Mähne, wurde aber von seinem Reiter sogleich zurückgedrängt und dann vorwärts getrieben; dabei langte das andere Pferd herüber und riß ihm diese Haare aus dem Schwanze, welche noch einige Schritte weit im Maule hängen blieben und dann zur Erde fielen. Das Pferd des Roten ist also ein Rappe und dasjenige des Weißen ein Brauner. Kommt weiter! Hier ist der Weiße abgesprungen, um den Bahndamm zu ersteigen. Seine Fährte ist im weichen Sande bis heute sichtbar geblieben. Ihr könnt ganz genau sehen, daß er mit dem einen Fuße fester und heftiger aufgetreten ist als mit dem andern. Er hinkt. Übrigens waren diese Menschen ganz außerordentlich unvorsichtig. Sie haben sich nicht die mindeste Mühe gegeben, ihre Spuren unkenntlich zu machen; sie müssen sich also sehr sicher fühlen, und das kann nur zwei Gründe haben.“

„Welche?“

„Entweder waren sie gewillt, heute recht schnell eine bedeutende Strecke zwischen sich und die Verfolger zu legen, und das möchte ich bezweifeln, da aus den Spuren zu ersehen ist, daß ihre Pferde sehr angegriffen und ermüdet waren. Oder sie wußten eine größere Truppe der Ihrigen in der Nähe, auf die sie sich zurückziehen konnten. Dieser Fall scheint mir der wahrscheinlichere zu sein, und da sich drei vereinzelte Indsmen nicht an über zwanzig Weiße schließen, so vermute ich, daß da gegen Norden hin ein zahlreicher Trupp Ogellallahs zu suchen ist, bei dem sich jetzt die dreiundzwanzig Railtroublers befinden.“

Es war wirklich spaßhaft anzusehen, mit welch einer eigentümlichen Miene mich das dicke Männchen jetzt vom Kopfe bis herab zu den Füßen fixierte.

„Mann!“ rief er endlich. „Wer seid Ihr denn eigentlich, he?“

„Ich habe es Euch ja bereits gesagt.“

Pshaw! Ihr seid kein Greenhorn und auch kein Büchermacher, obgleich Ihr mit Euren gewichsten Stiefeln und Eurer Sonntags-Ausrüstung ganz danach ausseht. Ihr seid so abgeleckt und sauber, daß Ihr in einem Theaterstücke, in welchem ein Westmann aufzutreten hätte, gleich auf der Bühne erscheinen könntet; aber unter hundert wirklichen Westmännern ist kaum einer, der so wie Ihr die Fährte zu lesen versteht. By god, ich dachte bisher, daß ich auch etwas leiste, aber an Euch komme ich nicht, Sir!“

„Und dennoch bin ich ein Bücherschreiber. Aber ich habe bereits früher diese alte Prairie von Norden nach Süden und von Osten bis nach dein entferntesten Westen durchmessen; daher kommt es, daß ich mich so leidlich auf Spuren verstehe.“

„Und Ihr wollt wirklich hinauf nach den Windriverbergen?“

„Allerdings.“

„Aber, Sir, wer das ausführen will, der muß bedeutend mehr sein als ein guter Spurenfinder, und da – nehmt mir es nicht übel – scheint es bei Euch zu hapern.“

„Inwiefern?“

„Wer einen so gefährlichen Weg vor sich hat, der läuft nicht so leichtsinnig in das Blaue hinein wie Ihr, sondern er sieht sich vor allen Dingen nach einem guten Pferde um. Verstanden?“

„Das werde ich noch tun.“

„Wo denn?“

„Nun, ein Pferd ist an jeder Station zu kaufen, und wäre es auch nur ein alter Karrengaul. Bin ich dann beritten, so hole ich mir schon aus irgend einer wilden Herde einen Mustang, der mir paßt.“

„Ihr? Ah! Seid Ihr ein solcher Reiter? Könnt Ihr einen Mustang bändigen? Wird es da oben Pferde geben?“

„Ihr vergeßt, daß grad jetzt die Jahreszeit ist, in welcher die Büffel und Mustangs nach Norden gehen. Ich bin sehr überzeugt, daß ich zwischen hier und den Tetons auf eine Herde treffen werde.“

„Hm! Also ein Reiter seid Ihr. Aber wie steht es denn mit dem Schießen?“

„Wollt Ihr mich etwa examinieren, Sir?“ lachte ich.

„Einigermaßen,“ nickte er sehr ernsthaft. „Ich habe nämlich eine Absicht dabei.“

„Darf man erfahren, welche?“

„Später. Erst müßt Ihr einmal schießen. Holt Euer Gewehr!“

Dieses kleine Intermezzo gab mir Spaß. Ich hätte dem Manne einfach sagen können, daß ich Old Shatterhand sei, zog aber vor, es zu verschweigen. Ich ging also zum Waggon, um die Decke zu holen, in welche meine Gewehre gewickelt waren. Man bemerkte dies, und sofort schlossen die Passagiere einen Kreis um uns Beide. Der Amerikaner und besonders der Bewohner des Westens läßt sicherlich keine Gelegenheit, ein Gewehr abschießen zu sehen, unbenutzt vorübergehen.

Ich schlug die Decke auseinander.

Behold, ein Henrystutzen!“ rief der Dicke. „Ein wirklicher, richtiger Henrystutzen! Wie viele Schüsse hat er, Sir?“

„Fünfundzwanzig.“

„Ah, das ist viel. Das ist eine fürchterliche Waffe in der Nähe. Mann, um dieses Gewehr beneide ich Euch!“

„Diese Büchse ist mir noch lieber.“

Bei diesen Worten nahm ich meinen schweren Bärentöter empor.

Pshaw! Ein glattes, gut geputztes Schießeisen!“ meinte der Dicke geringschätzig. „Ich lobe mir eine alte, rostige Kentuckybüchse oder meinen alten Schießprügel da!“

„Wollt Ihr Euch nicht einmal die Firma ansehen, Sir?“ fragte ich ihn, indem ich ihm das Gewehr entgegenstreckte.

Er warf einen Blick auf die Gravierung und fuhr überrascht zurück.

„Verzeiht, Sir,“ rief er; „das ist etwas ganz Anderes. Solche Büchsen gibt es nicht sehr viele mehr. Ich habe gehört, daß Old Shatterhand eine hat. Aber wie kommt denn Ihr zu einem solchen Meisterstücke? Oder ist der Stempel nachgemacht? Hm, ja, so wird es wohl sein, denn dieses Gewehr sieht nicht aus, als ob man schon viele Male daraus geschossen hätte!“

„Wir wollen es probieren. Gebt einmal an, was ich schießen soll, Sir!“

„Ladet erst neu!“

„Pah, das ist nicht notwendig. Die Schüsse stecken trocken.“

Well, so schießt mir einmal mit dem Schrotlaufe den Vogel dort vom Busche!“

„Das ist zu weit!“ meinte einer der Umstehenden.

„Wollen sehen!“ bemerkte ich.

Ich langte nach der Schnur und setzte langsam und sehr bedächtig meinen Klemmer auf die Nase. Sofort brach der Dicke in ein lautes Gelächter aus.

„Hahahaha; eine Brille! Dieser deutsche Buchmacher kommt in diese alte Savanne, um mit dem Zwicker auf der Nase zu jagen! Hahahaha!“

Auch die Andern lachten; ich aber meinte sehr ernsthaft.

„Was lacht ihr, Mesch’schurs? Wenn man dreißig Jahre lang über den Büchern sitzt, so leiden die Augen, und es ist besser, man tut mit der Brille einen guten Schuß, als ohne dieselbe einen schlechten!“

„Richtig, Sir,“ lachte der Dicke. „Aber ich möchte Euch einmal sehen, wenn Ihr so recht unerwartet einmal von den Rothäuten überfallen würdet! Ehe Ihr den Klemmer geputzt und auf die Nase gebracht hättet, würdet Ihr zehnmal skalpiert sein. Seht, nicht einmal den Vogel könnt Ihr nun schießen, denn er ist bereits auf und davon geflogen!“

„So suchen wir ein anderes Ziel!“ meinte ich ebenso kaltblütig wie vorher.

Der betreffende Vogel hatte in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Schritten auf dem Busche gesessen; das wäre also ein sehr gewöhnlicher Schuß gewesen. Ich aber hatte hoch über uns eine Lerche trillern gehört und blickte jetzt nach oben.

„Seht ihr die Lerche da oben, Mesch’schurs?“ fragte ich. „Ich werde sie herunter holen.“

„Das ist ganz unmöglich!“ rief der Dicke. „Laßt das sein, denn Ihr schießt doch nur ein Loch in die Luft. Das brächte nicht einmal der alte Sans-ear oder Old Firehand fertig!“

„Wollen sehen!“

Ich erhob die Büchse und drückte ab.

„Fort!“ lachte der Dicke. „Der Schuß hat sie erschreckt; sie ist ausgerissen!“

„Da sollt Ihr doch gleich sehen, wozu die Brille nützlich ist,“ meinte ich, die Büchse absetzend. „Geht doch einmal hinüber auf den Bahndamm; sie ist darauf niedergefallen, ungefähr achtzig Schritte von hier.“

Ich deutete mit der Hand die Stelle an, und sofort sprangen einige der Umstehenden hin. Sie brachten die Lerche, welche fast mitten durchschossen war. Der Dicke betrachtete abwechselnd sie und mich; dann rief er:

„Getroffen, wahrhaftig getroffen! Und nicht mit Schrot, sondern mit der Kugel!“

„Wollt Ihr mit Schrot in eine solche Höhe schießen, Sir?“ fragte ich. „Ein richtiger Savannenläufer wird sich überhaupt schämen, einen Schrotschuß zu tun. Das überläßt man den Kindern und den Aasjägern.“

„Aber Sir, das ist ja ein Schuß, wie ich noch gar keinen gesehen habe!“ wunderte sich der Dicke. „War das Zufall oder nicht?“

„Gebt mir ein zweites Ziel!“

„Es ist gut, Sir; ich glaube es! Ihr scheint es darauf abgesehen zu haben, mit mir ein wenig Komödie zu spielen! Aber nun ist es gut. Kommt doch einmal ein Weniges mit auf die Seite!“

Er zog mich von den Andern fort, dahin, wo die Pferdestapfen am deutlichsten zu sehen waren. Dort zog er ein Papier hervor und legte es in eine der Spuren.

Well, es ist so!“ meinte er gedankenvoll. „Sir, sagt mir einmal, ob Ihr vielleicht Herr Eurer Zeit seid, ob Ihr direkt hinauf nach den Tetons wollt, oder ob Ihr vorher noch einen andern Ritt unternehmen könntet!

„Ich kann tun, was mir gefällt.“

Well, so will ich Euch einmal etwas sagen. Habt Ihr vielleicht schon einmal von dem dicken Fred Walker gehört?“

„Ja. Er soll ein tüchtiger Westmann sein. Er ist einer der besten Pfadfinder des Gebirges und spricht mehrere Indianerdialekte.“

„Ich bin es, Sir!“

„Das konnte ich mir denken. Hier meine Hand! Es freut mich von ganzem Herzen, Euch getroffen zu haben, Sir.“

„Wirklich? Nun, vielleicht lernen wir uns besser kennen. Ich habe nämlich mit einem gewissen Haller einige ernsthafte Worte zu sprechen. Er war in letzter Zeit der Anführer einer Schar von Bushheaders und Pferdedieben, ganz abgesehen von dem, was er von früher her schon auf dem Gewissen hat. Jetzt ist er mit seiner Bande weiter nach dem Westen gezogen, und ich folgte ihm. Dieses Papier ist die genaue Abbildung von den beiden Hinterhufen seines Pferdes; sie stimmen ganz genau mit diesen Spuren überein, und da Haller mit dem rechten Beine hinkt, so bin ich überzeugt, daß er mit dem Anführer der Railtroublers hier ganz eine und dieselbe Person ist.“

„Haller?“ fragte ich. „Wie ist sein Vorname?“

„Sam, Samuel. Doch pflegt er verschiedene Namen zu tragen.“

„Samuel Haller? Ah, von dem habe ich gehört. Ist er nicht der Buchhalter des Ölprinzen Rallow gewesen? Er ging seinem Herrn mit einer ganz bedeutenden Summe durch!“

„Ja, das ist er. Er verführte den Kassierer, die Kasse zu räumen und mit ihm zu gehen. Dann erschoß er ihn. Er wurde von der Polizei verfolgt und tötete zwei Konstabler, die ihn fassen wollten. In New-Orleans wurde er ergriffen, als er sich grad einschiffen wollte; es gelang ihm auch dort, zu entkommen, indem er den Kerkermeister erschlug. Dann ging er nach dem Westen. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, da man ihm den Raub abgenommen hatte. Seit dieser Zeit hat er Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, und es wird Zeit, daß dies ein Ende nimmt.“

„Ihr wollt ihn ergreifen?“

„Mein muß er werden, tot oder lebendig.“

„Ihr habt also eine persönliche Abrechnung mit ihm zu halten?“

Er blickte eine Weile vor sich nieder und antwortete dann:

„Ich spreche nicht gern davon, Sir. Vielleicht teile ich es Euch noch mit, sobald wir uns erst näher kennen gelernt haben. Und daß wir uns kennen lernen, das hoffe ich, Sir. Es ist ein wunderlicher Zufall, daß ich mich grad in diesem Zuge befunden habe, aber trotzdem hätte ich die Spur dieses Hallers wohl noch lange vergebens gesucht, wenn Ihr es nicht gewesen wäret, der mich auf sie aufmerksam machte. Daß der Anführer der Railtroublers lahm geht und einen braunen Hengst reitet, hätte ich nicht herausgebracht, und doch ist es gerade dieses, was mir von der allergrößten Bedeutung ist. Ich werde hier den Zug verlassen, um der Spur zu folgen. Wollt Ihr mich begleiten, Sir?“

„Ich? Das Greenhorn?“ lächelte ich.

Pshaw! Ihr dürft mir dieses Wort gar nicht übel nehmen, denn Euer ganzes Aussehen ist das eines Mannes, der in den Salon gehört, aber nicht in die Savanne. Hab‘ doch all‘ mein Lebtage noch keinen Menschen gesehen, der sich mit dem Zwicker auf der Nase hierher mitten in die alte Prairie stellt, um einen Vogel zu schießen, der ihm davonfliegt. Das war ein Irrtum von mir, den ich Euch gern abbitten will. Also Sir, wollt Ihr mit aussteigen?“

„Hm! Wäre es nicht besser, Euch den Männern anzuschließen, welche bald von den nächsten Stationen eintreffen werden, um die Railtroublers zu verfolgen?“

„Nein. Redet mir nicht von einer solchen Verfolgung. Ein einziger Westmann wiegt da schwerer als ein ganzes Schock solcher hergelaufener Pulverschnapper. Ich muß allerdings ehrlich sein und sagen, daß es kein geringes Wagnis ist, hinter solchen Leuten herzulaufen; es hängt da das Leben eines Menschen nur an einem versengten Haare; aber ich meine, Ihr seid der Mann, welcher Abenteuer sucht, und hier findet Ihr eins, welches gar nicht interessanter sein könnte.“

„Das ist richtig,“ antwortete ich. „Es ist aber niemals meine Leidenschaft gewesen, mich in fremder Leute Sache zu mischen. Dieser Samuel Haller geht mich gar nichts an, und ich weiß ja auch nicht, ob ich zu Euch passen würde.“

Er blinzelte mich mit seinen kleinen Äuglein sehr schalkhaft an und sagte:

„Ihr meint es wohl umgedreht: ob ich zu Euch passen würde. Na, da dürft Ihr keine Sorge haben. Der dicke Walker ist nicht der Mann, der mit dem ersten besten Westläufer Kameradschaft macht; darauf könnt Ihr Euch getrost verlassen. Ich bleibe gern für mich, und wenn ich mich einmal einem Andern anschließe, so muß ich Vertrauen zu ihm haben und es darf kein gewöhnlicher Kerl sein. Verstanden?“

„In dieser Beziehung bin ich grad wie Ihr. Ich bleibe auch am allerliebsten für mich. Man kann hier in der Wahl seiner Gefährten nicht vorsichtig genug sein. Man findet hier einen Kameraden, legt sich des Abends nieder und ist am Morgen eine Leiche; der Kamerad aber reitet mit seinem Raube wohlgemut davon.“

Zounds; denkt Ihr etwa, daß ich ein solcher Schlingel bin, Sir?“

„Nein. Ihr seid ein ehrlicher Kerl; das sieht man Euch an. Ja, noch mehr, Ihr gehört sogar zur Polizei, die doch keine Schlingels unter sich duldet.“

Er erschrak und wechselte die Farbe.

„Sir!“ rief er. „Was fällt Euch ein?“

„Still, Master Walker! Euer ganzer Habitus ist zwar nicht sehr polizeimäßig, aber gerade deshalb seid Ihr vielleicht ein sehr brauchbarer Detektive. Ihr hieltet mich zwar für einen Neuling, aber ich habe Euch doch durchschaut. Seid in Zukunft vorsichtiger! Wenn es in diesen Breiten herumgesprochen wird, daß der dicke Walker nur deshalb die Prairie durchstreift, um als Geheimpolizist gewisse abhanden gekommene Gentlemen unschädlich zu machen, so habt Ihr sehr bald den letzten Schuß getan.“

„Ihr irrt Euch, Sir!“ versuchte er, mir zu versichern.

„Still! Euer Abenteuer spricht mich an, und ich würde mich Euch sofort anschließen, um diesen Railtroublers einen Streich zu spielen; die Gefahr könnte mich nicht abhalten, denn sie lauert ja überall auf unsereinen, soweit die Prairie reicht. Aber grad daß Ihr Versteckens spielt, das hält mich ab. Wenn ich mich einem Menschen anschließen soll, so muß ich wissen, woran ich mit ihm bin.“

Er blickte nachdenklich zu Boden; dann erhob er den Kopf und meinte:

„Gut, Sir, Ihr sollt wissen, woran Ihr mit mir seid. Ihr habt trotz Eures angeputzten Wesens etwas an Euch, was auch einem alten Wildläufer Vertrauen machen kann. Ich habe Euch im Waggon beobachtet und sage Euch aufrichtig, daß ich Euch gut geworden bin. Ich bin sonst ein einsamer, ungeselliger Junge, Euch aber hätte ich recht gern noch ein Weniges bei mir, und darum will ich aufrichtig sein! Ja, ich bin ein Beamter des Privat-Detektive-Korps von Dr. Sumter in St. Louis. Meine Aufgabe ist, entflohenen Subjekten im Hinterwalde nachzuspüren, gewiß kein leichtes Leben, aber ich verwende meine ganze Kraft darauf. Weshalb ich das tue, erzähle ich Euch später, wenn wir Zeit dazu haben; es ist eine traurige Geschichte. Und nun sagt mir, Sir, ob Ihr Euch mir anschließen wollt?“

„Ich will. Hier meine Hand; wir wollen treue Kameraden sein und alle Not und Gefahr miteinander teilen, Master Walker!“

Er schlug mit freudigem Gesichte ein und sagte.

„Das soll ein Wort sein, Sir! Habt Dank für Eure Einwilligung. Ich hoffe, daß wir uns nicht übel zusammenfinden werden. Aber laßt mir den Master Walker beiseite und nennt mich lieber Fred. Das ist kurz und bündig, und ich weiß genau, wer gemeint ist. Ich darf wohl auch wissen, wie ich Euch zu nennen habe?“

Ich nannte ihm meinen Namen und fügte hinzu.

„Ruft mich einfach Charles; das ist genug. Aber seht, der Damm ist ausgebessert und die Strecke wieder fahrbar. Man wird bald wieder einsteigen.“

„So will ich Viktory holen. Ihr braucht über ihn nicht zu erschrecken. Er sieht nach nichts mehr aus; aber er hat mich zwölf lange Jahre getragen, und ich möchte ihn nicht gegen den besten Renner der Welt vertauschen. Habt Ihr noch etwas im Waggon?“

„Nein. Aber Fred, wir werden diesen Leuten sagen, was wir vorhaben?“

„Nein. Je weniger man von uns weiß, desto sicherer sind wir.“

Er trat an den Wagen, in welchem sich sein Pferd befand, und ließ sich denselben öffnen. Das Terrain eignete sich nicht im mindesten zum Ausladen eines Pferdes, und es war auch kein Apparat dazu vorhanden; aber es ging ganz anders, als ich dachte.

„Viktory, come on!“

Auf diesen Ruf des Jägers steckte das alte Tier zuerst seinen Kopf heraus, um sich das Terrain anzusehen, legte bedenklich die langen Ohren nach hinten und sprang dann mit einem einzigen, wirklich verwegenen Satze heraus auf den Damm. Sämtliche Anwesende, welche bei diesem Sprunge zugegen waren, klatschten Beifall. Das Tier schien dies zu verstehen; es wedelte mit dem Schwanze und stieß ein lautes Wiehern aus.

Dieses Pferd sah gar nicht so aus, als wenn es seinen Namen Viktory, Sieger, mit nur der allergeringsten Spur von Recht trage. Es war ein dürrer, hochbeiniger Fuchs, der sicherlich bereits zwanzig Jahre zählte. Die Mähne war ihm ganz abhanden gekommen; der Schwanz zeigte nur noch einige ganz dürre Haarsträhnen, und die Ohren sahen aus wie zwei Kaninchenlöffel im Superlativ. Dennoch hatte ich alle Achtung vor dem Tiere, zumal da ich sah, daß es ausschlug und biß, als einer der Männer vertraulich nach ihm langte. Viktory hatte, wie man sieht, große Ähnlichkeit mit der alten Tony meines guten Sans-ear. Er war gesattelt und gezäumt. Fred bestieg ihn und sprengte den steilen Damm hinab, ohne den Anderen irgend eine Bemerkung zu machen. Sie bekümmerten sich auch nicht weiter um uns. Wir waren ihnen ja fremd, und es war ihnen also vollständig gleichgültig, daß wir den Zug verließen.

Unten am Damme hielt Walker an.

„Seht Ihr, Charles, wie gut es nun wäre, wenn Ihr ein Pferd hättet?“ meinte er.

„Es wird nicht lange dauern, so haben wir eins,“ antwortete ich. „Mit Hilfe Eures Viktory werde ich mir sehr leicht eins fangen.“

„Ihr? Das müßte ich fangen, denn ich gebe Euch mein Wort, daß Ihr den Viktory nicht reiten könnt. Er trägt keinen andern Menschen als nur mich allein.“

„Das würde sich finden!“

„Es ist aber so; ich versichere es Euch. Wir könnten, damit Euch das Laufen nicht so sehr angreift, zuweilen mit dem Pferde wechseln; aber es wirft Euch sicher ab, und so seid Ihr zum Marschieren verurteilt, bis wir eine Mustang-Herde treffen. Das ist höchst unangenehm, da wir auf diese Weise nur langsam vorwärts kommen und sehr viele Zeit versäumen. Aber seht, da steigen die Leute ein; der Zug will weiter gehen.“

Es war so, wie er sagte. Die Maschine gab Dampf; die Räder bewegten sich, und der Zug rollte dem Westen wieder entgegen. Nach wenigen Augenblicken war er unseren Augen entschwunden.

„Hängt Eure schwere Büchse an meinen Sattel,“ sagte Walker.

„Ein guter Jäger trennt sich keinen Augenblick von seinem Gewehre,“ antwortete ich. „Ich danke Euch, Fred. Vorwärts!“

„Ich werde langsam reiten, Charles.“

„Laßt den Viktory immer einen kräftigen Schritt nehmen; ich bin ein guter Läufer und halte aus.“

Well, so kommt!“

Ich warf die Decke über, hing den Stutzen über die Achsel, schulterte die Büchse und schritt an der Seite des Reiters vorwärts. Die Verfolgung der Railtroublers begann.

Ihre Fährte war so deutlich, daß wir uns nicht die mindeste Mühe zu geben brauchten, sie aufzuspüren. Sie wies beinahe grad nach Norden zu, und wir folgten ihr ohne Aufhalten bis um die Mittagszeit, wo wir einen kurzen Halt machten, um den Viktory ausruhen zu lassen und einen kleinen Imbiß zu uns zu nehmen. Er bestand aus dem wenigen, was wir zufällig eingesteckt hatten, denn es war uns nicht eingefallen, uns mit Hilfe der Vorräte des Zuges zu verproviantieren. So lange der Savannenmann eine Büchse und Munition besitzt, braucht er keinen Hunger zu leiden. Und in dieser Beziehung war ich gut versehen, denn mein wasserdichter Ledergürtel enthielt so viele Patronen, daß ich keine Sorge zu haben brauchte.

Das Land, in welchem wir uns befanden, war hügelig und recht gut bewaldet. Die Spur führte an einem kleinen Flusse aufwärts, dessen Ufer teils sandig und teils mit einem so fetten Grase bewachsen waren, daß die Hufe der Pferde einen stets sichtbaren Eindruck hinterlassen hatten. Am Nachmittage schoß ich einen recht feisten Waschbären, welcher uns ein gutes Nachtmahl versprach, und als es dunkel wurde, machten wir in einer kleinen, von dichtem Baumwuchse verhüllten Felsenschlucht Halt, wo wir ohne Sorge um Entdeckung ein Feuer anzünden und den Waschbären braten konnten. Wir fühlten uns an diesem Orte so vollständig sicher, daß wir es für überflüssig hielten, Wache zu halten, sondern uns alle Beide schlafen legten, nachdem Fred seinen Viktory versorgt hatte.

Am andern Morgen brachen wir sehr in der Frühe auf und erreichten am Nachmittage den Ort, an welchem die Railtroublers während der verflossenen Nacht gelagert hatten. Sie hatten mehrere offene Feuer gebrannt, schienen also jeder Verfolgung Hohn sprechen zu wollen. Gegen Abend ritten und gingen wir demselben Flüßchen entlang über eine Ebene hin und hielten auf eine Ecke zu, welche der Urwald gegen das Grasland bildete, Wir hatten die Verfolgten fast eine ganze Tagereise vor uns und fühlten uns um so sicherer, als wir auch nicht die mindeste Spur von der Anwesenheit eines andern Menschen bemerkt hatten. Wir erreichten die Ecke und wollten um dieselbe biegen, als wir Beide plötzlich zurückfuhren. Vor uns hielt ein Indianer, der zu derselben Minute im Begriffe gestanden hatte, von der andern Seite um die Spitze zu biegen. Er war mit einem Rappen beritten und führte ein mit einem beladenen Packsattel aufgeschirrtes Pferd neben sich.

In ganz demselben Momente, als er uns erblickte, glitt er blitzschnell vom Pferde, so daß er hinter demselben Deckung bekam, und schlug die Büchse auf uns an. Das ging so schnell, daß ich von ihm nur die Gestalt gesehen hatte, aber auch nur sehr flüchtig und undeutlich.

Auch Fred war mit derselben Gewandtheit von seinem Pferde gesprungen und hatte sich hinter dasselbe gestellt; ich aber schnellte mich mit einem raschen, weiten Satze in die Waldecke hinein und faßte hinter einer starken Blutbuche Posto. Kaum jedoch stand ich da, so blitzte die Büchse des Indianers auf, und seine Kugel schlug in den Stamm der Buche – nur den zehnten Teil eines Augenblickes früher, so hätte sie mich durchbohrt, Dieser Mann hatte sofort erkannt, daß ich ihm gefährlicher sei als Fred, weil ich, durch die Bäume gedeckt, ihn und seine Pferde umgehen und dann von hinten auf ihn schießen konnte.

Schon während meines Sprunges hatte ich die Büchse halb erhoben, jetzt aber, als die Kugel in den Baum schlug, ließ ich sie wieder sinken. Warum?

Ein jeder erfahrene Westmann weiß, daß ein jedes Gewehr seine eigene Stimme hat. Es ist unendlich schwierig, den Krach zweier Büchsen in dieser Beziehung zu unterscheiden; aber das Leben in der Wildnis schärft die Sinne bis zur höchsten Potenz, und wer eine Büchse öfters gehört hat, der kennt ihren Knall unter hunderten heraus. Daher kommt es, daß Jäger, die sich früher trafen, und dann lange Zeit nicht mehr sahen, sich bereits von weitem an der Stimme ihrer Gewehre wieder erkennen.

So ging es auch mir in diesem Augenblicke. Die Büchse, mit welcher der Wilde jetzt geschossen hatte, hätte ich während meines ganzen Lebens nicht vergessen können. Ich hatte ihren scharfen, sonoren Knall während langer Zeit nicht gehört, erkannte ihn aber im Augenblicke. Sie gehörte dem berühmten Apachenhäuptling Winnetou, jenem Indianer, von dem Walker gestern am Bahndamme gesprochen hatte, und der mein Lehrer und Freund gewesen war im wildesten Wald- und Savannenleben. War er es selbst, der sie jetzt noch trug, oder war sie in eine andere Hand übergegangen? Ich rief in der Mundart der Apachen hinter dem Baume hervor:

Toselkhita, shi shteke – schieß nicht, ich bin dein Freund!“

To tistsa tá ti. Ni peniyil – ich weiß nicht, wer du bist. Komm heraus!“ antwortete er.

Ni Winnetou, natan shis inté – bist du Winnetou, der Häuptling der Apachen?“ fragte ich, um ganz sicher zu gehen.

Ha-au – ich bin es!“ antwortete er.

Im Nu sprang ich hinter dem Baume hervor und auf ihn zu.

„Schar-lih!“ rief er frohlockend.

Er öffnete die Arme, und wir lagen uns am Herzen.

Schar-lih, shi shteke, shi nta-ye – Karl, mein Freund, mein Bruder!“ fuhr er, beinahe weinend vor Freude, fort. „Shi intá ni intá, shi itchi ni itchi – mein Auge ist dein Auge, und mein Herz ist dein Herz!“

Auch ich war so ergriffen von diesem so ganz und gar unerwarteten Wiedersehen, daß mir das Wasser in die Augen trat. Es konnte mir nichts Glücklicheres geschehen, als ihn hier zu treffen. Er blickte mich immer von Neuem mit liebevollen Augen an; er drückte mich immer von Neuem an seine Brust, bis er sich endlich erinnerte, daß wir nicht allein waren.

Ti ti ute – wer ist dieser Mann?“ fragte er, auf Walker deutend.

Aguan ute nshó, shi shteke ni shteke – er ist ein guter Mann, mein Freund und auch dein Freund,“ antwortete ich.

Ti tenlyé aguan – wie ist sein Name?“

The thick Walker,“ nannte ich englisch den Namen meines Gefährten.

Da streckte er auch Fred die Hand entgegen und begrüßte ihn:

„Der Freund meines Bruders ist auch mein Freund! Fast hätten wir uns erschossen, aber Schar-lih hat die Stimme meiner Büchse erkannt, wie ich auch die seinige erkannt hätte. Was tun meine weißen Brüder hier?“

„Wir verfolgen die Feinde, deren Fährte du hier im Grase siehst,“ antwortete ich.

„Ich habe sie erst vor einigen Minuten erblickt. Ich komme von Osten her an dieses Wasser. Was für eine Farbe haben diese Männer, denen ihr folgt?“

„Es sind Weiße und einige Ogellallah.“

Bei dem letzten Worte zogen sich seine Brauen zusammen. Er legte die Hand auf den glänzenden Tomahawk, welcher in seinem Gürtel steckte, und sagte:

„Die Söhne der Ogellallah sind wie die Kröten; wenn sie aus ihren Löchern kommen, so werde ich sie zertreten. Darf ich mit meinem Bruder Schar-lih gehen, um die Ogellallah zu sehen?“

Nichts konnte mir willkommener sein als diese Frage; wenn wir Winnetou zu unserm Verbündeten erhielten, so war das ebenso, als wenn zwanzig Westmänner zu uns gehalten hätten. Ich wußte zwar, daß er nach so langer Trennung mich keineswegs sogleich verlassen würde; aber daß er sich selbst zur Begleitung anbot, das war ein Zeichen, daß ihm unser Abenteuer ein willkommenes sei. Darum antwortete ich:

„Der große Häuptling der Apachen ist uns gekommen wie der Sonnenstrahl dem kalten Morgen. Sein Tomahawk mag wie der unserige sein.“

„Meine Hand ist eure Hand, und mein Leben ist euer Leben. Howgh!“

Was meinen dicken Fred betrifft, so war es ihm sehr deutlich anzusehen, welchen gewaltigen Eindruck der Apache auf ihn machte. Es wäre jedem Andern auch so ergangen, denn Winnetou war wirklich das Prachtexemplar eines Indianers, und sein Anblick mußte einen jeden Westmann entzücken.

Er war nicht etwa übermäßig hoch und massig gebaut, sondern grad die zierlichen, dabei aber äußerst nervigen Körperformen und die Spannkraft einer jeden seiner Bewegungen hätten auch dem stärksten und erfahrensten Trapper imponiert. Er trug ganz dieselbe Kleidung und Bewaffnung wie früher, als wir uns unten am Rio Pecos trafen und dann oben bei den Schlangen-Indianern wieder trennten. Wie er jetzt vor uns stand, so hatte ich ihn stets gesehen, nett und sauber in seiner ganzen Erscheinung, ritterlich und gebieterisch in dem ganzen Eindrucke, den er machte, jeder Zoll an ihm ein Mann, ein Held.

Der dicke Fred war jedenfalls am meisten darüber überrascht, daß an diesem Indsman alles glänzte und flimmerte, daß an ihm nicht die leiseste Spur eines Fleckes zu entdecken war, und der Blick der kleinen Äuglein flog so sprechend zwischen mir und Winnetou hin und her, daß ich erriet, welche Parallele er zwischen uns zog. –

„Meine Brüder mögen sich niedersetzen, um die Pfeife des Friedens mit mir zu rauchen,“ sagte der Apache.

Er setzte sich gleich da, wo er stand, in das Gras, langte in den Gürtel und zog ein kleines Quantum Tabak, welcher mit wilden Hanfblättern vermischt war, hervor, mit dem er sein mit Federn geschmücktes Calumet stopfte. Wir nahmen neben ihm Platz. Die Zeremonie der Friedenspfeife war unumgänglich notwendig, denn sie besiegelte das Bündnis, welches wir geschlossen hatten, und ehe sie nicht geraucht war, hätte Winnetou sicher kein einziges Wort über unsern Plan gesprochen.

Als er den Tabak in Brand gesteckt hatte, erhob er sich und stieß einen Mund voll Rauch grad zum Himmel empor und ebenso einen grad zur Erde nieder; dann verneigte er sich nach den vier Himmelsgegenden, indem er vier Züge aus der Pfeife tat und den Rauch nach den betreffenden Richtungen blies. Hierauf setzte er sich nieder und gab mir die Pfeife mit den Worten:

„Der große Geist hört meinen Schwur: meine Brüder sind wie ich, und ich bin wie sie; wir sind Freunde!“

Ich ergriff das Calumet, erhob mich, tat wie er und sagte dann:

„Der große Manitou, den wir verehren, beherrscht die Erden und die Sterne. Er ist mein Vater und dein Vater, o Winnetou; wir sind Brüder und werden uns beistehen in jeder Gefahr. Die Pfeife des Friedens hat unsern Bund erneut.“

Ich gab die Pfeife an Walker, der ebenso wie wir vorher den Rauch nach den vier Richtungen ausstieß und dann gelobte:

„Ich sehe den großen Winnetou, den herrlichsten Häuptling der Mescaleros, Mimbrenjos und Apachen; ich trinke den Rauch seiner Pfeife und bin sein Bruder. Seine Freunde sind meine Freunde und seine Feinde meine Feinde, und nie soll dieser Bund gebrochen werden!“

Er nahm dann wieder Platz und gab dem Apachen die Pfeife zurück, welcher diese weiterrauchte. Jetzt war der Sitte Genüge getan, und wir konnten uns besprechen.

„Mein lieber Bruder Schar-lih mag mir erzählen, was er erlebt hat, seit er von mir geschieden ist,“ bat mich jetzt Winnetou.

Ich folgte diesem Wunsche so kurz wie möglich. Was ich seit unserer letzten Trennung getan hatte, das konnte ich ihm später ausführlich erzählen. Dann forderte ich ihn auf:

„Mein Bruder Winnetou sage mir, was er erlebt hat, seit ich ihn nicht sah, und wie er so entfernt von dem Wigwam seiner Väter auf das Jagdgebiet der Sioux kommt!“

Er tat einen langen, bedächtigen Zug aus dem Calumet und antwortete dann:

„Das Wetter stürzt das Wasser aus den Wolken herab, und die Sonne trägt es wieder empor. So ist es mit dem Leben des Menschen. Die Tage kommen und verschwinden. Was soll Winnetou viel erzählen von den Sonnen, die vorüber sind? Ein Häuptling der Sioux-Dakota beleidigte mich; ich folgte ihm und nahm seinen Skalp; seine Leute verfolgten mich; ich vernichtete meine Fährte, kehrte zu ihren Wigwams zurück und holte mir die Zeichen meines Sieges, welche ich auf das Pferd des Häuptlings lud. Da steht es!“

Mit diesen wenigen, anspruchslosen Worten berichtete dieser Mann eine Heldentat, zu deren Erzählung ein Anderer die Zeit von Stunden gebraucht hätte. Aber so war er. Er hatte von den Ufern des Rio Grande im Süden bis weit hinauf zum Milk-River im Norden der Vereinigten Staaten Monate lang einen Feind durch Urwälder und Prairien verfolgt, diesen endlich im männlichen, offenen Kampfe besiegt, sich dann mitten in das Lager der Gegner gewagt und ihnen die köstlichsten Trophäen abgenommen. Das war ein Stück, welches ihm kein Anderer nachmachte, und wie bescheiden berichtete er es! Er fuhr fort:

„Meine Brüder wollen die Ogellallah und die weißen Männer verfolgen, welche man Railtroublers nennt. Dazu bedarf es guter Pferde. Will mein Freund Schar-lih das Roß des Sioux-Dakota reiten? Es hat die beste indianische Dressur, und er versteht sich auf dieselbe besser als ein anderes Bleichgesicht.“

Bereits früher hatte er mir einen herrlichen Mustang geschenkt; ich wollte also die Gabe ablehnen und antwortete daher:

„Ich bitte meinen Bruder um die Erlaubnis, mir ein Pferd selbst zu fangen. Das Roß des Dakota hat die Beute zu tragen.“

Er schüttelte den Kopf und entgegnete:

„Warum will mein Bruder vergessen, daß Alles sein ist, was mir gehört. Warum will er große Zeit versäumen mit der Pferdejagd? Soll diese Jagd uns den Ogellallah verraten? Glaubt er, daß Winnetou Beute bei sich führen wird, wenn er der Fährte der Sioux folgt? Winnetou wird sie vergraben, und das Pferd wird ledig sein. Howgh!“

Dagegen war nichts zu machen; ich mußte die Gabe annehmen. Übrigens hatte ich das Pferd schon längst mit bewundernden Augen betrachtet. Es war ein Schwarzschimmel von dunkelster Färbung, kurz gebaut, kurz gefesselt, fein und doch kräftig gegliedert und so sichtbar geädert, daß man seine Freude an ihm haben mußte. Die volle Mähne hing bis über den Hals herab; der Schweif berührte beinahe den Boden; das Innere der Nüstern zeigte jene rötliche Färbung, auf welche der Indianer so sehr viel gibt, und in den großen Augen lag bei allem Feuer des Ausdruckes doch eine Art ruhiger Überlegung, welche hoffen ließ, daß ein guter Reiter sich auf dieses Pferd verlassen könne.

„Aber der Sattel?“ bemerkte Fred. „Ihr könnt doch nicht auf einem Packsattel reiten, Charles!“

„Das ist das wenigste,“ antwortete ich. „Habt Ihr noch nicht gesehen, wie ein Indsman einen Reitsattel aus dem Packsattel macht? Seid Ihr noch nicht dabei gewesen, wenn ein geschickter Jäger sich mit Hilfe der noch rauchenden Haut eines frisch erlegten Wildes einen ganz leidlichen Sattel herstellt? Ihr sollt sehen, daß ich bereits morgen mit einem so bequemen Sitze versehen bin, daß Ihr mich um denselben beneiden werdet.“

Der Apache nickte zustimmend und meinte:

„Winnetou hat nicht weit von hier am Wasser die frische Spur eines großen Wolfes gesehen. Ehe die Sonne untergegangen ist, werden wir sein Fell und seine Rippen haben, welche einen guten Sattel geben. Haben meine Brüder Fleisch zu essen?“

Als ich bejahend antwortete, fuhr er fort:

„So mögen meine Brüder aufbrechen, um mit mir den Wolf zu holen und einen Lagerplatz zu suchen, an welchem ich die Beute vergraben kann. Sobald die Sonne am Morgen erscheint, werden wir den Spuren der Railtroublers folgen. Sie haben die Wagen des Feuerrosses zerstört; sie haben viele ihrer weißen Brüder beraubt, getötet und verbrannt. Der große Geist ist zornig über sie und wird sie in unsere Hände geben, denn sie haben nach dem Gesetze der Savanne den Tod verdient.“

Wir verließen den Platz, an welchem ein ebenso merkwürdiges wie glückliches Zusammentreffen stattgefunden hatte. Der Lagerplatz des Wolfes war bald gefunden; wir erlegten das Tier, welches zu der Art gehörte, welche der Indianer Coyote nennt, und saßen kurze Zeit später am Feuer, um einen Sattel anzufertigen. Am andern Morgen vergruben wir die Beute Winnetous, welche aus indianischen Waffen und Medizinsäcken bestand, und bezeichneten den Ort, um ihn später wiederfinden zu können. Dann brachen wir auf, den Mördern nach, die wohl verächtlich gelacht hätten, wenn ihnen bekannt gewesen wäre, daß drei Männer es wagten, sie, die an Zahl so Überlegenen, zur Rechenschaft zu ziehen. – – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Die Stakemen

Die Stakemen

Zwischen Texas, Arizona, Neu-Mexiko und dem Indianer-Territorium, oder anders ausgedrückt, zwischen den Ausläufern des Ozarkgebirges, der untern und der obern Sierra Guadelupe und den Gualpabergen, rings eingefaßt von den Höhen, welche den obern Lauf des Rio Pecos und die Quellen des Red River, Sabine, Trinidad, Brazos und Colorado umgrenzen, liegt eine weite, furchtbare Strecke Landes, welche die Sahara der Vereinigten Staaten genannt werden könnte.

Wüste Flächen dürren, glühenden Sandes wechseln mit nackten, brennenden Felslagerungen, die nicht im stande sind, auch nur der allerdürftigsten Vegetation die kärgsten Bedingungen des kürzesten Daseins zu bieten; schroff und unvermittelt folgt die kalte Nacht auf die Hitze des Tages; kein einsamer Dschebel, kein grünendes Wadi unterbricht wie in der Sahara die tote, einförmige Wüste; kein stiller Bir lockt mit seiner belebenden Feuchtigkeit eine kleine Oase hervor; sogar der durch den Steppencharakter vermittelte Übergang von den reichbewaldeten Berggebieten zur leblosen Wildnis fehlt gänzlich, und der Tod tritt dem Auge allüberall unverhüllt in seiner fürchterlichsten Gestalt entgegen. Nur hier und da steht – man weiß nicht, durch welche Kraft hervorgerufen und erhalten – ein einsamer, lederartiger Mezquite-Strauch, gleichsam zum Hohne für den nach einem grünen Punkte sich sehnenden Blick, und ebenso erstaunt trifft man zuweilen auf eine wilde Kaktusart, die entweder wenige einzelne Exemplare oder Gruppen bildet oder auch weite, ausgedehnte Gebiete eng bestandet, ohne daß man sich ihr Dasein enträtseln und erklären kann. Aber weder der Mezquite noch der Kaktus gibt einen erfreulichen, wohltuenden Anblick; graubraun ist ihre Farbe und unschön ihre Gestalt; sie werden von dickem Sandstaube bedeckt, und wehe dem Pferde, dessen Reiter so unvorsichtig ist, es in eine solche Kaktusoase zu lenken. Es wird von den haarscharfen, stahlharten Stacheln so an den Füßen verwundet, daß es nie wieder gehen lernt. Der Reiter muß es sofort aufgeben, und es kommt sicher elend um, wenn er es nicht tötet.

Trotz aller Schrecken, welche diese Wüste bietet, hat es doch der Mensch gewagt, sie zu betreten. Es führen Straßen durch sie, hinauf nach Santa Féé und Fort Union, hinüber nach dem Paso del Norte und hinunter in die wohlbewässerten Prairien und Wälder von Texas. Aber bei diesem Worte Straße darf man nicht an den Wegebau denken, welcher in zivilisierten Ländern diese Bezeichnung trägt. Wohl reitet ein einsamer Jäger oder Rastreador, eine Gesellschaft kühner Wagehälse oder ein zweideutiger Pulk Indianer in schnellster Eile durch die Wüste; wohl knarrt ein schneckengleich langsamer Ochsenkarrenzug durch die trostlose Einöde, aber einen Weg gibt es nicht, nicht einmal jene viertelstundenbreit auseinander gehenden Geleise, wie man sie in der Lüneburger Heide oder in dem Sande Brandenburgs findet; jeder reitet oder fährt seine eigene Bahn, so lange ihm der Boden noch einige wenige Merkmale bietet, an denen er erkennen kann, daß er überhaupt sich noch in der richtigen Richtung befindet. Aber diese Merkmale hören nach und nach selbst für das geübteste Auge auf, und von da an hat man die Maßregel getroffen, diese Richtung vermittelst Pfählen zu bezeichnen, welche von Zeit zu Zeit in den Boden gesteckt worden sind.

Dennoch aber fordert die Wüste ihre Opfer, die, ihre Größenverhältnisse in Betracht gezogen, viel zahlreicher und auch schrecklicher sind, als diejenigen, welche die Sahara Afrikas und die Schamo Hochasiens als furchtbaren Tribut entgegennehmen. Menschenleichen, Tierkadaver, Sattelfragmente, Wagenreste und andere schauerliche Überbleibsel liegen am und im Wege und erzählen stumme Geschichten, die zwar das Ohr nicht hören, aber das Auge desto deutlicher bemerken kann. Und darüber schweben hoch in den Lüften die Aasgeier, die jeder lebenden Bewegung, die sich unten zu erkennen gibt, mit beängstigender Ausdauer folgen, als wüßten sie, daß ihnen ihre sichere Beute nicht entgehen kann.

Und wie heißt diese Wüste? Die Bewohner der umliegenden Territorien geben ihr verschiedene, bald englische, bald französische oder spanische Namen; weithin aber ist sie wegen der eingerammten Pfähle, welche den Weg bezeichnen sollen, als Llano estaccado bekannt. – – –

In der Richtung von den Zuflüssen des Red River her nach der Sierra Rianca zu ritten zwei Männer, deren Pferde fürchterlich ermüdet schienen. Die armen Tiere waren beinahe bis auf die Knochen abgemagert, sahen struppig aus wie ein Vogel, der am nächsten Morgen tot im Käfig liegen wird, und schleppten ihre kraftlosen Glieder, bei jedem Schritte stolpernd, so langsam fort, daß man jeden Augenblick ihr Zusammenbrechen erwarten konnte. ihre Augen waren blutig rot unterlaufen; die Zunge hing ihnen trocken zwischen den Lefzen hervor, die ihre Spannkraft vollständig verloren hatten, und trotz der sengenden Tageshitze war an ihrem ganzen Körper kein einziger Tropfen Schweißes und an dem Gebisse kein winziges Flöckchen Schaum zu bemerken, ein Zeichen, daß außer dem von der Wüstenglut eingedickten Blute nicht eine Spur von Feuchtigkeit mehr in dem Körper zu finden sei.

Diese beiden Pferde waren die Tony und mein Mustang, und folglich konnten die Reiter wohl kaum andere sein, als der kleine Sam und ich.

Fünf Tage ritten wir bereits durch den Llano estaccado, in welchem wir erst hier und da noch einiges Wasser getroffen hatten; jetzt aber gab es weit und breit keine Spur mehr davon, und ich hatte den Gedanken nicht von mir weisen können, wie praktisch die Überführung von numidischen Kamelen in diese Wüste sein würde. Jetzt nun fielen mir Uhlands Worte ein:

„Den Pferden war’s so schwach im Magen,
Fast mußte der Reiter die Mähre tragen;“

aber an die Ausführung des letzten Verses, selbst wenn sie sonst möglich gewesen wäre, konnte gegenwärtig nicht gedacht werden, da sich die Reiter ganz und genau in demselben hoffnungslosen Zustande befanden, wie ihre Tiere.

Der kleine, zusammengetrocknete Sam hing auf dem Halse seiner Stute, als werde er nur durch einen glücklichen Zufall auf dem Pferde festgehalten; sein Mund war geöffnet, und seine Augen zeigten jenen stieren, seelenlosen Blick, der die Nähe der vollständigen Apathie erkennen läßt. Mir selbst war es, als seien die Lider mit Blei beschwert; der Schlund war so trocken, daß ich kein Wort zu sprechen versuchte, grad als ob jeder Laut mir die Kehle zersprengen oder aufreißen müsse, und durch die Adern glühte es wie flüssiges Erz. Ich fühlte, daß es kaum noch eine Stunde dauern könne, bis wir vom Pferde sinken und verschmachtend liegen bleiben würden.

„Was – – ser!“ stöhnte Sam.

Ich erhob den Kopf. Was sollte ich antworten? Ich schwieg. Da stolperte mein Pferd und blieb stehen; ich gab mir die möglichste Mühe, aber es war nicht weiter fortzubringen. Die alte Tony folgte augenblicklich diesem Beispiele.

„Absteigen!“ meinte ich, und jeder einzelne Laut dieses Wortes tat meinen Stimmwerkzeugen wehe. Es war, als sei der Sprachgang von der Lunge bis zu den Lippen mit Tausenden von Nadeln besteckt.

Ich kroch vom Pferde, nahm es beim Zügel und schritt schweigend voran; es folgte mir langsam, von seiner Last befreit. Sam zog seine Rosinante hinter sich her, war aber augenscheinlich noch matter als ich. Er taumelte förmlich und drohte bei jedem Schritte umzusinken. So schleppten wir uns wohl noch eine halbe englische Meile weiter, bis ich einen lauten Seufzer hinter mir hörte. Ich sah mich um. Mein guter Sam lag im Sande und hatte die Augen geschlossen. Ich trat zu ihm und setzte mich bei ihm nieder, still und wortlos, denn keine Rede konnte unsere Lage ändern.

Das also sollte der Abschluß meines Lebens, das Ziel meiner Wanderungen sein! Ich wollte denken an die Eltern, an die Geschwister daheim im fernen Deutschland, wollte meine Gedanken zum Gebete sammeln – es ging nicht, denn mein Gehirn kochte. Wir waren die Opfer eines unerhört grausamen Kunstgriffes, der vor uns bereits gar Manchem das Leben gekostet hatte.

Von Santa Féé herab und dem Paso del Norte herüber kommen häufig Trupps von Goldsuchern, die in den Minen und Diggins von Californien glücklich gewesen sind und nun mit dem Ertrage ihrer Arbeit nach dem Osten wollen. Sie haben den Llano estaccado zu durchschneiden, und hier ist es, wo grad ihrer eine Gefahr lauert, die ihren Ursprung nicht in den Boden- und klimatischen Verhältnissen hat und neben ihnen dann auch noch Andere trifft. Leute, welche in den Minen unglücklich gewesen sind und die Lust an ehrlicher Arbeit verloren haben, heruntergekommene Subjekte, die der Osten ausspeit, die Vertreter aller möglichen Korruption, ziehen sich am Saume des Estaccado zusammen, um den Goldsuchern aufzulauern. Da diese meist kräftige, abgehärtete Gestalten sind und ihren Mut in tausend Drangsalen und Kämpfen erprobt haben, so ist es auf alle Fälle gefährlich, mit ihnen anzubinden. Daher sind die Freibeuter auf eine Idee gekommen, welche grausamer und infamer nicht gedacht werden kann: sie nehmen nämlich die den Weg weisenden Pfähle fort und stecken sie in einer falschen Richtung ein, welche den Reisenden in das tiefste Grauen der Wüste führt und ihn dem Tode des Verschmachtens in die Arme bringt. Dann wird es ihnen leicht, sich das Eigentum der Toten ohne sonderliche Mühe und Gefahr anzueignen, und die Gebeine von Hunderten bleichen auf diese Weise in tiefer Einsamkeit im Sonnenbrande, während ihre Angehörigen daheim vergeblich auf die Rückkehr warten und nie im Leben wieder etwas von ihnen zu hören bekommen.

Wir waren bisher den Pfählen mit Vertrauen gefolgt, und erst gegen Mittag hatten wir bemerkt, daß sie uns in eine falsche Richtung führten. Seit wann wir vom richtigen Kurse abgewichen waren, wußte ich nicht; umzukehren war daher nicht geraten, zumal unser Zustand uns jede Minute teuer werden ließ. Sam konnte unmöglich weiter, und auch ich wäre wohl kaum noch eine Meile fortgekommen, selbst wenn ich meine wenige noch übrige Kraft bis auf das äußerste hätte anstrengen mögen. Es war gewiß: noch lebend befanden wir uns bereits im Grabe, wenn uns nicht irgend ein glücklicher Umstand zur Hilfe kam, und das mußte bald geschehen.

Da erscholl hoch über mir ein schriller, heiserer Schrei. Ich blickte empor und gewahrte einen Geier, welcher sich augenscheinlich erst vor kurzem und zwar ganz in der Nähe von der Erde erhoben hatte. Er beschrieb einen Kreis über uns, als betrachte er uns bereits als seine gewisse, unentrinnbare Beute. Es mußte sich nicht weit von uns ein Opfer der Wüste oder der Stakemen, wie die Räuber des Estaccado genannt werden, befinden, und ich warf den Blick in die Runde, um vielleicht eine Spur davon zu entdecken.

Obgleich die Hitze der Sonne und des Fiebers das Blut in die Gefäße meiner Augen trieb, so daß sie schmerzten und ihren Dienst versagen wollten, gewahrte ich doch in der Entfernung von ungefähr tausend Schritten einige Punkte, welche weder Steine noch sonstige Erhöhungen sein konnten. Ich nahm mein Doppelgewehr und bemühte mich, näher zu kommen.

Noch hatte ich die Hälfte der Entfernung nicht zurückgelegt, so erkannte ich drei Coyoten und, etwas weiter von ihnen, einige Geier. Die Tiere saßen rund um einen Körper, den ich nicht genau erkennen konnte. Es mußte ein Tier oder ein Mensch sein, der noch nicht ganz tot war, sonst hätten sich die gefräßigen Geschöpfe längst in seine Leiche geteilt. Gleichwohl erfüllte mich die Gegenwart der Coyoten mit einem Anfluge von Hoffnung, da diese Tiere, welche nicht lange ohne Wasser zu leben vermögen, sich nicht weit in die unwirtbaren Strecken der Wüste hineinwagen können. Übrigens mußte ich sehen, welcher Art der Körper war, den sie umringt hielten, und schon erhob ich den Fuß, um weiter zu gehen, als mir ein Gedanke kam, der mich schnell die Büchse in Anschlag bringen ließ.

Wir waren dem Verschmachten nahe; Wasser gab es hier nicht, aber konnte uns nicht das Blut dieser Tiere wenigstens einigermaßen eine Erquickung bringen? Ich legte also an, aber meine Schwäche und das Fieber waren so groß, daß die Mündung des Gewehres um mehrere Zoll weit hin und her wankte. Ich ließ mich also nieder, stemmte den Arm auf das Knie und hatte nun einen sicheren Schuß.

Ich drückte los und noch einmal; – zwei Coyoten wälzten sich im Sande; dieser Augenblick ließ mich alle meine Schwäche vergessen, und im eiligen Laufe rannte ich hinzu. Der eine Wolf war durch den Kopf getroffen, der andere Schuß war so schülerhaft ausgefallen, daß ich mich dessen zeitlebens geschämt hätte, wenn mein Zustand nicht ein so krankhafter gewesen wäre. Die Kugel hatte dem zweiten, aufspringenden Tiere die beiden Vorderbeine zerschmettert, so daß es sich heulend im Sande wälzte.

Ich zog das Messer, öffnete dem ersten Wolfe die Halsader und sog mit den Lippen das Blut mit einer Begierde ein, als ob es olympischer Nektar sei; dann nahm ich den Lederbecher vom Gürtel, ließ ihn voll laufen und trat zu dem Manne, welcher wie tot in der Nähe lag. Es war ein Neger, und kaum hatte ich den Blick in sein jetzt nicht schwarzes, sondern schmutzig dunkelgraues Gesicht geworfen, so hätte ich vor Überraschung beinahe den Becher fallen lassen.

„Bob!“

Er öffnete bei diesem Rufe die Augenlider ein wenig.

„Wasser!“ seufzte er.

Ich kniete neben ihm nieder, hob seinen Oberleib empor und hielt ihm die Schale an den Mund.

„Trinke!“

Er öffnete die Lippen, aber sein ausgetrockneter Schlund vermochte kaum mehr zu schlucken, und es dauerte lange, ehe ich ihm die ekelhafte Flüssigkeit eingeflößt hatte. Dann sank er wieder hinüber.

Jetzt mußte ich an Sam denken. Ich hatte mit Vorbedacht zuerst das Blut des tödlich getroffenen Coyoten genommen, denn dieses mußte eher gerinnen als dasjenige des andern, der bloß äußerlich verletzt war.

Ich trat zu ihm, und obgleich das Tier wütend nach mir biß, schonte ich doch jetzt noch sein Leben, faßte es beim Genick und schleppte es bis zu Sans-ear hin. Dort drückte ich es zur Erde, daß es sich nicht zu bewegen vermochte, und öffnete ihm die Ader.

„Sam, hier trink!“

Er hatte in vollständiger Apathie am Boden gelegen; jetzt aber richtete er sich auf.

„Trinken? Oh!“

Hastig ergriff er den Becher und leerte ihn mit einem Zuge. Ich nahm ihm denselben aus der Hand und füllte ihn nochmals; Sam trank ihn zum zweitenmale aus.

„Blut,fie –! Ah, brrr, ooooh, das ist besser, als man denken sollte!“

Ich schlürfte die wenigen Tropfen, welche es noch gab, und sprang dann auf. Der entflohene dritte Coyote war zurückgekehrt und machte sich trotz der Anwesenheit des Negers mit seinem toten Genossen zu schaffen. Ich lud meine Büchse wieder, pirschte mich näher und schoß ihn nieder. Mit Hilfe seines Blutes brachte ich den Schwarzen so weit, daß er zur völligen Besinnung und zum Gebrauche seiner Glieder kam.

Der Reisende hat sehr oft Begegnungen zu verzeichnen, welche geradezu wunderbar erscheinen müssen; eine solche war mein jetziges Zusammentreffen mit dem Neger, den ich sehr gut kannte. Ich hatte in dem Hause seines Herrn, des Juweliers Marshall in Louisville, eine mehrtägige Gastfreundschaft genossen und damals den treuen, stets lustigen Schwarzen liebgewonnen. Die zwei Söhne des Juweliers hatten mit mir einen Jagdausflug in die Cumberlandsberge gemacht und mich dann an den Mississippi begleitet. Beide waren prächtige Jungens gewesen, deren Gesellschaft mir behagte. Wie nun kam Bob, der alte, weißhaarige Schwarze, hierher in den Llano estaccado?

„Geht es jetzt besser, Bob?“ fragte ich ihn.

„Besser, sehr besser, oh, ganz besser.“ Er stand auf und schien mich erst jetzt zu erkennen. „Massa, sein es möglich? Massa Charley, der ganz‘ viel‘ groß‘ Jäger! Oh, Nigger Bob sein froh, daß treffen Massa, denn Massa Charley retten Massa Bern‘, der sonst sein tot, ganz viel tot.“

„Bernard? Wo ist er?“

„O, wo sein Massa Bern‘?“ Er blickte sich um und zeigte nach Süden. „Massa Bern‘ sein dort! Oh nein, sein dort -oder dort – oder dort!“ Er drehte sich dabei um seine eigene Achse und zeigte nach West, Nord und Ost. Der gute Bob konnte selbst nicht sagen, wo sein junger Massa sei.

„Was tut Bernard hier in dem Llano estaccado?“

„Was tun? Bob nicht wissen das, denn Bob doch nicht sehen Massa Bern‘, der sein fort mit all ander Massa.“

„Wer sind die Leute, mit denen er reist?“

„Leute sein Jäger, sein Kaufmann, sein – – oh Bob nicht alles wissen!“

„Wo wollte er hin?“

„Nach Californ‘, nach Francisco zu jung Massa Allan.“

„So ist Allan in Francisco?“

„Massa Allan dort sein, kaufen groß viel Gold für Massa Marshal. Aber Massa Marshal nicht mehr brauchen Gold, weil Massa Marshall sein tot.“

„Master Marshal ist gestorben?“ fragte ich erstaunt, denn der Juwelier war damals noch außerordentlich rüstig gewesen.

„Ja, aber nicht tot von Krankheit, sondern tot von Mord.“

„Ermordet ist er worden?“ rief ich entsetzt. „Von wem?“

„Bob nicht wissen Mörder, auch niemand wissen Mörder. Mörder kommen in Nacht, stoßen Messer in Brust von Massa Marshal und nehmen mit all Stein‘, Juwel‘ und Gold, was gehören Massa Marshal. Wer Mörder sein und wohin Mörder gehen, das nicht wissen Sheriff, auch nicht Jury, auch nicht Massa Bern‘ und auch nicht Bob.“

„Wann ist dies geschehen?“

„Das war sein vor viel‘ Woch‘, vor viel‘ Monat‘, fünf Monat‘ nun vorbei. Massa Bern‘ sein werden ganz viel arm; Massa Bern‘ schreiben an Massa Allan in Californ‘, aber nicht erhalten Antwort und darum selbst gehen nach Californ‘, um zu suchen Massa Allan.“

Das war nun allerdings eine fürchterliche Nachricht, welche ich hier erhielt. Ein Raubmord hatte das Glück dieser so außerordentlich braven Familie zerstört, dem Vater das Leben gekostet und seine beiden Söhne in Armut gestürzt. Alle Steine und Juwelen waren verschwunden? Ich mußte unwillkürlich an die Diamanten denken, welche ich Fred Morgan abgenommen hatte und noch immer bei mir trug. Aber was konnte den Täter von Louisville weg in die Prairie treiben?

„Wie seid Ihr gereist?“ fragte ich weiter.

„Von Memphis nach Fort Smith und dann über das Gebirge nach Preston, Massa. Bob sein ‚fahren, ‚reiten, ‚laufen bis in groß‘, furchtbar‘ Wüste Estaccad‘, wo niemand mehr haben find‘ Wasser. Da werden müd Pferd und Bob; da haben Durst groß wie Mississippi Pferd und Bob; da fallen Bob vom Pferd, Pferd laufen fort und Bob bleiben liegen. Nun ganz groß sehr Not haben Bob und sterben vor Durst immer mehr, bis kommen Massa Charley und geben Bob Blut in Mund. O, Massa, retten Massa Marshal, und Bob haben lieb Massa Charley so groß, so viel wie ganze Welt in ganze Erde!“

Das war nun allerdings ein Verlangen, für dessen Erfüllung ich auch nicht die mindeste Hoffnung haben konnte. Woher das Vertrauen des Negers kam, konnte ich nicht sagen, und zu entsprechen vermochte ich demselben vielleicht ebensowenig. Dennoch fragte ich weiter:

„Wie stark war eure Gesellschaft?“

„Sehr groß stark, Massa; neun Männer und Bob.“

„Wohin wolltet ihr zunächst?“

„Das Bob nicht wissen. Bob immer reiten hinterher und nicht hören, was viel‘ Massa sagen.“

„Du hast ein Messer und einen Säbel. Hattet ihr alle Waffen?“

„Nicht groß‘ Kanone und Haubitz, aber viel Flint und Büchs und Messer und Pistol und Revolver.“

„Wer war euer Führer?“

„Ein Mann, heißen Williams.“

„Erinnere dich noch einmal genau, wohin sie geritten sind, als du vom Pferde fielst!“

„Weiß nicht mehr. Dahin, hierhin, dorthin.“

„Wann war es? Zu welcher Tageszeit?“

„Es sein Abend bald und – ah, oh, jetzt wissen Bob: Massa Bern‘ reiten grad in Sonne hinein, als Bob fallen vom Pferd.“

„Gut! Kannst du wieder gehen?“

„Bob laufen wieder wie Hirsch; Blut sein gut‘ Arznei für durstig.“

Wirklich hatte auch mich der seltsame Trunk so erquickt, daß alles Fieber aus meinen Gliedern gewichen war, und neben mir stand jetzt der kleine Sam, der dieselbe glückliche Änderung verspürte. Er war herbeigekommen, um uns zuzuhören, und sah um mehrere Hunderte von Prozenten besser aus als vor noch kaum fünf Minuten.

Die Gesellschaft, in welcher sich Bernard Marshall befunden hatte, mußte ebenso erschöpft gewesen sein wie wir, sonst hätte der wackere junge Mann seinen treuen Diener sicherlich nicht im Stiche gelassen. Vielleicht hatten Durst und Fieber so in seinen Eingeweiden gewühlt, daß er gar nicht mehr Herr seiner Gedanken und Sinne gewesen war. Die letzte Angabe Bobs ließ mich vermuten, daß er seine Richtung, ebenso wie wir, nach Westen hatte; aber, wie ihn erreichen, wie ihm Hilfe bringen, da wir dieser Hilfe selbst so sehr bedurften und nicht im stande waren, unsere Pferde zu gebrauchen?

Ich sann und sann, konnte aber zu keinem rettenden Gedanken kommen, obgleich ich annehmen mußte, daß die Gesellschaft nicht weit gelangt sein könne. Wie aber kam es, daß keine Spur von ihr zu bemerken war?

Ich wandte mich zu Sam:

„Bleibe hier bei den Pferden, die sich vielleicht so weit erholen, daß sie später noch eine Meile laufen können. Bin ich in zwei Stunden noch nicht zurück, so folgst du meiner Spur.“

Well, Charley; wirst nicht allzuweit kommen, denn dieser kleine Schluck Coyotensaft kann zum Beispiel unmöglich lange anhalten.“

Es versteht sich von selbst, daß wir uns jetzt nicht mehr, wie am ersten Tage unserer Bekanntschaft, lhr sondern Du nannten. Ich meine das Du der Westläufersprache.

Ich untersuchte den Boden und fand, daß die Spuren Bobs von dem Orte, an welchem er gelegen hatte, nach Norden gingen. Ihnen folgend, gelangte ich nach ungefähr zehn Minuten an eine Stelle, wo die Fährte von zehn Pferden von Ost nach Westen lief. Hier hatte ihn die Mattigkeit von seinem Tiere geworfen, ohne daß man es bemerkt zu haben schien; vielleicht war er eine gute Strecke hinter seinem Trupp zurück gewesen. Ich folgte den Spuren und fand, daß sein Tier den andern gefolgt war, doch schienen sämtliche Pferde entsetzlich müde gewesen zu sein, denn alle waren von Zeit zu Zeit gestolpert, und ihr Gang war so schleppend gewesen, daß sie von Schritt zu Schritt mit den Schärfen ihrer Hufe leicht über den Sand gestrichen waren.

Dies machte die Spuren außerordentlich kenntlich, so daß ich ihnen ohne alle Mühe schnell zu folgen vermochte. Ich sage schnell, und es ging auch schnell, obgleich ich heute noch nicht zu sagen vermag, ob der grausige Trunk oder die Besorgnis um Bernard Marshal mir so plötzlich diese unerwarteten Kräfte verlieh.

So war ich wohl eine Meile weit vorangekommen, als ich einige vereinzelt stehende Kaktusstauden bemerkte, die so vollständig abgedorrt waren, daß sie beinahe eine gelbe Farbe angenommen hatten. Nach und nach standen sie in einzelnen Gruppen, welche allmählich immer häufiger wurden, bis sie endlich eine unabsehbare und geschlossene Strecke bildeten, welche sich weit bis über die Linie des Horizontes hinüberzog.

Natürlich ging die von mir verfolgte Fährte nicht in die gefährlichen Gewächse hinein; sie führte um dieselben herum, und ich folgte ihr, doch nicht lange, denn plötzlich kam mir ein Gedanke, der mich sofort mit neuen Kräften erfüllte.

Wenn in den glühenden Niederungen der Halbinsel Florida die jedes Wasser verzehrende Hitze so groß wird, daß Mensch und Tier verschmachten will, und dennoch die Erde bleibt wie flüssiges Blei und der Himmel wie glühendes Erz, ohne die kleinste Wolke sehen zu lassen, so stecken die verschmachtenden Leute das Schilf und alles sonstige ausgedorrte Gesträuch in Brand, und siehe da, der Regen kommt. Ich selbst hatte dies zweimal beobachtet, und wer einigermaßen mit den Gesetzen, Kräften und Erscheinungen der Natur vertraut ist, kann sich den Vorgang ganz gewiß erklären, ohne eine wissenschaftliche Erörterung zu verlangen.

Hieran dachte ich in diesem Augenblick; kaum war’s gedacht, kniete ich auch bereits bei den Pflanzen, um mir mit dem Messer die nötigen Zündfasern abzuschleißen. Einige Minuten später flackerte ein lustiges Feuer empor, welches erst langsam und dann immer schneller weiter um sich griff, bis ich endlich vor der Fronte eines Glutmeeres stand, dessen Grenzen nicht abzusehen waren.

Ich hatte bereits mehrere Prairiebrände erlebt, keiner aber war mit diesem donnernden Getöse über den Boden geschritten wie diese Kaktushölle, in welcher die einzelnen Pflanzen mit Büchsenschuß ähnlichem Knalle platzten, so daß es klang, als habe sich ein ganzes Armeekorps zum Einzelgefechte aufgelöst. Die Lohe stieg himmelan, und über ihr webte und zitterte ein Meer von glühenden Dünsten, durchschossen und durchflogen von den Kaktussplittern, welche von der Hitze wie Pfeile emporgeschnellt wurden. Der Boden zitterte merklich unter meinen Füßen, und in den Lüften hallte es dumpf wie das Getöse einer Schlacht.

Das war die beste Hilfe, welche ich – wenigstens jetzt –Bernard Marshal und den Seinen bringen konnte. Ich kehrte zurück, unbesorgt, ob ich ihre Spuren später sehen würde oder nicht. Die Hoffnung stärkte mich so, daß ich zu dem Wege kaum eine halbe Stunde gebraucht hätte; doch war es nicht nötig, denselben ganz zurückzulegen, denn bereits auf der Hälfte desselben kam mir Sam mit Bob und den beiden Pferden, welche sich wieder ein wenig fortzuschleppen vermochten, entgegen.

Zounds, Charley, was ist denn eigentlich da vorn los? Erst dachte ich, wir hätten ein Erdbeben, jetzt aber glaube ich zum Beispiel, daß dieser höllische Sand gar noch in Brand geraten ist.“

„Der Sand nicht, Sam, aber der Kaktus, welcher dort in Menge steht.“

„Wie fängt der Feuer? Ich glaube doch nicht, daß du ihn angezündet hast.“

„Warum nicht?“

„Wahrhaftig, er ist’s gewesen! Aber sage doch, Mensch, zu welchem Zwecke!“

„Um Regen zu bekommen.“

„Regen? Nimm es mir nicht übel, Charley, aber ich glaube, du bist zum Zeitvertreibe ein wenig übergeschnappt!“

„Weißt du nicht, daß bei manchen Wilden die Übergeschnappten für sehr gescheite Leute gelten?“

„Ich hoffe nicht, daß du behaupten willst, etwas Gescheites angefangen zu haben! Die Hitze ist ja vielmehr doppelt so groß geworden als vorher.“

„Die Hitze ist gestiegen, und mit ihr wird sich die Elektrizität entwickeln.“

„Bleibe mir zum Beispiel mit deiner Elektrizität vom Leibe! Ich kann sie nicht essen; ich kann sie nicht trinken; ich weiß überhaupt gar nicht, was für eine fremde Kreatur ich unter ihr zu verstehen habe.“

„Du wirst sie bald zu hören bekommen, denn in kurzer Zeit werden wir das schönste Gewitter haben und vielleicht auch ein wenig Donner dabei.“

„Nun halte auf! Armer Charley, du bist wirklich übergeschnappt!“

Er blickte mich so besorgt an, daß ich erkennen mußte, er spaße nicht. Ich deutete empor.

„Siehst du diese Dünste, welche sich bereits zusammenballen?“

„Alle Wetter, Charley, am Ende bist du nicht ganz so sehr verrückt, wie ich gedacht habe!“

„Sie werden eine Wolke bilden, die sich mit Heftigkeit entladen muß.“

„Charley, wenn dies wirklich so ist, dann bin ich ein Esel und du bist der klügste Kerl in den Vereinigten Staaten und auch etwas darüber hinaus.“

„Ist nicht so schlimm, Sam. Ich habe das Ding in Florida gesehen und es hier einfach nachgemacht, weil ich denke, daß uns eine Handvoll Regen nicht sehr viel schaden wird. Schau, da hast du bereits die Wolke! Sobald der Kaktus niedergebrannt ist, geht es los. Und wenn du es nicht glauben willst, so sieh nur deine Tony an, wie sie mit dem Schwanzstummel wirbelt und die Nüstern aufwirft! Auch mein Mustang riecht bereits Regen, der sich allerdings nicht viel weiter als über die Brandstrecke verbreiten wird. Kommt vorwärts, daß er uns auch richtig erwischen kann!“

Zwar liefen wir, aber wir hätten uns jetzt ebenso gut auch aufsetzen können, denn unsere Tiere zeigten sich so munter, wie es ihre Kräfte nur immer gestatteten, und drängten förmlich vorwärts. Ihr Instinkt ließ sie die ersehnte Erquickung wittern.

Meine Prophezeiung traf ein. Eine halbe Stunde später hatte sich die kleine Wolke so ausgebreitet, daß der ganze Himmel über uns bis rund um den Horizont tief schwarz erschien; dann brach es los, nicht allmählich wie in gemäßigteren Breiten, sondern plötzlich, als ob die Wolken aus festen Gefäßen beständen und umgestürzt worden seien. Es war, als trommelten zwanzig Fäuste auf unsern Schultern, und in der Zeit von nur einer Minute waren wir so vollständig durchnäßt, als wären wir in den Kleidern durch einen Fluß geschwommen. Die beiden Pferde standen erst ruhig und ließen die stürzende Flut mit freudigem Schnauben über sich ergehen; dann aber begannen sie allerlei Kapriolen zu machen, und bald konnten wir bemerken, daß ihre Kräfte vollständig zurückgekehrt waren. Wir selbst empfanden ein ganz außerordentliches Wohlbehagen, hielten unsere Decken auf, um das kostbare Naß zu sammeln, und füllten, was wir nicht tranken, in unsere Schläuche.

Am freudigsten gebärdete sich Bob, der Neger; er schlug Räder und Purzelbäume und schnitt Grimassen, die infolge seiner Physiognomie und der konträren Farbe seines Haares und seines Gesichtes ganz unbeschreiblich waren.

„Massa, Massa, oh, oh, Wasser, schön’Wasser, gut’Wasser, viel Wasser! Bob sein gesund, Bob sein stark, Bob wieder laufen, fahren und reiten bis nach Californ‘! Wird auch haben Wasser Massa Bern‘?“

„Wahrscheinlich, denn ich glaube nicht, daß er weit über die Kaktusstrecke hinausgekommen sein wird. Aber so trinke doch; es wird gleich aufhören, zu regnen!“

Er hob seinen breitrandigen Hut, der ihm entfallen war, von der Erde auf, hielt die untere Seite desselben empor, riß die wulstigen Lippen auseinander, daß ein Abgrund entstand, welcher von einem Ohre bis zum andern reichte, warf den Kopf nach hinten und goß sich den erquickenden Trank zwischen die klaffenden Zähne.

„Oh, ah, gut, Massa; Bob trinken noch groß viel mehr!“ Er hielt den Hut wieder empor, sah sich aber getäuscht. „Ah, Regen all sein; kein Wasser mehr kommen!“

Wirklich hörte nach einem letzten Schlage des Donners, welcher ununterbrochen erschollen war, der Regen ebenso plötzlich auf, wie er eingetreten war; doch brauchten wir ihn auch nicht mehr, denn unser Durst war vollständig gestillt, und dazu hatten wir die Schläuche bis zum Überlaufen füllen können.

„Jetzt laßt uns ein wenig essen,“ meinte ich, „und dann schnell vorwärts, damit wir Marshal erreichen!“

Das Mahl war in einigen Minuten beendet; es bestand nur in einem Stück dürren Büffelfleisches. Dann setzten wir uns auf und trabten vorwärts, wobei sich Bob als ein so guter Läufer erwies, daß er sehr leicht Schritt mit uns zu halten vermochte.

Allerdings waren die Spuren durch den Regen vollständig verwischt, doch kannte ich ja ihre Richtung, und es dauerte auch nicht lange, so bemerkte ich einen Flaschenkürbis, weicher an der Erde lag und jedenfalls von einem der Leute fortgeworfen worden war.

Die Kaktusstrecke mußte sich weit von Ost nach West hingezogen haben, denn die schwarze Brandfläche wollte gar nicht enden. Dies war mir jedoch lieb, da ich daraus schließen konnte, daß die Gesuchten von dem Regen mitbetroffen worden waren. Endlich aber hörte die Brandstätte doch auf, und gleich nachher erblickte ich in der Ferne eine dunkle Gruppe, welche aus Menschen und Tieren bestehen mußte. Ich nahm das Fernrohr zur Hand und zählte neun Männer und zehn Pferde. Acht der Gestalten saßen am Boden, die neunte aber befand sich zu Pferde und trennte sich eben von der Gruppe, um im Galopp in gerader Richtung auf uns zuzuhalten. Da aber schien er uns zu bemerken und parierte sein Tier. Ich fixierte ihn schärfer und erkannte Bernard Marshal.

Ich erriet sein Vorhaben. Er hatte sich in einem Zustande solcher Auflösung und Gleichgültigkeit befunden, daß er ebenso wie die Andern auf das Verschwinden seines Dieners gar nicht geachtet hatte; durch den erquickenden, neu belebenden Regen nun war er wieder in den Besitz seiner geistigen Spannkraft gelangt und hatte es als seine erste Pflicht erkannt, Bob aufzusuchen und zur Gesellschaft zurückzubringen. Das sah ich auch an dem zweiten Pferde, welches er am Zügel mit sich führte. Daß sich ihm keiner der Andern anschloß, wollte nicht sympathisch auf mich wirken, und ich hätte wetten mögen, daß sie aus lauter Yankees bestanden, denen das Leben eines Niggers, wenn er noch dazu nicht ihr eigener Diener ist, so viel wie eine taube Nuß gilt.

Er musterte unsern kleinen Trupp, rief einige Worte zurück, und sofort saßen alle auf ihren Pferden und hatten die Waffen zur Hand.

„Vorwärts, Bob; legitimiere uns!“ gebot ich dem Neger.

Er setzte sich in Dauerlauf, und wir folgten ihm in einem guten Schritte. Als Marshal seinen Diener erkannte, war aller Argwohn verschwunden; die Gesellschaft stieg wieder ab und erwartete uns in friedlicher Haltung. Wir hatten Bob nur einen geringen Vorsprung gelassen und vernahmen also seine Meldung, welche er dem Juwelier zurief.

„Nicht schießen, Massa, nicht stechen; sehr gut‘ schön‘ Männer kommen; Massa Charley sein, der totschlagen bloß Indsmen und Spitzbub, aber laß leben Gentleman und Nigger!“

„Charley, ist’s möglich!“ rief der Überraschte und fixierte mich einen Augenblick.

Ich hatte mich in seiner Heimat etwas mehr gentlemanlike getragen, als es in der Savanne möglich ist; ein Gesicht mit einem nur kleinen Bärtchen erkennt man nach Monaten nicht sofort wieder, wenn es sich hinter einem verwilderten Vollbart verbirgt; und da er mich überdies in meinem gegenwärtigen Habitus noch nie gesehen hatte, so nahm ich es ihm gar nicht übel, daß er mich nicht schon von weitem erkannte. Jetzt aber war ich ihm vielleicht nur dreißig Pferdelängen nahe gekommen, und nun sah er, daß Bob ihn recht berichtet hatte. Im Nu war er bei mir und reichte mir die Hand vom Pferde herüber.

„Charley, ist’s wahr? Seid Ihr es wirklich? Ich denke, Ihr wolltet nach Fort Benton und den Schneebergen! Wie kommt Ihr herab nach dem Süden?“

„War auch oben, Bernard, schien mir aber zu kalt und bin daher ein klein wenig heruntergerückt. Übrigens Gott zum Gruß hier in dem Estaccado! Wollt Ihr mich Euren Kameraden vorstellen?“

„Natürlich! Charley, ich sage Euch, tausend Dollars sind mir nicht so lieb als Eure Gegenwart. Steigt ab, und tretet näher!“

Er nannte den Männern meinen Namen und mir die ihrigen und stürmte dann mit tausend Fragen, die ich ihm so gut wie möglich beantwortete, auf mich ein. Die Andern waren lauter Yankees, fünf Voyageurs der Pelzkompagnie mit ganz vortrefflicher Ausrüstung und drei Personen, welche sich so mit Waffen behangen hatten, daß sie keine Westmänner sein konnten; jedenfalls waren es die Kaufleute, von denen Bob gesprochen hatte, die ich aber mehr für Abenteurer hielt, welche nach dem Westen gingen, um ihr Glück auf irgend eine ehrliche oder unehrliche Weise zu suchen. Der älteste der Voyageurs, der mir als Williams genannt wurde, war der Anführer der Truppe und schien mir ein ganz passabler Waschbär zu sein, wie man sich im Westen auszudrücken pflegt. Er wandte sich, als die ersten, nicht viel bedeutenden Fragen Bernards beantwortet waren, an mich. Der kleine Sam schien keinen imponierenden Eindruck auf ihn zu machen.

„Wir wissen jetzt so ungefähr, wer ihr seid und woher ihr kommt; nun laßt uns auch erfahren, wohin ihr wollt!“

„Vielleicht nach dem Paso del Norte, vielleicht auch wo anders hin, Sir, je nachdem wir Beschäftigung bekommen.“

Ich hielt es nicht für nötig, ihm mehr zu sagen, als er vorläufig zu wissen brauchte.

„Und was ist eure Beschäftigung?“

„Uns ein wenig in der Welt umzusehen.“

Lack-a-day, das ist eine Arbeit, bei der man keine Langweile hat, trotzdem man sich dabei nicht anzustrengen braucht. Da müßt Ihr jawohl ein sehr wohlhabender, wo nicht gar ein reicher Mann sein; man sieht das auch Euren blanken Waffen an!“

Mit dieser Vermutung befand er sich allerdings auf dem Glatteise, denn ich besaß eben nur diese Waffen und nebenbei einige Kleinigkeiten, die ich daheim gelassen hatte. Auch gefiel mir die Frage nicht, und noch weniger der lauernde Blick und der halb spöttische, halb hastige Ton, mit dem sie ausgesprochen wurde. Der Mann war sehr unvorsichtig und flößte mir trotz seines wohlbeschaffenen Äußern kein Vertrauen ein; ich beschloß, ihn scharf aufs Korn zu nehmen, und antwortete daher weder bejahend noch verneinend:

„Ob arm, ob wohlhabend, das ist in dem Estaccado so ziemlich gleich, sollte ich meinen.“

„Da habt Ihr Recht, Sir. Noch vor einer halben Stunde waren wir alle am Verschmachten, und nur ein reines Mirakel hat uns gerettet, ein Wunder, wie es hier noch niemals vorgekommen ist.“

„Welches?“

„Der Regen natürlich. Oder kommt ihr vielleicht aus einer Richtung, in welcher er euch nicht treffen konnte?“

„Er hat uns getroffen, denn wir haben ihn ja erst fertig gemacht.“

„Fertig gemacht? Was wollt Ihr damit sagen, Sir?“

„Daß wir ebenso verschmachtet waren, wie Ihr, und erkannten, daß wir nur dann Rettung finden konnten, wenn wir Wolken, Blitz und Donner machten.“

„Hört, Master Schlabbermaul, ich will nicht hoffen, daß Ihr uns für Leute haltet, denen man einen Bären für einen Wipp-poor-will geben kann, sonst würde es nach wenigen Augenblicken mit Eurer Haut sehr schlecht beschaffen sein. Ihr wart gewiß einmal da drüben in Utah am großen Salzsee und gehört zu den Heiligen der letzten Tage, die auch so ähnliche Wunder tun wie Ihr.“

„Allerdings war ich einmal drüben, habe es jetzt aber nicht mit den letzten Tagen, sondern zunächst mit dem heutigen Tage und mit Euch zu tun. Werdet Ihr uns beiden erlauben, uns Euch anzuschließen?“

„Warum nicht? Besonders da Ihr mit Master Marshal bekannt seid. Wie kommt es denn, daß Ihr Euch zu zweien in den Llano Estaccado wagt?“

Ich folgte meinem Mißtrauen, indem ich mich leichtsinnig und unerfahren stellte:

„Was gibt es da zu wagen? Der Weg ist abgesteckt; man geht also hinein und kommt glücklich wieder heraus.“

Good lack, seid Ihr rasch fertig! Habt Ihr einmal von den Stakemen etwas gehört?“

„Was sind das für Leute?“

„Da hat man es! Ich will nicht von ihnen reden, denn man soll den Teufel nicht an die Wand malen; aber das sage ich Euch: wer zu zweien sich in den Estaccado wagt, der muß ein Kerl sein wie Old Firehand, Old Shatterhand, oder so klug und schlau wie Sans-ear, der alte Indsmentöter. Habt Ihr vielleicht einmal von einem dieser Leute gehört?“

„Möglich, habe es aber wohl wieder aus der Acht gelassen. Wie lange werden wir noch reiten, ehe wir aus dem Estaccado herauskommen?“

„Zwei Tage.“

„Natürlich sind wir auf der rechten Straße?“

„Warum sollten wir es nicht sein?“

„Weil es mir vorkam, als ob die Pfähle plötzlich nach Südost statt nach Südwest gingen.“

„Das kann wohl Euch so vorkommen, nicht aber einem alten, erfahrenen Voyageur, wie ich bin. Ich kenne den Estaccado wie meinen Kugelbeutel.“

Mein Verdacht wurde größer. War er wirklich so erfahren, so mußte er sicher wissen, daß er aus der Richtung geraten war. Ich beschloß, ihn noch etwas näher anzulaufen.

„Wie kommt es, daß die Kompagnie Euch so tief nach dem Süden schickt? Es scheint mir, daß es mehr Pelzwerk im Norden gibt als hier.“

„Was Ihr weise und klug seid! Pelz ist Fell, und Fell ist Pelz. Abgerechnet, daß es graue und schwarze Bären, Racoons, Opossums und andere Pelztiere auch hier in Menge gibt, gehen wir nach Mittag, um uns bei der Herbstwanderung der Büffel einige tausend Felle zu holen.“

„Ah so! Ich habe geglaubt, daß Ihr sie droben in den Parks und so da herum viel leichter haben könnt. Übrigens seid Ihr als Voyageur in einer sehr guten Lage, da Ihr von keinem Indsman etwas zu befürchten habt. Man hat mir erzählt, daß die Kompagnie ihre Voyageurs zugleich als Briefträger und Stafetten benützt, und ein solcher Brief soll der beste Talisman gegen die Feindseligkeiten der Indianer sein. Ist das wahr?“

„Ja. Wir können, statt die Feindseligkeiten der Roten zu befürchten, uns stets auf ihre Hilfe verlassen.“

„So seid Ihr wohl auch mit solchen Briefen versehen?“

„Natürlich. Ich brauche nur das Siegel vorzuzeigen, so gewährt mir jeder Indianer seinen Schutz.“

„Ihr macht mich neugierig, Sir. Laßt mich doch einmal ein solches Siegel sehen!“

Ich bemerkte, daß er in Verlegenheit kam, sie aber unter einer zornigen Miene zu verbergen suchte.

„Habt Ihr schon einmal etwas vom Briefgeheimnis gehört, Mann? Ich habe die Erlaubnis, nur Indsmen das Siegel zu zeigen.“

„Ich habe nicht verlangt, den Inhalt des Briefes kennen zu lernen. Ihr scheint also gar nie in die Lage zu geraten, Euch auch einmal vor einem Weißen legitimieren zu müssen!“

„In einem solchen Falle legitimiert mich meine Büchse. Merkt Euch das!“

Ich nahm eine Miene an, als fühle ich mich außerordentlich beherrscht von ihm, und schwieg in möglichst wohlgespielter Verlegenheit. Der kleine Sam blinzelte nicht mich – denn das hätte ihn verraten können – sondern seine Tony mit ein Paar Augen an, als ob er mit ihr im höchsten Grade einverstanden sei, und ich drehte mich zu Marshal herum:

„Bob hat mir erzählt, wohin Ihr wollt, Bernard, und aus welchem Grunde Ihr diese Reise unternehmt. Habt Ihr keine Spur von dem Mörder, der Euch um alles gebracht hat?“

„Nicht die geringste. Es müssen übrigens mehrere Personen gewesen sein, welche die Tat unternahmen.“

„Wo befindet sich Allan?“

„In San Francisco; wenigstens waren seine Briefe alle von daher datiert.“

Well, so werdet Ihr ihn ja leicht finden. Werdet Ihr heut weiter gehen, oder behaltet Ihr hier Lager?“

„Es wurde ausgemacht, daß wir bleiben.“

„So will ich mein Pferd abtakeln.“

Ich erhob mich, und nahm dem Mustang Sattel und Zeug ab und gab ihm einige Handvoll Maiskörner zu fressen. Sam tat dasselbe mit seiner Stute. Wir hüteten uns dabei, ein Wort miteinander zu wechseln; es war dies ja auch gar nicht nötig, da wir uns auch ohne Rede verstanden. Wenn zwei Jäger einige Wochen lang beisammen gewesen sind, so lesen sie sich die Gedanken an den Augen ab. Auch mit Marshal sprach ich kein heimliches oder leises Wort. So verging der Rest des Tages unter meist gleichgültigen Gesprächen, und der Abend brach herein.

„Verteilt die Wachen, Sir,“ sagte ich zu Williams. „Wir sind müde und wollen schlafen.“

Er tat es, und ich bemerkte, daß keiner der Doppelposten aus mir oder Sam oder Marshal und einem der Voyageurs zusammengesetzt war.

„Schlaft mitten unter ihnen, damit sie nicht heimlich sprechen können!“ raunte ich Marshal zu, der mich sehr erstaunt bei dieser geheimnisvollen Weisung anblickte, aber ihr doch folgte.

Die Pferde hatten sich gelagert, da es kein Futter für sie gab. Ich legte mich, während die Anderen einen Kreis bildeten, zu meinem Mustang, dessen Leib ich als Kopfkissen benutzte, wozu den Übrigen die Sättel dienten. Ich hatte meinen Grund zu dieser Ausnahmestellung. Sam bedurfte keines Winkes von mir; er verstand mich und wählte sich seinen Platz so zwischen den Voyageurs, daß sie nur auf Posten heimlich miteinander zu sprechen vermochten.

Die Sterne gingen auf; aber es hing – vielleicht infolge des Regens – ein eigentümlicher Duft zwischen ihnen und dem Boden, so daß ihr Schimmer nicht so hell wie an andern Abenden herabzudringen vermochte. Zwei von den Kaufleuten hatten die erste Wache; sie verlief ohne irgend eine Auffälligkeit; Williams hatte die zweite Wache für sich und den jüngsten Voyageur gewählt. Als die Reihe an sie kam, waren sie noch nicht eingeschlafen. Sie erhoben sich, und jeder patrouillierte seinen Halbkreis ab; ich merkte mir genau die beiden Punkte, an denen sie regelmäßig zusammentrafen. Der eine Punkt lag ganz in der Nähe des Pferdes, welches dem Neger Bob gehörte, und dies erschien mir als ein günstiger Umstand, da nicht anzunehmen war, daß dem Schwarzen ein gutes Prairiepferd anvertraut worden sei, vor dessen Instinkt man sich in acht zu nehmen hatte.

Zu sehen, ob die beiden Männer miteinander sprachen, sobald sie sich berührten, vermochte ich nicht; aber es war mir, als verriete mir der Schall ihrer Schritte, daß sie sich einander stets beim Umkehren einige Worte zuraunten. Der Aufenthalt in der Savanne hatte mein Gehör geschärft, und wenn ich mich nicht täuschte, so hatte ich es hier mit zwei außerordentlich abgefeimten Männern zu tun.

Ich kroch vorsichtig in einem Bogen zu dem Pferde heran. Es schien ein höchst geduldiger und zutraulicher Klepper zu sein, denn er verriet mein Nahen weder durch das leiseste Schnauben noch durch die geringste Bewegung, und ich vermochte mich so eng an seinen Körper zu schmiegen, daß ich eine Entdeckung nicht zu fürchten hatte.

Eben kam Williams von der einen und der Voyageur von der andern Seite. Bevor beide sich umdrehten, vernahm ich sehr deutlich die Worte:

„Ich ihn, und du den Neger!“

Williams hatte diese Worte gesprochen. Als sie wiederkehrten, hörte ich:

„Natürlich auch sie!“

Es schien mir, als habe der Andere drüben am gegenüberliegenden Berührungspunkte eine Frage in Betreff auf mich und Sam ausgesprochen. Als sie sich mir wieder näherten, klang es:

Pshaw! Der Eine ist klein, und der Andere – es geschieht ja im Schlafe!“

Mit dem Kleinen war jedenfalls Sam und mit dem Andern ich gemeint. Es war klar, wir sollten ermordet werden. Warum, das konnte ich mir nicht erklären, Wieder nahten sie, und ich vernahm die deutliche Antwort.

„Alle drei!“

Vielleicht war drüben die Frage ausgesprochen worden, ob die drei Kaufleute unser Schicksal teilen sollten oder nicht. Diese fünf Voyageurs wollten sich also über uns hermachen, fünf gegen fünf. Das Fazit zu dieser Aufgabe war sehr leicht zu finden: sie hätten uns kalt gemacht, ohne sich selbst nur die Haut zu ritzen, wenn ich nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sie zu belauschen. Jetzt trafen die beiden Buschklepper wieder zusammen.

„Keine Minute eher – und nun gut!“ sagte Williams.

Die interessante Unterhaltung war also zu Ende, und ich konnte mir leicht denken, daß sich die letzten Worte auf den Zeitpunkt bezogen, wann die Tat geschehen sollte. Wann war dies? Im Schlafe sollte es geschehen! Heut oder morgen? Ich ging jedenfalls sicherer, wenn ich das Erstere annahm, und da die beiden Schurken höchstens noch eine Viertelstunde zu lustwandeln hatten, so war es hohe Zeit, ihnen zuvorzukomrnen.

Ich machte mich sprungfertig. Sie trafen wieder zusammen, diesmal ohne ein Wort zu sprechen. Beide drehten sich zu gleicher Zeit um, und kaum war Williams an mir vorüber, so schnellte ich hinter ihm in die Höhe, schlug ihm die Linke um den Hals, so daß er keinen Laut auszustoßen vermochte, und traf ihn mit der geballten Rechten so an die Schläfe, daß er still an mir niederglitt.

Jetzt setzte ich an seiner Stelle den Weg fort und stieß am jenseitigen Berührungspunkte mit dem Andern zusammen. Er war vollständig ahnungslos und hielt mich für Williams. Ich nahm ihn gleich von vorn bei der Gurgel und schlug ihn nieder. Wenigstens zehn Minuten lagen die Beiden ohne Besinnung; das wußte ich. Daher schritt ich nun rasch auf die Gruppe der Schlafenden zu. Nur zwei waren wach, Sam natürlich und Bernard, der durch meine ihm zugeflüsterte Weisung in eine solche Unruhe versetzt worden war, daß er nicht hatte schlafen können.

Ich schnallte den Lasso von der Hüfte – Sam tat sofort ein Gleiches.

„Die drei Voyageurs bloß,“ flüsterte ich, und dann rief ich laut: „Hallo, auf ihr Leute!“

Im Nu fuhren alle empor, sogar Bob, der Neger, aber ebenso schnell flogen auch die Schlingen unserer Lassos zweien der Voyageurs um die Arme und den Oberleib – eine zweite Schlinge, und die Riemen schlossen so fest, daß sie von den Gefangenen nicht gelöst werden konnten. Bernard Marshal hatte, mehr ahnend als begreifend, sich auf den dritten geworfen und hielt ihn fest, bis ich ihn mit seinem eigenen Lasso gebunden hatte. Und dies war so schnell geschehen, daß wir bereits fertig waren, als sich einer der drei Kaufleute ermannte und rief, zu seiner Büchse greifend:

„Verrat, zu den Waffen!“

Sam lachte laut auf.

„Laß deine Feuerspritze in Ruhe, meine Junge; es möchte dir und auch den Andern der Zünder fehlen, hihihihi!“

Der vorsichtige Kleine hatte während meines Lauschens von den drei Gewehren die Zündhütchen genommen, ein Beweis, wie scharf er mich verstand, ohne daß wir ein Wort gewechselt hatten.

„Seid ohne Sorge, ihr Leute, es wird euch nicht das Geringste geschehen!“ beruhigte ich sie. „Diese Männer hier wollten uns und euch ermorden; daher haben wir sie bis auf Weiteres unschädlich gemacht.“

Trotz der Dunkelheit war der Schreck zu bemerken, den meine Worte auf sie hervorbrachten, und auch Bob trat eilig näher.

„Massa, wollen sie morden auch Bob?“

„Auch dich!“

„Dann sie sterben, sie hängen in Estaccad‘, viel hoch an Pfahl!“

Die Gefangenen gaben keinen Laut von sich; sie mochten auf die Hilfe der Wachen rechnen.

„Bob, da drüben liegt Williams, und dort der Andere. Bringe sie herbei!“ gebot ich dem Neger.

„Schon tot sie?“ fragte er mich.

„Nein, aber ohne Besinnung.“

„Werden holen sie!“

Der riesige Schwarze schleppte Einen nach dem Andern auf seinen breiten Schultern herbei und warf sie zu Boden. Sie wurden augenblicklich gebunden. Nun konnten wir endlich sprechen, und ich klärte die drei Kaufleute über das auf, was wir getan hatten. Sie gerieten in eine außerordentliche Wut und verlangten den augenblicklichen Tod der Voyageurs. Ich mußte ihnen widersprechen.

„Auch die Savanne hat ihr Recht und ihre Gesetze. Ständen sie uns mit den Waffen gegenüber, wo dann unser Leben an einem Augenblick hing, so könnten wir sie niederschießen; wie die Dinge aber jetzt stehen, dürfen wir keinen Mord begehen, sondern müssen eine Jury über sie bilden.“

„Oh, oh, ja, eine Jury,“ meinte der Neger, erfreut über ein solches Schauspiel, „und dann Bob aufhängen all‘ ganz‘ Fünf!“

„Jetzt nicht! Es ist Nacht; wir haben kein Feuer und müssen warten, bis der Tag anbricht. Wir sind sieben Männer. Fünf können also ruhig schlafen, während zwei immer wachen; dabei sind uns die Gefangenen vollständig sicher, bis die Sonne kommt.“

Ich hatte Mühe, mit meiner Ansicht durchzudringen, brachte es aber endlich so weit, daß fünf sich wieder zur Ruhe legten, während ich mit einem der Kaufleute die Wache bezog. Nach einer Stunde wurden wir abgelöst. Sam übernahm die letzte Wache allein, da um diese Zeit der Tag bereits zu dämmern begann und zwei Augen also vollständig hinreichten, uns die nötige Sicherheit zu bewahren.

Während der ganzen Nacht hatte keiner der Gefangenen einen Laut von sich gegeben; doch als wir uns erhoben, bemerkte ich, daß Williams und sein Kumpan die Besinnung wieder erlangt hatten. Jetzt wurde zunächst gefrühstückt; unsere Pferde erhielten ihre Portion Körner, und dann ward zur Verhandlung geschritten. Sam winkte nach mir und sagte:

„Das ist unser Sheriff ; er wird zum Beispiel jetzt die Jury beginnen.“

„Nein, Sam, den Vorsitz übernehme ich nicht; das wirst du tun!“

„Ich? Heigh-ho, wo denkst du hin? Sam Hawerfield und Sheriff! Wer Bücher schreibt, paßt besser dazu!“

„Ich bin kein Bürger der Vereinigten Staaten und nicht so lange in der Savanne gewesen wie du. Wenn du nicht willst, so muß Bob es tun!“

„Bob? Ein Schwarzer und Sheriff? Das wäre der dümmste Streich, den wir in diesem Sandloche machen könnten, und so muß ich wohl ja sagen, wenn du zum Beispiel gar nicht anders willst!“

Er setzte sich in Positur und nahm eine Miene an, aus welcher deutlich zu erkennen war, daß bei diesem Savannengerichte wenigstens dieselbe Sorgsamkeit und Gerechtigkeit obwalten solle, wie bei der Jury einer zivilisierten Grafschaft.

„Nehmt Platz im Kreise, Mesch’schurs; ihr alle seid Schöffen, und Bob, der Neger, bleibt stehen, denn er wird der Constabel sein!“

Bob zog den Gurt seines Säbels fester an und suchte auf seinem Gesichte die möglichste Würde hervorzubringen.

„Constabel, nimm den Gefangenen die Fesseln ab, denn wir sind in einem freien Lande, und in einem solchen stehen selbst die Mörder mit freien Gliedern vor ihrem Richter!“

„Aber wenn ausreißen all‘ fünf, so – – –“ wagte der Neger einzuwenden.

„Gehorchen!“ donnerte ihn Sans-ear an. „Von diesen Männern wird keiner entfliehen, denn wir haben ihnen die Waffen genommen, und ehe sie zum Beispiel zehn Schritte getan hätten, wären unsere Kugeln schon bei ihnen!“

Die Riemen wurden abgelöst, und die Gefangenen richteten sich, noch immer kein Wort sprechend, in die Höhe. Jeder von uns Anderen hatte seine Büchse zur Hand; an eine Flucht war also wirklich nicht zu denken.

„Du nennst dich Williams,“ begann Sam. „Ist dies dein richtiger Name?“

Der Gefragte entgegnete mit grimmiger Miene:

„Ich werde euch nicht antworten. Ihr selbst seid Mörder; ihr selbst habt uns überfallen; ihr selbst gehört vor ein Savannengericht.“

„Tue, was du willst, mein Junge; du hast deinen freien Willen. Aber ich sage dir, daß Schweigen als ein Geständnis gilt. Also – bist du ein wirklicher Voyageur?“

„Ja.“

„Beweise es! Wo hast du deine Briefe?“

„Ich habe keine.“

„Gut, mein Junge, das genügt vollständig, um zu wissen, woran man mit dir ist! Willst du mir wohl sagen, was du gestern abend während deiner Wache mit deinem Kameraden gesprochen und beschlossen hast?“

„Nichts! Kein Wort ist gesprochen worden.“

„Dieser ehrenwerte Mann hier hat euch belauscht und alles deutlich gehört. Ihr seid keine Westmänner, denn ein echter Savannenläufer würde die Sache viel gescheiter angefangen haben.“

„Wir keine Westmänner? All devils, bringt Eure Komödie zu Ende, und dann wollen wir euch zeigen, daß wir uns vor keinem von euch fürchten. Wer seid denn ihr? Greenhorns, die uns im Schlafe überfallen haben, um uns zu ermorden und zu berauben!“

„Rege dich nicht unnötig auf, mein Sohn! Ich werde dir sagen, wer die Greenhorns sind, die hier über Leben und Tod entscheiden werden. Dieser Mann hat euch, nachdem er euch belauscht hatte, ganz allein mit seiner Faust niedergestreckt, und das ist zum Beispiel so korrekt geschehen, daß es kein Mensch gemerkt hat, nicht einmal ihr selbst. Und Derjenige, der diese schöne Faust besitzt, nennt sich Old Shatterhand. Jetzt seht mich einmal an! Darf sich wohl einer, dem die Navajoes einst die Ohren genommen haben, Sans-ear heißen lassen? Wir sind also die Zwei, die sich ganz allein in den Llano estaccado wagen dürfen. Und auch das ist wahr, daß wir es gestern regnen ließen; wer sonst sollte es denn gewesen sein? Oder hat man jemals gehört, daß es in dem Estaccado freiwillig geregnet hat?“

Es war sichtlich kein ermutigender Eindruck, welchen unsere Namen auf die fünf Männer machten. Williams ergriff zuerst das Wort; er hatte sich die Situation überlegt, und grad unsere Namen mochten den Gedanken in ihm erwecken, daß er eine Vergewaltigung bei uns nicht zu erwarten habe.

„Wenn ihr wirklich Diejenigen seid, für welche ihr euch ausgeht, so haben wir Gerechtigkeit zu erwarten. Ich werde euch die Wahrheit sagen. Ich habe früher anders geheißen, als Williams, aber das ist kein Verbrechen, denn ihr heißt eigentlich auch anders, als Old Shatterhand und Sans-ear; ein jeder kann sich heißen lassen, wie es ihm beliebt.“

Well, wegen des Namens bist du aber auch nicht angeklagt!“

„Und wegen eines Mordes könnt ihr uns auch nicht anklagen; wir haben weder einen begangen, noch einen begehen wollen. Ja, wir haben gestern abend miteinander gesprochen, haben von einem Mord gesprochen; haben wir aber eure Namen genannt?“

Der gute Sam blickte lange vor sich nieder und meinte endlich ziemlich verdrießlich:

„Nein, das habt ihr allerdings nicht getan; aber aus euren Worten ließ sich alles deutlich schließen.“

„Ein Schluß ist kein Beweis, ist keine Tatsache. Ein Savannengericht ist ein löbliches Ding, aber auch eine solche Jury darf nur nach Tatsachen und nicht nach Vermutungen urteilen. Wir haben Sans-ear und Old Shatterhand gastfreundlich bei uns aufgenommen, und zum Dank dafür werden sie uns unschuldig töten. Das werden alle Jäger erfahren von der großen See bis zum Mississippi, vom mexikanischen Meerbusen bis zum Sklavenfluß, und alle werden sagen, daß die beiden großen Jäger Räuber und Mörder geworden sind.“

Ich mußte innerlich gestehen, daß der Schurke seine Verteidigung ganz ausgezeichnet führte. Sam wurde von derselben so überrumpelt, daß er aufsprang.

’s death, das wird niemand sagen, denn wir werden euch nicht verurteilen. Ihr seid frei, so viel ich meine! Was sagt ihr Andern dazu?“

„Sie sind frei; sie sind unschuldig!“ meinten die drei Kaufleute, deren Überzeugung von der Schuld der Angeklagten gleich von vornherein nicht groß gewesen war.

„Auch ich kann, nach dem, was ich weiß, nichts auf sie bringen,“ entschied Bernard. „Was sie sind und wie sie heißen, das geht uns nichts an, und für unsere Anklage haben wir nur Vermutungen, keineswegs aber Beweise.“

Bob, der Neger, machte ein höchst verblüfftes Gesicht; er sah sich auf einmal um die Hoffnung betrogen, die Delinquenten aufhängen zu dürfen. Was mich betraf, so war ich mit dieser Wendung der Dinge ziemlich zufrieden; ich hatte sie sogar vorhergesehen und daher nicht nur gestern zum Aufschub geraten, sondern heut auch dem guten Sam den Vorsitz gelassen. Er besaß als Jäger eine seltene Schlauheit; einen Mörder aber durch Kreuzfragen festzunehmen, dazu war er nicht der Mann. In der Prairie ist man niemals seines Lebens sicher; warum also fünf Menschenleben auslöschen, wenn noch nicht einmal die geringste feindselige Tat vorliegt? Dann müßte überhaupt jeder Feind schon auf seine bloße Gesinnung hin getötet werden. Es lag mir weniger an dem Tode dieser Männer, als vielmehr an unserer Sicherheit, und für dieselbe konnten geeignete Maßregeln sehr leicht getroffen werden. Einen kleinen Stich aber mußte ich Sam doch dafür geben, daß er sich das abringen ließ, was wir besser aus Milde oder Gnade hätten bewilligen sollen. Als er sich daher mit der Frage an mich wandte, was ich dazu sage, antwortete ich:

„Weißt du noch, Sam, was der Vorzug deiner Tony ist?“

„Welcher?“

„Daß sie Grütze im Kopfe hat.“

Egad, ich besinne mich, und auch du scheinst ein gutes Gedächtnis für dergleichen Dinge zu haben. Aber was kann ich dafür, daß ich ein Jäger und kein Rechtsgelehrter bin? Du hättest aus diesen Leuten vielleicht etwas herausgekniffen; warum hast du den Sheriff nicht gemacht? Nun sind sie frei, denn was einmal gesagt ist, das muß auch gelten.“

„Natürlich, denn meine Meinung könnte nun doch nichts mehr entscheiden. Frei sind sie, nämlich von der Anklage auf Mordversuch, doch frei in anderer Beziehung noch nicht. Master Williams, ich werde jetzt eine Frage an Euch richten, und auf Eure Antwort soll es ankommen, was mit Euch weiter geschehen wird. in welcher Richtung erreicht man am schnellsten den Rio Pecos?“

„Grad nach West.“ An welcher Zeit?“

„In zwei Tagen.“

„Ich halte euch für Stakemen, obgleich ihr uns gestern vor denselben warnen wolltet und obgleich ihr mit eurer Truppe, allerdings nachdem sie gehörig abgeschwächt war, die richtige Richtung eingehalten zu haben scheint. Ihr werdet als unsere Gefangenen zwei Tage lang bei uns bleiben. Sind wir dann noch nicht am Flusse, so ist es um euch geschehen, denn ich selbst werde euch die Kugel oder den Riemen zu kosten geben, oder eine Jury über euch abhalten. Jetzt wißt ihr, woran ihr seid! Bindet sie auf ihre Pferde, und dann vorwärts!“

„Oh, ah, das sein gut!“ meinte Bob. „Wenn nicht kommen an Fluß, Bob werden hängen sie an Baum!“

Bereits nach einer Viertelstunde befanden wir uns unterwegs; die auf ihre Pferde gebundenen Gefangenen waren natürlich in der Mitte. Bob schien sein Amt als Constabel nicht niederlegen zu wollen; er wich nicht von ihnen und hielt sie unter der strengsten Beaufsichtigung. Sam befehligte den Nachtrab, und ich ritt mit Bernard Marshall voran.

Natürlich war das gestrige Ereignis der Gegenstand unseres Gespräches, doch hatte ich keine Lust, mich sonderlich darüber zu verbreiten. Endlich meinte er, von den Voyageurs abbrechend:

„Ist es wahr, was Sans-ear behauptete, daß Ihr den Regen gemacht habt?“

„Ja.“

„Mir unbegreiflich, obgleich ich weiß, daß Ihr nicht die Unwahrheit sagt.“

„Ich ließ es regnen, um uns und Euch zu retten.“

Und nun erklärte ich ihm den höchst einfachen Vorgang, mit Hilfe dessen sich die Wettermacher und Medizinmänner mancher wilder Völkerschaften bei ihren Gläubigen in ungeheuren Kredit zu setzen verstehen.

„Dann haben wir alle Euch also das Leben zu verdanken. Wir wären verschmachtet an der Stelle, an welcher Ihr uns traft.“

„Verschmachtet nicht, sondern ermordet worden. Seht Euch nur die Satteldecken dieser sogenannten Voyageurs an; es befinden sich noch volle Wasserschläuche unter denselben. Sie haben nicht den mindesten Durst gelitten. Ich würde sie unbedingt niederschießen, wenn ich mich nicht scheute, Menschenblut zu vergießen. Wie heißt der jüngste von ihnen, der gestern mit Williams zugleich die Wache hatte?“

„Mercroft.“

„Jedenfalls auch ein angenommener Name. Der Bursche kommt mir trotz seiner Jugend am allerverdächtigsten vor, und es ist mir, als hätte ich ein ähnliches Gesicht bereits einmal unter nicht empfehlenden Umständen gesehen. Wehe ihnen, wenn wir zur angegebenen Zeit das Wasser nicht erreichen! Jetzt erzählt mir doch einmal die näheren Umstände bei der Ermordung und Beraubung Eures Vaters!“

„Nähere Umstände gibt es nicht. Allan war nach Francisco gegangen, um Einkäufe in Gold zu machen; wir waren also mit Bob und der Wirtschafterin nur zu Vieren, da die Arbeiter und Gehilfen außerhalb des Hauses wohnten. Der Vater ging abends stets aus, wie Ihr ja wohl wißt, und eines schönen Morgens fanden wir seine Leiche im verschlossenen Hausflur, die Werkstatt und den Laden aber geöffnet und alles Wertvolle geraubt. Er trug stets einen Schlüssel bei sich, welcher alle Türen öffnete. Man hat ihm nach der Ermordung denselben abgenommen und konnte dann mit Hilfe dieses Hauptschlüssels den Raub ohne alle Mühe vollführen.“

„Hattet Ihr keinen Verdacht?“

„Nur einer der Gehilfen konnte den Umstand mit dem Schlüssel wissen, doch alle polizeilichen Nachforschungen sind fruchtlos geblieben; die Gehilfen mußten entlassen werden und sind verschollen. Es befanden sich bedeutende Depositen unter den geraubten Juwelen; ich mußte alles ersetzen und behielt kaum Mittel genug zu der Reise nach Kalifornien übrig, welche ich unternehmen muß, um den Bruder aufzusuchen, dessen Nachrichten so plötzlich unterblieben sind.“

„So habt Ihr keine Hoffnung, des Mörders jemals habhaft zu werden und wenigstens teilweise wieder zu Eurem Eigentum zu kommen?“

„Nicht die mindeste. Die Täter sind mit ihrem Raube jedenfalls längst außer Landes, und obschon ich die Tat in allen größeren Zeitungen Europas und Amerikas veröffentlichen ließ und eine genaue Beschreibung der wertvollsten geraubten Gegenstände beifügte, so wird mir dies doch nichts helfen, denn es gibt für den geriebenen Verbrecher Mittel und Wege genug, sich sicher zu stellen.“

„Ich möchte wohl einmal eine solche Veröffentlichung lesen!“

„Das könnt Ihr. Ich habe die betreffende Nummer des Morning-Herald stets bei mir, um für etwaige Fälle bei der Hand zu sein.“

Er griff in die Tasche und zog das Blatt hervor, um es mir herüberzureichen. Ich las das Verzeichnis während des Reitens und mußte dabei wieder einmal eine jener höheren Fügungen bewundern, welche der Zweifler Zufall zu nennen pflegt. Als ich zu Ende war, faltete ich das Papier zusammen und gab es ihm zurück.

„Wie nun, wenn ich im Stande wäre, Euch den Täter oder wenigstens einen der Täter genau zu bezeichnen?“

„Ihr, Charley?“ fragte er schnell.

„Und Euch wenigstens zu einem großen Teile Eures Verlustes wieder zu verhelfen?“

„Treibt keinen üblen Scherz, Charley! Ihr waret in der Prairie, als die Tat geschah; wie sollte Euch das möglich sein, was die, welche am nächsten beteiligt waren, nicht zustande brachten?“

„Bernard, ich bin ein rauher Gesell aber wohl dem Menschen, der sich aus der glücklichen Jugendzeit seinen Kinderglauben hinüber in die Zeit des ernsten Mannesalters gerettet hat. Es gibt ein Auge, welches über alles wacht, und eine Hand, welche selbst die bösesten Anschläge für uns zum Guten lenkt, und für dieses Auge, für diese Hand liegen Louisville und die Savanne eng zusammen. Da seht einmal her!“

Ich zog die Beutel hervor und reichte sie ihm hin. Er nahm sie mit fieberhafter Aufregung in Empfang, und als er sie öffnete, sah ich seine Hände zittern. Kaum hatte er einen Blick hineingeworfen, so stieß er einen Ruf der freudigsten Überraschung aus:

„Herr, mein Gott, unsere Diamanten! ja, sie sind’s, sie sind’s wahrhaftig! Wie kommt – – –“

„Stopp!“ unterbrach ich ihn. „Beherrscht Euch, mein Junge! Die da hinter uns brauchen nicht ganz genau zu wissen, welche Art von Unterhaltung wir führen! Wenn es Eure Steine sind, wovon ich allerdings selbst vollkommen überzeugt bin, so behaltet sie, und damit Ihr nicht etwa gar mich selbst für den Spitzbuben haltet, will ich Euch erzählen, wie ich zu ihnen gekommen bin.“

„Charley, was denkt Ihr denn! Wie könnt Ihr meinen –“

„Sachte, sachte! Ihr schreit ja, als ob sie es drüben in Australien hören sollten, was wir hier mit einander zu verhandeln haben!“

Der gute Bernard befand sich in einem allerdings leicht erklärlichen Freudenrausche; ich gönnte ihm sein Glück von ganzem Herzen und bedauerte nur, daß es nicht möglich war, mit den Steinen ihm auch den Vater zurückzugeben.

„Erzählt, Charley! Ich bin begierig, zu hören, wie meine Steine in Eure Hände gekommen sind,“ bat er mich.

„Ich hatte auch den Täter beinahe fest. Er war mir so nahe, daß ich ihn mit diesem meinem Fuße von der Lokomotive stieß, auf welcher ich stand, und Sam ist hinter ihm hergewesen, freilich vergeblich. Aber ich hoffe, ihn wieder zwischen die Hände zu bekommen, und zwar bald, wo möglich da drüben über dem Rio Pecos; er hat sich dorthin gewandt, jedenfalls einer neuen Gaunerei wegen, der wir wohl auch noch auf die Spur kommen werden.“

„Erzählt, Charley, erzählt!“

Ich berichtete ihm den Bahnüberfall durch die Ogellallahs mit allen dabei vorgekommenen Einzelheiten und las ihm dann auch den Brief vor, welchen Patrik an Fred Morgan geschrieben hatte. Er hörte mit der größten Aufmerksamkeit zu und meinte dann am Schlusse:

„Wir fangen ihn, Charley, wir fangen ihn, und werden dann auch erfahren, wohin das Übrige gekommen ist!“

„Fangt nicht wieder an zu schreien Bernard! Wir sind zwar um einige Pferdelängen voraus, aber hier im Westen muß man selbst beim einfachsten Dinge verschlossen sein, da Unklugheit niemals zu irgend einem Nutzen führt.“

„Und Ihr wollt mir die Steine wirklich überlassen, ohne alle Bedingung, ohne jedweden Anspruch?“

„Natürlich, sie sind ja Euer!“

„Charley, Ihr seid – – – doch hört“ – er griff in den Beutel und zog einen der größeren Steine hervor – „tut mir den Gefallen und nehmt diesen da als Andenken von mir an!“

Pshaw! Werde mich hüten, Bernard! Ihr habt nichts zu verschenken, gar nichts, denn diese Steine gehören nicht Euch allein, sondern auch Eurem Bruder.“

„Allan wird gutheißen, was ich tue!“

„Das ist möglich, ja, ich bin sogar überzeugt davon; aber bedenkt, daß diese Steine noch lange nicht alles sind, was Ihr verloren habt. Behaltet ihn also, und wenn wir einmal scheiden so gebt mir etwas Anderes, was Euch nichts kostet und mir als Andenken dennoch lieb und teuer ist! Jetzt aber reitet einmal in dieser Richtung fort, ich werde Sam erwarten!“

Ich ließ ihn mit seinem Glück allein und blieb halten, um die Truppe an mir vorüber zu lassen, bis Sans-ear mir zur Seite war.

„Was hattest du denn da vorn so Außerordentliches zu verhandeln, Charley?“ fragte er mich. „Ihr habt ja die Luft mit den Armen geprügelt, daß es zum Beispiel ganz so aussah, als ob ihr Ballett reiten wolltet.“

„Weißt du, wer der Mörder von Bernards Vater ist?“

„Nun? Du hast es doch nicht etwa herausbekommen?“

„Doch!“

Well done! Du bist ein Mensch, dem alles glückt. Wenn ein Anderer jahrelang vergeblich nach etwas ringt und jagt, so greifst du im Traume in die Luft und hast es. Nun, wer ist es? Ich hoffe, daß du dich nicht verrechnest!“

„Fred Morgan.“

„Fred Morgan – dieser?! Charley, ich will dir Alles glauben, dies aber nicht. Morgan ist ein Schuft unter den Westmännern, doch nach dem Osten kommt er nicht.“

„Ganz, wie du willst. Die Steine aber gehören Marshall; ich habe sie ihm bereits wiedergegeben.“

„Ha, wenn du das getan hast, so mußt du freilich ganz außerordentliche Überzeugung haben. Wird sich freuen, der arme Junge! Und nun gibt es einen Grund mehr, mit diesem Morgan einige Worte im Vertrauen zu reden; ich hoffe, seine Kerbe bald einschneiden zu können.“

„Und wenn wir ihn finden und mit ihm fertig sind, was dann?“

„Was dann? Hin, ich bin nur seinetwegen nach dem Süden, und wäre ihm nachgegangen bis nach Mexiko, Brasilien und dem Feuerlande. Finde ich ihn aber hier, so ist es mir ganz gleich, wohin ich gehe. Vielleicht hätte ich zum Beispiel Lust, einmal hinüber in das alte Kalifornien zu laufen, wo es so prächtige Abenteuer geben soll.“

„Für diesen Fall gehe ich mit. Ich habe noch einige Monate Zeit und möchte den guten Bernard nicht allein diesen weiten und gefährlichen Weg machen lassen.“

Well, so sind wir einig. Sorge nur dafür, daß wir erst glücklich aus diesem Sande und von dieser Gesellschaft kommen. Sie gefällt mir jetzt viel weniger als heut am Morgen, und besonders will mir das Gesicht des jungen dort verwünscht schlecht behagen; es ist ein Ohrfeigengesicht, und ich meine, daß ich es bereits einmal bei einer Gelegenheit gesehen habe, bei welcher eine Schlechtigkeit im Werke gewesen ist.“

„Geht mir ganz ebenso. Vielleicht besinne ich mich noch, wo ich ihm begegnet bin!“

Der Ritt wurde ohne eine besondere Unterbrechung bis abends fortgesetzt; dann machten wir Halt, versorgten unsere Pferde, aßen einige Bissen hartes Dürrfleisch und begaben uns dann zur Ruhe. Die Gefangenen waren für die Nacht gefesselt worden, und die Wache sorgte dafür, daß sie sich nicht zu befreien vermochten. Als der Morgen anbrach, ging es wieder vorwärts, und bereits am Mittag bemerkten wir, daß der Boden weniger steril wurde. Der Kaktus, welchem wir begegneten, wurde saftiger, und bereits zeigte sich hier oder da im Sande ein Halm oder ein Büschel grüngelben Grases, welches unsere Pferde mit Begierde abweideten. Nach und nach drängten sich die Halme und Büschel zusammen; die Wüste wurde zum wiesenartigen Plane, und wir mußten absteigen, um unsere Tiere zufrieden zu stellen, welche sich mit wahrem Heißhunger an dem Grün erlabten. Zuviel durften wir ihnen freilich nicht gewähren; darum pflockten wir sie an, damit sie nur soweit weiden konnten, als die Lassos reichten. Jetzt konnten wir sicher sein, bald Wasser zu finden, und so gingen wir mit dem Reste des unsrigen nicht eben gar zu sehr sparsam um.

Indem wir uns so freuten, die furchtbare Wüste endlich hinter uns zu haben, trat Williams zu mir.

„Sir, glaubt Ihr nun, daß ich die Wahrheit gesagt habe?“

„Ich glaube es.“

„So gebt uns unsere Pferde und Waffen zurück, und laßt uns frei. Wir haben Euch nichts getan, und können diese Forderung mit allem Rechte stellen.“

„Möglich; da ich aber nicht allein über euch zu entscheiden vermag, so werde ich die Anderen fragen.“

Wir setzten uns zur Beratung zusammen, welcher ich eine vorbedächtige Einleitung gab:

„Mesch’schurs, wir haben die Wüste im Rücken und gutes Land vor uns; nun gilt die Frage, ob wir noch beisammen bleiben können. Wohin gedenkt ihr zu gehen?“ wandte ich mich speziell an die Kaufleute.

„Nach dem Paso del Norte,“ lautete die Antwort.

„Wir vier reiten hinauf nach Santa Fé; unsere Wege laufen also auseinander. Jetzt ist noch die Frage, was wir mit diesen fünf Männern tun.“

Diese wichtige Frage ward nach kurzer Besprechung in der Weise gelöst, die Voyageurs freizulassen, und zwar nicht erst morgen, sondern noch heute. Dies war meinem Plane nicht zuwider; sie erhielten also ihr Eigentum zurück und machten sich sofort auf den Weg. Auf die Frage, wohin sie sich zu wenden beabsichtigten, gab Williams zur Antwort, daß sie dem Pecos bis zum Rio Grande folgen würden, um dort Büffel zu jagen. Sie waren kaum eine halbe Stunde fort, so brachen auch die Kaufleute auf, und bald waren beide Gruppen am Horizonte verschwunden.

Wir hatten seit ihrer Entfernung schweigend dagesessen; jetzt brach Sam die Stille:

„Was meinst du, Charley?“ fragte er mich.

„Daß sie nicht nach dem Rio Grande gehen, sondern uns den Weg nach Santa Fé verlegen werden.“

Well, ist auch meine Ansicht. War doch gescheit von dir, daß du sie belehrtest, wir wollten just da hinauf, jetzt ist die Frage, ob wir zum Beispiel hier bleiben oder sogleich weitergehen sollen.“

„Ich entscheide mich für das Bleiben. Folgen können wir ihnen noch nicht, denn sie vermuten dies und passen also auf, und da wir vielleicht Strapazen vor uns haben, denen unsere Pferde noch nicht gewachsen sind, so ist es geraten, wir lassen dieselben bis morgen Rast und Weide halten.“

„Aber wenn diese Menschen heute nacht zurückkehren und uns überfallen?“ fragte Marshall.

„So würden wir endlich Grund haben, so mit ihnen zu sprechen, wie sie es verdienen. Übrigens reite ich auf Spähe aus; ich will dies übernehmen, weil mein Pferd das kräftigste ist. Ihr bleibt natürlich hier, bis ich zurückkehre, was möglicherweise erst am Abend geschehen wird.“

Ich stieg auf und ritt, von keinem Einspruch Sams zurückgehalten, den Spuren der Voyageurs nach. Diese führten in südwestlicher Richtung in das Land hinein, während die Fährte der drei Kaufleute mehr nach Süden strich.

Ich folgte im Trabe. Die Voyageurs hatten sich in langsamem Schritte entfernt, mußten sich aber später schneller vorwärts bewegt haben, denn es dauerte wohl eine halbe Stunde, ehe ich sie in die Augen bekam. Ich wußte, daß sie kein Fernrohr hatten, und konnte ihnen also in der Weise folgen, daß ich sie immer vor meinem Glase behielt.

Nach einiger Zeit trennte sich zu meinem Erstaunen einer von ihnen und schlug eine gerade westliche Richtung ein. Dort sah ich in der Ferne Strecken von Buschwerk, welche sich wie Halbinseln in die Prairie hineinzogen; es mußte auch Bäche und andere Wasserläufe dort geben. Was tun? Wem sollte ich folgen? Den Vieren oder dem Einen? Eine Ahnung sagte mir, daß dieser letztere einen Plan habe, der sich auf uns bezog. Wohin die Anderen gingen, konnte mir gleichgültig sein, da sie sich stetig von unserem Lagerplatze entfernten; aber was er vorhatte, das zu wissen, konnte uns von großem Vorteile sein. Darum folgte ich ihm.

Nach ungefähr drei Viertelstunden sah ich ihn zwischen den Büschen verschwinden. Jetzt setzte ich meinen Mustang in gestreckten Galopp und ritt einen Bogen, um mich ihm, wenn er auf demselben Wege zurückkehren sollte, nicht zu verraten. Unweit des Punktes, an welchem er in die Büsche gedrungen war, erreichte auch ich dieselben, ritt aber noch eine ziemliche Strecke zwischen sie hinein, bis ich einen kleinen, freien und rings von Sträuchern umfaßten Platz erreichte, welcher von dem saftigsten Grün bestanden war, weil, wie ich zu meiner großen Freude bemerkte, ein klarer Quell hier entsprang, Ich stieg ab und band mein Pferd so an, daß es saufen und weiden konnte; dann trank ich selbst von dem herrlichen Wasser und schritt nachher der Richtung zu, in welcher ich auf die Fährte des Reiters stoßen mußte.

Dies geschah sehr bald, und zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß hier mehrere Reiter geritten waren, ja, daß es einen ordentlichen Pfad gab, welcher fleißig benutzt werden mußte. Ich hütete mich wohl, ihn zu betreten; er konnte bewacht sein, und dann hatte ich jeden Augenblick eine Kugel zu erwarten. Vielmehr pürschte ich mich, immer parallel mit ihm, durch das Gebüsch, bis mich nach einiger Zeit ein lautes Schnauben aufmerksam machte.

Eben wollte ich um einen Strauch treten, um zu sehen, wo das Pferd stand, von welchem der Ton hergekommen war, als ich blitzschnell wieder zurückfuhr; denn vor mir lag ein Mann, der den Kopf so zwischen den Zweigen liegen hatte, daß er den Pfad genau beobachten konnte, während es ganz unmöglich war, ihn von demselben aus zu bemerken. Das war jedenfalls die Wache, welche ich vermutet hatte, und aus ihrer Anwesenheit ließ sich schließen, daß eine ganze Gesellschaft in der Nähe sein müsse.

Der Mann hatte mich weder gesehen noch gehört. Ich kehrte einige Schritte zurück, um ihn zu umgehen, und dies gelang mir so vollständig, daß ich nach fünf Minuten das ganze Terrain erkundet hatte.

Der Pfad lief nämlich auf eine große, weite Lichtung zu, deren Mitte ein dichtes, rundes Buschwerk trug, welches von wildem Hopfen so um- und durchschlungen war, daß man nicht hindurchzublicken vermochte. Aus diesem Gebüsche war das Schnauben gedrungen. Ich schlich mich längs des Randes der Lichtung hin, um zu sehen, ob sich eine Öffnung im Gebüsch befinde, konnte aber keine entdecken; sie mußte maskiert worden sein, denn eben wurde eine und dann noch eine menschliche Stimme laut, welche mir die Anwesenheit von Männern verrieten.

Sollte ich es wagen oder nicht, mich anzuschleichen? Es war gefährlich, aber ich beschloß dennoch, es zu tun. Mit einigen raschen Sprüngen schnellte ich mich quer über den Lichtungsring hinüber, und zwar an einer Stelle, wo mich der Posten nicht bemerken konnte, weil sich das Gebüsch zwischen ihm und mir befand. So weit ich gehen durfte, ohne gesehen zu werden, fand ich das Buschwerk so dicht, daß ich nicht hindurchzublicken vermochte; eine einzige Stelle nur gab es, tief unten am Boden, ganz an dem Wurzelwerke, die es mir allenfalls erlaubte, mich, hart an der Erde liegend, einzuschieben. Es ging zwar langsam, sehr langsam, aber ich brachte es doch fertig, und nun gewahrte ich, daß das früher ohne Zweifel kompakte Buschwerk ausgehauen worden war, so daß die Mitte desselben einen freien Raum von ungefähr dreißig Ellen im Durchmesser bildete, welche Lichtung durch die dichte Laubwand nach außen vollständig abgeschlossen war. An der einen Seite des Raumes gewahrte ich nicht weniger als achtzehn Pferde, welche eng nebeneinander angebunden waren; ganz in der Nähe meines Versteckes lagen oder saßen siebzehn Männer am Boden, und der übrige Platz zeigte ganze Haufen verschiedener Gegenstände, welche mit ungegerbten Büffelhäuten zugedeckt waren. Ich bekam den Eindruck einer Räuberhöhle, in welcher alles aufgestapelt wird, was man den Überfallenen abgenommen hat.

Eben sprach einer der Männer zu den übrigen; es war Williams, in dem ich also denjenigen erkannte, welcher sich von den vier Voyageurs getrennt hatte. Ich konnte jedes Wort vernehmen:

„Der Eine mußte uns belauscht haben, denn ich erhielt auf einmal einen Fausthieb an den Kopf, daß ich wie ein Klotz niederfiel – – –“

„Belauscht bist du worden?“ fragte einer, der eine ziemlich reiche mexikanische Kleidung trug, mit strenger Stimme. „Du bist ein Tölpel, den wir nicht mehr brauchen können. Wie kann man sich belauschen lassen, noch dazu in dem Estaccado, der keinen Ort zum Verstecken bietet!“

„Sei nicht streng, Capitano!“ meinte Williams. „Wenn du wüßtest, wer es gewesen ist, so würdest du bekennen, daß selbst du vor ihm nicht sicher bist.“

„Ich? Soll ich dir eine Kugel durch den Kopf jagen? Und nicht nur belauscht, sondern sogar niedergeschlagen bist du worden, niedergeschlagen durch einen Faustschlag, wie ein Kind, wie eine Memme!“

Die Stirnadern Williams‘ schwollen an.

„Du weißt, Capitano, daß ich keine Memme bin. Der mich niedergeschlagen hat, streckte auch dich zu Boden mit einem einzigen Hieb.“

Der Capitano lachte hell auf. „Erzähle weiter!“

„Auch Patrik, welcher sich einstweilen Mercroft nannte, wurde von ihm niedergeschmettert.“

„Patrik? Mit seinem Stierschädel? Und wann das?“

William erzählte das Ereignis bis dahin, wo wir die Voyageurs wieder freigegeben hatten.

„Carajo, Schurke, ich schieße dich nieder wie einen Hund. Läßt sich der Kerl mit vier meiner besten Leute von zwei herzugelaufenen Schuften niederschlagen und gefangennehmen, wie ein Knabe, der kein Mark in den Knochen hat und noch niemals aus der Schürze der Mutter gekommen ist!“

Thunder-storm, Capitano, weißt du, wer die Beiden waren, dieser Eine, den sie Charley nannten, und der Andere, der sich in den ersten Stunden Sam Hawerfield nennen ließ? Wenn sie jetzt hereinträten, nur diese zwei, mit den Büchsen in der Hand und das Messer locker im Gürtel, so würde es wohl manchen geben, der nicht wüßte, ob er sich wehren oder sich lieber ergeben solle. Es war Old Shatterhand und der kleine Sans-ear“

Der Anführer fuhr empor.

„Lügner! Du willst bloß eure Feigheit beschönigen!“

„Capitano, stich mich nieder! Du weißt, daß ich nicht mit der Wimper zucke!“

„So sprichst du wirklich die Wahrheit?“

„Ja.“

„Wenn das ist, per todos los santos, so müssen die Beiden sterben, und der Yankee mit dem Nigger auch, denn diese beiden Jäger werden nicht ruhen, bis sie uns entdeckt und vernichtet haben.“

„Sie werden uns nichts tun, denn sie berieten sich, sofort nach Santa Fé zu gehen.“

„Schweig! Du bist tausendmal dümmer als sie, und doch würdest du ihnen nicht sagen, wohin du wirklich gehest. Ich kenne die Art und Weise dieser nördlichen Waldläufer sehr genau. Wenn sie unsere Spuren suchen wollen, so werden sie dieselben finden, selbst wenn wir durch die Luft fahren könnten; ja, wir sind nicht sicher, daß bereits einer von ihnen hier in den Büschen steckt und alles hört, was wir sprechen.“

Bei diesen Worten war es mir nicht ganz gleichgültig zu Mute, aber der Sprecher fuhr fort:

„Ja, ich kenne ihre Weise sehr genau, denn ich war ein ganzes Jahr mit dem berühmten Florimont zusammen, den sie nur Track-Smeller nannten, während er As-ko-Iah bei den Indianos hieß; bei ihm habe ich alle ihre Schliche und Eigentümlichkeiten kennen gelernt. Ich sage euch, diese Leute werden nicht nach Santa Fé gehen und auch ihren Lagerplatz heut nicht verlassen. Sie wissen, daß sie auch morgen noch eure Spuren finden, und daß ihre Pferde vor allen Dingen ausruhen müssen. Dann werden sie morgen mit gestärkten Gliedern und scharfem Geiste hinter euch her sein, und wenn wir sie auch sicher erlegen, werden sie doch über die Hälfte von uns niederstrecken. Ich habe erzählen hören, daß dieser Old Shatterhand ein Gewehr hat, mit dem er eine ganze Woche lang schießen kann, ohne daß er es zu laden braucht; der Teufel hat es ihm gemacht, und er hat ihm dafür seine Seele verschrieben. Daher müssen wir sie noch heut abend überfallen, wenn sie schlafen, denn da haben sie, weil sie nur vier Personen sind, höchstens einen Mann als Wache aufgestellt. Kennst du den Ort genau?“

„Ja,“ antwortete Williams.

„So macht euch bereit. Punkt Mitternacht müssen wir dort sein, aber ohne Pferde. Wir schleichen uns an und fallen über sie her, so daß sie an eine Gegenwehr gar nicht denken können.“

Der gute Capitano kannte uns doch nicht so genau, wie er dachte; er hätte sonst noch ganz andere Maßregeln ergriffen. Man begegnet in der Prairie ganz so, wie in den Ortschaften der zivilisierten Länder, jener Übertreibungssucht, welche aus einer Mücke einen Elefanten macht, wie man zu sagen pflegt. Wenn sich der Jäger ein- oder zweimal wacker gegen seine Feinde hält und nebenbei es versteht, seinen Scharfsinn zur Geltung zu bringen, so wird es von Lager zu Lager erzählt; überall kommt etwas dazu, und zuletzt ist er ein Held im Superlativ, dessen Name beinahe dieselbe Wirkung hat wie seine Waffen. Jetzt hatte ich sogar vom Teufel ein Gewehr erhalten, mit welchem ich eine ganze Woche lang zu schießen vermochte, und dieses Wunderwerk war zu reduzieren auf meinen Henrystutzen, mit welchem ich allerdings fünfundzwanzig Schüsse abgeben konnte.

„Wo ist Patrik mit den Andern?“ fragte nun der Anführer.

„Nach dem Head-Pik, um seinen Vater zu erwarten, wie er dir ja gemeldet hat. Bei dieser Gelegenheit wird er sich an die drei Kaufleute machen, welche sehr gute Waffen und auch ein hübsches Stück Geld bei sich führen. Vielleicht ist er bereits mit ihnen fertig, denn er wollte keine Zeit mit ihnen verlieren.“

„So wird er mir die Beute schicken?“

„Mit zwei Männern; den dritten nimmt er mit.“

„Die besten Gewehre werden wir von den beiden Jägern bekommen. Man erzählte mir, daß Sans-ear eine Büchse habe, mit welcher man auf zwölfhundert Schritte weit schießen kann.“

In diesem Augenblick ertönte von weitem das Gebell eines Prairiehundes. Dies war jedenfalls ein sehr schlecht gewähltes Zeichen, da es unmöglich hier solche Tiere geben konnte.

„Antonio kommt mit den Pfählen, die er für den Estaccado holen soll,“ meinte der Capitano. „Er soll sie nicht draußen abladen, sondern hereinkommen. Seit die Jäger in unserer Nähe sind, müssen wir doppelt vorsichtig sein.“

Diese Worte überzeugten mich vollends, daß ich es mit einer wohlorganisierten Schar Pfahlmänner zu tun hatte, und die unter den Häuten verborgenen Gegenstände bestanden sicherlich nur aus zusammengetragenem Raub, der den früheren Besitzern das Leben gekostet hatte.

Jetzt öffnete sich grad mir gegenüber die Buschwand. Dieselbe bestand an dieser Stelle nur aus herabhängenden Schlingpflanzen, die leicht emporgehoben oder zur Seite geschoben werden konnten, und es ritten drei Reiter in den Kreis, deren Pferde eine ziemliche Anzahl von Stangen nach sich zogen, welche mittels Riemen zu beiden Seiten der Sättel befestigt waren und ganz in derselben Weise nachgeschleppt wurden, wie die indianischen Reiter ihre Zeltstangen transportieren.

Die Ankunft dieser Männer nahm die Aufmerksamkeit der Versammlung so in Anspruch, daß ich mich am besten unbemerkt zurückziehen konnte; doch tat ich dies nicht, ohne ein Zeichen meiner Anwesenheit mitzunehmen. Der Anführer hatte nämlich seinen Gürtel mit dem Messer und zwei messingbeschlagenen Doppelpistolen ab- und hinter sich gelegt, so daß ich die eine der Pistolen mit dem ausgestreckten Arm erreichen konnte. Ich zog sie an mich und kroch nun langsam zurück, indem ich Zoll für Zoll jede Spur meiner Anwesenheit mit größter Sorgfalt verwischte. Dies tat ich auch draußen vor der Buschwand, und dann schnellte ich mich über den Lichtungsring wieder hinüber und in die Sträucher hinein. Hier bewegte ich mich, rückwärts kriechend, um meine Fährte wieder zu zerstören, auf den Fingern und Zehenspitzen weiter, bis ich die gehörige Entfernung erreichte, welche mir erlaubte, nun in aufrechter Stellung fortzuschreiten und zu meinem Pferde zurückzukehren. Ich band es los, setzte mich auf und schlug einen so bedeutenden Umweg ein, daß ich sicher sein konnte, die Stakemen würden meine Anwesenheit nicht entdecken.

Als ich bei den Gefährten anlangte, begann die Dämmerung hereinzubrechen, und ich sah es ihren Mienen an, daß sie besorgt um mich gewesen waren und meine Rückkehr mit Ungeduld erwartet hatten.

„Da sein Massa Charley!“ rief Bob in einem Tone, aus dem ich einen nicht geringen Grad von Zuneigung zu mir entnehmen konnte. „Oh, Angst haben Bob, und Angst haben alle wir um Massa Charley!“

Die Andern waren weniger sanguinisch; sie ließen mich absteigen und bei ihnen Platz nehmen, ehe Sam seine Erkundigung begann:

„Nun?“

„Die Kaufleute sind ausgelöscht!“

„Dachte es! Diese Voyageurs, die doch nur Stakemen sind, haben ihren Kurs verändert und werden des Nachts über ihre Opfer herfallen, wenn sie es nicht bereits am hellen Tage getan haben.““

„Rate, wer dieser Mercroft war!“

„Habe dir schon öfters gesagt, daß ich mich lieber mit einem Bären balge, als daß ich nach etwas rate, was mir gleich gesagt werden kann!“

„Mercroft war ein falscher Name, und – – –“

„War auch nicht so dumm, zu glauben, daß es der richtige sei!“

„Und,“ fuhr ich in meinem unterbrochenen Satze fort, „der Mann heißt eigentlich Patrik Morgan!“

„Pa – trik – – Mor – gan!“ rief Sam, indem sein Gesicht zum erstenmal seit unserer Bekanntschaft einen Ausdruck der Bestürzung zeigte. „Patrik Morgan! Ist das denn auch möglich? O, Sam Hawerfield, altes ‚Coon [Fußnote], was bist du für ein Esel; hast diesen Schurken bereits zwischen den Fingern, machst den Sheriff bei der Jury über ihn und lässest ihn wieder laufen! Charley, weißt du genau, daß er es ist?“

„Sehr genau, und nun weiß ich auch, warum er mir so bekannt vorkam; er sieht seinem Vater ähnlich.“

„All right, jetzt gehen mir tausend Lichter auf! Aus ganz demselben Grund dachte auch ich, daß ich ihn schon gesehen hatte. Wo ist er? Ich hoffe nicht, daß er uns entgehen wird!“

„Er massakriert die Kaufleute und geht dann mit nur einem einzigen Begleiter nach dem Skettel- und Head-Pik, um seinen Vater zu finden.“

„Dann auf, ihr Leute, vorwärts! Wir müssen ihm nach!“

„Stopp, Sam! jetzt bricht der Abend herein, wo wir seine Spur nicht sehen können, und außerdem haben wir uns auf einen sehr ehrenvollen Besuch vorzubereiten.“

„Besuch? Wer wird kommen?“

„Dieser Patrik ist Mitglied einer Bande Stakemen, welche da drüben ihr Lager haben. Ihr Anführer ist ein Mexikaner, den sie Kapitän nennen und der beim alten Florimont eine gar nicht üble Schule durchgemacht hat. Ich habe die Räuber belauscht, als ihnen Williams unser Abenteuer erzählte. Sie wollen Punkt Mitternacht über uns her.“

„Sie nehmen also an, daß wir hier liegen bleiben?“

„Allerdings.“

Well, so sollen sie ihren Willen haben, denn nun bleiben wir erst recht hier und sagen ihnen good evening! Wie viel Köpfe sind es?“

„Einundzwanzig.“

„Das ist ein wenig viel für unser vier! Was meinst du, Charley? Wir zünden ein Feuer an und legen unsere Röcke so um dasselbe, daß sie dieselben für uns halten; wir selbst aber nehmen weiter draußen Posto, so daß sie zwischen uns und die Flamme kommen. Auf diese Weise erhalten wir ein sicheres Ziel.“

„Der Plan ist gut,“ stimmte Bernard Marshal bei, „und wohl auch der einzige, dessen Ausführung in unserer Lage möglich ist.“

„Schön! So laßt uns gleich nach Material für das Feuer suchen, ehe es vollständig dunkel wird,“ sagte Sam, indem er sich erhob.

„Bleib‘ sitzen,“ entgegnete ich. „Glaubst du wirklich, daß wir es auf diese Weise mit einundzwanzig Männern aufnehmen können?“

„Warum nicht? Sie werden gleich bei den ersten Schüssen davonlaufen, weil sie nicht wissen können, wen sie hinter sich haben.“

„Und wenn nun dieser Capitano klug genug ist, den Sachverhalt zu ahnen? Dann bekommen wir einen harten Stand und werden ausgelöscht trotz unserer Gegenwehr.“

„So etwas muß der Jäger zum Beispiel immer gewärtig sein!“

„Dann wirst du auch die beiden Morgans fahren lassen müssen!“

Behold, das ist sehr richtig! So meinst du also, daß wir uns leise von dannen machen, ohne diesen Raubmördern das Handwerk zu legen? Das können wir vor Gott und allen braven Männern, welche durch den Estaccado ziehen, nicht verantworten!“

„Was du hier sagst, fällt mir gar nicht ein! Ich habe einen andern und, wie mir scheint, auch bessern Plan.“

„Heraus damit!“

„Während sie uns hier suchen, machen wir uns über ihr Hide-spot und bemächtigen uns all ihrer Pferde und Vorräte.“

Good-lack, das ist wahr! Aber, du sagst, ihrer Pferde -wollen sie uns denn zu Fuß angreifen?“

„Ja. Und das läßt mich schließen, daß sie ihr Versteck bereits zwei Stunden vor Mitternacht verlassen werden, weil sie so lange gehen müssen, um hierher zu kommen.“

„Hast du es gut gemerkt?“

„Das versteht sich! Wenn wir sie hier erwarten, setzen wir unser Leben auf das Spiel; nehmen wir ihnen aber ihren Proviant, ihre Munition, ihre Pferde, so ist es ihnen, wenigstens für lange Zeit hinaus, unmöglich, ihr Handwerk fortzusetzen, und wir brauchen wohl kaum einen Schuß zu tun.“

„Sie werden aber jedenfalls Wachen zurücklassen!“

„Ich kenne den Ort, an welchem der Posten sich befindet.“

„Sie werden uns verfolgen!“

„Das werden sie auch tun, wenn wir hier auf sie warten und dann doch noch fliehen müssen.“

„Nun gut, so sollst du recht haben. Wann brechen wir auf?“

„Wir können es schon in einer Viertelstunde tun; da ist es bereits vollständig finster.“

„Oh, das werden schön!“ meinte der Neger. „Bob reiten mit und nehmen all die Sachen, die liegen bei Räuber. Das besser sein, als bleiben hier und schießen tot Bob!“

Es wurde so dunkel, daß man kaum zehn Schritte weit zu sehen vermochte. Wir brachen auf; ich ritt voran, und die Anderen folgten mir, nach Indianerart einer hinter dem Anderen.

Natürlich schlug ich nicht die gerade zum Versteck führende Richtung ein, sondern machte einen möglichst großen Bogen, welcher uns an eine Stelle des Buschsaumes führte, die wohl eine englische Meile von dem Hide-spot entfernt lag. Hier hobbelten wir unsere Pferde an und schritten dann zu Fuß auf das Versteck zu. Trotzdem sowohl Marshal als auch der Neger keine große Gewandtheit im Anschleichen besaßen, gelangten wir doch unbemerkt an den Rand der Lichtung, genau dem Pfade gegenüber, in dessen Buscheinfassung vorhin die Wache gelegen hatte.

Ein lichter Schein über dem Verstecke bewies, daß ein Feuer oder wenigstens eine Fackel brannte; um uns her aber war es so dunkel, daß ich ohne Sorge aufrecht über die Lichtung gehen konnte. Ich fand die Stelle wieder, an welcher ich das Gespräch belauscht hatte, und hörte, noch ehe ich mich niedergebückt hatte, von innen die Stimme des Anführers. Ich drängte mich zwischen dem Wurzelwerke hindurch und sah nun, daß alle in der Mitte des Platzes standen, wohl bewaffnet und zum Aufbruche bereit. Der Capitano war noch im Sprechen begriffen:

„Wenn wir nur die geringste Spur gefunden hätten, so dächte ich, es wäre einer von den Jägern hier gewesen und hätte uns belauscht. Wo ist die Pistole hingekommen? Vielleicht ging sie heute am Morgen auf meinem Ritte verloren, und ich habe es nicht bemerkt, als ich den Gürtel ablegte. Also, Hoblyn, du hast sie wirklich alle Vier beisammen sitzen sehen?“

„Alle Viere. Es waren drei Weiße und ein Schwarzer, und ihre Pferde weideten hart daneben. Eines der Tiere hatte keinen Schwanz und sah aus wie ein Ziegenbock ohne Hörner.“

„Das ist die alte Stute von Sans-ear, die ebenso berühmt ist wie er selber. Sie haben dich doch nicht bemerkt?“

„Nein. Ich ritt mit Williams nur so weit hinan, als es keine Gefahr brachte, und kroch dann an der Erde weiter, bis ich alles deutlich sehen konnte.“

Der Schüler des alten Florimont war also doch so klug und vorsichtig gewesen, eine Patrouille gegen uns auszuschicken; ein Glück für uns, daß dies zu der Zeit geschehen war, in welcher ich bereits wieder bei den Freunden gesessen hatte.

„Dann wird alles gut gehen! Du, Williams, bist ermüdet; du bleibst hier zurück, und du, Hoblyn, nimmst den Posten am Wege. Ihr Anderen aber vorwärts!“

Bei dem Scheine des nicht sehr hell brennenden Feuers sah ich, daß der Eingang geöffnet wurde. Neunzehn Männer verließen das Versteck, und nur die beiden Anderen blieben zurück. Noch waren nicht alle in dem Pfade verschwunden, so stand ich bereits wieder neben Sam.

„Wie steht’s, Charley? Mir scheint, sie brechen jetzt auf!“

„Ja. Zwei bleiben daheim, nämlich einer als Posten dort am Wege und Williams drin im Verstecke. Williams ist nicht bewaffnet, der Posten aber hat bereits das Gewehr in der Hand. Wir dürfen jetzt noch nichts tun, denn man könnte etwas vergessen haben und wiederkommen; aber machen wir uns bereit. Komm, Sam; ihr Beiden bleibt hier, bis wir euch rufen oder abholen!“

Wir schlichen uns bis zum Pfade hin und hatten wohl zehn Minuten zu warten, bis der Posten heraustrat. Er schlenderte in einer Weise auf der Blöße hin und her, daß wir überzeugt sein mußten, er hege nicht die mindeste Befürchtung wegen seiner Sicherheit. So mochte im ganzen wohl eine Viertelstunde vergangen sein, als er sich uns näherte. Jetzt war nicht mehr zu befürchten, daß jemand zurückkehren werde, und wir brauchten also nicht länger zu zögern.

Ich drückte mich hüben und Sam sich drüben eng an den Busch; in dem Augenblick, in welchem er zwischen uns vorüber wollte, hatte ihn Sam bei der Kehle gefaßt. Ich riß ihm von seinem alten Tuchwamse einen tüchtigen Fetzen herunter, drehte denselben zu einem Knebel zusammen und steckte ihm diesen zwischen die Zähne. Dann wurde er mittels seines eigenen Lassos, den er um die Hüften trug, an Händen und Füßen gefesselt und an den Busch gebunden.

„Jetzt weiter!“

Wir traten zum Eingange, wo ich die wilden Hopfenranken ein wenig zur Seite schob. Williams saß am Feuer, über welchem er sich ein Stück Fleisch briet. Er hatte mir den Rücken zugewandt; ich konnte mich ihm nähern, ohne daß er es bemerkte.

„Haltet das Stück höher, Master Williams, sonst verbrennt es!“ sagte ich.

Er fuhr herum und blieb, als er mich erkannte, vor Schreck starr und bewegungslos sitzen.

„Guten Abend! Fast hätte ich das Grüßen vergessen, und mit Gentlemen Eures Schlages kann man doch nie zu höflich sein.“

„O – O – Old Shat – Shatterhand!“ stammelte er, mich mit weit geöffneten Augen anstarrend. „Was wollt Ihr hier?“

„Ich muß doch dem Capitano die Pistole hier wiederbringen, welche ich heute mitnahm, als Ihr ihm Euer Abenteuer erzähltet.“

Er zog das eine Bein an, als wolle er sich zum Aufschwingen vorbereiten, und blickte sich um, ob er eine Büchse zu erlangen vermöge. Aber nur sein Bowiemesser lag neben ihm.

„Bleibt ruhig sitzen, Master Stakeman, denn die geringste Bewegung kostet Euch das Leben. Erstens ist die Pistole Eures Hauptmannes geladen, und zweitens dürft Ihr nur nach dem Eingange blicken, um zu sehen, daß es hier noch mehr Kugeln gibt!“

Er sah sich um und erblickte Sam, welcher mit angeschlagener Büchse nach ihm zielte.

Thunder-storm – ich bin verloren!“

„Vielleicht noch nicht, wenn Ihr Euch ruhig fügt. – Bernard, Bob, herbei!“

Dieser laute Ruf hatte zur Folge, daß die beiden Draußenstehenden unter dem Eingange erschienen.

„Dort an den Sätteln hängen Lassos, Bob. Nimm einen und binde diesen Mann!“

„Tod und Hölle! Lebendig sollt ihr mich nicht nochmals fangen!

Mit diesen Worten stieß sich der Pfahlmann sein eigenes Bowiemesser ins Herz und brach zusammen.

„Gott sei seiner Seele gnädig!“ sagte ich.

„Dieser Schurke hat vielleicht mehr als hundert Menschenleben auf dem Gewissen,“ meinte Sam in dumpfem Tone. „Nie war ein Messerstich besser angebracht.“

„Er hat sich selbst gerichtet,“ erwiderte ich; „wohl uns, daß wir es nicht zu tun brauchten!“

Dann schickte ich Bob hinaus, um Hoblyn zu holen. Bald lag dieser vor uns am Boden. Der Knebel wurde entfernt, und der Gefangene holte tief Atem. Voll Entsetzen haftete nun sein Blick auf der Leiche seines Raubgenossen.

„Du bist ein Mann des Todes, wie dieser da, wenn du dich weigerst, uns Auskunft zu geben.“

„Ich werde alles sagen!“ versprach der Geängstigte.

„Nun also, wo ist das Gold versteckt?“

„Dort hinten unter den Mehlsäcken ist es vergraben.“

Jetzt wurden die Häute entfernt, und es ging an ein Untersuchen der vorhandenen Vorräte. Da gab es nun einen förmlichen Reichtum von allem, was jemals durch den Estaccado transportiert worden war: Waffen von allen Sorten und Arten, Pulver, Blei, Patronen, Lassos, Sättel, Beutel, Decken, vollständige Reise- und Jagdgewänder, Tuch und Callico, unechte Korallenketten und Schmucksachen nebst Perlenschnüren, wie sie von den Indianerinnen so außerordentlich geliebt werden, allerhand Kurzwaren, Instrumente und Werkzeuge, eine Menge Büchsen voll Pemmican, große Vorräte von andern Nahrungsmitteln, und bei allem war es nicht schwer, die Spur zu entdecken, daß es geraubt worden sei.

Bob warf die Säcke um sich, als habe er es mit leichten Tabaksbeuteln zu tun. Marshal suchte unter den Werkzeugen Hacke und Schaufel; es wurde nachgegraben, und nach kurzer Zeit waren wir im Besitze von so viel Goldstaub und Goldkörnern, daß wir ein Pferd damit beladen konnten.

Es schauderte mir, wenn ich dachte, wie viele arme Goldsucher den Tod hatten erleiden müssen, um diese Menge deadly dust zusammenzubringen, der diesen Namen mit vollem Rechte verdient. Die zurückkehrenden Diggers nehmen nur wenig davon mit in die Heimat und wechseln den Ertrag ihrer Arbeit meist in Papiergeld oder Depositenscheine und Anweisungen um. Die Ermordeten hatten diese Papiere ganz sicher bei sich getragen. Wo waren sie hingekommen?.

„Wo ist das Geld, und wo sind die Papiere, die ihr hier den Beraubten abgenommen habt?“ fragte ich Hoblyn.

„In einem Verstecke weit von hier. Der Capitano wollte sie nicht hier aufbewahren, weil es Mitglieder gab, denen er nicht traute.“

„So weiß er diesen Versteck ganz allein?“

„Nur er und der Leutnant kennen ihn.“

„Wer ist euer Leutnant?“

„Patrik Morgan.“

Es blitzte in mir auf. „Reich werden wir auf alle Fälle,“ hatte dieser Mensch an seinen Vater geschrieben. Sollte er einen Verrat an seinen Kameraden vorhaben?

„Hast du keine Ahnung, wo dieser Versteck ungefähr sein kann?“

„Ich weiß es nicht sicher; aber der Capitano scheint dem Leutnant nicht zu trauen. Dieser ist mit noch Einem heut nach dem Head-Pik am Rio Pecos, und morgen sollte ich mit Zweien ihm nach, um ihn zu beobachten.“

„Ah! Der Hauptmann hat dir einen Ort beschrieben, ganz bestimmt und deutlich beschrieben?“

Der Gefragte schwieg verlegen.

„Antworte wahr! Schweigst du, so bist du ein toter Mann; redest du aufrichtig, so sollst du Gnade finden, trotzdem ihr alle den Strang verdient habt.“

„Ihr ratet richtig, Sir!“

„Welches ist dieser Ort?“

„Ich soll ihn sofort von hier weg aufsuchen und den Leutnant niederschießen, wenn er sich ihm naht. Es ist ein kleines Tal, welches ich sehr genau kenne, weil ich bereits einmal dort gewesen bin; Euch aber kann die Beschreibung desselben wenig nützen, denn Ihr würdet es dennoch nicht finden.“

„Hat er dir nur das Tal bezeichnet, oder wurde dir ein gewisser Punkt genau genannt?“

„Der Capitano wird sich hüten, mir diesen Punkt zu nennen. Sein Befehl lautet, mich zu verbergen und dem Leutnant eine Kugel zu geben, wenn er das Tal betreten sollte.“

„Gut! Ich schenke dir das Leben, natürlich nur unter der Bedingung, daß du uns zu diesem Tale führst.“

„Ich werde es tun.“

„Doch merke dir, daß du verloren bist, wenn du uns zu täuschen suchst. Du wirst nicht frei, sondern als Gefangener mitreiten.“

Well,“ meinte Sam, „so wären wir hier mit unserm Forschen zu Ende. Was nun?“

„Wir nehmen nur das Gold mit und was wir von dem Übrigen brauchen: Waffen, Munition, Tabak und Proviant, auch einige Kleinigkeiten zu Geschenken für die Indianer, wenn wir mit solchen zusammentreffen sollten. Macht euch an die Auswahl; ich will mir unterdessen die Pferde betrachten.“

Ich fand vier stammhafte Michigantraber, welche sich sehr gut zum Lasttragen eigneten, außerdem verdienten nur noch drei Mustangs das Mitnehmen. Sie waren besser als die Tiere, welche Bernard und Bob ritten; zwei konnten also mit den letzteren vertauscht werden, während ich das dritte für Hoblyn bestimmte.

Packsättel, wie sie die Maultiere tragen, gab es. Ich schnallte jedem der Traber einen auf. Nun wurde alles, was wir mitzunehmen gedachten, in die vorhandenen Decken gebunden, so daß acht Pakete entstanden, von denen ein Pferd je zwei zu tragen bekam. Von allen übrigen Gegenständen bildeten wir einen großen Haufen, an dessen Basis wir das Pulver, welches nicht mitgenommen werden konnte, und alle leicht entzündlichen Gegenstände plazierten.

„Was tun wir mit den übrigen Pferden?“ fragte Sam.

„Bob bindet sie los und jagt sie hinaus in die Prairie; es ist zwar unklug, aber es widerstrebt mir, sie zu töten. Führe du den Zug fort; ich werde zurückbleiben, um den Scheiterhaufen anzubrennen.“

„Warum kann denn dies nicht gleich geschehen?“ fragte mich Marshal.

„Das Feuer wird weit hinaus gesehen; die Stakemen werden, wenn sie uns nicht auf unserm Lagerplatze finden, natürlich schleunigst zurückkehren und können uns trotz der Dunkelheit dann möglichenfalls erreichen. Es ist also besser, ich lasse euch erst weit genug fort und komme dann auf einem Pferde schnell nachgeritten.“

Well, du hast recht, Charley; fort also, Boys!“ befahl Sam.

Er schritt voran, eines der Packpferde am Zügel führend; die andern Drei folgten, und Marshal beschloß mit Bob und dem hoch zu Roß gefesselten Hoblyn den kleinen Zug. Ich blieb mit meinem Pferde halten und wartete. Die sich entfernenden Schritte verklangen. So verging über eine Viertelstunde, und ich durfte nicht länger zögern, da die Stakemen sonst zurückkehren und mich überraschen konnten. Ich trat wieder hinein in das Versteck, um den Haufen anzuzünden.

Wir hatten mit Hilfe einer zerrissenen Decke eine Art von Lunte gemacht, welche mir Zeit gab, mich, ehe das Pulver in Brand geriet, gehörig weit zu entfernen; es war ja, da wir auch eine Menge Patronen mit hinzugelegt hatten, eine Explosion möglich. Ich zündete also an, nahm dann mein Pferd am Zügel und folgte dem Pfad hinaus nach der Prairie. Vor den letzten Büschen schwang ich mich in den Sattel. Da erhob sich im Hide-spot ein Prasseln und Knattern: das Feuer hatte die Decke ergriffen, in welche die Patronen eingewickelt worden waren. Ich gab meinem Pferde die Sporen und ritt, so schnell es die Dunkelheit gestattete, von dannen, um aus dem Bereiche des hellen Scheines zu kommen, den die hochlodernden Flammen des brennenden Versteckes warfen. Das Feuer verzehrte das ganze zusammengeraubte Gut der Stakemen. – – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Helldorf Settlement

Helldorf-Settlement

Als wir am andern Morgen aufgebrochen waren, bewährte sich mein Schwarzschimmel als ein ganz ausgezeichnetes Pferd. Ein Reiter, welcher nichts von indianischer Dressur verstand, wäre keinen Augenblick im Sattel geblieben; wir aber hatten uns gar bald zusammengerichtet. Dadurch schien ich in der Achtung meines dicken Fred sehr gewonnen zu haben. Überhaupt bemerkte ich, daß er mich zuweilen mit ganz eigentümlichen Blicken musterte. Er mochte die Auszeichnung nicht begreifen, mit welcher mich Winnetou behandelte. In seinen Augen mußte die ganz und gar außerordentliche Freundschaft des berühmten Apachen zu einem unbekannten Jäger ein wahres Wunder sein.

Der alte Viktory hielt sehr gut aus, und so kamen wir recht schnell vorwärts. Bereits am Mittag erreichten wir den letzten Lagerplatz der Railtroublers, waren ihnen also fast um einen halben Tagesritt näher gekommen.

Die Spur, welcher wir folgten, hatte das Flüßchen verlassen, und sich in ein langes Seitental gezogen, durch welches sich ein Bach schlängelte. Ich bemerkte, daß Winnetou von jetzt ab den Boden weit aufmerksamer betrachtete als bisher; auch suchten seine Augen den Rand des Waldes, welcher von beiden Seitenhöhen bis auf die Sohle des Tales hinuntertrat, zu durchdringen. Endlich hielt er gar an und wandte sich, da wir Einer hinter dem Andern ritten und er der Vorderste war, zu mir um.

„Uff!“ rief er. „Was sagt mein Bruder Schar-lih zu diesem Wege?“

„Er wird hinauf bis zum Höhenkamm führen.“

„Und dann?“

„Auf der anderen Seite wird sich das Ziel der Railtroublers befinden.“

„Welches Ziel wird dies sein?“

„Der Weideplatz der Ogellallah.“

Er nickte.

„Mein Bruder Schar-lih hat noch immer das Auge des Adlers und die Witterung des Fuchses. Er hat richtig geraten,“ sagte er und ritt dann vorsichtig weiter.

„Wieso?“ fragte Walker. „Weideplatz der Ogellallah?“

„Ich habe Euch bereits einmal gefragt, ob Ihr glaubt, daß sich drei Indianer ohne ganz besondere Gründe einer solchen Schar von Weißen anschließen,“ antwortete ich. „Es gibt im wilden Westen mehr Rote als Weiße, und so wird es ja auch in unserem Falle sein.“

Pshaw, ich verstehe Euch nicht, Charles!“

„Nun, die drei Ogellallah werden, sozusagen, den Railtroublers als Aufsicht mitgegeben worden sein.“

„Ah! Inwiefern? Von wem?“

„Hm! Nehmt es mir nicht übel, mein lieber Fred, aber die Rollen scheinen sich vertauscht zu haben; heut möchte ich Euch ein Greenhorn nennen.“

Heigh-ho! Warum?“

„Glaubt Ihr, daß eine Bande von über zwanzig weißen Spitzbuben hier in dieser Gegend ihr Wesen treiben kann, ohne von den Roten bemerkt zu werden?“

„Nein, sicherlich nicht.“

„Wozu werden also die Weißen gezwungen sein?“

„Hm, ja! Sie werden sich unter den Schutz der Roten stellen müssen.“

„Richtig! Werden sie diesen Schutz umsonst haben?“

„Nein. Sie werden ihn bezahlen müssen.“

„Womit?“

„Mit dem, was sie haben, natürlich; mit Beute.“

„Schön! Begreift Ihr nun, was wir Beide meinen, Winnetou und ich?“

„Ah, das also ist es! Die Weißen haben den Zug überfallen, um ihren Tribut zu bezahlen, und die drei Ogellallah waren die Exekutoren!“

„Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Sicher aber ist es, daß unsere ehrenwerten weißen Brüder bald zu einer größeren Truppe von Rothäuten stoßen werden. Das sagte ich doch bereits da unten an der Eisenbahn. Aber weiter! Glaubt Ihr etwa, daß sich Rote und Weiße zusammengetan haben, nur um sich zu pflegen und auf die Bärenhaut zu legen?“

„Auf keinen Fall!“

„Das ist auch meine Meinung. Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß sie bald eine neue Teufelei aushecken werden, besonders da die letzte so gut gelungen ist.“

„Was könnte das sein?“

„Hm, ich habe so meine Ahnung.“

„Das wäre viel! Voraus ahnen, was Leute tun werden, die man noch nicht einmal gesehen hat! Charles, ich habe in der letzten Zeit gewissermaßen Respekt vor Euch bekommen, aber mit dieser Ahnung wird es wohl nichts sein!“

„Wollen sehen! Ich habe mich genugsam unter den Indsmen umhergetrieben, um ihre Art und Weise zu kennen. Und wißt Ihr, auf welche Weise man am besten erraten kann, was ein Mensch tun wird?“

„Nun?“

„Wenn man sich recht lebhaft in die Lage versetzt, in welcher er sich befindet, und dabei seinen Charakter mit in Rechnung zieht. Soll ich einmal so kühn sein, zu raten?“

„Ihr macht mich wahrlich neugierig!“

„Gut! Wem hat unser Zugpersonal wohl zuerst die Zerstörung der Bahn und die Vernichtung des Zuges gemeldet?“

„Doch jedenfalls der nächsten Station.“

„Von da aus wird man also auch Männer zur Unglücksstelle senden, um sie zu untersuchen und die Täter zu verfolgen. Nicht?“

„Jedenfalls.“

„Dadurch aber wird diese Station von Leuten entblößt, und sie kann also ohne sehr große Gefahr überfallen werden.“

Egad! Jetzt ahne ich, was Ihr denkt!“

„Nicht wahr? Die Stationen sind jetzt hier noch temporär. Es fragt sich, an welchem Punkte man genug Leute haben wird, um ein Detachement entbehren zu können. Meiner Ansicht nach wird dies wohl Echo-Cannon sein.“

„Charles, Ihr könnt recht haben. Die Railtroublers und die Roten wissen jedenfalls ebenso genau wie wir, daß der Ort dann entblößt ist.“

„Rechnen wir auch noch dazu, daß die Sioux ihre Kriegspfeile ausgegraben und sich mit den Kriegsfarben bemalt haben, daß sie also ohne allen Zweifel Feindseligkeiten beabsichtigen, so ist fast zu ahnen, daß sie es jetzt auf Echo-Cannon abgesehen haben werden. Doch seht, da ist der Quell des Baches. Jetzt geht es steil bergan, und wir haben keine Zeit zum Plaudern mehr!

Wir ritten jetzt unter hohen Bäumen eine Steigung hinan. Das Terrain war schwierig und wir mußten Achtung geben. Oben breitete sich die Höhe plateauartig aus und sank dann wieder zu Tale, wo wir bald wieder einen kleinen Wasserlauf erreichten, welcher nach Osten ging.

Hier hatten die Verfolgten zur Mittagszeit Halt gemacht und sich dann mit dem abbiegenden Wasser nordwärts gewendet. Wir kamen durch mehrere kleine Täler, durch einige Schluchten, und die Spuren wurden nach und nach immer frischer, so daß wir uns zu immer größerer Vorsicht veranlaßt sahen.

Endlich erreichten wir gegen Abend die Höhe eines langgestreckten Bergrückens, und schon wollten wir auf der andern Seite abwärts biegen, als der voranreitende Apache sein Pferd anhielt und mit der ausgestreckten Hand vorwärts zeigte.

„Uff!“ rief er, aber mit gedämpfter Stimme.

Wir hielten an und wandten unsere Blicke in die angedeutete Richtung.

Zu unserer rechten Hand breitete sich tief unten eine kleine Ebene aus, deren Umfang vielleicht eine Stunde betragen mochte. Sie war offen und mit Gras bewachsen. Auf ihr erblickten wir eine ganze Anzahl von Indianerzelten, bei denen reges Leben herrschte. Ledige Pferde weideten im fetten Grün, und zahlreiche Männer waren ringsumher beschäftigt. Man hatte Fleisch gemacht. Außerhalb der Zelte lagen die Skelette einiger Büffel, und über Stangen hatte man Schnuren gezogen, an denen dünne Stücke des Büffelfleisches zum Trocknen aufgehängt waren.

„Ogellallahs!“ sagte Fred.

„Seht Ihr, daß ich recht hatte!“ sagte ich.

„Zweiunddreißig Zelte!“ fügte er hinzu.

Winnetou hielt sein Auge scharf hinunter gerichtet und sagte dann:

Naki gutesnontin nagoiya – zweihundert Krieger!“

„Und die Weißen sind bei ihnen,“ bemerkte ich. „Wir wollen die Pferde zählen; so gehen wir am sichersten.“

Wir konnten die ganze Ebene übersehen und zählten zweihundertfünf Pferde. Für einen Jagdzug hatte man zu wenig Fleisch gemacht, auch war dieses Tal kein Ort zu einem einträglichen Büffelfang; wir hatten es also mit einem Kriegszuge zu tun, was auch die Schilde bewiesen, welche wir sahen. Auf der Jagd ist der Schild ja mehr hinderlich als förderlich. Das größte Zelt stand etwas abseits von den übrigen, und die Adlerfedern, welche seine Spitze zierten, ließen erraten, daß es das Häuptlingszelt sei.

„Was sagt mein Bruder Schar-lih? Werden diese Kröten von Ogellallah noch lange hier bleiben?“ fragte Winnetou.

„Nein.“

„Woraus schließt Ihr das, Charles?“ forschte Fred. „Eine solche Frage ist schwer und auch zu wichtig für uns, als daß man sie so schnell beantworten kann.“

„Seht Euch die Gerippe der geschlachteten Büffel an, Fred! Sie werden Euch die Frage genau beantworten.“

„Ah! Wie so?“

„Die Knochen sehen bereits weiß aus; sie sind gebleicht und liegen wohl schon vier oder fünf Tage an der Sonne. Das Fleisch ist also wohl ziemlich trocken. Meint Ihr nicht?“

„Jedenfalls!“

„Nun, so können die Roten also aufbrechen. Oder meint Ihr, daß sie hier bleiben werden, um noch einige Partien Schach oder Dame zu ziehen?“

„Ihr werdet spitzig, Sir. Wollte nur hören, was Ihr sagtet. Ah, da tritt Einer aus dem Zelte! Wer mag das sein?“

Der Apache griff in die Tasche und zog ein – Fernrohr hervor. Das war gewiß ein seltener Gegenstand in der Hand eines Indianers. Auch Fred Walker war überrascht. Aber Winnetou hatte die Städte des Ostens gesehen und es sich da gekauft. Er schob die Glieder des Rohres auseinander und setzte es an das Auge, um den Indianer, von dem Fred gesprochen hatte, genauer zu betrachten. Als er es wieder absetzte und mir hinreichte, zuckte ein grimmiges Wetterleuchten über sein Gesicht.

„Ko-itse, der Lügner und Verräter!“ zürnte er. „Winnetou wird seinen Tomahawk in seinen Schädel pflanzen!“

Ich blickte durch das Rohr und sah mir den Ogellallah mit großem Interesse an. Ko-itse heißt Feuermund. Der Träger dieses Namens war als ein guter Redner, ein sehr verwegener Krieger und ein unversöhnlicher Feind der Weißen in der ganzen Savanne und im ganzen Gebirge bekannt. Wenn wir es mit ihm zu tun bekamen, so hatten wir uns vorzusehen.

Ich gab das Rohr auch Walker zum Gebrauch und bemerkte dabei:

„Es wird geraten sein, uns zu verbergen. Es sind weit mehr Pferde als Männer zu sehen, und wenn auch viele der Letzteren in den Zelten liegen mögen, so ist doch immerhin anzunehmen, daß noch welche in der Gegend umherschweifen.“

„Meine Brüder mögen warten,“ meinte der Apache. „Winnetou wird einen Ort suchen, wo er sich mit den Freunden verbergen kann.“

Er verschwand unter den Bäumen und kehrte erst nach längerer Zeit zurück. Dann führte er uns seitwärts längs des Höhenrückens hin auf eine Stelle zu, an der das Unterholz so dicht war, daß wir es kaum zu durchdringen vermochten. Im Innern dieses Dickichts war genug Spielraum für uns und unsere Pferde, welche wir anbanden, statt sie anzuhobbeln, während der Apache zurückkehrte, um unsere Spuren unbemerkbar zu machen.

Hier lagen wir bis zum dunklen Abende im tiefen, duftenden Waldgrase, jeden Augenblick bereit, beim geringsten verdächtigen Geräusch aufzuspringen und den Pferden die Nasen zu verschließen, damit ihr Schnauben uns nicht verraten könne. Als es vollständig finster war, schlich sich Winnetou davon und kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß man unten einige Feuer angebrannt habe.

„Diese Menschen fühlen sich sehr sicher,“ sagte Fred. „Wenn sie wüßten, daß wir ihnen so nahe sind!“

„Daß sie verfolgt werden, können sie sich denken,“ antwortete ich. „Wenn sie sich also heut noch sicher fühlen, so kann dies nur daher rühren, daß sie überzeugt sind, daß die Stationsleute noch nicht hier sein können. Daraus möchte ich schließen, daß sie morgen aufbrechen werden. Wir müssen versuchen, etwas zu erfahren.“

„Winnetou wird gehen,“ sagte der Apache.

„Ich gehe mit,“ meinte ich. „Fred mag bei den Pferden bleiben. Die Gewehre lassen wir hier; sie würden uns nur im Wege sein. Messer und Tomahawk sind genug, und im äußersten Notfalle haben wir noch die Revolver.“

Unser dicker Fred war sofort einverstanden, zurückzubleiben. Er besaß jedenfalls Mut genug, aber wenn es nicht durchaus nötig war, liebte er es wohl nicht, sein Leben zu exponieren; und ein Wagnis war es doch jedenfalls, hinunter in das Tal zu steigen, um die Ogellallah zu belauschen. Wer von ihnen entdeckt und ergriffen wurde, der war auf jeden Fall verloren.

Wir standen drei oder vier Tage vor dem Neumond. Der Himmel war bewölkt, und kein Stern ließ sich sehen; die Nacht war also für unser Vorhaben sehr günstig. Wir tappten uns aus dem Dickicht heraus bis zu der Stelle hin, an welcher wir am Nachmittage gehalten hatten.

„Winnetou geht rechts, und mein Bruder Schar-lih mag links gehen!“ flüsterte der Apache, und im nächsten Augenblicke war er bereits lautlos im Dunkel des Waldes verschwunden.

Ich folgte der Weisung des Freundes und schlich mich an der linken Seite des ziemlich steilen Abhanges hinunter. Ich erreichte, mich unhörbar zwischen den Büschen und Bäumen hinabwindend, die Sohle des Tales und erblickte nun die Lagerfeuer vor mir. Jetzt nahm ich das Bowiemesser zwischen die Zähne, legte mich lang in das Gras und schob mich langsam vorwärts, dem Häuptlingszelte zu, welches in einer Entfernung von ungefähr zweihundert Schritten vor mir lag. Vor demselben brannte ein Feuer, aber das Zelt warf seinen dunklen Schatten auf mich.

Ich gelangte nur Zoll für Zoll vorwärts, doch hatte ich die Luft gegen mich und brauchte daher keine Sorge vor den Pferden zu haben, welche die Annäherung eines Fremden immer mit einem lauten Schnauben zu verraten pflegen. In dieser Beziehung hatte Winnetou mehr Schwierigkeiten zu überwinden als ich.

So war weit über eine halbe Stunde vergangen, ehe ich die zweihundert Schritte zurückgelegt hatte. Nun lag ich unmittelbar hinter dem Büffelhautzelte des Häuptlings, und die Männer, welche am Feuer saßen, befanden sich höchstens acht Ellen vor mir. Sie unterhielten sich sehr lebhaft in englischer Sprache miteinander, und als ich es wagte, den Kopf ein wenig vorzustrecken, um sie sehen zu können, bemerkte ich, daß es fünf Weiße und drei Indianer waren.

Diese Letzteren verhielten sich ruhig. Nur der Weiße wird am Lagerfeuer laut, während der einsilbige und vorsichtige Indianer mehr durch Zeichen als durch Worte redet. Auch das Feuer brannte hell und nicht nach indianischer Weise.

Einer der Weißen war ein langer, bärtiger Mensch, welcher eine Schmarre, die von einem Messerschnitte herzurühren schien, auf der Stirn trug. Er schien das große Wort zu führen, und die Art und Weise, wie die Andern sich zu ihm stellten, ließ vermuten, daß er eine Respektsperson sei. Ich konnte ein jedes Wort hören, welches von den Leuten gesprochen wurde.

„Und wie weit wird es sein von hier bis Echo-Cannon?“ fragte der Eine.

„Ungefähr hundert Meilen,“ antwortete der Lange. „In drei Tagemärschen ist es sehr leicht zu erreichen.“

„Aber wenn unsere Berechnung falsch ist, wenn man uns nicht verfolgt hat und die Leute dort also vollzählig sind?“

Der Lange lachte in wegwerfender Weise und antwortete:

„Unsinn! Man wird uns verfolgen, das ist sicher. Wir haben ihnen ja die Fährte deutlich genug gemacht. Es sind ungefähr gegen dreißig Menschen mit dem Zuge umgekommen, und wir haben eine schöne Beute gemacht; das wird man nicht hingehen lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, uns einzuholen.“

„Wenn das stimmt, so muß der Coup gelingen,“ sagte der Andere. „Wie viele Leute sind in Echo-Cannon beschäftigt, Rollins?“

„Gegen hundertfünfzig,“ antwortete der Genannte; „alle gut bewaffnet. Außerdem gibt es dort einige wohlgefüllte Stores, mehrere Trinksaloons, und daß wir eine volle Bau- und Verwaltungskasse finden, darüber brauchen wir keine Sorge zu tragen. Ich habe gehört, daß diese Kasse alle zwischen Green-River und Promontory vorkommenden Ausgaben zu bestreiten hat. Das ist eine Strecke von über zweihundertunddreißig Meilen und es läßt sich also vermuten, daß da viele Tausende vorhanden sein müssen.“

Heigh-day, das läßt sich hören! Und du glaubst, daß wir die Verfolger von unserer Spur wegbringen?“

„Auf jeden Fall. Ich kalkuliere, daß sie morgen am Nachmittag hier sein werden. Wir brechen mit dem Morgengrauen auf, gehen erst eine Strecke nach Norden und teilen uns dann nach verschiedenen Richtungen in so viele Trupps, daß sie nicht wissen, welcher Spur sie folgen sollen. Später verwischt ein jeder Trupp seine Spur auf das sorgfältigste, und wir kommen da unten am Greenfork wieder zusammen. Von da aus vermeiden wir alle offenen Plätze und können von heut an in vier Tagen in Echo-Cannon sein.“

„Schicken wir Boten voraus?“

„Das versteht sich! Sie gehen morgen früh direkt nach dem Cannon und erwarten uns dort am Painterhill. Das ist alles schon bestimmt. Selbst wenn die Arbeiter vollzählig im Cannon vorhanden wären, brauchen wir keine Sorge zu haben. Wir sind ihnen überlegen, und ehe sie zu den Waffen greifen, wird der größte Teil von ihnen gefallen sein.“

Ich hätte wahrhaftig in keinem besseren Augenblick den Lauscher machen können, denn was ich hier erfuhr, das war weit mehr, als ich hätte erwarten dürfen. Sollte ich länger bleiben? Nein. Mehr konnte ich auf keinen Fall erfahren, und der geringste Umstand konnte meine Anwesenheit verraten. Ich zog mich also langsam wieder zurück.

Dies geschah immer noch in tiefgebückter Stellung und zwar rückwärts, denn ich mußte Sorge tragen, meine Spur zu verwischen, damit sie morgen früh nicht bemerkt wurde. Das war, da ich nur nach dem Gefühle gehen konnte und fast jeden Grashalm einzeln betasten mußte, eine höchst zeitraubende Arbeit, und es dauerte wohl eine Stunde, ehe ich den Rand des Waldes wieder erreichte und mich nun in Sicherheit befand.

Jetzt legte ich die Hände muschelförmig an den Mund und ließ den Ruf der großen, grünen Unke ertönen. Das war auch ein zwischen mir und Winnetou verabredetes Rückzugszeichen gewesen, und ich war überzeugt, daß er es hören und befolgen werde. Den Indianern konnte dieser Unkenruf nicht auffällig sein, da die Gegenwart eines solchen Tieres hier im hohen, feuchten Grase leicht vermutet werden konnte und es ja auch die Abendzeit war, an welcher diese Amphibien gewöhnlich ihren Ruf erschallen lassen.

Ich hielt es für nötig, dieses Zeichen zu geben. Der Apache lag unter dem Winde und konnte leicht entdeckt werden. Was ich erfahren hatte, war vollständig genug, und so war es jedenfalls geraten, ihn zu benachrichtigen, daß unser Zweck erreicht sei.

Auch die Höhe aufwärts mußte ich die Spur vertilgen, und so war ich endlich froh, als ich trotz der Dunkelheit unser Dickicht glücklich erreichte.

„Nun, wie war es?“ fragte Fred.

„Wartet, bis Winnetou kommt.“

„Warum? Ich brenne vor Begierde.“

„So verbrennt meinetwegen! Man redet nicht gern Überflüssiges, und ich müßte ja meinen Bericht zweimal geben, erst Euch und dann dem Apachen.“

Damit mußte er sich begnügen, obgleich es sehr lange dauerte, ehe der Apache kam.

Endlich hörten wir das Strauchwerk rascheln; er huschte zu uns heran und ließ sich an meiner Seite nieder.

„Mein Bruder Schar-lih hat mir das Zeichen gegeben?“ sagte er.

„Ja.“

„So ist mein Bruder glücklich gewesen?“

„Ja. Was hat der Häuptling der Apachen erfahren?“

„Er hat nichts erfahren. Er brauchte eine große Zeit, um an den Pferden vorüber zu kommen, und als er das eine Lagerfeuer beinahe erreicht hatte, hörte er den Ruf der Kröte. Dann mußte er seine Fährte auswischen, und die Sterne sind hoch gestiegen, ehe er kommen konnte. Was hat mein Bruder gesehen?“

„Ich habe Alles gehört, was wir zu wissen brauchen.“

„Mein weißer Bruder ist immer glücklich, wenn er den Feind belauscht. Er mag erzählen!“

Ich berichtete, was ich gehört hatte. Als ich fertig war, meinte Fred.

„So ist also Eure Vermutung richtig gewesen, Charles. Das mit dem Überfalle des Cannon war gut erraten!“

„Es war nicht schwer!“

„Und wie sah der Lange aus? Einen Schnitt hatte er über die Stirn?“

„Ja,“

„Und einen großen Bart?“

„Ja,“

„Er ist es, obgleich er früher keinen Bart getragen hat. Den Schnitt hat er sich bei dem Überfalle einer Farm da unten bei Leawenworth geholt. Und wie wurde er genannt?“

„Rollins.“

„Das muß man sich merken. Es ist bereits der vierte falsche Name, den ich von ihm höre. Aber was werden wir tun, Sir? Heut herausholen können wir ihn doch nicht.“

„Das ist allerdings unmöglich. Und übrigens kann Euch an seiner Bestrafung allein doch nicht gelegen sein. Die andern Railtroublers sind nicht weniger schlecht als er. Ich will Euch sagen, Fred, daß ich mich auf allen meinen Streifzügen möglichst gehütet habe, einen Menschen zu töten, denn Menschenblut ist die kostbarste Flüssigkeit, welche es gibt. Ich habe lieber großen Schaden getragen, ehe ich zur tödlichen Waffe griff, und wenn es doch geschehen mußte, so geschah es sicherlich im äußersten Grade der Notwehr. Und selbst da habe ich lieber den Feind kampfunfähig gemacht, als daß ich ihm das Leben nahm –“

„Ah,“ meinte der Dicke, „da seid Ihr grad wie Old Shatterhand. Dieser soll auch nur in der größten Not einen Indianer töten. Das Wild schießt er in das Auge; aber wenn ihn der Feind zur Gegenwehr zwingt, so zerschmettert er ihm entweder das rechte Bein oder den rechten Arm, oder er schlägt ihm einfach die Faust an den Kopf, daß er zusammenbricht und stundenlang liegen bleibt.“

„Uff!“

Diesen gedämpften Ruf der Verwunderung stieß der Apache aus. Er merkte erst jetzt, daß Walker noch gar nicht wußte, daß ich selbst Old Shatterhand sei. Ich nahm von diesem Rufe keine Notiz und fuhr fort:

„Dennoch aber kann es mir nicht einfallen, einen Bösewicht oder gar eine ganze Schar solcher Kerls ruhig laufen zu lassen. Das hieße ja, ihr Mitschuldiger werden und diese Rotte gegen brave Leute loszulassen. Herausholen können wir diesen Haller nicht; aber es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn vorhin unschädlich zu machen, indem ich ihn niederschoß. Doch will ich kein Mörder sein, und gegen das, was er verbrochen hat, wäre so ein schneller Tod ja geradezu eine Belohnung gewesen. Ich meine vielmehr, daß wir auch seine Helfershelfer fassen müssen, und das kann nur dann geschehen, wenn wir sie ruhig nach dem Cannon ziehen lassen.“

„Und wir?“

„Da gibt es nichts zu fragen! Wir kommen ihnen zuvor und warnen die Leute, welche überfallen werden sollen.“

Well! Diesen Gedanken lasse ich mir gefallen. Vielleicht gelingt es uns, diese Raubmörderbande lebendig zu fangen. Aber werden sie uns nicht zu zahlreich sein?“

„Wir sind ihnen zu Dreien gefolgt, ohne uns zu fürchten, und werden sie noch weniger fürchten, wenn wir in Echo-Cannon Verbündete gefunden haben.“

„Wir werden nicht viele finden. Die größte Anzahl dieser Leute wird sich auf der Verfolgung befinden.“

„Wir werden dafür sorgen, daß sie von dem Stande der Dinge benachrichtigt werden und schleunigst zurückkehren.“

„In welcher Weise?“

„Ich schreibe einen Zettel und befestige ihn an einen Baum, an welchem die Spur, der sie folgen, vorüberführt.“

„Werden sie es glauben? Es könnte das ja auch eine List der Railtroublers sein, um sie von der Verfolgung abzubringen.“

„Sie werden von unserm Zugpersonale gehört haben, daß Zwei ausgestiegen sind, und auch unsere Fährten gefunden haben. Übrigens werde ich die Warnung so abfassen, daß sie geglaubt werden muß. Ferner werde ich sie bitten, den Greenfork und Painterhill zu vermeiden, da am ersteren Orte die geteilten Sioux sich wieder treffen sollen und an dem zweiten die Kundschafter verweilen. Diese Letzteren dürfen die zurückkehrenden Eisenbahner keineswegs bemerken, und daher werde ich mitnotieren, daß die Heimkehr nach dem Cannon vom Süden her geschehen muß.“

„Uff!“ meinte da Winnetou. „Meine weißen Brüder werden mit mir aufbrechen.“

„Jetzt?“ fragte Walker.

„Die Sonne muß uns bereits weit von hier sehen, wenn sie aufgeht.“

„Aber wenn man morgen früh unsere Spuren findet?“

„Die Hunde der Ogellallah werden sofort nach Norden ziehen, und keiner von ihnen wird auf diese Höhe kommen. Howgh!“

Er erhob sich und trat zu seinem Pferde, um es loszubinden. Wir taten dasselbe, führten sie aus dem Dickicht heraus, stiegen auf und ritten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Von einer Nachtruhe war natürlich keine Rede.

Es war noch ebenso finster wie vorher, und nur ein Westmann konnte es unternehmen, bei einem so schwierigen Terrain durch den Urwald auf einer Spur zu reiten, welche er nicht zu sehen vermochte. Ein europäischer Reiter wäre in dieser Dunkelheit abgestiegen, um sein Pferd zu führen; der Hinterwäldler aber weiß, daß sein Tier besser sehen kann als er. Hier zeigte sich Winnetou in seiner Größe. Er ritt voran, über Bäche und Felsen, über Stock und Stein, und nicht ein einziges Mal war er zweifelhaft, welche Richtung er einzuschlagen habe. Mein Schwarzschimmel hielt sich vortrefflich und auch der alte Viktory schnaubte zwar zuweilen ein wenig mißmutig, hielt aber gleichen Schritt mit uns.

Als es zu grauen begann, befanden wir uns wohl bereits neun bis zehn englische Meilen vom Lager der Ogellallah entfernt und konnten nun unsere Pferde ausgreifen lassen. Unsere Richtung ging einstweilen grad auf Süd zurück, aber als ich eine geeignete Stelle fand, hielten wir an. Ich riß ein Blatt aus dem Notizbuche, schrieb die notwendigen Notizen mit dem Stifte darauf und stach es dann mittels eines zugespitzten Hölzchens in die Rinde eines Baumes so ein, daß es einem jeden, der von Süden her kam, in die Augen fallen mußte. Dann schlugen wir mehr nach rechts hin die Richtung nach Südwest ein.

Zu Mittag gingen wir über den Green-Fork, aber jedenfalls sehr weit entfernt von dem Punkte, an welchem die einzelnen Trupps der Ogellallah zusammentreffen wollten. Diese mußten alle offenen Stellen vermeiden und sich also auf Umwegen im Urwald halten; wir aber konnten die möglichst gerade Richtung einschlagen und ließen unseren Pferden nicht eher Ruhe, als bis die Sonne sich zur Rüste zu neigen begann.

Seit heute morgen hatten wir unbedingt weit über vierzig englische Meilen zurückgelegt, und es war zu verwundern, daß der alte Viktory immer gleichen Schritt hielt. Wir ritten zwischen zwei eng zusammentretenden Höhen hin und standen im Begriffe, uns einen Ort zu suchen, welcher zum Lagerplatze geeignet war. Da traten die Höhen plötzlich auseinander, und wir befanden uns am Seiteneingange eines größeren Talkessels, dessen Mitte ein kleiner See einnahm. Dieser letztere wurde von einem Flüßchen gespeist, welches von Ost herüberkam und, nachdem es den See verlassen hatte, sich nach Westen hin einen Ausgang aus dem Kessel brach.

Bei dem Anblick dieses Talkessels hielten wir überrascht unsere Pferde an. Diese Überraschung galt jedoch nicht dem Tale selbst, sondern etwas Anderem. Die uns gegenüberliegende Höhe war nämlich entwaldet und bestand aus Feldern, während im Tale Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen weideten. Am Fuße der Höhe lagen fünf große Blockhäuser mit Nebenhütten, unsern deutschen Bauernhöfen ähnlich, und ganz oben auf der höchsten Spitze stand ein kleines Kapellchen, über welches sich ein mächtiges Kreuz mit dem aus Holz geschnitzten Bilde des Erlösers erhob.

Neben diesem Kapellchen bemerkten wir mehrere Personen, welche uns aber nicht zu sehen schienen. Sie blickten gegen Westen, wo der Sonnenball sich immer tiefer senkte, und als er das Wasser des Flüßchens, welches er mit den herrlichsten Tinten färbte, erreicht zu haben schien, erklang von oben herab der silberne Ton eines Glöckchens.

Hier, mitten im wilden Westen, im tiefen Urwalde das Bild des Gekreuzigten! Mitten zwischen den Kriegspfaden der Indianer eine Kapelle! Ich nahm den Hut herunter und betete, wurde aber von dem Indianer unterbrochen.

Ti ti – was ist das?“ fragte er.

„Ein Settlement (Niederlassung) natürlich,“ antwortete Walker sehr weise.

„Uff! Winnetou sieht die Niederlassung; aber welcher Klang ist das?“

„Das ist die Vesperglocke. Sie läutet das Ave Maria.“

„Uff!“ meinte der Apache erstaunt. „Was ist Vesperglocke? Was ist Ave Maria?“

„Warten!“ sagte Fred, welcher sah, daß ich die Hände gefaltet hatte.

Als der letzte Schlag des Glöckleins verklungen war, ertönte plötzlich ein vierstimmiger Gesang vom Berge herab. Ich horchte empor, erstaunt ob des Gesangs an und für sich, noch erstaunter aber über die Worte desselben:

„Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
So wie der Tag vergangen sein!
Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
O trag’s empor zu Gottes Thron,
Und laß, Madonna, laß dich grüßen
Mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave, Maria!“

Was war denn das? Das war ja mein eigenes Gedicht, meine eigene Komposition, mein Ave Maria! Wie kam dies hierher in die Wildnisse des Felsengebirges? Ich war zunächst ganz perplex; dann aber, als die einfachen Harmonien wie ein unsichtbarer Himmelsstrom vom Berge herab über das Tal hinströmten, da überlief es mich mit unwiderstehlicher Gewalt; das Herz schien sich mir ins Unendliche ausdehnen zu wollen, und es flossen mir die Tränen in großen Tropfen von den Wangen herab. Wie kam dieses Lied hierher, an einen Ort, an welchem ich kaum die Gegenwart eines Indianers, noch viel weniger aber die Anwesenheit eines so gut geschulten Doppelquartetts vermuten konnte? Als ich die letzten Töne über dem Tal verklingen hörte, riß ich die Büchse von der Schulter, feuerte die beiden Läufe schnell hintereinander ab und gab dem Schwarzschimmel die Sporen. Ich sauste über das Tal hinüber, in das Flüßchen hinein, drüben wieder heraus und dann auf die Blockhütten zu, ohne mich ein einzigesmal umzusehen, ob mir die Gefährten auch folgten.

Die beiden Schüsse hatten nicht nur das Echo des Tales geweckt, sondern auch anderes Leben herbeigerufen. Die Türen der Blockhäuser öffneten sich und es erschienen Leute, welche besorgt ausschauten, was das Schießen zu bedeuten habe. Als sie einen Weißen in halbwegs zivilisiertem Kostüm erblickten, beruhigten sie sich und traten mir erwartungsvoll entgegen.

Vor der Tür des mir nächstliegenden Blockhauses stand ein altes Mütterchen. Ihr Gewand war einfach und sauber; ihr ganzes Äußere zeugte von fleißiger Arbeit und über ihr Angesicht, welches von schneeweißen Haaren eingefaßt wurde, lag jener selig lächelnde Frieden ausgebreitet, welcher nur das Eigentum einer Seele sein kann, die mit ihrem Gotte in unwandelbarem Vertrauen lebt.

Good evening, grand-mother – guten Abend, Großmutter! Ich bitte, nicht zu erschrecken; wir sind ehrliche Backwoodsmen! Wird es uns erlaubt sein, abzusteigen?“ fragte ich.

Sie nickte lächelnd und antwortete:

Welcome, Sir! Steigt in Gottes Namen ab! Ein ehrlicher Mann ist uns hier stets willkommen. Da seht meinen Alten und meinen Willy; sie werden Euch behilflich sein.“

Die Sänger waren durch meine Schüsse aufmerksam gemacht worden und schleunigst von der Höhe herabgestiegen. Jetzt hatten sie die Wohnungen erreicht, voran ein rüstiger Greis und neben ihm ein prächtiger, junger Mann, hinter ihm noch sechs ältere oder jüngere Männer und Burschen, alle in der festen, haltbaren Tracht des Hinterwaldes. Auch diejenigen Personen, welche ich vor den anderen Gebäuden hatte stehen sehen, waren herzugetreten. Der Alte streckte mir mit biederer Miene die Rechte entgegen und begrüßte mich:

„Willkommen, Sir, in Helldorf-Settlement! Das ist eine Freude, einmal Menschen zu sehen! – Willkommen abermals!“

Ich sprang vom Pferde und erwiderte seinen Handschlag:

Thank you, Sir! Es gibt keinen schöneren Anblick im Leben, als ein freundliches Menschenangesicht. Habt Ihr ein Nachtlager für drei müde Reiter?“

„Allemal! Wir werden doch einen Platz haben für Leute, die uns willkommen sind!“

Bis jetzt hatten wir englisch gesprochen; da aber trat einer der jüngeren Männer näher herbei und rief, mich schärfer betrachtend:

„Vater Hillmann, Ihr könnt mit diesem Herrn deutsch reden. Hurra, ist das eine Ehre und eine Freude! Ratet einmal, wer das ist!“

Der alte Hillmann blickte verwundert auf und fragte:

„Wohl gar ein deutscher Landsmann? Kennst du ihn?“

„Ja, aber ich mußte mich erst besinnen. Willkommen, Herr! Nicht wahr, Sie sind es, der das Ave Maria gedichtet hat, welches wir soeben gesungen haben?“

Jetzt war ich an der Reihe, mich zu verwundern.

„Allerdings,“ antwortete ich. „Woher kennen Sie mich?“

„Von Chicago her. Ich war Mitglied im Gesangverein des Direktors Balding, der Ihr Lied einübte. Können Sie sich noch auf das Konzert besinnen, in welchem es zum erstenmal gesungen wurde? Ich sang damals zweiten Tenor, jetzt aber ersten Baß. Meine Stimme ist herabgegangen.“

„Ein Deutscher – ein Bekannter von Bill – ein Dichter – von unserm Ave Maria!“

So rief es rund um mich her, und so viel Männer, Frauen, Buben und Mädchen zugegen waren, so viele Hände streckten sich mir entgegen und so viele Stimmen riefen mir ein immer wiederholtes Willkommen zu. Es war für mich ein Augenblick der Freude, wie man sie nicht sehr oft erlebt.

Mittlerweile hatten uns auch Winnetou und Fred erreicht. Bei dem Anblicke des Ersteren schienen die guten Leute besorgt werden zu wollen; ich aber suchte ihre Befürchtungen sofort zu zerstreuen:

„Das ist Fred Walker, ein Savannenmann, und dieser ist Winnetou, der berühmte Häuptling der Apachen, vor dem Sie keine Angst zu haben brauchen.“

„Winnetou? Ist’s möglich?“ fragte der alte Hillmann. „Von dem habe ich hundertmal erzählen hören, und nur lauter Gutes. Das hätte ich nicht gedacht! Das ist eine Ehre, Herr, denn dieser Mann ist berühmter und geachteter, als mancher Fürst da drüben im alten Lande.“

Er nahm seine Mütze von dem ergrauten Haupte, streckte dem Häuptlinge die Hand entgegen und sagte englisch:

„Ich bin Euer Diener, Sir.“

Ich gestehe, daß diese Ergebenheitsphrase einem Indianer gegenüber mir ein kleines Lächeln abnötigte; aber sie war gut und aufrichtig gemeint. Winnetou verstand und sprach das Englische besser als gut. Er nickte freundlich, drückte dem Alten die Hand und antwortete:

„Winnetou ist Euer Freund; er liebt die Weißen, wenn sie gut sind.“

Jetzt begann eine Art freundlichen, liebevollen Streites darüber, wer die Gäste bekommen sollte. Hillmann machte demselben ein Ende durch den Schiedsspruch:

„Sie sind vor meinem Hause abgestiegen und gehören alle Drei mir. Damit ihr aber nicht zu kurz kommt, seid ihr heut abend zu mir geladen. Nun aber gebt den Herren Ruhe; sie werden ermüdet sein!“

Die Anderen ergaben sich darein. Unsere Pferde wurden in eine der Nebenhütten geführt und wir mußten in das Blockhaus treten, wo uns im Wohnhause eine hübsche, junge Frau empfing, die Frau Willys, des jungen Hillmann. Es wurde uns alle mögliche Bequemlichkeit geboten, und während des kurzen Imbisses, den wir vor dem eigentlichen Abendessen, welches heute ein Festmahl werden sollte, nehmen mußten, erfuhren wir die Verhältnisse der kleinen Ansiedelung.

Sämtliche Settlers hatten vorher in Chicago gewohnt. Sie waren aus dem bayerischen Fichtelgebirge, wo es viele Steinschneider gibt, nach Amerika gekommen, hatten in Chicago treu zusammengehalten und fleißig gearbeitet, um sich das Geld zu einer Farm zu verdienen. Das war allen fünf Familien gelungen. Als sie sich entscheiden sollten, in welcher Gegend sie sich eine Heimat gründen wollten, gab es eine schwere Wahl. Da hörten sie einen alten Westmann von den Tetons erzählen und von den Reichtümern, welche in jenen unerforschten Gegenden aufgestapelt liegen. Er hatte ihnen zugeschworen, daß da oben ganze Felder von Chalcedonen, Opalen und Achaten, Karneolen und anderen Halbedelsteinen zu finden seien. Hillmann war eigentlich Steinschneider, und dieser Bericht begeisterte ihn. Seine Begeisterung bemächtigte sich auch der Andern, und so wurde beschlossen, nach jenen Gegenden zu gehen. Aber die vorsichtigen Deutschen waren klug genug, nicht ihr ganzes Vertrauen auf jene Reichtümer zu setzen. Sie beschlossen, in der Nähe der Berge einen für Farmereibetrieb passenden Ort zu suchen, sich dort als Squatters niederzulassen und erst dann, wenn die Farm in Gang gebracht sei, nach den Steinfeldern des alten Westmanns zu forschen. Der alte Hillmann war mit noch zwei auf die Suche gegangen und hatte den prächtigen Talkessel mit dem See gefunden. Dieser Ort paßte für ihr Vorhaben; man holte die Andern nach, und nun, nach drei arbeitsreichen Jahren, konnten sich die braven Leute die erste Ruhe gönnen.

„Und sind Sie schon einmal droben bei den Tetons gewesen?“ fragte ich.

„Mein Willy und Bill Meinert, der Sie von Chicago aus kennt, haben es einmal versucht, hinauf zu gelangen, das war im vorigen Herbste; sie sind aber nur bis zum John Grays See gekommen; dann ist es ihnen zu wild und bergig geworden. Sie konnten nicht weiter fort.“

„Daran sind sie leider selbst schuld,“ bemerkte ich; „sie sind keine Westmänner.“

„O, Herr, ich denke doch!“ meinte Willy.

„Nehmt mir’s nicht übel, wenn ich trotzdem bei meiner Behauptung bleibe. Selbst bei einem drei Jahre langen Urbarmachen einer Wildnis wird man nur ein Settler, aber kein Westmann. Sie haben die Tetons von hier aus in schnurgerader Linie erreichen wollen, und ein Westmann weiß genau, daß dies ganz unmöglich ist. Das wird selbst in einem halben Tausend von Jahren noch nicht möglich sein, viel weniger jetzt, wo alles noch in dichter Wildnis liegt. Wie wollen Sie undurchdringliche Urwälder, die von Bären und Wölfen bevölkert sind, Abgründe und Schluchten, in denen kein Fuß einen Halt findet, Cannons, wo hinter jedem Felsen ein Indsman lauschen kann, überwinden? Sie hätten von hier aus den Salt-River oder John Grays River zu erreichen suchen sollen. Beide münden unweit voneinander in den Snake-River, den Sie dann aufwärts verfolgen mußten. Dann bekamen Sie zur Linken zunächst die Snake River Mountains, dann die Teton Paß Mountains, nachher den Teton Paß selbst und endlich die ganze Tetons Range in einer Länge von über fünfzig englischen Meilen. Aber zu zwei läßt sich eine beschwerliche und gefahrvolle Entdeckungsreise nicht ausführen. Haben Sie Steine gefunden?“

„Einige Moosachate, weiter nichts.“

„So lassen Sie einmal sehen! Winnetou kennt jeden Winkel des Felsengebirges. Ich will ihn einmal fragen.“

Da ich wußte, daß ein Indianer über die Gold- und anderen Schätze des Westens nur selten und höchst ungern spricht, so stellte ich meine Frage in der Sprache der Apachen. Ich war aber trotzdem überzeugt, daß er jede Auskunft verweigern werde.

„Will mein Bruder Schar-lih Gold und Steine suchen?“ meinte er ernsthaft.

Ich erklärte ihm den Zusammenhang. Er blickte lange vor sich nieder; dann musterte sein dunkles Auge die Anwesenden und endlich fragte er:

„Werden diese Männer dem Häuptling der Apachen einen Wunsch erfüllen?“

„Welchen?“

„Wenn sie mir noch einmal singen, was Winnetou draußen vor dem Tale hörte, so wird er ihnen sagen, wo Steine liegen.“

Ich war im höchsten Grade überrascht. Hatte das Ave Maria auf diesen Indianer einen so tiefen, gewaltigen Eindruck gemacht, daß er entschlossen war, für dasselbe die Geheimnisse der Berge zu verraten?

„Sie werden es singen,“ antwortete ich ihm.

„So mögen sie in den Groß Ventre-Bergen suchen; da liegen viele Goldkörner. Und im Tale des Beaverdam-Flusses, der sein Wasser in den südlichen Punkt des Yellowstone-See ergießt, liegen sehr viele solche Steine, wie sie diese Männer suchen.“

Während ich den Settlers diese Auskunft mitteilte und ihnen die Lage der beiden angegebenen Punkte erklärte, stellten sich die ersten Nachbarn ein, und wir mußten das Gespräch unterbrechen.

Nach und nach füllte sich der Wohnraum des Blockhauses, und wir feierten einen Abend, wie ich ihn im Westen noch nicht erlebt hatte. Die Männer konnten noch alle Lieder, welche sie in der Heimat und später in Chicago gesungen hatten. Als echte Deutsche liebten sie den Gesang und hatten sich ganz leidlich zu einem Doppelquartette zusammengeübt. Selbst der alte Hillmann sang einen erträglichen Baß, und so kam es, daß die Pausen des Gespräches mit deutschen Volksliedern und Quartetten ausgefüllt wurden.

Der Apache hörte schweigsam zu; endlich aber fragte er mich:

„Wann werden diese Männer ihr Wort halten?“

Daraufhin erinnerte ich Hillmann an das Versprechen, welches ich Winnetou gegeben hatte, und sie begannen das Ave Maria. Kaum jedoch hatten sie begonnen, so streckte der Apache die Hände abwehrend aus und rief:

„Nein! In dem Hause klingt es nicht gut. Auf dem Berge will Winnetou es hören.“

„Er hat recht,“ sagte Bill Meinert. „Dieses Lied muß im Freien gesungen werden. Kommt heraus!“

Die Sänger stiegen eine Strecke die Höhe hinan. Wir Andern blieben im Tale. Winnetou stand neben mir, war aber bald verschwunden. Dann erklang es von oben aus dem Dunkel herab in schönen, rein dahingetragenen Tönen:

„Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht die stille Nacht herein.
Ach könnte doch des Herzens Leiden
So, wie der Tag vergangen sein – –“

Wir lauschten in stiller, lautloser Andacht. Die Finsternis verhüllte die Sänger und den Ort, an welchem sie standen. Es war, als ob das Lied vom Himmel herab erklänge. Ich hatte keine nach Effekt haschenden Modulationen, keine kunstreichen Wiederholungen und Umkehrungen, keine anspruchsvolle Verarbeitung des Motivs angewendet. Die Komposition erbaute sich nur aus den naheliegenden, leitereigenen Akkorden, und die Melodie war einfach, wie diejenige eines Kirchenliedes. Aber grad diese Einfachheit, diese Natürlichkeit der Harmoniefolge gab den Tönen das so tief Ergreifende, dem unsere Herzen nicht widerstehen konnten.

Schon als das Lied verklungen war, standen wir noch lange still und kehrten nicht eher wieder in die Stube zurück, als bis uns die Rückkehr der Sänger daran erinnerte. Winnetou aber fehlte. Es verging wohl eine Stunde und noch länger, ohne daß er kam, und da wir hier doch von allen Seiten von der Wildnis umgeben waren und ihm also möglicherweise etwas zugestoßen sein konnte, so warf ich die Büchse über und trat hinaus in das Freie. Vorher jedoch bat ich die Leute, mir nicht zu folgen, außer wenn sie einen Schuß hören sollten. Ich ahnte, was den Apachen in der Einsamkeit zurückhielt.

Der Richtung folgend, in welcher ich ihn hatte verschwinden sehen, näherte ich mich dem See. Eine etwas erhöhte Felsenplatte ragte über die dunklen Wasser hinein, und auf ihr sah ich die Gestalt des Gesuchten. Er saß hart am Rande, bewegungslos wie eine Statue. Mit leisem Schritte näherte ich mich ihm und ließ mich neben ihm nieder, wo ich in lautlosem Schweigen verharrte.

Es verging eine lange, lange Zeit, ohne daß er sich regte; endlich aber erhob er langsam den Arm, deutete auf das Wasser hinein, und sagte wie unter einem tiefen, sein ganzes Nachdenken in Anspruch nehmenden Gedanken:

Ti pa-apu shi itchi – dieser See ist wie mein Herz.“

Ich antwortete nicht. Er fiel wieder in sein Schweigen zurück, und sagte erst nach einer sehr langen Pause:

Ntch-nha Manitou nsho; shi aguan t’enese – der große Geist ist gut; ich liebe ihn!“

Ich wußte, daß ich mit einer Antwort nur die Entwickelung seiner Gedanken und Gefühle stören würde; darum schwieg ich auch jetzt. Infolgedessen fuhr er bald fort:

„Mein Bruder Schar-lih ist ein großer Krieger und ein weiser Mann im Rate; meine Seele ist wie die seinige; aber ich werde ihn nicht sehen, wenn ich einst in die ewigen Jagdgründe gelange!“

Dieser Gedanke stimmte ihn traurig; er war mir ein neuer Beweis, wie sehr lieb mich der Apache hatte; aber mit gutem Grunde entgegnete ich jetzt:

„Mein Bruder Winnetou besitzt mein ganzes Herz; seine Seele lebt in meinen Taten; aber ich werde ihn nicht erblicken, wenn ich einst in den Himmel der Seligen gelange.“

„Wo ist der Himmel meines Bruders?“ fragte er.

„Wo sind die Jagdgründe meines Freundes?“ antwortete ich.

„Manitou besitzt die ganze Welt und alle Sterne!“ erklärte er.

„Warum gibt der große Manitou seinen roten Söhnen einen so kleinen Teil der Welt und seinen weißen Kindern Alles? Was sind die Jagdgründe der Indianer gegen die unendliche Herrlichkeit, in welcher die Seligen der Weißen wohnen werden? Hat Manitou die Roten weniger lieb? O nein! Meine roten Brüder glauben an eine große, fürchterliche Lüge. Der Glaube der weißen Männer sagt: Der gute Manitou ist der Vater über alle seine Kinder im Himmel und auf Erden. Der Glaube der roten Männer aber sagt: Manitou ist nur der Herr der Roten; er gebietet, die Weißen alle zu töten. Mein Bruder Winnetou ist gerecht und weise; er denke nach! Ist der Manitou der Roten auch der Manitou der Weißen? Warum betrügt er dann seine roten Söhne? Warum läßt er sie von der Erde verschwinden und erlaubt den Weißen, zu Millionen anzuwachsen und die Erde zu beherrschen? Oder ist der Manitou der Roten ein Anderer als der Manitou der Weißen? Dann ist der Manitou der Weißen mächtiger und gütiger als der Manitou der Roten! Der Manitou der Bleichgesichter gibt ihnen die ganze Erde mit tausend Freuden und Wonnen, und dann läßt er sie herrschen über die Seligkeit aller Himmel von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Manitou der Roten aber gibt den Seinigen nur die wilde Savanne und die öden Berge, die Tiere des Waldes samt einem immerwährenden Töten und Morden, und sodann verheißt er ihnen nach dem Tode die finsteren Jagdgründe, in denen der Mord von neuem beginnt. Die roten Krieger glauben ihren Medizinmännern, welche sagen, daß in den ewigen Jagdgründen die Indianer alle Seelen der Weißen töten werden. Wenn nun mein Bruder in diesen blutigen Gründen einst seinem Freunde Schar-lih begegnete, würde er ihn töten?“

„Uff!“ rief da der Apache laut und eifrig. „Winnetou würde die Seele seines guten Bruders verteidigen gegen alle roten Männer. Howgh!“

„So überlege mein Bruder, ob die Medizinmänner nicht eine Lüge sagen!“

Er schwieg nachdenklich, und ich hütete mich sehr, die Wirkung meiner Worte durch weitere Bemerkungen zu beeinträchtigen.

Wir kannten uns seit Jahren. Wir hatten Leid und Freud redlich miteinander geteilt und uns in jeder Gefahr und Not mit todesmutiger Aufopferung beigestanden. Aber niemals war, seiner einstigen Bitte gemäß, zwischen uns ein Wort über den Glauben gesprochen worden; niemals hatte ich auch nur mit einer Silbe versucht, zerstörend in seine religiösen Anschauungen einzudringen. Ich wußte, daß er grad dieses mir sehr hoch anrechnete, und darum mußten meine jetzigen Vorstellungen von doppelter Wirkung auf ihn sein.

Nach einer Weile fragte er:

„Warum sind nicht alle weißen Männer wie mein Bruder Schar-lih? Wären sie so wie er, so würde Winnetou ihren Priestern glauben!“

„Warum sind nicht alle roten Männer so, wie mein Bruder Winnetou?“ antwortete ich. „Es gibt Gute und Böse unter den weißen und unter den roten Männern. Die Erde ist weit über tausend Tagereisen lang, und eben so groß ist auch ihre Breite. Mein Freund kennt nur einen ganz kleinen Teil von ihr. Überall herrschen die Weißen, aber grad da, wo mein Bruder lebt, in der wilden Savanne, verstecken sich die Bösen der Bleichgesichter, welche vor den Gesetzen der Guten haben fliehen müssen. Darum denkt Winnetou, daß es so viele schlimme Bleichgesichter gibt. Mein Bruder wandert einsam durch die Berge; er jagt den Bison und tötet seine Feinde. Worüber kann er sich freuen? Lauert nicht der Tod hinter jedem Baum und Strauch auf ihn? Hat er einmal einem Roten sein ganzes Vertrauen und seine ganze Liebe schenken können? Ist sein Leben nicht bloß Arbeit, Sorge, Wachsamkeit und Täuschung gewesen? Findet er Ruhe, Frieden, Trost und Erquickung für seine ermüdete Seele etwa unter den häßlichen Skalpen des Wigwams oder auf dem verräterischen Lager der Wildnis? Der Heiland der weißen Männer aber sagt: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! Ich bin dem Heilande nachgegangen und habe den Frieden des Herzens gefunden. Warum will mein Bruder nicht auch zu ihm gehen?“

„Winnetou kennt diesen Heiland nicht!“ sagte er.

„Soll ich meinem Freunde von ihm erzählen?“

Er senkte den Kopf und meinte erst nach einer längeren Pause:

„Mein Bruder Schar-lih hat recht gesprochen. Winnetou hat keinen Menschen geliebt als ihn allein; Winnetou hat keinem Menschen vertraut als nur seinem Freunde, der ein Bleichgesicht ist und ein Christ. Winnetou glaubt keinem Menschen als nur ihm allein. Mein Bruder kennt die Länder der Erde und ihre Bewohner; er kennt alle Bücher der Weißen; er ist verwegen im Kampfe, weise am Beratungsfeuer und mild gegen die Feinde. Er liebt die roten Männer und meint es gut mit ihnen. Er hat seinen Bruder Winnetou niemals getäuscht und wird ihm auch heut die Wahrheit sagen. Das Wort meines Bruders gilt mehr als – das Wort aller Medizinmänner und als die Worte aller weißen Lehrer. Die roten Männer brüllen und schreien; die weißen Männer aber haben eine Musik, die vom Himmel kommt und im Herzen des Apachen weiterklingt. Mein Bruder mag mir verdolmetschen die Worte, welche die Männer dieser Niederlassung heut gesungen haben!“

Ich begann mit der Übersetzung und Erklärung des Ave Maria. Ich erzählte ihm von dem Glauben der Bleichgesichter, ich suchte ihm das Verhalten derselben gegen die Indianer in einem freundlichen Lichte darzustellen, und ich tat dies nicht durch den Vortrag gelehrter Dogmen und spitzfindiger Sophismen, sondern ich sprach in einfachen, schmucklosen Worten, ich redete zu ihm in jenem milden, überzeugungsvollen Tone, welcher zum Herzen dringt, jedes Besserseinwollen vermeidet und den Hörer gefangen nimmt, obgleich er diesen denken läßt, daß er sich aus eigenem Willen und Entschließen ergeben habe.

Winnetou hörte lautlos zu. Es war ein liebevolles Netzauswerfen nach einer Seele, die wert war, aus den Banden der Finsternis erlöst zu werden. Als ich geendet hatte, saß er noch lange da, in tiefes Schweigen versunken. Ich störte die Nachwirkung meiner Worte durch keinen Laut, bis er sich langsam erhob und mir die Hand entgegenstreckte.

„Mein Bruder Schar-lih hat Worte gesprochen, welche nicht sterben können,“ sagte er tief aufatmend. „Winnetou wird nicht vergessen den großen, gütigen Manitou der Weißen, den Sohn des Schöpfers, der am Kreuz gestorben ist, und die Jungfrau, welche im Himmel wohnt und den Gesang der Settler hört. Der Glaube der roten Männer lehrt Haß und Tod; der Glaube der weißen Männer lehrt Liebe und Leben. Winnetou wird nachdenken, was er erwählen soll, den Tod oder das Leben. Mein Bruder habe Dank. Howgh!“

Wir kehrten nach dem Blockhause zurück, wo man um uns beinahe besorgt geworden war. Man hatte sich von den Railtroublers und Ogellallahs unterhalten. Ich bemerkte den Leuten, daß sie ihr Settlement als einen so weit vorgeschobenen Posten eigentlich hätten befestigen sollen. Sie sahen dies ein und beschlossen, das Versäumte baldigst nachzuholen. Es war klar, daß ihre Niederlassung nur wegen ihrer außerordentlich abgeschiedenen Lage den Späherblicken der Wilden bisher entgangen war. Kam ein einziger Indianer in die Nähe, so war es um ihre Sicherheit geschehen. Die vierzehn Männer des Settlements waren zwar mit guten Waffen und hinreichender Munition versehen, und auch die Frauen und größeren Kinder besaßen Mut und Übung genug, ein Gewehr abzuschießen; aber was war das gegen eine Horde wilder Gesellen, die zu Hunderten erscheinen konnten! An Stelle dieser Leute hätte ich die Blockhäuser nicht an ihrer gegenwärtigen, exponierten Stelle, sondern hart am Ufer des Sees errichtet, so daß dieselben nur von der Landseite angegriffen werden konnten.

Die Richtung, welche die Railtroublers einschlagen wollten, führte jedenfalls in weiter Entfernung von hier vorüber, dennoch aber bat ich die Settler, auf ihrer Hut zu sein und besonders ihre noch mangelhaften Fenze (Umzäunungen) zu verstärken.

Es war spät, als wir nach Entfernung der übrigen Gäste uns zur Ruhe legten. Wir ruhten in den weichen Betten Hillmanns, die uns gastfreundlich überlassen worden waren, und schieden am anderen Morgen mit herzlichem Danke gegen die braven Leute, die uns noch eine Strecke begleiteten und denen wir versprechen mußten, wieder bei ihnen einzukehren, falls uns unser Weg wieder in die Nähe führe.

Ehe sie Abschied nahmen, traten die acht Sänger nochmals zusammen, um dem Apachen das Ave Maria zu singen. Als sie geendet hatten, reichte er allen die Hand und sagte:

„Winnetou wird die Töne seiner weißen Freunde nie vergessen. Er hat geschworen, von jetzt an nie mehr den Skalp eines Weißen zu nehmen, denn die Weißen sind die Söhne des guten Manitou, der auch die roten Männer liebt!“

Dieser Entschluß war die erste Frucht unserer gestrigen Unterredung, und nun hatte ich die Überzeugung, daß meine Worte auch noch weiter wirken würden. Das Wort Gottes ist das Senfkorn, dessen Keimen im Verborgenen vor sich geht; hat es aber einmal die harte Kruste durchdrungen, so wächst es im Lichte schnell und fröhlich weiter.

Unsere Pferde hatten sich von dem gestrigen angestrengten Ritte vollständig wieder erholt; sie griffen so aus, daß es eine Freude war. Die Bewohner von Helldorf-Settlement, welches seinen Namen nach dem bayerischen Dorfe führte, aus welchem diese Leute stammten, waren öfters in Echo-Cannon gewesen und hatten uns den kürzesten Weg genau beschrieben, so daß wir bei der Schnelligkeit unserer Pferde hoffen konnten, den Ort bis heute abend noch zu erreichen.

Winnetou war während des ganzen Tages noch einsilbiger als gewöhnlich, und manchmal, wenn er eine Strecke vor uns ritt und uns also außer Hörweite wähnte, war es mir, als hörte ich ihn mit leisem Summen die Melodie des Ave Maria wiederholen, eine Bemerkung, welche mich um so mehr frappieren mußte, als die Indianer fast durchgängig ohne musikalisches Gehör sind.

Am Nachmittage wurden die Umrisse der Berge kühner, mächtiger und steiler. Wir gerieten in ein Labyrinth wundervoller enger und verwickelter Schluchten, bis wir endlich gegen Abend von einer steilen Höhe aus das Ziel unter uns liegen sahen – Echo-Cannon mit dem Schienengeleise und dem friedlichen Arbeiter-Kamp, den wir vom Untergange retten wollten. – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

In Californien

In Californien

Wir waren über den Rio Colorado gegangen, hatten das Gebiet des Pahutas glücklich hinter uns und dachten, nun bald die östlichen Ausläufer des Nevada-Gebirges zu erreichen, wo wir am Mono-See einige Tage Rast halten wollten. Von dem Gebiete der Comanchen bis hierher ist es ein wenig weit. Man hat unendlich scheinende Savannen, himmelhohe Gebirge und dann salzige, weite Wüstenflächen zu überwinden, und so kräftig Pferd und Reiter auch sein mögen, es machen sich die Folgen solcher Strapazen doch bei Mensch und Tier geltend.

Und was trieb uns, diesen weiten Weg zurückzulegen, auf welchem wir Californien vor uns liegen hatten? Erstens wollte Bernard Marshall dort seinen Bruder suchen; zweitens nahmen wir an, die beiden Morgans seien in das Land des Goldes gegangen, nachdem sie am Rio Pecos ihren Raub auf eine so plötzliche Weise verloren hatten.

Zu dieser Vermutung war aller Grund vorhanden.

Als wir damals das Zeltdorf der Comanchen verließen, ritten wir den Nachmittag und die ganze Nacht hindurch, so daß wir bereits am nächsten Mittag die obere Sierra Guadelupe vor uns sahen. Sams Stute und Winnetous Klepper hielten sich trotz der gewaltigen Anstrengung außerordentlich gut, und die andern Pferde waren ja so frisch, daß wir um sie keine Sorge hatten. Auch die Guadelupe wurde überwunden, ohne daß wir eine Spur von Verfolgung bemerkten, und als wir einige Tage später den Rio Grande überschritten hatten, brauchte es uns wegen der Comanchen nicht mehr bange zu sein.

Westlich vom Rio Grande schieben die Cordilleren von Sonora zahlreiche Höhenzüge nach Norden vor, welche wir ohne besondere Abenteuer erreichten. Hier aber trat ein wichtiges Ereignis ein.

Wir hatten uns nämlich um die Mittagszeit auf der Höhe eines Passes gelagert, und Winnetou stand als Ausguck an einem Felsen über uns, von wo aus sein Blick den ganzen Weg vor und hinter uns beherrschen konnte.

„Uff!“ rief er da plötzlich in jenem Gutturaltone, der den Indianern eigen ist, legte sich auf den Boden und glitt schnell zu uns herab.

Wir griffen natürlich sofort zu unsern Waffen und erhoben uns.

„Was gibt es?“ fragte Marshall.

„Rote Männer.“

„Wie viel?“

„So!“

Er hielt die fünf Finger der Rechten und drei der Linken in die Höhe.

„Acht! Von welchem Stamme?“

„Winnetou konnte es nicht sehen, denn die Männer haben alle Zeichen abgelegt.“

„Sind sie auf dem Kriegspfade?“

„Sie haben keine rote und blaue Erde im Gesicht, aber sie tragen Waffen.“

„Wie weit sind sie noch?“

„Im vierten Teile der Zeit, welche die Bleichgesichter eine Stunde nennen, werden sie hier sein. Meine Brüder mögen sich teilen. Winnetou geht mit Sans-ear vorwärts, und Marshall mit dem schwarzen Manne rückwärts, um sich hinter die Felsen zu verstecken. Mein Bruder Charlih wird hier bleiben bei seinem Pferde.“

Er nahm die andern vier Pferde bei den Zügeln und führte sie hinter das Gestein, wo sie nicht bemerkt werden konnten; dann wurde von ihm und den drei Gefährten die angegebene Stellung eingenommen. Ich blieb sitzen, der Richtung, aus welcher die Erwarteten kommen sollten, halb zugewandt; meine Büchse lag bereit.

Die Viertelstunde war kaum vergangen, so vernahm ich Pferdegetrappel; ich tat, als hätte ich es nicht gehört, hielt aber das halbe Auge scharf auf die acht Gestalten gerichtet, welche mich bereits bemerkt hatten und einen Augenblick lang ihre Pferde parierten. Sie wechselten einige Worte und kamen dann auf mich zu. Der Boden war hier so felsig, daß er keine Spuren annahm; sie konnten also nicht sehen, daß ich nicht allein war.

Ich stand jetzt ruhig auf und nahm meine Büchse zur Hand; sie blieben wohl zehn Schritte vor mir halten, und der vorderste fragte:

„Was tut das Bleichgesicht hier in den Bergen?“

„Der weiße Mann hält Rast von einem weiten Wege.“

„Woher kommt er?“

„Vom Ufer des Rio Grande.“

„Und wo will er hin?“

„Uff!“ rief da ein Anderer, noch ehe ich die letzte Frage beantworten konnte. „Die Krieger der Comanchen haben diesen weißen Mann am Wasser des Pecos gesehen. Er war da mit Ma-ram, dem Sohn des Häuptlings, und schoß auf die beiden Bleichgesichter, denen meine Brüder nachgejagt sind!“

Dieser Mann gehörte also zu den fünf Comanchen, welche durch ihren Angriff auf mich das Entkommen der Morgans verschuldet hatten. Ich hatte ihn nicht erkannt, weil er damals die Kriegsmalerei im Gesichte trug und mir nur ein kurzer Blick auf die Leute ermöglicht gewesen war.

„Wohin ist das Bleichgesicht mit Ma-ram gegangen?“ fragte mich nach dieser Erklärung der Anführer.

„Nach den Wigwams der Comanchen.“

„Wie kam der weiße Mann mit Ma-ram zusammen?“

„Ich nahm ihn gefangen in dem Tale, in welchem er zurückgeblieben war, als die Krieger der Comanchen Winnetou, Sans-ear, ein Bleichgesicht und einen Neger überfielen.“

Bei dieser Antwort griffen die Comanchen zu ihren Messern.

„Uff!“ rief der Anführer. „Er hat Ma-ram gefangen genommen! Wo blieben die andern roten Männer?“

„Ich tat ihnen kein Leid. Den Einen band ich, und die vier Anderen hatten keine Augen und Ohren, um zu sehen und zu hören, daß ich den Sohn des Häuptlings mit mir nahm.“

„Aber Ma-ram war nicht gebunden, als wir ihn bei dem Bleichgesichte sahen,“ bemerkte der frühere Sprecher.

„Ich gab ihn wieder frei, denn er versprach, mir ruhig nach den Wigwams der Comanchen zu folgen.“

„Uff! Was wollte der weiße Mann dort?“

„Den Häuptling der Apachen und Sans-ear befreien. Ich nahm die vier Häuptlinge der Racurroh gefangen und gab sie nur gegen ihre Gefangenen wieder los. Ich durfte mit ihnen gehen, und die Comanchen gaben uns den vierten Teil einer Sonne Zeit, zu enkommen.“

„Und die Gefangenen sind entkommen?“

„So ist es!“

Es machte mir Spaß, sie durch Darstellung dieser Verhältnisse in Harnisch zu bringen.

„Dann muß das Bleichgesicht sterben!“

Er ergriff sein Gewehr; es war das einzige vorhandene; die Andern hatten nur Bogen und Pfeile als Schußwaffen.

„Die roten Männer würden tot sein, noch ehe sie ihre Waffen erhoben haben, denn ich fürchte mich nicht vor acht Indsmen. Aber die Krieger der Comanchen werden mir nichts tun, wenn ich ihnen sage, daß sie Sans-ear, Winnetou und die beiden Übrigen heut wieder fangen können.“

„Uff! Wo?“

„Hier!“ Ich deutete nach rechts und nach links. „Dort steht Winnetou mit Sans-ear, dem Indianertöter, und hier der Weiße mit dem schwarzen Manne!“

Hüben und drüben waren die Genannten einige Schritte vorgetreten und hielten ihre Büchsen im Anschlage. Zu gleicher Zeit war ich um einige Schritte zurückgesprungen und richtete die meinige auf den Anführer.

„Die roten Männer sind unsere Gefangenen; sie mögen von ihren Pferden steigen!“ gebot ich ihnen.

Sie waren drei Männer mehr als wir, unsere fünf Büchsen aber waren ihnen überlegen. Zur Flucht gab es weder vor noch rückwärts eine Gelegenheit, und so wunderte ich mich nicht, als der Anführer die Hand von seinem Schießeisen nahm und fragte:

„Sieht mein weißer Bruder nicht, daß sich die roten Männer nicht auf dem Kriegspfade befinden?“

„Und dennoch wollten sie mich töten! Aber der weiße Mann will nicht das Blut seiner roten Brüder; sie mögen absteigen und mit uns das Calumet des Friedens rauchen!“

Sie zögerten, dieser Aufforderung, hinter welcher eine Kriegslist stecken konnte, zu folgen.

„Wie heißt mein weißer Bruder?“ fragte der Rote.

„Man nennt mich Old Shatterhand.“

„Uff! Dann dürfen wir seinen Worten glauben. Meine Brüder mögen von ihren Pferden steigen!“

Er nahm die Pfeife vom Sattel und setzte sich neben mir nieder. Seine Gefährten folgten ihm. Meine Kameraden kamen auch herbei und nahmen Platz. Die Pfeife wurde gestopft und herumgereicht. Bernard beging den Fehler, sie auch Winnetou anzubieten. Dieser wehrte ab.

„Der Häuptling der Apachen sitzt bei den Comanchen, weil sein Bruder Frieden mit ihnen wünscht, aber er raucht nicht das Calumet aus ihren Händen. Sie mögen sprechen mit meinen weißen Freunden, aber wenn sie gesprochen haben, so dürfen sie nicht wieder begegnen Winnetou, sonst versammelt er sie zu den toten Schakalen der Wüste!“

Bernard hätte das voraussehen können. Die Comanchen taten, als hätten sie diese Worte gar nicht gehört. Ich wandte mich an ihren Anführer:

„Die roten Männer sind nachgejagt den beiden weißen Verrätern?“

„Mein Bruder hat es bereits gehört!“

„Und haben sie nicht erreicht?“

„Nein. Die Verräter kamen auf das Gebiet der Feinde der Comanchen, wo diese umkehren mußten.“

„Wie konnten sie entkommen, da sie doch keine Pferde hatten?“

„Sie stahlen sich die Tiere der Comanchen.“

„Ah! Haben die Comanchen keine Augen, den Dieb zu sehen, und keine Ohren, seine Schritte zu hören?“

„Sie waren versammelt um das Grabmal ihres Häuptlings, und als sie zu den Pferden zurückkehrten, war die Wache getötet, und die zwei besten Tiere fehlten.“

Dies war wirklich der einzige Weg für die Morgans gewesen, sich zu retten; aber es hatte eine nicht geringe Verwegenheit dazu gehört, sich – die Verfolger im Rücken – in das Gebirge der Comanchen zu wagen, um ihnen ihre Pferde zu rauben. Die beiden Räuber waren wirklich kühne Männer, die als Gegner nicht unterschätzt werden durften. In unsere Hände mußten sie aber doch kommen, und wenn wir ihnen rund um die Erde folgen sollten; darum war mir das Zusammentreffen mit diesen Comanchen willkommener als jede andere Begegnung.

Sie hielten nur kurze Rast, und erst beim Aufbrechen fragte ich sie:

„Wo haben meine roten Brüder die Spur der weißen Männer zuletzt gesehen?“

„Zwei Sonnen von hier. Will mein Bruder ihnen folgen?“

„Ja. Wenn wir sie treffen, so sind sie verloren!“

„Uff! Der weiße Mann spricht aus dem Herzen der Comanchen. Er reite immer nach Sonnenuntergang, bis er nach einer Sonne ein großes Tal erreicht, welches von Mittag nach Mitternacht geht. Er folge diesem nach Mitternacht, wo er die Stelle ihres Feuers finden wird. Dann reite er über die Höhe bis an das Wasser, welches nach Westen fließt und folge ihm; er wird finden zweimal die Asche von ihrem Feuer. Hier mußten die Krieger der Comanchen umkehren, weil dort das Jagdgebiet der Navajoes beginnt.“

„Wie nahe waren meine Brüder, als sie umkehren mußten, den Verfolgten?“

„Nicht ganz eine halbe Sonne. Die roten Krieger wären ihnen doch gefolgt, aber sie erblickten in den Tälern die Wigwams der Feinde, bei denen sie den Tod gefunden hätten.“

„Die Krieger der Comanchen können To-kei-chun und den drei Häuptlingen sagen, daß Winnetou, Sans-ear und Old Shatterhand die beiden Verräter ereilen werden. Ma-ram mag sehr oft an Old Shatterhand denken, denn dieser denkt auch an ihn!“

„Wird Winnetou, der Apache, die Krieger der Comanchen verfolgen?“

„Nein; er ist ihr Feind, aber sie haben das Calumet des Friedens mit seinen Brüdern geraucht; er wird sie ziehen lassen!“

Sie stiegen auf und ritten fort. Wir taten dasselbe. Sie trugen nach Osten die Kunde, daß sie uns getroffen hatten, und wir nahmen mit nach Westen die Gewißheit, daß wir die Morgans fangen würden.

Wir fanden Alles genau nach ihrer Beschreibung. Da die Apachen mit den Navajoes in Freundschaft lebten, so konnten wir mit Winnetou bei ihnen einkehren. Hier erfuhren wir, daß die Gesuchten sich da nur einige Stunden aufgehalten und nach den nächsten Pfaden zum Colorado gefragt hatten. Auch den Mono-See hatten sie erwähnt, und obgleich wir etliche Tageslängen hinter ihnen waren, hatten wir ihre Spuren bisher doch so deutlich gefunden, daß wir überzeugt waren, sie endlich doch noch zu treffen.

Also jetzt hielten wir auf die Sierra Nevada zu und ritten auf einer weiten Ebene mit zahlreichen Büffelspuren. Wir wünschten sehr, eines dieser Tiere zu treffen; wir hatten sehr lange Zeit nur Dürrfleisch genossen, und wenn unser Vorrat auch noch auf einige Tage reichte, so wäre uns die frische Lende oder Keule eines Rindes doch höchst willkommen gewesen.

Aus diesem Grunde schweifte ich mit Bernard, der noch bei keiner Büffeljagd gewesen war, von unserer Richtung nach rechts ab, wo allerlei Strauchwerk auf Wasser und infolgedessen auf die Anwesenheit von Rindern schließen ließ. Es war jetzt die heiße Mittagsstunde, in welcher das Rind sich gern im Wasser kühlt oder in der Nähe desselben wiederkäut.

Wirklich sollte auch meine Hoffnung in Erfüllung gehen, denn am Horizonte tauchte eine Gruppe von vier Tieren auf, gegen welche wir uns sofort in Bewegung setzten. Leider hatten wir den Wind mit uns, so daß wir sehr bald bemerkt wurden; dadurch sahen wir uns gezwungen, unsere Pferde so weit wie möglich ausgreifen zu lassen. Hier bewährte sich mein Rapphengst auf das glänzendste. Er flog mit einer Leichtigkeit dahin, als ob ich ein ausgetrockneter Jockey von 0,10 spezifischem Gewicht sei, und ließ das Pferd Bernards weit hinter sich zurück. Diese wertvolle Seite des Pferdes bewog mich, es auch auf eine andere Eigenschaft zu prüfen, auf welche im Westen ein außerordentlicher Wert gelegt wird. Ich beschloß nämlich, nicht die Büchse, sondern den Lasso zu gebrauchen. Der meinige hatte kein Öhr, sondern einen Ring, durch welchen die Schlinge viel sicherer und besser läuft, als durch die bei den Indianern gebräuchliche Lederöse.

Unweit eines Weidengestrüppes erreichte ich die Tiere. Es war ein sehr starker Bulle mit drei Kühen, von denen ich mir diejenige auswählte, deren glattes Aussehen auf ein zarteres Fleisch schließen ließ. Ich schnitt sie von den anderen Tieren ab, hielt mich ihr nahe zur Seite und warf die Schlinge. Mein Pferd bewährte sich glänzend. Sobald der Lasso durch die Luft sauste, warf der Hengst sich ganz von selbst herum und stemmte die Beine mit weit nach vorn gebeugtem Körper auf die Erde. Die Schlinge zog sich um den Hals der Kuh zusammen – ein gewaltiger Ruck riß mein Pferd beinahe auf die Hinterschenkel nieder, aber es hielt sich fest und strengte den am Sattelknopfe befestigten Riemen so straff wie möglich an. Die Kuh war niedergerissen worden; ich sprang vom Pferde, zog das Messer und fing sie mit einem kräftigen Stoße in das Genick ab. Der Hengst war mir mit den Augen gefolgt und ließ den Lasso jetzt locker. Ich trat zu dem braven Tiere und streichelte liebkosend seinen Nacken, wofür es dankbar seinen Kopf an meiner Achsel rieb.

Jetzt nahm ich die Schlinge vom Halse der Kuh und wollte mich eben an das Aufbrechen derselben machen, als Bernard herbeikam.

„Zu spät!“ klagte er. „Soll ich weiter?“

„Nein. Wir haben genug, und Ihr könnt hier mithelfen!“

Er stieg ab, und ich warf das Rind auf die andere Seite. Dabei bemerkte ich, daß demselben ein Zeichen eingebrannt war.

„Ah, es gehört zur Herde einer Estancia, einer Hacienda oder eines Rancho.“

„Durften wir die Kuh denn töten?“

„Ja. Die Rinder haben in diesen Gegenden nur den Wert, den ihre Haut besitzt. Jeder Reisende – so ist es gebräuchlich – darf eines derselben zu seinem Bedarfe töten, muß aber die Haut an den Besitzer abliefern.“

„Dann müssen wir diesen aufsuchen?“

„Wieder nein. Sollte ja ein Meierhof hier in der Nähe liegen, so brauchen wir nur zu melden, wo das Fell zu finden ist. Bei dem großen alljährlichen Schlachten kann es gar nicht umgangen werden, daß der eine Herdenbesitzer eines oder auch mehrere Tiere eines Andern mit tötet; diesem Andern geht es ebenso, und man wechselt dann die Felle gegenseitig aus.“

Die Kuh lag höchstens fünf Schritte von dem erwähnten Gebüsch. Ich hatte meine Auseinandersetzung kaum beendet, so hörte ich ein scharf sausendes Geräusch, und Bernard stieß einen Schrei aus. Von meiner Arbeit aufblickend, gewahrte ich noch, daß er mit einem Lasso quer durch den schmalen Gebüschstreifen geschleift wurde. Ich raffte die neben mir liegende Büchse auf, sprang durch die Sträucher vor und gewahrte einen Reiter in mexikanischer Tracht, welcher mit Marshal am Riemen davon galoppierte.

Hier gab es kein Zaudern, sonst wurde Bernard zu Tode geschleift. Ich erhob die Büchse, zielte nach dem Pferde des Reiters und drückte ab. Es tat noch einige Schritte und brach dann zusammen. Ich eilte hinzu. Der Reiter war abgeworfen worden; er erhob sich, und als er mich erblickte, ließ er Alles im Stiche und ergriff die Flucht.

Ich durfte ihm nicht folgen, sondern mußte zunächst nach Bernard sehen. Die Schlinge hatte ihm die Arme so fest an den Leib gezogen, daß er sich nicht zu rühren vermochte; ich löste sie, und er zeigte sich glücklicherweise so wenig beschädigt, daß er sich sofort mit heiler Haut zu erheben vermochte.

„Alle Wetter, war das eine Rutschpartie, Charley! Was wollte dieser Kerl?“

„Weiß es nicht!“

„Warum habt Ihr die Kugel nicht ihm statt dem Pferde gegeben?“

„Erstens ist er ein Mensch und das Pferd ein Tier, und zweitens hätte Euch sein Tod gar nicht viel genützt, denn der Lasso ist, wie Ihr seht, an den Sattel befestigt, und das Pferd hätte Euch also auch ohne Reiter weiter geschleift.“

„Konnte diesen Gedanken auch haben!“ meinte er, seine Glieder untersuchend, ob sie noch in gutem Zustande seien.

„Kommt zurück zur Kuh! Wir wollen machen, daß wir mit ihr fertig werden, denn hier scheint es nicht recht geheuer zu sein.“

„Ich denke, wir sind hier ähnlichen Gefahren gar nicht mehr ausgesetzt, da das Gebiet der Indsmen hinter uns liegt!“

„Da irrt Ihr Euch sehr. Wir befinden uns bereits auf jenem gefährlichen Terrain, wo statt der Indianos bravos, wie der Spanier die Wilden nennt, die mexikanischen Straßenräuber und Yankeegauner ihr Unwesen treiben. Ihr werdet bald von ihnen zu sehen und zu hören bekommen!“

Wir nahmen nur die besten Stücke von dem Rinde, packten sie hinter uns auf den Sattel und suchten den Unsern nachzukommen. Dieses wurde uns nicht schwer, da sie inzwischen Halt gemacht hatten. Als Bob unsern Fleischvorrat bemerkte, rief er schon von weitem:

„Oh, ah, da kommen Massa mit Beefsteak! Nigger Bob gleich holen Holz, daß machen Feuer und braten Schinken von Büffel!“

Wir ließen ihn gewähren und besprachen, während er emsig als Koch beschäftigt war, unser Abenteuer. Als der Braten die richtige Bräune zeigte, war es zum Verwundern, welch gewaltige Stücke davon hinter den dicken Lippen des Negers verschwanden. Er war so in seine Beschäftigung vertieft, daß er gar nicht auf den Ruf Sams merkte:

Behold, kommen da drüben Reiter, oder sind es nur Pferde?“

Ich sah durch das Fernrohr.

„Reiter – drei, fünf, acht, ja – acht.“

„Ob sie uns sehen werden?“

„Natürlich. Sie müssen den Rauch längst bemerkt haben.

„Welche Sorte von Menschen ist es?“

„Mexikaner, nach den breiten Hüten und hohen Sätteln zu schließen.“

„Dann wollen wir zum Beispiel die Waffen zwischen die Finger nehmen, denn dieser Besuch könnte mit eurem Lassoreiter in Verbindung stehen!“

Die Truppe kam immer näher, bis sie in einiger Entfernung von uns halten blieb. Es waren lauter Mexikaner, ein Herr und sieben Knechte, wie es schien, und ich erkannte in einem der Knechte den Mann, dessen Pferd ich erschossen hatte. Sie berieten sich augenscheinlich, schwenkten dann nach zwei Seiten ab und bildeten dann einen Kreis, in welchem wir eingeschlossen waren.

„Scheinen mit uns reden zu wollen, diese Männer, hihihi!“ kicherte Sam, der Kleine, in jenem Tone, der stets ein Zeichen war, daß er sich belustigt fühle, „Nehme es zum Beispiel ganz allein mit Allen auf!“

Der Kreis wurde enger gezogen, so daß sein Halbmesser höchstens zwanzig Pferdelängen betrug; dann ritt der Anführer einige Schritte vor. Er redete uns in dem in jenen Gegenden landläufigen Gemisch von Englisch und Spanisch an.

„Wer seid ihr?“

Sam antwortete für uns:

„Wir sind Mormonen aus der großen Salzseestadt und kommen als Missionare nach Californien.“

„Werdet schlechte Geschäfte machen, sage ich euch! Wer ist der Indianer bei euch?“

„Das ist kein Indianer, sondern ein Eskimo aus Neuholland, den wir für Geld sehen lassen werden, wenn unsere Geschäfte wirklich schlecht gehen sollten.“

„Und der Nigger?“

„Ist auch kein Nigger, sondern ein Lawyer aus Kamtschatka, der in San Francisco einen Prozeß zu verhandeln hat.“

Der gute Mexikaner war in der Geographie wohl nicht heimischer als seine Landsleute. Er antwortete:

„Saubere Gesellschaft! Drei mormonische Missionare und ein fremder Advokat stehlen mir eine Kuh und machen einen Mordversuch auf meinen Vaquero! Ich werde euch lehren, was das zu bedeuten hat. Ihr seid meine Gefangenen und begleitet mich nach meinem Rancho!“

Sam drehte sich mit pfiffigem Gesichtsausdruck zu mir herum.

„Wollen wir, Charley? Vielleicht gibt es in dem Rancho ein wenig mehr zu essen, als hier!“

„Können es probieren! Wenn der Mann kein Haciendero mit mehreren hundert Untergebenen, sondern ein kleiner Ranchero ist, kann er uns nichts anhaben.“

Well, werden uns also den Spaß machen!“

Er wandte sich wieder zu dem Mexikaner:

„Wollt Ihr Euch wirklich wegen solcher Kleinigkeiten mit uns belästigen, Sennor?“

„Ich bin kein Sennor; ich bin ein Don; ich bin ein Grande, und man nennt mich Don Fernando de Venango e Colonna de Molynares de Gajalpa y Rostredo; merkt Euch das!“ .

Heigh-day, seid Ihr ein großer Herr! Wir werden Euch also gehorchen müssen, doch hoffe ich, daß Ihr gnädig mit uns seid!“

Wir hatten keine Miene gemacht, uns zu widersetzen. Jetzt erhoben wir uns, löschten das Feuer aus und stiegen zu Pferde. Dabei lachte Bob vergnügt:

„Oh, ah, schön! Nigger Bob sein Lawyer aus – aus –Bob nicht mehr wissen! In Rancho werden sein viel gut Speis‘ und Trank, und Bob werden wohnen da sehr viel ganz schön!“

Wir wurden in die Mitte genommen, und fort ging es im sausenden Galopp, wie es diese Mexikaner nicht anders gewohnt sind. Dabei hatte ich reichlich Gelegenheit, die Kleidung dieser Leute in Augenschein zu nehmen.

Dieselbe ist so romantisch schön, wie man sie wohl kaum in einem anderen Lande findet. Das Haupt ist beschattet von einem niedrigen Hut mit sehr breiter Krempe, dem sogenannten Sombrero, welcher entweder aus schwarzem oder braunem Filz oder aus jenem weichen, feinen Grasgeflechte gefertigt ist, das wir auch in Europa kennen, da Kopfbedeckungen dieser Art unter dem Namen Panamahüte auch zu uns herüberkommen. Der Hut eines Sennors, also eines Herrn, mag dieser nun Haciendero, Ranchero oder Räuber sein, ist immer an der einen Seite aufgeschlagen, und eine Agraffe von Gold oder Messing, mit Edelsteinen oder buntem Glas besetzt, hält die Krempe in die Höhe und befestigt zugleich die Schmuckfeder, welche je nach dem Reichtume des Besitzers in der Höhe des Preises wechselt, aber niemals fehlen darf.

Der Mexikaner trägt eine kurze, offene Jacke mit weit aufgeschlitzten Ärmeln. An diesen Ärmeln sowohl als auch auf den Nähten des Rückens und auf den beiden Bruststücken ist sie mit möglichst reichen Stickereien versehen, welche von feinen Schnüren aus Wolle, Baumwolle oder Seide, aus unedlen Metallen oder aus Gold und Silber bestehen.

Um den Hals wird ein schwarzes Tuch geschlungen und vorn in einem kleinen Knoten vereinigt. Die Zipfel dieses Tuches würden lang genug sein, um bis über den Gürtel herabzureichen; doch ist es nicht Mode, dieselben in dieser Weise zu tragen, sondern sie werden über die Schultern geschlagen, was dem Träger ein höchst malerisches Aussehen gibt.

Das Beinkleid ist von ganz besonderem Stile; es schließt um den Gürtel fest an, liegt stramm und glatt auf den Hüften und dem übrigen Teil des Oberkörpers, den es bedeckt. Die Hose aber wird von ihrer Beinteilung an nach unten immer weiter; sie ist unten doppelt so weit als an dem dicksten Teile der Lenden. Überdies ist das Beinkleid an den äußeren Seiten aufgeschlitzt, mit breiten Tressen und Stickereien geschmückt und der Schlitz mit Seidenzeug gefüllt, dessen Farbe so gewählt wird, daß sie sehr lebhaft gegen diejenige der eigentlichen Hose absticht.

Auch die aus fein lackiertem Leder gefertigten Stiefel sind stets mit Stickereien geziert. Zu ihnen gehören unbedingt zwei Sporen von ungeheueren Dimensionen. Sie bestehen entweder aus Silber oder aus schönem durchbrochenen Stahl oder aus schlechtem Messing, vielleicht gar aus Horn, mit einer Knochenspitze, die ganz dazu geeignet ist, dem armen Pferde tiefe Wunden in die Seite zu bohren. Die Größe dieser Sporen übertrifft alles, was jemals die gepanzerten Ritter im Mittelalter trugen. Sie sind mit dem Gabelteile reichlich zehn Zoll lang, wovon also mindestens sechs auf die Stange kommen, welche das Rad trägt. Was wir bei uns Rädchen nennen und dann die ungefähre Größe eines Groschens hat, ist bei dem Mexikaner ein zwölfstrahliger Stern von sechs Zoll Durchmesser. Der ganze Sporn wiegt zwei Pfund und oft noch beträchtlich darüber.

Die Mexikaner sind immer beritten – mit wohl dressierten, höchst gelenkigen und jeder Strapaze gewachsenen Pferden. Und dabei besitzen sie eine außerordentliche Geschicklichkeit im Gebrauche aller von ihnen geführten Waffen. Sie legen dieselben kaum des Nachts von sich und sind bei der geringsten Veranlassung bereit, sich ihrer zu bedienen.

Besondere Fertigkeit entwickeln sie in der Führung einer sehr langen Reiterpistole mit gezogenem Rohre, welche stets so eingerichtet ist, daß man mit einem einzigen Drucke einen Gewehrkolben damit verbinden kann, wodurch die Pistole in eine kurzrohrige Büchse umgewandelt wird. Dieses Gewehr trägt in der Hand eines Mexikaners den sichern Tod auf eine Entfernung von hundertfünfzig Schritten hin, denn die Züge sind sehr kurz gewunden, das Geschoß bekommt folglich eine starke Achsendrehung und kann nicht leicht von der vorgeschriebenen Bahn abweichen; das Kammergeschütz aber fordert, der gedachten Einrichtung wegen, nur eine geringe Menge Pulver und stößt und schlägt nicht. Ein solches Gewehr ist in der Hand des Geübten ein wahrer Schatz, und die Pferde sind so gut dressiert, daß man auf ihnen sowohl dem Feinde zugewendet als auch ihm abgewendet schießen kann. Während des Reitens wird nämlich niemals seitwärts, sondern stets entweder vor- oder rückwärts geschossen. Steht das Pferd aber ruhig, so kann man das Gewehr nach jeder beliebigen Richtung hin brauchen; es genügt, dasselbe dem Pferde zu zeigen, um das kluge Tier für zehn Sekunden so unbeweglich zu machen, als ob es aus Stein gemeißelt oder aus Bronze gegossen sei.

Eine beinahe noch gefährlichere Waffe als dieses sicher treffende Schießeisen ist der Lasso, jene furchtbare Lederschlinge, mittels deren der Geübte den wilden Stier im Laufe, den schwarzen Tiger im Sprunge und den Menschen sowohl bei der Attacke als auch während der Flucht fängt und tötet. Der Lasso, ein wohl dreißig Ellen langer und mit einer Schlinge versehener Riemen, wird auf Mensch oder Tier meist während des Galoppierens geworfen, und es kommt vielleicht unter zehntausendmalen erst einmal vor, daß der zum Tode bestimmte Feind nicht getroffen wird. Mit dem Lasso üben sich schon die Kinder, und endlich scheint es, als ob er mit dem Menschen vollkommen verwachsen wäre; er gehorcht nicht bloß der Hand; man möchte sagen, er gehorcht dem Gedanken, denn die tödliche Schlinge fliegt dahin, wohin der Mensch sie haben will, gleichviel ob dieses im Spiel und Scherz, auf der Arena oder im ernsten Vernichtungskampfe sei.

Sitzt der Mexikaner zu Pferde, so hängt über dem Sattelknopf noch der Poncho, eine Decke, welche den ganzen Körper verhüllen kann und in der Mitte einen Schlitz hat, durch den man den Kopf steckt, so daß die eine Hälfte des Poncho über den Rücken und die andere über die Brust herabfällt.

Die Kleidung des Reiters und das Sattelzeug des Pferdes sind gleich kostspielig. An Sattel und Zaum befindet sich überall Silber und mitunter auch Gold. Bei reichen Leuten ist das Gebiß des Pferdes immer von schwerem, gediegenem Silber, und die Ketten, welche das Zaumzeug verzieren, sind nicht etwa hohl gearbeitet, sondern von massivem Golde; mitunter kostet ein so verziertes Gebiß nur fünfzig Escudos, aber sehr häufig ist ein bloßes Gebiß mit dem Zaumzeuge fünfhundert Escudos de oro wert.

Die Pferde tragen alle den berühmten, oder auch berüchtigten spanischen Sattel von ganz ungewöhnlicher Höhe, so daß man kaum aus demselben fallen kann, wenn man einmal fest sitzt; und wenn der Reiter nur einiges Geschick hat, so dürfte es für das Pferd sehr schwer werden, ihn abzuwerfen. Die Lehne schließt sich bis da, wo die kurzen Rippen beginnen, vollständig an den Rücken; der Vorderteil geht ebenso hoch hinauf, und da er in dem messingenen Sattelknopfe, welcher gewöhnlich einen Pferdekopf vorstellt, eine sechszöllige Verlängerung hat, so reicht er bis an das Brustbein.

Von dem Sattel geht bis nach dem Schwanzriemen hin ein Panzer von Sohlenleder, welcher die Kruppe und die Flanken des Tieres schützt. Die modernen Reiter lassen ihn immer weg; zu einer Reise aber wird er gewöhnlich hervorgeholt, besonders schon deshalb, weil er eine beträchtliche Menge von Taschen und andern sehr angebrachten Behältern birgt. Dieser Panzer führt den drolligen Namen Cala de Pato.

Die Steigbügel, häufig an silbernen Ketten hängend, sind doch gewöhnlich von Holz und waren in alten Zeiten wirkliche, eigentliche Schuhe, welche den Fuß bedeckten und gegen jede Verletzung oder Beschädigung beschützten. Die Holzschuhe hat man abgelegt, dagegen die hölzernen Bügel beibehalten; um aber den Fuß dennoch gegen eine Verletzung zu schützen, trägt der vordere Teil des Bügels lederne Decken (Tapageres), die schön mit Drahtstickereien verziert sind und den Vorderfuß umschließen. Sehr reiche Leute haben oft Steigbügel von durchbrochenem Eisenblech, kostbar gearbeitet, ganz so, wie wir sie in alten Rüstkammern zu sehen bekommen. Da sich der Reiter gegen alles mögliche schützen will, so hat er auch noch die Armas de Pelo an jeder Seite des Sattelknopfes hängen. Das sind derbe Ziegenfelle, mit der Haarseite nach außen, welche bei Regenwetter über die Lenden und die Kniee gedeckt werden. Auch wenn man durch dorniges Gestrüpp reitet, gewähren sie einen sehr guten Schutz für die Beine. – –

Nach ungefähr einer halben Stunde tauchte ein Gebäude vor uns auf, in welchem wir den Rancho vermuteten. Wir sprengten in den geräumigen Hof und stiegen ab.

„Sennora Eulalia, Sennorita Alma, kommt, kommt, und seht, wen ich bringe!“ rief der Ranchero, gegen das Hauptgebäude gewendet, mit lauter Stimme.

Auf diesen Ruf kamen zwei Wesen mit solcher Hast und Eile aus der Türe gerannt, daß ich unwillkürlich an Schillers Worte dachte:

„Da speit das doppelt geöffnete Haus
Zwei – Damen auf einmal aus.“

Ja, Damen waren es, eine Sennora und eine Sennorita, wie wir gehört hatten, aber die Stallmagd eines Lüneburger Heidebauern hätte gegen sie wie eine Donna ausgesehen. Beide waren barfuß und barhäuptig; ob das seltsame Gewirr, welches sie auf dem Kopfe trugen, Haare sein sollten, konnte ich nicht unterscheiden. Ein kurzer Rock deckte die oberen Beine, während die unteren einen Schmutzüberzug zeigten, den man sehr leicht für Stulpenstiefel hätte halten können. Den Oberkörper schützte nur ein Hemd, welches vor Jahren vielleicht einmal weiß gewesen war, nun aber aussah, als sei es zum Ausputzen des Kamins benutzt worden.

Also sie kamen aus der Tür heraus geschossen und starrten uns mit weit aufgerissenem Munde an.

„Wen bringt Ihr uns da, Don Fernando de Venango e Colonna?“ kreischte die ältere der beiden Frauen. „Was wird das für Arbeit geben, wenn fünf stockfremde Gäste essen, trinken, spielen, rauchen und schlafen wollen! Das kann ich nicht leiden; das kann ich nicht dulden; lieber laufe ich auf der Stelle fort und lasse Euch mit Eurem ganzen Gesindel in diesem unseligen Rancho allein. Ich wollte, ich hätte mich niemals von Euch bereden lassen, mein schönes San Jose zu verlassen und – –“

„Aber Mutter, siehst du denn nicht, daß dieser Don unserm guten Don Allano so ähnlich sieht!“ meinte die Jüngere, indem sie auf Marshall deutete.

„Mag er ihm ähnlich sehen, er ist es nicht!“ antwortete die Andere, sichtlich erbost über die Unterbrechung ihres ausgezeichneten Redeflusses. „Wer sind diese Männer, und wer wird die Arbeit mit ihnen haben? Ich, sonst kein anderer Mensch. Und das will etwas sagen, wenn man so schon für eine unendliche Wirtschaft zu sorgen hat, wie die unsrige ist. Ich weiß oftmals gar nicht, ob ich einen Kopf habe oder nicht, und wenn ich nun gar noch für fünf fremde Gäste zu – –“

„Aber Sennora Eulalia, es sind ja gar keine Gäste!“ fiel jetzt der Ranchero in die Rede.

„Keine Gäste? Was denn, Don Fernando de Venango e Colonna?“

„Gefangene, Sennora Eulalia.“

„Gefangene? Weshalb sind sie gefangen, Don Fernando de Venango de Molynares?“

„Sie haben uns eine Kuh und drei Vaqueros getötet, meine liebe Sennora Eulalia.“

Es war wirklich interessant, mit welcher Unverfrorenheit er unsere Untaten multiplizierte.

„Eine Kuh und drei Vaqueros!“ rief sie, die rußfarbenen Hände zusammenschlagend, daß unsere Pferde erschrocken die Ohren spitzten. „Das ist ja schrecklich – gräßlich – himmelschreiend! Habt Ihr sie auf der Tat ertappt, Don Fernando e Colonna de Gajalpa?“

„Nicht bloß auf einer, sondern auf allen Taten, Sennora EuIalia. Und sie haben sie nicht nur getötet, sondern auch gebraten und verzehrt.“

Die Augen der Donna wurden noch einmal so groß.

„Gebraten und verzehrt? Die Kuh oder die drei Vaqueros, Don Fernando de Gajalpa y Rostredo?“

„Zuerst die Kuh, Sennora Eulalia.“

„Zuerst! Und dann, Don Fernando Rostredo y Venango?“

„Dann? Weiter nichts, denn wir haben sie gestört und von allem Weiteren abgehalten. Wir haben sie arretiert und herbeigeschleppt, Sennora Eulalia.“

„Arretiert und herbeigeschleppt! O, alle Welt weiß, was für ein tapferer Ritter Ihr seid! Wer sind denn diese Menschen, Don Fernando de Molynares e Colonna?“

„Diese drei Weißen sind Missionare aus der Mormonenstadt, welche nach San Francisco wollen, um Californien zu bekehren.“

„Hilfe, Hilfe! Missionare, welche Kühe stehlen und töten und Vaqueros fressen wollen! Weiter, Don Fernando de Rostredo y Venango!“

„Dieser Schwarze, der grad wie ein Nigger aussieht, ist ein Advokat aus – aus – aus, wo die Feuerländer wohnen. Er will in San Francisco eine Erbschaft erschleichen, Sennora Eulalia!“

„Erschleichen! O, da ist es kein Wunder, daß er auch Kühe und Vaqueros erschleicht! Und der letzte, Don Fernando de Colonna y Gajalpa?“

„Der sieht aus grad wie eine Indiano bravo, ist aber ein Hottentott aus – aus – aus Grönland. Er will die Missionare für Geld sehen lassen, Sennora Eulalia!“

„O! O! O! Was werdet Ihr mit diesen Leuten tun, Don Fernando de Molynares y Gajalpa e Venango?“

„Ich werde sie aufhängen und erschießen lassen. Ruft alle meine Leute herbei, Sennora Eulalia!“

„Alle Eure Leute? Sie sind ja alle da, außer der alten Negerin Betty, und auch die kommt dort geschlichen. Aber, da fällt mir eben ein, daß niemand fehlt, und doch haben diese Männer drei von Euren Vaqueros getötet, Don Fernando e Rostredo de Colonna!“

„Das wird sich schon noch finden, Sennora Eulalia. Macht alle Tore und Türen zu, Sennores, damit die Gefangenen nicht entfliehen können! Ich werde sofort ein strenges Gericht über sie halten.“

Es war nur ein einziges Tor vorhanden; dieses wurde durch einen starken Riegel so fest verschlossen, daß wir den guten Don mit allen seinen Sennores sicher hatten.

„So!“ meinte der Ranchero. „Jetzt bringt mir einen Stuhl herbei; die Pferde, auch die der Gefangenen, werden an die Balken gebunden, und dann können wir beginnen.“

Wir störten die Leute nicht im mindesten in der Vollziehung dieser Befehle; durch die Entfernung der Pferde erhielten wir den nötigen Raum, und natürlich hatten wir nicht die mindeste Angst vor dem zu beginnenden Gerichtsverfahren.

Es wurden aber drei Stühle gebracht. Auf dem mittelsten nahm Don Fernando Platz, und ihm zur Seite setzten sich Sennora Eulalia und Sennorita Alma in ihren vorhin beschriebenen amtsrichterlichen Talaren nieder. Wir selbst hatten uns in eine Gruppe zusammengezogen und wurden von den Vaqueros in das Zentrum genommen.

„Ich werde euch zunächst nach euren Namen fragen,“ begann der Ranchero. „Wie heißest du?“

„Bob,“ antwortete der Neger, an den die Frage gerichtet war.

„Ein richtiger Spitzbubenname. Und du?“

„Winnetou.“

„Winnetou? Ein gestohlener Name, denn so heißt der größte und berühmteste Indianerhäuptling, den es nur geben kann. Und du?“

„Marshall.“

„Siehst du, daß er auch seinen Namen hat!“ schaltete schnell die Sennorita ein, indem sie sich zu ihrer Mutter wandte.

„Ein Yankeename,“ meinte der Ranchero, „und diese taugen alle nichts. Und du?“

„Sans-ear.“

„Auch ein gestohlener Name, denn so heißt ein alter Jäger, der weit und breit als der tapferste Jäger und berühmteste Indianerfeind bekannt ist. Und du?“

„Old Shatterhand.“

„Wieder gestohlen. Ihr seid nicht nur Räuber, sondern auch freche Lügner!“

Ich trat ein wenig vor, so daß ich hart neben den rohen Vaquero zu stehen kam, der Bernard mit dem Lasso geschleift hatte und einen Denkzettel verdiente.

„Wir lügen nicht. Soll ich es Euch beweisen?“

„Beweise es!“

Im Nu fuhr meine geballte Faust dem Vaquero an den Kopf, daß er lautlos niederstürzte.

„Ist diese Faust nicht eine Schmetterhand?“

„Halte mich, Alma; ich falle in Ohnmacht; ich habe die Vapeurs; ich bekomme den Starrkrampf!“ rief Sennora Eulalia, breitete die Arme aus und sank dem guten Don Fernando an das Herz.

Dieser wollte aufspringen, konnte sich aber seiner süßen Bürde, die ihn fest gepackt hielt, nicht entledigen. Er schrie Zeter und Mord, und Sennorita Alma stimmte kräftig ein. Der Mexikaner ist zu Pferde ein sehr guter, zu Fuße aber ein desto schlechterer Kämpfer; die Vaqueros waren von dieser Regel nicht ausgenommen, denn als wir fünf sofort nach meinem Jagdhiebe die Büchsen gegen sie erhoben, gerieten sie sichtlich in Verlegenheit. Ich nahm das Wort:

„Fürchtet Euch nicht, Sennores; es wird Euch kein Leid geschehen, wenn Ihr verständig seid. Wir wollen Euch nur auf einen kleinen Irrtum aufmerksam machen, und dann steht es Euch frei, ganz nach Belieben mit uns zu verfahren.“

Jetzt trat ich etwas näher an die Stühle heran und machte meine tiefste und respektvollste Verbeugung.

„Donna Eulalia, ich bin ein Verehrer der Schönheit und ein leidenschaftlicher Bewunderer der weiblichen Tugenden. Darf ich Euch bitten, zu erwachen und mir einen Blick aus Euren holden Augen zu schenken?“

„Ahhh!“

Mit diesem langgedehnten Seufzer der Erleichterung öffnete sie ihre kleinen Basiliskenaugen und gab ihrem gelben Gesichte einen Ausdruck, welcher schmachtend sein sollte, aber mehr angstvoll und verlegen war.

„Schöne Donna, Ihr habt gewißlich gehört von den cours d’amour, von den Liebeshöfen früherer Zeiten, in welchen die bewundertste der Damen zu Gerichte saß und ein jeder sich ihrem Ausspruche fügen mußte. Das Gericht, welches Don Fernando über uns halten will, kann kein gerechtes sein, da er selbst Partei ist. Wir bitten ihn, seine Gewalt in Eure zarten Hände zu legen, und sind überzeugt, daß Euer Urteil nur den wirklichen Missetäter treffen wird!“

„Ist das wirklich Euer Wunsch, Sennor?“ flötete sie mit einer Stimme, welche genau so klang, als ob ihre Stimmritze zwischen zwei Scheuerbürsten angebracht sei.

„Es ist unser voller Ernst, Donna Eulalia! Zwar sind wir eigentlich nicht in der Lage, einer Dame von Euren Vorzügen unsere Aufwartung zu machen, denn wir befinden uns bereits seit Monaten im wilden Westen; aber die Güte ist ja der schönste Schmuck des weiblichen Geschlechtes, und so hoffen wir, daß Ihr unsere Bitte erhören werdet!“

„Seid Ihr wirklich die Männer, deren Namen Ihr Euch gegeben habt?“

„Wirklich!“

„Hört Ihr es, Don Fernando de Venango y Gajalpa? Diese berühmten Sennores haben mich zur Richterin über sie gesetzt. Ihr wißt, daß ich keinen Widerstand dulde. Seid Ihr’s zufrieden?“

Er machte eine sehr saure Miene, schien aber seiner Donna keineswegs gewachsen zu sein und war wohl auch froh, wieder freien Atem schöpfen zu können.

„Übernehmt das Amt, Sennora Eulalia! Ich bin überzeugt, daß Ihr die Bursche hängen werdet.“

„Je nach ihren Verdiensten, Don Fernando de Colonna e Molynares!“

Dann wandte sie sich zu mir:

„Sprecht, Sennor; ich gebe Euch das Wort!“

Ach setze den Fall, Donna Eulalia, Ihr wäret ein hungriger, müder Reisender und fändet in der Savanne eine Kuh, deren Fleisch Euren Hunger stillen könnte. Dürftet Ihr diese Kuh töten, wenn Ihr das Fell derselben Ihrem Besitzer lassen wolltet?“

„Natürlich; so ist es ja überall der Brauch!“

„Nein, so ist es nicht überall der – – –“ wollte der Ranchero einfallen; sie aber unterbrach ihn schnell:

„Still, Don Fernando! Ich habe jetzt hier zu befehlen, und Ihr dürft nur dann sprechen, wenn ich Euch dazu auffordere!“

Er legte sich mit Resignation in den Stuhl zurück. Auch aus den Mienen der Vaqueros ließ sich schließen, daß Sennora Eulalia die eigentliche Gebieterin des Rancho sei.

„Das war unser ganzes Verbrechen, Donna,“ fuhr ich fort. „Da kam dieser Vaquero, welcher hier am Boden liegt, warf den Lasso über Sennor Marshall, der hier vor Euch steht, und riß ihn mit sich fort. Er hätte ihn getötet, wenn ich das Pferd des Vaquero nicht niedergeschossen hätte!“

„Märshall! Dieser Name ist mir teuer. Ein Sennor Marshall, Allano Marshall, wohnte bei meiner Schwester in San Francisco.“

„Allan Marshall? Vielleicht aus Louisville in den Vereinigten Staaten?“ rief ich verwundert.

„Natürlich, natürlich; dieser und kein Anderer ist es! Kennt lhr ihn?“

„Freilich! Dieser Sennor Bernard Marshall, Juwelier aus Louisville, ist sein Bruder.“

„Santa Lauretta! Ja, das stimmt! Juwelier war er, und er hatte einen Bruder, welcher Bernardo heißt. Alma, dein Herz hat dich nicht getäuscht. Kommt in meine Arme, Sennor Bernardo, denn Ihr seid mir willkommen!“

Dieser plötzliche Freudenerguß entbehrte allerdings ein wenig der Erklärung, und obgleich Bernard hoch erfreut war, so unerwartet eine Kunde vom Gesuchten zu erhalten, zog er es doch vor, nur die Hand der Sennora leise in die Gegend zu bringen, in welcher sich seine Lippen befanden, die Umarmung aber zu unterlassen.

„Ich bin hierher gekommmen,“ meinte er dann, „nur um meinen Bruder zu suchen. Wo befindet er sich jetzt, Donna Eulalia?“

„Alma, meine Tochter, war bei meiner Schwester. Als sie hierher zurückkehren mußte, bereitete er sich vor, nach den Minen zu gehen. Sind diese alle Eure Freunde, Sennor Bernardo?“

„Alle! Ich habe ihnen viel, sehr viel, sogar die Freiheit und das Leben zu verdanken. Dieser Sennor Old Shatterhand hat mich vom Tode des Verschmachtens, aus der Hand der Pfahlmänner und aus der Gefangenschaft der Comanchen befreit.“

Sie schlug aufs neue ihre Hände zusammen.

„Ist’s möglich! Solche Abenteuer habt Ihr erlebt? O, die müßt Ihr uns erzählen! Aber, wie kommt es, daß Ihr ein Mormone seid, und Euer Bruder nicht?“

„Wir sind keine Mormonen, Donna Eulalia! Wir machten nur einen Scherz.“

Schnell drehte sich die Dame zu dem Ranchero herum.

„Hört Ihr’s, Don Fernando de Venango e Gajalpa, sie sind keine Mormonen und keine Räuber und Mörder! Ich spreche sie frei. Sie werden unsere Gäste sein und bei uns bleiben, solange es ihnen gefällt. Alma, laufe schnell in die Küche und hole die Flasche mit Basilikjulep! Wir müssen den Willkomm trinken.“

Bei dem Worte Basilikjulep heiterte sich die Miene des Ranchero augenblicklich auf. Es schien, als ob er nur bei besonders festlichen Angelegenheiten mit dieser Flasche in Berührung käme, und daher war es ihm auch nicht zu verargen, daß er sich freute, unser Erscheinen als eine solche Angelegenheit behandelt zu sehen. Ich erkannte bereits jetzt in dem Julep das beste Mittel zur Versöhnung zwischen ihm und uns.

Sennorita Alma sprang fort – fast möchte ich sagen, daß der Schmutz an ihren Füßen platzte – und kehrte in eben diesem Laufe mit einer großbauchigen Flasche und einem Glase von entsprechender Größe zurück. Wer da weiß, welche elenden Fusel die Yankees unter dem Titel Julep in jene Gegenden bringen, der wird sicher der Überzeugung sein, daß wir von dem Zeuge höchstens genippt, die Damen von demselben gar nicht getrunken haben. In Beziehung auf uns mußte ich ihm Recht geben; von den Damen aber trank jede ihr Glas mit einem Behagen aus, als ob sie Lunel vor sich hätten. Winnetou genoß nicht einen Tropfen, wie er überhaupt niemals Feuerwasser trank. Der Ranchero schenkte sich jedoch so lange ein, bis ihm seine resolute Wirtschafterin die Flasche entriß.

„Nicht zu viel, Don Fernando de Venango c Rostredo y Colonna! Ihr wißt, daß ich nur noch zwei Flaschen von dieser Sorte habe. Führt die Sennores in das Zimmer. Die Damen werden zunächst Toilette machen und dann den Hunger stillen, den ihr Alle gewiß haben werdet. Komm, Alma! A dios, Sennores!“

Die Damen verschwanden in einem Mauerloche, hinter welchem entweder ihre Garderobe oder die Küche, vielleicht auch beides zugleich liegen mußte; wir aber wurden von dem Ranchero in den Raum geleitet, welchen Sennora Eulalia mit dem Namen Zimmer beehrt hatte, der aber anderorts mit dem Worte Tenne bezeichnet worden wäre. Einen Tisch gab es da, einige aus rohen Stangen zusammengenagelte Bänke auch; wir konnten also Platz nehmen. Dabei bemerkten wir, daß sich die Vaqueros sehr eilfertig über unsere Pferde machten, um den Inhalt unserer Satteltaschen zu untersuchen. Ich ging daher hinaus, um den Inhalt mit den Taschen selbst in Sicherheit zu bringen, denn ich kannte die vielbewährte Ansicht, daß der beste Vaquero unbedingt auch der größte Spitzbube ist. Bob mußte bei den Pferden bleiben, um sie bei der Weide, die sie vor dem Tore fanden, zu beaufsichtigen. Er beklagte sich bitter über diese Maßregel.

„Massa jetzt essen viel‘ gut‘ schön‘ Sachen in Zimmer. Warum da Nigger Bob bleiben müssen bei Pferden?“

„Weil du stärker und tapferer bist, als Winnetou und Sans-ear, und ich dir also unsere guten Pferde ruhig anvertrauen kann.“

„Oh, ah, das sein richtig! Bob sein stark und mutig und werden aufpassen, daß Niemand angreifen Pferde!“

Er war zufriedengestellt. In das Zimmer zurückgekehrt, fand ich eine sehr einsilbige Unterhaltung vor, bis endlich die Damen erschienen. Sie waren gegen vorhin jetzt allerdings äußerlich gänzlich umgewandelt und trugen sich wie Damen auf der Alameda zu Mexiko.

Die Kleidung der mexikanischen Damen ist nur hin und wieder die europäisch moderne. Hüte und Hauben sind selbst bei den größten Putznärrinnen etwas Unbekanntes; eine allen gemeinsame Tracht dagegen besteht in dem Rebozo, einem vier Ellen langen Shawl, welcher zugleich als Kopfputz dient. Die Damen tragen ihn in Gesellschaft gewöhnlich über die Schulter gehängt, so ungefähr, wie man ihn bei uns zu tragen pflegt. Wenn man aber ausgehen, nach der Siesta seine Freundinnen besuchen oder abends promenieren will, so wird der Rebozo über den Kopf genommen; er bedeckt nach hinten zu die Frisur, läßt aber das Gesicht frei. Da er nun in der Regel fein und schleierartig ist, so kann er auch als Schleier benützt werden, und in diesem Falle bedeckt er nicht nur den Kopf, das Gesicht und die Schultern, sondern er hüllt die ganze Figur ein.

Der Rebozo einer vornehmen Mexikanerin muß von indianischen Händen gewebt sein – geflochten könnte man vielmehr sagen, und da er die Arbeit zweier Jahre verlangt, so ist der Preis von achtzig Piastern gewiß ein sehr mäßiger. Es gibt übrigens solche, welche das Doppelte dieser Summe kosten.

In solchen Rebozo’s präsentierten sich jetzt unsere zwei Damen. Sie hatten Gesicht und Hände gewaschen; die Füße staken in Strümpfen und Schuhen. Wenn ich sie nicht vorher in ihrem Haus- oder vielmehr Ranchokleide gesehen hätte, würde wenigstens die jüngere einen recht befriedigenden Eindruck hervorgebracht haben.

Sie nahmen am Tische Platz, um die Honneurs zu machen, überließen aber die Beschickung der Tafel bis in das Kleinste der alten Negerin. Auffallend war, daß sie unausgesetzt von Sennor Allano sprachen, und es stellte sich infolgedessen bei mir der Verdacht ein, daß die kleine Sennorita Alma auf den schmucken Juwelier ein wenig Jagd gemacht habe und ihn auch heute noch nicht vergessen könne.

Die Gerichte, welche es gab, waren echt mexikanisch: Rindfleisch mit Reis, der durch spanischen Pfeffer ziegelrot gefärbt war; Mehlspeisen mit Knoblauch, trockene Gemüse mit Zwiebeln, Hammelfleisch, durch gewöhnlichen Pfeffer schwarz gefärbt, junge Hühner mit Zwiebeln und Knoblauch und zuletzt ein Rippenbraten mit spanischem Pfeffer und Zwiebeln und gewöhnlichem Pfeffer und Knoblauch. Mir war der Mund so gepfeffert, der Schlund so gezwiebelt und der Magen so geknoblaucht, daß ich hätte improvisieren mögen:

„Und hab ich das Zeug hinuntergedruckt,
So ist’s mir ganz zum Verzweifeln,
Als hätt‘ ich die Hölle hinuntergeschluckt
Mit Millionen von Teufeln.“

Die zarten Damen indessen waren weniger empfindlich als Old Shatterhand und steigerten den Genuß durch fleißige Schlücke Basilikjulep, denen dann die unvermeidliche Zigarette folgte, und damit unser Bob nicht zu kurz kam, mußte ihm einer der Vaqueros auf einer alten, abgetretenen Strohmatte seine Portion hinaus zu den Pferden tragen, zu welcher auch ein Julep gehörte, der in einer leeren Pomadebüchse beigefügt wurde. Vielleicht verwandelte sich der Fusel unterwegs mit den in der Büchse noch befindlichen kosmetischen Resten in eine heilsame und empfehlungswerte Karfunkelsalbe!

Von einer Fortsetzung unserer Reise war für heute keine Rede. Sennorita Alma kam nicht von der Seite meines guten Bernard fort, und ich unglückseliger Westmann hatte meine wohlberechnete Höflichkeit mit der unzertrennlichen Gesellschaft der Sennora Eulalia zu büßen. So sehr sich diese bei ihrem ersten Auftreten – gut bayerisch gesprochen – als eine echte Zuwiderwurzen gezeigt hatte, so viele Liebenswürdigkeit träufelte jetzt aus jedem ihrer Worte. Ich avancierte in ihrer Titulatur von Old Shatterhand über Sennor Carlos zu Don Carlos, und als Bernard seine Schicksale erzählte, erlitt ich eine schnelle Metamorphose zum braven und wackeren Carlos. Schließlich, als wir uns von der Tafel erhoben, fragte sie ihren lieben Carlos, was er seiner Braut als Reiseandenken mit nach Deutschland nehmen werde. Ich konnte natürlich diese so schlau versteckte Erkundigung nicht mit einer Unwahrheit beantworten und sagte ihr, daß ich nicht das mindeste Recht habe, ein Souvenir de voyage mitzubringen, da ich in den Personalstandsregistern als eine ledige Mannsperson zu verzeichnen sei. Um sie ihren häuslichen Pflichten nicht weiter zu entziehen, teilte ich ihr mit, daß ich unsere Pferde inspizieren müsse, und ging hinaus zu Bob.

Dieser lag mit seinem Bauche auf der Erde, machte mit Händen und Füßen allerlei mir unverständliche Bewegungen und stieß dabei so fabelhafte Töne aus, daß es mir schien, als studiere er auf einem javanesischen Anklong die Richard Wagnersche Zukunftsmusik.

„Bob!“

Bei diesem Rufe hob er den Kopf empor.

„Oh Massa – Massa – Massa!“

„Was gibt es?“

„Oh, oh, oh, Massaaaah! Bob haben essen all‘ ganz‘ Zeug, und nun brennen Feuer in Bob, als sein Bob ein Ofen. Massa helfen Bob, sonst sterben Bob!“

Das waren die Folgen von Doppelpfeffer, Zwiebeln und Knoblauch! Auch die Pomadebüchse war vollständig leer. Hier war schnelle Hilfe notwendig, denn der brave Bob schnitt ein Gesicht, als ob er bereits im Sterben liege.

„Du mußt etwas trinken, das die Schmerzen stillt, sonst bist du verloren, mein armer Bob! Was hältst du für besser: Milch, Wasser oder Basilikjulep?“

Er schnellte sich empor und blickte mir mit dankbarer, verständnisinniger Miene in mein höchst besorgtes Angesicht.

„Massa, oh, ah, Milch und Wasser nicht helfen; bloß Julep können retten arm‘ Nigger Bob!“

„So laufe schnell hinein zu Donna Eulalia, und sage ihr, daß du sterben mußt, wenn du nicht augenblicklich Basilikjulep bekommst!“

Er rannte spornstreichs davon und kehrte wirklich nach einiger Zeit mit – ich erstaunte, als ich es sah – mit einer halben Flasche Julep zurück; er hatte den Rest des ganzen Vorrats erhalten.

„Miß Eula‘ nicht wollen geben Julep, aber Bob sagen, daß haben schicken Massa Charley, dann geben Miß Eula‘ gleich her ganz Julep!“

„So trink; er wird helfen!“

Das Abendessen wurde wieder im Zimmer eingenommen. Die Sennora saß neben mir. Während der Unterhaltung raunte sie mir zu:

„Don Carlos, ich habe Euch ein Geheimnis zu offenbaren!“

„Welches?“

„Nicht hier! Kommt gleich nach Tische zu den drei Platanen draußen!“

Ein Stelldichein! Ich durfte es ihr nicht abschlagen, da immerhin die Möglichkeit vorhanden war, daß sie mir eine beachtenswerte Mitteilung zu machen hatte. Während der Mahlzeit waren die Pferde in den Hof hereingeschafft worden, doch fand ich das Tor noch offen. Ich ging hinaus und streckte mich unter den Platanen nieder. Ich mußte mich aber aus dieser bequemen Lage sehr bald erheben, denn Eulalia ließ nicht lange auf sich warten. Sie begann:

„Don Carlos, ich danke Euch! Ich mußte Euch um diese Unterredung bitten, weil ich Euch ein Geheimnis mitzuteilen habe. Ich hätte die Sache auch Andern sagen können, aber ich habe just Euch allein gewählt, weil – –“

„Weil wir nebeneinander saßen und Ihr mich also am allerleichtesten hierherbescheiden konntet, nicht wahr, Donna Eulalia?“

„Allerdings! Nämlich: Sennor Bernardo erzählte von zwei Räubern, welche Ihr verfolgt. Diese sind hier auf unserm Rancho gewesen.“

„Ah! Wann?“

„Sie gingen vorgestern früh wieder fort.“

„Wohin?“

„Über die Sierra Nevada nach San Francisco. Ich sprach viel mit ihnen von Sennor Allano, und sie wollen ihn besuchen.“

Das war allerdings eine mir wertvolle Mitteilung, und ich erriet sehr leicht den ganzen Zusammenhang. Die Sennora sprach mit jedermann gern von Allan; sie hatte ihn auch gegen die Morgans erwähnt, und von diesen war die treffliche Gelegenheit, sich an Bernard zu rächen und seinen jedenfalls mit bedeutenden Mitteln ausgerüsteten Bruder zu berauben, sofort mit Freuden ergriffen worden.

„Wißt Ihr genau, daß es diese Beiden waren, Donna Eulalia?“

„Sie waren es, denn alles stimmt, obgleich sie andere Namen nannten.“

„Ihr seid von ihnen über Eure Schwester und Sennor Allan sehr genau ausgefragt worden?“

„Ja. Ich mußte ihnen sogar ein Zeichen mitgeben, daß sie bei mir gewesen waren.“

„Worin bestand dieses Zeichen?“

„Aus einem Briefe, den mir der Mann meiner Schwester einmal nach San Jose schrieb.“

„Lebt dieser noch?“

„Ja. Es ist der Besitzer vom Hotel Valladolid in der Sutterstreet und heißt Henrico Gonzalez.“

„Seit wann ist Sennorita Alma von ihm fort?“

„Seit drei Monaten.“

„Wollt Ihr mir einmal die Beiden, welchen Ihr diesen Brief gegeben habt, recht genau beschreiben?“

Sie tat es, und ich gewann die Überzeugung, daß es allerdings die beiden Morgans gewesen waren. Sie hätte diese Mitteilung ganz offen bei Tafel machen können, doch konnte ich ihr bei der Wichtigkeit ihrer Mitteilung nicht zürnen, daß sie mir Veranlassung zu dem gegenwärtigen kleinen Spaziergang gegeben hatte. Darum dankte ich ihr verbindlichst, worauf sie wieder dem Tore zuschritt.

Als auch ich ein wenig später in das Zimmer trat, war ich bereits erwartet worden. Die Gefährten wollten sich zur Ruhe legen, und es sollte die Wache ausgelost werden, da wir diese Maßregel selbst hier im Rancho für notwendig hielten. Als dies geschehen war, suchten wir unser Lager auf.

Um die Beschaffenheit desselben beurteilen zu können, muß man mit dem Innern eines Rancho bekannt sein. Ein solches Gebäude hat meist nur einen einzigen wirklichen Wohnraum, denjenigen, welchen Sennora Eulalia Zimmer genannt hatte. Hier wohnt und schläft Alles, was zum Hause gehört, nebst den etwaigen Gästen in patriarchalischer Weise beisammen. Unter – was zum Hause gehört – sind oft auch die milchenden Kühe, zugerittenen Pferde, Schafe, Schweine, Hühner, Hunde und Katzen gemeint. Der Boden besteht aus steinfest geschlagenem Lehm, und auf demselben ist etwas Gras oder Moos ausgebreitet, welches ein permanenter Aufenthaltsort von Skorpionen, Spinnen, Tausendfüßen und anderem Gewürm ist und des Nachts als Unterbett gebraucht wird. Der Poncho dient dabei als Decke.

So war es auch in unserem Rancho. Don Fernando de Venango, Sennora Eulalia, Sennorita Alma, die alte Negerin, sämtliche Vaqueros und endlich auch wir lagen dicht nebeneinander wie in einer deutschen Herberge, in welcher man für drei Pfennige das Recht erhält, auf der Streu zu schlafen und sich der Lehne eines umgelegten Stuhles als Kopfkissen zu bedienen. Ich hätte mir lieber draußen im Freien einen Platz gesucht, durfte aber diesen Verstoß gegen die Gastpflichten nicht wagen, da hierin eine außerordentliche Beleidigung gelegen hätte.

Am andern Morgen brachen wir auf, gefolgt von den freundlichen Wünschen aller Bewohner des Rancho; selbst der Vaquero, welchen ich niedergeschlagen hatte, mußte uns – Sennora Eulalia zu Gefallen – wohl oder übel eine glückliche Reise wünschen.

Don Fernando de Venango e Colonna de Molynares de Gajalpa y Rostredo begleitete uns eine bedeutende Strecke Weges zu Pferde und kehrte erst gegen Mittag wieder um. Er schien die Mormonenmissionare ungern scheiden zu sehen, trotzdem er durch sie um seinen ganzen Basilikjulep gekommen war.

Infolge der geheimnisvollen Mitteilung Sennora Eulalias brauchten wir unsern früheren Reiseplan nicht streng einzuhalten, und als wir den Mono-See erreichten, hielten wir dort eine viel kürzere Rast, als vorher geplant gewesen war; unsere Pferde hatten ja im Rancho beinahe einen vollen Tag ausgeruht.

Dann ging es in raschen Tagemärschen über die Sierra Nevada, hinab nach Stockton und endlich von da nach San Francisco, dem Ziele unserer Wanderung.

Die Stadt liegt auf der äußersten Spitze einer Landzunge, hat das große Weltmeer im Westen, die herrliche Bai im Osten und den Eingang zu dieser Bai im Norden. Der Hafen von San Francisco ist vielleicht der schönste und sicherste der Erde und hat zugleich eine Ausdehnung, welche gestatten würde, die Flotten aller Länder darin zu versammeln. Allüberall sieht man das geschäftigste Treiben, ein unbeschreiblich wirres Durcheinanderlaufen der buntesten Bevölkerung, die man sich nur vorstellen kann. Zu den Europäern aller Nationalitäten gesellen sich die wilden oder halbzivilisierten Rothäute, welche ihr Wild hier zu Markte bringen und dafür vielleicht zum erstenmal einen Preis erhalten, der nicht geradezu ein betrügerischer genannt werden kann. Hier geht der stolze, malerisch gekleidete Mexikaner neben dem schlichten Schwaben, der langweilige Engländer neben dem beweglichen Franzosen; der indische Kuli im weißen Baumwollenkleide begegnet dem schmutzigen polnischen Juden, der elegante Dandy dem rauhen Hinterwäldler, der handelnde Tiroler dem Goldsucher, dessen Haut gebräunt, dessen Haar ungekämmt und unter dessen wirrem Barte alles verschwunden ist, was man gewöhnlich mit dem Ausdruck Physiognomie zu bezeichnen pflegt. Hier ist zu treffen der Mongole aus den Hochebenen Asiens, der Parsi aus Kleinasien oder Indien, der Malaie der Sunda-Insel und der Chinese vom Strande des Yang-tse-kiang.

Diese Söhne aus dem Reiche der Mitte bilden den hervorragendsten fremdländischen Typus der hiesigen Bevölkerung. Sie scheinen alle samt und sonders über einen Kamm geschoren und über einen Leisten geschlagen zu sein. Bei allen ist die Nase kurz und gestülpt; bei allen ragt der Unterkiefer über den Oberkiefer hervor; alle haben die häßlich aufgeworfenen Lippen, die eckig hervorstehenden Backenknochen, die schief geschlitzten Augen, die nämliche Gesichtsfarbe, bräunlich grün ohne alle Schattierung, ohne eine Spur von dunklerer Färbung der Wangen, hellerer Farbe der Stirne; überall sieht man in den häßlichen, nichtssagenden Zügen den Ausdruck, den man mit dem Worte leer bezeichnen möchte und der infolgedessen nicht einmal ein Ausdruck wäre, wenn nicht aus den zugeblinzten Augen ein Etwas blickte, welches sie alle kennzeichnet: die List.

Die Chinesen sind die fleißigsten, man möchte sagen, die einzigen Arbeiter San Franciscos. Diese kleinen, runden, wohlgenährten und dabei doch außerordentlich beweglichen Gestalten besitzen eine seltene Anlage für alle nur erdenkliche Art von Verrichtung und besonders eine ebenso große Fertigkeit in allen erdenklichen Arbeiten, bei denen es auf Geschicklichkeit der Hände und auf Geduld ankommt. Sie schnitzen in Elfenbein oder Holz, drechseln in Metall, sticken auf Tuch, Leder, Baumwolle, Leinen und Seide; sie stricken und weben, zeichnen und malen, klöppeln und posamentieren; sie flechten die scheinbar unschmiegsamsten Dinge zusammen und bringen seltsame, bewundernswerte Arbeiten hervor, die ihnen die Kundschaft aller Kuriositätensammler sichern.

Dazu kommt, daß sie bescheiden sind und mit dem kleinsten Profit fürlieb nehmen. Sie fordern zwar unverschämt, aber man weiß, daß sie mit sich handeln lassen und zuschlagen werden, wenn man ihnen ein Drittel oder gar ein Viertel ihrer Forderung bietet. Auch der Taglohn, welchen man ihnen zahlt, ist geringer, als derjenige, den man einem Weißen gibt; allein derselbe ist doch noch zehnmal höher, als in ihrem Vaterlande, und da sie wenig ausgeben, weil sie über alle Begriffe genügsam und sparsam leben, so kommen sie sehr gut voran. Die sämtlichen kleinen Handwerke sind in ihren Händen, und sowohl die Wäsche, als auch die Bedienung des Hauses und der Küche wird von ihren Weibern besorgt.

Aber nicht bloß die Chinesen sind tätig, sondern fabelhaft ist überhaupt die Geschäftstätigkeit aller Bewohner der Stadt. Die Leute haben alle nur einen Zweck: sie wollen Geld verdienen, und zwar möglichst viel und schnell. Alle wissen, daß Zeit Geld ist, und daß, wer den Andern aufhält, sich selbst hinderlich ist. Aufgehalten aber will Niemand sein, und darum geht stets alles ohne Stockung ab. Jeder bemüht sich so viel wie möglich, dem Andern aus dem Wege zu gehen, um für sich selbst freie Bahn zu haben.

So ist es in den Häusern und Höfen, so ist es auch auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Die blasse, schmächtige Amerikanerin, die stolze, schwarzäugige Spanierin, die blonde Deutsche, die elegante Französin, die farbigen Damen alle, sie gehen, schweben, eilen, trippeln hin und her; der reiche Bankier mit Frack, Handschuh und Zylinder trägt in der einen Hand einen Schinken und in der andern einen Gemüsekorb; der Ranchero schwingt ein Netz mit Fischen über die Schulter, um damit den Festtag zu feiern; ein Milizoffizier hält einen gemästeten Kapaun gefangen; ein Quäker hat einige mächtige Hummern in die gleich einer Schürze aufgerafften Schöße seines langen Rockes verpackt – und das alles bewegt sich neben-, vor-, hinter- und durcheinander, ohne sich zu stören.

Wir kamen bei unserem Einzuge in die Metropole des Goldlandes unbehelligt und unbelästigt durch dieses Gewimmel und Getümmel bis in die Sutterstreet, wo wir sehr bald das Hotel Valladolid fanden. Es war ein Hotel im californischen Stile und bestand aus einem langen, tiefen und einstöckigen Brettergebäude, ganz ähnlich den Eintags-Trinkbuden, welche man auf unseren Schützenfesten findet.

Wir übergaben unsere Pferde dem Horsekeeper, welcher sie in einen kleinen Schuppen brachte; wir selbst aber traten in die Gaststube, die trotz ihrer ungeheuren Größe doch so voll war, daß wir kaum einen Tisch für uns zu erobern vermochten. Ein Barkeeper hatte uns bemerkt und kam herbei. Wir bestellten – jeder nach seinem Appetite, und als das Verlangte gebracht wurde, begannen auch sofort meine Erkundigungen:

„Ist Master oder Sennor Henrico Gonzalez zu sprechen?“

Yes, Sir. Wünscht Ihr ihn?“ lautete die Antwort.

„Ja, wenn ich bitten darf!“

Ein hoher, ernster Spanier kam auf uns zu und stellte sich als Sennor Henrico vor.

„Könnt Ihr uns nicht sagen, ob ein gewisser Allan Marshall noch bei Euch boardet?“ fragte ich ihn.

„Weiß nicht, Sennor; kenne ihn nicht; kenne keinen; bekümmere mich überhaupt ganz und gar nicht um die Namen meiner Gäste. Das gehört zum Ressort der Sennora.“

„Ist diese zu sprechen?“

„Weiß auch nicht. Müßt einmal eins der Mädchen fragen!“

Damit wandte er sich ab. Er schien zur Sennora in ganz demselben Verhältnisse zu stehen, wie der Ranchero Fernando de Venango zu Donna Eulalia, ihrer Schwester. Ich erhob mich also und steuerte derjenigen Himmelsrichtung zu, aus welcher sich ein höchst einladender Bratenduft über das ganze Etablissement verbreitete. Dabei traf ich wirklich auf eine kleine, schlanke Frauensperson, welche mit irgend etwas in der Hand vorbeihuschen wollte. Ich ergriff sie beim Arm und hielt sie fest.

„Wo ist die Sennora, meine Kleine?“

Ihre dunklen Augen blitzten mich zornig an.

Vous êtes un âne!“

Aha, eine Französin! Sie riß sich höchst indigniert los und eilte fort. Ich steuerte weiter. An der Ecke eines Tisches traf ich mit einer zweiten Hebe zusammen.

„Mademoiselle, wollen Sie mir wohl sagen, ob die Sennora zu sprechen ist?“

I am not mademoiselle!

Weg war sie. Also eine Engländerin oder Amerikanerin!

Aber wenn ich so der Reihe nach alle Nationalitäten durchzugehen hatte, ehe ich zu meiner Sennora gelangen konnte, so kam ich vor abends nicht zu ihr! Doch da drüben stand eine, die mir mit den Augen folgte und – ja wirklich, dieses Gesicht mußte ich schon gesehen haben! Ich stach von neuem in See und hielt direkt auf sie zu; aber noch hatte ich sie nicht ganz erreicht, so schlug sie die Hände zusammen und sprang auf mich los, als ob sie es darauf abgesehen habe, mich in den Sand zu rennen.

„Herr Nachbar, ist’s möglich? Fast hätte ich Sie gar nicht erkannt, so einen Bart lassen Sie sich hier stehen!“

„Alle Wetter! Gustel, Ebersbachs Gustel! Beinahe hätte auch ich Sie nicht erkannt, so herausgewachsen sind Sie! Aber wie kommen Sie von daheim herüber nach Amerika, nach Californien?“

„Die Mutter starb, kurz nachdem Sie wieder einmal in alle Welt gegangen waren; da kam ein Agent, und der Vater ließ sich bereden. Es ging anders, als er dachte. Er ist jetzt mit den Brüdern da oben, wo so viel Gold liegen soll, und hat mich hier gelassen, wo ich es gut habe und warten werde, bis sie zurückkehren.“

„Wir werden uns noch weiter sprechen; jetzt aber sagen Sie mir einmal, wo die Sennora zu finden ist! Ich habe zwei Ihrer Kolleginnen nach ihr gefragt und nur Grobheiten als Antwort erhalten.“

„Das ist leicht erklärlich, denn die Madame darf nur Donna genannt werden, am liebsten Donna Elvira.“

„Werde es beherzigen! Also, ist sie zu sprechen?“

„Ich will einmal nachsehen. Wo sitzen Sie?“

„Dort am zweiten Tische.“

„Gehen Sie hin; ich werde Sie benachrichtigen, Herr Nachbar!“

Das war wieder eines jener wunderbaren Zusammentreffen, deren ich so viele zu verzeichnen habe. Ihr Vater und der meinige waren Nachbarn und beide hatten sich gegenseitig Gevatter gestanden. Jetzt stak der alte Tischlermeister droben in den Goldminen; seine beiden Söhne, von denen der ältere mein Schulkamerad war, befanden sich bei ihm, und im ersten Wirtshause, welches ich hier in San Francisco betrat, mußte ich seine jüngste finden, die Gustel, die mir, als ich sie noch auf den Armen trug, immer das dicke, dichte Haar zerzauste, daß es kerzengerade in die Höhe stand. Dann lachte sie und pinselte mir mit dem kleinen Näschen im Gesicht herum – ich hätte damals nicht gedacht, daß wir uns einmal in Californien sehen würden!

Sie kam bereits nach kurzer Zeit zu mir.

„Die Sennora will Sie sehen, obgleich sie eigentlich jetzt ihre Sprechstunde nicht hat.“

„Sprechstunde? Eine Wirtin?“

Gustel zuckte die Achsel.

„Sie hat sie aber, und zwar täglich zweimal: morgens von elf bis zwölf und nachmittags von sechs bis sieben. Wer außer dieser Zeit kommt, muß warten, wenn er nicht gut empfohlen ist.“

„Aha, danke schön!“ lachte ich. „Man glaubt gar nicht, was eine freundliche Nachbarin zu bedeuten hat!“

„Nicht wahr? Na, da kommen Sie!“

Die Sache hatte ganz den Anstrich, als ob ich eine Audienz bei einer hervorragenden politischen oder sonstigen Größe haben sollte. Ich wurde in einen anstoßenden kleinen Raum geführt, welcher ganz à la Vorzimmer ausgestattet war, und in dem ich nach Gustels Weisung so lange warten sollte, bis hinter der daselbst befindlichen Portière eine Klingel ertönen werde.

Das war höchst interessant, zumal ich beinahe eine halbe Stunde warten mußte, bis das Zeichen gegeben wurde. Ich trat ein und befand mich in einem Zimmer, welches mit einer Sammlung von allen möglichen Mobiliar- und Ausstattungsgegenständen förmlich überladen war. Donna Elvira mußte unbedingt ein Zimmer haben, ein schön und reich möbliertes Zimmer, und sie hatte es sich auch möbliert und ausgestattet, daß man von der Wand nicht die Breite eines Zolls zu finden vermochte. Sie saß auf einem Sofa, sich mit der Hand auf eine Landkarte stützend, welche über die Seitenlehne herunter hing; auf ihrem Schoße lag eine Guitarre, neben ihr eine angefangene Stickerei, und vor ihr stand eine Staffelei, nota bene zwischen ihr und dem Fenster, so daß von Licht keine Rede war, und auf dem aufgeklebten weißen Bogen bemerkte ich zwei angefangene Skizzen; die eine sollte, wenn ich nicht irre, den Kopf eines Katers oder einer alten Frau vorstellen, der die Morgenhaube noch fehlte; und die andere war jedenfalls eine zoologische, nur konnte ich den Gegenstand nicht so recht klassifizieren. Entweder sollte diese Zeichnung einen Pottwal in homöopathischer Verdünnung oder einen Bandwurm in hydrooxigengas-mikroskopischer Verdickung darstellen.

Ich verbeugte mich sehr tief und sehr devot. Sie schien dies nicht zu bemerken, sondern hielt ihr Auge starr auf einen Punkt des Plafond gerichtet, an welchem ich nicht das Mindeste entdecken konnte. Plötzlich aber warf sie den Kopf mit einem schnellen Ruck herum und fragte:

„Wie weit ist der Mond von der Erde entfernt?“

Diese Frage überraschte mich nicht; ich hatte eine solche Extravaganz erwartet. Aber – kommst du mir so, so komme ich dir so:

„Zweiundfünfzigtausend Meilen, nämlich Montags; Sonnabends aber, in der Erdnähe, nur fünfzigtausend.“

„Richtig!“

Sie studierte den betreffenden Punkt von neuem; dann erfolgte derselbe plötzliche Ruck zu mir herum, und sie fragte:

„Woraus werden die Rosinen gemacht?“

„Aus, Weintrauben!“

„Sehr richtig!“

Der unglückliche Punkt mußte zum dritten Mal herhalten, dann schleuderte sie mir die Frage entgegen:

„Was ist Poil de chivre?!“

„Ein Kleiderstoff, fünfzehn Ellen für den Escudo d’oro, wird aber jetzt nicht mehr viel getragen.“

„Richtig! Und nun seid mir willkommen, Sennor! Augusta bat mich um meine Gunst für Euch; ich bin aber damit nicht sehr verschwenderisch und pflege jeden, der sich um dieselbe bewirbt, einem Examen zu unterwerfen. Ihr Deutschen seid wegen eurer Gelehrtheit bekannt, darum habe ich Euch aus verschiedenen Gebieten des menschlichen Wissens die schwierigsten Fragen hervorgesucht, und Ihr habt trefflich bestanden, obgleich Ihr eher das Aussehen eines Bären als eines Gelehrten habt. Aber Augusta sagte mir, daß Ihr viele Schulen besucht und alle Länder und Völker kennen gelernt habt; setzt Euch nieder, Sennor!“

„Danke, Donna Elvira de Gonzalez,“ antwortete ich, sehr bescheiden auf der Ecke eines Stuhles Platz nehmend.

„Ihr wünscht in meinem Hause zu logieren?“

„Ja.“

„Ihr dürft es, denn Ihr seid ein sehr höflicher Mann, wie ich sehe, und auch Euer Äußeres wird ein anständigeres werden, wenn Ihr Euch ein wenig Mühe gebt. Wart Ihr in Spanien?“

„Ja.“

„Was sagt Ihr zu dieser Karte, die ich über mein Vaterland entworfen habe?“

Sie reichte mir das Blatt hin. Es war durch Seidenpapier nachgezeichnet und zwar nach einem schlechten Originale.

„Sehr genau, Donna Elvira de Gonzalez!“

Sie nahm mein Lob als ein höchst selbstverständliches entgegen.

„Ja, wir Damen haben uns endlich emanzipiert, und unser größter Triumph ist es, in die Tiefen der Wissenschaft einzudringen und es auch in den schönen Künsten den Männern zuvorzutun. Seht Euch diese beiden Gemälde an; sie sind unübertrefflich in der Grandiosität des Objektes. Diese Feinheit der Linien, diese Schattierung, dieser Reflex des Lichtes! Ihr seid ein Kenner, aber dennoch muß ich Euch prüfen. Was stellt hier dieses vor?“

Ich hätte eine schmähliche Niederlage erlitten, wenn mir nicht die Grandiosität des Objektes einen deutlichen Fingerzeig gegeben hätte. Darum antwortete ich mit kalter Verwegenheit:

„Die Seeschlange natürlich!“

„Richtig! Zwar hat sie noch Niemand deutlich gesehen, aber wenn der Geist des Forschers Räume mißt, in die er niemals eindringen kann, so ist es auch dem Auge des Künstlers gegeben, Gestalten zu erfassen, die er noch nicht erblicken konnte. Und diese Zeichnung?“

„Ist der Gorilla des berühmten Du Chailly.“

„Richtig! Ihr seid der gelehrteste Mann, der mir vorgekommen ist, denn noch keiner hat vor Euch die Seeschlange und den Gorilla sofort erkannt; Ihr seid zu jeder akademischen Würde reif!“

Der gerechte Stolz, den diese Anerkennung in mir erweckte, hatte beinahe dieselbe Wirkung wie der Knoblauch und die Zwiebeln der guten Donna Eulalia. Deren geniale Schwester zeigte auf den Tisch, der am Eingange stand.

„Ich beherrsche auch mein Haus, ohne in nähere Berührung mit den materiellen Dingen der Wirtschaft zu kommen. Dort ist Tinte, Feder und das Buch. Schreibt Euren Namen ein!“

Ich tat es und fragte darauf:

„Darf ich vielleicht auch gleich die Namen meiner Gefährten eintragen?“

„Ihr habt Gefährten?“

„Ja.“

„Wer sind sie?“

Ich fing bei den Farbigen an:

„Bob, mein schwarzer Diener.“

„Natürlich, denn ein Mann, der meine Seeschlange auf den ersten Blick erkennt, kann nur mit Domestiken reisen, Aber diese trägt man nicht ein. Weiter!“

„Winnetou, der Häuptling der Apachen.“

Sie machte eine Bewegung der Überraschung.

„Der berühmte Winnetou?“

„Derselbe!“

„Den muß ich sehen; den stellt Ihr mir vor! Schreibt ihn ein!“

„Sodann ein gewisser Sans-ear, der – – –“

„Der Indianertöter?“

„Ja.“

„Tragt ihn ein, tragt ihn ein! Ihr reist ja in ganz außerordentlicher Gesellschaft. Weiter –“

„Der vierte und letzte ist ein Master Bernard Marshall, Juwelier aus Louisville, Kentucky.“

Jetzt wäre sie beinahe von ihrem Sitze aufgesprungen.

„Was Ihr da sagt! Ein Juwelier Marshall aus Louisville!“

„Er hat einen Bruder, Namens Allan, welcher so glücklich war, bei Euch logieren zu dürfen, Donna Elvira de Gonzalez.“

„So vermutete ich also richtig! Schreibt auch ihn sofort ein Sennor! Ihr sollt den besten Schlafraum haben. Zimmer gibt es natürlich im Hotel Valladolid nicht, aber Ihr sollt dennoch mit meinem Hause vollständig zufrieden sein, und für heute abend seid ihr Alle in mein Privatspeisezimmer zur Tafel geladen!“

„Danke, Donna Elvira! Ich gebe Euch die Versicherung, daß ich eine solche Auszeichnung sehr wohl zu schätzen weiß. Ich pflege die Erfahrungen, welche ich mir auf meinen Reisen sammle, im Drucke der Öffentlichkeit zu übergeben und werde nicht unterlassen, Hotel Valladolid sehr warm zu empfehlen.“

„Tut dies, Sennor, obgleich ich mir Eure Erscheinung nicht gut beim Schreibtische denken kann. Habt Ihr vielleicht eine Bitte? Ich werde sie Euch gern erfüllen!“

„Eine Bitte nicht, aber eine Erkundigung möchte ich mir gestatten.“

„Welche?“

„Allan Marshall wohnt nicht mehr bei Euch?“

„Nein. Er hat mein Haus vor wohl drei Monaten verlassen.“

„Wohin ging er?“

„Nach den Diggins am Sacramento.“

„Erhieltet Ihr einmal Nachricht von ihm?“

„Ja, einmal. Er gab mir den Platz an, wohin ich ihm etwaige Briefe nachsenden sollte.“

„Könnt Ihr Euch desselben entsinnen?“

„Sehr gut, denn der Betreffende ist ein Bekannter meines Hauses. Master Holfey, Yellow-water-ground, ein Kaufmann, bei dem die Goldsucher alles bekommen können.“

„Sind seit seiner Abreise von hier Briefe an Allan angekommen?“

„Einige, die ich ihm stets mit der nächsten Gelegenheit nachgeschickt habe. Und dann – ja, kürzlich waren zwei Männer da, welche nach ihm fragten – Geschäftsfreunde, die notwendig mit ihm zu verhandeln hatten; auch ihnen habe ich seine Adresse gegeben.“

„Winn sind sie fort?“

„Wartet einmal, ja – gestern früh ritten sie fort.“

„Es war ein Älterer und ein Jüngerer?“

„Allerdings. Sie schienen Vater und Sohn zu sein. Sie waren mir von meiner Schwester empfohlen, bei welcher sie Gastfreundschaft genossen hatten.“

Ich nickte und sagte:

„Ihr meint den Rancho von Don Fernando de Venango e Colonna de Molynares de Gajalpa y Rostredo!“

„Was, Ihr kennt diesen Mann?“

„Sehr gut, und ebenso auch Eure Schwester Donna Eulalia, bei welcher wir gewesen sind, ohne daß ich sie gebeten habe, mir einen Brief als Legitimation mitzugeben.“

„Ist das möglich? Erzählt, Sennor, erzählt!“

Ich stattete ihr den gewünschten Bericht ab, wobei ich allerdings nicht an allzu großer Offenherzigkeit litt. Sie hörte mir mit regem Interesse zu und meinte, als ich fertig war.

„Ich danke Euch, Sennor! Ihr seid der erste Deutsche, welcher mit einer spanischen Donna in der rechten Weise zu verkehren versteht. Ich freue mich auf das heutige Souper und werde Euch zeitig benachrichtigen lassen. A dios!“

Ich tat eine ehrfurchtsvolle Verbeugung, welche mit meinem äußeren Habitus gewiß in lebhaftem Zwiespalt gestanden hat, und bewegte mich rückwärts zur Portière hinaus. Als ich in die Gaststube trat, richteten sich die Blicke der bedienenden Geister mit sichtbarer Achtung auf mich. Gustel Ebersbach war gleich vorhanden und kam eilig herbei.

„Nein, Herr Nachbar, sind Sie ein Glückskind! So lange hat noch kein Mensch Audienz bei der Donna gehabt, nicht einmal halb so lang. Sie müssen ihr sehr gefallen haben!“

„Im Gegenteile!“ erwiderte ich lachend. „Sie will mich nur unter der Bedingung hier behalten, daß ich mich bessere. Sie meinte, ich sähe leibhaftig wie ein Bär aus.“

„Hm, so ganz unrecht hat sie nicht; aber da kann ich helfen. Ich werde Sie hinauf in meine Kammer führen und Ihnen alles besorgen, was Sie brauchen: Rasierzeug, Wasser, Seife, alles, alles!“

„Das wird nicht nötig sein, denn wir werden bald unser Logis angewiesen bekommen.“

„Glauben Sie das nicht. Die Befehle in Beziehung der Logis habe ich erst Punkt acht zu holen, keine Minute eher.“

„Wir sollen das beste Logis bekommen, sagte die Donna. Wo wird das sein?“

„Die Logiments sind allesamt droben unter dem Dache. Sie werden also denjenigen Verschlag erhalten, welcher sich durch die frischeste Luft auszeichnet.“

In diesem Augenblick ertönte der laute Schall einer Glocke.

„Das ist sie, Herr Nachbar. Ich muß hinein, denn wenn sie zur ungewöhnlichen Zeit ruft, muß etwas passiert sein.“

Sie eilte davon, und ich setzte mich zu den Gefährten, welche, trotzdem hier in San Francisco das Erscheinen eines Westmannes oder Indianers etwas ganz Gewöhnliches ist, dennoch die Blicke auf sich zogen. Besonders war es die majestätische Gestalt und das ganze charaktervolle Äußere Winnetous, welches die Aufmerksamkeit erregte, und daß Sam, dem Kleinen, die Ohren fehlten, mußte einen jeden zu der Überzeugung bringen, daß er Manches erlebt haben müsse, was keinem von ihnen widerfahren war.

„Nun?“ fragte Bernard.

„Er ist bereits vor drei Monaten fort und hat nur ein einzigesmal vom Yellow-water-ground Nachricht von sich gegeben. Eure Briefe sind ihm dahin nachgeschickt worden.“

„Wo ist dieser Ort?“

„Es ist, so viel ich mich besinne, ein Nebental des Sacramento, in welchem viel Gold gefunden worden ist. Es soll dort von Diggers förmlich gewimmelt haben, jetzt aber scheinen sie sich noch weiter am Flusse hinaufgezogen zu haben.“

„Hat er hier irgend etwas deponiert?“

„Habe wirklich Donna Elvira nicht danach gefragt.“

„Müssen sie aber dennoch danach fragen!“

„Dazu wird sich bald die Gelegenheit geben. Wir sind nämlich Alle zum Souper geladen.“

„Ah, das ist freundlich! Übrigens werde ich mich bei unserm Bankhause erkundigen, ob er dagewesen ist.“

Jetzt kam meine freundliche Nachbarin auf uns zu.

„Herr Nachbar, ich wurde Ihretwegen gerufen. Das Souper ist um neun, und Ihre Zimmer soll ich Ihnen schon jetzt anweisen.“

„Zimmer? Ich denke, solche sind gar nicht da!“

„Es gibt da hinten einen Anbau, welcher einige Räume enthält. Dabei sind zwei Stuben, welche die Donna nur benützt, wenn Besuch von Verwandten kommt.“

„Dort hat wohl auch Donna Alma gewohnt?“

„Ja, ich habe davon gehört, obgleich ich damals noch nicht hier gewesen bin.“

„Haben Sie nicht gehört, ob diese Dame einen gewissen Allan Marshall kannte, der damals hier logiert hat?“

„O ja. Man hat darüber viel gesprochen und gelacht. Sie hat diesem Herrn förmlich nachgestellt, so daß er sich ihrer kaum erwehren konnte. Doch kommen Sie; ich habe bereits die Schlüssel!“

Wir standen auf und folgten ihr. Die beiden Stuben, welche wir erhielten, waren gegen die übrige Ausstattung des Hotels kostbar zu nennen; die eine bekam Winnetou mit Sans-ear und die andere ich mit Bernard. Bob erhielt einen eigenen Raum angewiesen.

Die gefällige Nachbarstochter versorgte uns mit Allem, was nötig war, unserem äußeren Menschen ein mehr zivilisiertes Aussehen zu geben, und so waren wir bald in der Lage, ausgehen zu können. Winnetou blieb zurück; er war zu stolz, um den Menschen auf den Straßen und Plätzen der Stadt als Gegenstand der Schaulust zu dienen. Auch Sam streckte sich auf sein Lager.

„Was soll ich mit?“ meinte er. „Laufen kann ich; das brauche ich hier zum Beispiel nicht erst zu üben, und Häuser und Menschen habe ich bereits genug gesehen. Macht, daß wir aus diesem unruhigen Neste bald wieder hinauskommen in die Savanne, sonst wachsen mir vor lauter Langweile die Ohren wieder, und dann hat es mit Sans-ear ein Ende!“

Der gute Sam befand sich erst einige Viertelstunden hier und empfand doch bereits Sehnsucht nach der freien Prairie. Wie muß es den Wilden zu Mute sein, wenn sie, um gebessert zu werden, in die enge einsame Zelle einer Philädelphischen oder Auburnschen Zwingburg gesteckt werden, weil sie sich wehren, hinausgeworfen zu werden aus den Gründen, die ihre Heimat sind, ihnen Nahrung geben und die Grabhügel ihrer Väter und Brüder bergen!

Wir gingen, nämlich ich und Marshall, zu dem Bankier, mit welchem dieser in Geschäftsbeziehung gestanden hatte, und erfuhren nur, daß Allan einige Male vorgesprochen habe und dann nach einem kurzen Abschiede in die Minen gezogen sei. Er hatte alle Geldmittel flüssig gemacht und mitgenommen, um damit Nuggets zu kaufen.

Nach diesem erfolglosen Besuche schlenderten wir durch die Stadt, bis mich Bernard plötzlich in einen Store zog, in welchem alle möglichen Arten und Größen von Kleidungsstücken zum Verkaufe hingen. Hier konnte man sich die feinste mexikanische Tracht auswählen, ebenso wie den leinenen Arbeitskittel des Kuli. Jede Tracht dieser verschiedenen Gewänder hatte ihren besonderen Platz, und jeder einzelne Anzug war vollständig.

Die Absicht Bernards war sehr leicht zu erraten. Unsere Anzüge, aus so festem Stoffe sie auch bestanden, hatten während der langen Reise so gelitten, daß wir wirklich nicht nur ein wenig, sondern sogar recht sehr schäbig aussahen. Rasiert waren wir; das Haar hatten wir einander auch geschnitten, aber das Habit, mit dem sah es gewaltig schlimm aus. Ich merkte beim Einkaufe, daß der gute Bernard Geschmack besaß. Er kaufte sich einen halb Indianer- und halb Trapperanzug, der ihm ganz nett stand; nur war der Preis auch den Verhältnissen San Franciscos angemessen.

„Nun kommt, Charley; auch für Euch einen!“ meinte er, als er vollständig ausstaffiert war. „Ich werde Euch aussuchen helfen.“

Hm, ich brauchte allerdings so Etwas höchst notwendig, aber für diese Art von Preis war meine Kasse nicht ganz eingerichtet. Ich habe niemals zu denjenigen unglücklichen Leuten gehört, welche überall, wo sie hingreifen, einen Hundertmarkschein zwischen die Finger bekommen und überall, wo sie hingehen, über einen Sack mit Sovereigns stolpern; sondern ich gehöre zu jenen beneidenswerten Menschen, welche das süße Bewußtsein haben, heut zu verdienen, was sie morgen brauchen, und darum mag ich wohl ein etwas resigniertes Gesicht gemacht haben, als sich Marshall gleich nach seinen Worten auch sofort an das Aussuchen machte.

Seine Wahl fiel auf einen Anzug, welcher aus folgenden Stücken bestand: – ein Jagdhemd von schneeweiß gegerbtem Hirschkalbleder, von Indianerinnenhänden zierlich mit Rot gestickt; Leggins aus Hirschrücken, an den Seiten ausgefranst; einen Jagdrock von Büffelhaut, aber doch geschmeidig wie ein Eichhörnchenfell; Stiefel von Bärenseite, deren Schäfte ich weit über die Lenden heraufziehen konnte; die Sohlen aus dem besten Stoffe, den es für diesen Zweck nur geben kann, nämlich aus der Haut vom Schwanze eines ausgewachsenen Alligators – und endlich eine Bibermütze, deren oberer Rand und Deckel mit einer künstlich dauerhaft gemachten Klapperschlangenhaut verziert war. Bernard tat es nicht anders, ich mußte in einer kleinen Nebenkabine den Anzug anprobieren, und als ich heraustrat, hatte er ihn bereits bezahlt. Ich wäre ihm gern ein wenig bös darüber geworden, brachte dies aber, offen gestanden, nicht recht fertig.

„Laßt das gut sein, Charley; ich bin Euch noch sehr viel schuldig, und wenn Ihr das nicht zugeben wollt, so werde ich diese Sachen auf Euer Konto schreiben, welches wir schon einmal begleichen werden!“

Auch für Sam wollte er Einiges mitnehmen; ich riet ihm aber davon ab, weil ich die Anhänglichkeit des Kleinen an seinen uralten Habitus sehr genau kannte und überdies unser Sans-ear eine Statur besaß, die ganz unberechenbar war.

Die größte Freude über meine Umwandlung verriet Bob, als wir in das Hotel Valladolid zurückkehrten.

„Oh, Massa, nun sehen sehr viel gut schön aus, so schön wie Bob, wenn hätten bekommen auch neu Rock und Mütze!“

Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn mit einem dankbaren Blick für diesen gütigen Vergleich belohnen, denn ich wußte, daß der Neger damit das Höchste geleistet hatte, was er im Lobe zu leisten vermochte.

Sam Hawerfield war es in seinem Zimmer doch etwas zu enge geworden. Er saß an einem der Tische ganz allein, und winkte mir, als er uns eintreten sah, uns zu ihm zu setzen.

„Hört!“ meinte er halblaut. „Da neben uns gibt es ein Gespräch, welches zum Beispiel auch uns interessieren wird.“

„Worüber?“

„Es sind da oben in den Minen und Diggins Dinge vorgegangen, die man nicht gutheißen kann. Es gibt dort eine Menge Bravos, aber keine Indianos, sondern Weiße, wie es scheint, die sich über die heimkehrenden Digger hermachen und ihnen das Leben nehmen und noch einiges dazu. Da sitzt Einer, der ihnen nur mit genauer Not entgangen ist. Er erzählt eben sein Abenteuer. Hört!“

An dem Tische hinter uns saßen mehrere Männer, denen man es ansah, daß sie des Lebens Gefahren und Drangsale kennen gelernt hatten, und einer von ihnen hielt einen Vortrag, dem alle Umsitzenden mit der größten Spannung zuhörten.

Well,“ meinte er soeben, „ich bin ein Ohiomann, und das soll heißen, daß ich etwas erfahren habe, auf dem Strome und in der Savanne, zu Wasser und zu Lande, auf den Bergen und unten in den Tälern des Westens. Ich habe die Flußpiraten des Mississippi und die Buschklepper der Woodlands kennen gelernt und gar manchen Strauß mit ihnen ausgefochten; ich halte manchen Streich für möglich, den ein Anderer grün und weiß bezweifeln würde; aber daß solche Dinge auf einer so belebten Straße vorkommen können, und noch dazu am hellen Tage, das geht doch über das alte Gun, mit welchem man um die Ecke zu schießen vermag.“

„Und dennoch klingt es nicht ganz nach Wahrheit,“ meinte ein Anderer. „Ihr waret doch eine ganze Karawane von fünfzehn Mann gegen acht Leute; wäre das nicht eine Schande, wenn es so ist, wie Ihr erzählt?“

„Ihr sprecht sehr klug und weise, Mann; aber macht es nur erst einmal mit! Wir waren allerdings fünfzehn Männer, das heißt nämlich sechs Tropeiros und neun Miners. Wenn Ihr Euch auf diese Tropeiros verlassen wollt, so seid Ihr verloren, und von den neun Miners hatten drei das Fieber; sie konnten sich kaum auf den Maultieren halten und wurden von der Krankheit bald hin, bald her geworfen, so daß sie weder einen sichern Schuß, noch einen guten Messerstoß abgeben konnten. Nun, waren wir also wirklich fünfzehn volle Männer, he?“

„Wenn Ihr die Sache so darstellt, so wird sie allerdings ein wenig einleuchtender. Aber die Straße ist doch so befahren, beritten und auch begangen, daß zu jeder Zeit Leute in der Nähe sind, von denen Hilfe zu erwarten ist!“

„Meint Ihr! Was hindert die Schelme, grad einen Augenblick abzuwarten, an dem dies nicht der Fall ist?“

„So erzählt das Ding nur richtig der Reihe nach, damit man daraus klug werden kann!“

„Ganz, wie es Euch beliebt, Mann! Also wir hatten da droben am Pyramidensee ein Plazer gefunden, wie es kein besseres und reichhaltigeres geben kann, und Ihr müßt es eben einmal glauben, daß nach acht Wochen ein jeder von uns Vieren seinen Zentner Staub und Nuggets beisammen hatte. Weiter ging es nicht, denn der Platz war ausgewaschen, und zwei von uns hatten die Kälte in die Gelenke bekommen. Es ist eben kein Leichtes, von früh bis Abend bis über die Hüften im Wasser zu stehen, um die Batea zu schütteln. Wir packten also zusammen und gingen zurück bis in den Yellow-water-ground, wo wir unsere Ausbeute an einen Yankee verkauften, der ein Beträchtliches mehr bezahlte, als die Schurken von Tauschhändler, bei denen man für eine Unze reines Gold ein Pfund schlechtes Mehl oder ein halbes Pfund noch schlechteren Tabak bekommt. Aber der Mann hat dennoch Geschäfte gemacht; ich glaube, er hieß Marshall und war in Kentucky oder da herum zu Hause.“

Schnell drehte sich Bernard um.

„Ist er noch dort an diesem Platze?“ fragte er.

„Weiß es nicht, geht mich auch nichts an. Aber laßt mich in Ruhe mit unnützen Fragen; denn wenn ich das Ding wirklich so der Reihe nach erzählen soll, wie es dieser Mann hier verlangt hat, so darf ich nicht gestört werden! Also dieser Marshall, Allan Marshall hieß er wohl, kaufte uns ab, was wir hatten. Wären wir nun klug gewesen, so hätten wir uns auf die Beine gemacht. Aber erstens wollten wir uns zunächst von den gehabten Strapazen ausruhen – denn unsere Kranken bedurften der Pflege – und zweitens war auch nicht gerade eine passende Reisegelegenheit da. Man munkelte so mancherlei von Raubanfällen und nannte sogar die Namen verschiedener Männer, welche die Diggins verlassen hatten und niemals in Sacramento oder San Francisco angekommen sind.“

„War dies wahr?“

„Werdet es hören! So warteten wir einige Wochen; aber das Leben da oben ist ganz verteufelt teuer, und da man wußte, daß wir keine leeren Taschen hatten, so bestand unser ganzes Vergnügen in einer immerwährenden Retirade vor falschen Spielern und ähnlichem Ungeziefer, welches uns stündlich umschwärmte. Auch war es mit den Gelenken der beiden Kameraden ein wenig besser geworden, und so beschlossen wir, nicht länger zu warten, sondern schlossen uns fünf Männern an, welche ebenso wie wir nicht mehr bleiben wollten. Wir waren also neun Personen und mieteten uns die nötigen Maultiere, wodurch unsere Anzahl um sechs Tropeiros vermehrt wurde. Bewaffnet waren wir Alle vorzüglich, auch die Tropeiros, von denen übrigens jeder Einzelne das Aussehen hatte, als ob er es recht gut mit zehn Gegnern aufnehmen werde. Die Reise wurde angetreten und ging im ganzen auch recht gut von statten; aber es begann so anhaltend zu regnen, daß sich das Fieber wieder einstellte. Übrigens weichte das Wasser den Weg in der Weise auf, daß nur außerordentlich schwer fortzukommen war. Wir legten an einem vollen Tage kaum acht Meilen zurück und waren des Nachts selbst in unseren Zelten nicht sicher vor der Flut, die vom Himmel stürzte, als ob jemand da oben eine Wolke umgeworfen hätte. Dadurch wurde das Fieber immer schlimmer, so daß wir die Kranken während des Rittes auf die Maultiere binden mußten.“

„Verdammt schlechte Geschichte,“ meinte einer der Umsitzenden. „Habe solche Staupen auch durchgemacht und weiß sehr genau, wie einem dabei zu Mute ist!“

Well! Also hatten wir ungefähr zwei Dritteile des Weges zurückgelegt und des Abends einen Lagerplatz gesucht. Wir waren beschäftigt, die Zelte aufzuschlagen, und schürten ein Feuer, welches groß genug war, die Gegend tageshell zu erleuchten. Da plötzlich krachte eine Salve rundherum. Ich kniete eben im Schatten eines Zeltes am Boden und war daran, eine Leine an den Pflock zu binden, weswegen man mich nicht gesehen hatte. Schnell fuhr ich in die Höhe und zwar grad zur rechten Zeit, um unsere Tropeiros aufsitzen und die Flucht ergreifen zu sehen. Das geschah aber mit solcher Gelassenheit, daß sie von den Bravos zehnmal hätten niedergeschossen werden können. Ich war im Begriffe gewesen, die Büchse zu erheben; aber was ich sah, hielt mich davon ab. Die Kugeln der acht Räuber hatten ihr Ziel so sicher getroffen, daß die fünf Gesunden, welche beim Scheine der Flamme gearbeitet hatten, tot am Boden lagen, und grad in dem Augenblick, als ich nach der Büchse griff, wurden die drei Kranken niedergemacht. Ich war also ganz allein am Leben. Was hättet Ihr in dieser Lage getan, he?“

Damn Ich hätte mich auf sie geworfen und getan, was in meinen Kräften stand!“ meinte Einer.

„Nein, ich hätte einige von ihnen mit meiner Kugel weggeputzt,“ versicherte ein Anderer.

„Sehr gut!“ antwortete der Erzähler. „Das sagt ihr, getan aber hättet ihr Alle nur das, was ich auch tat. Mich auf sie zu stürzen, das wäre Wahnsinn gewesen; auf sie zu schießen, war ebensowenig geraten, denn dann wäre ich auch verloren gewesen. Es durfte kein Zeuge des Überfalles leben bleiben, das verstand sich ja ganz von selbst; darum hätten sie mich verfolgt, so weit ich nur laufen mochte, und getötet hätte ich doch nur einen oder zwei.“

„Nun, was tatet Ihr denn?“

„Mein Geld hatte ich in guten Papieren in der Tasche; mein Maultier war unweit der Zelte bei den übrigen Tieren angebunden. Ich schlich mich also, als die Schurken eben die Zelte untersuchten, hinzu und band es los. Da stieß einer von ihnen einen Pfiff aus; ich hörte ein Getrappel, und – was denkt ihr, was geschah?“

„Nun?“

„Die Tropeiros kehrten zurück. Sie hatten uns an die Halunken verraten und sollten nun ihren Teil von der Beute erhalten. Jetzt waren die Schufte vierzehn Mann stark. Ich setzte mich auf mein Tier und galoppierte davon, so schnell es laufen konnte. Zu meinem Glück war es ein sehr sanftmütiges Geschöpf und kein so obstinates Viehzeug, wie man sie unter dieser Gattung so häufig trifft. Ich hörte zwar laute Flüche und einen tüchtigen Lärm hinter mir; dann vernahm ich auch Hufschlag, aber es war dunkel, und ich entkam glücklich.“

„Und nachher?“

„Was nachher! Ich habe gemacht, daß ich nach San Francisco kam, und bin froh, mit heiler Haut hier zu sitzen und mein Glas Porter hinunter zu schlürfen.“

„Habt Ihr keinen von den Bravos erkannt?“

„Sie trugen schwarze Masken. Nur als der Eine, welcher der Anführer zu sein schien, den Finger in den Mund steckte, um zu pfeifen, nahm er den Lappen herunter, und ich konnte also seine Physiognomie sehen. Ich würde den Kerl sicher sofort wieder erkennen, wenn er mir einmal vor die Augen käme. Es war ein Mulatte, und er hatte über die rechte Wange eine Wunde, die von einem Messerschnitt herrühren mußte.“

„Und die Tropeiros?“

„Würde ich alle wieder erkennen, aber ich komme ja nicht wieder hinauf in jene Hölle, in welcher der Teufel sein Gold siedet und schmilzt, um die Seelen in Tod und Verderben zu locken.“

„Wie heißt der Mulero? Es ist oft gut, wenn man den Namen eines solchen Ehrenmannes kennt!“

„Er nennt sich Sanchez, wird aber wohl früher schon einen oder einige andere Namen gehabt haben. Ich schätze, daß die meisten dieser Schurken zu den Hounds [Fußnote] gehören, welche Francisco über die sämtlichen Minendistrikte ausgespieen hat, und die nun als Agenten, Tropeiros, Muleros und Räuber einander in die Hände arbeiten. Es wäre am besten, die Miners bildeten, wie damals in San Francisco, ein Vigilance-Comité, welches die Verfolgung und Ausrottung dieser Banden übernehmen könnte, bis in den Plazers bessere Zustände zu herrschen beginnen. So, jetzt habe ich alles der Reihe nach erzählt, und ich bin fertig.“

„Wenn das ist,“ meinte Bernard, „so erlaubt Ihr mir wohl, mich noch einmal nach jenem Allan Marshall zu erkundigen, von dem Ihr vorhin gesprochen habt; er ist mein Bruder.“

„Euer Bruder? Wahrhaftig, mir scheint, daß Ihr ihm ähnlich seht! Da sagt also, was Ihr von ihm wissen wollt!“

„Alles, was Ihr selbst von ihm wißt. Wie lange ist es her, daß Ihr ihn zum letztenmal gesehen habt?“

„Nun wohl an die fünf Wochen!“

„Meint Ihr, daß er sich noch im Yellow-water-ground befinden wird?“

„Weiß es nicht. Da oben in den Minen ist man heut da und morgen dort, obgleich man sich heut vorgenommen hat, gewißlich nicht fortzugehen.“

„Er hat mir nie geschrieben, obgleich er meine Briefe erhalten hat.“

„Das dürft Ihr nicht für so sicher annehmen. Denkt nur an das, was ich jetzt erzählt habe! Gibt es eine Post von hier hinauf in die Minen? Ja; aber was Ihr so nennt, das ist keine Post. Ich sage Euch, es wird mancher Brief hinauf und herunter geschickt und kommt nie in die Hand, die ihn öffnen soll. Ihr kommt dort oben in eine Taverne, und der Wirt gehört zu den Hounds; Ihr geht in einen Store, und der Krämer ist ein Hound; Ihr spielt mit drei Männern Monte, und einer, vielleicht auch zwei oder gar alle drei sind Hounds; Ihr arbeitet mit Einem gemeinschaftlich an Eurem Plazer, und er ist ein Hound, der Euch entweder abnimmt, was Ihr ausbeutet, oder wenn Ihr ihm zu stark und wachsam seid, Euch an die Bravos verraten wird, um wenigstens einen Teil Eures Eigentums zu erhalten; bei der Platzdeputation sind Hounds, überall sind Hounds; warum sollten nicht auch bei der Post Hounds sein, denen daran liegt, Verschiedenes nicht an die Adresse gelangen zu lassen!“

Das war nun allerdings keine reizende Auseinandersetzung für die an den Minen herrschenden Verhältnisse.

„Wollt Ihr hinauf zu dem Bruder?“

„Allerdings.“

Well, so will ich Euch einen guten Rat geben. Ob Ihr ihn befolgen werdet, das ist Eure Sache. Von hier aus führen nämlich zwei Wege nach den verschiedenen Minendistrikten; der eine geht ganz südlich nach einem Bergstriche, den man Neu-Almaden nennt, wo man eine große Masse von Quecksilber und natürlichem Zinnober findet; der andere aber geht fast genau nach Norden und nur mit einer geringen Neigung gegen Ost zu den noch viel berühmteren Goldgegenden von Sacramento. Wißt Ihr, wo in dieser letzteren Gegend der Yellow-water-ground liegt?“

„Ich weiß bisher nur, daß er ein Seitental des Sacramento bildet; weiter nichts.“

„Der Weg geht drei Vierteile um die Bai von Francisco herum und dann über den Rio San Joaquin hinüber oder hinauf nach dem Sacramento-Tale. Hier braucht Ihr nur immer aufwärts zu gehen und könnt von jedem Begegnenden oder an jedem Plazer erfahren, wo Euer Ziel zu finden ist. Wenn Ihr nicht viel Gepäck bei Euch habt, mögt Ihr in fünf Tagen hingelangen. Von diesem Wege aber rate ich Euch ab.“

„Warum?“

„Erstens ist es zwar der bequemere, aber nicht der kürzere. Zweitens wird grad er durch diese Hounds ganz außerordentlich unsicher gemacht. Allerdings fallen sie lieber die von den Minen Kommenden als die dorthin Gehenden an, aber man weiß doch nicht, ob sie nicht vielleicht einmal das Gegenteil tun. Und endlich drittens ist dieser Weg gepflastert, und zwar mit Dollars, welche man den Reisenden förmlich aus der Tasche zieht. In den Gasthäusern ist man bereits in der Kultur so weit vorgeschritten, daß man Rechnungen schreibt. Aber ein solches Ding ist leichter zu lesen, als zu bezahlen. Ihr zahlt da: für das Zimmer einen Dollar – und schlaft im Hofe; für das Bett einen Dollar – und bekommt zwei Hände voll altes Stroh; für Licht einen Dollar – und habt den Mond zur Laterne; für Bedienung einen Dollar – und habt keinen Help zu sehen bekommen; für das Waschbecken einen Dollar – und müßt Euch im Sacramento waschen; für ein Handtuch einen Dollar – und wischt Euch an Euern eigenen Jagdrock. Der einzige Posten, den man bezahlt und wirklich auch bekommt, ist: für die Rechnung einen Dollar. Wie gefällt Euch das, Master Marshall?“

„Nicht übel!“

„Meine es auch. Darum werde ich Euch einen anderen und besseren Weg sagen, auf dem Ihr, wenn Ihr gut beritten seid, den Yellow-water-ground in vier Tagen erreichen könnt. Ihr setzt mit der Fähre über die Bai und haltet von da aus grad nach San John, wendet Euch dann nach Osten, und wenn Ihr den Sacramento erreicht, seid Ihr auch am Ziele, wenigstens ganz in der Nähe desselben. Wasserläufe, die Euch in dieser Richtung führen, gibt es genug.“

„Danke, Sir! Ich werde Euern Rat befolgen.“

Well! Und wenn Ihr dann am Sacramento oder irgendwo einen Mulatten trefft, der einen Schnitt über die rechte Wange hat, so gebt ihm Euer Messer oder Eure Kugel zu kosten, denn ich sage Euch, daß Ihr ein gutes Werk tut!“

Mittlerweile war die Zeit des Abendessens herangerückt, und Gustel kam, um uns zu benachrichtigen. Sie führte uns in ein Nebenzimmer, wo gedeckt war, als ob eine Gesellschaft spanischer Granden gespeist werden sollte. Donna Elvira erwartete uns bereits. Der Wirt war nicht zu sehen. Sie empfing ihre Gäste, welche ich ihr natürlich mit der nötigen Grandezza vorstellte, ganz mit der Miene einer Herrscherin, die eine Gnadenaudienz erteilt, und machte die Honneurs mit einer Würde, wie sie ein indischer Fürst nicht besser zuwege gebracht hätte.

Da ihr daran lag, möglichst zu imponieren, so bewegte sich die Unterhaltung zunächst in allerdings höchst drastischer Weise auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft, später aber, als wir mit der gehörigen Hochachtung erfüllt schienen, gab sie dem Interesse für unsere Persönlichkeiten und Verhältnisse Raum, und wir mußten ihr unsere Erlebnisse erzählen.

Als sie die Tafel aufhob, sagte sie:

„Sennores, ich hoffe, euch bewiesen zu haben, daß ich euch meinen andern Gästen vorziehe, und denke, daß es euch bei mir recht lange gefallen soll!“

„Donna Elvira de Gonzalez, wir danken Euch für Eure Güte,“ antwortete ich. „Wir werden allerdings längere Zeit in Eurem gastlichen Hause verweilen, aber nicht jetzt, denn wir müssen schon morgen in der Frühe zunächst noch einen kleinen Abstecher machen.“

„Wohin, Sennor?“

„Nach dem Sacramento, um Allan aufzusuchen, den wir Euch bringen werden.“

„Recht so, Sennores! Nehmt euch von mir Alles mit, was ihr braucht; berechnen werde ich es später; und wenn ihr einen Wunsch noch habt, so wendet euch nur an Augusta. Natürlich hoffe ich, daß ihr mir a dios sagen werdet, ehe ihr morgen fortgeht!“

Sie rauschte hinaus, und wir folgten ihr, um nach unsern Pferden zu sehen und uns dann zur Ruhe zu begeben. Am andern Morgen schwammen wir bereits mit der Fähre über die Bai und stiegen an der San Francisco gegenüberliegenden Landzunge aus.

Wir folgten ganz der Richtung, welche uns der Goldsucher angedeutet hatte, erreichten am Abend des dritten Tages die Höhen von San John und wandten uns dann gegen Sonnenaufgang. Am andern Mittag ritten wir in das Tal des Sacramento nieder und fanden nun auf jedem Schritt zahlreiche Spuren jener fieberhaften Tätigkeit, welche überall die Erde aufgewühlt hatte, um nach dem deadly dust zu suchen, dessen Glanz das Auge blendet, die Sinne verwirrt und das Herz betört.

Es ist so viel über diese Arbeit geschrieben und gesprochen worden, daß ich mich einer Bemerkung über sie enthalte; aber ich muß gestehen, das Goldfieber ergreift auch den nüchternsten Mann, sobald er jene Gegend betritt und sich von den Männern umgeben sieht, die – oft mit hohlen Wangen und meist mit Lumpen umhüllt – ihre Gesundheit und vielleicht auch ihr Leben opfern, um – schnell reich zu werden, und diesen Reichtum, wenn sie ja so glücklich sein sollten, ihn zu erlangen, oft ebenso schnell wieder verlieren. Sie arbeiten häufig monatelang mit Aufbietung aller ihrer Kräfte, ohne einen nennenswerten Erfolg zu sehen; Flüche und Verwünschungen begleiten jeden Griff, den sie tun; das blasse Gespenst des Hungers, der Not, der Verzweiflung tritt an sie heran, und schon wollen sie die ermattete, zitternde Hand abziehen, da verbreitet sich das Gerücht von einem außerordentlichen Fund, den irgend jemand irgendwo gemacht hat oder gemacht haben soll, und sie legen wieder Hand an die Batea, um der gewaltigen Epidemie von neuem zum Opfer zu werden.

Am Abend erreichten wir den Yellow-water-ground. Es war ein langes, schmales Tal, welches einen dünnen Wasserlauf dem Sacramento zuführte. Von seinem obersten bis zum untersten Punkte aufgewühlt, ließ es die einzelnen Plazers deutlich erkennen. Erdhütten und Zelte gab es genug, und dennoch sah man auf den ersten Blick, daß die Glanzperiode dieses Teiles der Minen vorüber war.

Ungefähr in der Mitte des Tales stand eine niedrige, aber breite und tiefe Bretterbude, über deren Eingang mit Kreide die Worte Store and boarding-house of yellow-water-ground geschrieben waren. Der Wirt dieses Wohn-, Kauf- und Trinkladens war wohl am besten imstande, uns Auskunft zu erteilen. Wir stiegen also ab, ließen Bob bei den Pferden und traten ein.

Die roh gezimmerten Bänke und Tische waren teils von elend, teils von verwegen aussehenden Gestalten besetzt, welche uns neugierig betrachteten.

„Neue Miners!“ lachte Einer. „Werden vielleicht mehr finden als wir. Komm her, Rothaut, und tu‘ einen Drink mit mir!“

Winnetou tat, als ob er die Aufforderung gar nicht gehört habe. Da erhob sich der Mann von seinem Sitze, nahm das Schnapsglas zur Hand und trat mit herausfordernder Miene auf ihn zu.

„Schuft, weißt du nicht, daß es die größte Beleidigung für einen Miner ist, wenn man ihm den Drink ausschlägt? Ich frage dich, ob du trinken willst und auch einen zum besten geben wirst?“

„Der rote Krieger trinkt kein Feuerwasser, doch will er den weißen Mann nicht beleidigen!“

„So fahre zum Teufel!“

Der Miner schleuderte das Glas samt dem Branntwein dem Apachen in das Gesicht, riß das Messer heraus und tat einen Sprung, um es Winnetou in das Herz zu stoßen; er taumelte aber mit einem lauten Schrei zurück und stürzte röchelnd zu Boden. Der Apache besaß auch ein Messer – er hielt es noch in der Hand – die Klinge blank wie zuvor; es war nur den zehnten Teil einer Sekunde im Leibe des Miners gewesen; dieser aber lag mit zerstochenem Herzen am Boden.

Sofort erhoben sich die Andern. In ihren Fäusten funkelten die Messer. Aber auch unsere Büchsen lagen schon an den Wangen, und sogar Bob, der zufällig zur Tür hereingesehen hatte, stand unter derselben und hatte sein Gewehr schußfertig.

„Stopp!“ rief da der Wirt. „Setzt euch, ihr Leute; die Sache war nicht die eure; sie geht euch nichts an; sie war nur zwischen Jim und dem Indianer auszumachen, und sie ist ausgemacht. Nell, schaffe den Toten fort!“

Die Miners setzten sich; unsere drohende Haltung schien ebensoviel Einfluß auf sie auszuüben, wie die Worte des Wirtes. Hinter dem Büffet aber trat der Barkeeper hervor, nahm den Toten auf die Achsel und trug ihn hinaus, um ihn, wie wir dann bemerkten, in eine verlassene Grube zu legen und ein wenig Erde darauf zu werfen. Dieser Jim war auch hierher gekommen, um Gold zu suchen, und hatte, durch seine eigene Schuld, den Tod gefunden – deadly dust! Wie oft mochten sich ähnliche Auftritte in den Minen wiederholen!

Wir nahmen, abgesondert von den Übrigen, Platz.

„Was trinkt ihr, Mesch’schurs?“ fragte der Wirt.

„Bier,“ antwortete Bernard.

„Porter oder Ale?“

„Was besser ist!“

„Dann nehmt Ale, Mesch’schurs! Es ist echtes Burton-Ale aus Burton in Staffordshire.“

Ich war ein wenig neugierig auf diesen Trank, der aus England und dazu von dem Orte, welcher wegen des besten Bieres weltberühmt ist, nach dem Sacramento gekommen sein sollte. Wir bekamen fünf Flaschen, von denen ich gleich eine nahm, um sie Bob hinauszutragen. Er steckte den Hals der Bottle in den Mund, daß ich dachte, derselbe müsse ihm bis hinab in den Magen reichen, und leerte sie auf einen Zug. Kaum aber hatte er das Gefäß wieder herausgezogen, so verdrehte er die Augen, riß den Mund auf, daß derselbe drei Vierteile des Gesichtes einnahm, und stieß einen Laut aus, wie ein Schiffbrüchiger, der zum letzten Male über das Wasser kommt.

„Was ist’s?“ fragte ich, in der Meinung, er habe sich mit dem Halse der Flasche den Gaumen verletzt.

„Massa, oh, ah, Bob sterben! Bob haben getrunken Gift!“

„Gift? Es ist ja englisches Ale!“

„Ale? Nein, oh, nein! Bob kennen Ale. Bob haben getrunken Gift; Bob fühlen in Mund und Leib Arsen‘ und Tollkirsch‘!“

Unser guter Neger war kein Feinschmecker; wie also mußte dieses Ale erst einem raffinierten Gaumen munden! Ich trat wieder in den Store und kam grad recht, um die Frage des Wirtes zu hören:

„Könnt ihr auch zahlen, Mesch’schurs?“

Bernard machte eine sehr beleidigte Miene und griff in die Tasche.

„Halt, Master Bernard!“ meinte Sam. „Diese Rechnung werde ich abmachen. Was kostet das Bier?“

„Die Bottle drei Dollars, macht fünfzehn Dollars.“

„Das ist billig, Mann, zumal man die Bottle mitbekommt, nicht wahr?“

„Allerdings.“

„Wir werden sie Euch aber hier lassen, denn Leute, welche Plazers wissen, in denen das Gold sozusagen in schweren Stufen zutage tritt, brauchen sich um ein Stückchen Glas nicht zu kümmern. Holt Eure Wage!“

„Wollt Ihr in Gold bezahlen?“

„Ja.“

Sam öffnete seinen Kugelbeutel und zog einige Nuggets hervor, von denen eines die Größe eines Taubeneies hatte.

„Alle Wetter, Mann, wo habt Ihr diese Stücke gefunden?“ fragte der Wirt.

„Auf meinem Plazer.“

„Und wo ist das?“

„In Amerika ungefähr. Ich habe zum Beispiel ein schlechtes Gedächtnis und besinne mich auf den Ort gewöhnlich nur dann, wenn ich selbst etwas Gold brauche.“

Der Wirt mußte diese Zurechtweisung einstecken; aber seine Augen funkelten vor Begierde, als er eines der Nuggets abwog und den Überschuß in Geld herausgab. Er nahm das Gold zu einem sehr niedrigen Preise, und seine Wage mochte auch wohl einige kleine Eigentümlichkeiten besitzen; Sam aber steckte das herausbekommene Geld mit der Miene eines Mannes ein, dem es auf eine Unze mehr oder weniger nicht ankommt. Er hatte, ohne daß die Andern etwas davon ahnten, zwischen seinen Kugeln ein ganz allerliebstes Sümmchen mit sich herumgetragen, und ich mußte jetzt an seine bei unserem ersten Zusammentreffen gemachte Bemerkung denken, daß er in den Bergen genug Gold wisse, um einen Freund damit reich zu machen.

Jetzt wurde das Bier gekostet. Wären wir direkt aus der Savanne hierher gekommen, so hätten wir es vielleicht genießen können; da wir unsere zerrütteten Gaumen aber im Hotel Valladolid bei der gastfreundlichen Donna Elvira bereits wieder hergestellt hatten, so war das Zeug auf keinen Fall hinunterzubringen. Es war klar, der Mann kochte sich sein Ale aus irgend welchen Kräutern und Zutaten selbst zusammen und verkaufte es – die Flasche zu drei Dollars. Dies ist eins von den vielen Beispielen, daß in den Minen nicht immer der Goldsucher auch der Goldfinder ist.

Übrigens schien sich der Wirt mit der ihm von Sam gewordenen Zurechtweisung keineswegs zufrieden zu geben. Er setzte sich vielmehr zu uns und erkundigte sich weiter:

„Ist das Plazer, welches Ihr wißt, sehr weit von hier, Sir?“

„Welches? Ich weiß deren vier oder fünf.“

„Vier oder fünf? Unmöglich! Denn sonst würdet Ihr nicht nach diesem traurigen Yellow-water-ground kommen, wo fast gar nichts mehr gefunden wird.“

„Ob Ihr’s glaubt oder nicht, das ist zum Beispiel Eure Sache!“

„Und Ihr nehmt Euch bloß immer so viel hinweg, als Ihr braucht?“

„Ja.“

„Welcher Leichtsinn, welche Unvorsichtigkeit! Wenn nun Andere kommen und Euch wegnehmen, was Ihr Euch sichern könntet!“

„Das geschieht nicht, Master Ale-man!“

„Ich will Euch eines von diesen Plazers abkaufen, Sir!“

„Könnt Ihr gar nicht bezahlen! Oder hättet Ihr genug, um fünfzig oder sechzig Zentner Gold mit Dollars oder Noten aufzuwiegen?“

„Alle Wetter! So viel? Man müßte sich einen Compagnon anschaffen oder auch zwei und drei; hm, so einen zum Beispiel, wie dieser Allan Marshall war, der mit einigen tausend Dollars hergekommen und mit einem wirklichen Reichtum fortgegangen ist. Der verstand sein Fach!“

„Wie?“

„Er hatte einen Gehilfen, den er zurückgelassen hat, weil er von ihm bestohlen wurde. Dieser hat alles erzählt. Den Staub und die kleineren Körner hat er in Sacramento zu Banknoten gemacht und die größten Nuggets in seinem Zelte vergraben. Dann war er plötzlich verschwunden, man weiß nicht wie und auch nicht wohin.“

„Hatte er Tiere in seinem Besitze?“

„Nur ein Pferd. Übrigens wurde er vorgestern gesucht.“

„Ah! Von wem?“

„Von drei Männern – zwei Weiße und ein Mulatte – die sich bei mir nach ihm erkundigten. Auch Ihr scheint ihn zu kennen?“

„Ein wenig, und darum wollten wir auch zu ihm. Wo gingen die Drei dann hin?“

„Sie suchten den Ort auf, wo sein Zelt gestanden hat; dann kamen sie zurück und saßen lange bei einem Stücke Papier, welches sie dort gefunden haben mußten. Ich sah einmal von ungefähr darauf und bemerkte, daß es eine Landkarte oder ein Plan sein müsse.“

„Und dann?“

„Fragten sie nach dem Short-Rivulet-Tale. Ich beschrieb es ihnen und den Weg dahin, und diesen haben sie auch eingeschlagen.“

„Den Short-Rivulet werden sie von hier aus nach einer bloßen Beschreibung schwerlich finden!“

„Kennt Ihr ihn?“

„Ich war einmal dort. Könnt Ihr uns den Platz nicht zeigen, wo das Zelt gestanden hat?“

„Ihr könnt ihn von hier aus sehen. Dort rechts am Hange bei den Dornsträuchern. Wenn Ihr hinkommt, bemerkt Ihr gleich die Feuerstelle und das Übrige.“

„Und wie heißt der Mann, der sein Diener gewesen ist?“

„Fred Buller. Er arbeitet im zweiten Plazer links, von oben herunter.“

Ich winkte Bernard. Wir verließen miteinander den Store und schritten den Bach hinauf. Bei dem angegebenen Plazer blieben wir halten. Es arbeiteten nur zwei Männer da.

Good day, Mesch’schurs! Ist hier bei euch ein Master Buller zu finden?“ fragte ich.

Yes, Sir; der bin ich!“ antwortete der Eine.

„Habt Ihr Zeit, mir auf einige Fragen zu antworten?“

„Vielleicht, wenn es gut lohnt. Bei dieser Arbeit kostet jede Minute ihr Geld.“

„Wie viel Geld wollt Ihr für zehn Minuten?“

„Drei Dollars.“

„Hier habt Ihr sie!“ sagte Marshall, ihm die Summe hinreichend.

„Danke, Sir; Ihr scheint mir generöse Gentlemen zu sein.“

„Vielleicht verspürt Ihr noch mehr von dieser Generosität, wenn Ihr unsere Fragen gut beantwortet!“ suchte ich ihn zu ködern.

„‚ Well, Sir; so fragt einmal!“

Dem Menschen sah der Spitzbube aus den Augen, Wie sollte ich ihn packen? Ich entschloß mich schnell, auch einmal den Halunken zu spielen:

„Wollt Ihr nicht ein wenig abseits mit uns kommen?“

„Alle Teufel, Sir; Ihr scheint gute Waffen zu haben!“

Aha, der Kerl hat ein böses Gewissen!

„Gute Waffen für unsere Feinde und gutes Geld für unsere Freunde. Wollt Ihr kommen?“

„Meinetwegen!“

Er stieg aus dem Wasser und kam mit uns auf die Seite.

„Es sind vorgestern drei Männer bei Euch gewesen?“

„Ja.“

„Zwei Weiße und ein Mulatte?“

„Ja. Warum?“

„Die Weißen waren Vater und Sohn?“

„Ja. Der Mulatte ist ein Bekannter von mir und auch von ihnen.“

„Ah!“ – Ich weiß nicht, woher mir der Gedanke kam, dem ich sofort Ausdruck gab: „Den Mulatten kenne auch ich. Er hat eine Messerwunde über seine rechte Wange?“

„Wirklich, Ihr kennt den Cap – Ihr kennt Sir Shelley! Wo habt Ihr ihn kennen gelernt?“

„Wir hatten Geschäfte miteinander, und ich möchte gern wissen, wo er hin ist.“

„Weiß es nicht, Sir!“

Er sprach mit diesen Worten die Wahrheit, das sah ich ihm an.

„Was wollten die Männer bei Euch?“ fragte ich weiter.

„Sir, es werden die zehn Minuten wohl bereits abgelaufen sein!“

„Noch nicht! Aber ich will Euch sagen, daß sie sich nach Eurem früheren Prinzipal, Master Marshall, erkundigt haben. Übrigens sollt Ihr bis zu Ende unserer Unterredung noch fünf Dollars haben!“

Bernard griff in die Tasche und gab sie ihm.

„Danke, Sir! Ihr seid andere Leute als diese Morgans und dieser Shelley, und ich werde Euch bessere Auskunft geben als ihm. Da Ihr mit ihm Geschäfte gemacht habt, so werdet Ihr auch wissen, wie filzig er ist. Er sollte doch einen Kameraden von Sid – – –“

Er stockte, beinahe erschrocken über das Wort, welches er begonnen hatte.

„Sidney-Coves, sagt es nur! Ich kenne das auch.“

„Auch? Nun seht, dann versteht Ihr jedenfalls zu beurteilen, was kleine Dienste oft zu bedeuten haben. Wohin die Drei sind, das weiß ich nicht, aber sie haben da drüben lange herum gesucht und ein Papier gefunden. Hätte Sir Shelley anders mit mir gesprochen, so hätte er andere Papiere bekommen.“

„Und wie muß man mit Euch sprechen, um diese zu bekommen?“

Er lachte niederträchtig und fügte bei – „Wie bisher!“

Also eine Unterhaltung mit Dollars! Der Kerl war jedenfalls ein ganz abgefeimter Bursche.

„Was sind es für Papiere?“ erkundigte ich mich.

„Briefe.“

„Von wem und an wen?“

„Hm, Sir, wie soll ich das sagen, ohne daß ich es weiß, ob Ihr auch wirklich in meiner Sprache mit mir reden werdet!“

„Sagt den Preis!“

„Hundert Dollars!“

„Nicht übel! Ihr unterschlagt die Briefe Eures Prinzipals, um sie diesem Kapitän der Bravos zu übergeben, und da dieser Euch zu wenig zahlt, unterschlagt Ihr weiter und behaltet die Briefe für Euch, weil Ihr denkt, daß, was Sir Shelley Nutzen bringt, auch Euch keinen Schaden tun werde. Ich sage Euch, das Ding kann Euch dennoch Schaden bringen! Wollt Ihr fünfzig?“

Ich hatte nur eine Vermutung ausgesprochen, die sich mir aus der einfachen Kombination dessen, was ich bisher gehört hatte, ganz von selbst bot; daß ich aber das Richtige getroffen hatte, sah ich der Miene des Mannes an. Er ging auch sofort auf mein Angebot ein:

„Nun sehe ich wirklich, daß Ihr mit dem Kapitän Geschäfte gemacht habt, da Ihr alles wißt. Deshalb will ich Euch nicht drücken und die fünfzig nehmen.“

„Wo sind die Papiere?“

„Kommt mit in unser Zelt!“

Wir gingen ein Stück zurück bis an das Ding, was dieser Mann unser Zelt nannte. Es bestand aus vier Erdwänden, über welche eine mehrfach durchlöcherte Filzdecke gespannt war. In jeder der vier Ecken befand sich ein Loch, welches als Spinde benutzt zu werden schien, denn Buller griff in eines derselben und brachte ein zerrissenes Tuch hervor, in welches er verschiedene Gegenstände eingeschlagen hatte. Er öffnete es und zog zwei Briefe heraus, die er mir entgegenstreckte. Ich wollte zugreifen, aber er zog schnell die Hand zurück.

„Halt, Sir. Erst das Geld!“

„Nicht eher, als bis ich wenigstens die Adressen gelesen habe.“

„Gut! Ich halte die Briefe und Ihr seht sie Euch an!“

Er hielt sie uns entgegen, und wir beide blickten zugleich darauf.

„Richtig,“ rief ich. „Gebt ihm das Geld, Bernard!“

Die Briefe waren an Bernards Vater adressiert, da Allan noch gar nicht wußte, daß derselbe ermordet worden war. Bernard zog das Geld eilig hervor, aber dennoch sah ich ihm an, daß es ihm wenigstens eigentümlich schien, eine Unterschlagung, die ihn jedenfalls sehr geschädigt hatte, noch mit einer solchen Summe belohnen zu müssen. Buller steckte das Geld mit höchst befriedigter Miene zu sich und wollte das Tuch zusammenschlagen. Da sahen wir Beide etwas Goldenes blinken, und sofort griff Bernard zu. Es war eine Uhr, die in einer gediegenen Goldkapsel stak.

„Was wollt Ihr mit meiner Uhr?“ fragte Buller.

„Sie einmal öffnen, um zu sehen, welche Zeit wir haben,“ antwortete Marshall.

„Sie ist nicht aufgezogen,“ meinte er, indem er hastig danach griff. „Gebt sie her, Sir!“

„Halt!“ antwortete ich und packte seinen Arm fest. „Wenn sie auch steht, werdet wenigstens Ihr vielleicht erfahren, welche Stunde es geschlagen hat!“

„Allans Uhr!“ rief Bernard.

„Wirklich? Wie kommt diese Uhr in Euere Hand, Mann?“ fragte ich.

„Geht Euch das etwas an?“ fragte er trotzig, indem er sich zu befreien suchte.

„Allerdings, denn dieser Gentleman ist der Bruder des Mannes, dem sie gehört hat. Also wie kommt Ihr zu der Uhr von Master Marshall?“

Der Mann befand sich in wirklicher Verlegenheit.

„Er hat sie mir geschenkt,“ antwortete er.

„Das ist eine Lüge!“ entgegnete Bernard. „Seht diese Steine, Charley! Eine Uhr für dreihundert Dollars schenkt man seinem Diener niemals.“

„‚ Well, Bernard; sucht einmal hier nach! Ich werde diesen Mann einstweilen festhalten.“

Ich hielt Buller an beiden Armen fest. Er suchte sich loszureißen, es gelang ihm aber nicht.

„Wer seid Ihr? Wer gibt Euch das Recht, in meinem Zelte eine Durchsuchung zu veranstalten? Ich werde um Hilfe rufen und Euch lynchen lassen!“ rief er aus.

„Macht keinen dummen Spaß, Mann, sonst könnte Master Lynch Euch selbst über den Hals kommen. Beim ersten Ruf, den Ihr tun solltet, drücke ich ein wenig fester zu!“ antwortete ich.

Ich hatte ihn mit der Linken beim Arme und mit der Rechten im Genick. Er befand sich vollständig in meiner Gewalt und sah, daß er sich fügen müsse.

„Ich finde weiter nichts!“ berichtete Bernard, als er fertig war.

„Nun also! Laßt mich los und gebt die Uhr heraus,“ sagte Buller.

„Sachte, sachte!“ antwortete ich. „Ich werde Euch noch halten, bis wir darüber einig sind, was mit Euch zu machen ist. Was meint Ihr, Bernard?“

„Er hat die Uhr gestohlen,“ antwortete dieser.

„Natürlich!“

„Er gibt sie her.“

„Ebenso natürlich!“

„Und seine Strafe?“

„Wollen es gnädig mit ihm machen. Ein Lynch kann uns nichts nützen; er mag also für die Unterschlagung und den Diebstahl die Briefe und die Uhr umsonst herausgeben.“

„Umsonst? Wie so!“

„Sehr einfach: er gibt die fünfzig, die fünf und auch die drei Dollars wieder heraus; das ist sehr gnädig von uns gehandelt. Greift nur getrost in seine Tasche; ich werde ihn festhalten!“

Das Geld wurde ihm trotz seines Sträubens wieder abgenommen; dann ließ ich ihn los. Kaum war dies geschehen, so rannte er aus dem Zelte hinaus, am Wasser hinunter und hinein in das Boardinghouse.

Wir gingen ihm langsam nach und vernahmen schon von weitem ein wütendes Geschrei. Jetzt verdoppelten wir unsere Schritte. Unsere Pferde standen vor der Tür, aber Bob war nicht zu sehen. Schnell traten wir ein und befanden uns auf dem Kampfplatze. In der einen Ecke stand Winnetou, mit der Linken den Uhrendieb bei der Kehle haltend und mit der Rechten die umgekehrte Büchse schwingend; neben ihm wehrte sich Sans-ear gegen einige Gäste. In der anderen Ecke befand sich Bob, dem die Büchse bereits entrissen worden war und der nun kräftig mit der Faust und mit dem Messer Widerstand leistete. Buller hatte, wie ich später erfuhr, die Miners aufgefordert, mich und Bernard gefangen zu nehmen, und Sam war diesem Vorhaben entgegengetreten. Da nun die Diggers noch wegen Jim ergrimmt waren und der Wirt die Überzeugung gewonnen hatte, daß mit Sans-ear kein Geschäft zu machen sei, so war unter seinem Schutze ein Angriff erfolgt, der den Dreien das Leben gekostet hätte, wenn wir Beide nicht zur rechten Zeit dazugekommen wären.

Winnetou und Sam konnten sich noch halten; wir mußten erst Bob heraushauen.

„Nur im Notfalle schießen; nehmt den Kolben, Bernard!“ sagte ich.

Mit diesen Worten warf ich mich auf die Diggers, und in kaum einer Minute war der Neger neben uns und hatte seine Büchse wieder in der Hand. Wie ein losgelassener Tiger sprang er nun auf die Feinde los. Dieselben hatten keine Schußwaffen; das war unser Glück.

„Ah, Charley,“ rief Sam; „weg jetzt mit den Kolben, und heraus zum Beispiel mit den Tomahawks! Nur flach aufschlagen!“

Wir folgten ihm. Das war nun kein Kampf, sondern eine Lust. Kaum blitzten unsere Schlachtbeile, und kaum hatten zwei oder drei ihren flachen Schädelhieb weg, so stob die ganze Schar zur Tür hinaus. Seit meinem Eintritt waren kaum zwei Minuten vergangen; jetzt befanden wir uns mit dem Wirt und Buller allein.

„Hast du diesem Manne wirklich die Uhr und das Geld gestohlen, Charley?“ fragte Sam.

„Pah! Er hat vielmehr Bernards Bruder die Briefe unterschlagen und ihm die Uhr gestohlen.“

„Und da laßt Ihr ihn laufen! Doch, das geht mich nichts an. Aber daß er diese Goldkäfer gegen uns gehetzt hat, das geht mich etwas an, und dafür soll er jetzt zum Beispiel seinen Lohn erhalten!“

„Du wirst ihn nicht töten, Sam!“

„Wär‘ der Kerl ja gar nicht wert! Festgehalten, Winnetou!“

Der Apache hielt den Mann so fest, daß er sich nicht zu rühren vermochte, Sam zog sein Messer und zielte. Ein kurzer Streich – ein Schrei Bullers – Sam hatte ihm die Nasenspitze abgehauen.

„So, mein Junge! Es ist nicht gut, wenn man erfahrene und ehrliche Westmänner lynchen will; denn steckt man seine Nase zum Beispiel in solche schlimme Angelegenheiten, so wird sie einem zuweilen abgeschnitten. Und unser Master Storeman? Dort ist er. Kommt doch einmal her, mein Lieber, und laßt mich sehen, wie viele Ellen Nase Ihr übrig habt!“

Mit dieser Aufforderung schien der Wirt nicht sehr zu sympathisieren. Er trat zögernd nur einen einzigen Schritt näher.

„Ich hoffe nicht, Gentlemen, daß Ihr meine Gastfreundschaft auf diese Weise belohnen werdet!“ sagte er.

„Gastfreundschaft! Nennt Ihr das Gastfreundschaft, wenn Ihr Euch für eine halbe Maß Erlen- oder Pottasche-Wasser drei Dollars bezahlen laßt?“

„Ich werde Euch das Geld sofort wiedergeben, Mesch’schurs!“

„Behaltet es, und habt keine Angst. Wer sollte fernerhin Porter und Ale kochen, wenn wir Euch das Handwerk legten? Nun aber fort, ihr Leute, sonst könnten uns die Goldwürmer zum Beispiel noch einmal auf den Nacken kommen!“

Damit war aber Bob nicht zufrieden.

„Massa Sam wollen gehen? Oh, ah, warum gehen und nicht strafen vorher Wirt für Gift und Operment? Nigger Bob werden strafen!“

Er packte eine der Flaschen und hielt sie dem Wirt vor.

„Trinken selbst Flasche hinein in Magen. Schnell, sonst Bob schießen tot Wirt!“

Der Wirt war gezwungen, die Flasche zu ergreifen und auszutrinken. Aber schon hielt ihm Bob eine zweite hin.

„Noch trinken eine!“

Auch diese wurde geleert.

„Wieder trinken eine!“

Auf diese Weise mußte der geängstigte Mann fünf Flaschen austrinken, und es war tragikomisch anzusehen, welch ein Mienenspiel er dabei produzierte.

„So, ah, oh, nun haben trinken Wirt fünfmal drei Dollars und haben in Leib viel gut‘ schön‘ Blausäure!“

Wir waren nun fertig. Winnetou ließ den Dieb los, der bisher unter dem festen Gurgelgriffe keinen Laut hatte von sich geben können, jetzt aber desto kräftiger zu heulen begann; wir schwangen uns auf unsere Pferde und ritten davon. Es war aber die höchste Zeit, denn unweit des Hauses begannen die Diggers, sich mit ihren Schießgewehren zu versammeln. Glücklicherweise aber waren sie noch lange nicht vollzählig, und so erreichten wir unangefochten den Sacramento.

„Wo liegt der Short-Rivulet?“ fragte Bernard.

„Einstweilen reiten wir am Flusse aufwärts,“ antwortete Sam.

So ging es im scharfen Trabe vorwärts, bis wir annehmen konnten, daß wir vor den Miners sicher seien.

„Jetzt halt!“ gebot Bernard. „Ich muß nun meine Briefe lesen!“

Wir stiegen ab und setzten uns. Marshall erbrach die Briefe und las sie.

„Es sind die beiden zuletzt geschriebenen,“ erklärte er; „Allan beklagt sich sehr, daß wir ihm keine Antwort zugehen lassen, und macht im letzten eine Bemerkung, die von großem Interesse für uns ist. Sie lautet:

„“- – – – übrigens mache ich hier noch bessere Geschäfte, als ich vorher dachte. Den Staub und die Golderbsen habe ich durch sichere Leute nach Sacramento und auch nach San Francisco geschickt, wo ich einen bedeutend höhern Preis erhalte, als ich selbst gebe. Auf diese Weise habe ich die Summe, welche mir zur Verfügung stand, verdoppelt. Jetzt aber verlasse ich den Yellow-water-ground, denn es gibt nicht mehr den vierten Teil der früheren Ausbeute, und außerdem ist der Weg so unsicher geworden, daß ich keine Sendung mehr riskieren kann. Ich vermute sogar aus verschiedenen Anzeichen, daß die Bravos meinem Zelte einen Besuch machen wollen. Daher werde ich ganz unerwartet von hier weggehen, ohne eine Spur zurückzulassen, da ich sonst gewärtig sein müßte, daß die Räuber mir folgen. Ich gehe mit mehr als hundert Pfund Nuggets von hier nach dem Short-Rivulet-Tale, wo höchst ergiebige Plazers entdeckt worden sind und ich in einem Monate dieselben Geschäfte machen kann, wie hier in der vierfachen Zeit. Von da gehe ich dann über die Lynn nach dem Humboldthafen, wo ich sicher ein Schiff finde, welches mich nach San Francisco zurückbringt – – –““

„Das stimmt also mit dem Short-Rivulet-Tale,“ ließ sich Sam vernehmen. „Ist das nicht eigentümlich, Charley? Diese Morgans haben das auch gewußt. Aber woher, he?“

„Jedenfalls hat auf dem Papiere, welches sie auf Allans Zeltplatze fanden, eine Andeutung gestanden.“

„Möglich,“ fiel Bernard ein. „Ich finde hier unten eine Stelle, welche uns vielleicht einen Anhalt bietet. Hört!“

„“– – – zumal ich keine zahlreiche Begleitung nötig habe. Nicht einmal einen Führer brauche ich, denn ich habe mir nach den neuesten Karten einen Reiseplan oder vielmehr eine Route vorgezeichnet, nach welcher ich mich mit Vertrauen richten darf. – – –““

„Sollte er diese Route verloren oder das Konzept derselben achtlos weggeworfen haben?“ fragte ich.

„Möglich,“ meinte Sam; „denn ein Westmann ist er doch nicht und hat also noch nicht gelernt, daß an dem kleinsten Umstande zum Beispiel das Leben hängen kann. Und wenn er glücklich hingekommen ist, fragt es sich dann, wie er mit den Schlangenindianern auskommt, die da oben ihre Dörfer und nach dem Lewis-Süd-Fork zu ihre Jagdgründe haben.“

„Sind sie so schlimm wie die Comanchen?“ erkundigte sich Bernard besorgt.

„Sie sind sich alle gleich, edel gegen den Freund und furchtbar dem Feinde. Wir übrigens brauchen keine Sorge vor ihnen zu haben, denn ich bin längere Zeit bei ihnen gewesen, und jeder Snake-Indsman kennt Sans-ear, wenn nicht persönlich, so doch dem Rufe nach.“

„Snake?“ fragte jetzt Winnetou. „Der Häuptling der Apachen kennt die Shoshones, die seine Brüder sind. Die Krieger der Shoshones sind tapfer und treu; sie werden sich freuen, zu sehen Winnetou, der das Calumet viele Male mit ihnen rauchte.“

Also zwei Sorgen waren auf einmal gehoben. Sowohl Winnetou als auch Sam waren Bekannte der dortigen Indianer, und beide kannten also auch die Gegend, in welcher das Short-Rivulet-Tal zu suchen war. Beide führten uns jetzt weiter.

Das Terrain, welches wir beschreiten mußten, war durchweg gebirgig, denn wir hatten das Sacramento-Tal bald verlassen und hielten auf die Berge von San Jose zu. Dies war ein beschwerlicher, aber der geradeste und kürzeste Weg, der es uns ermöglichte, den zwei Räubern vielleicht vorzukommen. Sie hatten zwar einen Vorsprung von zwei Tagen, aber ihr Weg war jedenfalls ein längerer, da wir sonst doch wohl ihre Spur getroffen hätten.

Von den Josefsbergen aus wandten wir uns gegen Nordost und gelangten eine volle Woche nach unserer Abreise vom Yellow-water-ground an einen mächtigen Bergstock, welcher mit einem Durchmesser von mehr als fünfzehn Meilen sich wie ein riesiger, abgestumpfter Kegel über das Gebirge erhob und an seinem Fuße dichte Laubhölzer, weiter oben aber sich von beinahe undurchdringlichem Nadelholz-Urwald bestanden zeigte.. Da oben lag grad in der Mitte seines Plateaus ein See, welcher seines finsteren Aussehens und seiner düsteren Umgebung wegen das black eye genannt wird. In ihn ergießt sich, von Westen herbeiströmend, der Short Rivulet.

Wie kam es, daß dort oben Gold zu finden war? Von andern Höhen konnte es nicht herabgespült worden sein, vielmehr mußte es einen plutonischen Ursprung haben. Die Gewalten des Erdinnern hatten bei dem Emportreiben dieses mächtigen Gebirgsstockes die goldenen Schätze der Unterwelt mit emporgeworfen, und es ließ sich sehr leicht denken, daß dort statt des goldhaltigen Sandes ganze Adern und Nester vorhanden seien, die eine größere Ausbeute gaben, als selbst das Tal des berühmten Sacramento.

Wir traten beim Ersteigen des Gebirges in eine Wildnis ein, welche so urwüchsig uns entgegenstarrte, daß wir beinahe den Mut verloren, in das unüberwindlich scheinende Gewirr von Fels und Waldung einzudringen. Aber je weiter wir kamen, desto besser ging es. Das beschwerliche Unterholz verlor sich nach und nach, und endlich ritten wir in einem riesigen Dome, dessen Decke aus dichtem Laubgewinde bestand und dessen Millionen von Säulen – so stark, daß eine von ihnen kaum von drei Männern umklaftert werden konnte – oft zwölf und mehrere Ellen auseinander standen.

Ein solcher Urwald macht auf das empfängliche Gemüt ganz denselben Eindruck, den das Gotteshaus auf ein Kind hervorbringt, welches dasselbe zum erstenmale betritt.

„Du hast die Säulen dir aufgebaut
Und deine Tempel gegründet;
Wohin mein gläubiges Auge schaut,
Es dich, Herr und Vater, nur findet!“

So hallt, webt und weht es einem aus allen Richtungen entgegen; das Herz wird weit und groß; der Glaube schlägt seine Wurzeln tiefer und fester, und der Sohn des Staubes dünkt sich so klein wie der Wurm, der sich dort vergeblich bemüht, an der Rinde der gigantischen Eiche emporzuklimmen. Ehe er die Spitzen derselben erreicht, ist er längst tot; so auch der Mensch, der sich Herr der Schöpfung dünkt und doch nur von der Gnade Gottes den obersten Platz unter den sterblichen Kreaturen als unverdientes Geschenk erhielt.

So ritten wir langsam und stetig empor, bis wir das Plateau erreichten. Nun war es leichter, rasch vorwärts zu kommen, und eben als es Abend wurde, erreichten wir das südliche Ufer des Schwarzauges, dessen tiefe und unbewegliche Wasser uns entgegen phosphoreszierten wie ein Rätsel, dessen Lösung den unvermeidlichen Tod mit sich bringt.

Für das Tal gab es keine Sonne mehr; hier oben aber war die Dämmerung eben erst angebrochen, und es wäre uns recht gut möglich gewesen, einen Teil des Ufers noch abzusuchen.

„Reiten wir weiter?“ fragte Marshall, welcher sich sehnte, das Wiedersehen mit seinem Bruder zu feiern.

„Meine Brüder werden hier lagern,“ antwortete Winnetou in seiner kurzen und bestimmten Weise.

Well,“ stimmte Sam bei. „Hier gibt es prachtvolles Moos für uns zum Lagern und am Wasser auch Gras für die Pferde. Und wenn wir uns einen versteckten Ort aussuchen, wozu es zum Beispiel später keine Zeit mehr wäre, können wir sogar ein kleines indianisches Feuer machen, um den Puter zu braten, den Bob heut geschossen hat.“

Ja, Bob hatte heut wirklich zum ersten Male einen Braten geschossen, und er war nicht wenig stolz auf diesen unumstößlichen Beweis, daß er ein höchst nützliches Mitglied unserer Gesellschaft sei. Nach einigem Suchen fanden wir einen Platz, wie Sam ihn wünschte, und wir lagerten uns.

Bald brannte das Feuer, und Bob war emsig beschäftigt, dem charakteristischen Vogel Nordamerikas sein Federkleid auszuziehen. Unterdessen wurde es nun wirklich Nacht – pechschwarze Nacht, und die leise flackernde Flamme ließ uns die Bäume, Äste und Zweige der Umgebung in grotesken Gestaltungen erscheinen. Jetzt war auch der Puter gebraten. Wir hielten eine köstliche Mahlzeit und schliefen dann ruhig bis früh.

Am Morgen brachen wir auf und gelangten bald in das Tal des Short-Rivulet. Es war nicht lang, wie ja auch sein Name sagte. Der Bach hat nur schwachen Zufluß von wenigen hügelförmigen Höhen her, und es schien, daß er während der warmen Jahreszeit ganz vertrocknete.

Wir fanden zerstörte Zelte, aufgewühlte Plazers, zerrissene Erdhütten und überall die Spuren eines heftigen Kampfes.

Kein Zweifel, die Goldgräber waren von Räubern überfallen worden. Aber wir sahen keine Leichen.

Nach längerem Suchen bemerkten wir drüben unter den Bäumen des Urwaldes ein größeres Zelt. Es war auch zerrissen, zerschnitten und zerfetzt. Keine einzige Spur, kein Fund, kein einziger kleiner Gegenstand verriet, wem es gehört hatte.

Wie enttäuscht war Bernard, welcher vollständig überzeugt gewesen war, seinen Bruder hier zu finden!

„Hier hat Allan gewohnt,“ behauptete er.

Er ahnte es, und die Ahnung mochte ihm wohl das Richtige sagen. Wir umritten das rings vom Urwald eingefaßte Tal und trafen die Spuren der abgezogenen Räuber; sie führten nach dem Westabhange des Gebirgsstocks zu.

„Allan wollte von hier aus über die Lynn nach dem Humboldtshafen. Die Räuber sind ihm nach!“ meinte Bernard.

„Gewiß; vorausgesetzt, daß er entkommen ist,“ antwortete ich. „Der Umstand, daß wir keine Leiche sehen, beweist noch nicht, daß die Überfallenen entkommen sind. Ich denke, die Toten wurden in den See geworfen.“

Tief unter den Wassern des Black-eye lagen wohl jetzt die Männer, welche von Reichtum, Glück und Genuß geträumt hatten. Der finstere Dämon, Gold genannt, hatte sie aus ihren Träumen gerissen und in den Tod gestürzt!

„Und wer waren die Mörder?“ fragte Marshall grimmig.

„Der Mulatte und die beiden Morgans, die uns so lange Zeit entgangen sind, trotzdem wir uns an ihre Fersen geheftet haben.“

„Jetzt aber werden sie unser,“ behauptete Sans-ear, „und dann gehören sie keinem Anderen als Sam Hawerfield, der seine Abrechnung mit ihnen zu halten hat.“

„Also vorwärts, und ihnen nach!“

Die Fährte war nicht so deutlich, daß wir die einzelnen Spuren hätten zählen können; weiter unten aber hatte sich im Hochwalde ein jeder seine eigene Bahn gesucht, und wir zählten zwanzig Tiere. Ich betrachtete die Eindrücke eine ganze Strecke lang genauer. Das Ergebnis war:

„Es sind sechzehn Reiter und vier bepackte Maultiere. Die Hufe der letzteren haben sich schärfer abgezeichnet, und Maultiere sind es, dies sieht man genugsam daraus, daß sie öfters störrisch gewesen sind. Die Räuber werden also nicht so schnell vorwärts kommen wie wir, und so ist alle Hoffnung vorhanden, daß wir an sie kommen, noch ehe sie Allan ereilen.“

Am Nachmittag erreichten wir die Stelle, an der sie ihr erstes Nachtlager gehalten hatten. Wir setzten unsern Ritt so lange fort, als wir die Fährte erkennen konnten, und legten uns dann nur auf einige Stunden zur Ruhe. Bei Tagesgrauen ging es schon wieder weiter, und bereits am Vormittag kamen wir an die Stelle ihres zweiten Nachtlagers. Wir waren ihnen also bereits um einen Tag näher gerückt.

Am Abend wollten wir den oberen Sacramento erreichen, der hier von der Shasta niederströmt, und durften dann hoffen, die Bravos morgen einzuholen; aber wir gerieten auf ein höchst unangenehmes Hindernis. Nämlich die Fährte teilte sich. Der Sacramento macht hier einen weiten Bogen, und grad auf die Mitte dieses Bogens hielten wir zu. Nun aber ging die Spur der vier Maultiere und von sechs Reitern nach links ab, um den Bogen abzuschneiden, während die Anderen die vorige Richtung beibehalten hatten.

All devils, das ist fatal,“ meinte Sam. „Ist das eine Kriegslist oder ist es zum Beispiel nur Zufall?“

„Uns gegenüber gewiß nur Zufall,“ antwortete ich.

„Aber weshalb teilen sie sich?“ fragte Bernard.

„Das ist sehr leicht einzusehen,“ antwortete ich. „Die Maultiere, welche die am Black-eye gemachte Beute tragen, sind den Bravos am schnellen Vorwärtskommen hinderlich; darum wird der Transport vorausgeschickt, während die Anderen nun mit vermehrter Eile Allan nachjagen. Haben sie ihm das Seinige abgenommen, so wird es wohl am Sacramento einen Ort geben, an welchem man sich wieder trifft.“

Well, so lassen wir die Maultiere zum Beispiel laufen, und machen uns mit vermehrter Eile hinter die Andern her. Meine Tony hat es bereits längst schon übel genommen, daß wir wie Schnecken ziehen!“

„Schöner Schneckenritt! Übrigens gibt es hier noch eins zu bedenken, Sam. Welchen von den beiden Morgans willst du für dich haben?“

Zounds, wie du nur noch fragen kannst, Charley; alle Beide natürlich!“

„Hm, das wird nicht gut gehen!“

„Warum?“

„Die Maultiere tragen Gold. Wenn Fred Morgan sie von sich schickt, wem wird er sie denn anvertrauen?“

„Nun?“

„Natürlich sonst niemand als seinem Sohne.“

„Da hast du Recht! Aber was machen?“

„Welchen möchtest du eher haben?“

„Den Alten!“

„Nun gut; dann also vorwärts und gradaus!“

Wir setzten wirklich zur vorhergedachten Zeit über den Sacramento und hielten dann drüben unser Lager. Dann ging es am Morgen weiter in das Land hinein, immer der Fährte nach, welche stets deutlich blieb. Am Mittag erreichten wir die Ebene, und die Spuren waren so frisch, daß die Truppe kaum noch fünf Meilen vor uns sein konnte.

Jetzt strengten wir unsere Pferde zu einem letzten Ritt an. Wir mußten den Verfolgten so nahe kommen, daß wir uns an ihr Nachtlager schleichen konnten. Wir befanden uns Alle in einer beinahe fieberhaften Aufregung; wir hatten ja nun die Mörder, denen wir so lange vergeblich nachgejagt waren, zum Greifen vor uns. Mein Rapphengst trug mich immer voran; hart hinter mir kam der Klepper des Apachen. Da, was ist das? Eine solche Menge von Pferdespuren, daß hier wenigstens hundert Reiter gewesen sein mußten. Der Boden zeigte Spuren eines Kampfes, und an einer großblätterigen Pflanze sah ich sogar Blut kleben!

Wir durchforschten den Platz genau. Links hinüber führten die Spuren dreier Pferde in die Ebene, während eine breite Hufbahn gradaus ging.

Wir folgten der breiten Bahn, und zwar in höchster Eile. Die Reiter waren jedenfalls Indianer gewesen, und da Allan keinen großen Vorsprung hatte, konnte er recht gut in ihre Hände geraten sein. Noch nicht weiter als eine Meile waren wir gekommen, so sahen wir die Zelte eines Indianerlagers vor uns.

„Shoshones!“ rief Winnetou.

„Schlangenindianer!“ stimmte Sam bei, und wir ritten, ohne anzuhalten, in das Lager ein.

In der Mitte desselben standen mehr als hundert Krieger um einen Häuptling versammelt. Als sie uns kommen sahen, griffen sie zu ihren Büchsen und Tomahawks und öffneten den Kreis.

„Ko-tu-cho!“ rief Winnetou, auf den Häuptling zusprengend, als wolle er ihn über den Haufen reiten; einen einzigen Schritt vor ihm aber parierte er sein Pferd.

Der Angeredete hatte bei dem waghalsigen Reiterstückchen Winnetous mit keiner Wimper gezuckt, jetzt aber streckte er die Hand aus.

„Winnetou, der Häuptling der Apachen! Es kehrt Freude ein bei den Kriegern der Shoshones und Wonne in dem Herzen ihres Häuptlings, denn Ko-tu-cho hat sich gesehnt wiederzusehen seinen tapferen Bruder!“

„Und mich,“ rief Sam. „Kennt der Häuptling der Schlangen nicht mehr Sans-ear, seinen Freund?“

„Ko-tu-cho kennt all seine Freunde und Brüder. Sie seien willkommen in den Wigwams seiner Krieger!“

Da ertönte seitwärts ein gräßlicher Schrei. Ich wandte mich um und sah Bernard bei einer menschlichen Gestalt am Boden knien. Schnell trat ich hinzu. Der da neben der Hütte lag, war tot; eine Kugel war ihm in die Brust gegangen. Es war ein Weißer, und er sah Bernard so ähnlich wie ein Bruder dem andern – ich wußte Alles!

Auch die Andern kamen herbei. Keiner sprach ein Wort. Bernard kniete lautlos neben dem Ermordeten, küßte ihn auf Lippen, Stirn und Wangen, streichelte ihm das wirre Haar aus dem Gesicht und schlang die Arme um seinen Nacken. Dann erhob er sich.

„Wer hat ihn getötet?“ fragte er.

Der Häuptling antwortete:

„Ko-tu-cho sandte seine Krieger aus, ihre Rosse zu üben; da sahen sie drei Bleichgesichter kommen und hinter ihnen andere Bleichgesichter als Verfolger. Wenn vierzehn Männer drei Männer verfolgen, so sind die vierzehn Männer nicht gut und tapfer; daher eilten die roten Krieger den dreien entgegen, um ihnen zu helfen. Aber die vierzehn schossen auf die Weißen, und dieses Bleichgesicht wurde getroffen. Da nahmen die roten Krieger elf gefangen und drei entkamen. Dieses Bleichgesicht aber starb in ihren Armen, und die beiden, die mit ihm waren, ruhen aus auf den Matten des Wigwams.“

„Ich muß sie sehen, auf der Stelle! Dieser Tote ist mein Bruder, ist der Sohn meines Vaters,“ fügte Bernard hinzu, an die weitere Bedeutung denkend, welche bei den Wilden das Wort Bruder hat.

„Mein weißer Bruder ist gekommen mit Winnetou und Sans-ear, den Freunden der Shoshonen, darum wird Ko-tu cho tun, was er begehrt. Er folge mir!“

Wir wurden in ein großes Zelt geführt, in welchem die Gefangenen lagen, mit Riemen an Händen und Füßen gebunden. Der Mulatte war dabei: er hatte eine Narbe über die rechte Wange. Die beiden Morgans waren nicht zu sehen.

„Was werden meine roten Brüder mit diesen Bleichgesichtern tun?“ fragte ich.

„Mein weißer Bruder kennt sie auch?“

„Ich kenne sie; es sind Räuber, welche den Tod vieler Männer auf ihrem Gewissen haben.“

„So mögen meine weißen Brüder über sie richten.“

Ich tauschte mit den Andern einen Blick des Einverständnisses und antwortete:

„Sie haben den Tod verdient, doch fehlt uns die Zeit, sie zu richten. Wir übergeben sie unseren roten Brüdern.“

„Mein Bruder tut recht daran!“

„Wo sind die beiden Weißen, welche bei dem Toten waren?“

„Meine Brüder mögen mir folgen!“

Wir wurden in ein zweites Zelt geführt, in welchem zwei Männer im Schlafe lagen; sie waren wie Tropeiros gekleidet. Sie wurden geweckt, aber ihre Antworten überzeugten uns, daß sie in einem rein dienstlichen Verhältnisse zu Allan gestanden hatten und uns nur über Äußerlichkeiten Auskunft erteilen konnten. Wir kehrten wieder zu dem Toten zurück.

Bernard hatte während der letzten Monate eine harte Schule durchgemacht; er war äußerlich und innerlich stärker geworden, aber seine Hände zitterten dennoch, als er die Taschen des so lange gesuchten Bruders untersuchte. Er entnahm ihnen Alles, was sie enthielten. Er betrachtete jeden einzelnen der ihm bekannten Gegenstände, und als er das Taschenbuch aufschlug und die lieben Schriftzüge erblickte, küßte er die Blätter und brach in ein bitteres Schluchzen aus. Ich stand neben ihm und konnte nicht verhindern, daß auch mir die Tränen über die Wangen rannen.

Die Shoshonen standen dabei, und in den Mienen des Häuptlings zuckte es wie Verachtung über unsere Schwäche. Winnetou mochte das nicht leiden; er deutete auf uns:

„Der Häuptling der Shoshonen denke nicht, daß diese Männer Weiber sind. Der Bruder dieses Toten hat gekämpft mit den Pfahlmännern und Comanchen und eine starke Hand gezeigt, und mein roter Bruder kennt dieses Bleichgesicht: es ist Old Shatterhand.“

Ein leises Gemurmel durchlief die Reihen der Schlangenindianer, und ihr Häuptling trat näher und bot uns seine Hand.

„Dieser Tag wird gefeiert werden in allen Wigwams der Shoshonen. Meine Brüder werden bleiben in unsern Hütten; sie werden von unserm Fleische essen, die Pfeife der Freundschaft mit uns trinken und schauen die Spiele unserer Krieger.“

„Die weißen Männer sind die Gäste der roten Brüder, aber nicht heut, sondern sie werden wiederkommen. Sie werden zurücklassen die Leiche und die Habe ihres erschlagenen Bruders und sofort nachjagen den entflohenen Mördern,“ antwortete ich.

„Ja,“ bestätigte Bernard, „ich lasse Allan und seine Diener hier zurück und werde keine Minute länger warten. Wer geht mit zur Verfolgung?“

„Wir Alle natürlich!“ meinte ich.

Auch Winnetou und Sam schritten zu ihren Pferden. Der Häuptling gab den Seinigen einige leise Befehle; ein prächtiges, indianisch aufgezäumtes Roß wurde ihm gebracht.

„Ko-tu-cho wird gehen mit seinen Brüdern. Das Eigentum des toten Bleichgesichts wird aufbewahrt werden im Wigwam des Häuptlings, und seine Frauen werden weinen und singen für den Toten!“

Das war ein kurzer Besuch bei den tapfern Snakes; wir nahmen eine tüchtige Kraft mit fort zur Verfolgung der Räuber.

Ihre Spur war leicht zu sehen. Sie hatten wenig über zwei Stunden Vorsprung; aber es war, als ob unsere Pferde unsere Absicht verständen: – sie fegten über die Ebene, daß die Funken gesprüht hätten, wenn der Boden ein steiniger gewesen wäre. Nur Bobs Brauner zeigte sich ermüdet, aber der Neger trieb das Tier unaufhörlich an, daß es Schritt halten mußte.

„Hoh, hüh, hüüh!“ brüllte er. „Pferd müssen laufen, müssen viel rennen, daß Bob erwischen Mörder von gut Massa Allan!“

Wir brausten dahin.

Die Mitte des Nachmittages war bereits da, und die Fliehenden mußten vor Einbruch des Abends erreicht werden. So ging es fort über drei Stunden lang. Da stieg ich denn doch vom Pferde, um die Spur zu untersuchen. Sie erschien außerordentlich scharf, obgleich der Boden mit dichtem, kurzen Grase bedeckt war; noch kein einziger Halm hatte sich aufgerichtet. Die Räuber konnten also höchstens eine Meile von uns entfernt sein.

Jetzt nahm ich von Zeit zu Zeit mein Fernrohr zur Hand, um in der Richtung der Fährte den Horizont abzusuchen. Da, endlich erblickte ich drei Punkte, welche sich scheinbar langsam vor uns her bewegten. „Da vorn sind sie!“

„Halloo, drauf!“ rief Bernard und trieb sein Pferd an.

„Halt!“ rief ich ihm zu. „Damit ist uns nicht gedient. Wir müssen sie umfangen. Mein Hengst und das Pferd des Häuptlings der Schlangen halten den Ritt noch aus. Ich reite rechts, Ko-tu-cho links; in zwanzig Minuten haben wir sie überholt, ohne daß sie uns bemerken, und dann reitet ihr auf sie los.“

„Uff!“ rief der Häuptling der Shoshonen, und wie von einer Sehne geschnellt, flog er nach links hinüber.

Ich ebenso nach rechts, und in zehn Minuten hatte ich unsere Gefährten, obgleich sie ebenfalls vorwärts ritten, aus den Augen verloren. Ich mußte mich bereits parallel mit den Verfolgten befinden. Mein Hengst zeigte trotz der Anstrengungen der letzten Tage keine Ermattung; er hatte keinen Flocken Schaum vor seinem Maule und keinen Anflug irgend eines Schweißes auf seiner glatten Haut und fegte dahin, so elastisch, als ob sein schön gebauter Körper aus lauter Gummi bestände.

Nach fünfzehn Minuten bog ich links ein, und nach weiteren fünf Minuten sah ich durch das Rohr die drei Mörder seitwärts hinter mir und den Häuptling der Schlangenindianer, wenn auch ein wenig zurück im Verhältnisse zu mir, gleichfalls vor ihnen. Er hielt jetzt auf sie zu, und ich tat dasselbe.

Da wir uns nun gegenseitig entgegenritten, bemerkten sie uns sehr bald. Sie blickten hinter sich – und sahen sich hier auch verfolgt; es gab für sie nur eine Art des Entkommens, das Durchbrechen. Sie wandten sich hinüber zu dem Shoshonen.

„Jetzt halte aus, mein Rappe!“

Jenen schrillen, scharfen Schrei ausstoßend, der ein indianisch dressiertes Pferd zur Aufbietung seiner ganzen Kraft und Schnelligkeit antreibt, warf ich den Arm empor und stellte mich aufrecht in die Bügel, um dem Tiere die Last und das Atmen zu erleichtern. Es war ein Ritt, wie man ihn nur macht, wenn der Savannenbrand hinter dem Reiter hertobt.

Da hielt der Eine, in dem ich sofort Fred Morgan erkannte, sein Pferd an und legte die Büchse an die Wange. In demselben Augenblick, in welchem es aufblitzte, stürzte der Häuptling, wie vom Wetter getroffen, samt dem Pferde zur Erde. Ich glaubte, daß der Schuß ihn oder sein Pferd getötet habe, und stieß einen Schrei der Wut aus; ich hatte mich aber geirrt, denn schon im nächsten Moment saß er wieder auf und stürmte mit geschwungenem Tomahawk auf die Drei ein. Es war eines jener Kunststücke gewesen, zu welchen die Indianer ihre Pferde jahrelang dressieren. Sein Pferd war abgerichtet, auf ein bestimmtes Wort sich blitzschnell zur Erde zu werfen; dann mußte die Kugel über Beide hinwegfliegen.

Eben schlug er den Einen nieder, als ich auf Fred Morgan einstürmte. Ich mußte ihn lebendig haben und achtete nicht darauf, daß er seine Büchse, deren anderer Lauf noch geladen war, auf mich richtete. Sein Pferd stand nicht ruhig; der Schuß krachte, und die Kugel fuhr durch den Ärmel meines Jagdrockes.

„Hurra, hier ist Old Shatterhand!“ rief ich.

Der Lasso sauste; mein Pferd warf sich herum und galoppierte rückwärts; ich fühlte einen starken Ruck, doch lange nicht so stark wie damals bei der Büffelkuh des ehrenwerten Don Fernando de Venango e Colonna de Molynares de Gajalpa y Rostredo, und blickte um mich. Die Schlinge hatte ihm beide Arme an den Leib gezogen und riß ihn hinter mir her. Zu gleicher Zeit sah ich, daß auch Sam mit den beiden Andern den Platz erreicht hatte. Der dritte Räuber schoß auf Bernard, wurde aber in einem und demselben Augenblicke von der Kugel Sams und des Häuptlings niedergestreckt.

Ich sprang ab. Endlich hatten wir Fred Morgan! Er war durch den Sturz vom Pferde betäubt. Ich nahm meinen Lasso von ihm ab und band ihn mit seinem eigenen. Nun waren auch die Andern da. Bob war der Erste, der vom Pferde sprang; er zog das Messer.

„Oh, ah, da sein Nigger Bob mit Messer, der stechen langsam zu Tode schlecht‘ bös‘ Räuber und Mörder!“

„Stopp!“ rief Sam, ihn bei der Hand erfassend. „Dieser Mann ist mein!“

„Sind die Andern tot?“ fragte ich.

„Beide!“ antwortete Bernard, dem das Blut von seinem rechten Schenkel niederlief.

„Seid Ihr verwundet?“

„Bloß gestreift.“

„Das ist trotzdem schlimm, da wir noch einen weiten Ritt vor uns haben. Wir müssen ja den Maultieren nach! Was tun wir mit Morgan?“

„Er ist mein,“ antwortete Sam, „und so habe ich über ihn zu bestimmen. Ich übergebe ihn Master Bernard und Bob, die ihn nach dem Lager der Shoshonen bringen und dort bewachen, bis wir zurückkehren. Bernard ist verwundet und hat zum Beispiel mit seinem Bruder zu schaffen; Bob muß bei ihm sein, und wir Vier sind, wie ich denke, Manns genug für die sechs Männer bei den Maultieren.“

„Der Plan ist gut, also rasch!“

Morgan wurde sorgsam auf sein Pferd gebunden; Bernard und Bob nahmen den Gefangenen in ihre Mitte und kehrten nach dem Lager der Shoshonen zurück. Wir aber blieben, um unsere Pferde zunächst verschnaufen und ein wenig weiden zu lassen.

„Lange dürfen wir nicht verweilen,“ meinte ich. „Wir müssen den Tag noch benutzen, um vorwärts zu kommen.“

„Wohin gehen meine Brüder?“ fragte Ko-tu-cho.

„Nach dem Wasser des Sacramento zwischen den Bergen von San John und San Josef,“ antwortete Sam.

„So mögen sie nicht Sorge haben! Der Häuptling der Shoshonen kennt jeden Schritt des Weges nach diesem Wasser. Sie können ihre Tiere grasen lassen und dann des Nachts reiten.“

„Wir hätten diesen Morgan doch nicht so schnell fortschicken, sondern ihn erst ausfragen sollen,“ bemerkte Sam.

„Warum?“

„Wir konnten ihn verhören.“

„Das werden wir später tun, oder vielmehr, das brauchen wir gar nicht zu tun. Seine Schuld ist zehnmal erwiesen.“

„Aber wir konnten von ihm erfahren, wo er mit den Maultieren zusammentreffen wollte!“

Pshaw! Glaubst du wirklich, daß er uns das gesagt hätte?“

„Möglich!“

„Nein. Er wird uns seinen Sohn und die geraubten Schätze nicht an das Messer liefern, besonders da er sehr genau weiß, daß er damit sein Schicksal nicht zu ändern vermag.“

„Mein Bruder Shar-Iih hat recht!“ bestätigte auch Winnetou. „Und die Augen der roten und weißen Jäger sind scharf genug, um zu finden die Spuren der Maultiere.“

Da hatte er allerdings nicht ganz unrecht, doch hätten wir sicher Zeit erspart, wenn wir den Ort erfahren konnten.

„Wen suchen meine Brüder?“ fragte der Shoshone, ganz gegen die sonstige Gewohnheit dieser Leute, welche Fremden gegenüber niemals Neugierde verraten. Hier aber befand er sich bei Männern, die er sich ebenbürtig dachte, und konnte also von der sonst gebotenen Zurückhaltung abweichen.

„Die Gefährten der Räuber, welche von den Kriegern der Shoshonen gefangen wurden.“

„Wie viel sind es?“

„Sechs.“

„Die wird ein Einzelner meiner Brüder töten. Wir werden sie finden und zu den Übrigen versammeln.“

Als die Dämmerung hereinbrechen wollte, waren unsere Pferde so frisch, daß wir sie von Neuem anstrengen durften. Wir saßen auf und überließen uns der Führung des Häuptlings, welcher während des Abends und der ganzen Nacht uns voranritt und dabei eine Sicherheit bekundete, die uns die Wahrheit seiner Worte bewies, daß er jeden Schritt des Weges kenne.

Die Prairie lag längst hinter uns. Wir hatten bald Berge zu erklimmen, bald Täler zu durchreiten und bald kurze Wald- oder Savannenstrecken zu durchschneiden. Nach einer Rast, welche wir am Morgen hielten, folgten wir der eingeschlagenen Richtung, bis wir das Tal des Sacramento vor uns sahen.

Wir ritten in dasselbe hinab. Grad vor uns lag an einer Stelle, von welcher aus sich links und rechts ein Seitental in die Berge zog, ein aus Erdmauern, die mit Brettern verkleidet waren, aufgeführtes Haus, dessen Türüberschrift es als Hotel bezeichnete. Der Besitzer desselben hatte einen sehr günstigen Punkt für seine Niederlassung gewählt; das zeigte die Frequenz, deren er sich zu erfreuen haben mochte, denn vor dem Hause stand eine Menge von Karren, Reit- und Lasttieren, und das Innere desselben mochte wohl nicht alle Gäste fassen, da die im Freien angebrachten Tische und Bänke sehr zahlreich besetzt waren.

„Gehen wir dort hinein, um uns zu erkundigen?“ fragte mich Sam.

„Hast du noch Nuggets für Ale aus Burton in Staffordshire?“ entgegnete ich ihm lachend.

„Habe noch einiges von dieser Sorte!“

„So gehen wir hinein!“

„Hinein nicht, sondern bloß hin, wenn es dir gefällig ist; denn ich liebe zum Beispiel nichts so sehr wie eine Handvoll freier, frischer Luft.“

Wir ritten hinzu, banden unsere Pferde an und setzten uns in einen Bretterverschlag, über welchem die stolze Inschrift Veranda prangte.

„Was trinken die Herren?“ fragte der herbeieilende Ganymed.

„Bier. Was kostet es?“

Aha, der gute Sam war heut vorsichtiger, als damals im Yellow-water-ground.

„Porter einen halben Dollar, Ale ebenso.“

„Dann Porter!“

Er brachte vier Flaschen und eben wollte trotz seiner Eilfertigkeit Sam die Erkundigung beginnen, als ich einen Blick durch das Loch warf, welches auf der Straßenseite als Fenster diente, und ihm schleunigst einen Wink gab.

Das eine Seitental herab kamen nämlich sechs Reiter, von denen zwei vier Maultiere am Zügel führten, und der Vorderste war kein Anderer als Patrik Morgan. Sie hielten auf das Hotel zu, banden ihre Tiere an und setzten sich dann an einen Tisch, welcher draußen unter unserm Fenster stand. Besser und bequemer konnten wir es uns ja gar nicht wünschen!

Aber warum waren ihre Maultiere nicht mehr beladen? Sicher hatten sie die geraubten Gegenstände in irgend einem Versteck untergebracht und begaben sich nun nach dem Stelldichein, an welchem sie mit ihren Gefährten zusammentreffen wollten.

Sie bestellten Brandy und begannen dann ihre Unterhaltung, von welcher wir jedes Wort verstanden.

„Ob wir Euren Vater und den Kapitän schon treffen werden?“ fragte der Eine.

„Möglich,“ antwortete Patrik. „Sie konnten rascher reiten als wir, und werden mit diesem Marshall wohl leicht fertig geworden sein. Er hatte ja bloß zwei Begleiter.“

„Ein höchst unvorsichtiger Mensch; solche Schätze bei sich führen und nur zu dreien reisen!“

„Desto besser für uns! Unvorsichtig scheint er überhaupt stets gewesen zu sein, sonst hätte er im Yellow-water-ground nicht seinen geschriebenen Reiseplan weggeworfen. Aber, alle Teufel, was ist denn das!“

„Was?“

„Seht Euch einmal dort die Pferde an!“

„Drei prächtige Tiere; aber das vierte ist ja ein wahres Unikum. Welcher vernünftige Mensch setzt sich auf eine solche miserable Kreatur!“

Sam ballte die Faust.

„Werde euch bekreaturen, daß euch zum Beispiel die Seele aus der Haut fahren soll!“ brummte er.

„Ja, ein Unikum ist es allerdings, dieses Pferd; trotz seines häßlichen Aussehens ist es eines der bekanntesten und berühmtesten Pferde des wilden Westens. Wißt Ihr, wem es gehört?“

„Nun?“

„Sans-ear.“

„Alle Wetter! Der soll allerdings einen solchen Ziegenbock reiten!“

„Dieser Kerl ist also wirklich hier! Trinkt aus! Ich habe einmal ein kleines Zusammentreffen mit ihm gehabt und mag mich nicht von ihm erkennen lassen.“

„Wirst es aber doch nicht umgehen können,“ murmelte Sam.

Die Sechs stiegen auf und ritten talabwärts davon.

„Das sind die Männer, welche wir suchen,“ erklärte ich dem Shoshonen. „Meine beiden roten Brüder werden sie überholen, und ich folge mit Sam nach. Dann nehmen wir sie zwischen uns.“

„Uff!“ antwortete er und stand auf.

Er und Winnetou stiegen zu Pferde. Sam bezahlte das Porterbier, welches gar nicht so übel gewesen war, und dann ritten wir hinterdrein, uns immer so haltend, daß wir vor den Blicken der Verfolgten gedeckt waren.

Die Gegend wurde schnell einsam, und als wir ein Terrain erreichten, wo uns kein Gebüsch und keine Ecke des Weges mehr verbergen konnte, ließen wir unsere Pferde weit ausgreifen. Wir erreichten die Galgenvögel, ehe sie sich nur recht bewußt wurden, daß es ihnen galt. Hart vor ihnen befand sich Winnetou mit Ko-tu-cho.

Good day, Master Merkroft!“ grüßte Sam. „Sind das noch immer die Pferde, die ihr den Comanchen gestohlen habt?“

s‘ death!“ fluchte der Angeredete und raffte die Büchse empor, wurde aber vom Pferde gerissen, ehe er losdrücken konnte.

Die beiden Häuptlinge hatten sich nur wenige Schritte vor den Bravos gehalten, und der Lasso Winnetous war ihm um die Schultern geflogen. Im Nu stoben die andern Fünf auseinander. Sam und der Shoshone schossen ihre Büchsen auf sie ab und wollten ihnen folgen.

„Halt, laßt sie!“ rief ich. „Wir haben ja den Hauptspitzbuben!“

Sie gehorchten nicht. Noch zwei Schüsse krachten, und den Letzten schlug der nachsetzende Ko-tu-cho vom Pferde.

„Was tut ihr nur?“ schalt ich Sam. „Ihre Spur hätte uns sicherlich erst zum Stelldichein und dann an den Ort geführt, wo sie ihren Raub verborgen haben!“

„Dieser Morgan hier wird ihn uns auch sagen müssen!“

„Wird sich hüten!“

Es zeigte sich bald, daß ich recht hatte, denn er gab trotz aller Drohungen auf keine unserer Fragen eine Antwort. Das Gold, wegen dessen so viele Menschen hatten sterben müssen, war verloren – deadly dust!

Wir banden ihn, wie vorher seinen Vater, auf das Pferd, ritten, um das Hotel zu vermeiden, durch den Sacramento, der hier nicht tief war, und erreichten die Berge, ohne von jemand behelligt zu werden.

Auch während unseres ganzen weiteren Rittes war kein Wort aus dem Gefangenen herauszubringen, und nur, als wir das Lager erreichten und er den uns entgegenkommenden Juwelier erkannte, murmelte er einen Fluch in den Bart. Ich schaffte ihn in das Zelt, in welchem sich noch die andern Gefangenen befanden. Auch sein Vater lag da.

„Master Morgan, hier stelle ich Euch Euern Sohn vor, nach dem Ihr wohl eine große Sehnsucht gehabt habt,“ sagte ich zu ihm.

Der Alte blitzte mich mit wutvollen Augen an, sprach aber kein Wort. Es war gegen Abend, als wir das Lager erreicht hatten; das Gericht über die Gefangenen mußte also bis morgen verschoben werden. Wir hielten als Gäste des Häuptlings in dessen Zelt unser Nachtmahl und rauchten das Calumet des Friedens. Dann begab sich jeder in das ihm angewiesene Zelt.

Die letzten Tage hatten mich doch ermüdet, und ich schlief außerordentlich fest, was hier mitten im Lager auch der Fall sein durfte, draußen in der Prairie aber sicherlich nicht geschehen wäre. Träumte ich oder war es Wahrheit? Ich befand mich im Kampfe mit wilden Gestalten, welche mich drohend umringten; ich schlug rasend um mich, und doch wuchsen die Feinde zu Dutzenden immer wieder aus dem Boden empor. Der Schweiß lief mir von der Stirn, ich sah meine letzte Stunde kommen und fühlte zum ersten Male die Angst des Todes mich erfassen. Es war ein Traum, und die Beklemmung erweckte mich doch endlich, und kaum halb wach geworden, vernahm ich draußen ein entsetzliches Getümmel.

Ich sprang auf, griff, ohne vollständig bekleidet zu sein, zu den Waffen und eilte hinaus. Die Gefangenen hatten sich auf eine auch später nicht zu erklärende Weise ihrer Fesseln entledigt, waren aus dem Zelte entkommen und hatten die glücklicherweise zahlreich dort aufgestellten Wachen überrumpeln wollen.

Aus allen Zelten sprangen die braunen Gestalten der Indianer hervor, der Eine nur mit dem Messer, der Andere mit dem Schlachtbeile und ein Dritter mit der Büchse bewaffnet. Eben kam auch Winnetou herbei und überflog mit einem raschen Blick die Szene, welche sich im Scheine der Wachtfeuer abspielte.

„Rund um das Lager!“ donnerte er in das Getümmel hinein, und sofort huschten sechzig bis achtzig Gestalten zwischen die Zelte.

Ich erkannte, daß meine Teilnahme am Kampfe nicht nötig sei. Die Gefangenen hatten keine Feuerwaffen, und die Indianer waren ihnen an Zahl zehnfach überlegen. Als ich auch Sams Stimme mitten im Knäuel der Ringenden vernahm, konnte ich vollends beruhigt sein. Und in der Tat, es dauerte keine zehn Minuten, so erscholl der Todesschrei des letzten, welcher niedergemacht wurde. Ich sah von weitem sein fahles Gesicht; es war Fred Morgan, den Sams Messer getroffen hatte.

Langsam kam dieser nun zwischen den Zelten heraufgeschritten. Er erblickte mich und fragte:

„Charley! Warum warst du nicht dabei?“

„Ich dachte, ihr wäret euer genug.“

Well, ist auch so gewesen! Aber wenn ich nicht selbst vor dem Zelte der Gefangenen gesessen hätte, so wären sie zum Beispiel glücklich durchgekommen. Ich lag ganz an der Wand und hörte das Geräusch innen, und weil ich sofort die Wachen warnte, waren sie aufmerksam.“

„Ist jemand entkommen?“

„Keiner! Habe sie gezählt. Hatte mir aber meine Abrechnung mit den Morgans anders gedacht!“

Er kauerte sich vor mir nieder und schnitt die lange ersehnten zwei Kerben in seine Büchse ein.

„So, jetzt sind sie gerächt, die ich lieb hatte, Charley, und nun mag der Tod kommen, heut oder morgen!“

„Sam, wir wollen als Christen hinzufügen: Möge Gott den Verbrechern ein gnädiger Richter sein!“

Well, Charley; ich hasse sie nicht über das Grab hinaus. Es sei ihnen verziehen!“

Er ging langsam weiter und kroch in sein Zelt.

Am andern Tage gab es eine traurige Feier: Allan Marshall wurde begraben. In Ermangelung eines Sarges war er in mehrere Büffelfelle eingeschlagen worden. Die Shoshonen hatten von Steinen ein Viereck aufgebaut, in welches die Leiche gelegt wurde. Dann wurde das Viereck zur Pyramide zugespitzt, um welche man so viele Steine häufte, als zu finden waren. Oben auf die Spitze steckte ich ein Kreuz aus Baumästen – das Siegeszeichen der Erlösung. Bernard bat mich, eine kurze Leichenrede zu sprechen und ein Vaterunser vorzubeten. Ich tat es tief ergriffen und sah mit inniger Rührung, daß sämtliche Shoshonen, welche ernst im Kreise standen, unserm Beispiel folgten und ihre Hände falteten.

Als das Begräbnis beendigt war, ließen die Snakes dem trauernden Bernard keine Zeit, seinem Schmerze nachzuhängen. Wir blieben eine ganze Woche da, welche wir so mit Jagd, Kampfspielen und andern Unterhaltungen verbrachten, daß sie uns wie ein Tag wurde. Dann kehrten wir nach San Francisco zurück. – – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Unter Den Comanchen

Unter den Comanchen

Da, wo die Gebiete von Texas, Arizona und Neu-Mexiko zusammenstoßen, also an den Zuflüssen des Rio Grande del Norte, erheben sich die Berge der Sierren de los Organos, Rianca und Guadelupe und bilden ein Gebiet von wilden, wirr durcheinander laufenden Höhenzügen. Diese zeigen sich bald als riesige, nackte Bastionen, bald sind sie von dichtem, dunklem Urwalde bestanden und werden hier durch tiefe, fast senkrecht abfallende Cannons und dort durch sanft absteigende Talrinnen getrennt, welche seit ihrer Entstehung von der Außenwelt abgesondert zu sein scheinen. Und dennoch trägt der Wind Blütenstaub und Samen über die hohen Zinnen und Grate, daß sich eine Vegetation entwickeln kann; dennoch klimmt der schwarze und der graue Bär an den Felsen empor, um in die dort herrschende Einsamkeit hinabzusteigen; dennoch fand der wilde Bison hier einige Pässe, durch und über welche er auf seinen Herbst- und Frühjahrswanderungen in Herden zu Tausenden von Exemplaren zu drängen vermochte; dennoch tauchen hier bald weiße, bald kupferfarbige Gestalten auf, so wild wie die Gegend selbst, und wenn sie wieder abgezogen und verschwunden sind, weiß niemand, was geschehen ist, denn die schroffen Steinriesen sind stumm, der Urwald schweigt, und noch kein Mensch hat die Sprache der Tiere zu verstehen gelernt.

Hier herauf kommt der kühne Jäger, nur allein auf sich und seine Büchse angewiesen; hier herauf steigt der Flüchtling, welcher mit der Zivilisation zerfallen ist; hier herauf schleicht sich der Indsman, der aller Welt den Krieg erklärt, weil alle Welt ihn vernichten will. Da taucht bald die Pelzmütze eines kräftigen Trappers, bald der breitrandige Sombrero eines Mexikaners, bald der Haarschopf eines Wilden zwischen den Zweigen auf. Was wollen sie hier? Was treibt sie herauf in diese abgeschlossenen Höhen? Es gibt nur eine Antwort. die Feindschaft gegen Mensch und Tier, der Kampf. uni ein Dasein, welches dieses Kampfes nicht immer wert zu nennen ist.

Drunten auf der Ebene stoßen die Jagdgründe und Gebiete der Apachen mit denen der Comanchen zusammen; an diesen Grenzen geschehen Heldentaten, von denen keine Geschichte etwas meldet. Durch die Zusammenstöße dieser reckenhaften Völkerschaften wird mancher Einzelne oder mancher versprengte Trupp heraufgedrängt in die Berge und hat hier von Fuß zu Fuß mit dem Tode oder mit Gewalten zu kämpfen, die zu besiegen eine Unmöglichkeit zu sein scheint.

Der Rio Pecos entspringt auf der Sierra Jumanes, hält erst eine südöstliche Richtung ein und wendet sich dann, in die Sierra Rianca tretend, grad nach Süden. Nahe am Austritte aus derselben schlägt er nach Westen einen gewaltigen Bogen, den rechts und links Berge einfassen; diese weichen zu beiden Seiten seiner Ufer doch so weit zurück, daß hüben und drüben ein bald schmaler, bald breiterer Prairiestreifen Platz findet, der eine üppig grüne Grasvegetation zeigt, die sich in dem von den Höhen bis zum Fuße des Gebirges niedersteigenden Urwalde verliert.

Das ist ein höchst gefährliches Terrain. Die Berge sind langgestreckt, so daß es nur selten einen Spalt, eine Schlucht gibt, die zur Seite führt, und wer hier einem Feinde begegnet, vermag nicht auszuweichen, wenn er nicht sein Pferd im Stiche lassen will, ohne welches er vielleicht auch verloren ist.

Wir hatten dieses Flußtal erreicht, welches ich bereits früher, allerdings in zahlreicher und sicherer Gesellschaft, durchritten hatte. Jetzt waren wir nur zu Vieren und sahen unsere Kräfte noch dadurch geschwächt, daß wir einen Gefangenen zu überwachen hatten, der sich zwar außerordentlich gehorsam zeigte, aber doch sehr leicht den Verrat im Herzen tragen konnte.

Er ritt in der Mitte neben Bob; Sam war voran, und ich folgte mit Bernard Marshal, der während der Zeit unseres weiten Marsches sich als ein tüchtiger Reiter erwiesen hatte.

Es war am Vormittag, und die Sonne hatte eben die Spitze der jenseits des Flusses liegenden Berge erreicht. Obgleich es Mitte August war, berührten uns ihre Strahlen doch außerordentlich wohltuend, denn hier zwischen den dunklen Höhen verschwand sie bereits am Nachmittag; die Nächte waren ziemlich kalt und die Morgen so feucht und frisch, daß wir unsere Decken so lange wie möglich um die Schultern trugen.

Hoblyn war bisher am Tage stets frei in unserer Mitte geritten, nachts aber hatten wir ihn gebunden; er bürgte mit dem Leben für die Wahrheit seiner Mitteilungen.

„Haben wir noch weit bis zum Skettel- und Head-Pik?“ fragte mich Marshal.

„Morgen vielleicht erreichten wir die Berge, wenn wir, nach der Beschreibung von Hoblyn, nicht vorher rechts abgehen müßten.“

„Wäre es nicht besser, erst nach den Bergen zu gehen, da wir Fred Morgan dort treffen werden?“

„Selbst in diesem Falle dürften wir nicht direkt auf sie zuhalten, da er uns dann bemerken würde; er ist sicher bereits da, denn wir haben heute den vierzehnten August. Aber ich denke, Patrik ritt nach dem Tale, und wo der Sohn ist, wird wohl auch der Vater zu treffen sein. Übrigens kann Patrik höchstens einige Stunden Vorsprung haben, da wir ihm stets hart auf der Ferse geblieben sind. Heute nacht hat er sechs Meilen von hier gelagert, und wenn er zu gleicher Zeit, das heißt mit Tagesanbruch, mit uns aufgebrochen ist, so ist er höchstens drei Stunden vor uns her.“

Have care!“ rief in diesem Augenblick Sam Hawerfield vorn. „Dort liegt am Waldesrande auf dem Boden ein Zweig, der noch grün ist; er kann also noch nicht sehr lange abgebrochen worden sein, und folglich ist jemand vor kurzem hier gewesen.“

Wir ritten näher und stiegen ab. Sam hob den Zweig empor, besah ihn und reichte ihn dann mir hin.

„Schau dir doch das Ding zum Beispiel einmal an, Charley.“

„Hm, ich wollte wetten, daß dieser Zweig vor kaum einer Stunde abgebrochen wurde!“

„Meine es auch. Siehst du hier die Stapfen?“

Ich bückte mich zur Erde.

„Zwei Männer. Laß sehen!“

Ich zog zwei Stäbchen aus der Tasche, die ich mir nach den Fußspuren geschnitten hatte, welche am ersten Lagerplatze Patriks und seines Gefährten von uns beobachtet worden waren.

„Sie sind’s; das Maß stimmt ganz genau! Wir dürfen nicht weiter, Sam.“

„Hast recht! Er darf nicht bemerken, daß jemand hinter ihm ist. Doch, wenn die Strolche hier vom Pferde gestiegen sind, so müssen sie eine Absicht dabei gehabt haben. Dort ließen sie die Pferde stehen, die mit den Hufen gescharrt haben, und hier gehen die Fußspuren in das Holz. Wollen sehen!“

Wir ließen die drei Andern warten und drangen, die Spuren verfolgend, in den Wald ein. Wir hatten eine ziemliche Strecke zu gehen, bis Sam, welcher voran war, stehen blieb. Grad vor ihm war der Boden zerstampft und die Moosdecke aufgelockert; es hatte das Ansehen, als habe man unter derselben gegraben und sie dann wieder an ihre frühere Stelle gelegt. Ich bückte mich nieder und entfernte das Moos.

„Eine Hacke!“ rief Sam.

„Richtig!“ antwortete ich überrascht, „hier hat eine Hacke gelegen.“

Unter dem Moose zeigte der lockere, moderige Bottomgrund ganz genau den Abdruck einer Hacke, welche hier gelegen hatte.

„Die haben sie sich geholt. Aber wer hat sie hier versteckt?“ fragte Sam.

„Diese Frage ist sehr leicht zu beantworten. Als der Capitano mit dem Leutnant ihren Schatz vergraben und das Tal verlassen hatten, ist ihnen nach einiger Zeit dieses Werkzeug beschwerlich gefallen, und sie haben sich hier desselben entledigt. Jedenfalls werden wir draußen an den Saumbäumen ein Zeichen finden, welches sie sich für den Fall ihrer Rückkehr machten; denn die Hacke wird ja bei der Befreiung des Schatzes wieder gebraucht.“

Ich deckte das Moos wieder auf die Spur und ging zurück, um die Bäume draußen zu betrachten. Richtig! An zweien, nämlich an denen, welche rechts und links an der Fährte standen, waren noch die Spuren von drei Kerben zu sehen, die übereinander eingeschnitten waren, und außerdem hatte man bei beiden Bäumen die untersten drei Äste abgebrochen.

„Was folgt daraus, Charley? Kannst du es dir denken?“ fragte mich Sans-ear.

„Ebenso gut wie du und jeder Andere, denn dies zu erraten ist ja leicht genug: er hat wirklich die Absicht, nach dem Tale zu gehen.“

„Es ist notwendig, daß wir ihm dort zuvorkommen, und es fragt sich also, ob er direkt hingeht oder erst seinen Vater sucht.“

„Das werden wir erfahren und zwar sofort.“

Ich wandte mich zu Hoblyn:

„Haben wir noch weit bis dahin, wo der Weg nach diesem Tale hier vom Flusse abgeht?“

„Nein; höchstens noch zwei Stunden, wenn ich mich recht entsinne.“

„So reiten wir bis dorthin. Folgt er diesem Wege, so geht er direkt zu dem Verstecke; behält er aber die gegenwärtige Richtung bei, so will er erst seinen Vater holen, und nach seinem Verhalten haben dann auch wir uns zu richten! Übrigens müssen sie sehr lange hier verweilt haben, da er kaum eine Stunde vor uns ist. Aus diesem Grunde ist es ratsam, ein wenig zu rasten; er könnte um irgend einer Ursache willen vor uns halten bleiben und würde uns dann sicherlich bemerken.“

All right, Charley; so bleiben wir hier. Aber wir wollen nicht so unvorsichtig sein, wie er, und die Pferde im Freien lassen. Zieht sie herein zwischen die Bäume und nehmt ein weniges zu essen aus den Taschen, denn ich habe zum Beispiel seit Sonnenaufgang noch keinen Bissen zwischen die Zähne bekommen!“

Wir taten nach seinem Geheiße und ließen uns auf das weiche Moos nieder. Kaum war dies geschehen, so stieß Hoblyn einen schwachen Ruf aus und deutete mit der Hand zwischen die Bäume hinaus.

„Seht einmal die Schlucht da drüben, Mesch’schurs! Es war mir just so, als hätte ich ganz oben auf ihrem höchsten Punkt etwas schimmern sehen, gleich einer stählernen Lanzenspitze.“

„Unmöglich!“ meinte Sam. „Wie kann man auf so weithin eine Lanzenspitze bemerken?“

„Und doch, Sam,“ entgegnete ich ihm. „Wenn das Auge zufälligerweise grad auf den kleinen Punkt fällt, an dem sie sich befindet, so ist es recht gut möglich. Aber solche Lanzen tragen nur die Indsmen, und es müßten also – – –“ Wahrhaftig, jetzt sah auch ich es blinken, einmal ganz oben und dann ein Stück weiter herab. „Hört, ihr Leute, das können nur Indianer sein, und es ist ein unendliches Glück, daß wir auf den Gedanken gekommen sind, hier unterzukriechen. Wären wir weiter geritten, so hätten sie uns unbedingt bemerkt, da wir die Sonne grad gegenüber haben.“

Ich nahm mein Fernrohr heraus und richtete es gegen die Schlucht. Was ich sah, war ganz geeignet, mich höchst besorgt zu machen.

„Hier, Sam, sieh dir die Kerls einmal genauer an! Es sind ihrer wenigstens hundertundfünfzig.“

Er nahm das Glas an das Auge und gab es dann Bernard.

„Guckt Euch einmal die Rothäute an, Master Marshall! Habt Ihr vielleicht bereits einmal mit diesen Comanchen zu tun gehabt?“

„Noch nicht. Es sind also Comanchen?“

„Ja. Der Gegend nach könnten es wohl auch Apachen sein; aber diese tragen den Schopf anders als die Kerls, die dort herabkommen. Seht Ihr die roten und blauen Farben, mit denen sie ihre Visagen bemalt haben? Das ist das sicherste Zeichen, daß sie sich auf dem Kriegspfade befinden. Darum haben sie die Lanzenspitzen so blank geschliffen, und in jedem Köcher stecken einige vergiftete Pfeile, mit denen ich heut zum Beispiel noch gar nicht gern zu tun haben mag. Was meinst du, Charley, wenn sie hier vorüberkämen?“

„Sie würden uns unbedingt bemerken.“

„Wenn man nur hinaus könnte, um den Zweig zu entfernen und unsere Spuren zu verwischen; das geht aber nicht!“

„Würde auch nichts helfen, Sam, denn sie würden weiter oben unsere Fährte doch bemerken und diese sicherlich bis hierher verfolgen.“

„Das weiß ich; aber wir könnten dann Zeit gewinnen, hier auszubrechen und uns zu salvieren, ehe sie zurückkämen.“

„Das ist richtig. Die Hufspuren sind gleich hier am Rande. Vielleicht geht es, auch ohne daß man hinaustritt.“

Hinter mir stand ein dürres, dünnes Fichtenstämmchen. Ich schnitt es ab und angelte mit ihm den Zweig herein; dann suchte ich mir eine Stelle, an welcher dürre Nadeln auf dein Boden lagen, sammelte einige Handvoll davon und säte sie über die Spur hinweg, welche allerdings so schwach war, daß sie nur von dem scharfen Auge eines Indianers bemerkt werden konnte.

„Wollen sehen, ob es hilft, Charley! Mich würdest du damit nicht täuschen.“

„Inwiefern?“

„Hat ein Ahorn Kiefernadeln?“

Allerdings stand gerad über den Hufspuren ein Ahorn, aber die Sache war nun einmal nicht zu ändern. Übrigens nahmen nun die Indsmen unsere vollständige Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie hatten eben den unteren Teil der Schlucht erreicht, blieben dort halten und schickten einige Krieger auf Spähe aus.

Heigh-day, sie kommen nicht hierher!“ rief Sam erfreut.

„Woraus seht Ihr das?“ fragte Bernard.

„Erkläre es ihm, Charley, da du dich einmal seiner als Lehrmeister angenommen hast!“

„Sehr einfach. Von den drei Männern, welche rekognoszieren, reiten zwei längs der Höhe stromab und einer auf das Wasser zu. Sie wollen also übersetzen, werden aber nicht aufwärts kommen, da sie in diesem Falle das Terrain nicht ab-, sondern aufwärts untersuchen würden. Die zwei sollen das Terrain nach Spuren, also nach seiner Sicherheit untersuchen, während der dritte sehen soll, ob der Pecos hier zum Durchschwimmen geeignet ist.“

Bald kehrten alle drei zu den Wartenden zurück; sie schienen befriedigende Kunde zu bringen, denn die Truppe setzte sich direkt auf das Wasser zu in Bewegung. Wir konnten sie jetzt mit bloßem Auge zählen, und es ergab sich, daß ich sie eher etwas zu niedrig als zu hoch geschätzt hatte. Es waren lauter junge, kräftige Leute, die zu zwei Stämmen oder Dörfern gehören mußten, da zwei Häuptlinge an ihrer Spitze ritten.

„Die Beiden mit den Adlerfedem im Haare sind die Häuptlinge?“ fragte Bernard.

„Ja.“

„Ich hörte, daß diese stets Schimmel reiten!“

„Schimmel? Hihihihi!“ lachte Sam belustigt vor sich hin.

„Da seid Ihr sehr falsch berichtet, Bernard!“ meinte ich. „Drüben im alten Lande kommt es wohl vor, daß ein Feldherr einen Lieblingsschimmel reitet, hier aber nicht. Der Indianer ist überhaupt kein Freund der hellen Farben beim Pferde, und kann er schon auf der Jagd keinen Schimmel gebrauchen, weil das Weiß das Wild verscheucht, so bei einem Kriegszuge erst recht nicht. Nur im Winter, wo die Farbe dem Schnee gegenüber als Maske dient, kann es einmal bei einem einzelnen Unternehmen vorkommen, daß man auf einen Schimmel steigt, und dann nimmt auch der Reiter einen weißen Kattun über. Ich selbst habe dies einmal droben am Nord-Park versucht, und zwar mit gutem Erfolge.“

Mittlerweile waren sämtliche Pferde in das Wasser gegangen, und obgleich der Fluß hier ein starkes Gefälle hatte, hielten sie sich doch so wacker, daß, als sie hüben landeten, sich kaum einige Ellen Abtrift ergaben. Nun wurde wieder rekognosziert, und dann setzte sich der Zug abwärts in Bewegung.

Jetzt konnten wir erleichtert Atem holen, denn die Gefahr war für uns keine geringe gewesen. Sam streichelte seiner Stute den Hals.

„Was meinst du, alte Tony, wenn uns die Roten heut abgestutzt hätten, mir die Ohren und dir den Schwanz? Ja so, das ist ja schon früher geschehen! Aber, Charley, was wird nun zum Beispiel mit Patrik und seinem Stakeman? Denn seine Spur bemerken sie ganz sicher!“

„Sie werden ihm nichts tun,“ antwortete Hoblyn.

„Nichts? Warum?“

„Weil sie ihn kennen. Es sind Comanchen vom Stamme der Racurroh, mit denen er und der Capitano die Friedenspfeife geraucht haben, weil wir vieles von dem, was wir übrig hatten, an sie verhandelten.“

„Das ist schlimm, denn dann ist es sehr leicht möglich, daß er mit ihnen gegen uns gemeinschaftliche Sache macht.“

„Müssen auch das abwarten, Sam,“ tröstete ich. „Er wird sich hüten, sie mit in das Tal zu nehmen! Höchstens erfordert es die Höflichkeit, daß er einige Stunden bei ihnen bleibt, um das Calumet mit den Häuptlingen zu rauchen; dann ist er wieder sein eigener Herr.“

Ich trat an den Saum des Waldes und streckte den Kopf durch die Zweige, um den Wilden nachzusehen. Sie waren bereits hinter der nächsten Krümmung des Flusses und dem Berg verschwunden. Ehe ich mich zurückwandte, warf ich meinen Blick ganz unwillkürlich stromauf und – fuhr mit dem Kopfe schnell hinter die Zweige. Sam hatte diese schnelle, beinahe erschrockene Bewegung bemerkt und fragte.

„Was gibt’s? Kommen dort oben auch Indsmen?“

„Wie es scheint, ja! Wenigstens hält einer dort am Ausgange der oberen Schlucht.“

Sans-ear hatte das Fernrohr noch neben sich liegen und setzte es an.

„Zounds, es ist richtig! Aber es ist bloß einer, wenn nicht vielleicht noch weiter hinten welche halten. Was seh‘ ich! Das ist doch zum Beispiel gar ein Apache!“

„Wirklich?“

„Ja, und zwar ein Häuptling. Er trägt das Haar lang herab; es hängt ihm bis auf den Rücken des Pferdes nieder. Jetzt reitet er auf das Wasser zu.“

„Laß mir einmal das Rohr!“

Er gab es mir, leider aber konnte ich nichts mehr sehen, da der Mann sich bereits im Wasser befand und durch eine Erhöhung des diesseitigen Ufers verdeckt wurde.

„Weißt du, wie das ist, Charley? Diese Comanchen werden, ohne daß sie es ahnen, von den Apachen verfolgt, und dieser Häuptling ist vorangegangen, um sie stets im Auge zu behalten. Er fängt das ganz verwünscht klug an, denn er ist ihnen nicht auf ihrer Fährte gefolgt, sondern oberhalb von ihnen in der nächsten Schlucht über die Berge gegangen. Tretet zurück, denn diese Kerls haben scharfe Augen! Er kommt auf alle Fälle hier vorüber, darum haltet euren Pferden die Nüstern zu; sie sind es gewohnt, zu schnauben, wenn ein Indianer in die Nähe kommt. Meine Tony hat allerdings mehr Grütze im Kopfe. Nun, stille!“

Wir konnten ihn nicht kommen sehen, da wir uns am oberen Teile einer Talkrümmung befanden, aber kaum waren fünf Minuten seit den letzten Worten verflossen, so vernahmen wir den Huftritt seines Pferdes.

Die Andern hatten sich zurückgezogen, ich jedoch lag hinter einem ziemlich dichten Gesträuch. Er kam, langsam und den Boden musternd: Hatte er vielleicht einige niedergetretene Grashalme oder eine andere Spur bemerkt? Es mußte so sein, und siehe, jetzt hielt er mir grad gegenüber an und richtete den Blick auf die Nadeln, welche ich vorhin hinausgeworfen hatte. Im Nu stand er am Boden, mit dem Tomahawk in der Faust, denn er hatte Verdacht gefaßt.

„Feuer, Charley!“ kommandierte Sam leise.

Ich aber drang ebenso schnell, als er vom Pferde gesprungen war, durch den Busch ihm entgegen. Sein muskulöser Arm holte aus zum fürchterlichen Hiebe.

„Winnetou! Will der große Häuptling der Apachen seinen Bruder töten?“

Er ließ den Arm sinken, und sein dunkles Auge leuchtete hell auf.

„Shar-Iih!“

Er rief nur dies eine Wort, aber es lag in dem Tone eine Freude, die ein stolzer Indsman lieber beherrscht, als laut erklingen läßt. Dann schlang er die Arme um mich und drückte mich an sich. Ich freute mich natürlich außerordentlich über dieses Zusammentreffen und fragte:

„Was tut mein Bruder an dieser Stelle des Pecos?“

Er steckte den Tomahawk in den Gürtel.

„Die Flöhe der Comanchen haben ihr Lager verlassen, um dem Apachen ihr Blut zu geben. Der große Geist sagt, daß Winnetou ihre Skalps nehmen wird. Was tut mein weißer Bruder in diesem Tale? Sagte er nicht vor vielen Monden, daß er wieder über das große Wasser ziehen werde zum Wigwam seines Vaters und seiner Schwestern? Wollte er nicht dann hinüber in die große Wüste, welche fürchterlicher ist, als die Mapimi und der Estaccado?“

„Ich habe das Wigwam des Vaters gesehen und bin in der Sahara gewesen; aber der Geist der Savanne hat mich gerufen im Lichte des Tages und im Traume der Nacht; ich bin seiner Stimme gefolgt.“

„Mein weißer Bruder hat recht getan! Das Herz der Prairie ist groß und weit; es faßt das Leben und den Tod, und wer seinen Puls gefühlt hat, der darf wohl gehen, aber er kommt immer wieder zurück. Howgh!“

Er nahm sein Pferd beim Zügel und trat mit mir unter die Bäume. Hier erst erblickte er meine Begleiter; aber obgleich ich mit keinem Worte derselben gedacht hatte, zeigte er sich nicht im mindesten überrascht, vielmehr tat er, als habe er sie gar nicht bemerkt. Er griff in die Satteltasche, zog Pfeife und Tabaksbeutel hervor und setzte sich mit würdevoller Haltung nieder.

„Winnetou ist weit im Norden am großen See gewesen, um den heiligen Ton für sein Calumet zu graben, Shar-Iih ist der erste, welcher mit ihm rauchen wird.“

„Es werden heut noch Andere mit meinem roten Bruder rauchen.“

„Winnetou raucht nur mit tapferen Männern, in deren Herzen kein Falsch ist, und auf deren Lippe die Wahrheit wohnt; doch er weiß, daß sein weißer Bruder auch nur mit solchen Männern redet.“

„Hat der große Häuptling der Apachen gehört von Sans-ear, dem tapferen, klugen Jäger?“

„Winnetou kennt ihn, aber er hat ihn noch nicht gesehen. Sans-ear ist listig wie die Schlange, klug wie der Fuchs und tapfer wie der Jaguar. Er trinkt das Blut der roten Männer und hat ihren Tod eingegraben auf dem Kolben seiner Büchse; aber sie haben ihm getötet sein Weib und sein Kind; er tötet nur die Bösen. Ich sehe sein Pferd; warum kommt er nicht zu Winnetou, um mit ihm zu rauchen die Pfeife des Friedens?“

Sam erhob sich und trat herbei, aber ich sah es ihm an, daß er sich einigermaßen verlegen fühlte in der Gegenwart des Mannes, der als der größte, tapferste und gerechteste Krieger aller Savannen bekannt war.

„Mein roter Bruder hat recht gesagt; ich töte nur die Bösen, den Guten aber gehört meine Hilfe,“ sagte er in bescheidenem Tone.

Ich winkte auch Bernard herbei.

„Der Häuptling der Apachen möge sein Auge leuchten lassen auch über diesen Krieger. Er war ein sehr reicher Mann; die weißen Mörder aber haben ihm seinen Vater getötet und seine Diamanten und Dollars geraubt. Der Mörder ist hier am Rio Pecos; er wird sterben von seiner Hand!“

„Winnetou ist sein Bruder; er wird ihm helfen, den Mörder seines Vaters zu ergreifen. Howgh!“

Dieses letzte Wort galt bei Winnetou stets als eine Beteuerung, die er sicherlich erfüllte. Ich hatte also für Bernard eine Kraft, eine Hilfe gewonnen, wie wir uns keine bessere wünschen konnten. Der Apache hatte jetzt seine Pfeife gestopft und steckte sie in Brand. Nachdem er den Rauch dreimal empor zum Himmel und dreimal nieder zur Erde geblasen hatte, stieß er ihn nach den vier Himmelsrichtungen aus und gab dann mir das Calumet. Ich tat ebenso und gab es Sam. Nachdem auch Marshall die Zeremonie beendet hatte, ging es in die Hände Winnetous zurück. Dann erkundigte sich Sam bei dem Apachen:

„Mein roter Bruder hat viele Krieger in der Nähe?“

„Uff!“

Dies war bei Winnetou stets ein Ausruf des Erstaunens. Sam kannte die Gewohnheiten des Apachen noch nicht, und da er nur dies eine Wort zur Antwort bekam, so glaubte er, falsch verstanden worden zu sein; daher wiederholte er:

„Ich fragte, ob mein roter Bruder seine Krieger in der Nähe hat?“

„Uff! Mein weißer Bruder mag mir sagen, wie viele Bären sein müssen, um tausend Ameisen zu zertreten!“

„Nur einer.“

„Und wie viele Krokodile, um hundert Kröten zu verschlingen?“

„Nur eines.“

„Und wie viele Häuptlinge der Apachen, um diese Mücken von Racurroh zu töten? Wenn Winnetou den Kriegspfeil ausgräbt, so nimmt er nicht seine Männer mit, sondern er geht allein; er kennt keinen einzelnen Stamm, dessen Häuptling er ist, sondern er ist der König aller Apachen; er mag die Hand ausstrecken hier oder dort, so eilen tausend Krieger herbei, um seine Befehle zu vollbringen. Er hat viele Zungen, die ihm erzählen, was die Söhne der Comanchen tun, und er hat viele Messer und Tomahawks, um seine Feinde zu vertilgen von der Erde.“

Dann wendete er sich mir zu:

„Der Mann soll sprechen mit der Faust; aber mein Bruder erzähle mir, was er mit diesen Männern will, die bei ihm sind!“

Ich gab ihm einen kurzen, aber genauen Bericht über die Ereignisse, welche uns an den Rio Pecos geführt hatten. Er hörte aufmerksam zu und blickte dann eine Weile zu Boden. Den letzten Rauch aus seiner Pfeife blasend, erhob er sich und steckte das Calumet wieder in die Tasche.

„Meine weißen Brüder mögen mir folgen!“

Er nahm sein Pferd, führte es hinaus und schwang sich auf; ich hielt mich ihm zur Seite, und im scharfen Schritte setzten wir unsern Ritt fort. Er ritt einen braunen, starkknochigen Klepper, den ich schon von früher her kannte. Dieses Tier hatte ganz das Aussehen eines abgetriebenen Karrengaules, und nur ein Kenner, wie Winnetou, konnte sich entschlossen haben, es als Reitpferd zu gebrauchen. Es war unerreichbar im Galopp, ruhig im Trabe, ausgiebig und unermüdlich im Schritte und kerngesund auf der Lunge. Seine Klugheit stand keineswegs hinter derjenigen von Sams Stute zurück, und mit seinen scharfen, stahlharten Hufen hatte es nicht nur einmal den gefährlichen grauen Wolf oder gar den Puma in die Flucht geschlagen. Wenn Winnetou aufsaß, so schien Roß und Reiter ein Leib und eine Seele, ein Wille und ein Entschluß zu sein, und niemals kam es vor, daß ihm die Kraft und Ausdauer, der Mut und die Gewandtheit dieses unvergleichlichen Tieres versagten.

Als wir die Spuren der Comanchen erreichten, erkannten wir, daß sich die Horde ganz und gar sicher gefühlt haben mußte, denn man hatte sich auch nicht die geringste Mühe gegeben, die Fährte weniger kenntlich werden zu lassen. So ritten wir wohl eine Stunde weit, bei jeder Biegung des Weges haltend, um das vor uns liegende Terrain zu überblicken. Eben waren wir wieder an eine Ecke des Waldes gekommen und standen schon im Begriffe, dieselbe zu umreiten, als der Apache plötzlich sein Pferd zurückriß.

Er deutete mit dem rechten Arme vorwärts, während die geschlossene Linke das Zeichen zur Schweigsamkeit und Vorsicht geben sollte. Ich streckte den Kopf vor und strengte meine Augen an, konnte aber nicht das Mindeste bemerken.

Winnetou hing seine Büchse an den Sattelknopf, zog das Bowiemesser, stieg ab und verschwand zwischen den Bäumen, ohne ein Wort zu verlieren.

„Was mag es geben, Charley?“ fragte Sam.

„Weiß es nicht.“

„Ist ein närrischer Kauz, dieser Apache! Konnte er uns nicht erst sagen, was er vorhat?“

„Hast du nicht gehört, daß er sagte, der Mann soll mit Taten sprechen? Er hat etwas Verdächtiges bemerkt und ist gegangen, um sich zu überzeugen. Das hast du aus seinem Tun erkannt, und darum brauchte er keine Rede zu halten.“

„Aber sagen konnte er, welcher Art dieser Gegenstand war!“

„Das werden wir bald sehen.“

„Aber wir wüßten doch zum Beispiel, wonach wir uns zu richten und wie wir uns zu benehmen hätten!“

„Das wissen wir ohnedies. Wir haben hier hinter der Ecke zu warten, bis er zurückkehrt oder uns ein Zeichen gibt, vorwärts zu gehen; das ist doch einfach.“

„Massa, oh, ah, haben hören Massa?“ unterbrach Bob den kleinen Wortwechsel.

„Was?“

„Haben schreien ein Mann!“

„Wo?“

„Da, hinter Ecke!“

Ich blickte die Andern fragend an, aber keiner hatte etwas gehört, doch konnte der Neger trotzdem recht haben.

Da erscholl – und jetzt hörten wir es alle – der Lockruf des Spottvogels. Jeder Andere hätte diese Töne wirklich für die Stimme des Wipp-por-will gehalten, ich aber wußte, daß sie vom Munde des Apachen kamen, denn diesen Ruf hatten wir während unserer früheren Fahrten miteinander verabredet und sehr oft in Anwendung gebracht.

„Ein Wipp-por-will hier,“ meinte Sam. „Möchte zum Beispiel wissen, wo diese Art von Kreatur nicht anzutreffen wäre!“

„Diese Art von Kreatur hast du heut zum erstenmal gesehen und gehört: es ist Winnetou, der uns ruft. Vorwärts, dort steht er am Waldesrande!“

Ich nahm das Pferd des Apachen beim Zügel, und die Andern folgten. Winnetou stand einige hundert Schritte weit von uns am Saume des Forstes, in welchem er verschwand, sobald er bemerkte, daß seinem Rufe Folge geleistet wurde. An der Stelle angekommen, stieg ich ab und trat unter die Bäume. Dort stand der Apache, und zu seinen Füßen lag ein junger Mensch, gebunden mit seinem eigenen Gürtel. Er hielt die Augen in unendlicher Angst auf Winnetou gerichtet und stöhnte leise.

„Memme!“

Nur dies eine Wort sprach der Apache, dann wandte er sich verächtlich ab. Der Gefangene war ein Weißer. Als er mich erblickte, hellte sich sein Gesicht etwas auf; er mochte, da ich zu seiner Rasse gehörte, einige Hoffnung fassen, die sich vergrößerte, als jetzt auch Sam hinzutrat.

„Ein Weißer, ein Yankee!“ rief dieser. „Warum behandelt ihn mein roter Bruder als Feind?“

„Böses Auge!“ antwortete Winnetou kurz.

Hinter uns erscholl jetzt ein lauter Ruf, und als ich mich umwandte, sah ich Marshall mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdrucke den Gefangenen betrachten.

„Holfert! Um Gottes willen, wie kommen Sie hierher?“

„Marshall! Master Marshall!“ antwortete der Angeredete, der also ein Bekannter Bernards sein mußte; aber es wollte mir scheinen, als ob er durch die Anwesenheit meines Freundes nicht sehr angenehm berührt werde.

„Wer ist dieser Mann?“ fragte ich.

„Er ist aus Knoxville, heißt Holfert und war ein Gehilfe in unserem Geschäft,“ antwortete Bernard.

Ein Gehilfe bei Marshall und hier in der Nähe des Orts, an welchem wir Morgan zu treffen hofften? Es kam mir ein Gedanke.

„War er noch bei Euch, als sich Euer Geschäft auflöste?“

„Ja.“

Ich wandte mich an den Gefangenen:

„Master Holfert, wir haben Euch bereits seit langer Zeit gesucht. Wollt Ihr mir wohl sagen, wo sich Euer guter Freund, der sich Fred Morgan nennt, befindet?“

Er erschrak.

„Seid Ihr ein Detektive, Sir?“ fragte er.

„Was ich bin, das werdet Ihr seiner Zeit ganz genau erfahren, doch will ich Euch sagen, daß ich nicht gerne in einer amtlichen Eigenschaft mit Euch verfahren möchte, denn ich bin sehr geneigt, anzunehmen, daß Ihr nur verführt worden seid. Also antwortet! Wo ist Morgan?“

„Bindet mich los, Sir; dann werde ich euch alles sagen!“

Bernard machte ein Gesicht, als ob er etwas ganz Unglaubliches vernehme.

„Vom Losbinden kann keine Rede sein, doch wollen wir Eure Fesseln ein wenig lockern. Bob, schnalle ihn lockerer!“

Der Angeredete trat vor und bückte sich nieder.

„Bob, auch du!“ rief Holfert erstaunt.

„Bob auch da, yes! Oh, wo sein Massa Bern‘, da auch immer sein Nigger Bob. Warum nicht bleiben Massa Holfert in Lu’ville, sondern gehen in Berge? Warum werden Massa Holfert binden?“

Er lockerte ihm den Gürtel, so daß er aufrecht sitzen konnte. Ich setzte das Verhör fort:

„Also zum drittenmal: Wo ist Morgan?“

„Am Head-Pick.“

„Wie lange wart Ihr jetzt mit ihm beisammen?“

„Über einen Monat.“

„Wo traft Ihr ihn?“

„Er hatte mich nach Austin bestellt.“

„Bestellt? Ah? So kanntet Ihr ihn früher?“

Der Gefangene schwieg. Ich zog den Revolver.

„Seht Euch einmal dieses kleine Ding hier an, Master Holfert! Ich weiß sehr genau, woran ich mit Euch bin, aber ich wünsche doch, daß Ihr mir über den Tod Eures Prinzipals und über das Verschwinden seines Eigentums etwas Näheres erzählt. Redet Ihr nicht, oder bringt Ihr die Unwahrheit vor, so erhaltet Ihr die Kugel. Im Westen pflegt man mit einem Raubmörder noch weniger Federlesens zu machen, als da drüben in den Staaten!“

„Ich bin kein Mörder!“ stammelte der Mann in höchster Angst.

„Ich habe Euch bereits gesagt, daß ich ganz genau weiß, was ich von Euch zu halten habe! Es kommt nun allerdings darauf an, ob wir Euch als einen verstockten oder reumütigen Menschen behandeln sollen. Also, Ihr kanntet Morgan schon früher?“

„Er ist ein Verwandter von mir.“

„Und hat Euch in Louisville besucht?“

„Ja.“

„Weiter! Ich habe nicht Lust, eine Menge Fragen zu tun, da Ihr auch ohne dieselben reden könnt.. Denkt an den Revolver!“

„Wenn Master Marshall weggeht, werde ich alles erzählen!“

Ich mußte die Gefühlsregung des so unverhofft entdeckten Verbrechers berücksichtigen.

„Ihr sollt Euern Willen haben!“

Ich winkte Bernard, welcher sich entfernte, aber, wie ich wohl bemerkte, in einem Bogen wieder zurückkehrte und sich im Rücken des Gefangenen hinter den Stamm eines Baumes stellte. Ich hätte in diesem Augenblick in sein Herz blicken mögen.

„Nun also!“

„Morgan besuchte mich öfters, und ich ließ mich überreden, mit ihm zu spielen.“

„Er besuchte Euch in Eurer Privatwohnung?“

„Ja, nie im Geschäfte. Ich gewann und spielte leidenschaftlich weiter. Dann verlor ich, mehr und mehr, bis ich ihm mehrere tausend Dollars schuldig wurde. Ich konnte sie nicht bezahlen, und da drohte er mir mit der Anzeige, denn ich hatte ihm Wechsel mit der falschen Unterschrift meines Prinzipals gegeben. Ich konnte mich nicht anders retten, ich mußte ihm mitteilen, wo sich der Schlüssel zum Laden befand.“

„Ihr wußtet, was er dort wollte?“

„Ja. Wir wollten teilen und dann nach Mexiko gehen. Vorher aber mußten wir uns trennen, aus Vorsicht wegen der Verfolgung, und er bestimmte mir die Zeit, in welcher ich ihn in Austin treffen würde.“

„Ihr sagtet ihm, daß Euer Prinzipal stets einen Hauptschlüssel bei sich trage?“

„Ja; aber ich dachte nicht, daß er ihn ermorden werde. Er sagte, daß er ihn nur betäuben wolle. Wir lauerten den Prinzipal ab, doch anstatt ihn nur zu schlagen, stach er ihn nieder. Dann öffneten wir die Haustüre und legten den Toten in den Flur. Was wir fanden, teilten wir gleich an Ort und Stelle.“

„Er nahm die Diamanten, und Ihr erhieltet das Übrige?“

„Ja. Da ich Fachmann war, fiel es mir nicht schwer, meinen Anteil, allerdings nur unter Verlust, in Geld umzusetzen – –“

„Und nun – ah, ich errate! Dieses Geld hat Euch Morgan jetzt abgenommen?“

„So ist es.“

„Waret Ihr wirklich töricht genug, zu glauben, daß ein so schlechter Mensch ehrlich gegen Euch handeln werde? Ihr konntet es Euch doch denken, daß er Euch in die Wildnis führte, nur um sich ungestraft in den vollständigen Besitz des Raubes zu setzen! Auf welche Weise nahm er Euch das Geld ab?“

„Er hatte gestern abend die Wache. Ich schlief fest. Da fühlte ich eine Berührung und wachte auf. Morgan hatte mir bereits die Waffen und die Brieftasche genommen und stand im Begriffe, mir sein Messer in die Brust zu stoßen. Die Angst gab mir Kräfte; ich warf ihn zur Seite, sprang auf und rannte fort. Er verfolgte mich, aber weil es dunkel war, glückte es mir, zu entkommen. Ich bin während der ganzen Nacht fortgelaufen, denn ich konnte mir denken, daß er meinen Spuren nachgehen werde, sobald der Tag anbrach. Erst vor kurzer Zeit habe ich es gewagt, mich hier zu verstecken, um ein wenig zu schlafen; aber ich kam nicht dazu, denn die Indianer ritten vorüber. Darum wollte ich sogleich wieder fort. Da erblickte ich diesen Roten, und verkroch mich wieder – er hat mich dennoch gefunden!“

Der Mann war fürchterlich abgespannt. Vielleicht trug dieser Zustand das meiste dazu bei, daß er alles so offen bekannte; denn im Tone seiner Stimme war nicht viel von Reue und innerer Bewegung zu hören.

Ich fragte Bernard:

„Dieser Mann ist Euer. Was werdet Ihr mit ihm tun?“

Er schwieg; es mochte in seinem Herzen die Rache mit dem Mitleid kämpfen. Dann legte er dem Gefangenen noch einige Fragen vor und wandte sich endlich zu uns.

„Der Schurke hat vielleicht den Tod verdient, doch wollen wir ihn laufen lassen. Gott wird ihn richten!“

„Das ist schlimmer als ein schneller Tod, Bernard. Ohne Waffen, Pferd und alle Hilfe und Erfahrung würde er nicht weit kommen.“

„So nehmen wir ihn mit uns, bis sich eine Gelegenheit bietet, ihn los zu werden!“

„Er würde uns ungemein belästigen, da wir bereits einen Gefangenen bei uns haben. Es wäre leicht möglich, daß Beide gemeinschaftliche Sache machten.“

„Dann wären wir immer vier gegen zwei.“

„Hier handelt es sich nicht darum, daß sie uns körperlich gefährlich werden könnten, ich denke vielmehr an andere Möglichkeiten, durch die wir in bedeutende Fatalitäten kommen würden. Auch ich will sein Richter nicht sein. Wir könnten ihm eines unserer Packpferde geben und einige Waffen dazu. Frage Winnetou!“

Dieser hatte, seitwärts stehend, die ganze Verhandlung mit angehört. Jetzt trat er herzu und löste den Gürtel von den Armen Holferts.

„Aufstehen!“

Der Gefangene erhob sich. Winnetou zeigte auf dessen Hand.

„Hat der weiße Mann gewaschen seine Hand vom Blute des Gemordeten?“

„Ja,“ antwortete der Gefangene verzagt bei dem Tone dieser Stimme.

„So ist Blut gewesen an dieser Hand, und Blut wird nicht gewaschen mit Wasser, sondern wieder mit Blut- so will es Manitou, und so will es der große Geist der Savanne. Sieht der weiße Mann dort den Zweig am Rande des Flusses?“

„Ja.“

„Er gehe hin und hole ihn. Wenn er ihn abzubrechen vermag, so soll er leben dürfen, denn der Zweig ist das Zeichen des Friedens und der Gnade.“

Wir alle waren einigermaßen überrascht über diese sonderbare Bedingung. Holfert ging auf das Ufer zu, welches ungefähr vierhundert Schritte entfernt war. Die ihm gemachte Bedingung war sehr leicht zu erfüllen, denn der Zweig befand sich nicht im Wasser, sondern hart am Ufer. Er erreichte ihn und streckte seine Hand danach aus. Da erhob Winnetou seine silberbeschlagene Büchse; der Schuß krachte, und Holfert stürzte, mitten durch den Kopf getroffen, vornüber in die Fluten.

Winnetou lud den abgeschossenen Lauf kaltblütig wieder.

„Der weiße Mann hat den Zweig nicht gebracht; er muß sterben! Der Geist der Savanne ist gerecht und barmherzig; er gibt nicht Gnade, die in das Verderben führt. Der weiße Mörder wäre getötet worden von den Comanchen, von den Stakemen und aufgefressen von den Coyoten!“

Dann bestieg er sein Pferd und ritt davon, ohne sich nach uns umzusehen.

Schweigend und in ernster Stimmung folgten wir.

Die Spuren der Comanchen blieben in gleicher Weise kenntlich. Daß sie einen Kriegszug vorhatten, zeigte ihre Bemalung, doch mußte ihr Ziel ein entferntes sein, sonst hätten sie sich vorsichtiger benommen. Winnetou kannte jedenfalls ihr Vorhaben, doch war er viel zu schweigsam, als daß er ohne genügende Veranlassung eine Bemerkung darüber hätte fallen lassen sollen. Eben wollte ich mich an seine Seite begeben, als wir vor uns einen – zwei – drei Schüsse knallen hörten.

Sofort hielten wir an. Winnetou winkte zurück und ritt vorwärts bis zur nächsten Biegung. Wir blieben halten. Er stieg ab und huschte in die Sträucher, aus denen er bald zurückkehrte, um uns durch eine Bewegung seiner Hand herbeizurufen.

„Comanchen und zwei Bleichgesichter!“

Mit diesen Worten kroch er wieder in die Büsche, und wir Drei folgten, während Bob bei Hoblyn und den Pferden blieb.

Vor uns erweiterte sich das Tal des Flusses zu einem breiten Kessel, in welchem sich uns ein überraschender Anblick bot. Hart am rechten Ufer des Flusses hatten die beiden Häuptlinge der Comanchen ihre Lanzen in die Erde gesteckt und an die Schäfte derselben die Schilde gelehnt. Sie selbst saßen dabei am Boden und rauchten ihre Calumets mit zwei Weißen, welche zu beiden Seiten von ihnen Platz genommen hatten. Die Tiere dieser vier Männer weideten in der Nähe. Vor ihnen entwickelte sich eine kriegerisch wilde und dennoch friedliche Szene: die Comanchen führten eines jener Kampfspiele auf, bei denen sie ihre ganze Meisterschaft im Gebrauch der Waffen zu beweisen pflegen. Die Entfernung war zu groß, als daß man die Züge der meisten zu erkennen vermochte, und ich griff darum zu meinem Fernrohr. Dann sagte ich zu Sans-ear:

„Holla, wer ist das! Sam, gucke einmal hindurch!“

Sans-ear ergriff das Rohr und richtete es.

’s death, das ist dieser Fred Morgan mit seinem Sohn! Wie kommen sie hier zusammen und unter die Indsmen?“

„Das ist sehr leicht zu erklären; Patrik war ja immer kurz vor uns, und Morgan ist vom Head-Pik her diesem Holfert nach; da haben sie sich getroffen. Und vor den Indsmen brauchen sie sich nicht zu verstecken, wie du auch gehört hast.“

„So wird es sein, aber unlieb genug ist es mir dennoch!“

„Warum?“

„Wie werden wir uns die Beiden zwischen den Roten herausholen können?“

„Ich hoffe, sie werden nicht beisammen bleiben, denn es kann keineswegs die Absicht der zwei Spitzbuben sein, den Indianern etwas von dem Schatze, den sie heben wollen, wissen zu lassen.“

„Dann ist es am besten, wir bleiben hier, um sie zu beobachten.“

„Sicher scheinen wir hier zu sein, denn es ist nicht anzunehmen, daß einer von den Roten zurückkehren wird.“

„Kann nicht Morgan kommen, der doch Holfert verfolgen will?“ fragte Marshall.

„Er wird von seinem Sohne und den Comanchen erfahren, daß diese ihm nicht begegnet sind, und also annehmen, daß er einen andern Weg eingeschlagen hat,“ antwortete ich ihm. „Ziehen wir die Pferde in ein Versteck?“

Winnetou nickte zustimmend mit dem Kopfe, und ich trat hinaus, um dies zu besorgen. Die Packpferde wurden, da sich ein mehrstündiger Aufenthalt vermuten ließ, abgeladen und mit unsern anderen Tieren etwas tiefer hinein in den Wald gebracht.

Als Hoblyn den Talkessel erblickte, streckte er den Arm aus:

„Sir, dort rechts hinauf geht die Schlucht, welche wir verfolgen müssen.“

„Dort? Das ist fatal!“

„Warum, Charley?“ fragte Sam.

„Weil wir nicht hin und diesen Beiden also nicht zuvor kommen können. Du kannst dir doch denken, daß sie sofort nach Abzug der Comanchen sich auf den Weg machen werden!“

„Da habt keine Sorge, Sir!“ fiel Hoblyn ein. „Diesen Weg kennt nur der Capitano und ich; der Leutnant aber geht einen andern, der weiter unten am Bette eines Nebenflusses emporführt.“

„Dann mag es sein, und wir können diesen Leuten da ruhig und unbesorgt zuschauen!“

Die Comanchen hatten sich in zwei Parteien geteilt, welche sich gegenseitig zu bekämpfen schienen, bald in geschlossener Truppe, bald aufgelöst im Einzelkampfe, und zeigten dabei eine Ausdauer und Behendigkeit, weiche einen europäischen Zuschauer in das höchste Erstaunen versetzen mußten. Bei ihnen gab es keinen Sattel und auch nicht das gewöhnliche Zaumzeug. Sie binden eine Decke, ein Fell oder eine Matte auf den Rücken ihres Tieres. An jeder Seite dieses Felles ist ein breiter und sehr starker Riemen befestigt, welcher über den Nacken des Pferdes gelegt ist und dazu dient, den Arm hindurchzustecken, wenn der Reiter sich auf die eine oder andere Seite des Pferdes legen will, während er mit einem Fuße an dem Rücken desselben hängen bleibt. Diese eigentümliche Sattelung und die große Übung macht es den wilden Reitern möglich, das Tier als Schild zu gebrauchen, es zwischen sich und den Feind zu bringen und doch Freiheit und Bewegung genug zu haben, um über den Rücken des Pferdes hinweg oder unter dem Halse desselben hindurch den Pfeil auf den Gegner zu schnellen oder ihm, falls sie mit einem Feuergewehre bewaffnet sind, eine Kugel zuzuschicken. Diese Krieger sind dabei so außerordentlich gewandt, daß sie sich, je nachdem es erforderlich ist, bald auf die rechte und bald auf die linke Seite des Tieres werfen und zugleich eine Leichtigkeit und Schnelligkeit entwickeln, die einem Kunstreiter Ehre machen würden. Die Pferde gehen dabei so sicher, daß selten eine Kugel oder ein Pfeil das Ziel verfehlt. Der Riemen, in welchem der Arm ganz nahe an der Schulter hängt, ist an die Mähne des Tieres auf dem Widerrist befestigt, so daß selbst dann, wenn die Satteldecke losginge, dieser Stützpunkt nicht verloren gehen kann. Hat der gewandte Reiter diese Schlinge gut befestigt, so bedarf er zur Ausführung seiner Kunststücke überhaupt keiner Decke und keines Sattels, denn seine mit Mokassins bekleideten Füße haften mittels der Ferse mit gleicher Sicherheit auf dem nackten Pferdsrücken wie auf der Büffelhaut, welche denselben bedecken könnte. Wenn diese außerordentlichen Reiter über den Rücken des Pferdes wegschießen, zielen sie natürlich von oben; schießen sie aber unter dem Halse desselben hindurch, so legen sie den Pfeil unten an, was ihnen bei ihrer außerordentlichen Übung ebenso leicht wird, als wenn sie in der gewöhnlichen Weise zielen.

Unsere ganze Aufmerksamkeit war dem Kampfspiele der Comanchen, welches einer arabischen Phantasia sehr ähnelte, zugewendet, und nur ein einziges Mal blickte ich durch die Büsche in der Richtung zurück, aus welcher wir gekommen waren – zu unserm Glück, denn mit Schrecken sah ich längs des Waldrandes zwei Reiter herabkommen, welche die Fährte der Comanchen sehr sorgfältig beobachteten.

Have care, ihr Männer; dort kommen Leute!“

Alle sahen zurück, und Hoblyn rief:

„Der Capitano mit Conchez!“

„Wahrhaftig, er ist’s! Schnell in den Wald hinein, und die Spuren verwischt!“

In zwei Minuten war dies geschehen. Alle wichen zurück, und nur ich blieb mit Winnetou an einer etwas weiter vorgeschobenen Stelle, in welcher es uns möglich war, die Nahenden zu beobachten, ohne von ihnen bemerkt zu werden.

Schon waren sie sehr nahe, und sicher wären sie um die Biegung geritten, wenn nicht grad jetzt die Comanchen ein Kampfgeschrei erhoben hätten, welches wie ein Geheul von wilden Tieren klang. Sie stutzten, lugten sorgfältig um die Ecke und führten dann ihre Pferde auf dieselbe Stelle, wo die unserigen gestanden hatten. Wir wichen zu unsern Gefährten zurück.

Hart hinter den Ankömmlingen standen zwei Ahornbäume eng beisammen; es gelang mir, mich bis zu ihnen anzuschleichen, um ihre halblaute Unterhaltung zu belauschen. Ich hatte dabei den Tomahawk für unvorhergesehene Fälle in der Hand.

„Es sind Comanchen,“ meinte der Capitano. „Wir haben also nichts von ihnen zu befürchten. Nur müssen wir zuvor wissen, wer die beiden Weißen sind.“

„Es ist zu weit; man kann sie nicht erkennen.“

„Man könnte sich nach der Kleidung richten. Den Vorderen kenne ich nicht, und der Andere wird von den Häuptlingen verdeckt.“

„Capitano, seht Euch einmal von den vier Pferden den Goldfuchs an! Er hat einen Stutz, was in der Savanne und auf den Bergen eine Seltenheit ist. Was meint Ihr dazu?“

Carajo, das ist der Fuchs des Leutnant!“

„Denke es auch! Dann wird der zweite Weiße kein Anderer sein als er.“

„Richtig! Jetzt beugt er sich vor. Siehst du die bunte Serape? Er ist es! Was ist zu tun?“

„Ja, wenn ich nur wüßte, was Ihr eigentlich mit ihm vorhabt, dann ließe sich vielleicht über die Sache sprechen.“

„Jetzt wird es allerdings notwendig, daß ich es dir sage. Ich habe nämlich das Beste von unsern Schätzen hier in dieser Gegend vergraben, weil ich es nicht im Hide-spot aufbewahren wollte, da es Einige unter uns gibt, denen ich nicht trauen kann. Den Ort, an welchem die Sachen liegen, kennt niemand, als ich und der Leutnant. Er hat seinen Vater erwartet und ihn – statt in unser Lager – hieher an den Rio Pecos bestellt; dies machte meinen Verdacht rege, und da er nach seinem letzten Ritt durch den Estaccado direkt hierherging, ohne mich erst aufzusuchen, so hatte ich die Überzeugung, daß er sich vorgenommen hat, uns den Schatz zu rauben. Mit den Indsmen ist er nur zufälligerweise zusammengekommen. Nun fragt es sich, ob wir gleich jetzt zu ihnen gehen und ihn bestrafen, oder ob wir ihm folgen und ihn auf der Tat ertappen.“

„Das letztere ist jedenfalls das Beste. Suchen wir ihn da unten auf, so ist es gar nicht möglich, ihm eine böse Absicht zu beweisen. Er wird ganz einfach sagen, daß er nur hergekommen sei, um seinen Vater zu holen, und wer weiß, was ihm dann noch für Wege offen bleiben, zum Ziele zu gelangen. Wir sind zu Zweien, er mit seinem Vater auch, und auf die Indsmen ist nie ein sicherer Verlaß.“

Conchez gab sich sichtlich Mühe, seinen Hauptmann von dem ersten Punkte abzubringen; es mußte ihm natürlich daran liegen, das Versteck kennen zu lernen.

„Recht hast du. Die Racurroh befinden sich auf einem Kriegszuge und werden sich nur einige Viertelstunden hier aufhalten; dann bricht Patrik sicherlich sofort auf. Er hat noch eine ziemliche Strecke zu reiten, ehe er zur Seite einbiegen kann, auf welcher sich der Ort befindet; ich aber weiß einen näheren Weg, auf dem wir vor ihm hingelangen. Er soll sicherlich nichts bekommen, wenn – wenn der Schatz überhaupt noch da ist.“

„Noch da ist? Wer sollte ihn denn weggenommen haben, da nur ihr Beide ihn kennt!“

„Hm, Sans-ear und Old Shatterhand, denen wir unsere letzte große Schlappe verdanken.“

„Die? Wie sollten denn diese Beiden hinter das Geheimnis gekommen sein?“

„Auf eine sehr einfache Weise. Ich wollte Hoblyn dem Leutnant nachschicken und war so unvorsichtig, ihm schon die nötigen Instruktionen zu geben. Er ist spurlos verschwunden, und ich kann den Gedanken nicht los werden, daß er gemeinschaftliche Sache mit den Jägern gemacht hat, um sich das Leben zu retten.“

„Hm, dann wäre es vielleicht am besten, wenn – –“

„Nun, wenn – –?“

„Wenn wir uns an die Comanchen wendeten.“

„Und ihnen unser Geheimnis mitteilten, so daß sie uns den Schatz abnehmen? Nein. Übrigens haben wir Zeit, uns die Sache noch zu überlegen, denn wie ich sehe, ziehen die Roten ihre Proviantsäcke hervor. Auch wir können einen Bissen essen. Hole das Fleisch!“

Wenn Conchez aufstand, um zu den Pferden zu gehen, mußte er mich unbedingt sehen; ich kroch also so schnell wie möglich zurück und kam auch wirklich kaum eine Sekunde zu früh aus dem Bereiche seiner Augen.

Bei den Gefährten angekommen, teilte ich ihnen das Ergebnis meines Lauschens mit.

„Von den drei Voyageurs, die mit dem Leutnant den Kaufleuten nachritten, haben sie zum Beispiel nichts gesagt?“ fragte Sam. „Es müßte doch wohl einer davon bei Patrik sein!“

„Nichts. Vielleicht hat er diesen Einen ermordet, um freie Hand zu haben. Was aber tun wir mit diesen Beiden da?“

„Ruhig gehen lassen, Charley.“

Winnetou schüttelte den Kopf.

„Meine weißen Brüder mögen bedenken, daß sie nur einen einzigen Skalp haben!“

„Wer wollte uns ihn nehmen?“ entgegnete Sam.

„Die Schlangen von Racurroh.“

„Wird ihnen nicht gelingen. Sie werden sich überhaupt bald davonmachen, denn sie befinden sich auf dem Kriegspfade.“

„Mein weißer Bruder ist ein kluger Jäger und tapferer Krieger, doch kennt er nicht die Wege der Comanchen. Diese roten Männer weiden in die Berge gehen zum Grabe ihres Häuptlings Tschu-ga-chat, wie sie es jedes Jahr tun an dem Tage, an welchem er getötet wurde von Winnetou, dem Häuptling der Apachen.“

Jetzt war es auf einmal erklärt, warum er diesen Trupp Comanchen verfolgte.

„Das ist ganz dasselbe,“ meinte Sam. „Wenn sie auf einem solchen Wege gehen, werden sie sich zum Beispiel den Kuckuck um uns und die Stakemen kümmern.“

„Auch ich möchte mich nicht unnötigerweise mit Blut beflecken,“ stimmte ich bei.

„Meine weißen Brüder mögen tun, was ihnen beliebt,“ sprach der Apache. „Sie schonen den Feind, der ein Räuber und Mörder ist, und werden dafür ihr eigenes Blut geben. Der Apache hat gesprochen. Howgh!“

Es tat mir eigentlich leid, ihm entgegentreten zu müssen; aber es war heute bereits das Blut eines Menschen geflossen, und es widerstrebte meinen innersten Gefühlen, selbst gegen Mörder die Waffe zu richten, wenn dies nicht von erlaubter Notwehr geboten war.

Noch hing ich diesen Gedanken nach, als vom Lagerplatz der Comanchen her Rufe erschollen, welche auf ein plötzlich eingetretenes, unvorhergesehenes Ereignis schließen ließen. Wir bemerkten, daß auch der Capitano mit seinem Begleiter höchst aufmerksam wurde, und so pürschte ich mich in einem Bogen an den Waldessaurn, um die Ursache zu erfahren.

Als ich einen Punkt erreicht hatte, der mir einen sicheren Durchblick bot, sah ich die Comanchen dicht gedrängt am Ufer des Flusses stehen und einen Gegenstand betrachten, den ich nicht erkennen konnte. Dieser wurde nach einiger Zeit wieder in den Fluß gestoßen, und sämtliche Krieger bildeten einen Kreis um die zwei Häuptlinge und die beiden Weißen. Dann saßen alle plötzlich auf und setzten ihren Weg fort. Ich kehrte zurück.

„Was war es?“ fragte Bernard.

„Sie haben etwas im Flusse gefunden, vielleicht gar Holferts Leiche.“

Winnetou horchte auf. Dann wäre unsere Anwesenheit ja verraten gewesen!

„Glaubt mein weißer Bruder, daß ein toter Mann so weit zu schwimmen vermag?“

„Unter Umständen, ja. Der Fluß ist hier tief und reißend und hat glatte Ufer, so daß sich nicht leicht etwas ansetzen kann.“

Ohne weiter ein Wort zu sagen, erhob er sich und verschwand nach links hinauf zwischen den Bäumen. Ich wußte, was er tun wollte. Er ging jedenfalls im Schutze des Waldes so weit stromauf, bis er nicht mehr gesehen werden konnte, und begab sich dann in das Wasser, um an Ort und Stelle zu schwimmen und sich zu überzeugen, welcher Gegenstand den Comanchen aufgefallen war.

Obgleich er der vortrefflichste Schwimmer war, den ich kannte, mußte ich mir doch sagen, daß dieses Unternehmen kein ungefährliches sei. Erstens konnte der Capitano mit Conchez aufbrechen und, von derselben Wißbegierde getrieben, an den Fluß gehen; zweitens konnten, was als sehr wahrscheinlich anzunehmen war, die Comanchen Verdacht geschöpft haben und schließen, daß, wo eine frische Leiche mit Schußwunde vorhanden ist, auch jemand da sein muß, der diese Wunde verursacht hat. In diesem Falle war anzunehmen, daß ihre Entfernung nur eine scheinbare wäre, und sie zurückkommen würden, um sich Gewißheit zu holen. Wenn es während eines Feldzuges bestimmte Regel ist, keine Festung unerobert oder wenigstens zerniert hinter sich zu lassen, so ist es im wilden Westen ebenso gefährlich, nicht genau zu wissen, wen man im Rücken hat.

Die Strecke, welche Winnetou erst stromab und dann wieder aufwärts zu durchschwimmen hatte, mochte eine halbe Meile lang sein; er als guter Schwimmer konnte höchstens eine halbe Stunde brauchen, um diese Strecke zurückzulegen; zehn Minuten für den zu durchlaufenden Landweg dazu gerechnet. Noch aber war er keine Viertelstunde fort, so brach der Capitano mit seinem Begleiter auf. Wir konnten sie nicht zurückhalten.

Was ich vermutet hatte, geschah: sie ritten bis zum Rastplatz der Comanchen und wandten sich dann nach dem Flusse. Jetzt galt es, Winnetou, welcher jedenfalls da, wo er in das Wasser gegangen war, seine Kleider und Waffen abgelegt und höchstens nur das Messer bei sich hatte, zu beschützen; natürlich ohne mich dabei sehen zu lassen. Ich ergriff meine Büchse.

„Bleibt hier!“

Bei diesen Worten verließ ich unser Versteck und eilte, so schnell es mir der Wald gestattete, innerhalb des Saumes desselben abwärts, bis ich eine Stelle erreichte, von welcher aus ich den Ort bestreichen konnte, wo der fragliche Gegenstand wieder in das Wasser geworfen worden war. Noch aber hatte ich diesen Platz nicht eingenommen, als der Capitano seine Büchse erhob und in das Wasser feuerte. Er hatte nicht getroffen. Ich kannte die Behendigkeit Winnetous im Tauchen. Keine fünf Sekunden nach dem Schusse sah ich ihn wie einen Fisch emporschnellen, das Ufer erreichen und sich auf den Capitano stürzen. Da erhob Conchez den Karabiner. Ich konnte nicht anders, schießen mußte ich; aber sein Leben mußte ich schonen. Mit einer blitzschnellen Bewegung wandte sich Winnetou von dem Capitano ab, warf sich zu Conchez hinüber und schlug diesem in dem Augenblick, als er abdrücken wollte, den Lauf des Karabiners in die Höhe. Der Schuß ging in die Luft. Winnetou entriß ihm das Gewehr, nahm es beim Laufe, um es als Keule zu gebrauchen, und tat gerad zur rechten Zeit einen gewaltigen Seitensprung, denn der Capitano hatte bereits ausgeholt, um ihm von hinten einen Kolbenschlag zu versetzen.

Eben stand er im Begriffe, sich gegen Beide zugleich zu wenden, als von abwärts her ein lautes Geheul erscholl. Auch in Betreff des zweiten Punktes bestätigte sich meine Vermutung: die Comanchen waren nicht allzuweit fortgeritten und hatten daher den Schuß des Capitano vernommen; sie kamen im Galopp zurück.

Kaum hatte Winnetou sie bemerkt, so schlug er dem Capitano die Büchse, welche zum Glück nur einläufig gewesen war, aus der Hand, schleuderte den Karabiner weit in das Wasser hinüber und sprang in Sätzen, welche denen eines gehetzten Panthers glichen, stromaufwärts.

Ich wußte, daß er in dieser Weise volle zehn Minuten lang mit dem schnellsten Renner um die Wette zu laufen vermochte; er hatte mich diese Sprünge gelehrt, bei denen man, nicht laufend, sondern sich in weiten Sätzen durch die Luft werfend, den Schwerpunkt immer nur auf das eine Bein legt, welches gleichsam als Spannfeder dient, und dann, wenn dieses müde wird und zu zittern beginnt, auf das andere überwechselt. Er brauchte keine zehn Minuten, um zu seinen Kleidern zu gelangen, und dann war er sicherlich so klug, noch eine Strecke weiter zu fliehen, ehe er sich in den Wald wandte und unter dem Schutze desselben zu uns zurückkehrte.

Ich rannte so schnell wie möglich nach unserem Versteck.

„Rasch auf! Wir müssen fliehen!“

All devils! Wohin zum Beispiel?“ fragte Sam. „Dort kommen die Comanchen; die beiden Weißen sind auch dabei!“

„Das ist ein Glück! Sie werden an uns vorüberjagen und da oben genug zu tun haben, um die Fährte Winnetous zu finden. Schnell, die Pferde an den Rand! Sobald sie vorüber sind, jagt ihr aus allen Kräften flußab, und zwar auf ihrer eigenen Spur, daß sie später die eurige nicht zu unterscheiden vermögen. Ich bleibe zurück, um den Rückzug zu decken und den Apachen zu erwarten.“

„Du allein?“ fragte Sam.

„Natürlich,“ antwortete ich mit einem erklärenden Seitenblick auf Hoblyn, dem doch immerhin nicht zu trauen war. „Die Anderen sind nicht erfahren genug; ich muß sie dir übergeben!“

Well, dann vorwärts; sie sind vorüber!“

Wirklich sprengte eben jetzt der letzte Comanche an uns vorbei; und nun befand sich die Waldecke zwischen uns und ihnen, so daß wir von ihnen nicht gesehen werden konnten. Während Sam mit den Andern davonritt, vertilgte ich unsere Spuren, so gut es sich tun ließ. Eben war ich damit fertig, als es im Unterholze raschelte. Winnetou stand vor mir.

„Uff! Die Schakals der Comanchen suchen die Spur des Apachen. Wo sind die Gefährten meines weißen Bruders?“

„Sie sind vorangeritten.“

„Die Gedanken meines Bruders sind stets klug. Die Bleichgesichter sollen nicht lange auf uns warten!“

Er legte eiligt seine Kleider an, die er bisher in der Hand getragen hatte, und zog dann sein Pferd in das Freie. Ein Blick nach aufwärts belehrte mich, daß wir vor den Comanchen jetzt noch sicher waren, und darum fragte ich:

„Was hat mein roter Bruder im Flusse gefunden?“

„Die Leiche des Bleichgesichtes. Winnetou hat heut zweimal gehandelt wie ein Knabe, der keine Gedanken hat; aber er fürchtet sich nicht, und seine weißen Brüder werden ihm verzeihen!“

Das war ein Eingeständnis, welches der stolze Apache sicher keinem Anderen als nur mir allein gemacht hätte. Ich antwortete nicht darauf, denn er brauste auf seinem Renner bereits wie ein Sturmwind dahin, so daß ihm mein Mustang kaum zu folgen vermochte.

Da, wo unser Weg rechtsab in die Berge führte und also von der Fährte der Comanchen abzweigte, hielten die Unsrigen. Sam war abgestiegen, um unter Mithilfe der übrigen die Füße der Pferde zu umwickeln. Es mußten zu diesem Zwecke einige aus dem Hide-spot der Stakemen mitgenommene Decken zerschnitten werden. Dann ging es vorwärts, in die Schlucht hinein, Winnetou hinterher zu Fuße, um die ja noch entstehenden Spuren zu verwischen.

Als wir die erste Krümmung der Schlucht hinter uns hatten, blieb ich halten.

„Bernard, nehmt mein Pferd beim Zügel, bis ich nachkomme!“

„Was willst du tun, Charley?“ fragte Sam.

„Hier bleiben, um abzuwarten, was die Roten anfangen werden.“

Well, das ist gut! So werden wir ja erfahren, ob sie hinter unsere Schliche kommen.“

Die Gefährten ritten weiter, während ich in die Büsche kroch. Ich hatte noch nicht lange dagelegen, so vernahm ich schon Hufschlag. Die Comanchen kamen zurück, aber es war nicht der ganze Trupp, sondern nur die Hälfte. Wo waren die Andern? Ich sah auch die beiden Morgans; der Capitano und Conchez fehlten. Die Indsmen kamen sehr langsam geritten und hielten den Blick auf den Boden gerichtet. Da, wo wir abgestiegen waren, um die Hufe zu umwickeln, hielten sie an, Der eine Häuptling, welcher sich bei ihnen befand, sprang plötzlich vom Pferde, bückte sich nieder und nahm einen Gegenstand von der Erde auf, den ich nicht erkennen konnte. Er zeigte ihn vor; der Boden wurde genauer untersucht. Man hielt eine Beratung, und dann trennten sich die beiden Weißen und der Häuptling von dem Trupp, um zu Fuß in die Schlucht einzudringen.

Mit scharfen Augen selbst das scheinbar Bedeutungslose untersuchend kamen sie näher; es waren gefährliche Augenblicke für mich. Doch, dank unserer Vorsicht, bemerkten sie nicht das geringste Zeichen von unserer Anwesenheit. Im Vorübergehen erblickte ich den fraglichen Gegenstand in der Hand des Häuptlings. Es war ein wollener Faden, der beim Zerschneiden der Decken von einem der Unsrigen achtlos zur Erde geworfen worden war; es hing also hier ganz wörtlich unser aller Leben nur an einem Faden.

Sie schritten noch ein Stück in die Schlucht hinein, dann kehrten sie um. Sie hatten die Überzeugung gewonnen, daß hier kein Mensch geritten oder gegangen sei, und hielten also ein Schweigen nicht mehr für unbedingt geboten.

„Hier war niemand,“ hörte ich Fred Morgan sagen; „die Pferdespuren waren also unsere eigenen.“

„Aber wer war die Rothaut, und wer waren die beiden Weißen, die wir noch nicht gefunden haben?“ fragte sein Sohn.

„Das werden wir bald erfahren, denn entgehen können sie uns unmöglich. Der Rote war nackt, drum konnte man nicht erkennen, zu welchem Stamme er gehört.“

„Er hat uns keinen schlechten Dienst erwiesen, wenn die Leiche wirklich dieser Holfert war, von dem du mir erzählt hast.“

„Er war’s. Aber wie kam der Indianer an die Stelle, wo wir so lange lagerten? War er bereits vorher dort, oder kam er später hin? Ich glaube – – –“

Mehr konnte ich nicht hören, denn sie waren nun wieder an mir vorüber. Aus dem Gehörten aber konnte ich entnehmen, daß wir uns zunächst in Sicherheit befanden, und daß der Capitano es vorgezogen hatte, sich den Comanchen nicht zu zeigen. Dies geschah jedenfalls aus dem Grunde, weil es nur in diesem Falle ihm möglich war, den Leutnant auf der Tat zu ertappen. Freilich schien es mir sehr fraglich, ob es ihm und Conchez gelingen werde, den scharfen Augen der Comanchen zu entgehen.

Jetzt erreichten die drei Späher ihren Trupp wieder, welcher auf einen kurzen Befehl des Häuptlings umschwenkte und hinter den Bäumen verschwand. Ich hatte somit meine Absicht erreicht und eilte den Gefährten nach, welche bereits eine solche Strecke zurückgelegt hatten, daß ich erst nach einer halben Stunde zu ihnen stieß. Winnetou sah mich fragend an, und ich berichtete, was ich gesehen hatte.

Well,“ meinte Sam, „so ist es uns zum Beispiel gelungen, ihnen ein Schnippchen zu schlagen.“

„Die Söhne der Comanchen haben Augen und sehen nicht, und ihre Ohren sind verstopft, daß die Schritte ihrer Feinde sie nicht hören. Meine weißen Brüder mögen den Pferden ihre Mokassins abnehmen!“

Dieser Mahnung Winnetous wurde gern Folge geleistet, da es den Tieren außerordentlich hart ankam, mit den umwickelten Hufen die Beschwerden des Weges zu überwinden.

Es war ein böser Ritt, eine ungebahnte, von Felstrümmern übersähte Schlucht entlang, worin Bäume lagen, welche das Alter oder der Sturm von beiden Seiten herabgestürzt hatte. Je weiter wir kamen, desto wilder ward die Gegend, bis wir gegen Abend die Höhe des Gebirgzuges erreichten, welcher sich parallel mit der Sierra von Nord nach Süd erstreckt. Wir ritten jenseits desselben hinab und erreichten, als die Sonne sank, einen vortrefflichen Lagerplatz.

Der Abend und die Nacht verflossen in ungestörter Ruhe, und ein kurzer Rekognitionsritt, welchen ich am Morgen nach rückwärts unternahm, bestärkte mich in der Überzeugung, daß wir unverfolgt geblieben seien.

Jetzt ging es weiter, und zwar auf einer Bodengestaltung, wie ich sie früher am Colorado getroffen hatte. Der Wald hörte nach und nach auf, da es an Wasser zu mangeln begann. Es gab eine Menge trockener Flußbetten. Alle waren gewaltig tief eingeschnitten und gaben von der Gewalt der Wasser, die früher hier geflossen waren, ein redendes Zeugnis. Sobald man sich einem dieser netzförmig unter sich verbundenen Flußbetten näherte, gewahrte man das gegenüberliegende Ufer als eine Abschattung desjenigen Bodens, auf welchem man sich befand. Je weiter man kam, desto deutlicher trat der vorher bemerkte Strich hervor, bis man beinahe urplötzlich vor einem tiefen Abgrunde stand, dessen Furchtbarkeit zwar dadurch gemildert wurde, daß es auf seiner Sohle ebenso wie oben tageshell war, der aber vermöge der Steilheit seiner Wände den Reisenden ein sehr schwer zu überwindendes Hindernis bot.

Betrachtet man diese Täler genauer, so findet man, daß während der Regenzeit ihre ganze Breite mit Wasser angefüllt sein muß; denn zu beiden Seiten ist der Wasserstand unverkennbar in verschiedenen Höhen markiert. Hier sieht man prachtvoll übereinander gelagerte Felsen mit so malerischen oder grotesken Umrissen, daß man den Bleistift gar nicht aus der Hand legen möchte. Es türmen sich Pyramiden und kubische Massen, es bauen sich gewaltige Säulen und Bogen auf- und übereinander, und das Wasser hat stellenweise so eigentümliche Rundungen ausgehöhlt, so wunderbare Konturen, man möchte sagen Verzierungen, ausgewaschen, daß man sich kaum des Gedankens erwehren kann, dieselben seien von Menschenhänden gemacht.

Der Boden dieser Flußbetten muldet sich nach der Mitte zu nur sehr wenig aus, und nur selten ist es möglich, von dem hohen Ufer hinabzugelangen, man müßte denn ein sehr guter Kletterer sein. Aber das Hochland ist nach allen Richtungen hin so durchfurcht, daß man, an dem Ufer eines solchen trockenen Flußbettes fortgehend, sehr bald zu einem Seitentale gelangt, durch welches man in das Hauptbett zu kommen vermag. Da sich nun dasselbe gewöhnlich in einer bestimmten Richtung fortzieht, so kann es recht gut als Straße dienen und bietet vermöge seiner tiefen Lage dem Reisenden den Vorteil, daß er von keinem anderen Punkte als nur vom Ufer aus bemerkt werden kann. Natürlich ist damit zugleich der Nachteil verbunden, daß auch er einen Feind nicht eher bemerkt, als bis er ihn unmittelbar vor sich hat.

Wir folgten einem solchen Tale in stets westlicher Richtung. Je weiter wir darin vorwärts kamen, desto mehr verlor es seine ursprüngliche Tiefe, desto weniger mündeten Seitentäler ein, und endlich sahen wir vor uns die bewaldeten Höhen der Sierra Rianca aufsteigen.

Am Fuße des Gebirges trafen wir wieder auf zahlreiche Wasserläufe, welche alle dem Rio Pecos zuströmten, und unter ihnen befand sich auch der, der in dem von uns gesuchten Tale seinen Ursprung nahm.

Am späten Nachmittag erreichten wir dieses Tal. Es hatte die Länge von ungefähr anderthalb englischen Meilen und die durchschnittliche Breite von einer halben Stunde. Rings war es von waldbesetzten Höhen eingefaßt und zeigte längs des Wassers auf seiner Sohle eine saftig grüne Trift. Leider durften wir unsere Tiere hier nicht weiden lassen, sonst wäre unsere Anwesenheit sofort verraten gewesen.

„Ist dieses Tal auch ganz sicher das gesuchte?“ fragte ich Hoblyn, da ein Irrtum sehr leicht möglich war.

„Ich bin meiner Sache sicher, Sir. Da oben unter jener Wintereiche habe ich mit dem Capitano mein erstes Nachtlager gehalten.“

„Ich schlage vor, eines der nächsten Täler aufzusuchen, um unsere Pferde dort weiden zu lassen; es könnte eine Wache bei ihnen zurückbleiben, und wir hätten hier freie Hand.“

„Klingt ganz gut,“ meinte Sam; „aber kann nicht der Fall eintreten, daß wir unsere Tiere plötzlich brauchen? Ich gebe meine Tony nicht so weit weg!“

Well, so müssen wir im Walde nach einem versteckten Plätzchen suchen. Ich will mit Bob diese Seite absuchen, während Winnetou die andere Seite begeht. Ihr Übrigen wartet, bis wir zurückkommen.“

Ich stieg ab, nahm meine Büchse und schritt mit dem Neger in den Wald hinein. Dieser stieg ziemlich steil an der Seite des Tales empor, und es war wegen der umgestürzten Bäume und der zahlreich zerstreuten Felsblöcke nicht leicht, die Pferde hier heraufzubringen. Wir gingen nicht nahe, sondern in einiger Entfernung parallel miteinander fort und hatten wohl die zurückzulegende Strecke bereits halb hinter uns, als ich plötzlich Bob einen lauten Schrei ausstoßen hörte.

„Massa, oh, ah, Massa kommen schnell, schnell!“

Ich wandte mich zu ihm und sah, wie er zum Stamm einer niedrigen Blutbuche sprang, den untersten Ast derselben erfaßte und sich emporschwang.

„Was gibt’s, Bob?“

„Massa kommen schnell, helfen Nigger Bob! O nein, nicht kommen, sondern laufen und holen all, viel‘ ganz‘ Leute, um machen tot das Ungetüm!“

Ich brauchte nicht zu fragen, welches Ungetüm er meinte. denn ich sah es eben jetzt durch das Unterholz brechen. Es war ein grauer Bär, einer von der liebenswürdigen Sorte, welche der Jäger Grizzly nennt.

Ich habe den Löwen in der Wildnis jene Laute ausstoßen hören, welche der Araber mit dem Worte Rad, d. i. Donner, bezeichnet; ich habe den bengalischen Tiger brüllen hören, und das Herz ist mir, wenn auch die Hand nicht zittern durfte, dabei unruhig geworden; aber das tiefe, heisere, heimtückische, dämonische Brummen des grauen Bären schneidet durch Mark und Bein und verursacht selbst dem Beherzten ein Gefühl, als wenn ihm die Zähne eilig würden, nur daß einem diese Empfindung nicht bloß durch die Zähne, sondern durch den ganzen Körper läuft.

Vielleicht noch acht Schritte von mir entfernt, richtete er sich auf den Hinterfüßen empor und riß den Rachen auf. Er oder ich – einer mußte sterben. Ich zielte auf das Auge und drückte ab, hielt in demselben Augenblick auf das Herz und gab den zweiten Schuß. Die Büchse wegwerfend, zog ich das Messer und sprang zur Seite, um so besser stoßen zu können. Das riesige Tier schritt kerzengrad auf mich zu, als seien beide Kugeln an ihm vorübergegangen – zwei, drei, fünf, sechs Schritte, und eben holte ich zum Stoße aus, als er die erhobenen Vordertatzen sinken ließ, ein beinahe heulendes Grunzen ausstieß, wohl eine Minute lang stehen blieb und dann wie unter einem gewaltigen Keulenschlage zusammenbrach. Die eine Kugel war ihm in das Gehirn und die andere in das Herz, also beide mitten in das Leben hineingedrungen. Ein Panther oder Jaguar wäre unter gleichen Verhältnissen wie eine Katze zusammengezuckt. Mein Grizzly war ruhig weitergegangen – nur noch zwei Schritte, und ich wäre verloren gewesen.

„Oh, ah, gut, schön!“ rief Bob vom Baume herunter. „Bär richtig tot sein, Massa?“

„Ja; komm herunter!“

„Aber auch gewiß tot sein, Massa? Nicht fressen Nigger Bob?“

„Er ist ganz tot.“

So schnell, wie er hinaufgekommen war, kam Bob wieder herab; doch als er näher trat, zögerte sein Fuß. Ich selbst beugte mich mit aller Vorsicht zu dem Tiere nieder und stieß ihm mein Messer wiederholt zwischen die bekannte zweite und dritte Rippe.

„Oh, ah, groß Bär, sein mehr groß als ganz Bob! Kann Bob essen Bär?“

„Ja; die Tatzen und die Schinken sind delikat.“

„Oh, Massa geben Bob auch Tatzen und Schinken, denn Nigger Bob sein sehr ganz viel gern delikat.“

„Bekommst dein Teil wie jeder Andere. Doch warte hier; ich komme gleich wieder!“

„Bob warten hier? Oh, wenn nun Bär bekommen wieder Leben!“

„Dann springst du wieder auf den Baum!“

„Wenn Massa gehen, dann Bob lieber gleich springen auf Baum!“

Wirklich saß er einen Augenblick später abermals oben auf dem Aste. Der gute Bob war kein Hasenfuß; er hielt menschlichen Feinden gegenüber recht wacker Stand; einem Grizzly aber war er noch nicht begegnet, und so konnte ich ihm seine weise Vorsicht auch nicht übel deuten.

Ich suchte zunächst die Umgebung ab, um zu sehen, ob ich es nur mit einem einzelnen Bären, oder mit einer Familie zu tun hatte. Ich fand die Spuren nur dieses einen Tieres und konnte also ruhig sein. Übrigens blieben Bob und ich nicht lange allein. Man hatte natürlich meine Schüsse gehört und war, da man nicht wußte, wen ich gegen mich hatte, dem Orte zugeeilt, an welchem sie gefallen waren.

Alle erklärten das Tier für eines der größten, die man bisher gesehen hatte, und Winnetou bog sich nieder, um seinen Medizinbeutel in das Blut desselben zu tauchen.

„Mein weißer Bruder hat gut getroffen; die Seele des Bären wird ihm danken, denn sie ist nicht gemartert, sondern schnell erlöst worden und darf nun gehen in die ewigen Jagdgründe ihrer Väter!“

Die Indianer glauben nämlich, daß in jedem grauen Bären die Seele eines berühmten Jägers wohne, die hier eine Läuterung, eine Art Fegfeuer zu erleiden habe. Er half mir, das Tier aus dem Felle zu bringen und die wertvollsten Fleischteile desselben abzulösen. Das Übrige wurde so mit Zweigen, Steinen, Moos und Erde bedeckt, daß wir hoffen konnten, es werde kein Geier angezogen werden, der uns sehr leicht verraten konnte.

Der Apache hatte drüben auf der andern Seite des Tales bereits ein für uns und unsere Pferde geeignetes Versteck entdeckt, welches wir jetzt aufsuchten. Da es noch heller Tag war, so konnten wir es wagen, ein Feuer anzumachen und an demselben die saftigen Bärentatzen zu braten. Trefflich war denn auch die Mahlzeit.

Als es dunkel wurde, wickelten wir uns in unsere Decken und suchten, nachdem die Wachordnung bestimmt war, die Ruhe. Diese erlitt keine Störung, und selbst der größte Teil des nächsten Vormittags verging, ohne daß unsere Aufmerksamkeit durch irgend etwas Besonderes in Anspruch genommen ward.

Wir hatten am Eingange des Tales einen Posten aufgestellt; um die angegebene Zeit war Sam damit betraut. Er hatte noch nicht lange seinen Vordermann abgelöst, als er wieder zurückkehrte.

„Sie kommen!“ meldete er.

„Wer?“ fragte ich.

„Ja, das kann ich zum Beispiel noch nicht genau sagen, weil sie erst näher kommen müssen.“

„Wie viele sind es?“

„Zwei, zu Pferde.“

„Laß sehen!“

Ich eilte der bezeichneten Stelle zu und erkannte mit Hilfe meines Fernrohres die beiden Morgans, welche allerdings noch eine Viertelstunde zu reiten hatten, bis sie das Tal erreichten. Alle Spuren unserer Anwesenheit waren bereits sorgfältig vertilgt worden, und da wir ihnen außerdem an der Zahl überlegen waren, so konnten wir ihre Ankunft in aller Gemütsruhe erwarten.

Eben wollte ich mit Sam zurückkehren, als ich es über uns in den Büschen krachen hörte. War es vielleicht wieder ein Bär? Ein sorgfältigeres Horchen überzeugte uns, daß es zwei Wesen sein mußten, die sich bergabwärts uns näherten.

All devils, Charley, wer mag das sein?“

„Werden es gleich sehen. Schnell zwischen die Sträucher!“

Wir verbargen uns, so daß uns die Zweige zwar vollständig deckten, wir aber sofort wehrfertig waren, wenn es sich ja um wilde Tiere handeln sollte. Einige Minuten später erkannten wir, daß wir es mit keinem Wild, sondern mit zwei Männern zu tun hatten, welche ihre Pferde nach sich zogen. Und diese zwei waren – der Capitano und Conchez. Ihre Tiere sahen außerordentlich mitgenommen aus, und auch die Reiter zeigten in ihrem ganzen Äußern, daß sie eine schlimme Reise hinter sich haben mochten.

Unweit unseres Versteckes blieben sie halten; sie hatten da eine freie Aussicht hinaus in die Weite.

„Endlich!“ rief der Capitano mit einem Seufzer der Erleichterung. „Das war ein Ritt, wie ich ihn nicht bald wieder machen möchte. Aber wir kommen noch zur rechten Zeit; es ist noch niemand hier gewesen.“

„Woran seht Ihr es?“ fragte Conchez.

„Mein Versteck ist noch unberührt. Die Morgans sind also noch nicht hier gewesen, und wie sollte ein Anderer grad hierher in diese abgelegene Gegend kommen?“

„Ihr habt wahrscheinlich recht. An diesen Sans-ear und Old Shatterhand denkt Ihr also nicht mehr?“

„Nein; denn wären sie den Morgans gefolgt, so hätten sie unbedingt auf die Comanchen stoßen müssen, und da wäre ihnen das Weitergehen wohl verleidet worden.“

„Aber wer ist jener nackte Indianer im Rio Pecos gewesen, und die weiße Leiche dort im Wasser?“

„Geht uns jetzt nichts an. Schaden kann uns niemand, denn wir haben die Comanchen zwischen uns und einem jeden, dem es etwa in den Sinn gekommen sein sollte, uns zu folgen.“

„So denkt Ihr also, daß wir die Roten ganz sicher hinter uns haben?“

„So sicher, wie ich dich neben mir sehe. Sie haben den Indianer niedergemacht, wenn es ein Feind von ihnen gewesen ist – was ich aber nicht glaube, denn ein Apache wagt sich jetzt nicht hierher – und sind uns dann gefolgt. Wir mußten ja solche Eile brauchen, daß wir eine Spur zurückgelassen haben, wie sie keine Bisonherde deutlicher macht.“

„Und wenn sie uns hier finden?“

„Schadet uns nichts; wir sind Freunde. Sie werden sich höchstens wundern, daß wir uns ihnen nicht zu erkennen gegeben haben, und das werde ich ihnen schon erklären, indem ich ihnen von diesem Leutnant erzähle, der – carajo, ich lasse mich hängen, wenn er da draußen nicht bereits kommt!“

„Er ist’s!“

„Gut, so haben wir ihn endlich fest, und er soll erfahren, was es heißt, seinen Hauptmann und seine Kameraden zu betrügen!“

„Sie kommen allein, und das ist allerdings ein Beweis, daß die Comanchen uns auf dem Fuße sind. Aber sagt, Capitano, wollt Ihr den Schatz heut wirklich heben – in meiner Gegenwart?“

„Ja.“

„Für wen?“

„Für uns.“

„Für uns? Wie meint Ihr das? Für uns das kann heißen, für die ganze Compagnie oder auch nur für uns Beide.“

„Was wäre dir lieber?“

„Das ist leichter zu denken als zu sagen, Capitano. Aber wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, wie es jetzt im Hide-spot steht, so ist es jedenfalls besser, gar nicht dorthin zurückzukehren. Wenn man sich seine gute Zeit lang abgemüht hat, verlangt es einen auch einmal nach Ruhe und Bequemlichkeit, und ich denke, was Ihr dazu braucht, das habt Ihr hier in Eurem Verstecke reichlich beisammen, so reichlich, daß für mich auch ein weniges abfällt.“

„Du sprichst wie ein Buch, und ich will dir auch nicht Unrecht geben. Aber jetzt gilt es vor allen Dingen, diesen zwei Schurken auf die Finger zu klopfen. Komm weiter aufwärts! Dort gibt es einen Platz, wie wir ihn gar nicht besser für uns finden können, und der Schatz, den sie heben wollen, ist ganz in der Nähe.“

Meinte der ahnungslose Capitano vielleicht den Ort, an welchem wir unser Lager genommen hatten? Sie schritten allerdings ganz in dieser Richtung mit den Pferden davon, und wir folgten ihnen. Sie waren so unbesorgt und achtlos, daß sie nicht einmal die Fußspuren bemerkten, welche ich und Sam hinterlassen hatten. Allerdings gehörte auch ein gutes Auge dazu, sie zu erkennen.

Die Unsrigen hörten natürlich, daß sich etwas Ungewöhnliches nahe, und hatten sich erhoben. Noch heut kann ich mir den Gesichtsausdruck der beiden Ehrenmänner vergegenwärtigen, als sie, durch die letzten Büsche tretend, den Indianer erkannten, dem sie am Rio Pecos nachgesprungen waren. Beinahe mußte ich hell auflachen.

„Hoblyn!“ rief Conchez, seinen früheren Gefährten erkennend.

„Hoblyn?“ fragte der Capitano. „Wahrhaftig! Wie kommst du in die Sierra Rianca, und wer sind diese Leute hier?“

Ich trat von hinten näher an ihn heran und klopfte ihm auf die Achsel.

„Bekannte, lauter Bekannte sind’s, Capitano. Tretet näher, nehmt Platz, und macht es Euch bequem!“

„Wer seid Ihr, Sennor?“ fragte er mich.

„Ich werde Euch diese Männer vorstellen und komme also zuletzt daran. Dieser schwarze Master heißt Bob und war der beste Freund eines gewissen Master Williams, den Ihr ja wohl gekannt habt. Dieser weiße Gentleman ist ein Herr Marshall aus Louisville, der einige Worte mit den Morgans zu reden hat, die Euch die Eier aus dem Neste nehmen wollen. Dieser braune Monseigneur heißt Winnetou; Ihr habt den Namen wohl schon einmal gehört, und ich will also über ihn keine lange Rede halten. Dieser Gentleman hier wird gewöhnlich Sans-ear genannt, und mich heißt man zuweilen Old Shatterhand.“

Der Mann war vor Schreck so verblüfft, daß er keine Worte fand und nur den Ruf zu stammeln vermochte:

„Ist’s – möglich?“

„Sehr! Setzt Euch, und macht es Euch so bequem, wie ich es mir machte, als ich Euch im Hide-spot belauschte. Ich lag hart hinter Euch und nahm mir Eure Pistole als Andenken mit. Vorgestern lag ich wieder bei Euch, als Ihr die Comanchen belauscht und Eure Herzen gegeneinander ausgeschüttet habt. Bob, nimm diesen beiden Mesch’schurs einmal die Waffen ab, und binde ihnen die Hände und Füße ein wenig zusammen!“

„Sennor – –!“ fuhr der Capitano auf.

„Schon gut! Wir sprechen mit Euch, wie man mit Stakemen zu reden hat. Gebt Euch keine unnütze Mühe, denn ich sage Euch: ehe die Morgans das Tal vollends erreichen, seid Ihr gefesselt und geknebelt oder – tot.“

Das alles war so schnell und unerwartet über sie gekommen, daß sie gar nicht Zeit fanden, eine Gegenwehr zu versuchen.

„Sagt einmal, Sennor Capitano, wo sich das Versteck befindet, nach welchem es den Morgans so gelüstet!“ fragte ich ihn.

„Die Sachen gehören nicht Euch!“

„Ganz wie Ihr wollt; sie werden aber doch vielleicht unser. Ich will Euch gar nicht zwingen, Euer Geheimnis auszuplaudern, aber eine andere Frage werdet Ihr mir wohl beantworten: Was ist aus den sogenannten Voyageurs, die mit Eurem Leutnant gingen, und aus den Kaufleuten geworden, welchen sie folgten?“

„Die Kaufleute – hm, ich weiß es nicht – – –“

Well, ich weiß es nun. Und die Voyageurs?“

„Zwei werden zum Hide-spot zurückgekehrt sein, den dritten ermordete der Leutnant unterwegs. Wir haben seine Leiche gefunden.“

„Dachte es! Jetzt laßt Euch ruhig den Knebel geben! Es geschieht, damit Ihr uns den beiden Carajos nicht verratet.“

Wir waren gerade mit ihnen fertig, als Fred Morgan mit seinem Sohne am Eingange des Tales erschien. Sie blieben eine Minute halten und überblickten das Terrain. Dann gab Patrik seinem Pferde die Sporen und kam im Trabe herbei; sein Vater folgte ebenso schnell. Sie schienen nicht die Absicht zu haben, sich lange hier aufzuhalten. Grad uns gegenüber, etwa zwanzig Schritte von unserem Lager aus, stand ein junges Brombeerengeranke; dahin wandten sich die Beiden.

„Hier ist es, Vater!“ sagte Patrik.

„Hier? Ein wohlfeiler Platz, an dem man einen Schatz nicht sucht!“

„Heraus damit, und dann fort! Man weiß nicht, wer die beiden Weißen gewesen sind, und ob es den Comanchen gelungen ist, sie festzunehmen.“

Beide sprangen ab und pflockten ihre Pferde an das Ufer des Baches. Während die durstigen Tiere tranken, knieten die Spitzbuben nieder, legten ihre Waffen beiseite und begannen, das Gestrüpp mit Hilfe ihrer Messer zu entfernen. Es kam eine lockere Humuserde zum Vorschein, welche aufgewühlt wurde.

„Hier!“ rief Patrik nach einiger Zeit und brachte ein Paket zum Vorschein, welches sehr sorgfältig in behaarte Büffelhaut eingenäht war.

„Ist das alles?“

„Alles, aber genug; Banknoten, Depositen und so weiter. Jetzt das Loch zu, und dann fort!“

„Vielleicht bleibt ihr auch ein wenig länger da!“

Diese Worte wurden von Sam gesprochen, während ich mit einem Sprunge zwischen ihnen und ihren Waffen stand und die Andern ihre Büchsen auf sie anlegten. Sam stand vor den beiden Männern wie der Tiger, der sich auf seine Beute stürzen will. Sie waren im ersten Augenblick vollständig überrascht, besannen sich aber schnell und wollten ihre Waffen ergreifen. Ich streckte ihnen den Revolver entgegen.

„Bleibt stehen, wo ihr jetzt haltet, denn jeder Versuch, einen Schritt hinwegzutun, kostet Euch das Leben!“ sagte ich.

„Wer seid Ihr?“ fragte Fred Morgan.

„Fragt diesen sogenannten Master Mercroft, Euern Sohn.“

„Wer gibt Euch das Recht, uns hier anzufallen?“

„Wir selbst, ebenso wie ihr euch das Recht gegeben habt, Andere anzufallen, wie zum Beispiel den Master Marshal in Louisville, den Bahnzug später und früher noch die Farm eines gewissen Sam Hawerfield, der jetzt vor euch steht. Tut uns doch einmal den Gefallen, und legt euch platt auf die Erde!“

„Werden es bleiben lassen!“

„Werdet es dennoch tun, wenn ich Euch unsere Namen nenne. Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apachen; dieser ist Sans-ear, der frühere Sam Hawerfield, und wer ich bin, wird Euch Euer Sohn bereits erzählt haben. Ich zähle bis drei; liegt ihr dann noch nicht, so seid ihr des Todes. Eins -zwei – –“

Mit zusammengekniffenen Zähnen und geballten Fäusten gehorchten sie.

„Bob, binde siel“

„Bob werden binden sehr schön, ganz fest, Massa!“ meinte der Schwarze, und er tat sein Möglichstes, dieses Versprechen wahr zu machen.

Bernard war bisher bei den andern Gefangenen geblieben; jetzt löste ihn der Neger ab, und er trat herzu. Als Fred Morgan ihn erblickte, riß er die Augen auf, als ob er ein Gespenst vor sich habe.

„Marshal!“

Dieser warf ihm einen kurzen Blick zu, sprach aber kein Wort; doch der Blick sagte mehr als Worte; es lag in ihm der kalte, ruhige Entschluß der gerechten Vergeltung.

„Bob, bringe die Andern heraus!“ meinte Sam. „Auch wir haben zum Beispiel keine Ursache, uns hier lange aufzuhalten, und wollen kurz und bündig über diese Leute richten.“

Der Neger brachte nun Conchez und den Hauptmann herbei. Auch Hoblyn kam nach. Er hatte sich bisher besser gehalten, als es einem Stakeman zuzutrauen gewesen war.

„Wer soll sprechen?“ fragte Bernard.

„Charley, du!“ meinte Sam.

„Nein. Wir sind hier alle Partei, nur Winnetou ist unberührt. Er ist ein Häuptling der Prairie und soll das Wort haben!“

Alle waren einverstanden. Der Apache neigte zustimmend sein Haupt.

„Der Häuptling der Apachen hört reden den Geist der Savanne; er wird sein ein gerechter Richter über die Söhne der Bleichgesichter. Meine Brüder mögen nehmen ihre Waffen, denn nur Männer dürfen richten über die Gefangenen!

Das war so indianische Sitte, und wir folgten ihm. Er begann:

„Wie ist der Name dieses Weißen?“

„Hoblyn,“ antwortete Sam.

„Was hat er getan?“

„Er war ein Stakeman.“

„Haben meine Brüder gesehen, daß er tötete einen ihrer Männer?“

„Nein.“

„Hat er freiwillig gesagt, daß er ein Mörder ist?“

„Nein.“

„Wem hat er bisher geholfen, den Stakemen oder meinen Brüdern?“

„Uns.“

„So mögen meine Brüder richten mit dem Herzen und nicht mit der Büchse. Winnetou wünscht, daß dieser Mann frei sei, aber nicht wieder gehe zu den Stakemen!“

Wir stimmten Alle bei, und der Ausspruch des Apachen hatte so sehr meine eigene Ansicht getroffen, daß ich die Büchse und das Messer Fred Morgans ergriff und beides Hoblyn hinreichte.

„Nehmt! Ihr seid frei und dürft also wieder Waffen tragen.“

„Ich danke Euch, Sir!“ meinte er freudig. „Ihr sollt Euch in mir nicht täuschen!“

Es war ihm anzusehen, daß er den guten Willen hatte, dieses Versprechen zu erfüllen. Winnetou fuhr fort:

„Wer ist dieses Bleichgesicht?“

„Der Anführer der Stakemen.“

„Das ist genug; er soll sterben! Denken meine Brüder anders?“

Keiner sagte ja; das Urteil war also bestätigt.

„Und wie heißt dieser Mann?“

„Conchez.“

„Das ist ein Name, wie ihn tragen die falschen Männer des Südens. Was war er?“

„Ein Stakeman.“

„Was wollte er hier? Er wollte betrügen seine eigenen Gefährten um den Schatz; er hat zwei Seelen und zwei Zungen; er möge sterben!“

Auch jetzt erhob sich keiner zur Verteidigung des Angeklagten. Winnetou fuhr fort:

„Aber nicht von der Hand eines braven Mannes sollen sie sterben, sondern von der Hand dessen, der selbst gerichtet wird. Wie heißt dieser Mann?“

„Patrik.“

„Man nehme ihm die Fesseln ab. Er mag werfen die Stakemen in das Wasser, denn keine Waffe soll berühren ihren Körper, sondern sie mögen im Wasser ertrinken.“

Bob band ihn los, und während wir ihn vor den Läufen unserer Büchsen behielten, vollbrachte er den ihm gewordenen Befehl mit einer Bereitwilligkeit, wie sie nur der wirklich hartgesottene Sünder zeigen kann. Er sah sich verloren, und es war ihm ganz sichtlich eine Genugtuung, vorher an seinen früheren Gefährten den Henkerdienst zu verrichten. Diese waren so fest gebunden, daß sie sich nicht im mindesten zu wehren vermochten. Sie versuchten dies auch gar nicht, und dennoch mußte ich mich abwenden; ich konnte den Blick unmöglich auf die Stätte richten, welche zwei Menschen eines zwar zehnfach verdienten, aber immerhin gewaltsamen Todes sterben sehen sollte.

In zwei Minuten war es vorüber. Patrik ließ sich wieder binden; es gab ja keine andere Wahl für ihn.

„Wer sind nun diese zwei Bleichgesichter?“ fragte Winnetou.

„Sie sind Vater und Sohn.“

„Wessen klagen meine Brüder sie an?“

„Ich klage sie an des Mordes an meinem Weibe und meinem Kinde,“ antwortete Sam.

„Ich klage den Vater an des Raubmordes an meinem Vater,“ fügte Bernard hinzu.

„Und ich klage an den Vater des Raubüberfalles eines Bahnzuges und des Mordes eines Bahnbeamten,“ beendigte ich. „Ich klage den Sohn an des Mordversuches an mir und Euch. Es ist genug, wir brauchen das Übrige gar nicht zu rechnen!“

„Mein weißer Bruder hat recht gesagt: es ist genug. Sie sollen sterben. Der schwarze Mann möge sie töten!“

„Halt!“ rief da Sam. „Das gebe ich nicht zu. Ich bin ihnen gefolgt seit vielen Jahren; das, was sie mir getan haben, ist ihr ältestes Verbrechen; sie sind mein, und ich lasse sie keinem Andern. Ihr Leben gehört mir, und ihre Kerben kommen auf meine Büchse. Dann ist Sans-ear zufrieden, und er und seine alte Tony mögen Ruhe finden in irgend einer Kluft des Gebirges oder draußen in der Prairie, wo die Gebeine von tausend Jägern bleichen!“

„Das Verlangen meines Bruders ist gerecht; er möge die Mörder nehmen aus den Händen der Andern!“

„Sam,“ – sagte ich leise, indem ich mich zu ihm neigte, damit die Andern meine Worte nicht hörten – „beflecke dich nicht mit dem Blute der Mörder, indem du sie als Wehrlose kaltblütig niederschießest. Solche Rache entehrt einen Christenmenschen und ist Sünde. Überlaß sie dem Neger!“

Der harte Jäger starrte finster vor sich nieder und schwieg. Um ihm Zeit zum Überlegen zu geben, trat ich mit Bernard zu dem Pferde Fred Morgans. Wir fanden in den Satteltaschen einige Perlen, welche der Juwelier als die seinigen erkannte; weiter nichts. Wir untersuchten nun ihn selbst und fanden endlich ein Päckchen, welches mit Hirschsehne an die innere Seite seines Büffelhemdes angenäht war. Es enthielt Banknoten in nicht unbedeutendem Werte; dies war jedenfalls der Anteil, den er Holfert abgenommen hatte. Bernard steckte das Päckchen zu sich.

In diesem Augenblick vernahm ich von dem Platze her, an welchem unsere Pferde standen, ein ängstliches Schnaufen. Es war mir, als könne dies nur mein Mustang gewesen sein. Ich schritt also hinzu und sah, wie das Pferd mit gesträubter Mähne und funkelnden Augen am Riemen zerrte, um sich zu befreien. Entweder gab es ein Raubtier in der Nähe, oder es waren Indianer da. Ich stieß einen Warnungsruf aus; dieser aber wurde nicht vernommen, denn in demselben Augenblick erscholl draußen von der Wiese her ein entsetzliches Geheul.

Schnell war ich am Rande des Buschwerkes und blickte durch die Zweige. Was ich sah, war fürchterlich. Der ganze Platz wimmelte von Wilden. Drei oder vier knieten über Sam, den sie niedergerissen hatten; zwei hatten zu gleicher Zeit miteinander den Lasso über Winnetou geworfen und schleiften ihn an der Erde hin; Hoblyn lag mit zerschmettertem Schädel am Boden, und Bernard konnte ich gar nicht erkennen, so viele hatten ihn gefaßt. Wo Bob stak, konnte ich nicht sehen.

Die Racurroh waren also dem Kapitän wirklich gefolgt, hatten sich während der Gerichtsszene unbemerkt herangeschlichen und waren nun so unerwartet über die Gefährten hergefallen, daß eine Gegenwehr der reine Wahnsinn gewesen wäre. Was konnte ich für sie tun? Nichts, als mich retten. Es wäre mir möglich gewesen, ein halbes Dutzend der Indsmen niederzuschießen, aber wem war damit geholfen? Getötet war außer Hoblyn noch keiner, und so weit ich Comanchen kannte, ließ sich erwarten, daß sie die Überrumpelten als Gefangene mit sich führen würden, um sie daheim einen langsamen Martertod sterben zu lassen. Ich kehrte also zu meinem Pferde zurück, band es los und kletterte, es hinter mir herziehend, so schnell wie möglich zur Höhe empor. Etwas Anderes mit mir zu retten, dazu gab es keine Zeit, denn die Wilden hatten mich jedenfalls in das Gesträuch treten sehen und ließen es sich sicher angelegen sein, mich zu fangen.

Die bedeutende Steilung machte es mir außerordentlich schwer, mit dem Pferde vorwärts zu kommen; aber als ich die Höhe erreicht hatte, hörte das hindernde Unterholz auf. Ich stieg in den Sattel und verfolgte den lang sich hindehnenden Bergesrücken mit einer Hast, als ob die ganze Indianerhorde hinter mir her sei. Drüben ging es wieder in ein Tal hinab. Ich gab mir nicht die mindeste Mühe, meine Spur zu verbergen, im Gegenteil, ich wußte, daß sie sicher gefunden und verfolgt würde, und wollte die Verfolger irre leiten.

So ritt ich, ohne anzuhalten, einen großen Teil des Tages immer nach West, bis ich einen Wasserlauf erreichte, der meinem Zwecke dienlich war. Ich lenkte mein Pferd in das Wasser, welches über ein felsiges Bett hinfloß, in dem die Hufe keine Eindrücke hinterlassen konnten, und ritt in demselben So lange aufwärts, bis ich glaubte, daß die Verfolger ermüden würden; dann band ich ihm die Lappen um die Füße und kehrte auf einem Umwege nach dem Ausgangspunkte meines Fluchtrittes zurück.

Die Sonne war bereits untergegangen, als ich den Höhenzug erblickte, hinter welchem das verhängnisvolle Tal lag. Weiter durfte ich mich heute nicht nähern, und so suchte ich mir im Walde eine moosige Stelle, welche sich zum Lager eignete. Mein Pferd war durch die Umhüllung seiner Füße so ermüdet worden, daß es keine Lust zum Fressen verspürte, sondern sich sofort neben mich auf den Boden warf.

Wie so schnell hatten sich die Verhältnisse geändert! Aber ich war nicht aufgelegt zu sentimentalen Betrachtungen; hier konnten nur Taten retten, und um zu diesen befähigt zu sein, bedurfte ich vor allen Dingen der Ruhe und des Schlafes. Ich empfahl mich dem Schutze Gottes, schloß die Augen und – – öffnete sie wieder, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand; so lange hatte ich geschlafen.

Jetzt suchte ich zunächst einen verborgenen Platz, an welchem es ein wenig Weide gab; da band ich mein Pferd an und machte mich dann auf, den Schauplatz der gestrigen Katastrophe zu besuchen. Es war ein außerordentlich gefährliches Unternehmen, aber es mußte gewagt werden, wenn ich den Gefährten nützlich sein wollte. Schritt um Schritt pürschte ich mich zur Höhe empor; um eine Strecke zurückzulegen, welche ein langsamer Fußgänger in zehn Minuten durchgeht, brauchte ich zwei volle Stunden, dann aber ging es, und nun mit verzehnfachter Vorsicht, bergab. Eben wollte ich an einer ziemlich alten Steineiche vorüber, als ich einen ganz eigentümlichen Laut vernahm.

„Pst!“

Ich blickte mich um, konnte aber nichts bemerken.

„Pst!“

Jetzt hörte ich, daß der Laut von oben kam, und schaute empor.

„Pst, Massa!“

Ah, da droben über dem ersten Aste des Baumes war ein Loch ausgefault und aus demselben grinste mir das schwarze Gesicht Bobs freundlich lachend entgegen.

„Wart, Massa; Bob kommen!“ flüsterte er von oben herab.

Dann hörte ich ein Geräusch, ähnlich demjenigen, welches ein im Zimmer Sitzender vernimmt, wenn ein Schornsteinfeger in der nebenan emporführenden Esse arbeitet, und gleich darauf bewegten sich die Haselruten, welche rund um den Stamm des Baumes aufgeschossen waren.

„Massa kommen herein in Zimmer; kein Indian‘ finden dann klug Bob und Massa!“

Ich kroch hinein und befand mich im Innern des hohlen Baumes, dessen Öffnung durch die Haseln vollständig verdeckt wurde.

Lack-a-day, wie hast du diesen Aufenthalt entdeckt?“ fragte ich.

„Viehzeug reißen aus vor Bob, kriechen in Baum und gucken oben durch Fenster. Bob können machen auch so.“

„Was war es für ein Tier?“

„Bob wissen nicht. Waren so groß, haben vier Beine, zwei Augen und einen Schwanz.“

Infolge dieser ebenso genauen wie geistreichen Schilderung kam ich auf die Idee, daß es ein Waschbär gewesen sei.

„Wann hast du den Baum entdeckt?“

„Gleich als Indian‘ kommen.“

„Also seit gestern hast du hier gesteckt! Was hast du alles gehört und gesehen?“

„Bob haben hören und sehen viel Indian‘.“

„Weiter nichts?“

„Sein das nicht genug?“

„Waren keine Wilden hier?“

„Waren hier, aber nicht finden Bob. Dann machen Feuer, als Abend sein und braten Schinken von Bär, den Massa haben schlachten. Warum dürfen fressen unsern Bär?“

Die Indignation des guten Schwarzen war jedenfalls eine sehr gerechtfertigte, konnte aber leider das Faktum nicht ändern.

„Weiter!“

„Dann werden es Morgen, und sein Indian‘ fort.“

„Ah, fort! Wohin?“

„Bob nicht wissen, denn nicht können gehen mit, aber sehen viel Indian‘ fort aus Tal. Klein Fenster droben können ehen alles. War auch dabei Massa Winnetou und Massa Sam und Massa Bern‘. Haben viel Strick und Riemen um Leib.“

„Und dann?“

„Dann? Dann schleich Indian‘ hierher und dorther; wollen Bob fangen, aber Bob sein klug.“

„Wie viele sind noch da?“

„Nicht wissen Bob, aber wo sind, das wissen.“

„Nun, wo?“

„Drüben bei Bär. Bob kann sehen durch Fenster.“

Ich blickte in die Höhe. Es war möglich, sich im Innern des hohlen Baumes emporzuarbeiten; Bob hatte das bewiesen. Ich versuchte es ebenso, und es gelang. Oben bei dem Loche angekommen, welches Bob Fenster nannte, konnte ich wirklich einen Blick hinüber nach der jenseitigen Talwand werfen; es war so ziemlich ein Blick aus der Vogelschau. Und wahrhaftig, am Stamme der Blutbuche, auf welche sich Bob vor dem Bären gerettet hatte, sah ich die Gestalt eines Indianers hocken. Man hatte die Gefangenen weggeführt und eine heimliche Besatzung im Tale zurückgelassen, um, wenn wir zurückkehrten, was doch auf alle Fälle zu erwarten war, uns festzunehmen.

Was war zu tun? Ich kletterte wieder hinab.

„Es ist nur einer drüben, Bob!“ sagte ich.

„Wo anders sein noch einer und noch einer, aber Bob nicht wissen.“

„Erwarte mich hier!“

„Massa wollen gehen? Oh, Massa lieber bleiben hier bei Bob.“

„Wir müssen sehen, daß wir unsere Freunde retten können.“

„Retten? Retten Massa Bern‘? Oh, oh, das sein schön und sein sehr viel gut! Bob auch mit retten Massa Bern‘ und Massa Sam und Massa Winnetou!“

„So verhalte dich ruhig, daß du nicht erwischt wirst!“

Ich verließ den hohlen Baum. Es war mir ein höchst wohltuendes Gefühl, wenigstens Einen außer mir noch verschont zu wissen, wenn dieser Eine auch grad der Neger war. Übrigens mußte ich es sehr schlau nennen, daß man bei den Überresten des Bären eine Wache gesetzt hatte. Das Fleisch konnte ja für uns eine Anziehungskraft besitzen, die uns in das Verderben führte.

Eine Stunde später befand ich mich auf der andern Seite des Tales, keine drei Ellen von dem Indianer entfernt, welcher unbeweglich wie eine Statue saß und kein anderes Glied rührte, als zwei Finger der rechten Hand, welche mit einer kleinen Geierpfeife spielten, die an seinem Halse hing. Ich wußte, daß die Töne dieser Pfeifen oft als Signale verwendet werden; sollte hier vielleicht etwas Ähnliches verabredet sein?

Der Indianer war noch jung, kaum achtzehn Jahre alt; vielleicht war der gegenwärtige Kriegszug sein erster. Er hatte einen sehr interessanten Kopf, und die Sauberkeit seiner Kleidung ebenso wie die feine Arbeit seiner Waffen ließ mich vermuten, daß er der Sohn eines Häuptlings sei. Sollte ich ihn töten? Sollte ich dies junge, hoffnungsvolle Leben zerstören? Nein.

Ich schob mich leise, ganz leise vorwärts, packte mit der Linken seine Kehle und gab ihm mit der Rechten einen vorsichtigen Hieb, der einem älteren Manne nicht das mindeste getan haben würde, diesen Jüngling aber auf der Stelle betäubte; dann fesselte und knebelte ich ihn und befestigte ihn so an den Stamm eines Baumes, daß er rings von Büschen umgeben war und also nicht gesehen werden konnte. Die Geierpfeife hatte ich ihm abgenommen. Ich versteckte mich, setzte sie an den Mund und stieß einen kurzen, halblauten Pfiff aus. Sofort raschelte es mir gegenüber in den Büschen. ein alter Indianer trat hervor und kam eiligen Laufes herübergesprungen. Ein Kolbenschlag meiner Büchse streckte ihn nieder. Er war nicht tot, sondern nur bewußtlos; ich hatte ihn ja nicht töten, sondern unschädlich machen wollen.

Es mußten mehr als drei oder vier Indianer vorhanden sein, und alle diese Leute auf dieselbe Weise herpfeifen und niederschlagen, das wäre ja die schändlichste Metzelei gewesen; aber sie war auch ein Ding der Unmöglichkeit. Vor allem mußte ich erfahren, wo sich die Pferde der Indsmen befanden; es war das eine gefahrvolle Sache. Ich ahmte das kurze Wiehern eines Hengstes nach und siehe da, eben dort, wo der Indianer herausgekommen war und wo unsere Pferde gestanden hatten, ertönte eine mehrstimmige Antwort.

Jetzt mußte ich auf mein gutes Glück vertrauen; ich band den alten Indianer mit seinen eigenen Riemen fest, nahm den jungen auf meine Achsel und eilte unter dem Schutze der Bäume um die kurze Krümmung, welche den Hintergrund des Tales bildete, der Stelle zu, an welcher die Pferde standen. Es waren ihrer sechs, ein sicherer Beweis also, daß sich noch vier Indsmen auf der Lauer befanden; diese standen jedenfalls weiter vorn nach dem Eingange zu, so daß ich hinten genugsam Zeit zu meinen Vorbereitungen hatte.

Ich stieg zunächst hinauf zu Bob. Er war im Innern des Baumes in die Höhe geklettert und schaute durch sein Fenster von oben herab. Als er mich nahen sah, kam er herabgerutscht und blickte zwischen den Haselruten hindurch.

„Massa, oh, haben fangen ein Indian‘! Massa machen wohl tot Indian‘?“

„Nein; ich will ihn nur gefangen halten. Willst du Massa Bernard mit retten?“

„Oh, Bob werden retten gern lieb‘ gut‘ Massa Bern‘. Wie es müssen machen Bob?“

„Du nimmst hier diesen Indianer und trägst ihn hier in gerader Richtung bergab, bis du an den großen Hickory kommst. Da legst du ihn ab und wartest auf mich.“

„Bob werden es machen so, Massa!“

„Aber du rührst seine Fesseln nicht an. Wenn er frei wird, bist du verloren!“

„Bob nicht werden sein verloren!“

„Gut, also vorwärts!“

Der riesige Neger warf sich den Indianer über die Achsel und stieg jenseits von der Höhe hinab. Ich kehrte zu den Pferden der Comanchen zurück. Es war gewiß eine schwere Aufgabe, alle sechs Tiere bei diesem Terrain zu entführen, das heißt, sie aus dem Tale empor und drüben wieder hinabzubringen. Allein jedoch brachte ich es wohl besser fertig als mit Hilfe des Negers, da alle indianischen Pferde einen unüberwindlichen Abscheu gegen die schwarze Rasse hegen, deren Ausdünstung den Tieren zuwider ist. Aufsteigen lassen sie den Neger, aber wenn er, vor ihnen hergehend, sie führen will, so weigern sie sich, ihm zu folgen.

Was ich bereits vorhin bemerkt hatte, bewährte sich jetzt: unsere Schätze – sowohl jene von uns aus dem Hide spot mitgebrachten, als auch das den beiden Morgans abgenommene Paket – waren verloren: – das Gold ist deadly dust, tödlicher Staub; es bringt unter hundert, die ihm in den Diggins und dem wilden Westen nachjagen, neunzig in den Tod. Der Glanz und Klang des verführerischen Metalls weckt finstere Dämonen, und nur unter dem Gesetze bewährt es seine segensreiche Macht.

Ich nahm die Bauchriemen der Pferde und band damit den Kopf je eines an den Schwanz des andern, so daß die sechs Tiere eine fortlaufende Reihe bildeten; dann faßte ich das vorderste beim Zügel, und fort ging es, die steile Berglehne hinan. Ich hatte meine liebe Not mit den widerspenstigen Tieren, und die übrigen vier Indianer mußten weit entfernt stehen, daß sie das Schnauben und Stampfen der Pferde nicht vernahmen; doch gelangte ich glücklich hinauf und drüben wieder hinab – die Wilden hatten keine Pferde mehr und waren also nicht mehr imstande, die Ihrigen einzuholen. Ebenso war ihr Hauptzweck, mich und Bob nachträglich zu fangen oder zu töten, verfehlt.

Der Neger saß unter dem ihm bezeichneten Hickory und bewachte den Indsman. Es mochte ihm, so allein mit dem Feinde, doch etwas bänglich zu Mute gewesen sein, und er war sichtlich erfreut und erleichtert durch mein Erscheinen.

„Oh, schön, daß kommen Massa. Indian‘ machen Augen wie Teufel, haben auch brummen und grunzen wie Vieh, aber Nigger Bob haben geben ihm einen Klaps auf Maul, daß er sein stille!“

„Du darfst ihn nicht schlagen, Bob, denn das ist nicht ritterlich und außerdem eine Beleidigung, die ein Indianer nur mit dem Tode vergilt. Wenn er ja wieder frei werden sollte und dich einmal trifft, so bist du verloren!“

„Nigger Bob verloren? Oh, ah, Massa! Dann lieber gleich schlagen tot Indian‘, daß nicht er werden wieder frei!“

Er zog wirklich seinen Bowiekneif und setzte die Spitze desselben auf die Brust des Comanchen.

„Halt, Bob, keinen Mord! Wenn wir ihn leben lassen, wird er uns großen Nutzen bringen. Hilf mir, ihn auf das Pferd binden!“

Ich nahm dem Indianer den Knebel aus dem Munde.

„Mein roter Bruder mag atmen, aber er darf nicht sprechen, außer wenn ich ihn frage!“

„Ma-ram wird reden, wenn es ihm beliebt,““ antwortete er. „Das Bleichgesicht wird mich töten und meinen Skalp nehmen, auch wenn ich nicht spreche.“

„Ma-ram wird leben und seinen Skalp behalten, denn Old Shatterhand tötet seinen Feind nur im Kampfe.“

„Das Bleichgesicht ist Old Shatterhand? Uff!“

„Ich sage die Wahrheit. Ma-ram ist nicht mehr mein Feind, sondern mein Bruder. Old Shatterhand wird ihn bringen in das Wigwam seines Vaters.“

„Der Vater von Ma-ram ist To-kei-chun, der große Häuptling der Comanchen, welcher über die Krieger der Racurroh gebietet; er wird Ma-ram töten, weil er der Gefangene des Bleichgesichtes ist.“

„Will mein Bruder frei sein?“

Der Indianer blickte mich verwundert an.

„Kann Old Shatterhand den Krieger freigeben, dessen Leben und Skalp ihm gehört?“

„Wenn mein junger roter Bruder mir verspricht, nicht zu fliehen, sondern mich in die Wigwams seines Stammes zu begleiten, so werde ich ihn losbinden und ihm ein Pferd geben; auch seine Waffen, die dort am Sattel hängen, darf er behalten.“

„Uff! Old Shatterhand hat eine starke Faust und ein großes Herz; er ist nicht wie die andren Bleichgesichter. Aber hat er nicht eine doppelte Zunge?“

„Ich rede stets die Wahrheit. Will mein roter Bruder mir gehorchen, bis wir vor dem Angesichte To-kei-chuns stehen?“

„Ma-ram will es!“

„So nehme er das Feuer des Friedens aus meiner Hand; es wird ihn verzehren, wenn er seine Worte nicht hält!“

Das Versteck meines Pferdes befand sich in der Nähe. Ich holte das Tier herbei und nahm aus der Satteltasche zwei von den Strohzigaretten, die ich mir aus den Vorräten des Hide-spot angeeignet hatte. Ein Streichholz gab es auch, und so wurden die dünnen Habanos, nachdem ich den Indianer von seinen Fesseln befreit hatte, in Brand gesteckt und unter den gebräuchlichen Formalitäten geraucht.

„Haben die Bleichgesichter keinen großen Geist, der ihnen Ton zu einem Calumet wachsen läßt?“ fragte Ma-ram.

„Sie haben einen Geist, der größer ist, als alle Geister; er hat ihnen viel Ton gegeben, aber sie rauchen die Pfeife nur in ihrem Wigwam, denn er lehrte sie, den Rauch des Friedens zu essen aus diesen Zigarren, die nicht so viel Platz brauchen, wie die Pfeife.“

„Uff! Si-karr? Der große Geist der Bleichgesichter ist klug! Diese Si-karr kann leichter getragen werden, als das Calumet.“

Bob zog ein sehr verwundertes Gesicht darüber, daß ich jetzt so gemütlich und ganz in der Nähe so furchtbarer Feinde Zigarren mit einem Indianer rauchte, den er erst auf das Pferd hatte binden sollen.

„Massa, auch Bob wollen rauchen mit Frieden!“ sagte er.

„Hier hast du eine Zigarre, aber rauche sie zu Pferd, denn wir müssen aufbrechen!“

Der Comanche suchte sich sein Pferd aus und schwang sich auf. Wie ich die Indianer bisher hatte kennen gelernt, brauchte ich nicht die mindeste Sorge zu haben, daß er mir entfliehen werde. Ein zweites Pferd bestieg Bob, allerdings nach vieler Mühe. Die übrigen band ich auseinander und koppelte sie dann mit den Zügeln zusammen, so daß ich sie gut an der Hand zu führen vermochte. Dann stieg ich auf meinen Mustang, und der Marsch begann.

Zwischen der Tiefe, in welcher wir uns befanden, und dem für unsere Gesellschaft so verhängnisvoll gewordenen Tale dachte sich die Höhe nach der Ebene zu immer weiter ab. Wir folgten ihr und ritten dann um sie herum, um auf diese Weise auf die Fährte der Comanchen zu kommen, die wir auch erreichten; allerdings nicht, ohne vom Tale aus bemerkt zu werden. Die Indianer erhoben ein Wutgeheul, welches weithin erschallte. Wir kümmerten uns natürlich nicht darum, und auch Ma-ram hatte so viel Selbstbeherrschung, daß er mit keiner Wimper zuckte und nicht die geringste Absicht verriet, sich nach ihnen umzublicken.

Ohne daß ein Wort gesprochen wurde, folgten wir der Fährte bis zum Abend, wo wir den Rio Pecos erreichten und einen zum Nachtlager passenden Ort fanden. In den Decken der indianischen Pferde war ein ziemlicher Vorrat getrockneten Fleisches vorhanden, so daß wir weder zu hungern noch ein Wild zu schießen brauchten. Wir waren so weit von den vier Comanchen entfernt, daß sie uns während der Nacht sicherlich nicht erreichten.

Ma-ram legte sich sofort schlafen; ich wechselte mit Bob in der Wache ab. Als es Tag zu werden begann, nahm ich den vier übrigen Pferden die Decken, Zügel und alles, was sie trugen, ab und jagte sie in den Fluß. Sie schwammen über ihn und verschwanden bald jenseits desselben im Walde. Der Indianer hatte dabei zugesehen, ohne ein einziges Wort über die Lippen zu bringen.

Die Spur, welcher wir nun folgten, war sehr deutlich; die Comanchen mußten sich also wieder sicher wissen. Sie hatten sich immer an der rechten Seite des Rio Pecos gehalten und waren dem Flusse abwärts gefolgt bis dahin, wo er in die obere Sierra Guadelupe tritt. Hier teilte sich zu meinem Erstaunen die Fährte. Die zahlreichere Hälfte der Wilden hatte sich in das Gebirge gewendet, während die Anderen der bisherigen Richtung treu geblieben waren.

Ich stieg ab, um die Spuren zu untersuchen. Inmitten der letzteren Fährte sah ich ganz deutlich die Hufeindrücke der alten Tony, welche ich zu genau kannte, als daß ich sie hätte verkennen können. Kurz vorher hatten wir die Spur eines Nachtlagers gefunden. Ich wandte mich zu Ma-ram:

„Die Söhne der Comanchen sind in die Berge gegangen, um das Grabmal ihres großen Häuptlings zu besuchen?“

„Mein Bruder sagt es.“

„Und diese hier“ – ich deutete dabei auf die andere Fährte – „wollen ihre Gefangenen nach den Wigwams der Comanchen bringen?“

„So befahlen die beiden Häuptlinge der Racurroh.“

„Die Kinder der Racurroh haben auch die Schätze der Bleichgesichter bei sich?“

„Sie haben sie behalten, weil sie nicht wissen, welchem von den Bleichgesichtern sie gehören.“

„Und wo haben die Comanchen ihre Wigwams aufgeschlagen?“

„In der Savanne, welche an diesem Wasser hier und dem Flusse liegt, den die Bleichgesichter den Rio Grande nennen.“

„Also in der Savanne zwischen den zwei Gebirgen?“

„So ist es.“

„Dann werden wir diese Fährte nicht verfolgen, sondern grad nach Mittag reiten.“

„Mein Bruder mag tun, was er will; aber er möge wissen, daß dort kein Wasser für ihn und seine Pferde ist!“

Ich blickte ihm scharf in die Augen.

„Hat mein roter Bruder einmal Berge gesehen, welche nahe an einem großen Flusse liegen und dennoch kein Wasser haben? Jeder Fluß bekommt sein Wasser aus den Bergen.“

„Mein Bruder mag sehen, wer recht hat, er oder der Comanche!“

„Ich weiß, warum der Comanche nicht in die Berge will!“

„Mein Bruder sage es mir!“

„Die Söhne der Racurroh reiten mit ihren Gefangenen am Flusse hin, der einen großen Bogen macht; wenn ich grad nach Süden reite, ereile ich sie, noch ehe sie ihre Wigwams erreichen.“

Er schwieg, denn er sah ein, daß ich ihn durchschaut hatte. Ich zählte die vorhandenen Hufspuren und fand, daß es ihrer sechzehn waren; Winnetou, Sam und Bernard wurden also von dreizehn Feinden eskortiert. Sie waren jedenfalls sehr sorgfältig gefesselt, und selbst wenn ich sie erreichte, so konnte ich sie eher durch List als mit Anwendung von Gewalt retten.

So lenkte ich nach Süden ein und ließ die Pferde so viel wie möglich ausgreifen. Es war ein böser und sehr beschwerlicher Ritt, da ich die Gegend nicht kannte und von Ma-ram auch keine genügende Auskunft erlangen konnte. Es glückte aber, und schon am nächsten Vormittag hatten wir die Berge überwunden und sahen die weitgedehnte Savanne vor uns liegen. Von links her glänzten die Wasser des Rio Pecos, dem wir jetzt wieder zuhielten, zu uns herüber.

Der Wald stieg mit uns von den Bergen herab und begleitete uns eine Strecke weit längs des Flusses in die Prairie hinein. An einem Bache, welcher in den Pecos mündete, trafen wir wieder die Spuren der Comanchen. Sie stammten wohl von gestern Mittag her, und gar nicht weit davon, an einem zweiten Bache, hatten die Roten gerastet, wohl um die größte Tageshitze vorüberzulassen.

Auch ich beschloß, hier ein wenig auszuruhen, wählte aber eine Stelle, welche sich nicht so sehr nahe am Flusse, sondern mehr rückwärts im Gebüsche befand und infolgedessen mehr Sicherheit vor Entdeckung gewährte. Diese Vorsichtsmaßregel sollte sich gar bald bewähren, denn ich hatte kaum mit Ma-ram Platz genommen, so kam Bob, der sich und sein Pferd im Flusse baden wollte, wieder zurück und rief:

„Massa, oh, oh, Reiter kommen – ein, zwei, fünf, sechs Reiter. Reißen aus, Massa, oder schlagen tot Reiter?“

Ich sprang an den Rand des Gebüsches vor und gewahrte allerdings sechs Pferde, welche in zwei Gruppen von je dreien von fern her stromaufwärts auf uns zugesprengt kamen; die zwei hintersten von den je dreien schienen Pakete zu tragen, während auf dem vordersten ein Reiter saß. Wir hatten es also mit nur zwei Feinden zu tun, wenn es wirklich Feinde waren, denn ich erkannte trotz der Entfernung, daß es keine Indianer, sondern Weiße seien.

Aber hinter ihnen jagten fünf Gestalten, die nichts anders als Indsmen sein konnten und die beiden Flüchtlinge in höchstens fünf Minuten erreichen mußten. Es konnte sich hier nur um eine Verfolgung handeln, und um zu sehen, wie ich mich zu verhalten habe, nahm ich mein Fernglas zur Hand.

Zounds!“ entfuhr es mir unwillkürlich, denn der Vorderste war Fred Morgan und der Andere sein Sohn Patrik.

Sollte ich sie töten oder lebendig fangen? Nein, mit dem Blute dieser Raubmörder wollte ich meine Hand nicht besudeln. Ich nahm meine Büchse und wartete. Sie kamen hart am Flusse herauf, die Indianer keine fünfhundert Schritte hinter ihnen. Schon hörte ich das Schnauben ihrer Pferde – jetzt waren sie da und wollten an uns vorüber – ich drückte zweimal ab. Ich hatte auf die Köpfe der beiden Reittiere gezielt; sie brachen zusammen. Die Saumtiere waren an ihnen befestigt und versuchten, durch die Schüsse erschreckt, sich loszureißen. Die Reiter waren weit fort zur Erde geschleudert worden. Ich wollte mich auf sie werfen.

„O-hi-hi-hiiii!“ erscholl da der Schlachtruf der herbeigekommenen Wilden, in welchen auch Ma-ram mit einstimmte, und in demselben Augenblick war ich umzingelt. Drei Tomahawks und zwei Messer blitzten über meinem Kopfe.

„Cha!“ rief da Ma-ram, indem er die Hand abwehrend ausstreckte. „Dieses Blaßgesicht ist der Freund von Ma-ram!“

Sie ließen von mir ab, aber die Folgen ihres Angriffes waren nicht mehr zu verbessern: die beiden abgeworfenen Reiter hatten Zeit gehabt, sich aufzuraffen und in die Büsche zu entfliehen, und die Pferde, bei dem fürchterlichen Geheul der Indianer wild aufbäumend, hatten sich losgerissen und waren in das Wasser des Flusses gestürzt. Ich hatte gleich von vornherein in ihnen unsere vier Lastpferde erkannt; sie waren sehr schwer beladen und deshalb sofort nach ihrem Sturze untergegangen.

Vier der Indianer sprengten den beiden Flüchtlingen nach; den fünften hielt ich zurück.

„Mein roter Bruder möge mir sagen, warum die Krieger der Comanchen ihre weißen Freunde verfolgen!“

„Die weißen Männer haben einen Mund wie die Schlangen; ihre Zunge hat zwei Spitzen. Sie haben während der Nacht die Wache getötet und sind mit ihren Schätzen entflohen.“

„Mit dem Golde?“

„Sie nahmen das Metall und die vielen Medizinzettel, welche in dem Felle waren.“

Er ließ uns stehen und eilte seinen Kameraden nach. Die beiden Morgans hatten also Sorge gehabt, daß sie ihre Schätze von den Comanchen nicht bekommen würden, und sich mit denselben davongemacht. Unter den Medizinzetteln waren die Depositenscheine und Banknoten zu verstehen, welche wir ihnen hatten abnehmen wollen. Grad da, wo die Pferde in das Wasser gestürzt waren, machte der Fluß eine Krümmung, so daß ein Wirbel entstand, der uns alle Hoffnung nehmen mußte, das von den Fluten Verschlungene je wieder herauszubekommen, deadly dust, tödlicher Staub!

Was war jetzt zu tun? Die Sorge um die Freunde war natürlich größer als das Verlangen, der beiden Feinde habhaft zu werden. Übrigens waren hinter diesen die fünf Comanchen her, denen wir die Verfolgung recht gut überlassen konnten.

„Warum schießt mein weißter Bruder auf das Pferd und nicht auf den Reiter?“ fragte Ma-ram. „Hat Old Shatterhand nicht zielen gelernt?“

„Weshalb tötete Old Shatterhand nicht Ma-ram, den Comanchen, über dessen Herzen schon das Messer war? Er tötete die Pferde, weil er mit den Reitern reden wollte.“

„Er wird mit ihnen reden, denn er wird sie verfolgen mit seinen roten Brüdern!“

Ich mußte beinahe lächeln über das Bestreben des Indianers, mich soviel wie möglich von der Verfolgung der Fährte zurückzuhalten. Ich antwortete:

„Er wird sie nicht verfolgen. Die Krieger der Comanchen sind weise und tapfer; sie werden die bösen Bleichgesichter fangen und in ihre Wigwams bringen. Ma-ram möge sein Pferd besteigen und mir folgen!“

Das Ereignis hatte mir alle Lust zur Rast benommen, und hierzu kam eine Betrachtung, welche sich mir aufdrängen mußte: Unsere Freunde waren von dreizehn Reitern begleitet worden; die beiden Morgans, fünf Comanchen und die ermordete Wache mußten jetzt abgerechnet werden, und so ergab sich, daß sie nur noch von fünf Indianern bewacht wurden. Unter diesen Verhältnissen war es leichter, sie zu befreien.

Ich ließ also die Pferde stärker ausgreifen, als vorher. Bis zur Abenddämmerung hatten wir eine so bedeutende Strecke zurückgelegt, daß, als ich die Fährte sorgfältig untersuchte, ich zu der Überzeugung kam, der kleine Trupp sei erst am Mittag hier vorübergekommen. Die Flucht der Morgans, die Ermordung des Wachtpostens und die Annahme, daß sie nicht verfolgt würden, hatten ihre sonstige Eile gemindert.

Obgleich Ma-ram sich sehr angelegentlich nach einem Nachtlager umsah, mußte er mir doch noch fast vier englische Meilen folgen, bis es so dunkel wurde, daß es absolut unmöglich war, die Spuren noch zu erkennen. Dann erst gab ich den Befehl, abzusteigen. Kaum graute der Morgen, so wurde wieder aufgebrochen.

Jetzt führte die Fährte vom Flusse abwärts in die Savanne hinein, immer nach Süden. Wir trafen hier und da auf Büffelwege, in denen wir uns vorwärts bewegten, und dabei bemerkte ich, so oft ich die Fährte beobachtete, daß wir den Verfolgten immer näher rückten. Schon hegte ich die Hoffnung, sie um die Mittagszeit einzuholen, als mich ein einziger Augenblick enttäuschte. Wir kamen nämlich auf einen Platz, der von zahlreichen Pferden zerstampft war, und von hier aus führten wenigstens vierzig Hufspuren nach Süden.

„Uff!“ rief Ma-ran.

Weiter sagte er nichts, aber sein Auge leuchtete vor Vergnügen, während seine Züge unbeweglich blieben. Und ich verstand ihn recht gut. Die Eskorte unserer Gefährten war auf eine Comanchentruppe gestoßen, unter deren Schutze sie dem Lagerplatze zueilte.

„Wie weit ist es noch bis zum Lagerdorfe der Comanchen?“ fragte ich den Indianer.

„Die Racurroh haben kein Lager; sie bauten sich ein Dorf, welches größer ist als die Städte der Bleichgesichter, in die Savanne. Wenn mein weißer Bruder schnell reitet, wird er es erreichen, noch ehe die Sonne hinter den Gräsern verschwindet.“

Am Mittag wurde eine kurze Rast gemacht, und wirklich tauchten gegen Abend mehrere dunkle Linien am Horizont auf, die ich bei Betrachtung durch das Fernrohr als lang gestreckte Zeltreihen erkannte.

Die Comanchen hatten jedenfalls der nahen Büffeljagd wegen hier eine so bedeutende Niederlassung errichtet und schienen durch die Ankunft der Gefangenen außerordentlich in Anspruch genommen zu sein, da wir niemand antrafen und uns dem Lager so weit zu nähern vermochten.

Ich parierte mein Pferd.

„Dort sind die Wigwams der Comanchen?“ fragte ich.

„Sie sind es,“ antwortete Ma-ram.

„Wird dort To-kei-chun, der große Häuptling, anwesend sein?“

„Der Vater Ma-rams ist stets bei seinen Kindern.“

„Will mein roter Bruder hinreiten und ihm sagen, daß Old Shatterhand ihn besuchen wird?“

Er blickte doch ein wenig überrascht zu mir empor.

„Fürchtet sich Old Shatterhand nicht vor so vielen Feinden? Er tötet den Büffel und den grauen Bären, aber er kann nicht töten die Comanchen, welche zählen wie die Bäume des Waldes.“

„Old Shatterhand will töten die Tiere des Waldes, aber nicht seine roten Brüder. Er fürchtet sich nicht vor den Sioux, den Kioways, den Apachen und Comanchen, denn er ist aller tapfern Krieger Freund und gibt seine Kugel nur dem Bösen und dem Verräter. Er wird hier warten. Mein Bruder gehe!“

„Aber Ma-ram ist sein Gefangener; wenn er ihn nun verliert?“

„Ma-ram ist jetzt nicht mehr mein Gefangener; er hat den Rauch des Friedens mit mir gegessen; er ist frei!“

„Uff!“

Mit diesem Worte gab er seinem Tiere die Fersen zu fühlen und ritt im Galopp davon. Ich stieg mit Bob ab; wir setzten uns nieder und ließen die Pferde grasen. Der gute Neger machte ein höchst bedenkliches Gesicht.

„Massa, was werden Indian‘ machen mit Nigger Bob, wenn Massa nehmen Bob mit zu Indian‘?“

„Das müssen wir abwarten.“

„Abwarten sein bös‘ schlimm‘ schlecht‘ Ding. Werden Bob abwarten, daß Indian‘ braten Bob am Pfahl?“

„Es wird vielleicht nicht so schlimm, wie du denkst. Wir müssen zu den Comanchen, wenn wir deinen Massa Bernard erretten wollen.“

„Oh, ah, ja, Nigger Bob werden retten gut‘ Massa Bern‘; werden lassen sich braten und kochen und fressen, wenn nur Indian‘ geben frei Massa Bern‘!“

Er begleitete diesen heroischen Entschluß mit einem Grinsen, welches den Indianern sicher allen Appetit, ihn zu verspeisen, benommen hätte, und nahm dann ein Stück Dürrfleisch vor, um vor seinem Martertode wenigstens noch in etwas des Lebens Reize zu genießen.

Wir brauchten nicht sehr lange auf den Erfolg unserer Anmeldung zu warten, denn nach einiger Zeit kam ein sehr zahlreicher Reitertrupp auf uns zu, welcher sich auflöste, einen weiten Kreis bildete, in den wir eingeschlossen wurden, und diesen im Galopp und unter Heulen und Waffenschwenken plötzlich so verengte, daß es schien, als ob wir niedergeritten werden sollten. Eine Gruppe von vier Häuptlingen kam wirklich ventre à terre grad auf uns zu und setzte über uns hinweg. Bob fiel hintenüber zur Erde, ich aber blieb ruhig sitzen und regte den Kopf kein Haar breit nach rechts oder links.

„Oh, ah, Indian‘ reiten tot Bob und Massa!“ brüllte der Neger, indem er den Kopf erhob, um sich über den neuesten Stand der Dinge vorsichtig zu unterrichten.

„Fällt ihnen nicht ein! Sie wollen nur probieren, ob wir Mut haben oder uns vor ihnen fürchten.“

„Probieren? Oh, Indian‘ mögen nur kommen; Bob haben Mut, sehr ganz viel groß Mut!“

Er setzte sich mit seiner fürchterlichsten Miene wieder aufrecht, und zwar grad zur rechten Zeit, denn die Häuptlinge waren abgestiegen und kamen auf uns zu. Der älteste von ihnen nahm das Wort:

„Warum erhebt sich der weiße Mann nicht, wenn die Häuptlinge der Comanchen zu ihm treten?“

„Er will ihnen damit zeigen, daß sie ihm willkommen sind,“ antwortete ich. „Meine roten Brüder mögen an meiner Seite Platz nehmen!“

„Die Häuptlinge der Comanchen setzen sich nur an die Seite eines Häuptlings. Wo hat der weiße Mann seine Wigwams und seine Krieger?“

Ich nahm den Tomahawk in die Rechte.

„Ein Häuptling muß stark und tapfer sein. Wenn die roten Männer nicht glauben, daß ich ein Häuptling bin, so mögen sie mit mir kämpfen; dann werden sie erfahren, ob ich die Wahrheit sage.“

„Wie ist der Name des Bleichgesichtes?“

„Die roten und weißen Krieger und Jäger nennen mich Old Shatterhand.“

„Der weiße Mann wird sich diesen Namen selbst gegeben haben!“

„Wenn die Häuptlinge der Comanchen mit mir kämpfen wollen, so dürfen sie den Tomahawk und das Messer nehmen; ich aber nehme nur meine Hand. Howgh!“

„Der weiße Mann spricht stolze Worte; er wird zeigen dürfen, ob er Mut hat. Er steige auf sein Pferd und komme mit den Kriegern der Racurroh!“

„Werden diese Krieger das Calumet mit mir rauchen?“

„Sie werden beraten, ob sie es tun dürfen.“

„Sie dürfen es, denn ich komme in Frieden zu ihnen!“

Ich stieg auf, und auch Bob krabbelte sich auf sein widerspenstiges Pferd. Um ihn schien man sich gar nicht zu bekümmern; der Indianer ist gegen die schwarze Rasse noch stolzer als der Weiße. Ich aber wurde von den Häuptlingen in die Mitte genommen, und fort ging es in rasendem Galopp auf das Lagerdorf zu, in dasselbe hinein und zwischen den Zeltreihen hinauf, bis wir an ein großes Zelt gelangten, vor welchem sie anhielten und absprangen. Ich tat dasselbe.

Bob war nicht zu sehen; ich war umgeben von den sämtlichen Kriegern, welche mich geholt hatten. Der Häuptling, welcher bereits vorhin das Wort geführt hatte, griff nach meiner Büchse.

„Das Bleichgesicht möge uns seine Waffen geben!“

„Ich behalte meine Waffen, denn ich bin freiwillig zu euch gekommen und nicht euer Gefangener.“

„Der weiße Mann wird uns aber dennoch seine Waffen geben, bis die roten Männer wissen, was er bei ihnen will.“

„Fürchten sich die roten Männer vor ihm? Wer verlangt, daß ich meine Waffen von mir geben soll, hat Angst vor mir.“

Er fühlte sich bei seiner Kriegerehre angegriffen und warf den anderen Dreien einen fragenden Blick zu; in ihrem Auge mußte er eine beruhigende Antwort gelesen haben, denn er meinte:

„Die Krieger der Comanchen wissen nicht, was Angst und Furcht ist; der weiße Mann mag seine Waffen behalten.“

„Welchen Namen führt mein roter Bruder?“

„Old Shatterhand spricht mit To-kei-chun, vor dem die Feinde zittern.“

„Ich bitte meinen Bruder To-kei-Chun, mir eine Hütte zu geben, in welcher ich warten kann, bis die Häuptlinge der Comanchen mit mir reden werden!“

„Deine Worte sind gut; das Bleichgesicht soll ein Zelt bekommen, bis die Krieger der Racurroh sich beraten haben, ob sie mit ihm das Calumet rauchen werden.“

Er winkte mit der Hand und schritt voran; ich nahm meinen Mustang beim Zügel und folgte ihm. Die Indianer bildeten eine Gasse, welche wir durchschritten, und dabei bemerkte ich manches alte und junge Frauengesicht, das heimlich aus dem oder jenem Zelte lugte, um den Weißen anzusehen, der es gewagt hatte, die Höhle der Löwen zu betreten. Glücklicherweise war dieser Comanchenstamm nicht derjenige, mit welchem Winnetou damals bei der Mapimi gekämpft hatte.

Diese Zelte oder Hütten waren ganz in der Weise aufgeführt, wie ich sie bereits auch bei den nördlichen Indianern gefunden hatte. Die Arbeit ihrer Errichtung wird nur von den Frauen besorgt, wie denn der Indianer keine Beschäftigung als Krieg, Jagd und Fischfang kennt und alles Übrige den Schultern des Geschlechtes aufbürdet, welches bei uns gewöhnlich das schwächere genannt wird.

Die Frauen holen die Häute, welche die Zelt- oder Hüttenwände bilden sollen, herbei, breiten sie in der Sonne aus und zeichnen mit einem Stücke Kohle die Form darauf, welche nötig ist; dann schneiden sie diese Formen zu und nähen mit feinen Riemen die Felle zusammen. Nun werden auch die Stangen herbeigeholt, und man schafft alles an den Platz, welcher für die Wohnung ausgewählt wurde. Hier wird mit Hilfe der primitivsten Werkzeuge ein Kreis etwa zwei Fuß tief ausgeworfen, innerhalb dessen man mehr oder weniger Pfähle, je nach der beabsichtigten Größe der Wohnung, aufstellt. Die Pfähle oder Stangen müssen zum mindesten so lang sein, wie der Durchmesser der ausgeworfenen Grube. Sie werden oben zusammengeneigt und mit jungen Weiden oder Haseln verbunden. Diese Arbeit ist aber nicht leicht, da die Frauen und Mädchen an den Stangen emporklettern müssen und sich während des Bindens nur mit den Füßen festhalten können. Ist das Gerüst auf diese Weise festgestellt, so beginnt der schwierigste Teil des Baues, nämlich die Bekleidung des Zeltgerippes mit den schweren Häuten. Die Stangen dieses Gerippes sind in der Mitte ihrer Länge durch andere Stangen geschützt, welche oben eine Gabel haben und durch Riemen mit ihnen verbunden sind; es entsteht demnach innerhalb des ersten Kreises ein zweiter, durch welchen der ganze Raum in zwei Abteilungen geschieden wird. Beide Stangenkreise werden nun dachziegelähnlich mit Häuten belegt, und zwar so, daß oben ein Loch übrig bleibt, um dem Rauche des in der Mitte des Zeltes brennenden Feuers einen Ausweg zu lassen. Die zwei kreisrunden Abteilungen können nun vermittelst Häuten oder durch Flechtwerk in beliebige Unterabteilungen zerlegt werden, je nachdem der Besitzer es für nötig hält.

Das Zelt, nach welchem ich geführt wurde, war nur klein und augenblicklich unbewohnt. Ich band mein Pferd außen an, öffnete die Türvorhänge, welche aus zwei halben Fellen bestanden, und trat ein, ohne mich weiter um den Häuptling zu bekümmern, welcher mir auch gar nicht folgte.

Noch befand ich mich nicht zwei Minuten lang im Innern des Raumes, als der Eingang geöffnet wurde und eine uralte Indianerin eintrat, um ein dickes Gebund Reisholz von ihrem Rücken auf den Boden zu werfen. Sie verschwand wieder und kam nach einiger Zeit mit einem großen, aber halb zerbrochenen irdenen Topf zurück, in welchem sich Wasser und noch etwas Anderes zu befinden schien. Jetzt schürte sie ein Feuer an und setzte den Topf mitten in die Glut hinein.

Ich hatte mich auf dem Boden ausgestreckt und sah ihr, ohne ein Wort zu sprechen, zu. Ich wußte, daß ich nach indianischen Begriffen meiner Ehre außerordentlich viel vergeben würde, wenn es mir einfallen sollte, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Auch konnte ich mir sehr leicht denken, daß ich mich hier, sozusagen, auf einer Beobachtungsstation befand und daß, ungesehen von mir, wohl verschiedene Augen durch irgend welche Löcher oder Lücken auf mir ruhten.

Das Wasser im Topfe begann zu kochen, und nun sagte mir der Geruch, daß ich Rindfleisch zu essen bekommen solle. Wirklich setzte mir die Alte nach Verlauf von vielleicht einer Stunde den glühend heißen Topf grad zwischen die ausgestreckten Beine hin und überließ es mir, sich hierauf entfernend, ganz nach meinem Gusto zu speisen. Ich tat es und will gestehen, daß ich dem großen Stücke Büffellende, welches ich vorfand, ganz gehörig zusprach und schließlich auch die Fleischbrühe nicht verschmähte, obgleich die Reinlichkeit des Gefäßes alles zu wünschen übrig ließ und das Mahl ganz ohne Salz zubereitet war, von dem der Indianer überhaupt nichts wissen mag.

Gerecht betrachtet, mußte ich mir sagen, daß man mir eine ganz außerordentlich noble Behandlung angedeihen ließ, und noch heut würde ich hundert gegen eins wetten, daß mein Kochtopf der einzige war, den es im ganzen Lager gab.

Nach beendigter Mahlzeit streckte ich mich wieder aus, legte mir meine Decke unter den Kopf und gab mich gewissen Betrachtungen hin, die sehr geeignet waren, mich wach zu erhalten. Daher merkte ich, daß auch mein Pferd gefüttert wurde, und daß zwei Wachtposten unablässig und leise um meine Hütte patrouillierten. Später brannte das Feuer nieder, und ich schlief ein. Ich stand – oder richtiger – ich lag jedenfalls am Vorabend wichtiger Ereignisse; aber eine schlaflos durchbrachte Nacht konnte mir nichts nützen. Daher wurde ich erst am Morgen durch ein prasselndes Geräusch erweckt, und als ich die Augen aufschlug, sah ich die Alte wieder, welche ein neues Feuer angefacht und den bekannten Topf abermals in die Flamme gesetzt hatte.

Sie verrichtete ihre Obliegenheiten, ohne mir einen besonderen Blick zuzuwerfen, und ich hatte auch gar keine Veranlassung, mich über diese Achtlosigkeit gekränkt zu fühlen. Ich verzehrte mein Fleisch mit demselben Appetit wie am vorigen Abend und beschloß dann, ein wenig vor die Hütte zu treten. Kaum aber hatte ich den Kopf durch die Tür gesteckt, so fuhr einer der beiden Wächter mit seiner Lanze auf mich zu, als ob er mich von oben bis unten durchspießen wolle.

Das durfte ich mir nun allerdings nicht gefallen lassen, wenn ich mir nicht meinen Kredit ein für allemal untergraben wollte; ich faßte also die Lanze unweit ihrer Spitze mit beiden Händen an, stieß sie von mir und zog sie dann so plötzlich und so kräftig wieder an mich zurück, daß der rote Krieger nicht festzuhalten vermochte; er ließ los und stürzte gerade zu meinen Füßen nieder.

„Uff!“ brüllte er, sich emporraffend und nach seinem Messer greifend.

„Uff!“ machte auch ich, indem ich mein Messer zog und dabei mit der Linken die eroberte Lanze in die Hütte warf.

„Das Bleichgesicht mag mir meinen Speer geben!“

„Die Rothaut mag sich ihren Speer holen!“

Das schien ihm, wie ich aus seiner Miene entnehmen konnte, denn doch nicht ganz ratsam zu sein, aber er bekam Hilfe, denn der andere Posten kam um das Zelt herum auf mich zu.

„Der weiße Mann gehe hinein!“ befahl er mir barsch.

Auch er hielt mir die Spitze seiner Lanze so dicht vor das Gesicht, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, das so wohl gelungene Experiment zu wiederholen; im nächsten Augenblick lag er genau da, wo der Andere gelegen hatte, und seine Lanze flog in das Zelt, wie die vorige. Das schien den Beiden zu viel; sie stießen einen Ruf aus, infolgedessen das ganze Lager in Alarm geriet.

Gerade meiner Hütte gegenüber lag eine bedeutend größere, vor deren Tür drei Schilde angelehnt waren. Auf den Ruf der Wächter wurden die Vorhänge zurückgeschlagen, und ein dunkler Mädchenkopf erschien, um nach der Ursache des Lärmes auszuschauen; zwei schwarze, feurige Augen ruhten auf mir, und dann verschwand das Köpfchen wieder. Zwei Sekunden später aber traten die vier Häuptlinge hervor und auf uns zu. Auf einen gebieterischen Wink To-kei-chuns wichen die Wächter zurück.

„Was tut das Bleichgesicht hier vor der Hütte?“

„Ich höre wohl nicht recht? Mein roter Bruder will wohl fragen, was die zwei roten Krieger hier vor meiner Hütte tun!“

„Sie merken auf, daß dem Bleichgesicht nichts Uebles geschehe, und darum soll der weiße Mann in seiner Hütte bleiben.“

„Hat To-kei-chun so schlimme Männer unter seinen Kriegern, oder gilt sein Befehl so wenig, daß er seinen Gast mit Wächtern schützen muß? Old Shatterhand braucht keinen Wächter, denn seine Faust wird jeden zerschmettern, der Böses sinnt und Lügen denkt. Meine roten Brüder können ruhig wieder in ihr Wigwam treten; ich werde mir ihr Dorf ansehen und dann kommen, um mit ihnen zu reden.“

Ich trat in die Hütte zurück, um meine Schießgewehre, die ich natürlich nicht zurücklassen durfte, mit mir zu nehmen; als ich aber wieder ins Freie wollte, starrte mir wohl ein Dutzend Lanzen entgegen. Also gefangen! Sollte ich mich wehren oder nicht? Ich ging zur hinteren Seite des Zeltes, holte mit dem Tomahawk aus und schlug durch das harte Leder ein Loch, durch welches ich das Zelt verlassen konnte. Als ich jetzt hinten erschien, während sie vorn Wache hielten, bekam ich zunächst außerordentlich verdutzte Gesichter zu sehen, und dann erhob sich ein Geschrei, als ob sich hundert Bären von ihren Ketten losgerissen hätten. Die Häuptlinge waren wieder in ihr Zelt zurückgekehrt; jetzt kamen sie abermals hervor und zwar mit einer Eile, die sich sehr wenig mit ihrer gewöhnlichen Würde vereinbaren ließ. Sie drängten sich durch die Krieger hindurch, und es schien, als ob sie mich fassen wollten.

Mich mit den Waffen zur Wehr setzen, das ging nicht, denn ich wäre verloren gewesen, und die Gefährten mit mir; ich riß also mein Fernrohr aus der Tasche, zog es in zwei Teilen auseinander und hielt ihnen dieselben mit drohender Miene entgegen.

„Halt, sonst sind alle Söhne der Comanchen verloren!“

Sie prallten wirklich zurück. Sie kannten wohl diese Art von Instrument noch gar nicht; hatten sie aber wirklich schon eines gesehen, so konnten sie ja gar nicht wissen, was für unheilvolle Wirkungen außerdem mit seinem Gebrauche verbunden waren.

„Was will der weiße Mann tun?“ fragte To-kei-chun. „Warum bleibt er nicht in seinem Wigwam?“

„Old Shatterhand ist ein großer Medizinmann unter den Bleichgesichtern,“ antwortete ich; „er wird den roten Männern zeigen, daß er alle Seelen der Comanchen töten kann.“

Ich steckte das Fernrohr wieder zu mir und nahm den Henrystutzen vor.

„Die roten Männer mögen sehen den Pfahl dort vor dem Zelte!“

Ich deutete auf eine Stange, welche vor einem der entfernteren Zelte stand. Dann erhob ich das Gewehr und schoß. Der Pfahl war oben an seiner Spitze durchlöchert, und ein Gemurmel des Beifalls ließ sich hören. Der Wilde erkennt Mut und Geschicklichkeit selbst bei seinen ärgsten Feinden an. Beim zweiten Schusse drang die Kugel einen halben Zoll unter der ersten ein; beim nächsten Schusse schlug die dritte in gleicher Entfernung unter der zweiten ein; aber Beifall ließ sich nicht hören, denn die Indsmen wußten nur von Doppelgewehren und hatten keine Ahnung von der Beschaffenheit eines Henrystutzens. Beim vierten Schusse stand die ganze Menge regungslos; beim sechsten und siebenten wurde das Erstaunen noch größer, dann ging dieses Erstaunen in eine Bestürzung über, die sich in den Gesichtern Aller malte. So versandte ich zwanzig Kugeln, eine jede einen halben Zoll unter der vorherigen, dann aber hörte ich auf. Ich hing das Gewehr mit ruhiger Miene über die Schulter und sagte gelassen:

„Sehen nun die roten Männer, daß Old Shatterhand ein großer Medizinmann ist? Wer ihm ein Leid tun will, der muß sterben. Howgh!“

Jetzt schritt ich durch die Menge hindurch, ohne daß nur Einer den Versuch gewagt hätte, mich anzuhalten. Zu beiden Seiten der Zeltgasse standen die Frauen und Mädchen vor den Türen und staunten mich an, wie ein höheres Wesen; ich konnte sehr zufrieden sein mit dem Eindruck, den meine kleine Spiegelfechterei hervorgebracht hatte.

Vor einem der nächsten Zelte stand eine Wache. Drinnen befand sich jedenfalls ein Gefangener, Wer konnte es sein? Ich ging noch mit mir zu Rate, ob ich den Posten fragen solle oder nicht, als ich aus der Türlücke eine wohlbekannte Stimme vernahm:

„Massa, oh, oh, lassen heraus Nigger Bob! Indian‘ haben fangen Bob und werden schlachten und fressen Bob.“

Ich trat hinzu, öffnete die Tür und ließ ihn heraus. Die Wache war so eingeschüchtert, daß sie keinen Widerstand leistete, und auch unter den Wilden, welche mir folgten, erhob sich kein Einspruch.

„Bist du gleich hier hereingesteckt worden, als wir in das Dorf kamen?“ fragte ich den Schwarzen.

„Ja, Massa. Indian‘ nehmen Bob von Pferd und führen ihn in Hütte; dort stecken bis jetzt.“

„So hast du keine Ahnung, wo dein Massa Bernard sein mag?“

„Von Massa Bern‘ nichts sehen, nichts hören Bob!“

„Komm, und halte dich eng hinter mir!“

Wir waren nur um einige Zelte weitergegangen, so kamen uns schon die vier Häuptlinge mit einer zahlreichen Begleitung entgegen. Die vorsichtigen Leute waren uns hinter den Zelten vorausgeeilt, um mich in meinem Spaziergange zu unterbrechen. Ich legte die Hand an den Kolben meines Stutzens, doch To-kei-chun gab mir schon von weitem durch einen Wink zu verstehen, daß er in keiner feindseligen Absicht komme. Ich blieb stehen und erwartete ihn.

„Wohin will mein weißer Bruder gehen? Er komme mit zum Platze der Beratung, wo die Häuptlinge der Comanchen mit ihm sprechen werden!“

Vorher war ich der weiße Mann oder das Bleichgesicht; jetzt nannte er mich seinen weißen Bruder, ich mußte mich also doch bei diesen Leuten einigermaßen in Respekt gesetzt haben.

„Werden meine roten Brüder das Calumet mit mir rauchen?“

„Sie werden mit ihm reden, und wenn seine Worte gut sind, wird er sein, wie ein Sohn der Comanchen.“

„So mögen meine Brüder gehen; Old Shatterhand wird ihnen folgen!“

Es ging wieder rückwärts, an meinem Zelte vorüber. Etwas weiter oben, ja wirklich, da sah ich Sams alte Tony angehängt stehen und daneben Winnetous und Bernards Pferd. Die drei Gefangenen selbst aber befanden sich nicht in der Nähe, sonst hätte ich ihre Wache bemerken müssen.

Endlich kamen wir an eine Stelle, an welcher sich die Zeltreihe erweiterte und einen beinahe kreisförmigen Platz bildete, der von mehreren Reihen von Indianern eingefaßt war. Dies war sicherlich der Ort der Beratung.

Die Häuptlinge schritten auf die Mitte desselben zu und ließen sich nieder; eine Anzahl Wilder, gewiß aus irgend einem Grunde Bevorzugte, näherte sich und setzte sich den Häuptlingen gegenüber in einem Halbkreise zur Erde. Ich machte wenig Federlesens, setzte mich auch und gab sogar Bob einen Wink, hinter mir Platz zu nehmen. Dies schienen die Häuptlinge sehr mißfällig zu bemerken.

„Warum setzt sich der weiße Mann, da doch Gericht über ihn gehalten werden soll?“ fragte To-kei-chun.

Ich machte eine Bewegung der Geringschätzung.

„Warum setzen sich die roten Männer, da doch Old Shatterhand über sie Gericht halten wird?“

Trotz der Regungslosigkeit ihrer Mienen bemerkte ich doch, daß diese Art der Antwort sie überraschte.

„Der weiße Mann hat eine scherzhafte Zunge, doch er mag sitzen bleiben. Aber warum befreit er den schwarzen Mann und bringt ihn mit in die Versammlung? Weiß er nicht, daß der Nigger nie sitzen darf, wenn der rote Mann dabei ist?“

„Der schwarze Mann ist mein Diener; wenn ich es ihm gebiete, so setzt er sich, und wenn viele Tausend Häuptlinge dabei stehen. Ich bin bereit, man beginne die Beratung!“

Ich wußte sehr genau, daß nur in dieser unverfrorenen Weise ein Heil für mich zu finden sei. Je schroffer ich auftrat, natürlich ohne sie direkt zu beleidigen, desto mehr imponierte ich ihnen; ein passiver Gehorsam wäre mein sicheres Verderben gewesen.

To-kei-chun brannte das Calumet an und gab es herum; mir wurde es nicht gereicht. Als diese einleitende Zeremonie beendet war, erhob er sich und begann seine Rede. Gegen Fremde sind die Indianer außerordentlich schweigsam; wo es aber gilt, da entwickeln sie eine Redseligkeit, die derjenigen einer deutschen Versammlung keineswegs nachsteht. Es gibt unter ihnen Häuptlinge, die wegen ihrer Rednertalente weithin berühmt sind und mit ganz derselben rhetorischen Geschicklichkeit zu Werke gehen, wie die großen Redner der zivilisierten Völker alter und neuer Zeit. Ihre blumenreiche Sprache erinnert sehr an die Ausdrucksweise der orientalischen Völkerschaften. Der Häuptling begann mit der gewöhnlichen Einleitung, wenn es gilt, gegen einen Weißen zu sprechen, nämlich mit einer Anklage gegen die ganze Rasse der Bleichgesichter:

„Der weiße Mann möge hören, denn To-kei-chun, der Häuptling der Comanchen, wird sprechen! Es sind nun viele Sonnen her, da wohnten die roten Männer ganz allein auf der Erde zwischen den beiden großen Wassern. Sie bauten Städte, sie pflanzten Bäume, sie jagten den Bison. Ihnen gehörte der Sonnenschein und der Regen; ihnen gehörten die Flüsse und Seen; ihnen gehörte der Wald, das Gebirge und alle Savannen des weiten Landes. Sie hatten ihre Frauen und Töchter, ihre Brüder und Söhne und waren glücklich. Da kamen die Bleichgesichter, deren Farbe ist wie der Schnee, deren Herz aber ist wie der Ruß des Rauches. Es waren ihrer nur wenige, und die roten Männer nahmen sie auf in ihre Wigwams. Doch sie brachten mit die Feuerwaffen und das Feuerwasser; sie brachten mit andere Götter und andere Priester; sie brachten mit den Verrat, viele Krankheiten und den Tod. Es kamen immer mehr von ihnen über das große Wasser; ihre Zungen waren falsch und ihre Messer spitz; die roten Männer glaubten ihnen und wurden betrogen. Sie mußten das Land hergeben, wo die Gräber ihrer Väter lagen; sie wurden aus ihren Wigwams und ihren Jagdgebieten verdrängt, und wenn sie sich wehrten, so tötete man sie. Um sie zu besiegen, säten die Bleichgesichter Zwietracht unter die Stämme der roten Männer, die nun getötet werden und sterben müssen, wie Coyoten in der Wüste. Fluch ihnen, so viel Sterne am Himmel sind und Blätter auf den Bäumen des Waldes!“

Ein lauter Beifallruf belohnte diese Interjektion des Häuptlings, der so laut sprach, daß er rundum deutlich gehört werden konnte. Er fuhr fort:

„Eines von diesen Bleichgesichtern ist in die Wigwams der Comanchen gekommen. Dieser Weiße hat die Farbe der Lügner und die Sprache der Verräter. Die roten Krieger werden aber seine Worte hören und mit Gerechtigkeit über ihn richten. Er mag sprechen!“

Er setzte sich wieder nieder, und nun erhoben sich die andern drei Häuptlinge, einer nach dem andern. Jeder hielt eine Rede in demselben Sinne und schloß daran die Forderung an mich, zu sprechen. Ich hatte während dieser Vorträge mein kleines Skizzenbuch hervorgezogen und bemühte mich, die vor mir sitzenden Häuptlinge mit dem Hintergrunde der Krieger und der Zelte zu skizzieren.

Als die vierte Rede unter Beifall vollendet war, winkte To-kei-chun mit der Hand zu mir herüber:

„Was tut der weiße Mann, während die Häuptlinge der Comanchen sprechen?“

Ich riß das Blatt aus dem Buche, erhob mich und gab es ihm.

Der große Häuptling der Racurroh mag selbst sehen, was ich tue!“

„Uff!“ rief er beinahe überlaut, als er einen Blick auf das Blatt warf.

„Uff! Uff! Uff!“ klang es noch dreimal, als die drei andern Häuptlinge das Blatt ergriffen, und To-kei-chun fügte hinzu:

„Das ist eine große Medizin! Der weiße Mann zaubert die Seelen der Comanchen auf dieses weiße Fell. Hier sitzt To-kei-chun, hier sind seine drei Brüder und dort stehen ihre Krieger und Zelte! Was will das Bleichgesicht damit tun?“

„Das soll der rote Mann gleich sehen!“

Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und ließ auch die hinter mir sitzenden Krieger einen Blick auf dasselbe werfen, die ebenso erstaunt waren, wie die Häuptlinge selbst. Dann knitterte ich es zusammen, rollte es zwischen den Händen zu einer Kugel und steckte diese in den Lauf meiner Büchse.

„To-kei-chun, du selbst hast gesagt, daß ich eure Seelen auf dieses Papier gezaubert habe; jetzt stecken diese Seelen in dem Laufe meines Gewehres. Soll ich sie hinausschießen in die Luft, daß sie von den Winden zerrissen werden und niemals in die ewigen Jagdgründe gelangen?“

Der Eindruck dieses Streiches war drastischer, als ich erwartet hatte. Alle vier Häuptlinge sprangen empor, und ringsumher ertönte ein einziger Schrei des Entsetzens. Ich beeilte mich, sie zu beruhigen:

„Die roten Männer mögen sich setzen und das Calumet mit mir rauchen; wenn sie meine Brüder sind, werde ich ihnen ihre Seele zurückgeben!“

Sie nahmen sehr schnell wieder Platz, und To-kei-chun griff zur Pfeife. Es kam mir ein lustiger Einfall, durch den ich diese Leute vielleicht noch willfähriger machen konnte. Einer der drei Häuptlinge hatte nämlich auf seinem büffelledernen Jagdrocke als besondere Zierde zwei talergroße Messingknöpfe. Ich trat nahe zu ihm heran.

„Mein roter Bruder, leihe mir einmal diesen Schmuck; er wird ihn gleich wieder bekommen!“

Ehe er sich weigern konnte, hatte ich ihm beide Knöpfe abgedreht und trat um einige Schritte zurück, ohne mich um seine Bestürzung zu bekümmern.

„Meine roten Brüder sehen hier diese Knöpfe zwischen meinen Fingern, einen in jeder Hand; sie mögen genau aufmerken!“

Ich tat, als schleuderte ich die Knöpfe in die Luft, und hielt ihnen dann die leeren Hände entgegen.

„Meine Brüder mögen herschauen! Wo sind die Knöpfe?“

„Fort!“ rief ihr Besitzer mit aufsteigendem Zorne.

„Ja; sie sind fort, weit hinauf gegen die Sonne. Mein roter Bruder mag sie herunterschießen!“

„Das kann kein roter und kein weißer Mann, auch kein Zauberer!“

„So werde ich es tun! Meine roten Brüder mögen aufmerken, wenn die Knöpfe herabkommen!“

Ich nahm nicht meine Büchse, weil in derselben die Skizze stak, sondern das alte, geladene Doppelgewehr, welches neben To-kei-chun lag, richtete den Lauf desselben kerzengerade empor und drückte ab. Einige Sekunden später schlug etwas hart neben uns in den Boden. Der Besitzer des kostbaren Knopfes fuhr hinzu und grub ihn mit Hilfe seines Messers aus der Erde.

„Uff, er ist’s!“

Während alle den wunderbaren Gegenstand betrachteten, legte ich den zweiten Knopf auf die Mündung des zweiten Laufes und richtete das Gewehr empor. Der Schuß krachte und jedermann blickte in die Höhe. Da stieß Bob einen lauten Schrei aus, sprang vom Boden auf und rieb sich, auf einem Beine umherspringend, die Achsel.

„Oh, ah, Massa mich treffen, Nigger Bob auf Achsel schießen!“

Der Knopf war ihm wirklich auf die Schulter gefallen und lag neben ihm am Boden. Der Häuptling hob ihn auf und steckte die beiden wiedererlangten Wertobjekte mit einer Miene zu sich, in welcher der feste Entschluß lag, sie nicht wieder in die Sonne werfen zu lassen. Dieses kleine Taschenspielerstückchen machte, so leicht es ist, einen außerordentlichen Eindruck. Ich hatte zwei Knöpfe in die Sonne geworfen und sie wieder heruntergeschossen; sie waren wirklich oben gewesen, sonst hätte der eine nicht so tief in die Erde geschlagen und der andere dem Schwarzen, der vor Schmerzen die fürchterlichsten Gesichter schnitt, eine so respektable Beule verursacht. Die Häuptlinge saßen still am Boden, sichtlich nicht wissend, wie sie sich jetzt zu benehmen hätten, und ihre Umgebung wartete mit Spannung der Dinge, die nun kommen würden. Ich versuchte, die Spannung in einer allerdings etwas gewagten Weise zu lösen. Neben To-kei-chun lag noch die Pfeife nebst dem Opossumbeutel, in dem sich der nach indianischer Sitte mit Hanfblättern vermischte Tabak befand. Ich ergriff das Calumet, stopfte es, nahm meine stolzeste Haltung an und begann:

„Meine roten Brüder glauben an einen großen Geist, und sie haben recht, denn ihr Manitou ist auch mein Manitou; er ist der Herr des Himmels und der Erde, der Vater aller Völker und will, daß alle Menschen in Frieden und Eintracht bei einander wohnen. Die roten Männer sind wie das Gras zwischen diesen Zelten; die Bleichgesichter aber haben eine Zahl wie die Halme aller Prairien und Savannen. Sie sind herübergekommen über das große Wasser und haben vertrieben die roten Männer von ihren Jagdgründen; das ist nicht gut von ihnen. Aber warum hegen da die roten Männer Feindschaft gegen alle Bleichgesichter? Wissen die roten Männer nicht, daß sehr viele Nationen der Bleichgesichter auf Erden wohnen und daß es nur drei von ihren Stämmen sind, welche die roten Krieger vertrieben haben? Wollen die Krieger der Comanchen ungerecht sein und den Unschuldigen mit dem Schuldigen hassen? Old Shatterhand gehört zu dem mächtigen und weisen Stamme der Germani; hat dieser Stamm den roten Männern jemals ein Leid getan? Die großen Häuptlinge der Germani zürnen den Häuptlingen der drei bösen Stämme, also sind die Krieger der Germani Freunde und Brüder der roten Männer. Meine roten Brüder mögen anblicken Old Shatterhand, der vor ihnen steht! Sehen sie in seinem Gürtel den Skalp eines roten Mannes? Finden sie an seiner Lanze, seinen Leggins und Mokassins die Haare eines ihrer Brüder? Wer kann sagen, daß er seine Hand tauche in das Blut der roten Männer? Er hat mit seinen Freunden im Walde gelegen, als die Krieger der Racurroh mit seinen beiden Feinden das Calumet rauchten, und keinem ein Haar gekrümmt. Er hat Ma-ram, den Sohn des großen Häuptlings To-kei-chun, gefangen genommen; aber er hat ihn nicht getötet, sondern ihm seine Waffen gegeben und ihn in das Wigwam seines Vaters geführt. Hat er nicht sechs Krieger der Racurroh töten können und ihnen nichts getan, sondern nur den Einen gebunden, damit ihn seine Brüder finden und losbinden können? Konnte er nicht folgen den Kriegern, welche in die Berge gezogen sind, viele von ihnen töten und das Grabmal des toten Häuptlings entweihen? Hat er nicht mit seiner Büchse geschossen auf die beiden Bleichgesichter, welche die Wache der Comanchen töteten und dann mit dem Golde entflohen? Hat er nicht die Seelen der Comanchen in seinem Rohre und will sie dennoch nicht verderben? Kann er nicht alle Medizinen der Racurroh in die Sonne werfen, ohne daß er sie wieder herunterschießt, und dennoch begehrt er, der Bruder der Comanchen zu sein und das Calumet mit ihnen zu rauchen? Die Häuptlinge der Comanchen sind tapfer, weise und gerecht; wer das nicht glaubt, den wird Old Shatterhand töten mit dem Rohre, aus welchem tausend Kugeln kommen, und darum wird er jetzt mit ihnen den Rauch des Friedens essen!“

Ich steckte den Tabak in Brand, tat zwei Züge nach dem Himmel und der Erde, vier nach den Weltgegenden und gab dann To-kei-chun die Pfeife. Es gelang mir wirklich, ihn zu überrumpeln; er nahm das Calumet, tat seine sechs Züge und gab es dann weiter; der letzte Häuptling gab es mir zurück, und jetzt erst setzte ich mich, und zwar mitten unter sie hinein.

„Wird mein weißer Bruder uns nun unsere Seelen wiedergeben?“ fragte einer der Häuptlinge besorgt.

Ich mußte sehr vorsichtig antworten:

„Bin ich nun unter den roten Männern wie ein Sohn der Comanchen?“

„Old Shatterhand ist unser Bruder; er ist frei. Er wird eine Hütte erhalten und kann tun, was er will.“

„Welche Hütte werde ich bekommen?“

„Old Shatterhand ist ein großer Krieger; er wird das Zelt erhalten, welches er sich wählt.“

„So mögen meine roten Brüder mit ihm kommen, damit er wählen kann!“

Sie erhoben sich, um mir zu folgen. Ich schritt die Zeltreihe noch weiter aufwärts, bis ich eine Hütte bemerkte, vor welcher vier Männer Wache hielten. Ich legte die Hände an den Mund und stieß das Geheul des Coyoten aus, und sofort wurde mir aus dem Innern des Zeltes die erwartete Antwort. Ich tat einen Sprung bis an die Tür und rief:

„Hier ist die Wohnung von Old Shatterhand!“

Die Häuptlinge sahen einander höchst verblüfft an, denn diesen so leicht denkbaren Fall hatten sie gar nicht vorgesehen.

„Dieses Zelt kann mein weißer Bruder nicht bekommen!“

„Warum?“

„Es gehört den Feinden der Comanchen.“

„Wer sind diese Feinde?“

„Zwei Bleichgesichter und ein roter Mann.“

„Wie sind die Namen dieser Männer?“

„Der rote Mann ist Winnetou, der Häuptling der Apachen, und einer der Weißen ist Sans-ear, der Indianertöter.“

Wußten sie noch gar nicht, daß ich der Gefährte der Gefangenen gewesen war? Ich hatte allerdings zu Ma-ram kein Wort darüber gesprochen, aber es mußte doch durch Patrik zur Sprache gekommen sein.

„Old Shatterhand will diese Männer sehen!“

Mit diesem Worte trat ich ein; sie folgten augenblicklich.

Die Gefangenen lagen, an Händen und Füßen gebunden, an der Erde und waren außerdem noch an die Zeltstangen gefesselt. Sie hatten jedenfalls bereits meine Stimme erkannt, aber keiner von ihnen sprach ein Wort, keiner verriet durch eine Miene die frohe Empfindung, welche meine Anwesenheit hervorrufen mußte.

„Was hatten diese Männer getan?“ fragte ich.

„Sie haben getötet die Krieger der Comanchen.“

„Hat mein roter Bruder dies gesehen?“

„Die Krieger der Racurroh wissen es.“

„Die Krieger der Racurroh werden es beweisen müssen! Dieses Zelt ist mein, und diese drei Männer sind meine Gäste!“

Ich zog das Messer, um die Bande der Gefangenen zu lösen; da ergriff einer der Häuptlinge meinen Arm.

„Diese Männer müssen sterben. Mein weißer Bruder wird sie nicht zu seinen Gästen machen!“

„Wer kann mir das verbieten?“

„Die vier Häuptlinge der Racurroh!“

„Sie mögen es wagen!“

Ich stellte mich zwischen sie und die Gefangenen. Außer ihnen war nur Bob eingetreten.

„Bob, schneide die Stricke entzwei; zuerst bei Winnetou!“

Der Neger hatte sich bereits zu seinem Herrn geschlichen; doch folgte er meinem Befehle, da auch er den Gedanken haben mochte, daß Winnetou uns mehr nutzen könne, als Bernard.

„Der schwarze Mann mag sein Messer einstecken!“ gebot derselbe Häuptling, aber bereits war Winnetou frei von seinen Fesseln.

„Uff!“ rief der Häuptling, als er seinen Befehl mißachtet sah, und wollte sich auf Bob werfen, der bereits über Sam kniete, um ihn zu befreien.

Ich trat ihm entgegen; er zuckte das Messer auf mich und traf mich, da ich mich schnell zur Seite wandte, in den Oberarm. Er hatte nicht Zeit, das Messer aus der Wunde zu ziehen; ein Faustschlag von mir streckte ihn zu Boden; ein zweiter traf mit derselben Wucht seinen Nebenmann; dann faßte ich den Dritten bei der Kehle, während Winnetou trotz seiner geschwollenen Handgelenke seine Finger bereits um den Hals To-kei-chuns gelegt hatte.

Nur das einzige „Uff!“ war erschollen; draußen standen die Wächter, dennoch waren wir in zwei kurzen Minuten Herren der Hütte, und die Häuptlinge lagen gebunden und geknebelt am Boden.

Heavens, war das Hilfe in der Not!“ meinte Sam, indem er sich die vor Schmerz und der Stockung des Blutes beinahe bewegungslosen Glieder rieb. „Charley, wie hast du das nur zum Beispiel fertig gebracht?“

„Später erkläre ich euch das, jetzt aber bewaffnet euch vor allen Dingen; diese vier Männer tragen genug Waffen bei sich!“

Auch ich öffnete, um allen Eventualitäten begegnen zu können, den an meinem Gürtel hängenden Munitionsbeutel und lud meinen Stutzen wieder. Während dieser kurzen Arbeit gab ich ihnen meine Verhaltungsmaßregeln, welche darauf hinausliefen, die vier Häuptlinge augenblicklich zu töten, wenn man einen Angriff auf uns unternehmen sollte. Dann trat ich aus der Hütte. Die Wachen hatten sich aus Respekt vor den Häuptlingen etwas von derselben zurückgezogen, und weiterhin stand eine bedeutende Anzahl von Comanchen, welche uns gefolgt waren, neugierig auf den Verlauf des gegenwärtigen Abenteuers. Ich ging zunächst zu den Wachen.

„Meine Brüder haben vernommen, daß Old Shatterhand ein Häuptling der Comanchen geworden ist?“

Das Senken ihrer Augen bedeutete eine bejahende Antwort.

„Die roten Krieger werden die Hütte gut bewachen und Keinen hineinlassen, bis die Häuptlinge anders befehlen!“

Nun trat ich zu den Anderen.

„Meine Brüder mögen gehen und alle Krieger nach dem Ort der Beratung rufen!“

Sie zerstreuten sich, und ich schritt allein der angegebenen Stelle zu. Wer mit den Gebräuchen der Wilden nicht vertraut ist, wird in meinem Verhalten eine fürchterliche Waghalsigkeit suchen, doch mit Unrecht. Der Indianer ist keineswegs der Wilde, für den er ausgegeben wird. Er hat seine unumstößlichen Gesetze und Gebräuche. Wer sich dieselben nutzbar zu machen versteht, läuft wenig Gefahr. Übrigens handelte es sich hier ja gleich von vornherein um Leben oder Tod, und mehr als das Leben konnte ich also durch kein Wagnis auf das Spiel setzen.

Es gelang mir unterwegs, die Spuren des unbedeutenden Stiches zu verwischen; dann setzte ich mich da nieder, wo ich vorhin gesessen hatte, In zehn Minuten war der ganze Platz von Kriegern angefüllt. in der Mitte blieb ein freier Raum, in welchem sich jene Bevorzugten niedergelassen hatten, die bereits vorhin gegenwärtig gewesen waren. An andern Orten geht eine Versammlung nie ohne Lärm ab; hier aber unter diesen sogenannten Wilden wurde kein einziges Wort gesprochen. Jeder kam ernst und still, suchte sich seinen Platz und stand dann bewegungslos wie eine Statue, um das Kommende zu erwarten.

Ich winkte die vorhin erwähnten Ausgezeichneten zu mir heran; sie nahmen vor mir in einem Halbkreise Platz und ich begann:

„Old Shatterhand ist Häuptling der Comanchen geworden. Meine Brüder haben es gehört?“

„Wir wissen es,“ antwortete Einer für sie Alle.

„Er sollte sich eine Hütte auslesen und wählte das Zelt der Gefangenen. War es nun sein Eigentum?“

„Es gehörte ihm!“

„Und dennoch wurde es ihm verweigert. Sind die Häuptlinge der Comanchen Lügner? Die Gefangenen begehrten den Schutz von Old Shatterhand. Durfte er ihnen denselben verweigern?“

„Nein.“

„Er nahm sie in seinen Schutz und sagte, sie seien seine Gäste. Durfte er das tun?“

„Er hatte das Recht und die Pflicht dazu. Aber er darf sie dem Gerichte nicht entziehen; er darf nur sie beschützen und mit ihnen sterben.“

„Und er darf ihre Fesseln lösen, wenn er sich für sie verbürgt?“

„Das darf er.“

„So hat er nur getan, wozu er das Recht hatte; dennoch wollte ihn einer der Häuptlinge töten. Das Messer traf nur seinen Arm. Was darf ein Comanche tun, wenn ein anderer Mann ihn in seinem eigenen Zelte töten will?“

„Er darf ihn töten.“

„Und Alle, die dem Mörder helfen wollen?“

„Alle!“

„Meine Brüder sind weise und gerecht. Die vier Häuptlinge der Racurroh wollten mich ermorden; ich tötete sie aber nicht, sondern meine Hand schmetterte sie zu Boden; sie liegen gebunden in meiner Hütte und werden von meinen Gästen bewacht. Blut um Blut, Gnade um Gnade. Ich verlange die Freiheit meiner Gäste gegen die Freiheit meiner Mörder! Meine Brüder mögen sich beraten, und ich werde warten; aber sie mögen meine Gäste nicht beunruhigen, denn diese werden die Häuptlinge töten, wenn ein Anderer als Old Shatterhand in die Hütte tritt!“

Kein Zug ihres Gesichtes verriet den gewaltigen Eindruck, den diese Rede auf sie machen mußte. Ich zog mich soweit von ihnen zurück, daß ich ihre Worte nicht hören konnte. Sie bildeten, wie ich mir gleich beim ersten Zusammentreffen mit ihnen gedacht hatte, sozusagen ein unter den Häuptlingen stehendes Ratskollegium. Auf ihre Winke kamen von jeder Seite des Platzes einige Männer herbei, denen sie den Sachverhalt zur Weiterbeförderung an die Umstehenden mitzuteilen schienen. Diese Maßregel brachte einige Bewegung in der Versammlung hervor, aber ohne daß mir irgend welche Belästigung daraus erwuchs. Dann wurde lange, sehr lange beraten, bis sich drei von ihnen erhoben und zu mir traten. Einer nahm das Wort:

„Unser weißer Bruder hält die Häuptlinge der Racurroh gefangen in seiner Hütte?“

„So ist es.“

„Er wird sie den Kriegern der Comanchen ausliefern, damit diese über sie Gericht halten.“

„Meine Brüder vergessen, daß die Krieger nie über ihren Häuptling Gericht halten können, außer wenn er im Kampfe feig ist. Die Häuptlinge der Racurroh wollten Old Shatterhand töten; sie sind in seinem Wigwam, und er allein kann sie bestrafen.“

„Und was wird er mit ihnen tun?“

„Er wird sie töten, wenn er nicht die Freiheit seiner Gäste bekommt!“

„Kennt er diese Gäste?“

„Ja.“

„Es ist Sans-ear, der Indianertöter.“

„Haben meine Brüder gesehen, daß er einen Comanchen getötet hat?“

„Nein. Und Winnetou, der Pimo, der Hunderte von Comanchen tötete!“

„Hat er einen Racurroh getötet?“

„Nein. Wer ist der Dritte?“

„Ein Mann aus dem Norden, der noch niemals den Sohn einer roten Mutter tötete.“

„Wenn unser Bruder die Häuptlinge tötet, so wird auch er mit seinen Gästen erschlagen!“

„Meine Brüder treiben Scherz! Wer will Old Shatterhand töten? Hat er nicht die Seelen der Comanchen in dem Laufe seines Gewehres?“

Sie befanden sich in Verlegenheit und besannen sich. Unmöglich konnten sie ihre Häuptlinge preisgeben.

„Mein Bruder möge warten, bis wir wiederkehren!“

Sie entfernten sich, und die Beratung begann von neuem. Soweit ich blicken konnte, verriet kein Angesicht eine Spur von Haß oder Wut gegen mich. Ich wehrte mich mutig und vertraute ihnen; es war also keine Schande für sie, mit mir zu unterhandeln. Nach beinahe einer halben Stunde kehrten die drei Abgesandten wieder zu mir zurück.

„Old Shatterhand soll haben seine Freiheit und die Freiheit seiner Gäste den vierten Teil einer Sonne lang!“

Ah, also gerieten sie auf das alte Indianervergnügen, ihre Gefangenen freizulassen, um eine interessante Jagd abhalten zu können, und verbanden damit den Vorteil, alle Gefahr von ihren Häuptlingen abzuwenden. Sechs Stunden gaben sie uns Vorsprung; das war wenig; aber wenn wir grad sechs Stunden vor abends aufbrachen, so dehnte sich diese Frist zugleich über die ganze Nacht aus, während welcher sie uns doch nicht folgen konnten. Ich wäre unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Tor gewesen, wenn ich nicht zugegriffen hätte; doch mußte das allerdings mit der nötigen Zurückhaltung geschehen.

„Old Shatterhand sagt ja, wenn seine Gäste die Waffen zurückerhalten, die man ihnen abgenommen hat.“

„Sie werden sie bekommen.“

„Auch alles Andere, was ihnen gehörte?“

Ich zielte damit besonders auf die Wertsachen, welche Bernard bei sich getragen hatte, und von denen ich nicht wußte, ob er ihrer beraubt worden sei.

„Alles!“

„Meine weißen Gäste sind gefangen worden, obgleich sie den Racurroh nichts Böses getan hatten; die Häuptlinge aber sollen freigelassen werden, trotzdem sie mich töten wollten; der Tausch ist nicht gleich!“

„Was verlangt mein Bruder noch?“

„Dieser Stich im Arme soll kosten den Häuptlingen drei Pferde, die ich mir unter ihren Tieren auswähle; ich gebe ihnen dafür drei von den unsrigen.“

„Mein Bruder ist klug wie der Fuchs; er weiß, daß seine Tiere müde sind. Aber er soll haben, was er begehrt. Wann wird er die Häuptlinge gehen lassen aus seinem Wigwam?“

„Wenn er fortreitet von seinen roten Brüdern.“

„Und wird er geben die Seelen aus dem Laufe seiner Büchse?“

„Er wird sie nicht in die Winde schießen.“

„So möge er ziehen, wohin er will. Er ist ein großer Krieger und listiger Schakal; die Sinne der Häuptlinge der Comanchen sind verdunkelt gewesen, daß sie mit ihm geraucht haben das Calumet des Friedens. Howgh!“

Der Handel war gemacht, und ich konnte gehen. Die Umstehenden ließen mich unbehelligt durch, und langsam, ohne mich zu beeilen, schritt ich meinem Wigwam zu. Ich war natürlich mit der außerordentlichsten Spannung erwartet worden, und als ich allein eintrat, war dies ihnen ein Zeichen, daß die Sache nicht sehr schlimm abgelaufen sein könne.

„Nun?“ fragte Bernard, den die Wißbegierde keinen Augenblick warten ließ.

„Wurden Euch Eure Diamanten oder Papiere abgenommen?“

„Nein. Warum?“

„Weil Ihr sie sonst wieder erhalten müßtet. Wir sind auf sechs Stunden frei!“

„Frei, Massa?“ rief Bob. „Oh, ah, frei sein Bob und Massa Bern‘. Aber bloß sechs Stunden, dann wieder fangen Indian‘ Massa Bern‘ und Bob!“

Well,“ meinte Sam, „das ist Alles, was wir nur wünschen können. Das war ja eine ganz verteufelte Patsche, in die wir da zum Beispiel hineingeraten sind! Aber, wie steht es mit der Tony?“

„Die bekommst du, und dazu Alles, was dir gehört. Auch Winnetou erhält sein Pferd. Die andern Tiere aber sind zu angegriffen, und obgleich ich meinen braven Mustang nicht gern fortgebe, habe ich mir doch ausbedungen, unter den Pferden der Häuptlinge drei für uns auswählen zu dürfen.“

Heigh-day, Charley,“ lachte Sam; „sechs Stunden Vorsprung und fünf gute Pferde, das ist genug für solche alte Seekers, wie wir sind. Denn daß du dir keine Ziegenböcke aussuchen wirst, das will ich ganz gewißlich meinen!“

Jetzt ging es nicht anders, ich mußte ihnen wenigstens kurz erzählen, was ich seit unserer gewaltsamen Trennung erlebt hatte. Noch war ich damit nicht fertig, so ertönte draußen ein Ruf. Ich trat hinaus und sah die Alte, aus deren Topf ich zweimal gegessen hatte.

„Das Bleichgesicht mag kommen!“

„Wohin?“

„Zu Ma-ram.“

Das war eine sonderbare Botschaft. Ich verständigte erst meine Gefährten und folgte ihr dann. Sie führte mich zu der Hütte, welche meiner gestrigen Wohnung gegenüber lag. Vor derselben hielten zwei Pferde, auf deren einem Ma-ram saß.

„Mein weißer Bruder möge sich seine Pferde wählen!“

Also das war es! Ich stieg auf, und schnell ging es durch die Straße hinaus in die Prairie, wo wir eine ziemliche Anzahl von Pferden angehobbelt fanden. Der junge Indianer führte mich geradeswegs zu einem Rapphengste und sagte:

„Das beste Roß der Racurroh! Ma-ram erhielt es von seinem Vater; er schenkt es Old Shatterhand für den Skalp, den er ihm gelassen hat!“

Ich war überrascht über dies reiche und beinahe großmütige Geschenk, denn auf einem solchen Rosse konnte ich nicht eingeholt werden. Natürlich nahm ich es an und suchte für Bernard und Bob zwei andere aus, mit denen sie zufrieden sein konnten.

Nun ging es wieder zurück. Ma-ram hielt vor seinem Zelte.

„Mein weißer Bruder steige herab und komme herein!“

Diese Einladung konnte ich nicht ausschlagen. Ich wurde in das Innere des Zeltes geführt und erhielt ein Stück Kammaskuchen zu kosten, den die Comanchen ganz vortrefflich zuzubereiten verstehen. Dann verabschiedete ich mich. Als ich aus der Hütte trat, sah ich das dunkeläugige Mädchen, welches ich bereits am Morgen bemerkt hatte, bei meinen Pferden beschäftigt. Sie packte Proviant auf und errötete, als ich sie dabei überraschte.

„Wer ist diese Tochter der Racurroh?“ fragte ich Ma-ram.

„Es ist Hi-Iah-dih, die Tochter des Häuptlings To-kei chun. Sie bittet dich, zu nehmen, was sie dir bietet, weil du verschonet hast ihren Bruder Ma-ram.“

Ich reichte dem Mädchen die Hand.

„Manitou gebe dir Glück und viele Sonnen, du Blume der Savanne. Dein Auge ist hell, und deine Stirn ist rein; möge auch dein Leben so licht und ungetrübt bleiben!“

Ich schwang mich auf und brachte meine drei Pferde zu den Freunden. Diese und namentlich Sam gerieten in Entzücken beim Anblick des Rapphengstes.

„Charley,“ meinte er, „der ist beinahe so viel wert wie meine alte Tony, nur daß diese einen kürzeren Schwanz und längere Ohren hat. Üebrigens ist nun Alles beisammen, denn diese roten Kerls haben uns Alles gebracht, was uns fehlte. Jetzt ist es grad sechs Uhr vor Abend. Laß uns aufbrechen und dann zum Beispiel sehen, ob sie uns nochmals bekommen werden!“

„Wir packten auf, was wir mitzunehmen hatten, und lösten dann die Fesseln unserer Gefangenen.

„Massa, nun fort,“ mahnte Bob, „sehr viel schnell fort, daß nicht kommen nach Indian‘ und fangen wieder all‘ ganz Massa Bern‘, Sam, Charley und Winnetou!“

Die Häuptlinge rührten sich nicht, so lange wir uns noch im Zelte befanden. Wir stiegen auf; fort ging es! Die Zeltstraße war leer; kein Indianer war zu sehen; jedenfalls aber wurde unser Abzug von Allen beobachtet. Nur beim Zelt To-kei-chuns war es mir, als ob vier Augen durch die Ritze des Vorhanges lugten. Hundert Herzen klopften in der Erwartung, uns einzuholen; hier aber gab es sicherlich zwei, welche wünschten, daß wir entkommen möchten. – – –

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads