Am Deklil-to.
Ich hatte den nächsten Tag dazu bestimmt, einen Überblick über die ausgegrabenen Skripturen zu gewinnen, sah mich aber leider in der Hoffnung, dies tun zu können, getäuscht. Wir saßen noch beim Morgenkaffee, da tauchte am südlichen Rande der Lichtung die Gestalt eines Indianers unter den Bäumen hervor und kam auf uns zu. Es war der Winnetou von gestern abend. Er wendete sich nur an den „Jungen Adler“. Uns andere schien er mit keinem Blick zu berühren. Er sprach seine Muttersprache, nicht englisch.
„Es kommen Reiter“, meldete er.
„Woher?“ fragte unser junger Freund.
„Zwischen Nordwest und West.“
„Wie viele?“
„Eine große Schar. Man konnte sie nicht zählen. Sie waren noch zu weit entfernt.“
„So komm wieder, sobald es möglich ist, ihre Zahl zu bestimmen!“
Der Winnetou entfernte sich, kehrte aber schon nach vielleicht zehn Minuten zurück und berichtete:
„Es sind Reiter und Reiterinnen. Zwanzig Männer und viermal zehn Squaws, mit vielem Gepäck auf Maultieren hinterher.“
„Wie weit entfernt von hier?“ fragte der „junge Adler“.
„Sie werden in einer Viertelstunde den Nugget-tsil erreichen.“
„Sie mögen kommen. Man beobachte sie, aber ohne sich von ihnen sehen zu lassen. Es sind die Squaws der Sioux, die nach dem Mount Winnetou wollen. Wer die Männer sind, das weiß ich jetzt noch nicht. Wir reiten von hier nach dem Deklil-to. Ich glaube nicht, daß ich deiner Hilfe noch einmal bedarf.“
Hierauf entfernte sich der Winnetou, ohne eine einzige Silbe, die nicht von seiner Pflicht geboten war, auszusprechen. Das war Disziplin! Als unser alter, guter Pappermann erfuhr, wen wir hier bei uns zu erwarten hatten, kam er in eine Aufregung, die er zwar verbergen wollte, aber nicht verbergen konnte. Die Gebrüder Enters fühlten sich unsicher. Sie fragten, ob sie sich vielleicht zurückziehen sollten.
„Ihr gehört jetzt zu uns, und ihr bleibt bei uns“, antwortete ich. „Wie ich eigentlich heiße, ist zu verschweigen.“
Damit war diese Sache abgemacht. Ich sah mit meinem Herzle den Nahenden mit großem Interesse entgegen, obgleich ich es bedauerte, auf die Durchsicht der Manuskripte nun verzichten zu müssen. Es verging eine Viertelstunde nach der anderen. Diese Leute nahmen sich Zeit. Endlich, nach über einer Stunde, hörten wir schon von weitem den Lärm, den sie machten. Sie kamen zu Fuß. Die Pferde waren wegen der steilen Stellen, die es gab, unten am Berg gelassen worden. Wir wurden bemerkt, noch ehe sie unter den Bäumen hervorgetreten waren. Das schlossen wir aus dem Umstand, daß die lauten Stimmen jetzt plötzlich verstummten. Hierauf sahen wir einen sehr langen und sehr hageren Menschen erscheinen, der sich in einem sonderbar hochbeinigen, schlingernden Gang auf uns zu bewegte. Er war nicht indianisch gekleidet, sondern er trug einen sehr eleganten Yankeeanzug mit einem sehr weißen und sehr hohen Kragen und ebenso weißen, glänzenden Manschetten. An seiner Brust prahlte eine große, echte Nadelperle, und an seinen Fingern glänzten verschiedene Diamanten nebst anderen Edelsteinen. Aber seine Hände waren groß, sehr groß, seine Füße ebenso, und seine Nase – – oh, diese Nase! Die konnte nur von einer riesennasigen indianischen Mutter und einem noch riesennasigeren armenischen Vater stammen und war dann an ihren beiden Seiten derart abgeschliffen worden, daß sich nur die dünne Scheidewand erhalten hatte. Zu dieser Nase erschienen die wimperlosen, zudringlichen Äuglein viel zu klein. Das Gesicht war schmal. Der Kopf glich einem Vogelkopfe, aber dieser Vogel war ganz gewiß kein kühner Adler, sondern nur ein monstreschnabeliger Pfefferfresser.
Also dieser Mann kam auf uns zugeschlingert, blieb vor uns stehen, ohne zu grüßen, betrachtete uns, Einen nach dem Anderen, wie leblose Gegenstände oder wie völlig wertlose Personen, die sich das gefallen lassen müssen, und fragte dann:
„Wer seid ihr?“
Seine Stimme klang scharf und spitz. Leute mit solchen Stimmen pflegen gefühl- und rücksichtslos zu sein. Er erhielt nicht sogleich eine Antwort, darum wiederholte er seine Frage:
„Wer seid ihr? Ich muß das wissen!“
Mir und dem Herzle fiel es nicht ein, ihm Rede zu stehen, dem „Jungen Adler“ noch viel weniger. Die beiden Enters hatten Grund, sich nicht hervorzutun, und so war es schließlich Pappermann, welcher das Wort ergriff:
„Ihr müßt das wissen? Ihr müßt? Ah, wirklich? Wer zwingt Euch dazu?“
„Zwingt?“ fragte der Mann erstaunt. „Von einem Zwang ist keine Rede. Ich will?“
„Ah, Ihr wollt! Das ist freilich etwas Anderes! Nun, so wollt einmal! Bin neugierig, wie weit Ihr es mit diesem Eurem Willen bringt!“
„Genauso weit, wie ich eben will! Wenn es Euch etwa beliebt, mir mit Albernheiten zu antworten, so haben wir die Mittel in den Händen, Euch zu zwingen, ernst zu sein!“
Wir Anderen alle saßen. Nur Pappermann hatte gestanden, als der Fremde kam. Er schritt jetzt langsam auf ihn zu, stellte sich gewichtig vor ihm auf und fragte:
„Zwingen? Uns zwingen? Etwa Ihr? Den Mann, der das sagt, muß ich mir doch einmal genauer betrachten!“
Er faßte ihn bei den Armen, drehte ihn nach rechts, nach links, schließlich ganz um sich herum, schüttelte ihn, daß alle Knochen wackelten, und sagte dann:
„Hm! Sonderbar! Bin doch sonst nicht so dumm! Aber aus diesem Kerl werde ich mir nicht klug. Ihr seid kein Ganzindianer, sondern nur ein halber? Ist das richtig?“
Der Gefragte wollte aufbrausen, anstatt willig und direkt zu antworten, da aber schüttelte der alte Westmann ihn zum zweiten Mal und warnte:
„Halt! Keine Grobheiten oder gar Beleidigungen! Die vertrage ich nicht! Wer hierher kommt und uns, ohne zu grüßen, zwingen will, uns aushorchen zu lassen, wie es ihm beliebt, der ist erstens ein ungezogener Mensch und zweitens ein Schafskopf sondergleichen. Hier ist unser Lagerplatz. Nach den Gesetzen der Prärie gehört er uns, bis wir ihn verlassen. Wir waren eher da als Ihr. Wir sind hier daheim. Wer unser Heim betritt, der hat höflichst zu grüßen und sich auszuweisen, wer er ist und was er will. Verstanden? Und nun sagt mir vor allen Dingen erst einmal Euern Namen! Aber schnell! Ich scherze nicht! Sondern ich pflege solche Vögel, wie Ihr seid, sehr schnell richtig pfeifen zu lehren!“
Er hielt ihn noch an beiden Armen fest, so fest, daß der Fremde das Gesicht vor Schmerz verzog und kleinlaut antwortete:
„So laßt doch wenigstens los! Mein Name ist Okih-tschin-tscha. Bei den Bleichgesichtern heiße ich Antonius Paper!“
„Antonius Paper und Okih-tschin-tscha? Schön! Aber ein Ganzindianer seid Ihr nicht?“
„Nein.“
„Sondern nur ein halber, ein Mischling?“
„Ja.“
„Eure Mutter war Indianerin?“
„Ja.“
„Von welchem Stamme?“
„Sioux.“
„Und Euer Vater?“
„Der kam aus dem gelobten Land herüber und war von Geburt Armenier.“
„Schade, jammerschade!“
„Wieso?“
„Es tut mir so leid um das gelobte Land, daß es sich die Ehre, Euch geboren zu haben, hat entschlüpfen lassen! Die Armenier sind, wenn sie herüberkommen, immer Händler. Ihr wohl auch?“
„Ich bin Bankier!“ erwiderte der Fremde stolz. „Nun aber laßt mich los! Und sagt auch, wer Ihr seid!“
„Das soll geschehen. Ich bin ein alter, wohlbekannter Prärieläufer und heiße Pappermann, Maksch Pappermann, verstanden? Nebenbei ist es mein ganz besonderes Metier, grobe Leute höflich und dumme Menschen gescheit zu machen. Ihr seid nicht allein? Eure Begleiter stecken noch da drüben unter den Bäumen?“
„Ja.“
„Es sind Frauen dabei?“
„Ja.“
„Siouxfrauen, die nach dem Mount Winnetou wollen?“
„Ja. Woher wißt Ihr das?“
„Das ist meine Sache, nicht Eure. Wer sind die Männer dabei?“
„Das sind die Herren vom Komitee mit ihrer Dienerschaft und den Führern.“
„Was für ein Komitee?“
„Das Komitee für den Denkmalbau eines – – –“
Er hielt inne. Es fiel ihm ein, daß Weiße als Mitwisser ja eigentlich ausgeschlossen seien. Darum fuhr er fort:
„Fragt sie selbst! Ich bin nicht ermächtigt, über die Zwecke dieses Komitees Auskunft zu erteilen! Und laßt mich nun doch endlich los!“
Da schüttelte Pappermann ihn noch einmal tüchtig durch, gab ihn dann frei und sagte:
„So kehrt zu ihnen zurück, und sagt ihnen meinen Namen! Besonders den Damen! Es sind einige dabei, die mir beistimmen werden, daß man hier zu grüßen hat!“
Herr Antonius Paper schlingerte wieder über die Lichtung hinüber, bis er unter den Bäumen verschwand. Sein Indianername Okih-tschin-tscha bedeutet in der Siouxsprache soviel wie „Mädchen“. Er schien sich also schon von Jugend auf durch männliche Taten und männliche Eigenschaften nicht allzusehr ausgezeichnet zu haben. Er war der Kassierer des „Denkmalkomitees für Winnetou“. Man wird sich erinnern, daß gerade er und sein Verhältnis zu Old Surehand mir gleich von Anfang an als nicht vertrauenswert erschien. Nun ich ihn heut zum ersten Mal sah, war der Eindruck, den er auf mich machte, kein günstiger. Das Herzle dachte ebenso.
„Ein Mischling!“ sagte sie. „Du bist doch immer der Meinung, daß diese Halbblutleute meist nur die schlimmen Eigenschaften ihrer Eltern erben?“
„Ja, meist. Aber schau! Man kommt!“
Kaum hatte der Halbindianer da drüben den Namen Pappermann genannt, so hörten wir den frohen Ruf einer weiblichen Stimme, und gleich darauf erschienen zwei Frauengestalten, die mit eiligen Schritten über die Lichtung herüberkamen. Die Eine war Aschta, die wir am Kanubisee gesehen hatten, die Andere wahrscheinlich ihre Mutter. Die übrigen Ladies folgten ihnen auf dem Fuß, hinter ihnen die Männer in langsameren, würdigeren Schritten.
Wir standen alle auf.
„Mir wird ganz schwach!“ sagte Pappermann.
Er lehnte sich an den nächsten Baum. Aber seine alten, guten, treuen, ehrlichen Augen standen weit offen und waren mit seligem Ausdruck auf die beiden, sich nähernden Frauen gerichtet.
Man sah sofort, daß diese Beiden Mutter und Tochter waren, so sprechend ähnlich, so fast völlig gleich zeigten sie sich nicht nur in Beziehung auf ihre Gesichtszüge, sondern auch in Hinsicht auf ihren Gang, ihre Haltung und die Art, sich zu bewegen und sich auszudrücken. Dazu kam, daß sie völlig gleich gekleidet waren. Die vierzig Indianerinnen stimmten in ihren Anzügen überhaupt alle überein. Auch trugen sie alle den Stern des Clan Winnetou.
Aschta hießen beide. Sie kamen Hand in Hand. Die Mutter war beinahe fünfzig Jahre alt, aber immer noch schön, und zwar von jener Schönheit, an welcher die Seele nicht weniger Anteil hat als der Körper.
„Da ist er!“ sagte die Tochter, indem sie auf Pappermann zeigte. „Und dort steht der Junge Adler, von dem ich dir auch erzählte.“
Aber die Mutter achtete jetzt nicht auf den Letzteren, sondern nur auf den Ersteren. Sie gab die Hand ihrer Tochter f rei, blieb einen Augenblick stehen, ließ ihren Blick über ihn gleiten und sagte:
„Ja, er ist es, der Liebe, der Gute, der Bescheidene!“
Sie trat bis ganz zu ihm heran, ergriff seine Hände, hob ihre schönen, dunklen, aber klaren Augen zu seinem Gesicht empor und fragte:
„Warum kamt Ihr nicht? Warum seid Ihr uns ausgewichen, immer und immerfort? Es ist grausam, den Dank der Herzen, die es ehrlich meinen, abzulehnen. Bitte, gebt mir Eure Stirne; ja, gebt sie mir!“
Er bog den Kopf nieder. Sie hob die Hände, zog ihn näher und küßte ihn auf die Stirne und auf die beiden Wangen. Da konnte er sich nicht länger halten. Er brach in ein lautes Schluchzen aus, drehte sich um und entfernte sich mit eiligen Schritten, in den Wald hinein.
„Hier wird geküßt!“ hörte man eine scharfe, spitze Stimme erklingen.
Das war der Halbindianer, der bei den anderen Männern hinter den Frauen stand. Aller Augen richteten sich auf ihn.
„Welch ein Wort“, rief Aschta, die Tochter, aus. „Er soll es büßen!“
Sie hob drohend den Arm und eilte zornig auf ihn zu.
„Aschta!“ erklang da die Stimme der Mutter. „Berühre ihn nicht! Er ist schmutzig!“
Die Tochter hemmte ihren Schritt und ging zur Mutter. Diese nahm sie wieder bei der Hand und sagte, so daß alle es hörten:
„Komm, wir gehen, den Andern, den Freund, den Retter zu suchen, denn er steht höher, tausendmal höher als jener dort, der es wagt, über Dankbarkeit zu spotten!“
Beide entfernten sich in der Richtung, nach welcher Pappermann den Platz verlassen hatte. Ich war der Meinung, daß hierauf zwischen uns und den Neuangekommenen ein kurzer Verlegenheitszustand eintreten werde, der unbedingt überwunden werden mußte, aber ich hatte mich geirrt. Mr. Antonius Paper oder vielmehr Mr. Okihtschin-tscha schien eine dicke Haut zu besitzen, durch welche Strafreden, wie die soeben angehörte, nicht zu dringen vermochten. Er tat, als ob nicht das Geringste vorgefallen sei, und ergriff sofort wieder das große Wort, indem er sich an die bei ihm stehenden Gentleman wendete, die alle indianisch gekleidet waren, obgleich man ihnen ansah, daß sie nicht mehr der Prärie oder dem Urwald angehörten:
„Der Sprecher der hier lagernden Gesellschaft hat sich leider entfernt. Er kann uns also nicht sagen, wer die Anderen, die Zurückgebliebenen sind. Wir werden es aber erfahren. Ich sorge dafür!“
Er kam auf uns zu.
„Der Unglückselige!“ sagte das Herzle. „Er wird doch nicht etwa mit dir anbinden?“
„Er würde sofort wieder abgebunden sein!“ lachte ich vergnügt.
Ihre Befürchtung erwies sich als begründet. Der Mann wendete sich an mich. Alle Welt schaute nach ihm und war auf seine Fragen und meine Antworten gespannt.
„Mr. Pappermann hat es für gut gehalten, sich zurückzuziehen“, begann er; „ich frage also nun Euch. Wie ist Euer Name?“
„Ich heiße Burton“, antwortete ich.
„Und die Lady da neben Euch?“
„Ist meine Frau.“
„Die beiden Gentlemen, die hinter Euch stehen?“
„Sind Brüder. Mr. Hariman Enters und Mr. Sebulon Enters.“
Den „jungen Adler“ sah er nicht, weil dieser abseits stand. Er fuhr in seinem Verhör fort:
„Wo kommt Ihr her?“
„Aus dem Osten.“
„Wo wollt Ihr hin?“
„Nach dem Westen.“
„Redet nicht so dumm! Das ist ja eben der Westen, wo Ihr seid! Und wenn ich einmal frage, so will ich Namen und Orte wissen, nicht aber alberne Ausdrücke, aus denen man sich nichts nehmen kann!“
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, so bekam er eine derartige Ohrfeige von mir, daß er sich halb um sich drehte und dann niederstürzte. Hierauf wendete ich mich nach rechts:
„Die Ladies wollen verzeihen, daß es hier genauso aus dem Wald schallt, wie hineingesprochen wird; wir sind ja eben im Wald!“
Und nach links hinüber fügte ich hinzu:
„Ich bitte einen der andern Gentlemen, die Unterhaltung mit mir fortzusetzen. Mr. Paper wird wahrscheinlich darauf verzichten.“
„Verzichten?“ rief er aus, indem er sich vom Boden aufraffte. „Fällt mir nicht ein! Ich bin geschlagen worden – geschlagen! Das erfordert Strafe – sofortige Strafe!“
Er suchte hastig in seinen Taschen herum und brachte zunächst ein Messer hervor, eine sehr elegante, sogenannte Sicherheitsklinge, die er sehr behutsam, um sich ja nicht selbst zu stechen, öffnete. Dann kam ein kleiner, allerliebster Salonrevolver zum Vorschein, den er entsicherte und spannte. Nach diesen großartigen Vorbereitungen wollte er sich von neuem an mich machen. Die Folge wäre eine noch größere Blamage gewesen, zu der es aber nicht kam, denn einer der Gentlemen schob ihn beiseite und sagte:
„Steckt diese Waffen wieder ein, Mr. Paper! Mit gewalttätigen Leuten spricht man anders!“
Er tat mit verbindlichem Lächeln zwei Schritte auf mich zu, machte mir eine noch verbindlichere Verbeugung und begann:
„Wir wünschen, uns Euch vorzustellen, Mr. Burton. Ich bin Agent, Agent für alles mögliche, und heiße Evening. Hier steht Mr. Bell, Simon Bell, Professor der Philosophie. Und da steht Ihr Mr. Edward Summer, der auch Professor ist, nämlich Professor der Klassikal-Philologie. Genügt Euch das?“
Man sah es ihm an, daß er erwartete, mir außerordentlich imponiert zu haben, und ich gestehe auch gern ein, daß diese beiden Professoren bisher meine Hochachtung besaßen; gesehen hatte ich sie noch nie. Ich war also gern bereit, so höflich wie möglich zu sein und ihnen in jeder Weise entgegenzukommen, zumal diese vier Männer im Verein mit Old Surehand ja das Komitee bildeten, in dessen Hände das Schicksal des geplanten Winnetoudenkmals gegeben war. Ich verbeugte mich also ebenso verbindlich, wie er es getan hatte und antwortete:
„Ich fühle mich geehrt, so hervorragende Männer der Wissenschaft kennenzulernen, und erkläre mich bereit, dies, wenn ich Euch dienen kann, zu beweisen.“
„Das ist mir lieb, sehr lieb! Ich werde Euch sofort Gelegenheit geben, diesen Beweis zu führen. Wir sind nämlich in einer wichtigen Angelegenheit gekommen, diesen Platz hier zu besichtigen. Wir glaubten, niemand hier zu finden. Eure Gegenwart ist uns störend.“
So unendlich höflich, wie er das sagte, so unendlich rücksichtslos war es auch. Ich sah die beiden Professoren an und antwortete nicht sogleich.
„Ihr versteht mich doch?“ fragte er.
„Gewiß“, erwiderte ich. „Es ist ja deutlich genug.“
„Nun?“
„Ihr wünscht, daß wir uns entfernen?“
„Ja.“
„Wir alle?“
„Alle!“
„Wie weit?“
„Welch eine Frage! Ich meine ganz selbstverständlich nicht nur zehn oder zwanzig oder fünfzig Schritte! Ihr sollt fort von hier, vollständig weg, weg, weg!“
„Wünschen das auch die Herren Professoren?“
Die Herren bejahten diese Frage sehr energisch, und der Agent fügte noch überdies erklärend hinzu:
„Ihr scheint ein übermäßig gewalttätiger Mann zu sein. Unsere Angelegenheit aber ist eine so zarte, feine und diskrete, daß Ihr ganz gewiß an keine Stelle paßt, an der wir uns befinden.“
„Das sehe ich ein, Mr. Evening; ja wirklich, das sehe ich ein. Wir werden diesen Platz also verlassen.“
„Nicht nur zum Schein?“
„Nein.“
„Und wann?“
„Sofort. Ich bitte nur um soviel Zeit, als wir nötig haben, das Zelt abzubrechen und die Pferde zu satteln.“
„Die sei Euch gern gewährt. Ich sehe, Ihr seid vernünftiger, als wir dachten!“
Ich wendete mich mit meiner Frau nach dem Zelt und bat die beiden Enters, uns zu helfen.
„Wie schade! jammerschade!“ klagte das Herzle leise. „Diese uns so heilige Stätte in dieser Weise verlassen zu müssen!“
Ich sah ihr an, das Weinen stand ihr nahe.
„Sei ruhig, Schatz!“ bat ich. „Wir kommen auf dem Rückweg wieder her, und gewiß in anderer Weise und in anderer Begleitung!“
„Aber muß es denn sein? Müssen wir denn weichen? Grad diesen Menschen weichen? Haben wir nicht ein viel, viel größeres Recht, hier zu sein, als sie? Ist es nicht vielleicht eine Schwäche von dir?“
„Im Gegenteil, ein Sieg.“
„Da möchte ich dich fast bitten, mir dies zu beweisen!“
„Ist gar nicht nötig, du wirst es ganz von selbst einsehen, und zwar noch ehe wir gehen. Wir liefern hier unser erstes, bedeutendes Avantgardegefecht für unser Ideal. Du wirst den Sieg bald sehen, vielleicht auch hören! Ich bitte, dich mit dem Einpacken soviel wie möglich zu beeilen!“
Mit diesem Einpacken ging es bedeutend schneller, als wir dachten. Die Herren vom Komitee hatten die Güte, uns einige von ihren Hands zur Hilfe zu stellen, so daß wir grad fertig und zum Aufbruch bereit waren, als Aschta, die Mutter und Aschta, die Tochter mit Pappermann aus dem Wald zurückkehrten. Sie kamen Hand in Hand, er in der Mitte, auf beiden Seiten von Mutter und Tochter geführt. Sein altes, liebes Gesicht strahlte im Ausdruck einer tiefen, reinen, heiligen Freude. Als er die Maultiere bepackt sah, uns beiden Pferden stehend und den „Jungen Adler“ sogar schon im Sattel sitzend, rief er verwundert aus:
„Was ist das? Wollt ihr etwa fort?“
„Ja, fort“, antwortete ich. „Steigt auf!“
„Unmöglich! Ich habe versprochen, zu bleiben!“
„So bleibt! Wort muß man halten! Ich aber habe versprochen, den Nugget-tsil zu verlassen, und zwar sofort.“
„Wem?“
„Den Gentlemen da.“
Ich deutete dabei auf die Herren vom Komitee.
„Wir sind ihnen zu gewalttätig!“ fügte Hariman Enters hinzu, um seinem Ärger Luft zu machen.
„Nicht zart, nicht fein, nicht diskret genug!“ vervollständigte Sebulon Enters. „Sie meinen, daß Mr. Burton an keine Stelle paßt, an der sie sich befinden!“
„Das ist eine Lüge, eine ganz unverschämte, flegelhafte Lüge!“ brauste Pappermann auf. „Mr. Burton ist ein Gentleman, wie es hier unter uns wohl keinen –“
„Still!“ unterbrach ich ihn. „Wem habt Ihr versprochen, hierzubleiben?“
„Wie lange hierzubleiben?“
„Das wurde nicht gesagt. Gewiß aber war gemeint, bis wenigstens morgen. Wir haben uns soviel zu erzählen. Müßt Ihr wirklich fort, wirklich?“
„Ja, unbedingt! Ihr könnt ja hierbleiben und morgen nachkommen!“
„Was? Euch allein lassen, Euch und Mrs. Burton? Da wäre ich ja der größte Halunke, den es gibt! Nein, nein! Ich reite mit! Ich bitte die Ladies, mir mein Wort zurückzugeben! Sie werden es tun, gewiß, gewiß! Denn ich verspreche ihnen, daß wir uns bald, sehr bald wiedersehen!“
Er küßte ihnen in bärenhafter, aber um so rührender Zartheit die Hände und ging zu seinem auch schon gesattelten Maultier. Da richtete sich die Mutter hoch auf und fragte mit lauter, gebieterischer Stimme über den Platz hinweg:
„Was ist hier geschehen? Ich will es wissen, ich, das Weib Wakons, des Unbestechlichen, der sich weigerte, Mitglied dieses Komitees zu sein! Wer sagt es mir, wer?“
„Der wird es dir sagen, der da kommt“, antwortete ihre Tochter, indem sie auf den „jungen Adler“ deutete, der sein Pferd in tänzelndem Schritt nach der Stelle trieb, wo beide standen.
Als er sie erreicht hatte, rief er mit weithin vernehmbarer Stimme:
„Ich bin ein Winnetou vom Stamm der Apatschen. Ich kehre aus den Wohnorten der Bleichgesichter heim zur Stätte meiner Ahnen. Man nennt mich den jungen Adler – –“
„Der junge Adler – – der junge Adler – – der junge Adler!“ raunte es von Mund zu Mund. Man kannte diesen Namen, obgleich sein Träger noch so jung an Jahren war.
Er fuhr fort:
„Ich erkläre hiermit im Namen aller Winnetous vom Stamm der Apatschen, daß dieses Komitee nicht würdig ist, die große Frage, vor deren Lösung wir hier stehen, zu entscheiden! Der Schlag in das Gesicht war wohl verdient, war die einzig richtige Antwort, die es gab! Nicht nur Antonius Paper, sondern das ganze Komitee hat ihn erhalten. Ich habe gesprochen. Howgh!“
Er nahm sein Pferd vorn hoch, um den Platz zu verlassen.
„Auch du willst fort?“ fragte die Mutter.
„Auch ich? Vor allen Dingen ich! Doch sehen wir uns wieder“, antwortete er.
„Wann und wo?“ fragte die Tochter.
„Am Mount Winnetou.“
Diese beiden Fragen und Antworten wurden nicht in englischer Sprache, sondern im Apatsche ausgesprochen. Die Mutter fügte in leiserem Ton hinzu:
„Du bist ein Liebling Wakons, meines Gatten. Du wirst auch ihn am Mount Winnetou sehen. Kommst du vielleicht schon vor den Tagen der Ausstellung zu Tatellah-Satah?“
„Ich hoffe es.“
„So sag ihm, daß Aschta, das Weib Wakons und zugleich die Tochter des größten Medizinmannes der Seneca, im Kampf gegen den Unverstand mit allen Frauen der roten Rasse an seiner Seite steht.“
„Ich danke dir in seinem Namen. Wie kommt es, daß ihr trotzdem mit dem Komitee dieses Unverstandes reitet?“
„Der Zufall führte uns mit ihnen zusammen. Sie hingen sich an uns, obgleich wir das nicht wünschten. Sie wollen erfahren, was wir in unserm Campmeeting am Mount Winnetou beraten und beschließen werden. Wir teilen es ihnen nicht mit. Wir übergeben dir unsern Freund und Retter und bitten dich, über ihn zu wachen. Wer ist das Bleichgesicht, welches sich mit seiner Squaw bei dir befindet?“
„Hat Pappermann es euch nicht gesagt?“
„Nein. Wir fragten ihn, aber er schwieg. Doch scheint er diese beiden sehr, sehr hochzuachten.“
Ich hielt so nahe bei ihnen auf dem Pferd, daß ich diese Worte hörte. Die Mutter glaubte, von mir, dem Weißen, nicht verstanden zu werden. Der „junge Adler“ warf einen fragenden Blick herüber.. Er hätte den beiden Frauen gar so gern gesagt, wer ich war. Ich gab ihm mit den Augenlidern die Erlaubnis dazu. Da trieb er sein Pferd noch einen Schritt weiter an sie heran und sprach:
„Wenn dieser Weiße und seine Squaw nicht erfahren sollen, was ihr jetzt mit mir redet, so müßt ihr leiser sprechen.“
„Warum?“
„Er versteht die Sprache der Apatschen.“
Sie erschrak.
„So hat er uns ja schon verstanden!“ hauchte sie schnell und verlegen.
„Allerdings, und zwar jedes Wort. Aber du hast nicht nötig, zu erschrecken. Er ist ein Freund Winnetous, und er ist auch der deinige, der Eurige. Er will nicht, daß man jetzt schon seinen Namen erfährt; aber wenn ihr mir versprecht, verschwiegen zu sein, so darf ich ihn euch nennen.“
„Wir werden verschwiegen sein!“
„Nun wohl, es ist Old Shatterhand.“
„Old Shat – – –!“ Sie konnte den Namen vor Ueberraschung nicht ganz aussprechen. Sie erbleichte für einen Augenblick. Dann rötete sich unter der zurückkehrenden Blutwelle ihr Gesicht um so mehr. „Ist das wahr? – Ist das wahr?“
„Ja, es ist wahr; er ist es“, versicherte der „Junge Adler“.
„Der beste, der wahrste, der treueste Freund und Bruder unseres Winnetou! Zum ersten Mal im Leben sehe ich ihn! O könnte ich – – könnte ich – –!“
Sie sprach auch diesen Satz nicht ganz aus. Sie schlug die Hände zusammen und schaute wie hilflos zu mir empor. Ihre Tochter aber trat zu mir heran und küßte, ehe ich es verhindern konnte, meinen Steigbügelriemen. Ebenso schnell zog sie auch den Rocksaum meines Herzle an die Lippen.
„Und das ist seine Squaw – – – seine Squaw!“ fuhr die Mutter fort. „O, hätte ich doch nicht versprochen, zu schweigen! Ich würde vor Freude jubeln, jubeln, jubeln!“
Da schwang das Herzle sich vom Pferd, umarmte sie, küßte sie auf Mund und Wangen und sagte in englischer Sprache:
„Ich verstehe nicht, was Ihr sprecht, aber ich lese es aus Euren Augen und von Euren Lippen. Ich liebe euch beide! Ich begrüße euch! Wir sehen uns wieder, bald, bald! Jetzt aber müssen wir fort!“
Sie gab der Tochter denselben dreifachen Kuß wie der Mutter und stieg dann wieder auf das Pferd. Ich reichte den beiden lieben, schönen Indianerinnen die Hand und sagte:
„Wakon, der unermüdliche Forscher und Finder, steht hoch in meinem Geist und noch höher in meiner Seele; denn es ist die Seele seiner Nation, nach der er sucht. Ich freue mich, gehört zu haben, daß ich ihn am Mount Winnetou sehen werde. Und ich bin stolz darauf, schon heut seiner Squaw und seiner Tochter begegnet zu sein. Am meisten aber beglückt es mich, zu wissen, daß wir Verbündete sind. Das Andenken Winnetous gehört in die Herzen unserer Männer und Frauen, in die Seelen unserer Völker, nicht aber auf die kahlen, windigen Höhen prahlerischer Oeffentlichkeit. Ich bitte, zu verschweigen, daß ihr mich hier getroffen habt. Wir sehen uns wieder! Zur rechten Zeit an der richtigen Stelle!“
Wir ritten fort, mit höflichem Gruß für die Frauen, doch ohne einen Blick für die Männer. Es ging langsam dieselben Steilungen hinab, die wir heraufgekommen waren. Unten sahen wir die Pferde derer stehen, die uns vertrieben hatten; sie kümmerten uns nicht. Dann, als der Weg eben wurde und wir aus dem Wald herauskamen, konnten wir eine größere Schnelligkeit entwickeln und unsern Ritt beeilen. Denn nun wir einmal den Nugget-tsil verlassen hatten, galt es, unser nächstes Ziel, den Deklil-to so bald wie möglich zu gewinnen, weil der größte Teil der Strecke zwischen hier und dort aus feindlichem Land bestand. Die alten, blutrünstigen Zeiten waren ja, Gott sei Dank, vorüber, aber der Haß, der damals regierte, war noch nicht tot; der lebt heute noch. Das war sehr deutlich aus den Briefen zu ersehen, die ich von To-kei-chun, dem Häuptling der Racurroh-Komantschen, und von Tangua, dem ältesten Häuptling der Kiowa, erhalten hatte. Unser Weg führte durch das Gebiet dieser beiden Stämme, und ich war mir sehr wohl bewußt, daß ich, wenn auch keinen wirklichen Leichtsinn, aber doch gewiß ein Wagnis beging, indem ich mit meiner Frau, die den doch immerhin möglichen Gefahren nicht gewachsen sein konnte, grad diese schlimme Gegend durchquerte. Ich hatte kein ganz gutes Gewissen, hütete mich aber, ihr dies zu sagen.
Sie hatte keine Ahnung von diesen meinen Gedanken. Sie war ganz unbefangen. Ja, noch mehr, sie war sogar sehr heiter. Während wir auf ebenem Boden im köstlichen Galopp nebeneinander dahinflogen, warf sie mir von der Seite her zuweilen einen heimlich sein sollenden Blick zu, den ich aber doch wohl bemerkte. Ich verstand diese Blicke. Sie kann kein Unrecht ertragen, auch dann, wenn dieses Unrecht nicht in einer Tat, sondern nur in einem Gedanken besteht. Es muß heraus. Sie muß es bekennen. Eher läßt es ihr keine Ruhe. Sie hatte jetzt so etwas, was sie loswerden wollte. Daher ihre Blicke. Endlich, als sie wieder einmal so forschend herüberschaute, sah ich ihr voll in das Gesicht und forderte sie lachend auf:
„Na also, heraus damit!“
„Womit?“ fragte sie.
„Mit dem Geständnis!“
„Geständnis? Was sollte ich wohl zu gestehen haben?“
„Irgend Etwas.“
„Aber was?“
„Das hoffe ich von dir zu erfahren!“
„So? Höre, was hältst du wohl von einer Ehe, in welcher die arme, unglückliche Frau ihren Mann nie ansehen darf, weil er bei jedem Blick, den sie auf ihn richtet, glaubt, sie habe ihm ein Geständnis zu machen?“
„Meine Meinung lautet dahin, daß diese arme, unglückliche Frau sehr glücklich verheiratet ist, denn sie hat einen Mann, der sie kennt und durchschaut!“
„Hm! Der aber trotzdem nicht weiß, was sie ihm bekennen und gestehen soll, denn er sagt immer nur: Ich hoffe, es von dir zu erfahren! Leider ist es in diesem jetzigen, einen, einzigen Fall endlich, endlich einmal richtig, daß ich dir Abbitte zu leisten habe. Ich war nicht einig mit dir. Wenn auch nur im Stillen, aber doch.“
„Nicht einig? Inwiefern?“
„Ich wäre so gern da oben geblieben. Ich wollte nicht weichen. Ich hielt es wirklich für eine Schwäche von dir, ihnen Platz zu machen.“
„Und aber nun?“
„Ja, aber nun! Du hattest Recht! Wären wir geblieben, so hätte es nur Gehässigkeiten gegeben, herüber und hinüber. Also eher eine Niederlage, als einen Sieg. Auch an eine ruhige Durchsicht der ausgegrabenen Manuskripte wäre nicht zu denken gewesen. Hier aber sind wir frei, ohne Zank und Streit und Bitterkeit, und – – das erste, große Avantgarde-Gefecht, von dem du sprachst, ist gewonnen.“
„Das siehst du ein?“
„Aber gern, sehr gern! Diese ältere Aschta, die Frau Wakons, hat mir imponiert. Sie ist ein Charakter, eine groß angelegte Frau. Kein einziges von all den Komiteemitgliedern reicht geistig an sie heran. Die ist wahrlich nicht nach dem Mount Winnetou unterwegs, um dort Suffragettenreden zu halten! Die weiß, was sie will! Aber sie sagt es nicht; das imponiert mir ganz besonders! Indem du dich vertreiben ließest, hast du dir in ihr eine Helferin gewonnen, die nicht zu unterschätzen ist.“
„Ja“, lachte ich fröhlich, „es wird eine Amazonenschlacht zwischen ihr und dem Komitee! Ich bin außerordentlich gespannt auf die Entwicklung, der wir nicht etwa nur als Zuschauer entgegengehen, sondern an der wir als Mitwirkende sehr eng beteiligt sind. Wir hörten, daß Kiktahan Schonka ein unerbittlicher Feind von Wakon ist. Ich vermute, daß Wakon an der Spitze der jungen Sioux ebenso nach dem Mount Winnetou kommen wird, wie Kiktahan Schonka die alten Sioux nach dem dunklen Wasser führt. Zwei feindliche Richtungen desselben Stammes, die auf fremdem Gebiet aufeinanderplatzen! Wie kurzsichtig! Grad hieran ging die Rasse zugrunde! Dem muß gesteuert werden! Also du bist wieder einverstanden mit mir?“
„Vollständig. Wo lagern wir heute abend?“
„An der Nordgabel des Red River. Morgen kommen wir an die Salzgabel desselben Flusses, an welcher damals das Dorf der Kiowas lag. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Wir werden aber trotzdem die Stelle vermeiden, um unser möglichstes zu tun, Niemandem zu begegnen.“
Es geschah, wie ich gesagt hatte. Wir erreichten gegen Abend die Nordgabel des roten Flusses und machten an ihrem Wasser Lager. Sehr interessant war, was wir während unseres Gespräches da von Pappermann erfuhren. Er hatte nämlich während seiner Unterhaltung mit den beiden Aschtas aus einigen Äußerungen der Mutter geschlossen, daß der Kassierer Antonius Paper bemüht gewesen war, sich um die Hand der Tochter bewerben zu dürfen. Man hatte ihn rundweg abgewiesen, und nun benutzte er jede Gelegenheit, hierfür in seiner ihm eigenen Weise Rache zu nehmen.
Als der Alte dies erzählte, beobachtete ich den „jungen Adler“. Er tat, als ob er es gar nicht höre. Er sagte kein Wort und bewegte keinen Zug seines Gesichtes. Aber grad diese Unbeweglichkeit sprach deutlicher, als lauter Zorn hätte sprechen können.
Noch ehe wir uns an diesem Abend schlafen legten, beschrieb ich meinen Gefährten den Weg, den ich damals, um Sander zu verfolgen, von dem Dorf der Kiowas gemacht hatte. Von da aus nach dem Rio Pecos und von dort hinauf nach dem „dunklen Wasser“. Es gab von der Stelle aus, an der wir uns heute befanden, einen direkteren, einen näheren Weg. Schlugen wir diesen ein, so konnten wir uns sofort von hier aus nach West wenden, ohne erst nach der Salzgabel des Red River zu reiten. Ich hatte damals nur darum nicht den kürzeren, sondern den weiteren Weg gemacht, weil er von Sander, den ich verfolgte, eingeschlagen worden war. Ich stellte es nun jetzt meinen Begleitern anheim, sich eine von beiden Routen zu wählen. Sie waren so klug, sich für die kürzere zu entscheiden, und so kam es, daß wir eher in die Nähe des Zieles gelangten, als sie andernfalls von uns erreicht worden wäre.
Die Gegend, durch welche wir zuletzt ritten, war öd und wasserlos. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm erfreute das Auge. Es gab nur Stein und Felsen, weiter nichts. Das Gelände war bisher ziemlich eben gewesen, begann aber nun, langsam zu steigen. Es war schon Mittag. Wir hielten aber nicht an, um zu essen oder auszuruhen, denn es fehlte das Wasser, auf das wir erst später, wenn wir höher hinaufkamen, rechnen durften. Da sahen wir einen Reiter, weit vor uns draußen, der hinter einer kleinen Anhöhe verborgen gewesen war und nun langsam hervorkam, um uns entgegen zu reiten. Er hatte uns von diesem seinem Versteck aus beobachtet. Warum blieb er nicht verborgen? Warum kam er schon jetzt hervor? Er konnte uns ja noch gar nicht genau erkennen. Ein erfahrener Krieger hätte gewartet, bis er uns in größerer Nähe hatte. Lag der Grund etwa nur darin, daß die alten Zeiten der Gefahr vorüber waren und man darum überhaupt nicht mehr so vorsichtig zu sein brauchte wie früher?
Es war ein Indianer. Er lenkte sein Pferd langsamen Schrittes auf uns zu. Dann hielt er an, um uns an sich kommen zu lassen. Er war keineswegs von hoher, breiter, sehniger Gestalt, sondern eher klein als groß zu nennen. Seine Kleidung bestand aus buntem Pueblostoff. Unter dem aus Agavefasern geflochtenen Hut floß das dunkle Haar lang auf den Rücken hernieder. Im Gürtel trug er ein Messer, am Riemen ein leichtes Gewehr. Sein Pferd war kein gewöhnlicher Gaul, und die Haltung des Reiters durfte als selbstbewußt, ja, ich möchte sagen, als indianisch-edel bezeichnet werden. Das Gesicht, ganz selbstverständlich vollständig bartlos, wollte mir bekannt erscheinen; nur wußte ich nicht gleich, warum, woher und wohin. Er hatte weichere Linien und eine hellere, wärmere Farbe, als Indianer gewöhnlich zu haben pflegen. Und der Blick seines milden, ernsten, offenen Auges, welches fast an Winnetous Schwester Nscho-tschi erinnerte – ah, da kam es mir, da wußte ich es mit einem Mal, wo und wann ich diesen Indianer gesehen hatte! Und in demselben Augenblick wurde ich auch von ihm erkannt. Ich war zufällig am Ende unseres kleinen Trupps geritten. Darum traf mich sein Auge zu allerletzte Es vergrößerte sich unter dem Eindruck der Überraschung, der Freude. Die Wangen röteten sich zusehends, fast wie bei einem jungen Mädchen, dem von dem erregten Puls das Blut in das Gesicht getrieben wird. Er wollte das zwar verbergen, brachte es aber nicht fertig, während er es aber mir ganz gewiß nicht ansehen konnte, daß ich mich seiner erinnerte. Ich konnte mich beherrschen, er aber nicht; ich war ja ein Mann; er aber war keiner. Und nun wußte ich auch, warum er so gegen alle männliche Vorsicht nicht versteckt geblieben, sondern auf uns zugeritten war! Er sah fast verlegen aus und vergaß, uns anzureden. Darum ergriff Pappermann, der an unserer Spitze ritt, das Wort. Er hielt sein Pferd an und sagte:
„Wir grüßen unsern roten Bruder. Ist das der richtige Weg nach dem Pa-wiconte?“
Der Gefragte antwortete:
„Ich gehöre zu dem Stamm der Kiowas. Pa-wiconte aber ist ein Siouxwort, doch kenne ich es ja, dieser Weg ist der richtige nach dem See. Wollen meine Brüder hin?“
„ja.“
„So warne ich sie.“
„Warum.“
„Pa-wiconte heißt Wasser des Todes. Reitet ihr hin, so kann der See allerdings sehr leicht zu einem Wasser des Todes für euch werden.“
Pappermann hatte in seinem indianisch-englischen-spanischen Kauderwelsch gefragt; die Antwort war ihm in einem ziemlich guten Englisch geworden. Die Stimme des Kiowa klang wie die Stimme einer Frau, die sich bemüht, tief wie ein Mann zu sprechen.
„Warum drohst du uns mit dem Tod?“ erkundigte sich der alte Jäger.
„Ich drohe nicht, sondern ich warne“, erwiderte der Rote.
„Beides ist gleich, wenn wir nur den Grund erfahren!“
„Gründe, wie dieser, sind nicht billig. Man teilt sie nur den besten Freunden mit.“
„Wir sind deine Freunde!“
„Das sagst wohl du; ich aber kenne dich nicht.“
„So wisse, wer wir sind: Ich heiße Maksch Pappermann und bin schon vierzig Jahre lang als Westläufer bekannt. Da sind zwei Gentlemen, die Hariman und Sebulon Enters heißen. Der dritte Gentleman dort hinten ist Mr. Burton, und die Lady hier ist Mrs. Burton, seine Frau. Und unser roter Bruder da an meiner Seite ist ein Sohn der Apatschen und wird der junge Adler genannt.“
Der Kiowa sah uns in der Reihenfolge, in der wir nacheinander aufgezählt wurden, mit scharfem, forschendem Auge an. Nur bei mir ließ er den Blick sinken. Bei meiner Frau war es, als ob er sie durchbohren wolle. An den „jungen Adler“ ritt er nahe heran und sprach:
„Man erzählt bei uns von einem jungen Adler der Apatschen, welcher aus dem Stamm Winnetous und sogar sein Verwandter ist. Bist du etwa dieser?“
„Ich bin es“, antwortete unser Begleiter.
„Du hast diesen Namen schon als Knabe bekommen, weil du einen f reien Kriegsadler fesseltest und ihn zwangst, dich durch die Luft vom hohen Horst zur Erde zu tragen. Ist das richtig?“
„Es ist richtig.“
„So reiche ich dir meine Hand. Ich sehe den Stern der Winnetou auf deiner Brust. Auch ich bin ein Winnetou, doch habe ich jetzt noch Grund, es nur wenige sehen zu lassen. Schau her! Vertraust du mir?“
Er hob den Auf schlag seiner Jacke; da kam der zwölfstrahlige Stern zum Vorschein.
„Ich vertraue dir!“ versicherte der „junge Adler“.
„So erlaube mir, euer Führer zu sein! Ich habe euch erwartet.“
„Du – –? Uns – –?“ fragte der Apatsche. „Unmöglich!“
„Es ist nicht nur möglich, sondern wirklich. Glaube es mir!“
Der „junge Adler“ schien doch irre werden zu wollen. Ein Angehöriger der feindlichen Kiowas! Der Stern konnte leicht den Zweck haben, böse Absichten zu verdecken! Ich bekam einen schnellen, fragenden Blick herübergeworfen und gab mit einem bejahenden Augenzwinkern heimliche Antwort. Da entschied der „junge Adler“:
„Ja, sei unser Führer!“
Er wollte weitersprechen, kam aber nicht dazu, denn Sebulon Enters richtete die schnelle, ganz unvorbereitete Frage an den Kiowa:
„Sind die Sioux schon da?“
„Was für Sioux?“ fragte dieser.
„Die von dem alten Häuptling Kiktahan Schonka angeführt werden und nach dem Pa-wiconte wollen. Und die Utahs mit ihrem Anführer Tusahga Saritsch?“
Da verschwand der freundliche Ausdruck aus dem Gesicht unseres neuen Bekannten; sein Blick wurde schärfer, und er fragte:
„Kennt Ihr diese beiden Häuptlinge?“
„Ja“, antwortete Enters.
„Ich hörte, ihr seid Brüder?“
„Die sind wir.“
„Kiktahan Schonka hat euch nach dem Pa-wiconte gesandt?“
„Ja.“
„So beeilt euch, schleunigst hinzukommen! Ihr werdet dort erwartet. Meldet euch bei Pida, dem Häuptling der Kiowas, dem Sohn des alten berühmten Häuptlings Tangua! Der wird euch zu Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch bringen.“
„Beeilen sollen wir uns? Warum?“
„Das weiß ich nicht. Es wurde mir gesagt.“
„Aber was wird dann aus euch? Wann und wo treffen wir euch wieder?“
Diese Frage wurde an mich und meine Frau gerichtet. Ich antwortete:
„Sorgt euch nicht um uns! Wenn ich euch jetzt verspreche, daß ihr uns zur rechten Zeit und an der richtigen Stelle treffen werdet, so werde ich ebenso Wort halten, wie ich in Beziehung auf die Teufelskanzel Wort gehalten habe. Reitet also getrost weiter! Ihr könnt euch auf jedes Wort, welches hier dieser Kiowa euch sagt, verlassen.“
„Und dieser Pa-wiconte ist wirklich das dunkle Wasser, in dem unser Vater starb?“
„Ja. Ihr habt die Beschreibung der Örtlichkeit in meinem Buch gelesen. Ihr werdet sie sofort erkennen.“
„Aber der Weg ist uns unbekannt. Wie lange reitet ihr noch mit?“
Da antwortete der Kiowa schnell an meiner Stelle:
„Ihr reitet von jetzt an allein. Die andern weichen von der bisherigen Richtung ab. So will des Kiktahan Schonka, und dem habt ihr zu gehorchen! Euer Weg braucht euch nicht zu sorgen. Er geht genau geradeaus. Sobald ihr in die Nähe des Sees gelangt, werdet ihr auf Posten treffen, welche euch zu Pida führen.“
Er sagte das in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Die beiden Enters gehorchten. Sie trennten sich von uns und ritten weiter. Es schien, als ob sie uns nur ungern verließen, obgleich sie doch darauf gefaßt gewesen waren, sich von uns scheiden zu müssen, um uns an die Feinde zu verraten. Als sie außer Hörweite waren, wendete sich der Kiowa an den „jungen Adler“:
„Kennt mein Bruder diese zwei Männer?“
„Wir kennen sie genau“, nickte dieser.
„Wißt ihr, daß sie eure Feinde sind?“
„Ja.“
„Daß sie euch an Kiktahan Schonka auszuliefern haben?“ „Auch das wissen wir.“
„Und dennoch reitet ihr mit ihnen? Uff, uff! Das ist ganz genau wie einst Winnetou oder Old Shatterhand! Lieber mitten in der Gefahr, als nur an ihrem Rande!“
Bei diesen Worten glitt ein warmer Seitenblick über mich hin. Dann fuhr er fort:
„Aber warum begleitet ihr sie nach dem See, der euch Verderben droht? Etwa nur, um sie zu entlarven und zu bestrafen? Nein! Ihr hattet auch noch andere, wichtigere Gründe. Darf ich sie erraten?“
„Tue es!“
„Ihr wolltet die Zusammenkunft der Kiowas und Komantschen mit den Sioux und Utahs belauschen. Habe ich recht?“
„Mein roter Bruder scheint sehr scharf zu denken!“
Jetzt lächelte der Kiowa und sagte: „Pida, der Freund Old Shatterhands, denkt noch viel schärfer!“ „Bist du etwa sein Abgesandter? Handelst du in seinem Auftrag?“
Da hob der Kiowa seine schönen, ehrlichen Augen zu mir empor und antwortete:
„Nein! Er weiß nichts von dem, was ich tue. Er ist der Häuptling seines Stammes und der Sohn seines Vaters. Als dieses beides hat er Euer Feind zu sein. Aber er liebt Old Shatterhand, und er verehrt ihn wie keinen anderen Menschen. Darum wünscht er in seinem Herzen, daß Old Shatterhand, wie er immer siegte, so auch jetzt wieder siegen möge, aber nicht mit den Waffen, sondern in Liebe und Versöhnung. Er will nicht wissen, was ich tue; darum tue ich, was ich will, ohne ihn zu fragen. Ich führe euch nach dein besten Ort, den es für euch und eure Absichten gibt.“
„Nicht nach dem Wasser des Todes?“
„O doch! Aber auf einem Umweg, damit man euch nicht sehe. Auf diesem gelangt ihr nicht nur an das Wasser des Todes, sondern auch an das Haus des Todes. Fürchtet ihr euch vor Geistern?“
„Nur Lebende sind zu fürchten, nicht aber die Toten. Ich hörte noch nie von einem Haus des Todes. Wo liegt es?“
„Am See. Es war unbekannt. Es wurde erst vor zwei Jahren entdeckt. Man fand es voller Gebeine aus uralter, uralter Zeit, mit zahllosen Totems, Wampums und anderen heiligen Dingen. Das alles hat man geordnet, wohl mehrere Wochen lang. Dann wurde das Kalumet des Geheimnisses darüber geraucht, und Niemand mehr darf es betreten. Wer es dennoch wagt, sich der Stelle des Ufers zu nähern, die nach dem Haus führt, wird von den Geistern derer, die einst hier starben, getötet.“
„Und dennoch willst du es wagen?“
„Ja.“
„Welch ein Mut!“
Es war nicht zu ersehen, ob der „junge Adler“ diesen Ausruf ernst oder ironisch meinte. Der Kiowa sah vor sich nieder, hob dann schnell den Kopf und antwortete lächelnd:
„Allein würde ich es nicht tun; mit Euch aber kann mir nichts geschehen. Das weiß ich so genau, als hätte ich es aus dem Mund unseres großen guten Manitou selbst gehört. Ihr kennt mich nicht. Ihr dürft mir wohl mißtrauen. Aber ich bitte Euch, mir dennoch zu folgen! Ich kann Euch keine andere Sicherheit als höchstens nur die Frage geben: Kennt Ihr vielleicht Kolma Putschi?“
„Ja.“
„Sie ist meine Freundin. Und kennt Ihr vielleicht gar auch Aschta, die Squaw von Wakon, des berühmtesten Mannes der Dakotastämme?“
„Auch diese.“
„Wir wohnen weit voneinander entfernt, aber wir verkehren öfters durch besondere Boten. Ich hoffe, beide in nächster Zeit persönlich zu sehen, trotz der Feindschaft, die zwischen unseren Völkern waltet. Habt Ihr nun Vertrauen zu mir?“
Diese Mühe, uns Zuversicht einzuflößen, war rührend. Wer weiß, was er alles wagte, um uns zu Diensten zu sein! Und er schien gar nicht zu ahnen, daß er dadurch, daß er diese beiden Frauen seine Freundinnen nannte, sich selbst als Weib bezeichnete. Ich antwortete:
„Wir haben Vertrauen. Wir hatten es gleich vom ersten Augenblick an, als wir dich sahen. Führe uns also! Wir werden dir folgen.“
„So kommt!“
Die beiden Enters hatten sich schon eine große Strecke entfernt. Wir folgten zunächst langsam ihrer Spur, damit sie nicht sehen möchten, nach welcher Seite wir ritten, und erst als sie am Horizont verschwunden waren, wichen wir von unserer bisherigen Richtung nach rechts ab, weil wir, um nach dem „Haus des Todes“ zu kommen, nicht in direkter Linie nach dem See zu trachten hatten, sondern ihn umgehen mußten. Der Kiowa ritt voran, und Pappermann hielt sich an seiner Seite, jedenfalls um ihn auszufragen und kennen zu lernen. Ich hörte, daß er sich zunächst bei ihm erkundigte, woher er die Brüder Enters kenne.
„Ich kenne sie nicht“, lautete die Antwort. „Aber Kiktahan Schonka hat einen Boten gesandt, um seine Ankunft zu melden. Er ließ durch diesen Boten sagen, daß zwei Bleichgesichter eintreffen würden, die Brüder seien und sich verpflichtet hätten, Old Shatterhand, seine Squaw, einen alten, weißen Jäger, der ein blaues Halbgesicht habe, und den jungen Adler der Apatschen an die Sioux auszuliefern; diese Vier seien dem sicheren Tod geweiht. Da machte ich mich auf, sie zu retten. Ich entfernte mich einen halben Tagesritt vom See und blieb an einer Stelle, an der sie vorüber mußten, sobald sie kamen. Ich wartete gestern und heut. Da sah ich euch erscheinen. Die Zahl stimmte: Ein Indianer, vier weiße Männer und eine weiße Squaw. Ich ritt auf euch zu und nahm mir vor, euch vor allen Dingen von den gefährlichen Brüdern zu trennen. Das ist geschehen.“
„So glaubt Ihr also, Mr. Burton sei Old Shatterhand?“
„Ja. Irre ich mich?“
„Fragt ihn selbst!“
„Das ist nicht nötig. Wäre er es nicht, so hättet Ihr sogleich mit einem Nein geantwortet. Die Auskunft, die Ihr nicht gegeben habt, ist also deutlich genug.“
Weiter war nichts zu hören, weil die beiden Voranreitenden jetzt den Schritt ihrer Pferde beschleunigten. Aber das Herzle sagte zu mir:
„So ist es mit deinem Inkognito also vorbei!“
„Noch nicht“, antwortete ich.
„Glaubst du, daß dieser Kiowa schweigt?“
„Wenn ich es wünsche, ja.“
„Gewiß!“
„Mir auch. Weißt du, er hat so etwas Aufrichtiges und zugleich Wehmütiges an sich. Die Wehmut blickt allerdings fast aus jedem indianischen Auge, aber hier tritt sie doppelt deutlich hervor. Es ist, als ob dieser Mann einen tiefen, andauernden Gram in sich trage. Man sollte helfen können! – Meinst du nicht?“
„Hm! Mein Herzle möchte freilich gern allen Leuten helfen, doch ist innerem Kummer nicht so leicht beizukommen, wie du denkst. Man muß ihn vor allen Dingen erst kennenlernen, und du weißt, die Indianer sind verschwiegen.“
„Oh, was das betrifft, da kennst du mich. Was ich einmal wissen will, das frage ich gewiß heraus!“
„Ja, leider, leider!“
„Sogar aus Indianern!“
„Gewiß, gewiß! Ich kenne dich! Du fragst es heraus, ganz gleich, ob die Menschen weiß oder rot, gelb, grün oder blau aussehen! Aber der hier ist verschwiegen.“
„Denkst du?“
„Ja. Der sagt dir nichts!“
„Hm! Wollen wir wetten?“
„Ich wette nie. Das weißt du doch.“
„Was zahlst du mir, wenn ich schon morgen früh seinen ganzen Kummer kenne?“
„Was forderst du?“
„Nochmals fünfzig Mark für unser Radebeuler Krankenhaus!“
„Kind, werde mir nicht zu teuer!“ rief ich erschrocken aus. „Wieviel zahlst du denn, wenn du morgen früh nichts erfahren hast?“
„Das doppelte, nämlich zur Strafe hundert Mark!“
„Das ist freilich höchst anständig, ja sogar nobel! Das Krankenhaus könnte also bei dieser Wette nur gewinnen. Aber woher nimmst du die hundert Mark?“
„Von meinem Kredit bei dir!“
„Ich danke, danke! Für Wetten kreditiere ich keinen Pfennig. Versuche es dort mit dem alten Pappermann! Vielleicht gelingt es dir, ihn für dein Krankenhaus zu interessieren!“
„Der arme Teufel! Hat weder in seinem Hotel noch auf seinem Hotel noch etwas stehen! So sagte er doch wohl? übrigens bitte ich dich, ihn von dem Kiowa zu trennen.“
„Warum?“
„Weil ich von jetzt an hingehöre!“
„Ah? Du willst deine Forschung sogleich beginnen?“
„Ja. Ich muß unbedingt erfahren, was dieser Indianer auf dem Herzen hat. Denke dir, wenn man ihm helfen könnte! Also bitte, ruf Pappermann von ihm weg!“
Ich tat es mit heimlichem Vergnügen, denn es verstand sich für mich ganz von selbst, daß auch der Kiowa den herzlichen Wunsch hegte, sich an meine Frau zu machen und sie so gründlich wie möglich auszufragen. Diese beiden blieben von jetzt an während des ganzen Nachmittages beisammen. Sie fanden sichtlich Gefallen aneinander. Und ich hatte keinen Grund, sie dabei zu stören.
Das Terrain stieg höher und höher. Wir näherten uns zusehends den Bergen, zwischen denen das „Dunkle Wasser“ liegt. Gegen Abend sahen wir seitwärts von uns die Linie des Waldes, welcher den See verkündet. Dort hatten wir damals am Abend gelagert, ehe wir früh vollends bis an das Wasser geritten waren. Heut schlugen wir einen Bogen um Wald und See herum, überschritten einen breiten, aber nicht sehr tiefen Bach, welcher den Ausfluß des hochinteressanten Wasserbeckens bildete, ließen die Pferde hier trinken und lenkten sie dann zwischen steilen Felsen nach einer dicht bewaldeten Höhe empor, auf welcher die Stelle lag, die für heute unser Ziel zu bilden hatte. Das „Haus des Todes“ noch zu erreichen, war es zu spät, denn es dunkelte bereits so sehr, daß wir uns beeilen mußten, noch vor vollständiger Nacht das Zelt aufzuschlagen und aus Steinen eine Feuerstelle zu errichten, durch welche die Flamme für andere unsichtbar wurde. Uebrigens versicherte uns der Kiowa, daß wir hier oben vor Lauschern völlig bewahrt seien. Der Ort, an dem wir uns befanden, gehörte schon zu dem Gebiet, welches nicht betreten werden sollte. Es bedurfte nur noch eines kurzen Abstieges, um an das „Haus des Todes“ zu gelangen, doch war dieser Abstieg so steil, daß er während der Abenddämmerung nicht hatte gewagt werden können. Wir waren gezwungen, damit bis morgen früh zu waren. Unten am See lagerten, getrennt voneinander, die Kiowa und die Komantschen. Die Sioux und die Utahs waren noch nicht da, wurden aber für jeden Augenblick erwartet.
Während der „junge Adler“ die Pferde besorgte, errichtete ich mit Pappermann das Zelt. Der alte Westläufer befand sich in schlechter Laune. Er hustete und knurrte vor sich hin, als ob er etwas sagen wolle, aber den Anfang nicht finden könne. Darum fragte ich ihn direkt, was mit ihm sei.
„Was soll mit mir sein!“ antwortete er, doch so, daß ich es allein hörte. „Ich ärgere mich!“
„Worüber?“
„Und ich traue nicht!“
„Wem?“
„Warum?“
„Das fragt Ihr noch? Seht Ihr denn nichts, gar nichts? Habt Ihr nicht selbst auch Augen?“
„Wofür?“
„Wofür? Sonderbares Fragen! Worüber? Wem? Warum? Wofür? Und auf solche abgerisserte Silben soll man eine verständige Antwort geben können! Wißt Ihr, wie langes her ist, seit wir diesen Kiowa getroff enhaben?“
„Fast sechs Stunden.“
„Richtig!. Und was hat er in diesen sechs Stunden gemacht?“
„Uns hierher geführt.“
„Das meine ich nicht. Das war seine Pflicht. Er hat aber etwas getan, was ganz und gar nicht seine Pflicht gewesen ist! Ja, ganz und gar nicht! Aergert Ihr Euch nicht auch darüber?“
„Ich? Es ist mir nichts bekannt, worüber ich mich zu ärgern hätte!“
„So? Wirklich? Nichts, gar nichts? Ist das nichts, wenn dieser Indianer sechs volle Stunden lang unaufhörlich neben Eurer Lady reitet und derart mit ihr spricht, daß sie weder Augen noch Ohren für andere Leute hat, auch nicht für Euch selbst? Ist das wirklich nichts?“
Also das war es! Er war eifersüchtig auf den Kiowa! Er hatte meine Frau gern, sehr gern, und es machte ihn, den alten, vereinsamten Menschen, glücklich, wenn sie sich unterwegs mit ihm ein Viertel- oder ein halbes Stündchen unterhielt. Um dieses Glück sah er sich heute gebracht. Ich tat aber, als ob ich kein Verständnis dafür habe und antwortete.
„Ja, das ist allerdings nichts. Es gab während der ganzen Zeit nichts Wichtiges, was ich, mit meiner Frau hätte besprechen müssen. Ich ersehe also gar keinen Grund, der mich hätte veranlassen müssen, ihre Unterhaltung mit diesem unseren neuen Freund abzubrechen.“
„Freund? Freund nennt Ihr ihn? Hm!“
„Soll ich nicht?“
„Nein! Man hat vorsichtig zu sein! Ich heiße Maksch Pappermann und bin ein alter, erfahrener Kerl. Ehe ich Jemand meinen Freund nenne, pflege ich tage-, wochen- und monatelang zu prüfen! Auch Ihr pflegt sonst außerordentlich vorsichtig zu sein, noch vorsichtiger als ich. Heute aber seid Ihr ganz wie aus- oder umgewechselt. Ich warne Euch! Ich meine es gut! Ich bitte Euch, nehmt es von mir an! Wollt ihr?“
„Ja. Sie sollen nicht wieder sechs Stunden lang miteinander reden.“
„So recht, so recht! Ich finde das außerordentlich vernünftig von Euch. Wenn Ihr in dieser Weise redet, werfe ich meinen Ärger über den Haufen und fange wieder an, zu lachen. Glaubt Ihr, daß wir hier wirklich sicher sind? Nichts zu befürchten haben?“
„Vollständig sicher.“
„Es ist doch toll, was für ein Vertrauen Ihr zu diesem Roten habt!“
„Ihr irrt. Ich vertraue ihm, weil ich mir selbst vertraue. Ich höre nicht auf ihn, sondern nur auf mich. Es war doch auch bei Euch von Mißtrauen keine Rede!“
„Ja, zuerst! Aber diese Schwatzhaftigkeit kam mir verdächtig vor. Mir scheint, er hat Mrs. Burton ausgefragt und wird nun das, was er hörte, da unten bei den Kiowas und Komantschen erzählen!“
„Das befürchte ich nicht. Uebrigens ist er noch gar nicht unten bei ihnen.“
„Well! Ich passe auf! Mir soll nichts entgehen! Ich lasse mich nicht betrügen!“
Damit war die Sache für jetzt abgemacht. Als ich das Herzle nach dem Essen ein wenig ironisch fragte, ob es ihr gelungen sein, hinter das Geheimnis des Indianers zu kommen, antwortete sie:
„Leider noch nicht. Er ist verschwiegen.“
„Aber du hast doch beinahe sechs Stunden lang nur allein mit ihm gesprochen! Nennst du das schweigen oder verschwiegen sein?“
„Man kann sprechen, ohne zu plaudern. Wir haben nicht über sein eigenes, kleines Leid, sondern über das große, erhabene Leid der ganzen roten Rasse gesprochen. Er denkt sehr richtig, und er fühlt tief. Ich habe ihn liebgewonnen, sehr lieb!“
„Oho!“
„Ja, wirklich! Es ist mir da freilich etwas begegnet, was ich dir gestehen muß.“
„Schon wieder ein Geständnis?“
„Leider, leider! Ich begreife es nicht! Wenn er so lieb und warm für seine Nationen sprach, wenn er es so tief beklagte, daß wir Weißen die Roten für minderwertig halten, da wurden seine schönen, ehrlichen Augen feucht, und es stieg in mir auf, als müsse ich ihn auf Stirn und Wange küssen und ihm die Tränen mit meinen Händen trocknen. Das muß ich dir sagen. Er ist ein Mann. Ich wiederhole: Ich verstehe es nicht!“
„Wenn nur ich es verstehe, liebes Kind“, antwortete ich.
„Und verstehst du es?“
„Ja“
„Und erteilst du mir Absolution?“
„Sehr gern. Sprechen wir morgen weiter hierüber. Hast du vielleicht erfahren, wo das Kiowadorf jetzt liegt, in dem ich damals zu Tode gemartet werden sollte?“
„Ja. Es lag an der Salzgabel des Red-River. Jetzt aber liegt es weit im Westen davon, auch an einem kleinen Flüßchen, dessen Name mir aber entfallen ist. Er hat dich sofort erkannt, als er dich heut erblickte.“
„Ah? So sah er mich also nicht zum ersten Male?“
„Nein. Er kennt dich von damals her. Er war im Dorf, als man dich brachte. Er stand dabei, als du mit Händen und Füßen an die Pfähle gebunden warst. Er hat mir alles erzählt, so ausführlich, wie ich es nicht einmal von dir selbst erfahren habe.“
„Sprach er auch vom alten Sus-Homascha [Fußnote], der mich so gern retten wollte?“
„Ja. Sus-Homascha hatte zwei Töchter. Die eine war die Frau des jungen Häuptlings Pida. Ihre Ehe war außerordentlich glücklich und ist es auch noch heute. Sie war von Santer überfallen und mit einem Schlage auf den Kopf betäubt worden. Man hielt sie für tot. Man holte dich. Man behauptet noch heut, daß du ihr das Leben gerettet habest. Darum ist Pida noch heut in unerschütterlicher Dankbarkeit dein Freund. Denke dir, seine Frau ist mit hier?“
„Unten am See? Bei den Kiowa?“
„Ja. Als man erfuhr, daß auch Old Shatterhand mit nach dem Mount Winnetou geladen sei, ließ sie sich nicht halten. Sie wollte ihren Retter wiedersehen. Es scheint überhaupt mit den Frauen der Kiowas eine ähnliche Bewandtnis zu haben wie mit den Squaws der Sioux. Auch sie haben sich zusammengetan; auch sie wollen mitberaten. Sie sind nicht in den Dörfern zurückgeblieben, aber wo sie sich befinden, das konnte ich noch nicht erfahren.“
„Du vergißt dein eigentliches Thema. Du sprachst von den zwei Töchtern des alten Sus-Homascha. Die Eine war Pidas Frau. Die Andere – – –“
Das fiel das Herzle schnell ein:
„Ja, die Andere, die hieß Kakho-Oto. Sie wollte und sie sollte deine Squaw werden, damit du gerettet würdest; du aber wiesest sie ab. Sie war trotzdem so edel, dir zur Flucht zu verhelfen. Sie lebt noch. Sie ist ledig geblieben. Nie hat ein Mann sie berühren dürfen, und sie ist es, die alle die vielen Jahre, welche zwischen damals und jetzt liegen, dazu verwendet hat, dein und Winnetous Andenken auch bei den Kiowas zu heiligen und Eure Ideale der Edelmenschlichkeit, der Friedfertigkeit und der Nächstenliebe in ihnen wachsen und groß werden zu lassen. Sie wünscht nichts sehnlicher, als nach dem Mount Winnetou kommen und dich dort sehen zu können. Du aber sollst sie nicht wiedererkennen. Sie ist inzwischen alt geworden und wohl auch häßlich dazu. Sie hofft, daß du sie sehen kannst, ohne zu wissen, wer sie ist. Sie hat uns den Kiowa entgegengeschickt, um uns zu warnen und hierher zu führen. Wir können uns auf ihn verlassen. Er wird sich so verhalten, als ob er nicht zu seinem Stamm, sondern ganz zu uns gehöre, und uns jeden Wunsch erfüllen, der mit seiner Heimatliebe und Indianerehre vereinbar ist. Freust du dich darüber?“
„Ja, herzlich! Und deine eigene Freude wird eine doppelte sein, wenn du diesen treuen Mann noch näher kennenlernst. Bitte, laß uns heut‘ zeitig zur Ruhe gehen. Es ist möglich, daß morgen ein ereignisvoller Tag wird, der ausgeruhte Kräfte von uns verlangt.“
Sie war einverstanden. Sie zog sich sehr bald in ihr Zelt zurück, und auch wir anderen legten uns schlafen. Unter anderen Umständen hätte ich für diese Nacht die Wache unter uns verteilt, da ich aber wußte, wer der Kiowa war und daß ich ihm vertrauen durfte, war es nicht nötig, diese Vorsichtsmaßregel zu treffen. Unser alter Pappermann aber war anderer Meinung über ihn. Er legte sich in seine Nähe, um ihn während der Nacht zu beaufsichtigen. Ich hatte keinen Grund, ihn daran zu hindern.
Am anderen Morgen wachte ich nicht von selbst auf, sondern ich wurde geweckt, und zwar von dem, von dem ich soeben gesprochen habe, von Pappermann. Er sah ganz erregt aus, hatte ein rotes Gesicht und sagte:
„Verzeiht, Mr. Burton, daß ich Euch aus dem Schlaf störe! Es sind Dinge geschehen, schreckliche Dinge! Dinge, die mich veranlaßten, Euch sofort zu wecken!“
„Was ist es?“ fragte ich, indem ich schnell aufsprang.
„Etwas Entsetzliches! Etwas Fürchterliches!“
„Also was? Sagt es schnell!“
„So schnell, wie Ihr wollt, kann ich das nicht. Ich muß Euch da erst vorbereiten.“
„Ist nicht nötig! Nur heraus damit?“
„Es ist nötig! Sogar sehr! Wenn ich Euch nicht vorher vorbereite, fallt Ihr vor Schreck um wie ein Klotz, den niemand wieder aufheben kann.“
„Ich?“
„Ja.“
„Vor Schreck?“
„Wie ich sage: vor Schreck!“
„Nur ich allein?“
„Nicht auch Ihr?“
„Nein, ich nicht! Obgleich auch ich erschrak, als ich es sah. Ja, wahrhaftig, auch ich erschrak! Ich erschrak so, als ob sie meine eigene Frau wäre, nicht aber die Eurige!“
„Ah! So betrifft es meine Frau?“
„Ja! Natürlich! Eure Frau!“
„Gott sei Dank!“
Ich holte tief Atem. Der alte, brave Jäger sah so aus, als ob es sich wirklich um ein sehr böses, nie wieder gut zu machendes Ereignis handle. Vielleicht gar um ein Ereignis, durch welches unsere guten Pläne vernichtet würden. Darum hatte er mir, dem sonst so ruhigen, denn doch eine Art Schreck eingejagt. Nun er aber von dem Herzle sprach, war ich sofort beruhigt.
„Gott sei Dank?“ fragte er. „Ihr habt Gott gar nicht zu danken!“
„Ist ihr ein Unglück geschehen?“
„Hm, wie man es nimmt! Vielleicht ihr nicht, aber Euch! Ihr werdet mit Händen und Füßen dreinschlagen!“
„Das glaube ich nicht.“
„Oho! Ich bin zwar niemals verheiratet gewesen, aber ich kann mir trotzdem denken, wie es einem zumute ist, wenn so etwas geschieht. Ich würde den Kerl zerreißen!“
„Welchen Kerl?“
„Welchen? Ihr ahnt also immer noch nichts?“
„Nichts! Rein gar nichts!“
„So muß ich es Euch sagen, wirklich sagen! Aber verspreche mir vorher, nicht umzufallen!“
„Gut! Also, ich falle nicht um!“
„Und nicht sofort zuzuschlagen, besonders auf mich!“
„Auch das; ich schlage nicht zu!“
„Well, so will ich es wagen. Also hört!“
Anstatt noch näher an mich heranzutreten, wie man es bei intimen Mitteilungen zuweilen zu machen pflegt, trat er zwei Schritte zurück und sagte:
„Sie ist Euch untreu!“
„Wer?“
„Welch eine Frage! Wer! Natürlich Eure Frau! Das Herzle, wie Ihr sie nennt, wenn Ihr deutsch mit ihr sprecht!“
„Gott sei Dank!“ wiederholte ich. „Nun wird mir das Herz vollends leicht! Ich dachte wunder was für ein Unheil Ihr mir zu beichten hättet!“
„All devils! Mir bleibt der Verstand stehen! Ich sage diesem Mann da, daß ihm seine Frau untreu geworden ist, und da schreit er zum zweiten Male: Gott sei Dank! Und da versichert er allen Ernstes, daß ihm das Herz vollends leicht geworden sei! Begreife, wer das kann! Ich nicht!“
Und wieder näher zu mir herantretend, fuhr er in sehr ernstem Ton fort:
„Auch ich habe sie lieb gehabt, sehr lieb, euer Herzle. Ich habe sie geachtet und verehrt. Ich habe sie für die beste, die liebste, die vernünftigste und die vortrefflichste Frau der ganzen Welt gehalten. Ich wäre für sie in das Feuer und in das Wasser gesprungen. Ich hätte für sie mein altes Leben gelassen, zehnmal, hundertmal und tausendmal! Das ist nun vorbei, vollständig vorbei! Es kann mir nicht einfallen, für sie auch nur in ein kleines Streichholzflämmchen oder in einen Kaffeelöffel voll Wasser zu springen. Sie ist es nicht wert, nicht wert! So einen Mann zu haben, so einen! Und ihm dennoch untreu zu werden! Und zwar mit was für einem, mit was für einem!“
„Wer ist denn dieser eine? Oder vielmehr dieser andere?“
„Erratet Ihr das nicht?“
„Nein.“
„Ja, begreiflich! Es ist auch wirklich gar nicht zu erraten. Wenn nur wenigstens ich es wäre! Oder irgendein anderer Weißer! Aber Euch um einer Rothaut willen untreu zu werden, das ist stark, das ist sogar noch stärker als stark! Das ist einfach niederträchtig!“
„Rothaut sagt Ihr? Der junge Adler liegt noch dort an seiner Stelle; der Kiowa aber ist nicht mehr da; er ist fort. Ihr meint also den?“
„Ja, den! Eure Frau ist nämlich auch fort!“
„Ist das alles?“
„Nein, sondern es kommt noch viel, sehr viel dazu. Soll ich es Euch erzählen?“
„Ja, bitte!“
„Das kam so: Ich war wütend auf den Kerl, weil er gestern am Nachmittag so lange und so unausgesetzt mit ihr gesprochen hatte. Ich habe Euch schon gesagt, daß dies meinen Verdacht erregte. Ich nahm an, daß er Eure Frau aushorchen wollte, um uns alle dann an die Indianer da unten zu verraten. Ich beschloß, ihn zu beobachten, und ich tat es. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Am frühen Morgen erwachte er sehr zeitig. Eure Frau trat aus ihrem Zelt. Sie pflegt des Morgens und des Abends zu beten; das weiß ich nun. Sie tut das nie im Zelt, sondern stets unter freiem Himmel. Sie geht dabei zur Seite, damit man es nicht sehe. So auch heute. Als sie sich entfernt hatte, stand der Kiowa auf und folgte ihr. Das kam mir verdächtig vor. Ich ließ eine Zeit vergehen, und als weder sie noch er zurückkehrte, schlich ich mich ihnen nach. Was denkt Ihr, was ich sah?“
„Nun, was?“
„Sie saßen auf einem Stein!“
„Weiter nichts?“
„Nebeneinander!“
„Weiter nichts?“
Er sah mich verwundert an und fuhr in erhöhtem Ton fort: „In inniger Umarmung!“
„Weiter nichts?“
Da rief er mich an:
„Sie schnäbelten miteinander!“
„Weiter nichts?“
„Der Rote gab Eurem Herzle einen Kuß!“ schrie er mir zu. „Weiter nichts?“
„Und Euer Herzle küßte ihn wieder!“ brüllte er mir in das Gesicht.
„Weiter nichts? Weiter gar nichts?“ fragte ich sehr freundlich und ruhig.
Da wich er von mir zurück, schlug die Hände zusammen und jammerte:
„Hab mir’s gedacht – hab mir’s gedacht! Nun ist das Unglück da! Wenn auch in anderer Gestalt als ich mir dachte! Er fällt nicht um, und er schlägt nicht zu; aber er ist verrückt geworden vor Schreck! Er ist übergeschnappt, vollständig übergeschnappt! Er sagt weiter nichts als weiter, immer weiter!“
„O, ich kann auch noch anderes sagen“, lachte ich. „Sitzen sie denn noch dort – auf dem Stein?“
„Ich hoffe es!“
„Was? Ihr hofft es?“
„Ja! Ich hoffe es sogar sehr! Um sie überführen zu können! Um sie mit Euch zu überraschen!“
„Das wollen wir tun!“
„Wirklich?“
„Ja, und zwar sofort!“
„So kommt! Ich führe Euch!“
„Wartet nur noch einen einzigen Augenblick! Ich muß Euch nämlich vorher sagen, daß ich mit diesem Kiowa nicht so streng verfahren werde, wie Ihr wahrscheinlich erwartet. Wir haben in den letzten Tagen verschiedene Male über die Kiowa gesprochen. Ihr wißt, was ich bei ihnen erlebte, als ich zum letzten Mal dort war?“
„Ja. Jedermann weiß es. Und Eure Frau hat es mir unterwegs noch einmal ganz ausführlich erzählt. Daß Ihr zu Tode geschunden werden solltet und nur durch die Tochter eines berühmten Kriegers, welcher Eine Feder hieß, gerettet wurdet.“
„Richtig! Diese Tochter hieß Kakho-Oto. Ihr habe ich mein Leben zu verdanken.“
„Wollt Ihr um ihretwillen etwa diesem Kiowa verzeihen, der Euch um Eure Frau betrügt?“
„Ja.“
„Hört! Das geht nicht! Das wäre Schwäche, unverzeihliche Schwäche!“
„Das bestreite ich. Nun kommt!“
„So wollt Ihr wirklich nichts tun, wirklich gar nichts?“
„Gar nichts!“
„Auch Eurer Frau nicht?“
„Nein.“
Da fuhr er auf:
„Herr – – –! Mr. Burton! Ich muß Euch sagen, daß – daß – – – daß ich eine Bitte, eine sehr, sehr große Bitte habe.“
„Erlaubt wenigstens mir, diesen roten Halunken bei der Parabel zu nehmen und ihm ein Dutzend Ohrfeigen herunter zu hauen!“
„Würde Euch das ein Vergnügen machen?“
„Ein großes, ein ganz unbändiges!“
„So tut es!“
„Ihr habt nichts dagegen?“
„Ganz und gar nichts. Schlagt zu, so viel und so kräftig lhr wollt!“
„So rufe nun jetzt ich: Gott sei Dank! Das sollen Ohrfeigen sein, wie es nicht gleich wieder welche gibt! Nun kommt! Schnell, schnell!“
Er schritt voran, und ich folgte. Er führte mich durch das Gebüsch nach einer kleinen Blöße, die er aber nicht sofort betrat, sondern er blieb zwischen den beiden letzten Sträuchern stehen, deutete hindurch und sagte leise:
„Da schaut! Dort sitzen sie noch! Wie gefällt Euch das?“
Das Herzle saß mit dem Kiowa auf einem niedrigen Felsstück, welches einen sehr bequemen Sitz bildete. Sie hatte den rechten Arm um seine Schulter geschlungen und hielt mit der linken Hand seine beiden Hände fest. Er war etwas kürzer als sie. Sein Kopf lehnte zärtlich an ihrer Seite. Pappermann sah mich an, als ob er einen gewaltigen Zornesausbruch erwarte. Ich lächelte aber. Das regte ihn auf.
„Ihr lacht?“ fragte er, zwar leise, aber doch sehr eindringlich. „Ich frage Euch allen Ernstes, wie Ihr das findet?“
„Etwas intim, weiter nichts“, antwortete ich.
„Etwas intim – – –! Weiter nichts –!“ wiederholte er. „Nun, ich finde es weit mehr als nur intim von diesem Halunken; ich finde es verbrecherisch! Und da Ihr mir gestattet habt, ihm ein Dutzend MauIschellen herunter zu hauen, so werde ich ihn keinen Augenblick länger, als nötig ist, darauf warten lassen! Also paßt auf! Es geht los! Sofort – sofort!“
Er drang zwischen den beiden Büschen durch und eilte auf die Gruppe zu. Ich folgte ihm mit derselben Schnelligkeit. Die beiden vermeintlichen Inkulpaten standen auf, sobald sie uns erblickten. Pappermann schien sein Rächeramt ausüben zu wollen, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen. Er packte den Kiowa mit der Linken bei der Brust und holte mit der Rechten aus, um zuzuschlagen. Da griff ich rasch zu, hielt ihm diese Rechte fest und sagte:
„Halt, lieber Freund! Lassen wir ja keine der Vorschriften außer acht, die einem jeden Gentleman für solche Fälle gegeben sind!“
„Welche Vorschriften?“ fragte er, indem er sich bemühte, mir seinen Arm zu entziehen.
„Wenn zwei Gentlemen die Absicht haben, einander zu beohrfeigen, so sind sie unbedingt verpflichtet, vorher sich einander vorzustellen!“
„Was heißt das, sich einander vorzustellen?“
„Einander zu sagen, wer und was sie sind.“
„Das ist hier unnötig, denn wir kennen uns ja schon. Dieser rote Halunke, den Ihr einen Gentleman nennt, weiß, daß ich Maksch Pappermann bin, und ich weiß, daß er kein Gentleman, sondern eben ein roter Schurke ist. Darum kann ich – – –.“
„Aber seinen Namen habt Ihr noch nicht beachtet. Dieser Gentleman ist nämlich eigentlich eine Lady und wird, solange ich es weiß, Kakho-Oto genannt. So! Nun schlagt zu!“
Ich gab ihm seinen Arm frei. Aber er bewegte ihn nicht. Er schaute mir wortlos in das Gesicht, als ob er verstummt sei.
„Ka-kho-O-to?“ fragte er endlich wie geistesabwesend.
„Ja“, nickte ich.
„Kein – – Gentleman – – – sondern eine Lady!“
„Ganz so, wie ich sagte!“
„Also wohl gar die Tochter von Eine Feder, die Euch damals das Leben gerettet hat?“
„Ja, dieselbe!“
Da holte er tief, tief Atem, machte ein äußerst verzweifeltes Gesicht und rief aus:
„Alle guten Geister! Das kann nur mir passieren, mir, der ich Maksch Pappermann heiße! 0 dieser unglückselige Name, dieser unglückselige Name! Wo hat sich jemals, wenn irgendeiner einen anderen ohrfeigen wollte, herausgestellt, daß dieser andere eine Lady ist! Und nun ich so selig war, einmal so aus ganzem Herzen zuhauen zu können, muß das mir, grad mir passieren! Ich bin blamiert für alle Zeit! Sogar für alle Ewigkeit! Ich trete ab! Ich werde unsichtbar! Ich verschwinde!“
Er drehte sich um und rannte fort. Doch, an den Büschen angekommen, blieb er für einen Augenblick stehen und rief zurück:
„Aber, Mr. Burton, ein Freundschaftsstreich war das ganz und gar nicht von Euch!“
„Wieso?“ fragte ich.
„Ihr hättet mir diese Blamage sehr wohl ersparen können! Brauchtet mir nur zu sagen, daß diese Lady kein Mann, sondern ein Frauenzimmer ist!“
„Euch dieses Geheimnis zu verraten, dazu war ich nicht befugt. Ich hatte Euch nicht verschwiegen, daß der Kiowa Vertrauen verdient. Das war genug. Warum habt Ihr mir nicht geglaubt?“
„Weil ich ein Esel bin! Ein kompletter Esel! Mit allem möglichen,. was zu einem wirklichen Esel gehört! Ich Schaf!“
Nun verschwand er. Kakho-Oto stand mit gesenkten Augen vor mir. Ihre Wangen waren vor Verlegenheit tief gerötet. Ich zog sie an mich, küßte sie auf die Stirn und sagte in ihrer Muttersprache:
„Ich danke dir! Ich habe dein gedacht, bis ich dich wiedersah. Willst du uns Schwester sein? Uns beiden?“
„Wie gern! Dir und ihr!“ antwortete sie. Dann eilte sie in tiefer Bewegung fort.
Das Herzle fragte mich zunächst, warum Pappermann ausgeholt habe, um zuzuschlagen. Einige Worte genügten, sie hierüber zu verständigen. Sie lachte herzlich. Dann bedankte sie sich bei mir dafür, daß ich ihr nicht mitgeteilt hatte, wer der Kiowa eigentlich sei. Hätte ich das getan, so wäre ihr die köstliche Überraschung des heutigen Morgens verloren gewesen. Dann kehrten wir zum Zelt zurück, wo ich ein kleines Feuer machte, an dem sie den Kaffee bereitete. Zu diesem stellten sich Pappermann und Kakho-Oto ein. Beide bemühten sich, möglichst gleichgültig zu erscheinen. Aber dem alten, braven Westmann ging der Pudel, den er geschossen hatte, doch zu nahe. Er betrachtete die Indianerin immerwährend von der Seite her. Als „Frauenzimmer“ schien sie ihm ausnehmend zu gefallen. Plötzlich griff er nach ihrer Hand, zog sie an seine Lippen und knurrte reumütig:
„Und so etwas habe ich beohrfeigen wollen! Bin ich da nicht selbst Maulschellen wert?“
Damit war die Sache zwischen beiden abgemacht; sie wurden die besten Freunde.
Nach dem Frühstück wurde das Zelt abgebrochen. Wir sattelten die Stangen desselben lang anstatt quer, weil Kakho-Oto sagte, daß der Weg nach dem „Haus des Todes“ ein sehr schmaler sei. Er führte zuweilen so steil bergab, daß wir bald nicht mehr reiten konnten, sondern absteigen mußten. Wir folgten einem schmalen, aber sehr reißenden Bach, welcher eine tiefe Schlucht gegraben hatte, die in zahlreichen Windungen zur Tiefe ging. Eine Aussicht gab es da nicht. So waren wir weit über eine halbe Stunde lang abwärts geklettert, da sahen wir plötzlich eine hohe, fast vollständig nackte Schutthalde vor uns liegen, die aber nicht aus gewöhnlichem, kleinem Schutt, sondern aus großen Felsstücken bestand, welche den Anschein hatten, als ob vor vielen Jahrhunderten hier ein gewaltiger Bergsturz stattgefunden habe.
„Wir sind beim Haus des Todes angekommen“, sagte Kakho-Oto, indem sie auf diese Felsentrümmer deutete.
„Das ist es?“ fragte ich. „So sind die Felsen hohl?“
„Ja. Sie sind nicht von oben herabgefallen, sondern künstlich aufgebaut. Kommt!“
Sie führte uns um eine Ecke der Felsenstätte, und da standen wir vor einem massiven, mehr breiten als hohen Tor, welches keine bogenförmige, sondern eine gerade Schließung hatte. Die beiden Seitensteine hatten eine Breite von über zwei Metern. Sie zeigten gut erhaltene Relieffiguren von Häuptlingen, welche im Begriff standen, durch das Tor in das Innere des Tempels zu treten. Die Häuptlinge waren charakterisiert durch ein, zwei oder drei Adlerfedern, die sie im Kopfhaar trugen. Auch der Oberstein war mehrere Meter hoch. Er zeigte die Figur eines Beratungsaltars, auf welchem Häuptlinge ihre Medizinen opferten.
„Aber das ist ja gar kein Haus des Todes, gar keine Begräbnisstätte,“ sagte ich, „sondern ein Beratungstempel in dessen Altar die Medizinen aufbewahrt werden, bis das, was man beraten hat, ausgeführt worden ist!“
Kakho-Oto lächelte
„Das weiß ich wohl“, sagte sie, „aber wir dürfen das dem gewöhnlichen Volk nicht sagen, sonst würde die Stätte nicht so heilig gehalten, wie die Häuptlinge es wünschen. übrigens gibt es so viele Leichen hier, daß der Ausdruck Haus des Todes gar wohl auch berechtigt ist. Gehen wir sogleich hinein?“
„Wie weit ist es von hier bis zum See?“
„Bis zum Wasser nur zweihundert Schritte.“
„So müssen wir vorsichtig sein. Es kommen nicht nur einheimische, sondern auch fremde Indianer her, welche das Verbot, diesen Ort hier zu betreten, wohl kaum beachten werden. Wir müssen also vor allen Dingen unsere Pferde verbergen und uns Mühe geben, keine Spuren zu verursachen. Erst wenn das geschehen ist, betreten wir den Tempel. Suchen wir also nach einer Stelle, die sich zum Versteck für uns und die Pferde eignet!“
„Die ist bereits gefunden“, sagte Kakho-Oto. „Ich habe gesucht, noch ehe ich den See verließ, um euch entgegenzureiten. Kommt!“
Sie führte uns eine kurze Strecke zurück und dann in eine Seitenschlucht hinein, aus welcher wieder eine dritte Vertiefung abzweigte, die grad groß genug war, sich für unsere Zwecke ganz vortrefflich zu eignen. Es gab da Wasser und Grünfutter mehr als genug. Wir sattelten ab, hobbelten die Pferde und die Maultiere an und gaben ihnen unsern alten Pappermann als Wächter. Er war ganz damit einverstanden, nicht „überall mit herumkriechen zu müssen“; so drückte er sich aus. Wir andern aber kehrten nach dem „Haus des Todes“ zurück.
Dort wieder angekommen, schritten wir zunächst die Umgebung ab. Es war die Spur weder eines Menschen noch eines Tieres zu sehen. Wir verwischten mit Hilfe von Zweigen unsere Fährte sofort hinter uns her. Als wir vorhin von der Höhe unseres gestrigen Lagers herabkamen, waren wir an die Rückseite des Baues gelangt. An dieser Seite befand sich, wie bereits beschrieben, das Tor. Dies war hinter Büschen und Bäumen derart verborgen gewesen, daß kein Mensch geahnt hätte, daß hier ein Tempel stehe. Erst als zufällig ein verlassenes, aber nicht ausgelöschtes Lagerfeuer weiter um sich gefressen und das Gebüsch zerstört hatte, war das Tor sichtbar und das Geheimnis verraten worden. Man sah die Spuren des Feuers noch jetzt am verräucherten Gestein. Als wir von der Hinter- nach der Vorderseite des vermeintlichen natürlichen Felsensturzes gelangten, sahen wir das Wasser des Sees in der bereits angegebenen Entfernung vor uns liegen. Die an- und übereinandergehäuften Quader und Steinbrocken waren also vom See aus sehr deutlich und auch weithin zu sehen, machten aber einen so natürlichen Eindruck, daß gewiß kein Mensch von selbst auf den Gedanken gekommen wäre, daß es sich um ein künstliches Bauwerk handle. Der Felsenabsturz war so steil und derart angeordnet, daß man ihn unmöglich ersteigen konnte. Nur in den Winkeln, wo sich im Lauf der Zeit der Staub der Lüfte angesammelt hatte, gab es ein wenig Grün, sonst aber war alles nur glatter, lebloser Stein.
Hierauf konnten wir zur Betrachtung des Innern gehen. Durch das Tor eingetreten, befanden wir uns in einem nicht allzu weiten, aber sehr hohen Raum, dessen Bau ein ganz eigentümlicher war. Man denke sich einen auseinandergeschnittenen, also halben Zuckerhut, der mit seiner geraden, senkrechten Schnittfläche am Felsen lehnt, während seine gebogene, halbkegelförmige Wand von den Felsenstücken gebildet wurde, aus denen der vermeintliche Bergsturz bestand. Diese Wand ging also nicht senkrecht, sondern schief nach innen empor. Sie bildete keine glatte Fläche, sondern ihre riesigen Quader lagen derart neben- und übereinander, daß immer auf einen vorstehenden ein zurückliegender folgte. Hierdurch wurden Nischen gebildet, die zur Aufbewahrung von Mumien, Skeletten oder einzelnen Knochenteilen dienten.
Am Boden, genau auf der Mitte desselben, stand ein steinerner Altar. Er besaß, wie wir erst später bemerkten, im Innern eine Höhlung, auf welcher eine schwere, glatte Platte lag. Die Seitenflächen dieses Altars zeigten vierundzwanzig Relieffiguren, nämlich zwölf Adlerfedern und zwölf festgeschlossene Hände. Es wechselte je eine Hand mit einer Feder ab. Die geschlossene Hand ist das Zeichen der Verschwiegenheit. Die Figuren sagten also, daß nur Häuptlinge sich diesem Altar nahen durften und daß über alles, was da beraten und vorgenommen wurde, die Geheimhaltung zu beobachten sei. Die Platte sah in ihrer Mitte schwarz aus. Es hatte bei jeder Beratung ein Feuer auf ihr gebrannt. Besondere Sitze, wenn auch nur aus Stein, sah man nirgends.
Die Beleuchtung dieses fremdartigen Raumes war, fast möchte ich sagen, eine magische. Es herrschte, genau abgemessen, ein Zweidritteldunkel. Das wenige Licht, was es gab, kam durch die Quadermauer. Man hatte von Stelle zu Stelle in ihr einen Quader ausgelassen, so daß entstanden waren, durch welche der Schein des Tages Zutritt finden konnte. Aber die Mauer war außerordentlich dick, so daß eine jede dieser Oeffnungen schon mehr einen tiefen Gang nach außen bildete, dessen Ende von unten aus nicht zu ersehen war. Zudem waren die Oeffnungen von draußen sehr fürsorglich verkleidet worden, damit man sie nicht etwa vom See aus bemerken möge. Es ging also von dem hereinbrechenden Lichte der größte Teil verloren, noch ehe es das Innere des Tempels erreichte. Ich habe eine ähnliche geheimnisvolle Beleuchtung in einigen ägyptischen Königsgräbern gefunden, die allerdings sehr niedrig sind. Dieser Tempel am „See des Todes“ hatte aber eine solche Höhe, daß die Wirkung sich unendlich steigerte. In jeder Nische eine dunkle, hockende Mumie, die kaum zu erkennen war, oder ein helleres Skelett in kauender Stellung, oder eine Sortierung von Schädeln, Arm- oder Beinknochen, die keinen Zusammenhang besaßen. Das alles Ueberreste einstiger Existenzen! Denn über jeder Nische war eine Adlerfeder eingehauen, zum Zeichen, daß diese Körperteile einst Häuptlingen gehörten.
Die Luft, in der wir uns befanden, war gut, denn die Oeffnungen waren zahlreich. Sie gingen bis hinauf an die Spitze. Es war also genug Zusammenhang mit der äußeren Atmosphäre vorhanden. Und, was mir besonders als wichtig erschien, man konnte von Oeffnung zu Oeffnung, also, um mich so auszudrücken, von Fenster zu Fenster gelangen. Oder vielmehr, man hatte das früher gekonnt, denn es führten von Fenster zu Fenster und von Nische zu Nische freie, aus der Mauer ragende Stufensteine empor, die bis zum Boden hinabgereicht hatten. Jetzt aber fehlten die untersten dieser Stufen. Man hatte sie abgehauen. Daß dies erst vor kurzer Zeit geschehen war, sah man an der zurückgebliebenen Fläche, die von ihrer dunkleren Umgebung hell abstach.
„Schade, daß diese Stufen jetzt nun fehlen“, sagte das Herzle.
„Warum?“ fragte ich.
„Weil ich gern da einmal hinauf möchte.“
„Klettergemse!“ scherzte ich.
Sie klettert nämlich gern. Ich muß bei Gebirgswanderungen sie immer besonders abhalten, gefährliche Stellen zu betreten.
„Tyrannisiere mich nicht!“ antwortete sie. „Ich kenne dich genau; niemand wünscht so sehnlichst wie du, da hinaufzusteigen. Du mußt in alle Nischen gucken. Und du mußt durch jedes Fenster hinausteigen, um zu wissen, was draußen zu sehen ist. Willst du das leugnen?“
„Nein. Zwar, daß ich in jede Nische gucken will, ist übertrieben. Aber daß ich unbedingt einmal zu irgendeinem Fenster hinaussteigen dazu fühle ich mich geradezu verpflichtet. Es ist unerläßlich, von da oben aus Umschau zu halten. Ich muß wissen, wie weit man von da aus den See überschaut. Vielleicht sieht man von hier oben aus etwas, was man sonst nicht sehen würde.“
„Aber wie kommst du bis da hinauf, wo die Stufen beginnen?“
„Sehr einfach: Wir bauen eine Leiter.“
„Sehr richtig, sehr richtig!“ spendete sie mir Beifall. „Wir bauen eine Leiter, und zwar sofort. Komm, schnell!“
Wir gingen hinaus. Ich fand sehr leicht zwei lang aufgeschossene Stangenhölzer und schnitt die nötigen Quersprossen dazu. Riemen waren genug da. Bald war die Leiter fertig. Wir gingen wieder hinein, legten sie an und stiegen hinauf. Sie reichte grad bis zu der niedersten der noch vorhandenen Stufen. Von dieser aus stiegen wir weiter nach oben, ohne Geländer, auf frei aus der Mauer ragenden Steinen, die als Stufen galten. Das war nicht ungefährlich. Ein jeder dieser Steine mußte geprüft werden, bevor man sich ihm anvertraute. So kamen wir an vielen Nischen vorüber, deren Inhalt wir untersuchten.
Ich sehe davon ab, diese Mumien und Skelette zu beschreiben. Ich liebe es nicht, als Schriftsteller zu gelten, der seine Erfolge im Sensationellen, Blutigen oder Schaudererweckenden sucht.
Als wir hoch genug gekommen waren, stiegen wir in eine der obersten Fensteröffnungen. Sie war so groß, daß wir aufrecht in ihr stehen konnten, ja sogar noch bedeutend größer. Sie glich einem Gang. Wir hatten neun Schritte zu tun, ehe wir aus ihr in das Freie traten. Da standen wir hoch oben auf dem künstlich aufgeführten Bergsturz und überschauten einen großen Teil des Sees. Aber wir waren vorsichtig; wir blieben nicht aufrecht, sondern wir setzten uns. Wie leicht konnte ein Kiowa oder ein Komantsche in der Nähe sein, der uns sofort bemerken mußte, wenn wir so gedankenlos waren, uns in ganzer Figur zu zeigen. Und richtig! Es war nicht nur einer da, sondern wir sahen viele, sogar sehr viele. Sie ritten zweihundert Schritte entfernt am Ufer des Sees an uns vorüber, langsam, müd und still, im Gänsemarsch, immer einer hinter dem andern.
„Das sind die Sioux des alten Kiktahan Schonka“, sagte ich. „Die Utahs sind entweder schon vorüber, oder sie kommen erst hinter ihnen her.“
„So sind wir gerade zur rechten Zeit gekommen“, sagte das Herzle. „Nun gibt es wohl Gefahr?“
„Für sie, ja, aber nicht für uns“, antwortete ich.
Der junge Adler war still; aber Kakho-Oto meinte:
„So muß ich euch verlassen. Werdet ihr mir aber vertrauen? Werdet ihr mir zutrauen, daß ich nichts tue, was euch schaden könnte?“
„Wir glauben an dich“, antwortete ich ihr in ihrer Muttersprache. „Wann dürfen wir dich wieder erwarten?“
„Das weiß ich nicht. Ich gehe, um zu beobachten, was geschieht, um es euch dann zu sagen. Habe ich euch nichts zu berichten, so komme ich nicht. Erfahre ich aber Wichtiges, so kehre ich sehr schnell zurück. Wo treffe ich euch?“
„Da, wo du willst.“
„So bitte ich dich, möglichst dort, wo jetzt die Pferde stehen, zu bleiben. Begib dich nicht unnötig in Gefahr! Unternimm es vor allen Dingen nicht, uns zu beschleichen! Ich wache für euch. Meine Augen sind eure Augen! Ihr werdet alles erfahren, was ich selbst erfahren kann.“
Ich versprach, ihr diesen Wunsch zu erfüllen; dann entfernte sie sich. Wir aber blieben noch hier oben, um die vorüberziehenden Roten zu beobachten. Es dauerte lange Zeit, ehe die Sioux passiert waren. Dann kamen die Utahs. Es tat mir innerlich wehe, diese kurzsichtigen, haßerfüllten Leute so daherschleichen zu sehen.
„Wer wird gewinnen?“ fragte das Herzle; „sie oder wir?“
„Wir!“ antwortete ich zuversichtlich. „Siehst du nicht ganz deutlich, daß es nicht unser Verderben ist, welches da an uns vorüberzieht, sondern unser Sieg?“
„Woran soll ich das merken?“
„An ihrer Langsamkeit, ihrer Haltung, ihrer Gleichgültigkeit und, vor allen Dingen, an ihren leeren Futterbeuteln und Satteltaschen?“
„Wieso?“
Auch der junge Adler sah mich fragend an.
Ich fuhr fort: „Sie haben keinen Proviant, weder für sich, noch für ihre Pferde.“
„Den bekommen sie doch jedenfalls von ihren jetzigen Verbündeten, den Kiowas und Komantschen.“
„Das ändert nichts, denn das ist nur für einstweilen. Diese alten Indianer sind leichtsinniger, viel leichtsinniger, als früher die jungen jemals waren. Sie denken nur an die Vergangenheit und sind unfähig, die Gegenwart zu begreifen. Zog man früher in den Krieg, so tat man das in einzelnen Trupps, nicht aber gleich in der Stärke von tausend Mann. Und diese Trupps waren leicht zu erhalten und zu pflegen. Es gab Büffel zur Jagd, und der Weg wurde möglichst über die grasigsten Prärien genommen, die den Pferden das nötige Futter spendeten. Der Indianer machte im Frühling Fleisch für sechs Monate und im Herbst wieder Fleisch für sechs Monate. Da gab es so große Vorräte von geriebenem und getrocknetem Fleisch, daß es zu jeder Zeit leicht war, sich für lange Kriegszüge zu verproviantieren. Wo sind jetzt die Büffel? Wo die anderen jagdbaren Tiere? Wo gibt es jetzt einen Indianer, der in seinem Zelt Fleischvorräte für Monate hat? Wo sind die Pferde, die es früher gab? Auf die man sich in Hunger und Durst, in Frost und Hitze, in Wind und Wetter, in jeder Gefahr und selbst beim schwersten, verwegensten Todesritt verlassen konnte? Das gab es früher; jetzt aber ist alles anders. Wer da glaubt, in der alten Weise verfahren zu können, der ist verloren. Mein Bärentöter hängt daheim. Mein Henrystutzen und meine Revolver stecken im Koffer. Sie haben sich überlebt. Was aber tun Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch? Sie sind ausgezogen mit tausend Sioux und tausend Utahs. Mit Leuten und mit Pferden, die keine Spur von Kriegsgewohnheit besitzen. Und, vor allen Dingen, ohne den nötigen Proviant! Nun sind sie gezwungen, bei den Kiowas und Komantschen zu betteln. Wo aber haben die ihre Fleisch- und Brotvorräte? Sie haben nichts! Auch sie werden ausziehen zu zwei Tausenden, zusammen also wahrscheinlich viertausend Mann und viertausend Pferde, ohne den mitzuschleppenden Troß! Woher den täglichen Proviant, das Futter, das Wasser für so unvernünftig viele nehmen? Es braucht kein einziger von ihnen erschossen oder erstochen zu werden. Sie kommen vor Hunger um, vor Hunger und Durst, alle, alle! Indem ich sie hier an uns vorbeireiten sehe, ist es mir, als ob sie nicht Körper seien, sondern verschmachtete Seelen, die nach dem Jenseits ziehen, um dort in ihren leeren, ewigen Jagdgründen vollends zu verhungern!“
„Uff, uff!“ rief der junge Adler, dem meine Darstellung sofort einleuchtete.
Das Herzle aber war still. Auch sie sah ein, daß ich recht hatte; aber diese Einsicht erhob sie nicht, sondern sie drückte sie nieder. Ihr gutes Herz sah sofort viertausend untergehende Menschen vor sich, und daß es unsere Aufgabe war, an diesem Untergang mitzuwirken, das tat ihr leid und wehe.
Als der letzte der Utahs vorüber war, stiegen wir wieder hinab, versteckten die Leiter sehr sorgfältig, so daß sie selbst von einem scharfen Auge nicht entdeckt werden konnte, und kehrten dann zu Pappermann und unseren Pferden zurück.
„Kakho-Oto war hier“, meldete er. „Sie sattelte sehr eilig und ritt dann fort. Sie sagte, Ihr wüßtet schon, wohin.“
Nun schlugen wir das Zelt auf und machten es uns bequem. Ich war entschlossen, dem Wunsche unserer Freundin gehorsam zu sein und uns keiner Gefahr auszusetzen. Es war auf alle Fälle am besten, wir blieben hier still verborgen, ohne uns zu regen. So gab es also Zeit und Gelegenheit, das Vermächtnis meines Winnetou vorzunehmen und durchzusehen. Ich öffnete die Pakete, und dann waren wir beide, sowohl das Herzle als auch ich, für den ganzen Vor- und Nachmittag in ihren Inhalt vertieft. Ueber diesen Inhalt habe ich an anderer Stelle zu sprechen; für jetzt will ich nur sagen, daß wir noch nie etwas ähnliches gelesen hatten, und daß der Schatz, der sich uns hier auf tat, unendlich größer war, als wenn er Geld und Edelsteine im Gewicht von vielen Zentnern enthalten hätte.
Gegen Abend stellte sich Kakho-Oto ein. Sie meldete uns, daß die Kiowas, Komantschen, Utahs und Sioux nun alle versammelt seien, und zwar über viertausend Mann stark, von jedem Stamm etwas über tausend Krieger. Also genauso, wie ich es vermutet hatte. Am Vormittage hatte man gegessen. Am Nachmittage waren die verschiedensten Vorberatungen abgehalten worden. Es hatte sich nach langen Widersprüchen endlich Einigkeit ergeben, so das eine nachträgliche Hauptberatung eigentlich überflüssig gewesen wäre, wenn sie nicht als Schlußzeremonie alles Vorhergehende zu krönen gehabt hätte.
„Also diese Hauptberatung findet statt?“ fragte ich.
„Ja“, antwortete die Freundin.
„Wann?“
„Grad um Mitternacht.“
„Wenn ich doch dabeisein könnte, ohne gesehen zu werden!“
Da fiel das stets besorgte Herzle schnell ein:
„Nein! Daraus wird nichts! Das ist zu gefährlich!“
„Wieso gefährlich?“
„Wenn sie dich erwischen, ist es um dich geschehen! Ich als deine Frau habe vor allen Dingen darauf zu sehen, daß du zu jeder Zeit mir wenigstens am Leben bleibst!“
Kakho-Oto lächelte. Das tat ich auch und fragte das Herzle:
„Aber wenn es sich nun herausstellt, daß es nicht gefährlich ist?“
„So gehe ich mit, um die Sache zu prüfen! Als Junggeselle Westmann sein, ist keine Kunst. Aber sich noch als Westmann geberden, wenn man schon längst verheiratet ist, und seine Frau bei sich hat, das wird einem jeden vernünftigen Mann so fern wie möglich liegen! Wenn wir Frauen einmal jemand belauschen, so wird gleich ein großes Hallo darüber gemacht. Aber wenn die Herren Männer im Wald herumkriechen, um Indianer zu behorchen, da behauptet man, es sei erstens notwendig und zweitens gehöre es zur Kühnheit und zum Heldentum. Ich habe da einen sehr guten Gedanken, der diese gefährliche Lauscherei vollständig unnötig macht.“
„Welchen?“
„Kakho-Oto nimmt an dieser Hauptberatung teil und sagt uns dann, was gesprochen worden ist.“
Da lachte ich laut auf und entgegnete:
„Diesen Gedanken nennst du gut? Er ist so töricht wie möglich! Nie wird ein gewöhnliches weibliches Wesen an einer derartigen Häuptlingsversammlung teilnehmen dürfen!“
„Wirklich nicht?“
„Nein!“
„Das ist eine Schande! Aber erfahren müssen wir auf alle Fälle, was, beraten worden ist! Wie fangen wir das an?“
Da lächelte die Freundin abermals und antwortete:
„Ihr werdet bei dieser Versammlung zugegen sein.“
„Wir? Wir beide?“ fragte das Herzle schnell.
„Ja.“
„Ich denke, als Frau darf ich nicht!“
„Es geschieht im Geheimen. Niemand wird euch sehen. Die Häuptlinge kommen nämlich nach dem Haus des Todes. Der Medizinmann der Komantschen will es so, und der Medizinmann der Kiowas stimmt ihm bei. Sie behaupten, das,Haus des Todes sei schon vor Jahrtausenden ein Beratungshaus der Anführer gewesen und solle es nach seiner Entdeckung jetzt nun wieder sein. Zugleich sei es die Begräbnissttte der Häuptlinge. Weibern sei es bei sofortiger Todesstrafe verboten, gewöhnlichen Kriegern ebenso, außer sie kommen zur Bedienung der Häuptlinge mit.“
„Das ist ja vortrefflich!“ meinte das Herzle. „Sie kommen also um Mitternacht?“
„Ja, kurz vorher, denn die Zeremonie hat genau um Mitternacht zu beginnen.“
„Da stellen wir uns zeitig ein, vielleicht schon um elf!“
„Aber du doch nicht!“ sagte ich.
„Warum nicht?“ fragte sie.
„Du hast doch soeben erst gehört, daß Weibern der Zutritt bei sofortiger Todesstrafe verboten ist! Das ist mir zu gefährlich! Ich als dein Mann habe vor allen Dingen darauf zu sehen, daß du zu jeder Zeit mir wenigstens am Leben bleibst! Ich fühle mich also zu der Erklärung verpflichtet, daß du von der Teilnahme an diesem nächtlichen Abenteuer vollständig ausgeschlossen bist!“
„Oho! Ich verweigere den Gehorsam! Nimmst du deine Erklärung nicht sofort zurück, so gehe ich auf der Stelle nach dem Haus des Todes und verstecke mich dort bis Mitternacht, um euch alle miteinander zu belauschen, nicht nur die Indianer, sondern auch euch!“
„Wohin willst du dich verstecken?“
„Das weiß ich noch nicht.“
„Schon vorher?“
„Gewiß! Es ist sehr schnell gesagt: ich verstecke mich. Aber den richtigen Platz zu finden, das erfordert Ueberlegung, die nicht zu spät kommen darf. Wir wissen noch nicht, wie viele Personen sich einstellen werden – – –“
„Ich weiß es,“ fiel Kakho-Oto ein. „Es kommen Kiktahan Schonka, Tusahga Saritsch, Tokeichun und Tangua, die vier Oberhäuptlinge, sodann die beiden Medizinmänner der Kiowas und der Komantschen und außerdem fünf Unterhäuptlinge von jedem der vier Stämme. Auch einige gewöhnliche Krieger sind dabei, um das nötige Feuerholz und Tangua zu tragen, der nicht gehen kann. Jeder Stamm wird sein eigenes Beratungsfeuer brennen. Das Feuer für alle aber wird auf dem Altare angezündet, der die Medizinen der Oberhäuptlinge zu empfangen hat, bis das, was die Beratung ergeben hat, auch ausgeführt worden ist.“
„So können wir also annehmen“, fuhr ich nun fort, „daß wenigstens dreißig Personen vorhanden sein werden. Wo und wie sie sich verteilen und plazieren, das wissen wir nicht. Es gibt somit im unteren Teil des Hauses, im Parterre, im Flur, auf dem Fußboden, keine einzige Stelle, an der wir sicher sein könnten, nicht bemerkt zu werden. Es ist da überhaupt kein einziger Gegenstand vorhanden, hinter dem wir uns verstecken könnten. Es steht da ganz allein nur der Altar, um den sie sich versammeln werden.“
„So verstecken wir uns oben!“ rief das Herzle. „Mit Hilfe der Leiter! In den Nischen, in den Luftlöchern, in den Fenstervertiefungen!“
„Ganz recht!“ nickte ich. „Aber denkst du dabei auch an die Feuer?“
„Soll ich das? Wozu?“
„Wozu? Welche Frage! Um nicht zu ersticken oder durch immerwährendes Räuspern und Husten dich wenigstens zu verraten! Es werden fünf Feuer brennen, vier Stammes- und ein Altarfeuer. Diese Feuer werden mit Holz, Reisig usw. genährt. Das gibt, zumal wenn dieses Material nicht ganz trocken ist, einen so bedeutenden Rauch und Qualm, daß es da oben, wohin du steigen willst, gar nicht auszuhalten ist, außer wir finden einen Platz, wo dieser Qualm und Rauch uns nicht erreicht.“
„Denkst du, daß es einen solchen gibt?“
„Ich hoffe es. Unten können wir uns freilich nicht verstecken; wir müssen hinauf. Aber auch nicht zu hoch, weil wir da nichts hören würden. Es gilt, die Windrichtung zu erkennen und den Luftzug zu berechnen. Das Tor und alle Fensteröffnungen stehen offen. Es wird also Luftzug mehr als genug vorhanden sein. Aber nach welcher Seite geht er? Ich schlage vor, das wir probieren! Wir haben fast noch eine Viertelstunde Zeit, ehe es Abend wird. Gehen wir schnell nach dem Haus, um ein Feuer anzuzünden und zu sehen, wohin der Rauch entweicht.“
„Und dabei erwischt zu werden!“ warnte Pappermann.
„Es kommt niemand“, versicherte Kakho-Oto. „Wir können es unbesorgt tun.“
Mein Vorschlag wurde also ausgeführt. Wir begaben uns nach dem alten Bauwerk und sammelten unterwegs soviel dürres Holz, wie nötig war, den geplanten Versuch zu machen. Die Leiter wurde wieder hervorgeholt. Als das Feuer brannte, blieb Pappermann unten, um es zu schüren; wir vier anderen aber stiegen hinauf und beobachteten die durch die Wärme verursachte Luftbewegung und den abziehenden Rauch. Hierdurch entdeckten wir die für uns am besten geeignete Stelle und stiegen wieder hinab, um das Feuer auszulöschen und jede Spur desselben sorgfältig zu vertilgen. Dann kehrten wir nach unserem Lagerplatz zurück. Kakho-Oto aber verabschiedete sich von uns, um sich zu ihren Kiowas zu verfügen und am nächsten Morgen zeitig wiederzukommen. Während meine Frau uns am Lagerfeuer das Abendessen bereitete, gossen wir uns mit Hilfe des vorhandenen Bärenfettes und einer aufgedrehten, ungefärbten Baumwollschnur einige kleine Kerzen, die wir nötig hatten, um bei unserem nicht ungefährlichen Aufstieg in die Höhe des Hauses nicht ganz und gar im Dunkeln zu sein. Denn gefährlich war es immerhin, auf den frei aus der Mauer ragenden Stufensteinen, die keine Spur von Brüstung oder Geländer hatten, ohne hellere Beleuchtung emporzuklimmen. Jedem Ausgleiten mußte unbedingt der Absturz folgen. Darum wollte ich mit dem jungen Adler allein hinauf. Das Herzle war da eigentlich recht überflüssig, zumal sie von den Verhandlungen, die ganz selbstverständlich indianisch geführt wurden, kein Wort verstehen konnte. Aber gerade, weil sie die Gefahr erkannte, bestand sie darauf, uns begleiten zu dürfen, weil sie mehr Besorgnis für mich als für sich selbst hatte und die Ueberzeugung hegte, daß ich in ihrer Gegenwart vorsichtiger sein würde als ohne sie.
Als die elfte Stunde nahte, brachen wir auf und hinterließen unserem Pappermann die Weisung, falls wir gegen Morgen noch nicht zurück sein sollten, vorsichtig nachzuschauen, was uns im Haus des Todes festgehalten habe. Wir nahmen unsere Revolver mit, obwohl wir keineswegs glaubten, sie brauchen zu müssen. Im Hause angekommen, zündeten wir die drei Kerzen an. Der Aufstieg war noch schwieriger, als ich vorausgesehen hatte, und zwar der Leiter wegen. Wir brauchten sie, um zur untersten Stufe hinaufzukommen, und da wir sie unmöglich stehenlassen konnten, weil sie uns verraten hätte, mußten wir sie mit hinaufnehmen. Ich stieg voran, dann folgte das Herzle, der „junge Adler“ hinter ihr her. Indem ich vorn und er hinten die Leiter waagrecht faßte, bildete sie für meine Frau ein mitwandelndes Sicherheitsgitter, an dem sie sich im Falle der Not zu halten vermochte. Wir gelangten langsam, sehr langsam, aber doch glücklich hinauf. Da schoben wir die Leiter in die tiefe Fensteröffnung, so daß sie in ihr vollständig verschwand, löschten unsere kleinen, fast ganz unzureichenden Licht aus und stiegen durch die Oeffnung, welche auf den künstlichen Felsensturz mündete, hinaus ins Freie.
Es gab über uns einen hellen Sternenhimmel. Das von ihm niederfallende Licht reichte hin, uns den See als eine mattsilberne Fläche zu zeigen, die im Schattenrahmen der Ufersträucher lag. Wir brauchten nicht lange zu warten, so bewegte es sich da vorn. Es kamen Gestalten, langsam und einzeln, eine hinter der anderen. Je näher sie kamen, um so deutlicher konnten wir sie erkennen. Freilich, ihre Gesichtszüge nicht. Auch die Gestalten waren nicht scharf konturiert. Aber daß es Indianer waren, darüber gab es keinen Zweifel. Auch die Bahre sahen wir, auf welcher der Häuptling der Kiowas getragen wurde. Sie bestand aus einer Decke, welche zwischen zwei Stangenhölzern befestigt war. Andere trugen große Holz- und Reisigbündel. Wir zählten vierunddreißig Personen. Wir warteten, bis die letzte von ihnen im Innern des Hauses verschwunden war, und schlüpften dann auch hinein. Wir hatten da eine undurchdringliche Dunkelheit vor uns und setzten uns nieder.
Geheimnisvolles Geräusch ließ sich in der Tiefe unter uns hören, weiter nichts. Niemand sprach, kein Ruf, kein Befehl, kein Kommando erscholl. Es schien alles sehr genau vorher besprochen worden zu sein. Da sprang irgendwo ein Funke auf, noch einer und noch einer. Diese Funken verwandelten sich in kleine Flämmchen. Die Flämmchen wurden zu Flammen, die Flammen zu brennenden Feuern. Es gab vier Feuer, welche die Ecken eines Quadrates bildeten, in dessen Mitte der Altar stand. Um diese Feuer lagerten sich phantastische Indianergruppen, die Häuptlinge jedes Stammes um ihre besondere Flamme. Der Rauch stieg empor, aber er belästigte uns nicht er verschwand durch die Oeffnungen der gegenüberliegenden Seite. Auch der Schein der Feuer stieg empor; aber je höher, um so ungenügender und geheimnisvoller wirkte er. Beim Flackern der Flammen schien sich nicht nur unten, sondern auch hier oben alles zu bewegen, die Nischen, die Mumien, die Gerippe, die verworrenen Teile der Knochen. Das Herzle griff nach meiner Hand, drückte sie krampfhaft fest und flüsterte mir zu:
„Wie geisterhaft, ja, gespensterhaft! Fast fürchte ich mich!“
„Wünschest du dich weg von hier?“ fragte ich.
„Nein, nein! So etwas gibt es ja niemals, niemals wieder! Denke, wir sind im Inferno!“
Das Bild, welches sie da brachte, war nicht unzutreffend; ich aber hätte lieber gesagt, im Fegefeuer. Was da unten beschlossen werden sollte, war Sünde, ja; aber es hatte nicht unbedingt zur Verdammung zu führen; wir selbst waren ja da, um ihm ein besseres Ende, einen glücklichen Ausgang zu geben. Mir kamen die Gestalten da unten vor, nicht als ob sie Abkömmlinge vergangener Jahrtausende, sondern die zu erlösenden Seelen jener uralten Zeiten seien, die sich hier versammelt hatten zur letzten, bösen Tat, in deren Schoß die Befreiung aus der Finsternis zu suchen und zu erfassen war. Indem ich dies dachte, erklang das erste Wort, welches gesprochen wurde:
„Ich bin Avat-towah, der Medizinmann der Komantschen. Ich sage: es ist Mitternacht!“
Und eine zweite Stimme schloß sich an:
„Ich bin Onto tapa, der Medizinmann der Kiowa. Ich fordere auf, die Verhandlung zu beginnen!“
„Sie beginne!“ rief Tangua.
„Sie beginne!“ rief To-kei-chun.
„Sie beginne!“ rief Tusahga Saritsch.
„Sie beginne!“ rief Kiktahan Schonka.
Auch jetzt konnten wir die Gesichtszüge der Genannten nicht erkennen. Wir sahen nur ihre Gestalten und hörten ihre Stimmen wie aus einer nicht mehr zur Erde gehörenden Unterwelt herauf. Da trat der Medizinmann der Komantschen an den Altar und sprach:
„Ich stehe vor dem heiligen Bewahrungsort der Medizinen. Im Tempel unseres alten, berühmten Bruders Tatellah-Satah hängt die Riesenhaut des längst schon ausgestorbenen Silberlöwen, auf welcher folgendes geschrieben steht: Bewahret eure Medizinen! Das Bleichgesicht kommt über das große Wasser und über die weite Prärie herüber, um euch eure Medizinen zu rauben. Ist er ein guter Mensch, so wird es euch Segen bringen. Ist er ein böser Mensch, so wird es ein Wehklagen geben in allen euren Lagern und in allen euern Zelten.“
Hierauf trat auch der Medizinmann der Kiowas an den Altar und sprach:
„Aber neben diesem Fell des Silberlöwen hängt die Haut des großen Kriegsadlers; auf der steht geschrieben:
Dann wird ein Held erscheinen, den man den jungen Adler nennt. Der wird dreimal um den Berg der Medizinen fliegen und sich dann zu euch niederlassen, um euch alles wiederzubringen, was das Bleichgesicht euch raubte. Ich frage euch, die Oberhäuptlinge der vier vereinigten Stämme: Wollt ihr den Beschlüssen treu bleiben, welche heute unter euch getroffen worden sind?“
„Wir wollen“, antworteten alle vier.
„Und seid ihr bereit, eure Medizinen hier niederzulegen zum Pfand dafür, daß ihr alles tun werdet, es auch auszuführen?“
Ein lautes, vierfaches Ja erscholl.
„So bringt sie her, und gebt sie ab!“
Sie taten es. Sogar Tangua ließ sich zum Altar tragen, um seine Medizin mit eigener Hand abzugeben. Kiktahan Schonka klagte, indem er dem Medizinmann die seinige überreichte:
„Es ist nur die Hälfte. Die andere Hälfte ging unterwegs verloren, als Manitou seine Augen von mir wendete. Er kehre mir sein Antlitz wieder zu, damit mir nicht auch diese andere Hälfte noch verloren gehe! Die Last meiner Winter drückt mich dem Grabe zu. Soll ich jenseits des Todes ohne Medizin erscheinen, und für ewig verloren sein? Schon um mich vor diesem Untergang zu retten, bin ich gezwungen, alles zu tun, um zu halten, was ich heute versprach!“
Die Platte wurde vom Altar gehoben und dann, als die Medizinen im Innern desselben verschwunden waren, wieder daraufgelegt. Dann häufte man Holz und Reisig darüber und steckte es in Brand, doch nicht nach unserer, sondern nach indianischer Weise, so daß nur ein kleines Feuer entstand, in welches nur die Spitzen der Hölzer ragten, die, wenn sie verzehrt waren, immer nachgeschoben wurden. Das war das „Feuer der Beratung“, die nun begann. Sie war sehr feierlich. Sie wurde durch das sehr umständliche Rauchen der Friedenspfeife eingeleitet. Man hielt trotz der vorangegangenen Vorberatungen noch sehr ausführliche Reden. Es wäre wohl interessant, wenn ich diese Reden hier wörtlich wiederholte. Einige von ihnen gestalteten sich zu wahren Meisterstücken der indianischen Redekunst. Aber der Mangel an Raum gebietet mir, nicht so umständlich zu sein, wie diese Indianer es waren. Es genügt, zu sagen, daß wir auf unserem Platze alles, was gesprochen wurde, sehr deutlich verstanden. Es ging uns fast kein einziges Wort verloren. Das Resultat der Verhandlungen war für uns folgendes:
Die vier Stämme planten einen Überfall des Lagers der Apatschen und ihrer Freunde am Mount Winnetou. Durch diesen Überfall sollte die geplante Verherrlichung Winnetous vereitelt werden. Zugleich hoffte man, dadurch in den Besitz großer Beute und all der Schätze zu kommen, welche jetzt in diesem Lager zusammenflossen. Es waren das besonders die freiwilligen Gaben an Nuggets und anderen Edelmetallen, die, entweder von ganzen Stämmen, Clans und Gesellschaften oder von einzelnen Personen gespendet, herbeigetragen wurden. Man wollte hier am dunklen Wasser noch einige Tage bleiben, um von dem bisherigen langen Ritte auszuruhen, und dann nach einem Ort marschieren, den sie „das Tal der Höhle“ nannten. Dieses Tal lag in der Nähe des Mount Winnetou und bot, wie man sagte, selbst für eine so große Zahl von Kriegern ein sicheres Versteck. Aus diesem Versteck heraus sollten dann die Apatschen und ihre Verbündeten überfallen werden.
Von höchstem Interesse für uns war ein ganz besonderer Punkt, den wir erlauschten. Die vier verbündeten Stämme hatten nämlich einen Kumpan bei den Apatschen, der es übernommen hatte, sie über alles zu unterrichten, ihren Streich mit vorzubereiten und ihnen die passendste Zeit zu seiner Ausführung anzugeben. Dieser Spion und Verräter war um so gefährlicher, als er nicht zu den gewöhnlichen, gleichgültigen Personen gehörte, sondern mit im Denkmalkomitee saß und als Mitglied desselben alles mögliche wußte und allseitig ein besonderes Vertrauen genoß. Das war Mr. Antonius Paper, mit dem indianischen Namen Okih-tschin-tscha und dem schlingernden Gange. Dies zu erfahren, hatte ganz besonderen Wert für uns. Für diese seine Mitwirkung war ihm ein bedeutender Anteil an der Beute, über dessen Höhe man aber nicht sprach, verheißen worden. Die Oberhäuptlinge schienen eine Scheu zu haben, sich vor ihren Unterhäuptlingen über diesen Punkt deutlich auszudrücken. Es wurden da die Gebrüder Enters mitgenannt, welche das, was man ihnen versprochen hatte, nicht bekommen sollten, weil man es diesem Antonius Paper auszuzahlen hatte, dem man seinen Lohn aber auch vorenthalten wollte, weil er an die beiden Enters zu entrichten wäre. Es handelte sich da jedenfalls um eine große Lumperei, über die man nicht gern sprach. Ich vermutete, daß man alle drei, sowohl Paper als auch die Enters, um ihren Lohn betrügen und sie dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen wollte.
Als die Zeremonie zu Ende war, wurde das Beratungsfeuer auf dem Altar von den beiden Medizinmännern ausgelöscht. Sie strichen die Asche von der Platte und traten dann um einige Schritte von dem Altar zurück. Hierauf sagte der Medizinmann der Komantschen in feierlichem Ton:
„So oft das heilige Feuer über den Medizinen erlischt, ist das Wort des Silberlöwen zu wiederholen: Bewahret eure Medizinen! Das Bleichgesicht kommt über das große Wasser und über die weite Prärie herüber, um euch eure Medizinen zu rauben!…“
Und der Medizinmann der Kiowas fügte hinzu:
„So oft das heilige Feuer über den Medizinen erlischt, ist auch das Wort des großen Kriegsadlers zu wiederholen: Es wird ein Held erscheinen, den man den jungen Adler nennt. Der wird dreimal um den Berg fliegen und sich dann zu euch niederlassen, um euch die geraubten Medizinen wiederzubringen. Dann wird die Seele der roten Rasse aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwachen, und was getrennt war, wird zur geeinigten Nation und zum großen Volk werden!“
Von jetzt an sprach niemand mehr, aber man blieb sitzen, bis die Feuer nach und nach verlöschten und schließlich auch der letzte noch glimmende Funke verschwunden war. Dann geschah der Aufbruch. Die Indianer verließen das Haus genauso, wie sie gekommen waren: langsam und still, einzeln, einer hinter dem andern. Unsere Blicke folgten ihnen, bis sie das Wasser des Sees erreichten und dann nach beiden Seiten abschwenkten. Das Herzle holte tief, tief Atem.
„Welch ein Abend! Welch eine Nacht!“ sagte sie. „Das werde ich nie, nie vergessen! Was tun wir jetzt?“
„Wir steigen hinab und holen uns die Medizinen“, antwortete ich.
„Dürfen wir das?“
„Eigentlich ist es verboten. Es steht der Tod darauf. Kein Indianer würde wagen, sich an ihnen zu vergreifen. Für uns ist es einfach ein Gebot der Notwendigkeit.“
Der „junge Adler“ hörte das. Er sagte nichts dazu. Wir brannten unsere drei Lichter wieder an, griffen zu unserer Leiter und stiegen langsam und äußerst vorsichtig wieder hinab. Unten angekommen, traten wir an den Altar. Da fragte der junge Apatsche in seiner Muttersprache:
„Du willst sie wirklich nehmen?“
„Ja, unbedingt“, antwortete ich. „Sie sind eine Macht in meiner Hand, und zwar eine große, segensreiche Macht.“
„Das weiß ich. Aber ich bin Indianer, und ich kenne die Bedeutung und die Unverletzlichkeit der Medizinen, die an solcher Stelle niedergelegt worden sind. Weißt du, was meine Pflicht mir hier gebietet?“
„Ja. Du hast zu verhindern, daß ich sie berühre. Sogar Gewalt hast du zu gebrauchen. Aber, habe ich etwa die Absicht, sie nicht heilig zu halten, sie zu verletzen?“
„Nein. Die hast du nicht. Und du bist Old Shatterhand, ich aber bin ein Knabe. Ein Kampf mit dir wäre mein Tod. Dennoch bitte ich dich um die Erlaubnis, eine Bedingung stellen zu dürfen!“
„Du darfst.“
„Wenn du das Bleichgesicht des Silberlöwen sein willst, welches zu uns herüberkommt, uns unsere Medizinen zu nehmen, so laß mich der junge Indianer des Kriegsadlers sein, der vom Mount Winnetou herniederkommt, um seinen Brüdern ihre Medizinen zurückzugeben!“
„Kannst du das?“
„Wenn du willst, ja!“
„Fliegen?“
„Ja.“
„Dreimal um den Berg?“
„Ja!“
Das war ein ganz eigenartiger, vielleicht sogar ein großer Augenblick. Dieses Dunkel! Dieser schauerliche Ort! Ein Bleichgesicht im Greisenalter. Ein hochbegabter, kühner Indianer im hoffnungsreichsten Jugendalter! Beide hier am Altar einander gegenüberstehend, mit kleinen, winzigen Lichtern in den Händen, deren spärlicher Schein von der Finsternis schon zwei, drei Schritte weit verschlungen wurde! Er sprach vom Fliegen. Er versicherte, es zu können, und zwar mit einer Stimme und in einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß! Er meinte körperliches Fliegen. Ich aber dachte ebenso sehr auch an den seelischen, an den geistigen Flug, den er, der Typus seiner verjüngten Nation, zu nehmen hatte, wenn er ihr die im Verlauf der Jahrtausende verlorengegangenen „Medizinen“ zurückbringen wollte. Aber ich hatte ein großes, ein warmes und ich möchte sagen, ein heiliges Vertrauen zu ihm.
„Ich glaube dir!“ antwortete ich. „Ich nehme sie jetzt. Aber ich gebe sie dir, sobald du sie von mir verlangst!“
„Deine Hand darauf!“
„Hier!“
Wir reichten einander die Hände.
„So nimm sie!“ sagte er und griff nach der Platte, um mir zu helfen, sie auf die Seite zu schieben. Sie war fast noch heiß. Ich nahm die Medizinen aus dem geöffneten Altar. Wir schoben die Platte in ihre vorige Lage zurück und verließen dann, nachdem wir die Lichter verlöscht hatten, das Haus, um nach unserm Lagerplatz zurückzukehren. Die Leiter nahmen wir mit, damit sie nicht nachträglich noch zur Verräterin an uns werde. Unser Aufenthalt am „Dunklen Wasser“ hatte von jetzt an als beendet zu gelten. So kurz er gewesen war, So sehr konnten wir mit seinen Ergebnissen zufrieden sein.