Helldorf-Settlement
Als wir am andern Morgen aufgebrochen waren, bewährte sich mein Schwarzschimmel als ein ganz ausgezeichnetes Pferd. Ein Reiter, welcher nichts von indianischer Dressur verstand, wäre keinen Augenblick im Sattel geblieben; wir aber hatten uns gar bald zusammengerichtet. Dadurch schien ich in der Achtung meines dicken Fred sehr gewonnen zu haben. Überhaupt bemerkte ich, daß er mich zuweilen mit ganz eigentümlichen Blicken musterte. Er mochte die Auszeichnung nicht begreifen, mit welcher mich Winnetou behandelte. In seinen Augen mußte die ganz und gar außerordentliche Freundschaft des berühmten Apachen zu einem unbekannten Jäger ein wahres Wunder sein.
Der alte Viktory hielt sehr gut aus, und so kamen wir recht schnell vorwärts. Bereits am Mittag erreichten wir den letzten Lagerplatz der Railtroublers, waren ihnen also fast um einen halben Tagesritt näher gekommen.
Die Spur, welcher wir folgten, hatte das Flüßchen verlassen, und sich in ein langes Seitental gezogen, durch welches sich ein Bach schlängelte. Ich bemerkte, daß Winnetou von jetzt ab den Boden weit aufmerksamer betrachtete als bisher; auch suchten seine Augen den Rand des Waldes, welcher von beiden Seitenhöhen bis auf die Sohle des Tales hinuntertrat, zu durchdringen. Endlich hielt er gar an und wandte sich, da wir Einer hinter dem Andern ritten und er der Vorderste war, zu mir um.
„Uff!“ rief er. „Was sagt mein Bruder Schar-lih zu diesem Wege?“
„Er wird hinauf bis zum Höhenkamm führen.“
„Und dann?“
„Auf der anderen Seite wird sich das Ziel der Railtroublers befinden.“
„Welches Ziel wird dies sein?“
„Der Weideplatz der Ogellallah.“
Er nickte.
„Mein Bruder Schar-lih hat noch immer das Auge des Adlers und die Witterung des Fuchses. Er hat richtig geraten,“ sagte er und ritt dann vorsichtig weiter.
„Wieso?“ fragte Walker. „Weideplatz der Ogellallah?“
„Ich habe Euch bereits einmal gefragt, ob Ihr glaubt, daß sich drei Indianer ohne ganz besondere Gründe einer solchen Schar von Weißen anschließen,“ antwortete ich. „Es gibt im wilden Westen mehr Rote als Weiße, und so wird es ja auch in unserem Falle sein.“
„Pshaw, ich verstehe Euch nicht, Charles!“
„Nun, die drei Ogellallah werden, sozusagen, den Railtroublers als Aufsicht mitgegeben worden sein.“
„Ah! Inwiefern? Von wem?“
„Hm! Nehmt es mir nicht übel, mein lieber Fred, aber die Rollen scheinen sich vertauscht zu haben; heut möchte ich Euch ein Greenhorn nennen.“
„Heigh-ho! Warum?“
„Glaubt Ihr, daß eine Bande von über zwanzig weißen Spitzbuben hier in dieser Gegend ihr Wesen treiben kann, ohne von den Roten bemerkt zu werden?“
„Nein, sicherlich nicht.“
„Wozu werden also die Weißen gezwungen sein?“
„Hm, ja! Sie werden sich unter den Schutz der Roten stellen müssen.“
„Richtig! Werden sie diesen Schutz umsonst haben?“
„Nein. Sie werden ihn bezahlen müssen.“
„Womit?“
„Mit dem, was sie haben, natürlich; mit Beute.“
„Schön! Begreift Ihr nun, was wir Beide meinen, Winnetou und ich?“
„Ah, das also ist es! Die Weißen haben den Zug überfallen, um ihren Tribut zu bezahlen, und die drei Ogellallah waren die Exekutoren!“
„Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Sicher aber ist es, daß unsere ehrenwerten weißen Brüder bald zu einer größeren Truppe von Rothäuten stoßen werden. Das sagte ich doch bereits da unten an der Eisenbahn. Aber weiter! Glaubt Ihr etwa, daß sich Rote und Weiße zusammengetan haben, nur um sich zu pflegen und auf die Bärenhaut zu legen?“
„Auf keinen Fall!“
„Das ist auch meine Meinung. Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß sie bald eine neue Teufelei aushecken werden, besonders da die letzte so gut gelungen ist.“
„Was könnte das sein?“
„Hm, ich habe so meine Ahnung.“
„Das wäre viel! Voraus ahnen, was Leute tun werden, die man noch nicht einmal gesehen hat! Charles, ich habe in der letzten Zeit gewissermaßen Respekt vor Euch bekommen, aber mit dieser Ahnung wird es wohl nichts sein!“
„Wollen sehen! Ich habe mich genugsam unter den Indsmen umhergetrieben, um ihre Art und Weise zu kennen. Und wißt Ihr, auf welche Weise man am besten erraten kann, was ein Mensch tun wird?“
„Nun?“
„Wenn man sich recht lebhaft in die Lage versetzt, in welcher er sich befindet, und dabei seinen Charakter mit in Rechnung zieht. Soll ich einmal so kühn sein, zu raten?“
„Ihr macht mich wahrlich neugierig!“
„Gut! Wem hat unser Zugpersonal wohl zuerst die Zerstörung der Bahn und die Vernichtung des Zuges gemeldet?“
„Doch jedenfalls der nächsten Station.“
„Von da aus wird man also auch Männer zur Unglücksstelle senden, um sie zu untersuchen und die Täter zu verfolgen. Nicht?“
„Jedenfalls.“
„Dadurch aber wird diese Station von Leuten entblößt, und sie kann also ohne sehr große Gefahr überfallen werden.“
„Egad! Jetzt ahne ich, was Ihr denkt!“
„Nicht wahr? Die Stationen sind jetzt hier noch temporär. Es fragt sich, an welchem Punkte man genug Leute haben wird, um ein Detachement entbehren zu können. Meiner Ansicht nach wird dies wohl Echo-Cannon sein.“
„Charles, Ihr könnt recht haben. Die Railtroublers und die Roten wissen jedenfalls ebenso genau wie wir, daß der Ort dann entblößt ist.“
„Rechnen wir auch noch dazu, daß die Sioux ihre Kriegspfeile ausgegraben und sich mit den Kriegsfarben bemalt haben, daß sie also ohne allen Zweifel Feindseligkeiten beabsichtigen, so ist fast zu ahnen, daß sie es jetzt auf Echo-Cannon abgesehen haben werden. Doch seht, da ist der Quell des Baches. Jetzt geht es steil bergan, und wir haben keine Zeit zum Plaudern mehr!
Wir ritten jetzt unter hohen Bäumen eine Steigung hinan. Das Terrain war schwierig und wir mußten Achtung geben. Oben breitete sich die Höhe plateauartig aus und sank dann wieder zu Tale, wo wir bald wieder einen kleinen Wasserlauf erreichten, welcher nach Osten ging.
Hier hatten die Verfolgten zur Mittagszeit Halt gemacht und sich dann mit dem abbiegenden Wasser nordwärts gewendet. Wir kamen durch mehrere kleine Täler, durch einige Schluchten, und die Spuren wurden nach und nach immer frischer, so daß wir uns zu immer größerer Vorsicht veranlaßt sahen.
Endlich erreichten wir gegen Abend die Höhe eines langgestreckten Bergrückens, und schon wollten wir auf der andern Seite abwärts biegen, als der voranreitende Apache sein Pferd anhielt und mit der ausgestreckten Hand vorwärts zeigte.
„Uff!“ rief er, aber mit gedämpfter Stimme.
Wir hielten an und wandten unsere Blicke in die angedeutete Richtung.
Zu unserer rechten Hand breitete sich tief unten eine kleine Ebene aus, deren Umfang vielleicht eine Stunde betragen mochte. Sie war offen und mit Gras bewachsen. Auf ihr erblickten wir eine ganze Anzahl von Indianerzelten, bei denen reges Leben herrschte. Ledige Pferde weideten im fetten Grün, und zahlreiche Männer waren ringsumher beschäftigt. Man hatte Fleisch gemacht. Außerhalb der Zelte lagen die Skelette einiger Büffel, und über Stangen hatte man Schnuren gezogen, an denen dünne Stücke des Büffelfleisches zum Trocknen aufgehängt waren.
„Ogellallahs!“ sagte Fred.
„Seht Ihr, daß ich recht hatte!“ sagte ich.
„Zweiunddreißig Zelte!“ fügte er hinzu.
Winnetou hielt sein Auge scharf hinunter gerichtet und sagte dann:
„Naki gutesnontin nagoiya – zweihundert Krieger!“
„Und die Weißen sind bei ihnen,“ bemerkte ich. „Wir wollen die Pferde zählen; so gehen wir am sichersten.“
Wir konnten die ganze Ebene übersehen und zählten zweihundertfünf Pferde. Für einen Jagdzug hatte man zu wenig Fleisch gemacht, auch war dieses Tal kein Ort zu einem einträglichen Büffelfang; wir hatten es also mit einem Kriegszuge zu tun, was auch die Schilde bewiesen, welche wir sahen. Auf der Jagd ist der Schild ja mehr hinderlich als förderlich. Das größte Zelt stand etwas abseits von den übrigen, und die Adlerfedern, welche seine Spitze zierten, ließen erraten, daß es das Häuptlingszelt sei.
„Was sagt mein Bruder Schar-lih? Werden diese Kröten von Ogellallah noch lange hier bleiben?“ fragte Winnetou.
„Nein.“
„Woraus schließt Ihr das, Charles?“ forschte Fred. „Eine solche Frage ist schwer und auch zu wichtig für uns, als daß man sie so schnell beantworten kann.“
„Seht Euch die Gerippe der geschlachteten Büffel an, Fred! Sie werden Euch die Frage genau beantworten.“
„Ah! Wie so?“
„Die Knochen sehen bereits weiß aus; sie sind gebleicht und liegen wohl schon vier oder fünf Tage an der Sonne. Das Fleisch ist also wohl ziemlich trocken. Meint Ihr nicht?“
„Jedenfalls!“
„Nun, so können die Roten also aufbrechen. Oder meint Ihr, daß sie hier bleiben werden, um noch einige Partien Schach oder Dame zu ziehen?“
„Ihr werdet spitzig, Sir. Wollte nur hören, was Ihr sagtet. Ah, da tritt Einer aus dem Zelte! Wer mag das sein?“
Der Apache griff in die Tasche und zog ein – Fernrohr hervor. Das war gewiß ein seltener Gegenstand in der Hand eines Indianers. Auch Fred Walker war überrascht. Aber Winnetou hatte die Städte des Ostens gesehen und es sich da gekauft. Er schob die Glieder des Rohres auseinander und setzte es an das Auge, um den Indianer, von dem Fred gesprochen hatte, genauer zu betrachten. Als er es wieder absetzte und mir hinreichte, zuckte ein grimmiges Wetterleuchten über sein Gesicht.
„Ko-itse, der Lügner und Verräter!“ zürnte er. „Winnetou wird seinen Tomahawk in seinen Schädel pflanzen!“
Ich blickte durch das Rohr und sah mir den Ogellallah mit großem Interesse an. Ko-itse heißt Feuermund. Der Träger dieses Namens war als ein guter Redner, ein sehr verwegener Krieger und ein unversöhnlicher Feind der Weißen in der ganzen Savanne und im ganzen Gebirge bekannt. Wenn wir es mit ihm zu tun bekamen, so hatten wir uns vorzusehen.
Ich gab das Rohr auch Walker zum Gebrauch und bemerkte dabei:
„Es wird geraten sein, uns zu verbergen. Es sind weit mehr Pferde als Männer zu sehen, und wenn auch viele der Letzteren in den Zelten liegen mögen, so ist doch immerhin anzunehmen, daß noch welche in der Gegend umherschweifen.“
„Meine Brüder mögen warten,“ meinte der Apache. „Winnetou wird einen Ort suchen, wo er sich mit den Freunden verbergen kann.“
Er verschwand unter den Bäumen und kehrte erst nach längerer Zeit zurück. Dann führte er uns seitwärts längs des Höhenrückens hin auf eine Stelle zu, an der das Unterholz so dicht war, daß wir es kaum zu durchdringen vermochten. Im Innern dieses Dickichts war genug Spielraum für uns und unsere Pferde, welche wir anbanden, statt sie anzuhobbeln, während der Apache zurückkehrte, um unsere Spuren unbemerkbar zu machen.
Hier lagen wir bis zum dunklen Abende im tiefen, duftenden Waldgrase, jeden Augenblick bereit, beim geringsten verdächtigen Geräusch aufzuspringen und den Pferden die Nasen zu verschließen, damit ihr Schnauben uns nicht verraten könne. Als es vollständig finster war, schlich sich Winnetou davon und kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß man unten einige Feuer angebrannt habe.
„Diese Menschen fühlen sich sehr sicher,“ sagte Fred. „Wenn sie wüßten, daß wir ihnen so nahe sind!“
„Daß sie verfolgt werden, können sie sich denken,“ antwortete ich. „Wenn sie sich also heut noch sicher fühlen, so kann dies nur daher rühren, daß sie überzeugt sind, daß die Stationsleute noch nicht hier sein können. Daraus möchte ich schließen, daß sie morgen aufbrechen werden. Wir müssen versuchen, etwas zu erfahren.“
„Winnetou wird gehen,“ sagte der Apache.
„Ich gehe mit,“ meinte ich. „Fred mag bei den Pferden bleiben. Die Gewehre lassen wir hier; sie würden uns nur im Wege sein. Messer und Tomahawk sind genug, und im äußersten Notfalle haben wir noch die Revolver.“
Unser dicker Fred war sofort einverstanden, zurückzubleiben. Er besaß jedenfalls Mut genug, aber wenn es nicht durchaus nötig war, liebte er es wohl nicht, sein Leben zu exponieren; und ein Wagnis war es doch jedenfalls, hinunter in das Tal zu steigen, um die Ogellallah zu belauschen. Wer von ihnen entdeckt und ergriffen wurde, der war auf jeden Fall verloren.
Wir standen drei oder vier Tage vor dem Neumond. Der Himmel war bewölkt, und kein Stern ließ sich sehen; die Nacht war also für unser Vorhaben sehr günstig. Wir tappten uns aus dem Dickicht heraus bis zu der Stelle hin, an welcher wir am Nachmittage gehalten hatten.
„Winnetou geht rechts, und mein Bruder Schar-lih mag links gehen!“ flüsterte der Apache, und im nächsten Augenblicke war er bereits lautlos im Dunkel des Waldes verschwunden.
Ich folgte der Weisung des Freundes und schlich mich an der linken Seite des ziemlich steilen Abhanges hinunter. Ich erreichte, mich unhörbar zwischen den Büschen und Bäumen hinabwindend, die Sohle des Tales und erblickte nun die Lagerfeuer vor mir. Jetzt nahm ich das Bowiemesser zwischen die Zähne, legte mich lang in das Gras und schob mich langsam vorwärts, dem Häuptlingszelte zu, welches in einer Entfernung von ungefähr zweihundert Schritten vor mir lag. Vor demselben brannte ein Feuer, aber das Zelt warf seinen dunklen Schatten auf mich.
Ich gelangte nur Zoll für Zoll vorwärts, doch hatte ich die Luft gegen mich und brauchte daher keine Sorge vor den Pferden zu haben, welche die Annäherung eines Fremden immer mit einem lauten Schnauben zu verraten pflegen. In dieser Beziehung hatte Winnetou mehr Schwierigkeiten zu überwinden als ich.
So war weit über eine halbe Stunde vergangen, ehe ich die zweihundert Schritte zurückgelegt hatte. Nun lag ich unmittelbar hinter dem Büffelhautzelte des Häuptlings, und die Männer, welche am Feuer saßen, befanden sich höchstens acht Ellen vor mir. Sie unterhielten sich sehr lebhaft in englischer Sprache miteinander, und als ich es wagte, den Kopf ein wenig vorzustrecken, um sie sehen zu können, bemerkte ich, daß es fünf Weiße und drei Indianer waren.
Diese Letzteren verhielten sich ruhig. Nur der Weiße wird am Lagerfeuer laut, während der einsilbige und vorsichtige Indianer mehr durch Zeichen als durch Worte redet. Auch das Feuer brannte hell und nicht nach indianischer Weise.
Einer der Weißen war ein langer, bärtiger Mensch, welcher eine Schmarre, die von einem Messerschnitte herzurühren schien, auf der Stirn trug. Er schien das große Wort zu führen, und die Art und Weise, wie die Andern sich zu ihm stellten, ließ vermuten, daß er eine Respektsperson sei. Ich konnte ein jedes Wort hören, welches von den Leuten gesprochen wurde.
„Und wie weit wird es sein von hier bis Echo-Cannon?“ fragte der Eine.
„Ungefähr hundert Meilen,“ antwortete der Lange. „In drei Tagemärschen ist es sehr leicht zu erreichen.“
„Aber wenn unsere Berechnung falsch ist, wenn man uns nicht verfolgt hat und die Leute dort also vollzählig sind?“
Der Lange lachte in wegwerfender Weise und antwortete:
„Unsinn! Man wird uns verfolgen, das ist sicher. Wir haben ihnen ja die Fährte deutlich genug gemacht. Es sind ungefähr gegen dreißig Menschen mit dem Zuge umgekommen, und wir haben eine schöne Beute gemacht; das wird man nicht hingehen lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, uns einzuholen.“
„Wenn das stimmt, so muß der Coup gelingen,“ sagte der Andere. „Wie viele Leute sind in Echo-Cannon beschäftigt, Rollins?“
„Gegen hundertfünfzig,“ antwortete der Genannte; „alle gut bewaffnet. Außerdem gibt es dort einige wohlgefüllte Stores, mehrere Trinksaloons, und daß wir eine volle Bau- und Verwaltungskasse finden, darüber brauchen wir keine Sorge zu tragen. Ich habe gehört, daß diese Kasse alle zwischen Green-River und Promontory vorkommenden Ausgaben zu bestreiten hat. Das ist eine Strecke von über zweihundertunddreißig Meilen und es läßt sich also vermuten, daß da viele Tausende vorhanden sein müssen.“
„Heigh-day, das läßt sich hören! Und du glaubst, daß wir die Verfolger von unserer Spur wegbringen?“
„Auf jeden Fall. Ich kalkuliere, daß sie morgen am Nachmittag hier sein werden. Wir brechen mit dem Morgengrauen auf, gehen erst eine Strecke nach Norden und teilen uns dann nach verschiedenen Richtungen in so viele Trupps, daß sie nicht wissen, welcher Spur sie folgen sollen. Später verwischt ein jeder Trupp seine Spur auf das sorgfältigste, und wir kommen da unten am Greenfork wieder zusammen. Von da aus vermeiden wir alle offenen Plätze und können von heut an in vier Tagen in Echo-Cannon sein.“
„Schicken wir Boten voraus?“
„Das versteht sich! Sie gehen morgen früh direkt nach dem Cannon und erwarten uns dort am Painterhill. Das ist alles schon bestimmt. Selbst wenn die Arbeiter vollzählig im Cannon vorhanden wären, brauchen wir keine Sorge zu haben. Wir sind ihnen überlegen, und ehe sie zu den Waffen greifen, wird der größte Teil von ihnen gefallen sein.“
Ich hätte wahrhaftig in keinem besseren Augenblick den Lauscher machen können, denn was ich hier erfuhr, das war weit mehr, als ich hätte erwarten dürfen. Sollte ich länger bleiben? Nein. Mehr konnte ich auf keinen Fall erfahren, und der geringste Umstand konnte meine Anwesenheit verraten. Ich zog mich also langsam wieder zurück.
Dies geschah immer noch in tiefgebückter Stellung und zwar rückwärts, denn ich mußte Sorge tragen, meine Spur zu verwischen, damit sie morgen früh nicht bemerkt wurde. Das war, da ich nur nach dem Gefühle gehen konnte und fast jeden Grashalm einzeln betasten mußte, eine höchst zeitraubende Arbeit, und es dauerte wohl eine Stunde, ehe ich den Rand des Waldes wieder erreichte und mich nun in Sicherheit befand.
Jetzt legte ich die Hände muschelförmig an den Mund und ließ den Ruf der großen, grünen Unke ertönen. Das war auch ein zwischen mir und Winnetou verabredetes Rückzugszeichen gewesen, und ich war überzeugt, daß er es hören und befolgen werde. Den Indianern konnte dieser Unkenruf nicht auffällig sein, da die Gegenwart eines solchen Tieres hier im hohen, feuchten Grase leicht vermutet werden konnte und es ja auch die Abendzeit war, an welcher diese Amphibien gewöhnlich ihren Ruf erschallen lassen.
Ich hielt es für nötig, dieses Zeichen zu geben. Der Apache lag unter dem Winde und konnte leicht entdeckt werden. Was ich erfahren hatte, war vollständig genug, und so war es jedenfalls geraten, ihn zu benachrichtigen, daß unser Zweck erreicht sei.
Auch die Höhe aufwärts mußte ich die Spur vertilgen, und so war ich endlich froh, als ich trotz der Dunkelheit unser Dickicht glücklich erreichte.
„Nun, wie war es?“ fragte Fred.
„Wartet, bis Winnetou kommt.“
„Warum? Ich brenne vor Begierde.“
„So verbrennt meinetwegen! Man redet nicht gern Überflüssiges, und ich müßte ja meinen Bericht zweimal geben, erst Euch und dann dem Apachen.“
Damit mußte er sich begnügen, obgleich es sehr lange dauerte, ehe der Apache kam.
Endlich hörten wir das Strauchwerk rascheln; er huschte zu uns heran und ließ sich an meiner Seite nieder.
„Mein Bruder Schar-lih hat mir das Zeichen gegeben?“ sagte er.
„Ja.“
„So ist mein Bruder glücklich gewesen?“
„Ja. Was hat der Häuptling der Apachen erfahren?“
„Er hat nichts erfahren. Er brauchte eine große Zeit, um an den Pferden vorüber zu kommen, und als er das eine Lagerfeuer beinahe erreicht hatte, hörte er den Ruf der Kröte. Dann mußte er seine Fährte auswischen, und die Sterne sind hoch gestiegen, ehe er kommen konnte. Was hat mein Bruder gesehen?“
„Ich habe Alles gehört, was wir zu wissen brauchen.“
„Mein weißer Bruder ist immer glücklich, wenn er den Feind belauscht. Er mag erzählen!“
Ich berichtete, was ich gehört hatte. Als ich fertig war, meinte Fred.
„So ist also Eure Vermutung richtig gewesen, Charles. Das mit dem Überfalle des Cannon war gut erraten!“
„Es war nicht schwer!“
„Und wie sah der Lange aus? Einen Schnitt hatte er über die Stirn?“
„Ja,“
„Und einen großen Bart?“
„Ja,“
„Er ist es, obgleich er früher keinen Bart getragen hat. Den Schnitt hat er sich bei dem Überfalle einer Farm da unten bei Leawenworth geholt. Und wie wurde er genannt?“
„Rollins.“
„Das muß man sich merken. Es ist bereits der vierte falsche Name, den ich von ihm höre. Aber was werden wir tun, Sir? Heut herausholen können wir ihn doch nicht.“
„Das ist allerdings unmöglich. Und übrigens kann Euch an seiner Bestrafung allein doch nicht gelegen sein. Die andern Railtroublers sind nicht weniger schlecht als er. Ich will Euch sagen, Fred, daß ich mich auf allen meinen Streifzügen möglichst gehütet habe, einen Menschen zu töten, denn Menschenblut ist die kostbarste Flüssigkeit, welche es gibt. Ich habe lieber großen Schaden getragen, ehe ich zur tödlichen Waffe griff, und wenn es doch geschehen mußte, so geschah es sicherlich im äußersten Grade der Notwehr. Und selbst da habe ich lieber den Feind kampfunfähig gemacht, als daß ich ihm das Leben nahm –“
„Ah,“ meinte der Dicke, „da seid Ihr grad wie Old Shatterhand. Dieser soll auch nur in der größten Not einen Indianer töten. Das Wild schießt er in das Auge; aber wenn ihn der Feind zur Gegenwehr zwingt, so zerschmettert er ihm entweder das rechte Bein oder den rechten Arm, oder er schlägt ihm einfach die Faust an den Kopf, daß er zusammenbricht und stundenlang liegen bleibt.“
„Uff!“
Diesen gedämpften Ruf der Verwunderung stieß der Apache aus. Er merkte erst jetzt, daß Walker noch gar nicht wußte, daß ich selbst Old Shatterhand sei. Ich nahm von diesem Rufe keine Notiz und fuhr fort:
„Dennoch aber kann es mir nicht einfallen, einen Bösewicht oder gar eine ganze Schar solcher Kerls ruhig laufen zu lassen. Das hieße ja, ihr Mitschuldiger werden und diese Rotte gegen brave Leute loszulassen. Herausholen können wir diesen Haller nicht; aber es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn vorhin unschädlich zu machen, indem ich ihn niederschoß. Doch will ich kein Mörder sein, und gegen das, was er verbrochen hat, wäre so ein schneller Tod ja geradezu eine Belohnung gewesen. Ich meine vielmehr, daß wir auch seine Helfershelfer fassen müssen, und das kann nur dann geschehen, wenn wir sie ruhig nach dem Cannon ziehen lassen.“
„Und wir?“
„Da gibt es nichts zu fragen! Wir kommen ihnen zuvor und warnen die Leute, welche überfallen werden sollen.“
„Well! Diesen Gedanken lasse ich mir gefallen. Vielleicht gelingt es uns, diese Raubmörderbande lebendig zu fangen. Aber werden sie uns nicht zu zahlreich sein?“
„Wir sind ihnen zu Dreien gefolgt, ohne uns zu fürchten, und werden sie noch weniger fürchten, wenn wir in Echo-Cannon Verbündete gefunden haben.“
„Wir werden nicht viele finden. Die größte Anzahl dieser Leute wird sich auf der Verfolgung befinden.“
„Wir werden dafür sorgen, daß sie von dem Stande der Dinge benachrichtigt werden und schleunigst zurückkehren.“
„In welcher Weise?“
„Ich schreibe einen Zettel und befestige ihn an einen Baum, an welchem die Spur, der sie folgen, vorüberführt.“
„Werden sie es glauben? Es könnte das ja auch eine List der Railtroublers sein, um sie von der Verfolgung abzubringen.“
„Sie werden von unserm Zugpersonale gehört haben, daß Zwei ausgestiegen sind, und auch unsere Fährten gefunden haben. Übrigens werde ich die Warnung so abfassen, daß sie geglaubt werden muß. Ferner werde ich sie bitten, den Greenfork und Painterhill zu vermeiden, da am ersteren Orte die geteilten Sioux sich wieder treffen sollen und an dem zweiten die Kundschafter verweilen. Diese Letzteren dürfen die zurückkehrenden Eisenbahner keineswegs bemerken, und daher werde ich mitnotieren, daß die Heimkehr nach dem Cannon vom Süden her geschehen muß.“
„Uff!“ meinte da Winnetou. „Meine weißen Brüder werden mit mir aufbrechen.“
„Jetzt?“ fragte Walker.
„Die Sonne muß uns bereits weit von hier sehen, wenn sie aufgeht.“
„Aber wenn man morgen früh unsere Spuren findet?“
„Die Hunde der Ogellallah werden sofort nach Norden ziehen, und keiner von ihnen wird auf diese Höhe kommen. Howgh!“
Er erhob sich und trat zu seinem Pferde, um es loszubinden. Wir taten dasselbe, führten sie aus dem Dickicht heraus, stiegen auf und ritten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Von einer Nachtruhe war natürlich keine Rede.
Es war noch ebenso finster wie vorher, und nur ein Westmann konnte es unternehmen, bei einem so schwierigen Terrain durch den Urwald auf einer Spur zu reiten, welche er nicht zu sehen vermochte. Ein europäischer Reiter wäre in dieser Dunkelheit abgestiegen, um sein Pferd zu führen; der Hinterwäldler aber weiß, daß sein Tier besser sehen kann als er. Hier zeigte sich Winnetou in seiner Größe. Er ritt voran, über Bäche und Felsen, über Stock und Stein, und nicht ein einziges Mal war er zweifelhaft, welche Richtung er einzuschlagen habe. Mein Schwarzschimmel hielt sich vortrefflich und auch der alte Viktory schnaubte zwar zuweilen ein wenig mißmutig, hielt aber gleichen Schritt mit uns.
Als es zu grauen begann, befanden wir uns wohl bereits neun bis zehn englische Meilen vom Lager der Ogellallah entfernt und konnten nun unsere Pferde ausgreifen lassen. Unsere Richtung ging einstweilen grad auf Süd zurück, aber als ich eine geeignete Stelle fand, hielten wir an. Ich riß ein Blatt aus dem Notizbuche, schrieb die notwendigen Notizen mit dem Stifte darauf und stach es dann mittels eines zugespitzten Hölzchens in die Rinde eines Baumes so ein, daß es einem jeden, der von Süden her kam, in die Augen fallen mußte. Dann schlugen wir mehr nach rechts hin die Richtung nach Südwest ein.
Zu Mittag gingen wir über den Green-Fork, aber jedenfalls sehr weit entfernt von dem Punkte, an welchem die einzelnen Trupps der Ogellallah zusammentreffen wollten. Diese mußten alle offenen Stellen vermeiden und sich also auf Umwegen im Urwald halten; wir aber konnten die möglichst gerade Richtung einschlagen und ließen unseren Pferden nicht eher Ruhe, als bis die Sonne sich zur Rüste zu neigen begann.
Seit heute morgen hatten wir unbedingt weit über vierzig englische Meilen zurückgelegt, und es war zu verwundern, daß der alte Viktory immer gleichen Schritt hielt. Wir ritten zwischen zwei eng zusammentretenden Höhen hin und standen im Begriffe, uns einen Ort zu suchen, welcher zum Lagerplatze geeignet war. Da traten die Höhen plötzlich auseinander, und wir befanden uns am Seiteneingange eines größeren Talkessels, dessen Mitte ein kleiner See einnahm. Dieser letztere wurde von einem Flüßchen gespeist, welches von Ost herüberkam und, nachdem es den See verlassen hatte, sich nach Westen hin einen Ausgang aus dem Kessel brach.
Bei dem Anblick dieses Talkessels hielten wir überrascht unsere Pferde an. Diese Überraschung galt jedoch nicht dem Tale selbst, sondern etwas Anderem. Die uns gegenüberliegende Höhe war nämlich entwaldet und bestand aus Feldern, während im Tale Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen weideten. Am Fuße der Höhe lagen fünf große Blockhäuser mit Nebenhütten, unsern deutschen Bauernhöfen ähnlich, und ganz oben auf der höchsten Spitze stand ein kleines Kapellchen, über welches sich ein mächtiges Kreuz mit dem aus Holz geschnitzten Bilde des Erlösers erhob.
Neben diesem Kapellchen bemerkten wir mehrere Personen, welche uns aber nicht zu sehen schienen. Sie blickten gegen Westen, wo der Sonnenball sich immer tiefer senkte, und als er das Wasser des Flüßchens, welches er mit den herrlichsten Tinten färbte, erreicht zu haben schien, erklang von oben herab der silberne Ton eines Glöckchens.
Hier, mitten im wilden Westen, im tiefen Urwalde das Bild des Gekreuzigten! Mitten zwischen den Kriegspfaden der Indianer eine Kapelle! Ich nahm den Hut herunter und betete, wurde aber von dem Indianer unterbrochen.
„Ti ti – was ist das?“ fragte er.
„Ein Settlement (Niederlassung) natürlich,“ antwortete Walker sehr weise.
„Uff! Winnetou sieht die Niederlassung; aber welcher Klang ist das?“
„Das ist die Vesperglocke. Sie läutet das Ave Maria.“
„Uff!“ meinte der Apache erstaunt. „Was ist Vesperglocke? Was ist Ave Maria?“
„Warten!“ sagte Fred, welcher sah, daß ich die Hände gefaltet hatte.
Als der letzte Schlag des Glöckleins verklungen war, ertönte plötzlich ein vierstimmiger Gesang vom Berge herab. Ich horchte empor, erstaunt ob des Gesangs an und für sich, noch erstaunter aber über die Worte desselben:
„Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
So wie der Tag vergangen sein!
Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
O trag’s empor zu Gottes Thron,
Und laß, Madonna, laß dich grüßen
Mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave, Maria!“
Was war denn das? Das war ja mein eigenes Gedicht, meine eigene Komposition, mein Ave Maria! Wie kam dies hierher in die Wildnisse des Felsengebirges? Ich war zunächst ganz perplex; dann aber, als die einfachen Harmonien wie ein unsichtbarer Himmelsstrom vom Berge herab über das Tal hinströmten, da überlief es mich mit unwiderstehlicher Gewalt; das Herz schien sich mir ins Unendliche ausdehnen zu wollen, und es flossen mir die Tränen in großen Tropfen von den Wangen herab. Wie kam dieses Lied hierher, an einen Ort, an welchem ich kaum die Gegenwart eines Indianers, noch viel weniger aber die Anwesenheit eines so gut geschulten Doppelquartetts vermuten konnte? Als ich die letzten Töne über dem Tal verklingen hörte, riß ich die Büchse von der Schulter, feuerte die beiden Läufe schnell hintereinander ab und gab dem Schwarzschimmel die Sporen. Ich sauste über das Tal hinüber, in das Flüßchen hinein, drüben wieder heraus und dann auf die Blockhütten zu, ohne mich ein einzigesmal umzusehen, ob mir die Gefährten auch folgten.
Die beiden Schüsse hatten nicht nur das Echo des Tales geweckt, sondern auch anderes Leben herbeigerufen. Die Türen der Blockhäuser öffneten sich und es erschienen Leute, welche besorgt ausschauten, was das Schießen zu bedeuten habe. Als sie einen Weißen in halbwegs zivilisiertem Kostüm erblickten, beruhigten sie sich und traten mir erwartungsvoll entgegen.
Vor der Tür des mir nächstliegenden Blockhauses stand ein altes Mütterchen. Ihr Gewand war einfach und sauber; ihr ganzes Äußere zeugte von fleißiger Arbeit und über ihr Angesicht, welches von schneeweißen Haaren eingefaßt wurde, lag jener selig lächelnde Frieden ausgebreitet, welcher nur das Eigentum einer Seele sein kann, die mit ihrem Gotte in unwandelbarem Vertrauen lebt.
„Good evening, grand-mother – guten Abend, Großmutter! Ich bitte, nicht zu erschrecken; wir sind ehrliche Backwoodsmen! Wird es uns erlaubt sein, abzusteigen?“ fragte ich.
Sie nickte lächelnd und antwortete:
„Welcome, Sir! Steigt in Gottes Namen ab! Ein ehrlicher Mann ist uns hier stets willkommen. Da seht meinen Alten und meinen Willy; sie werden Euch behilflich sein.“
Die Sänger waren durch meine Schüsse aufmerksam gemacht worden und schleunigst von der Höhe herabgestiegen. Jetzt hatten sie die Wohnungen erreicht, voran ein rüstiger Greis und neben ihm ein prächtiger, junger Mann, hinter ihm noch sechs ältere oder jüngere Männer und Burschen, alle in der festen, haltbaren Tracht des Hinterwaldes. Auch diejenigen Personen, welche ich vor den anderen Gebäuden hatte stehen sehen, waren herzugetreten. Der Alte streckte mir mit biederer Miene die Rechte entgegen und begrüßte mich:
„Willkommen, Sir, in Helldorf-Settlement! Das ist eine Freude, einmal Menschen zu sehen! – Willkommen abermals!“
Ich sprang vom Pferde und erwiderte seinen Handschlag:
„Thank you, Sir! Es gibt keinen schöneren Anblick im Leben, als ein freundliches Menschenangesicht. Habt Ihr ein Nachtlager für drei müde Reiter?“
„Allemal! Wir werden doch einen Platz haben für Leute, die uns willkommen sind!“
Bis jetzt hatten wir englisch gesprochen; da aber trat einer der jüngeren Männer näher herbei und rief, mich schärfer betrachtend:
„Vater Hillmann, Ihr könnt mit diesem Herrn deutsch reden. Hurra, ist das eine Ehre und eine Freude! Ratet einmal, wer das ist!“
Der alte Hillmann blickte verwundert auf und fragte:
„Wohl gar ein deutscher Landsmann? Kennst du ihn?“
„Ja, aber ich mußte mich erst besinnen. Willkommen, Herr! Nicht wahr, Sie sind es, der das Ave Maria gedichtet hat, welches wir soeben gesungen haben?“
Jetzt war ich an der Reihe, mich zu verwundern.
„Allerdings,“ antwortete ich. „Woher kennen Sie mich?“
„Von Chicago her. Ich war Mitglied im Gesangverein des Direktors Balding, der Ihr Lied einübte. Können Sie sich noch auf das Konzert besinnen, in welchem es zum erstenmal gesungen wurde? Ich sang damals zweiten Tenor, jetzt aber ersten Baß. Meine Stimme ist herabgegangen.“
„Ein Deutscher – ein Bekannter von Bill – ein Dichter – von unserm Ave Maria!“
So rief es rund um mich her, und so viel Männer, Frauen, Buben und Mädchen zugegen waren, so viele Hände streckten sich mir entgegen und so viele Stimmen riefen mir ein immer wiederholtes Willkommen zu. Es war für mich ein Augenblick der Freude, wie man sie nicht sehr oft erlebt.
Mittlerweile hatten uns auch Winnetou und Fred erreicht. Bei dem Anblicke des Ersteren schienen die guten Leute besorgt werden zu wollen; ich aber suchte ihre Befürchtungen sofort zu zerstreuen:
„Das ist Fred Walker, ein Savannenmann, und dieser ist Winnetou, der berühmte Häuptling der Apachen, vor dem Sie keine Angst zu haben brauchen.“
„Winnetou? Ist’s möglich?“ fragte der alte Hillmann. „Von dem habe ich hundertmal erzählen hören, und nur lauter Gutes. Das hätte ich nicht gedacht! Das ist eine Ehre, Herr, denn dieser Mann ist berühmter und geachteter, als mancher Fürst da drüben im alten Lande.“
Er nahm seine Mütze von dem ergrauten Haupte, streckte dem Häuptlinge die Hand entgegen und sagte englisch:
„Ich bin Euer Diener, Sir.“
Ich gestehe, daß diese Ergebenheitsphrase einem Indianer gegenüber mir ein kleines Lächeln abnötigte; aber sie war gut und aufrichtig gemeint. Winnetou verstand und sprach das Englische besser als gut. Er nickte freundlich, drückte dem Alten die Hand und antwortete:
„Winnetou ist Euer Freund; er liebt die Weißen, wenn sie gut sind.“
Jetzt begann eine Art freundlichen, liebevollen Streites darüber, wer die Gäste bekommen sollte. Hillmann machte demselben ein Ende durch den Schiedsspruch:
„Sie sind vor meinem Hause abgestiegen und gehören alle Drei mir. Damit ihr aber nicht zu kurz kommt, seid ihr heut abend zu mir geladen. Nun aber gebt den Herren Ruhe; sie werden ermüdet sein!“
Die Anderen ergaben sich darein. Unsere Pferde wurden in eine der Nebenhütten geführt und wir mußten in das Blockhaus treten, wo uns im Wohnhause eine hübsche, junge Frau empfing, die Frau Willys, des jungen Hillmann. Es wurde uns alle mögliche Bequemlichkeit geboten, und während des kurzen Imbisses, den wir vor dem eigentlichen Abendessen, welches heute ein Festmahl werden sollte, nehmen mußten, erfuhren wir die Verhältnisse der kleinen Ansiedelung.
Sämtliche Settlers hatten vorher in Chicago gewohnt. Sie waren aus dem bayerischen Fichtelgebirge, wo es viele Steinschneider gibt, nach Amerika gekommen, hatten in Chicago treu zusammengehalten und fleißig gearbeitet, um sich das Geld zu einer Farm zu verdienen. Das war allen fünf Familien gelungen. Als sie sich entscheiden sollten, in welcher Gegend sie sich eine Heimat gründen wollten, gab es eine schwere Wahl. Da hörten sie einen alten Westmann von den Tetons erzählen und von den Reichtümern, welche in jenen unerforschten Gegenden aufgestapelt liegen. Er hatte ihnen zugeschworen, daß da oben ganze Felder von Chalcedonen, Opalen und Achaten, Karneolen und anderen Halbedelsteinen zu finden seien. Hillmann war eigentlich Steinschneider, und dieser Bericht begeisterte ihn. Seine Begeisterung bemächtigte sich auch der Andern, und so wurde beschlossen, nach jenen Gegenden zu gehen. Aber die vorsichtigen Deutschen waren klug genug, nicht ihr ganzes Vertrauen auf jene Reichtümer zu setzen. Sie beschlossen, in der Nähe der Berge einen für Farmereibetrieb passenden Ort zu suchen, sich dort als Squatters niederzulassen und erst dann, wenn die Farm in Gang gebracht sei, nach den Steinfeldern des alten Westmanns zu forschen. Der alte Hillmann war mit noch zwei auf die Suche gegangen und hatte den prächtigen Talkessel mit dem See gefunden. Dieser Ort paßte für ihr Vorhaben; man holte die Andern nach, und nun, nach drei arbeitsreichen Jahren, konnten sich die braven Leute die erste Ruhe gönnen.
„Und sind Sie schon einmal droben bei den Tetons gewesen?“ fragte ich.
„Mein Willy und Bill Meinert, der Sie von Chicago aus kennt, haben es einmal versucht, hinauf zu gelangen, das war im vorigen Herbste; sie sind aber nur bis zum John Grays See gekommen; dann ist es ihnen zu wild und bergig geworden. Sie konnten nicht weiter fort.“
„Daran sind sie leider selbst schuld,“ bemerkte ich; „sie sind keine Westmänner.“
„O, Herr, ich denke doch!“ meinte Willy.
„Nehmt mir’s nicht übel, wenn ich trotzdem bei meiner Behauptung bleibe. Selbst bei einem drei Jahre langen Urbarmachen einer Wildnis wird man nur ein Settler, aber kein Westmann. Sie haben die Tetons von hier aus in schnurgerader Linie erreichen wollen, und ein Westmann weiß genau, daß dies ganz unmöglich ist. Das wird selbst in einem halben Tausend von Jahren noch nicht möglich sein, viel weniger jetzt, wo alles noch in dichter Wildnis liegt. Wie wollen Sie undurchdringliche Urwälder, die von Bären und Wölfen bevölkert sind, Abgründe und Schluchten, in denen kein Fuß einen Halt findet, Cannons, wo hinter jedem Felsen ein Indsman lauschen kann, überwinden? Sie hätten von hier aus den Salt-River oder John Grays River zu erreichen suchen sollen. Beide münden unweit voneinander in den Snake-River, den Sie dann aufwärts verfolgen mußten. Dann bekamen Sie zur Linken zunächst die Snake River Mountains, dann die Teton Paß Mountains, nachher den Teton Paß selbst und endlich die ganze Tetons Range in einer Länge von über fünfzig englischen Meilen. Aber zu zwei läßt sich eine beschwerliche und gefahrvolle Entdeckungsreise nicht ausführen. Haben Sie Steine gefunden?“
„Einige Moosachate, weiter nichts.“
„So lassen Sie einmal sehen! Winnetou kennt jeden Winkel des Felsengebirges. Ich will ihn einmal fragen.“
Da ich wußte, daß ein Indianer über die Gold- und anderen Schätze des Westens nur selten und höchst ungern spricht, so stellte ich meine Frage in der Sprache der Apachen. Ich war aber trotzdem überzeugt, daß er jede Auskunft verweigern werde.
„Will mein Bruder Schar-lih Gold und Steine suchen?“ meinte er ernsthaft.
Ich erklärte ihm den Zusammenhang. Er blickte lange vor sich nieder; dann musterte sein dunkles Auge die Anwesenden und endlich fragte er:
„Werden diese Männer dem Häuptling der Apachen einen Wunsch erfüllen?“
„Welchen?“
„Wenn sie mir noch einmal singen, was Winnetou draußen vor dem Tale hörte, so wird er ihnen sagen, wo Steine liegen.“
Ich war im höchsten Grade überrascht. Hatte das Ave Maria auf diesen Indianer einen so tiefen, gewaltigen Eindruck gemacht, daß er entschlossen war, für dasselbe die Geheimnisse der Berge zu verraten?
„Sie werden es singen,“ antwortete ich ihm.
„So mögen sie in den Groß Ventre-Bergen suchen; da liegen viele Goldkörner. Und im Tale des Beaverdam-Flusses, der sein Wasser in den südlichen Punkt des Yellowstone-See ergießt, liegen sehr viele solche Steine, wie sie diese Männer suchen.“
Während ich den Settlers diese Auskunft mitteilte und ihnen die Lage der beiden angegebenen Punkte erklärte, stellten sich die ersten Nachbarn ein, und wir mußten das Gespräch unterbrechen.
Nach und nach füllte sich der Wohnraum des Blockhauses, und wir feierten einen Abend, wie ich ihn im Westen noch nicht erlebt hatte. Die Männer konnten noch alle Lieder, welche sie in der Heimat und später in Chicago gesungen hatten. Als echte Deutsche liebten sie den Gesang und hatten sich ganz leidlich zu einem Doppelquartette zusammengeübt. Selbst der alte Hillmann sang einen erträglichen Baß, und so kam es, daß die Pausen des Gespräches mit deutschen Volksliedern und Quartetten ausgefüllt wurden.
Der Apache hörte schweigsam zu; endlich aber fragte er mich:
„Wann werden diese Männer ihr Wort halten?“
Daraufhin erinnerte ich Hillmann an das Versprechen, welches ich Winnetou gegeben hatte, und sie begannen das Ave Maria. Kaum jedoch hatten sie begonnen, so streckte der Apache die Hände abwehrend aus und rief:
„Nein! In dem Hause klingt es nicht gut. Auf dem Berge will Winnetou es hören.“
„Er hat recht,“ sagte Bill Meinert. „Dieses Lied muß im Freien gesungen werden. Kommt heraus!“
Die Sänger stiegen eine Strecke die Höhe hinan. Wir Andern blieben im Tale. Winnetou stand neben mir, war aber bald verschwunden. Dann erklang es von oben aus dem Dunkel herab in schönen, rein dahingetragenen Tönen:
„Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht die stille Nacht herein.
Ach könnte doch des Herzens Leiden
So, wie der Tag vergangen sein – –“
Wir lauschten in stiller, lautloser Andacht. Die Finsternis verhüllte die Sänger und den Ort, an welchem sie standen. Es war, als ob das Lied vom Himmel herab erklänge. Ich hatte keine nach Effekt haschenden Modulationen, keine kunstreichen Wiederholungen und Umkehrungen, keine anspruchsvolle Verarbeitung des Motivs angewendet. Die Komposition erbaute sich nur aus den naheliegenden, leitereigenen Akkorden, und die Melodie war einfach, wie diejenige eines Kirchenliedes. Aber grad diese Einfachheit, diese Natürlichkeit der Harmoniefolge gab den Tönen das so tief Ergreifende, dem unsere Herzen nicht widerstehen konnten.
Schon als das Lied verklungen war, standen wir noch lange still und kehrten nicht eher wieder in die Stube zurück, als bis uns die Rückkehr der Sänger daran erinnerte. Winnetou aber fehlte. Es verging wohl eine Stunde und noch länger, ohne daß er kam, und da wir hier doch von allen Seiten von der Wildnis umgeben waren und ihm also möglicherweise etwas zugestoßen sein konnte, so warf ich die Büchse über und trat hinaus in das Freie. Vorher jedoch bat ich die Leute, mir nicht zu folgen, außer wenn sie einen Schuß hören sollten. Ich ahnte, was den Apachen in der Einsamkeit zurückhielt.
Der Richtung folgend, in welcher ich ihn hatte verschwinden sehen, näherte ich mich dem See. Eine etwas erhöhte Felsenplatte ragte über die dunklen Wasser hinein, und auf ihr sah ich die Gestalt des Gesuchten. Er saß hart am Rande, bewegungslos wie eine Statue. Mit leisem Schritte näherte ich mich ihm und ließ mich neben ihm nieder, wo ich in lautlosem Schweigen verharrte.
Es verging eine lange, lange Zeit, ohne daß er sich regte; endlich aber erhob er langsam den Arm, deutete auf das Wasser hinein, und sagte wie unter einem tiefen, sein ganzes Nachdenken in Anspruch nehmenden Gedanken:
„Ti pa-apu shi itchi – dieser See ist wie mein Herz.“
Ich antwortete nicht. Er fiel wieder in sein Schweigen zurück, und sagte erst nach einer sehr langen Pause:
„Ntch-nha Manitou nsho; shi aguan t’enese – der große Geist ist gut; ich liebe ihn!“
Ich wußte, daß ich mit einer Antwort nur die Entwickelung seiner Gedanken und Gefühle stören würde; darum schwieg ich auch jetzt. Infolgedessen fuhr er bald fort:
„Mein Bruder Schar-lih ist ein großer Krieger und ein weiser Mann im Rate; meine Seele ist wie die seinige; aber ich werde ihn nicht sehen, wenn ich einst in die ewigen Jagdgründe gelange!“
Dieser Gedanke stimmte ihn traurig; er war mir ein neuer Beweis, wie sehr lieb mich der Apache hatte; aber mit gutem Grunde entgegnete ich jetzt:
„Mein Bruder Winnetou besitzt mein ganzes Herz; seine Seele lebt in meinen Taten; aber ich werde ihn nicht erblicken, wenn ich einst in den Himmel der Seligen gelange.“
„Wo ist der Himmel meines Bruders?“ fragte er.
„Wo sind die Jagdgründe meines Freundes?“ antwortete ich.
„Manitou besitzt die ganze Welt und alle Sterne!“ erklärte er.
„Warum gibt der große Manitou seinen roten Söhnen einen so kleinen Teil der Welt und seinen weißen Kindern Alles? Was sind die Jagdgründe der Indianer gegen die unendliche Herrlichkeit, in welcher die Seligen der Weißen wohnen werden? Hat Manitou die Roten weniger lieb? O nein! Meine roten Brüder glauben an eine große, fürchterliche Lüge. Der Glaube der weißen Männer sagt: Der gute Manitou ist der Vater über alle seine Kinder im Himmel und auf Erden. Der Glaube der roten Männer aber sagt: Manitou ist nur der Herr der Roten; er gebietet, die Weißen alle zu töten. Mein Bruder Winnetou ist gerecht und weise; er denke nach! Ist der Manitou der Roten auch der Manitou der Weißen? Warum betrügt er dann seine roten Söhne? Warum läßt er sie von der Erde verschwinden und erlaubt den Weißen, zu Millionen anzuwachsen und die Erde zu beherrschen? Oder ist der Manitou der Roten ein Anderer als der Manitou der Weißen? Dann ist der Manitou der Weißen mächtiger und gütiger als der Manitou der Roten! Der Manitou der Bleichgesichter gibt ihnen die ganze Erde mit tausend Freuden und Wonnen, und dann läßt er sie herrschen über die Seligkeit aller Himmel von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Manitou der Roten aber gibt den Seinigen nur die wilde Savanne und die öden Berge, die Tiere des Waldes samt einem immerwährenden Töten und Morden, und sodann verheißt er ihnen nach dem Tode die finsteren Jagdgründe, in denen der Mord von neuem beginnt. Die roten Krieger glauben ihren Medizinmännern, welche sagen, daß in den ewigen Jagdgründen die Indianer alle Seelen der Weißen töten werden. Wenn nun mein Bruder in diesen blutigen Gründen einst seinem Freunde Schar-lih begegnete, würde er ihn töten?“
„Uff!“ rief da der Apache laut und eifrig. „Winnetou würde die Seele seines guten Bruders verteidigen gegen alle roten Männer. Howgh!“
„So überlege mein Bruder, ob die Medizinmänner nicht eine Lüge sagen!“
Er schwieg nachdenklich, und ich hütete mich sehr, die Wirkung meiner Worte durch weitere Bemerkungen zu beeinträchtigen.
Wir kannten uns seit Jahren. Wir hatten Leid und Freud redlich miteinander geteilt und uns in jeder Gefahr und Not mit todesmutiger Aufopferung beigestanden. Aber niemals war, seiner einstigen Bitte gemäß, zwischen uns ein Wort über den Glauben gesprochen worden; niemals hatte ich auch nur mit einer Silbe versucht, zerstörend in seine religiösen Anschauungen einzudringen. Ich wußte, daß er grad dieses mir sehr hoch anrechnete, und darum mußten meine jetzigen Vorstellungen von doppelter Wirkung auf ihn sein.
Nach einer Weile fragte er:
„Warum sind nicht alle weißen Männer wie mein Bruder Schar-lih? Wären sie so wie er, so würde Winnetou ihren Priestern glauben!“
„Warum sind nicht alle roten Männer so, wie mein Bruder Winnetou?“ antwortete ich. „Es gibt Gute und Böse unter den weißen und unter den roten Männern. Die Erde ist weit über tausend Tagereisen lang, und eben so groß ist auch ihre Breite. Mein Freund kennt nur einen ganz kleinen Teil von ihr. Überall herrschen die Weißen, aber grad da, wo mein Bruder lebt, in der wilden Savanne, verstecken sich die Bösen der Bleichgesichter, welche vor den Gesetzen der Guten haben fliehen müssen. Darum denkt Winnetou, daß es so viele schlimme Bleichgesichter gibt. Mein Bruder wandert einsam durch die Berge; er jagt den Bison und tötet seine Feinde. Worüber kann er sich freuen? Lauert nicht der Tod hinter jedem Baum und Strauch auf ihn? Hat er einmal einem Roten sein ganzes Vertrauen und seine ganze Liebe schenken können? Ist sein Leben nicht bloß Arbeit, Sorge, Wachsamkeit und Täuschung gewesen? Findet er Ruhe, Frieden, Trost und Erquickung für seine ermüdete Seele etwa unter den häßlichen Skalpen des Wigwams oder auf dem verräterischen Lager der Wildnis? Der Heiland der weißen Männer aber sagt: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! Ich bin dem Heilande nachgegangen und habe den Frieden des Herzens gefunden. Warum will mein Bruder nicht auch zu ihm gehen?“
„Winnetou kennt diesen Heiland nicht!“ sagte er.
„Soll ich meinem Freunde von ihm erzählen?“
Er senkte den Kopf und meinte erst nach einer längeren Pause:
„Mein Bruder Schar-lih hat recht gesprochen. Winnetou hat keinen Menschen geliebt als ihn allein; Winnetou hat keinem Menschen vertraut als nur seinem Freunde, der ein Bleichgesicht ist und ein Christ. Winnetou glaubt keinem Menschen als nur ihm allein. Mein Bruder kennt die Länder der Erde und ihre Bewohner; er kennt alle Bücher der Weißen; er ist verwegen im Kampfe, weise am Beratungsfeuer und mild gegen die Feinde. Er liebt die roten Männer und meint es gut mit ihnen. Er hat seinen Bruder Winnetou niemals getäuscht und wird ihm auch heut die Wahrheit sagen. Das Wort meines Bruders gilt mehr als – das Wort aller Medizinmänner und als die Worte aller weißen Lehrer. Die roten Männer brüllen und schreien; die weißen Männer aber haben eine Musik, die vom Himmel kommt und im Herzen des Apachen weiterklingt. Mein Bruder mag mir verdolmetschen die Worte, welche die Männer dieser Niederlassung heut gesungen haben!“
Ich begann mit der Übersetzung und Erklärung des Ave Maria. Ich erzählte ihm von dem Glauben der Bleichgesichter, ich suchte ihm das Verhalten derselben gegen die Indianer in einem freundlichen Lichte darzustellen, und ich tat dies nicht durch den Vortrag gelehrter Dogmen und spitzfindiger Sophismen, sondern ich sprach in einfachen, schmucklosen Worten, ich redete zu ihm in jenem milden, überzeugungsvollen Tone, welcher zum Herzen dringt, jedes Besserseinwollen vermeidet und den Hörer gefangen nimmt, obgleich er diesen denken läßt, daß er sich aus eigenem Willen und Entschließen ergeben habe.
Winnetou hörte lautlos zu. Es war ein liebevolles Netzauswerfen nach einer Seele, die wert war, aus den Banden der Finsternis erlöst zu werden. Als ich geendet hatte, saß er noch lange da, in tiefes Schweigen versunken. Ich störte die Nachwirkung meiner Worte durch keinen Laut, bis er sich langsam erhob und mir die Hand entgegenstreckte.
„Mein Bruder Schar-lih hat Worte gesprochen, welche nicht sterben können,“ sagte er tief aufatmend. „Winnetou wird nicht vergessen den großen, gütigen Manitou der Weißen, den Sohn des Schöpfers, der am Kreuz gestorben ist, und die Jungfrau, welche im Himmel wohnt und den Gesang der Settler hört. Der Glaube der roten Männer lehrt Haß und Tod; der Glaube der weißen Männer lehrt Liebe und Leben. Winnetou wird nachdenken, was er erwählen soll, den Tod oder das Leben. Mein Bruder habe Dank. Howgh!“
Wir kehrten nach dem Blockhause zurück, wo man um uns beinahe besorgt geworden war. Man hatte sich von den Railtroublers und Ogellallahs unterhalten. Ich bemerkte den Leuten, daß sie ihr Settlement als einen so weit vorgeschobenen Posten eigentlich hätten befestigen sollen. Sie sahen dies ein und beschlossen, das Versäumte baldigst nachzuholen. Es war klar, daß ihre Niederlassung nur wegen ihrer außerordentlich abgeschiedenen Lage den Späherblicken der Wilden bisher entgangen war. Kam ein einziger Indianer in die Nähe, so war es um ihre Sicherheit geschehen. Die vierzehn Männer des Settlements waren zwar mit guten Waffen und hinreichender Munition versehen, und auch die Frauen und größeren Kinder besaßen Mut und Übung genug, ein Gewehr abzuschießen; aber was war das gegen eine Horde wilder Gesellen, die zu Hunderten erscheinen konnten! An Stelle dieser Leute hätte ich die Blockhäuser nicht an ihrer gegenwärtigen, exponierten Stelle, sondern hart am Ufer des Sees errichtet, so daß dieselben nur von der Landseite angegriffen werden konnten.
Die Richtung, welche die Railtroublers einschlagen wollten, führte jedenfalls in weiter Entfernung von hier vorüber, dennoch aber bat ich die Settler, auf ihrer Hut zu sein und besonders ihre noch mangelhaften Fenze (Umzäunungen) zu verstärken.
Es war spät, als wir nach Entfernung der übrigen Gäste uns zur Ruhe legten. Wir ruhten in den weichen Betten Hillmanns, die uns gastfreundlich überlassen worden waren, und schieden am anderen Morgen mit herzlichem Danke gegen die braven Leute, die uns noch eine Strecke begleiteten und denen wir versprechen mußten, wieder bei ihnen einzukehren, falls uns unser Weg wieder in die Nähe führe.
Ehe sie Abschied nahmen, traten die acht Sänger nochmals zusammen, um dem Apachen das Ave Maria zu singen. Als sie geendet hatten, reichte er allen die Hand und sagte:
„Winnetou wird die Töne seiner weißen Freunde nie vergessen. Er hat geschworen, von jetzt an nie mehr den Skalp eines Weißen zu nehmen, denn die Weißen sind die Söhne des guten Manitou, der auch die roten Männer liebt!“
Dieser Entschluß war die erste Frucht unserer gestrigen Unterredung, und nun hatte ich die Überzeugung, daß meine Worte auch noch weiter wirken würden. Das Wort Gottes ist das Senfkorn, dessen Keimen im Verborgenen vor sich geht; hat es aber einmal die harte Kruste durchdrungen, so wächst es im Lichte schnell und fröhlich weiter.
Unsere Pferde hatten sich von dem gestrigen angestrengten Ritte vollständig wieder erholt; sie griffen so aus, daß es eine Freude war. Die Bewohner von Helldorf-Settlement, welches seinen Namen nach dem bayerischen Dorfe führte, aus welchem diese Leute stammten, waren öfters in Echo-Cannon gewesen und hatten uns den kürzesten Weg genau beschrieben, so daß wir bei der Schnelligkeit unserer Pferde hoffen konnten, den Ort bis heute abend noch zu erreichen.
Winnetou war während des ganzen Tages noch einsilbiger als gewöhnlich, und manchmal, wenn er eine Strecke vor uns ritt und uns also außer Hörweite wähnte, war es mir, als hörte ich ihn mit leisem Summen die Melodie des Ave Maria wiederholen, eine Bemerkung, welche mich um so mehr frappieren mußte, als die Indianer fast durchgängig ohne musikalisches Gehör sind.
Am Nachmittage wurden die Umrisse der Berge kühner, mächtiger und steiler. Wir gerieten in ein Labyrinth wundervoller enger und verwickelter Schluchten, bis wir endlich gegen Abend von einer steilen Höhe aus das Ziel unter uns liegen sahen – Echo-Cannon mit dem Schienengeleise und dem friedlichen Arbeiter-Kamp, den wir vom Untergange retten wollten. – –