Zweites Capitel


Zweites Capitel

Die erste halbe Stunde.

Was war erfolgt? Welche Wirkung hatte diese fürchterliche Erschütterung gehabt? Hatte das Genie der Verfertiger des Projectils ein glückliches Resultat erzielt? Wurde der Stoß vermittelst der Sprungfedern, Zapfen, Wasserkissen, zerbrechlichen Verschläge abgeschwächt? War man der erschrecklichen Kraft jener Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Meter, welche in einer Secunde durch ganz Paris oder New-York fahren konnte, Meister geworden? Diese Fragen drängten sich offenbar den tausend Zeugen jener erschütternden Scene auf. Ueber dem Gedanken an die Reisenden vergaß man den Zweck der Reise! Und wenn einer von ihnen, – J.T. Maston z.B. – hätte einen Blick in das Projectil werfen können, was würde er gesehen haben?

Nichts damals, denn es war völlig dunkel drinnen. Aber seine cylinderconischen Wände hatten trefflich Widerstand geleistet. Kein Riß, keine Biegung, keine Entstellung. Das staunenswerthe Projectil hatte unter der ungeheuren Hitze der Pulververbrennung nicht gelitten, war nicht, wie man zu befürchten schien, zu einem Aluminiumregen zerschmolzen.

Im Innern wenig Unordnung, im Ganzen genommen. Einige Gegenstände waren nach der Decke geschleudert worden; aber die bedeutendsten schienen nicht von dem Stoß gelitten zu haben. Die Befestigungsriemen waren unverletzt. Auf der beweglichen Scheibe, die nach Zertrümmerung der Scheidewände und dem Entweichen des Wassers bis zum Boden herabgesunken war, lagen drei Körper regungslos.

Waren Barbicane, Nicholl und Michel Ardan noch bei Leben? War das Projectil etwas mehr, als ein metallener Sarg, der drei Leichen in den Weltraum trug? …

Einige Minuten nach der Abfahrt fing einer der Körper an, sich zu regen; seine Arme bewegten sich, sein Kopf richtete sich auf, und es gelang ihm, auf die Kniee zu kommen. Es war Michel Ardan. Er betastete sich, stieß ein lautes »He!« aus, dann sprach er:

»Michel Ardan unversehrt. Sehen wir die Andern!«

Der muthige Franzose wollte aufstehen; aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sein Kopf wankte, das stark eingedrungene Blut machte ihn blind, er war wie trunken.

»Brr!« machte er. »Das hat auf mich gewirkt, wie zwei Flaschen Cortona, nur daß dieser wohl angenehmer zu trinken ist!«

Darauf strich er mehrmals mit der Hand seine Stirn, rieb sich die Schläfen, und rief mit fester Stimme:

»Nicholl! Barbicane!«

Er wartete ängstlich. Keine Antwort. Nicht ein Athemzug, welcher kundgab, daß seinen Kameraden das Herz noch schlug. Er rief abermals. Dieselbe Stille.

»Teufel! Sie verhalten sich, als seien sie von einem fünften Stock herab auf den Kopf gefallen! Bah!« fuhr er mit der unverwüstlichen Zuversicht, die sich durch nichts stören ließ, fort, »wenn ein Franzose sich auf die Kniee zu richten vermochte, so sollten zwei Amerikaner keinen Anstand nehmen, sich wieder auf die Beine zu helfen. Aber vor Allem, klären wir die Sache auf.«

Ardan fĂĽhlte, wie ihm das Leben wieder zuströmte. Sein Blut wurde ruhiger und kam wieder in den gewöhnten Umlauf. Wiederholte Anstrengungen brachten ihn in’s Gleichgewicht. Es gelang ihm aufzustehen, er zog ein Streichhölzchen aus der Tasche, rieb den Phosphor, daĂź er zĂĽndete, näherte sich dem Gashahnen und machte Licht. Der Behälter hatte nicht gelitten, kein Gas war entwichen. Das hätte schon der Geruch angezeigt, und dann hätte Michel Ardan es nicht wagen dĂĽrfen, in dem mit Gas angefĂĽllten Raum eine Flamme anzuzĂĽnden. Denn es wäre dann eine Explosion entstanden, welche vielleicht vollendet hätte, was die ErschĂĽtterung begann.

Sobald die Gasflamme leuchtete, bog sich Ardan über die Körper seiner Gefährten, welche wie leblose Massen übereinander lagen, Nicholl oben, Barbicane unten.

Ardan hob den Kapitän auf, stĂĽtzte ihn wider einen Divan und rieb ihn kräftig. Dieses mit Verstand geĂĽbte Kneten brachte Nicholl wieder zum BewuĂźtsein; er schlug die Augen auf, bekam sogleich seine KaltblĂĽtigkeit wieder und faĂźte Ardan’s Hand. Dann, umherblickend, fragte er:

»Und Barbicane?«

– Er kommt auch an die Reihe, erwiderte Michel Ardan. Mit Dir fing ich an, weil Du oben lagst. Jetzt machen wir uns an Barbicane.

Hierauf hoben Ardan und Nicholl den Präsidenten des Gun-Clubs auf und legten ihn auf den Divan. Barbicane schien mehr als seine Genossen gelitten zu haben. Er hatte geblutet, aber Nicholl beruhigte sich, als er sich überzeugte, daß dieser Blutverlust nur von einer leichten Verwundung an der Schulter herrührte. Blos eine Schramme, die er sorgfältig zusammendrückte.

Doch dauerte es geraume Zeit, bis Barbicane wieder zu sich kam, worüber seine beiden Freunde, die ihn unablässig rieben, in Schrecken geriethen.

»Er athmet jedoch«, sagte Nicholl, das lauschende Ohr an der Brust des Verwundeten.

– »Ja, versetzte Ardan, er athmet, wie ein Mensch, der diese Thätigkeit täglich zu üben gewohnt war. Reiben, kneten wir, Nicholl, kräftig!«

Und die beiden improvisirten Aerzte machten’s so gut, daĂź Barbicane wieder zum Gebrauch seiner Sinne kam. Er schlug die Augen auf, richtete sich empor, ergriff die Hand seiner Freunde, und sein erstes Wort war:

»Nicholl, sind wir in Bewegung?«

Nicholl und Barbicane sahen sich einander an. Um’s Projectil hatten sie sich noch nicht bekĂĽmmert. Ihre erste Sorge galt den Reisenden, nicht dem Waggon.

»Wirklich sind wir in Bewegung?« wiederholte Michel Ardan.

– Oder befinden wir uns ruhig auf dem Boden Florida’s? fragte Nicholl.

– Oder auf dem Grund des mexikanischen Golf? fügte Michel Ardan bei.

– Das wäre! rief der Präsident Barbicane.

Und diese doppelte Vermuthung, welche seine Gegner aufstellten, wirkte unmittelbar, ihn wieder zu völligem Bewußtsein zu bringen.

Wie dem auch sein mochte, man konnte über die Lage, worin sich das Geschoß befand, sich noch nicht bestimmt aussprechen. Seine scheinbare Unbeweglichkeit, der Mangel an Verbindung mit der Außenwelt, gestatteten nicht, die Frage zu beantworten. Vielleicht war das Projectil auf seiner Fahrt durch den Raum begriffen? Vielleicht war es auch nach kurzem Aufflug wieder auf die Erde gefallen, oder auch in den mexikanischen Golf, was bei der geringen Breite von Florida leicht möglich war.

Der Fall war ernst, das Problem interessant. Es mußte baldmöglichst gelöst werden. Barbicane, dem bei seiner Aufregung die moralische Energie seine physische Schwäche überwinden half, stand auf und horchte. Außen tiefe Stille. Aber das dichte Futter mußte alles Geräusch von Seiten der Erde unvernehmlich machen. Doch ein Umstand fiel Barbicane auf. Die Temperatur innerhalb des Projectils war außerordentlich hoch. Der Präsident zog ein Thermometer aus seiner Scheide und befragte das Instrument; es zeigte fünfundvierzig hunderttheilige Grad.

»Ja!« rief er aus, »ja! wir sind in Bewegung! Diese erstickende Hitze, welche durch die Wände des Projectils eindringt, kommt von seiner Reibung in den Schichten der Atmosphäre. Sie wird bald abnehmen, weil wir schon in den luftleeren Raum übergehen, und nachdem wir fast erstickt wären, werden wir starke Kälte zu empfinden haben.«

– Wie? fragte Michel Ardan, nach Deiner Ansicht, Barbicane, befänden wir uns schon über der Grenze der Erdatmosphäre?

– Ohne Zweifel, Michel. Höre nur. Es ist jetzt zehn Uhr fünfundfünfzig Minuten. Seit etwa acht Minuten sind wir unterwegs. Wäre nun unsere anfängliche Geschwindigkeit nicht durch die Reibung vermindert worden, so wären wir schon binnen sechs Secunden über die sechzehn Lieues hinausgekommen, soweit sich die Atmosphäre um den Erdball herum erstreckt.

– Ganz richtig, erwiderte Nicholl, aber wie hoch schlagen Sie diese Verminderung der Geschwindigkeit durch die Reibung an?

– Zu einem Drittheil, Nicholl, versetzte Barbicane. Das ist beträchtlich, aber meiner Rechnung nach beträgt sie soviel. Hätten wir nun Anfangs eine Geschwindigkeit von zwölftausend Meter gehabt, so wird dieselbe beim Verlassen der Atmosphäre auf siebentausenddreihundertzweiunddreiĂźig Meter herabgemindert sein. Wie dem auch sei, wir haben bereits diesen Raum durchschritten und …

– Und dann hat Freund Nicholl seine beiden Wetten verloren; viertausend Dollars, weil die Columbiade nicht zersprungen ist; fünftausend, weil das Projectil über sechs Meilen emporgekommen ist. Also, Nicholl, leiste Deine Verbindlichkeit.

– Stellen wir zuerst die Thatsache fest, dann soll die Bezahlung nicht fehlen. Leicht möglich, daĂź Barbicane’s Folgerungen richtig sind, und daĂź ich meine neuntausend Dollars verloren habe. Aber es kommt mir noch eine andere Vermuthung, ein Fall, wodurch die Wette zu nichte wĂĽrde.

– Welche? fragte lebhaft Barbicane.

– Es wäre möglich, daß wir, weil aus irgend einem Grunde das Feuer nicht zum Pulver gelangte, gar nicht abgefahren wären.

– Wahrhaftig, Kapitän, rief Michel Ardan, das ist eine Hypothese, die begreiflich ist! Sie ist nicht ernstlich gemeint! Sind wir nicht alle von dem StoĂź fast zum Tode erschĂĽttert worden? Hab‘ ich Dich nicht wieder in’s Leben zurĂĽckgerufen? Blutet nicht noch die Schulter des Präsidenten vom GegenstoĂź?

– Einverstanden, Michel, wiederholte Nicholl, aber nur eine Frage.

– Die wäre?

– Hast Du etwas von dem Knall gehört, der doch gewiß ganz entsetzlich stark war?

– Nein, erwiderte Ardan sehr betroffen, ich habe wirklich nichts davon gehört.

– Und Sie, Barbicane?

– Ich auch nicht.

– Nun denn? sagte Nicholl.

– In der That! murmelte der Präsident, warum haben wir keinen Knall gehört?

Die drei Freunde sahen sich einander etwas verlegen an. Die Erscheinung war ihnen unerklärlich. Doch war das Projectil abgeschossen worden, und folglich mußte ein Knall stattgefunden haben.

»Ueberzeugen wir uns zuerst, wo wir uns befinden«, sagte Barbicane, »und lassen wir die Luckendeckel hinab.«

Diese höchst einfache Verrichtung wurde sogleich bei der Lucke rechts vorgenommen. An den außen angebrachten Platten befanden sich Bolzen, welche durch die Wand dringend, innen vermittelst Mutterschrauben festgehalten wurden. Diese entfernte man mit einem englischen Schlüssel, die Bolzen wurden hinausgestoßen, und die Löcher, wodurch sie gegangen, durch Schließklappen, die mit Kautschuk gefüttert waren, verstopft. Nun senkte sich die Außenplatte an einem Charnier, wie bei einem Luckendeckel eines Kriegsschiffs hinab, und das Linsenglas an der Mündung der Lucke kam zum Vorschein. Eine ganz gleiche Ausgucklucke befand sich auf der entgegengesetzten Seite in der Wand des Projectils, eine andere an der Spitze desselben, und eine vierte in der Mitte seines Bodens. So konnte man also in vier entgegengesetzten Richtungen Beobachtungen anstellen, am Firmament durch die Seitenlucken und direct nach der Erde oder dem Mond hin durch die untere und obere.

Barbicane und seine Genossen waren unverzüglich an die geöffnete Lucke gestürzt. Kein Lichtstrahl zeigte sich, das Projectil war von tiefem Dunkel umfangen. Demunerachtet rief der Präsident Barbicane aus:

»Nein, meine Freunde, wir sind nicht wieder auf die Erde gefallen! Wir sind nicht in den Meeresgrund des mexikanischen Golfs versenkt! Ja! wir fahren aufwärts im Weltraum! Sehen Sie da die in der Nacht schimmernden Sterne und diese undurchdringliche Dunkelheit zwischen uns und der Erde!«

»Hurrah! Hurrah!« riefen zugleich Michel Ardan und Nicholl. In der That bewies diese dichte Finsterniß, daß das Projectil sich von der Erde entfernt hatte. Denn die damalige helle Beleuchtung des Erdbodens durch den Mondschein wäre den Reisenden sichtbar gewesen, wenn sie sich noch im Bereich seiner Oberfläche befunden hätten. Diese Dunkelheit lieferte auch den Beweis, daß das Projectil bereits über die Grenze der atmosphärischen Luftschichte gelangt war, denn das in derselben verbreitete zerstreute Licht hätte auf seine Metallwände eine Rückstrahlung ausgeübt, welche ebenfalls mangelte. Dieses Licht hätte die Linse des Gucklochs bestrahlt, und dieses Glas war unbeleuchtet. Es war also gar kein Zweifel mehr, daß die Reisenden sich von der Erde entfernt hatten.

»Ich habe verloren«, sagte Nicholl.

– Und ich gratulire dazu! erwiderte Ardan.

– Hier meine neuntausend Dollars, sagte der Kapitän, und zog einen Pack Papierdollars aus seiner Tasche.

– Wollen Sie Quittung? fragte Barbicane bei der Empfangnahme.

– Wenn Sie so freundlich sein wollen, erwiderte Nicholl. So ist’s der Regel gemäß.

Und ernst, phlegmatisch, als befände er sich bei seiner Casse, zog der Präsident Barbicane sein Notizbuch, riß ein weißes Blatt heraus, schrieb darauf eine regelrechte Quittung mit Datum und Unterschrift, und überreichte sie dem Kapitän, der sie sorgfältig in seiner Brieftasche aufhob.

Michel Ardan zog seine Mütze ab, und verneigte sich, ohne ein Wort zu seinen Kameraden zu reden. Soviel Förmlichkeit unter solchen Umständen – dafür hatte er keine Worte. Nie war ihm etwas so »Amerikanisches« vorgekommen.

Als Barbicane und Nicholl ihr Geschäft beendigt hatten, begaben sie sich wieder vor das Fenster und betrachteten die Sternbilder. Auf dem dunkeln Hintergrund des Himmels hoben sich die Sterne sehr lebhaft ab. Aber von dieser Seite konnte man den Mond nicht wahrnehmen, weil er in der Richtung von Osten nach Westen allmälig zum Zenith emporstieg. Seine Abwesenheit veranlaßte Ardan zu einer Bemerkung.

»Und der Mond?« sagte er. »Sollte er zufällig unser Rendezvous verfehlen.«

– Beruhige Dich, versetzte Barbicane. Unser künftiger Wohnball ist auf seinem Posten, aber auf dieser Seite können wir ihn nicht sehen. Oeffnen wir das andere Seitenfenster.

Im Augenblick, als Barbicane eben im Begriff war, das Fenster zu verlassen, um die Gucklöcher der entgegengesetzten Seite von ihrem Deckel zu befreien, ward seine Aufmerksamkeit durch die Annäherung eines glänzenden Gegenstandes angezogen. Es war eine enorme Scheibe, deren kolossale Verhältnisse sich nicht schätzen ließen. Seine der Erde zugekehrte Seite war lebhaft beleuchtet. Man hätte es einen kleinen Mond nennen können, der das Licht des großen zurückstrahlte. Es bewegte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit voran, und schien um die Erde eine Bahn zu beschreiben, welche die Linie des Projectils durchschnitt. Zu der Bewegung um die Erde kam eine Achsenbewegung um sich selbst. Es verhielt sich also wie alle im Raum sich selbst überlassene Himmelskörper.

»Was ist das?« rief Michel Ardan. »Noch ein Projectil?«

Barbicane erwiderte nichts. Die Erscheinung dieses enormen Körpers überraschte und beunruhigte ihn. Es war ein Zusammenstoß möglich, der schlimme Folgen haben konnte, sei es, daß das Projectil aus seiner Fahrt gedrängt oder zur Erde hinabgestoßen, oder durch überwältigende Anziehungskraft desselben unwiderstehlich mit fortgerissen würde.

Der Präsident Barbicane begriff augenblicklich die Folgen dieser drei Fälle, welche auf die eine oder andere Art das Unternehmen zum Scheitern bringen würden. Seine Gefährten blickten stumm in den Raum hinaus. Der Gegenstand nahm, sowie er näher kam, erstaunlich an Größe zu, und durch eine optische Täuschung schien das Projectil ihm geradezu entgegen zu fahren.

»Herr Gott!« rief Michel Ardan, »es wird gleich ein Zusammenstoß eintreten.«

Instinctmäßig traten die Reisenden zurück. Ihr Schrecken war ungeheuer, dauerte jedoch nicht lange, kaum einige Secunden. Der Asteroide fuhr einige hundert Meter neben dem Projectil vorbei und verschwand, nicht durch seine Schnelligkeit, sondern weil seine dem Mond zugekehrte Seite sich plötzlich in der absoluten Dunkelheit des Raums verlor.

»GlĂĽck zur Fahrt!« rief Michel Ardan, indem er wieder frei aufathmete. »Wie? Ist der unendliche Raum nicht groĂź genug, daĂź eine armselige kleine Kugel nicht ohne BesorgniĂź sich darin ergehen könnte! Aber was hat’s mit der anmaĂźenden Kugel, die uns beinahe gestoĂźen hätte, fĂĽr eine BewandtniĂź?«

– Ich weiß es, erwiderte Barbicane.

– Potz tausend! Du weißt ja Alles.

– Es ist, sagte Barbicane, ein bloßer Bolide, aber von enormer Größe, den die Anziehungskraft der Erde wie einen Trabanten gefesselt hat.

– Ist’s möglich?! rief Michel Ardan. Also hat die Erde zwei Monde, wie Neptun?

– Ja, Freund, zwei Monde, obschon man im Allgemeinen glaubt, sie habe nur einen. Aber dieser zweite Mond ist so klein, und seine Schnelligkeit so groß, daß die Erdbewohner ihn nicht gewahren können. Ein französischer Astronom, Petit, hat durch Beachtung gewisser Bahnstörungen die Existenz dieses zweiten Trabanten zu bestimmen und seine Elemente zu berechnen gewußt. Nach seinen Beobachtungen würde dieser Bolide seinen Umlauf um die Erde in nur drei Stunden und zwanzig Minuten vollenden, was eine erstaunliche Geschwindigkeit voraussetzt.

– Geben alle Astronomen, fragte Nicholl, die Existenz dieses Trabanten zu?

– Nein, erwiderte Barbicane; aber wenn sie, wie wir, ihm begegnet wären, könnten sie nicht mehr zweifeln. In der That, denk‘ ich, macht dieser Bolide, der uns durch ein AnstoĂźen sehr in Verlegenheit gebracht hätte, es möglich, genau anzugeben, wo wir uns befinden.

– Wie so? fragte Ardan.

– Weil seine Entfernung bekannt ist, so befanden wir uns im Moment des Begegnens gerade achttausendeinhundertundvierzig Kilometer von der Erdoberfläche entfernt.

– Ueber zweitausend Lieues! rief Michel Ardan. Das überbietet ja die Expreßfahrten dieses armseligen Erdballs!

– Ich glaub’s wohl, erwiderte Nicholl, und sah auf seinen Chronometer, es ist elf Uhr, und wir haben erst seit dreizehn Minuten Amerika verlassen.

– Erst dreizehn Minuten? sagte Barbicane.

– Ja, erwiderte Nicholl, und wenn unsere anfängliche Geschwindigkeit von elf Kilometer fort bestände, so würden wir in der Stunde etwa zehntausend Lieues zurücklegen!

– Das ist Alles wohl recht, meine Freunde, sagte der Präsident, aber immer noch ist die Frage zu lösen: Weshalb haben wir den Knall der Columbiade nicht gehört?

Keine Antwort. Die Unterhaltung stockte, und Barbicane, fortwährend nachdenkend, machte sich daran, den Deckel der anderen Seitenlucke herabzulassen. Seine BemĂĽhung gelang, und durch das frei gemachte Fenster fiel das glänzendste Mondlicht in’s Innere des Projectils. Nicholl löschte als ein sparsamer Mann das Gaslicht, denn es war unnöthig, und war zudem bei Beobachtung der Planetenwelträume hinderlich. Das Mondlicht glänzte in unvergleichlicher Reinheit. Seine Strahlen, nicht mehr durch die Dunstatmosphäre der Erde gedämpft, drangen hell durch das Fenster, und erfĂĽllten das Innere des Projectils reichlich mit silbernem Widerschein. Sein Glanz, obwohl durch den schwarzen Vorhang des Firmaments gehoben, doch in dem leeren Aetherraum nicht fähig sich zu verbreiten, verdunkelte nicht die benachbarten Sterne. So gewährte der Himmel einen ganz ungewöhnlichen Anblick, wie ihn das menschliche Auge nicht ahnen konnte.

Das Interesse der kĂĽhnen Reisenden an der Betrachtung des Nachtgestirns, dem höchsten Zweck ihrer Reise, ist begreiflich. Der Trabant der Erde kam auf seiner Bahn dem Zenith immer näher, dem mathematischen Punkt, welchen er etwa sechsundneunzig Stunden später erreichen sollte. Seine Gebirge und Ebenen, das ganze Bild seiner Oberfläche stellte sich ihren Augen nicht klarer dar, als wenn sie’s irgend von einem Punkt der Erde aus betrachtet hätten; aber sein Licht entwickelte sich in dem leeren Raum mit unvergleichlicher Stärke. Die Scheibe glänzte wie ein Spiegel von Platina. Von der Erde, die unter ihren FĂĽĂźen entschwand, hatten sie schon fast keine Erinnerung mehr.

Der Kapitän Nicholl lenkte zuerst wieder die Aufmerksamkeit auf den verschwundenen Erdball.

»Ja!« erwiderte Michel Ardan, »seien wir nicht undankbar gegen ihn. Weil wir unsere Heimat verlassen, so gebühren ihm unsere letzten Blicke. Ich will die Erde noch einmal sehen, bevor sie gänzlich meinen Blicken entschwindet!«

Um dem Wunsch seines Gefährten zu entsprechen, machte sich Barbicane daran, das Fenster im Boden des Projectils, welches direct die Betrachtung der Erde gestattete, frei zu machen. Es kostete Mühe, die Scheibe, welche durch die Kraft der Wurfbewegung bis auf den Boden gedrängt worden war, herauszunehmen. Die Stücke derselben wurden sorgfältig an der Wand aufgestellt, um nöthigenfalls benutzt werden zu können. Hierauf zeigte sich eine kreisrunde, fünfzig Centimeter breite Oeffnung, welche in dem Boden des Geschosses ausgeschnitten war. Dieselbe war mit einem fünfzehn Centimeter dicken, mit einem kupfernen Beschlag versehenen Glas geschlossen. Darunter war eine Aluminiumplatte angebracht, die vermittelst Bolzen befestigt war. Es wurde die Schraubenmutter losgedreht, die Bolzen frei gemacht, die Platte senkte sich und so war der Verkehr mit der Außenwelt für das Gesicht hergestellt.

Michel Ardan kniete auf das Fenster nieder, es war dĂĽster, wie im Schatten.

»Nun!« rief er, »und die Erde?«

– Die Erde? sagte Barbicane, da ist sie.

– Wie? sagte Ardan, dieser schmale Streifen, die silberne Sichel?

– Allerdings, Michel. In vier Tagen, wenn’s Vollmond ist, eben wenn wir dort anlangen, wird die Erde im Neulicht sein. Sie wird uns nur noch in Gestalt einer dĂĽnnen Sichel sichtbar sein, die bald verschwinden wird, und dann werden wir sie einige Tage lang in undurchdringliches Dunkel gehĂĽllt finden.

– Dies die Erde! sagte Michel Ardan wiederholt, indem er mit gesperrten Augen den schmalen Schnitt seines Geburtsplaneten ansah.

Die vom Präsidenten Barbicane gegebene Erklärung war richtig. Die Erde trat im Verhältniß zum Projectil in ihre letzte Phase. Sie befand sich in ihrem Achtel, und zeigte auf dem dunkeln Hintergrund des Himmels eine sein gezogene Sichel. Ihr Licht, welches durch die dichte Schichte atmosphärischer Luft einen bläulichen Schein bekam, war minder stark, als das der Mondsichel. Dieser Ausschnitt zeigte bedeutende Dimensionen; man hätte ihn einen enormen, am Himmel gespannten Bogen nennen können. Einige hell erleuchtete Punkte, zumal auf seiner concaven Seite, bezeichneten hohe Gebirge; aber sie verschwanden zuweilen unter dichten Flecken, wie man sie bei der Oberfläche der Mondscheibe nie gewahrt. Es waren Ringe von Gewölk, die sich concentrisch um die Erdkugel herum bilden.

Jedoch war man, in Folge einer Naturerscheinung, gleich der, wie sie beim Mond vorkommt, wenn er in seinen Achteln sich befindet, im Stande die vollständige Umfangslinie der Erdkugel wahrzunehmen. Die ganze Scheibe kam ziemlich deutlich zum Vorschein durch die Wirkung des aschfarbenen Lichts, welches geringer als das bei dem Mond anzuschlagen ist. Der Grund dieser geringeren Stärke ist sehr begreiflich. Der Reflex auf dem Mond kommt von den Sonnenstrahlen, welche die Erde auf ihren Trabanten zurĂĽckwirft; hier sind’s umgekehrt die vom Mond auf die Erde zurĂĽckgeworfenen Sonnenstrahlen. Nun ist das Erdlicht ungefähr dreizehnmal stärker als das Mondlicht, in Gemäßheit der verschiedenen Größe der beiden Körper. Daraus folgt denn, daĂź bei der Erscheinung des aschfarbenen Lichtes der dunkle Theil der Erdscheibe minder klar gezeichnet ist, wie bei der Mondscheibe, weil die Stärke der Erscheinung im VerhältniĂź zur Leuchtkraft der beiden Gestirne steht. Es ist weiter zu bemerken, daĂź bei der Sichel der Erde die krumme Linie weitläufiger gezogen zu sein schien, als beim Mond; was lediglich Wirkung der Ausstrahlung ist.

Während die Reisenden das dichte Dunkel des Raums zu durchdringen suchten, entfaltete sich vor ihren Blicken ein funkelnder Strauß von Sternschnuppen. Hunderte von Boliden, die bei der Berührung mit der Atmosphäre sich entzündeten, durchzogen das Dunkel mit Lichtstreifen, und funkelten mit feurigem Schimmer in dem aschfarbenen Theile des Mondes. Die Erde befand sich damals in ihrer Sonnennähe, und der December ist der Erscheinung der Sternschnuppen so günstig, daß die Astronomen deren vierundzwanzigtausend während einer Stunde aufzählten. Aber Michel Ardan, der wissenschaftliches Urtheil gering achtete, gab lieber dem Glauben Raum, die Erde feiere mit ihren glänzendsten Kunstfeuern die Abfahrt ihrer drei Kinder.

Kurz, dies war Alles, was sie von dem im Dunkel verschwundenen Erdball sahen, als einem untergeordneten Stern in der Sonnenwelt, der den groĂźen Planeten wie ein bloĂźer Morgen- oder Abendstern unter- oder aufgeht! ein nicht mehr zu erkennender Punkt im Raum, nur eine schwindende Sichel noch war die Erdkugel, auf welcher sie Alles, was ihnen lieb und theuer war, zurĂĽckgelassen hatten!

Lange blickten die drei Freunde sprachlos, aber im Herzen einig, sich einander an, während das Projectil sich in unverändert abnehmender Geschwindigkeit entfernte. Hierauf befiel ihr Gehirn eine unwiderstehliche Schlaftrunkenheit, wohl aus erschöpfender Ermüdung des Körpers und Geistes, denn auf die Ueberreizung der letzten auf der Erde verbrachten Stunden mußte wohl unvermeidlich eine Reaction erfolgen.

»Nun«, sagte Michel, »da man doch schlafen muß, so wollen wir schlafen.«

Und auf ihre Polster gestreckt, sanken die Drei bald in tiefen Schlaf.

Aber sie waren noch nicht eine Viertelstunde eingeschlummert, als Barbicane sich plötzlich aufrichtete und mit erschreckender Stimme seinen Gefährten zu rief:

»Gesunden!«

– Was hast Du gefunden? fragte Michel Ardan, von seinem Lager aufspringend.

– Den Grund, weshalb wir den Knall der Columbiade nicht gehört haben!

– Und der ist? rief Nicholl.

– Weil unser Projectil schneller fuhr, als der Ton!

Achtzehntes Capitel


Achtzehntes Capitel

Bedeutsame Fragen.

Unterdessen war das Projectil an dem Bereiche Tycho’s vorĂĽber gekommen. Barbicane und seine beiden Freunde beobachteten dann noch mit sorgfältigster Achtsamkeit die glänzenden Lichtstreifen, welche der berĂĽhmte Berg so merkwĂĽrdig nach allen Seiten hin verbreitet.

Was hat es mit dieser strahlenden Lichtkrone fĂĽr eine BewandtniĂź? Welches geologische Phänomen hatte diesem gluthsprĂĽhenden Hauptschmuck den Ursprung gegeben? Diese Frage nahm mit Recht Barbicane’s Gedanken in Anspruch.

Unter ihren Augen sahen sie wirklich nach allen Richtungen hin lange Lichtstreifen ziehen mit aufgebogenem Rand und vertiefter Mitte, zwanzig bis fünfzig Kilometer breit. Diese glänzenden Streifen liefen vom Tycho aus an manchen Stellen bis zu dreihundert Lieues weit hinaus und schienen, vornehmlich nach Osten, Nordosten und Norden hin, die Hälfte der südlichen Hemisphäre zu bedecken. Einer dieser Ausläufer reichte bis zum Circus Neander unter dem vierzigsten Meridian. Ein anderer durchfurchte das Nectarmeer und brach sich nach einem Laufe von vierhundert Lieues an der Pyrenäenkette. Andere bedeckten in westlicher Richtung das Wolkenmeer und das Meer des Humors.

Wie entstanden diese funkelnden Strahlen, die auf den Ebenen wie auf den Höhen, so hoch es auch sein mochte, zu sehen waren? Alle gingen von einem gemeinschaftlichen Centrum, dem Krater Tycho’s, aus; sie waren ein AusfluĂź desselben. Herschel hielt sie ihres glänzenden Aussehens wegen fĂĽr ehemalige, im Kalten fest gewordene Lava-Ausströmungen, seine Ansicht fand aber keinen Beifall. Andere Astronomen wollten in diesen unerklärlichen Strahlen eine Art Schuttanhäufung sehen, unregelmäßige TrĂĽmmer und Blöcke durcheinander, welche zur Zeit der Bildung des Tycho dahin geworfen wurden.

»Und warum nicht? fragte Nicholl Barbicane, der diese verschiedenen Meinungen vortrug und verwarf.

– Weil die Regelmäßigkeit dieser lichtstrahlenden Linien und die Gewalt, welche nöthig war, um die vulkanischen Stoffe in solche Entfernung zu schleudern, damit nicht zu erklären sind.

– Ja, wahrhaftig! erwiderte Michel Ardan, es scheint mir so schwer nicht, den Ursprung dieser Strahlen zu erklären.

– Wirklich? sagte Barbicane.

– Wirklich, erwiderte Michel. Ich brauche nur zu sagen, es geschah durch ein ungeheures sternförmiges Zerspringen, wie wenn man mit einem Ball oder Stein wider ein Glasscheibe wirft!

– Gut! versetzte Barbicane lächelnd. Und welche Hand wäre kräftig genug, um den Stein zu schleudern, der so weit gesprungen ist.

– Die Hand ist dabei nicht nöthig, entgegnete Michel, der sich nicht von seinem Gedanken abbringen ließ; und was den Stein betrifft, nehmen wir an, es sei ein Komet.

– Ah! Die Kometen! rief Barbicane, die müssen aushelfen. Mein wackerer Michel, Deine Erklärung ist nicht übel, aber Deinen Kometen braucht man nicht. Der Stoß, welcher diesen Bruch veranlaßt hat, kann aus dem Inneren des Gestirns gekommen sein. Eine heftige Zusammenziehung der Mondkruste, unter Einwirken der Erkältung, konnte hinreichend sein, um das riesenhafte Zerspringen hervorzubringen.

– Meinetwegen eine Zusammenziehung, so etwas wie eine Kolik des Mondes, erwiderte Michel Ardan.

– Uebrigens, fügte Barbicane hinzu, ist auch ein englischer Gelehrter dieser Ansicht, Nasmyth, und sie scheint mir auch hinreichend das Ausstrahlen dieses Gebirgs zu erklären.

– Dieser Nasmyth ist kein Narr!« erwiderte Michel.

Lange waren unsere Reisenden, die sich an solchem Schauspiel nicht satt sehen konnten, in Bewunderung dieses Glanzes vertieft. Ihr Projectil, von der Lichtausströmung durchdrungen, in doppelter Bestrahlung, von Seiten der Sonne und des Mondes, mußte wie eine glühende Kugel aussehen. Sie waren auch aus bedeutender Kälte plötzlich in starke Hitze übergegangen. Die Natur wollte sie vorbereiten, Seleniten zu werden.

Seleniten werden! Dieser Gedanke führte nochmals auf die Frage der Bewohnbarkeit des Mondes. Waren die Reisenden nach dem, was sie gesehen hatten, im Stande, sie zu lösen? Konnten sie ein Urtheil für oder wider aussprechen. Michel Ardan forderte seine beiden Freunde auf, ihre Ansicht zu bilden, und fragte entschieden, ob sie glaubten, daß Thier- und Menschenwelt auf dem Mond repräsentirt seien.

»Ich glaube, daß wir im Stande sind, eine Antwort zu geben, sagte Barbicane; aber meiner Ansicht nach darf die Frage nicht in dieser Form auftreten. Ich bitte sie anders zu stellen.

– Du magst sie stellen, erwiderte Michel.

– Nun denn, versetzte Barbicane. Die Aufgabe ist eine doppelte und verlangt eine zweifache Lösung. Ist der Mond bewohnbar? Ist er bewohnt gewesen?

– Gut, erwiderte Nicholl. Fragen wir zuerst, ob der Mond bewohnbar ist.

– Offen gestanden, ich weiß es nicht zu sagen, entgegnete Michel.

– Und ich, versetzte Barbicane, antworte mit Nein. In dem gegenwärtigen Zustand des Mondes – mit der gewiß sehr beschränkten Umgebung von Atmosphäre, den meist ausgetrockneten Meeren und nicht hinreichenden Gewässern, der geringen Vegetation, dem schroffen Wechsel von Kälte und Wärme, den dreihundertvierundfünfzigstündigen Tagen und Nächten – scheint mir der Mond nicht bewohnbar, und auch nicht geeignet zur Entwickelung thierischen Lebens, noch hinreichend für die Bedürfnisse einer Existenz, wie wir sie verstehen.

– Einverstanden, erwiderte Michel. Aber ist der Mond nicht bewohnbar für anders organisirte Wesen?

– Auf diese Frage zu antworten, versetzte Barbicane, ist noch schwieriger.

Doch will ich den Versuch machen, aber ich frage Nicholl, ob er der Meinung ist, daß Bewegung das nothwendige Resultat des Lebens sei, wie es auch organisirt sein möge?.

– Ohne allen Zweifel, erwiderte Nicholl.

– Nun denn, mein würdiger Freund, so antworte ich: Wir haben die Continente des Mondes aus einer Entfernung von höchstens fünfhundert Meter betrachtet und nichts gesehen, was eine Bewegung auf der Oberfläche desselben verrieth. Das Vorhandensein irgend eines Menschengeschlechts würde sich durch dem Entsprechendes, durch errichtete Werke, selbst durch Ruinen zu erkennen gegeben haben. Was haben wir aber gesehen? Ueberall und stets die geologische Arbeit der Natur, niemals Menschenarbeit. Sollten also Repräsentanten des Thierreichs auf dem Mond vorhanden sein, so müßten sie in den unergründlichen Aushöhlungen, wohin der Blick nicht dringen kann, versteckt sein. Dies kann ich aber nicht gelten lassen, denn sie hätten Spuren vorübergehender Anwesenheit auf den Ebenen lassen müssen, welche die Schichte Atmosphäre, so niedrig sie auch sein mag, überziehen muß. Solche Spuren sind aber nirgends sichtbar. So bliebe dann nur übrig anzunehmen, es gebe eine Race lebender Wesen, welchen die Bewegung, worin doch Leben besteht, abgehe!

– Das wären also lebende Wesen, die kein Leben hätten, versetzte Michel.

– Getroffen! erwiderte Barbicane. Für uns aber hat dies keinen Sinn.

– Wir können also unsere Ansicht formuliren, sagte Michel.

– Ja, erwiderte Nicholl.

– Nun denn, fuhr Michel Ardan fort: Die wissenschaftliche Commission, welche im Projectil des Gun-Clubs versammelt ist, in ihrer Beweisführung auf die jüngst beobachteten Thatsachen gestützt, giebt mit Stimmeneinhelligkeit über die gegenwärtige Bewohnbarkeit des Mondes ihr Urtheil dahin ab: Nein, der Mond ist nicht bewohnbar!«

Diese Entscheidung wurde vom Präsidenten Barbicane in sein Notizbuch eingetragen, wo sich das Protokoll der Sitzung vom 6. December befindet.

»Jetzt, sagte Nicholl, machen wir uns an die zweite Frage, welche eine nothwendige Ergänzung der ersten enthält. Ich frage also die verehrliche Commission: Wenn der Mond nicht bewohnbar ist, ist er früher bewohnt gewesen?

– Bürger Barbicane hat das Wort, sagte Michel Ardan.

– Meine Freunde, erwiderte Barbicane, um eine Ansicht über die vormalige Bewohnbarkeit unseres Trabanten zu bilden, habe ich diese Reise nicht abgewartet, und habe nur hinzuzufügen, daß unsere persönlichen Beobachtungen mich in derselben nur bestärken können. Ich glaube, ich behaupte sogar, daß der Mond von einer Menschenrace bewohnt gewesen ist, die gleich der unserigen organisirt war; daß sie Thiere hervorgebracht hat, welche anatomisch gleichförmig unseren Thieren auf der Erde waren; aber ich setze hinzu, daß die Zeit dieser Menschen- oder Thierracen vorüber ist, daß sie für immer erloschen sind.

– So wäre also, fragte Michel, der Mond eine ältere Welt als die Erde?

– Nein, erwiderte Barbicane mit Ueberzeugung, aber eine Welt, die früher gealtert ist, die rascher ihre Gestaltung sowohl gewonnen, als verloren hat. Die organisirenden Kräfte des Stoffs sind verhältnißmäßig weit gewaltsamer im Inneren des Mondes thätig gewesen, als im Inneren des Erdballs. Der gegenwärtige Zustand dieser zerklüfteten, zerrissenen, aufgeschwollenen Scheibe beweist es zum Ueberfluß. Mond und Erde waren ursprünglich nur gasartige Massen. Dieses Gas wurde unter verschiedenen Einwirkungen zu Flüssigkeiten und die feste Masse bildete sich erst später heraus. Aber ganz sicher ist unser Erdball noch in gasartigem oder flüssigem Zustand gewesen, als der Mond durch Erkalten bereits Festigkeit gewonnen hatte und dadurch bewohnbar wurde.

– Das glaub‘ ich, sagte Nicholl.

– Damals, fuhr Barbicane fort, war er von einer Atmosphäre umgeben. Die durch diese dunstreiche Umhüllung festgehaltenen Gewässer konnten nicht verdampfen. Unterm Einwirken von Luft, Licht, Wärme der Sonne und des Inneren waren die für eine Vegetation vorbereiteten Continente von einer solchen bedeckt, und sicherlich offenbarte sich in dieser Epoche das Leben, denn die Natur vergeudet sich nicht unnütz, und eine in so wunderbarem Grad bewohnbare Welt ist nothwendig auch bewohnt gewesen.

– Doch, erwiderte Nicholl, mußten viele den Bewegungen unseres Trabanten eigenthümliche Erscheinungen einer Verbreitung des Thier- und Pflanzenreichs hinderlich sein. Diese dreihundertvierundfünfzigstündigen Tage und Nächte zum Beispiel?

– An den Polen der Erde, sagte Michel, dauern sie sechs Monate!

– Dies Argument hat wenig Gewicht, da unsere Pole nicht bewohnt sind.

– Bemerken wir auch, meine Freunde, fuhr Barbicane fort, daĂź, wenn bei dem gegenwärtigen Zustand des Mondes die langen Tage und Nächte Verschiedenheiten der Temperatur verursachen, welche der Organismus nicht verträgt, dieses zu jener Epoche nicht der Fall war. Das Fluidum der Atmosphäre umhĂĽllte ihn wie ein Mantel. Die DĂĽnste gestalteten sich zu Wolken, welche als natĂĽrlicher Schirm die Hitze der Sonnenstrahlen milderten und das nächtliche Ausstrahlen hemmten. Licht wie Wärme konnten sich in der Luft zerstreuen, woraus ein Gleichgewicht zwischen diesen EinflĂĽssen entstand, welches jetzt, da diese Atmosphäre fast gänzlich verschwunden ist, nicht mehr existirt. Uebrigens will ich Sie gleich in Staunen versetzen …

– Thun Sie’s nur, sagte Michel Ardan.

– Aber ich bin geneigt zu glauben, daß zu der Epoche, als der Mond bewohnt war, Tag und Nacht nicht die Dauer von dreihundertvierundfünfzig Stunden hatte?

– Und weshalb? fragte Nicholl lebhaft.

– Weil sehr wahrscheinlich damals die Achsenbewegung des Mondes und seine Umdrehung um die Erde nicht gleich waren, durch welche Gleichheit jeder Punkt der Scheibe vierzehn Tage lang dem Einwirken der Sonnenstrahlen ausgesetzt ist.

– Einverstanden, erwiderte Nicholl, aber warum sollten diese beiden Bewegungen nicht gleich gewesen sein, da sie’s doch gegenwärtig sind?

– Weil diese Gleichheit nur durch die Anziehung von Seiten der Erde bewirkt worden ist. Wer sagt uns aber, daß diese Anziehungskraft zur Zeit, als die Erde noch in flüssigem Zustand war, hinreichte, um die Bewegungen des Mondes abzuändern?

– In der That, erwiderte Nicholl, und wer sagt uns, daß der Mond immer Trabant der Erde gewesen ist?

– Und wer sagt uns, rief Michel Ardan, daß der Mond nicht weit früher, als die Erde, existirt hat?«

Die Phantasie verlor sich auf dem unbegrenzten Feld der Hypothesen. Barbicane wollte sie zĂĽgeln.

»Damit gerathen wir, sagte er, in zu hohe Speculationen, wahrhaft unlösbare Probleme. Darauf wollen wir uns nicht einlassen. Nehmen wir nur an, die ursprüngliche Anziehungskraft sei unzureichend gewesen, und dann konnten, wegen Ungleichheit der beiden Bewegungen, um die Achse und um die Erde, die Tage und Nächte in der Weise, wie auf der Erde sich ablösen. Uebrigens ist es selbst ohne diese Bedingungen dort möglich gewesen zu leben.

– Also, fragte Michel Ardan, wäre das Menschengeschlecht auf dem Mond verschwunden?

– Ja, erwiderte Barbicane, nachdem es ohne Zweifel einige Tausend Jahrhunderte dort bestanden hatte. Indem die Atmosphäre allmälig dünner wurde, wird der Mond unbewohnbar geworden sein, wie es der Erdball einmal durch Erkalten werden wird.

– Durch Erkalten?

– Ohne Zweifel, erwiderte Barbicane. Die Rinde des Mondes ist in dem Verhältniß erkaltet, wie die inneren Feuer erloschen, der glühende Stoff sich zusammenzog. Allmälig traten die Folgen dieser Erscheinung ein: Verschwinden der organisirten Geschöpfe, Verschwinden der Vegetation. Bald wurde die Atmosphäre dünner, wahrscheinlich durch Anziehung von Seiten der Erde entzogen; es verschwand die athmungsfähige Luft, das Wasser durch Verdunsten. Von der Zeit an, wie der Mond unbewohnbar wurde, ist er nicht bewohnt gewesen. Es war eine erstorbene Welt, und so erscheint sie uns jetzt.

– Und Du sagst, solch ein Loos stehe der Erde bevor?

– Sehr wahrscheinlich.

– Aber wann?

– Wenn sie durch Erkaltung ihrer Rinde unbewohnbar sein wird.

– Und hat man die Zeit berechnet, wann unser unglücklicher Erdball erkalten wird?

– Ja wohl.

– Und Du kennst die Berechnung.

– Ganz genau.

– Aber so rede doch, widerlicher Gelehrter, rief Michel Ardan, ich sitze auf Kohlen vor Ungeduld.

– Nun, mein wackerer Michel, erwiderte Barbicane ruhig, da man die Abnahme der Temperatur während eines Jahrhunderts kennt, so hat man daraus abgenommen, daß diese mittlere Temperatur auf Null herabsinken wird nach Verlauf von vierhundert Jahrtausenden!

– Vierhundert Jahrtausende! rief Michel. Ach! Jetzt athme ich wieder frei! Wahrhaftig, wie war ich erschrocken! Meinte gar, wir hätten nur noch fünfzigtausend Jahre zu leben!«

Barbicane und Nicholl konnten sich ĂĽber die Unruhe ihres Genossen des Lachens nicht enthalten. Darauf stellte Nicholl, um abzuschlieĂźen, nochmals die zweite Frage:

»Ist der Mond bewohnt gewesen?«

Dieselbe wurde einstimmig bejaht.

Aber während dieser Unterhaltung, reich an Theorien, die etwas gewagt waren – obwohl sie die über diesen Punkt von der Wissenschaft errungenen allgemeinen Ideen zusammenfaßt – war das Projectil rasch dem Mondäquator näher gekommen, wobei es sich regelmäßig von der Scheibe entfernte. Es war in einer Entfernung von achthundert Kilometer beim Circus Willem vorbei über den vierzigsten Breitegrad hinausgekommen. Darauf, den Pilatus unterm dreißigsten Grad rechts lassend, fuhr es längs der Südseite des Wolkenmeers, dem es im Norden nahe gewesen war. Einige Circus waren im Glanz des Vollmondes unklar zu sehen: Bouillaud, Purbach, fast viereckig mit einem Krater im Mittelpunkt, dann Arzachel, der im Inneren unendlich glänzend leuchtet.

Endlich, bei zunehmender Entfernung des Projectils, verschwanden die Umrisse vor den Blicken der Reisenden, die Berge wurden in der Entfernung unkenntlich, und von dem wundervollen, bizarren, seltsamen Gesammtbild des Erdtrabanten blieb ihnen bald nur die unvertilgbare Erinnerung.

Erstes Capitel


Erstes Capitel

Von zehn Uhr zwanzig bis zehn Uhr vierzig Minuten Abends.

Mit dem Schlag zehn Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren zahlreichen Freunden auf der Erde. Die beiden Hunde, welche das Hundegeschlecht in die Mondlande einführen und verbreiten sollten, befanden sich bereits im Projectil. Die drei Reisenden näherten sich der Mündung des enormen Laufs, und ein schwebender Krahnen brachte sie bis zur conischen Spitze der Kugel.

Hier traten sie durch eine zu diesem Behuf angebrachte Oeffnung in den Alumin-Waggon ein. Als die Taue des Krahnens aus der Röhre herausgezogen waren, wurde augenblicklich das letzte Gerüste von der Mündung der Columbiade entfernt.

Sowie Nicholl sich mit seinen Gefährten im Projectil befand, schloß er sorgfältig die Oeffnung mit einer starken Platte, welche von Innen durch Stellschrauben befestigt wurde. Andere, fest angepaßte Platten bedeckten die Linsengläser der Ausgucklöcher. Die Reisenden befanden sich im tiefsten Dunkel in ihrem metallenen Gefängniß hermetisch eingeschlossen.

»Und nun, meine lieben Kameraden«, sagte Michel Ardan, »thun wir, als wären wir hier zu Hause. Ich fĂĽhre die Verwaltung des Inneren, ein Fach, worin ich sehr stark bin. Wir mĂĽssen’s uns in unserer neuen Wohnung so bequem wie möglich machen. Vor Allem, suchen wir ein wenig Luft zu bekommen! Was Teufel! FĂĽr MaulwĂĽrfe ist das Gas nicht erfunden worden!«

Bei diesen Worten ergriff der sorglose Geselle ein ZĂĽndhölzchen, rieb’s an der Sohle seines Stiefels und zĂĽndete damit die Flamme an dem Hahnen des Behälters, welcher das höchst zusammengepreĂźte Gas enthielt, das zur Erleuchtung und Erwärmung der Kugel auf sechs Tage und sechs Nächte, hundertvierundvierzig Stunden, ausreichen konnte.

Das also erleuchtete Projectil zeigte sich als wie ein comfortabel eingerichtetes Zimmer mit ausgefütterten Wänden, runden Divans daran, und wie in einem Dom gewölbter Decke.

Die darin enthaltenen Gegenstände, Waffen, Instrumente, Geräthe, waren an der Polsterfütterung wohl befestigt, so daß sie den Stoß bei der Abfahrt wohl aushalten konnten. Es waren alle nur ersinnbaren Vorkehrungen getroffen, um ein so tollkühnes Unternehmen glücklich auszuführen.

Michel Ardan untersuchte Alles und erklärte seine volle Zufriedenheit mit der Einrichtung.

»Es ist ein Gefängniß«, sagte er, »aber ein ReisegefängniĂź mit der ErlaubniĂź durch’s Fenster zu sehen; ich wäre im Stande, mich auf hundert Jahre einzumiethen! Du lächelst, Barbicane? Hast Du dabei einen Hintergedanken? Meinst Du, dies GefängniĂź könne unser Grab sein? Grab, meinetwegen, aber ich möchte es nicht mit dem Mahomed’s tauschen, welches ohne Reisezweck in dem Weltraum fährt.«

Während Michel Ardan also sprach, trafen Barbicane und Nicholl ihre letzten Vorbereitungen.

Nicholl’s Chronometer zeigte zehn Uhr zwanzig Minuten Abends, als die drei Reisenden definitiv in ihr GeschoĂź eingeschlossen wurden. Der Chronometer war fast auf ein Zehntel einer Secunde nach dem des Ingenieurs Murchison gerichtet. Barbicane befragte ihn.

»Meine Freunde«, sagte er, »es ist zehn Uhr zwanzig Minuten. In siebenundzwanzig Minuten wird Murchison mit dem elektrischen Funken den Draht berühren, welcher mit der Ladung der Columbiade in Verbindung ist. In dem Moment werden wir dann unseren Erdball verlassen. Siebenundzwanzig Minuten also haben wir noch auf der Erde zu bleiben.«

– Sechsundzwanzig Minuten und dreißig Secunden, erwiderte der exacte Nicholl.

– Ei nun! rief Michel Ardan im besten Humor, in sechsundzwanzig Minuten läßt sich noch viel fertig bringen! Man kann da noch die wichtigsten politischen und sittlichen Fragen besprechen, und selbst lösen! Sechsundzwanzig wohl verwendete Minuten sind mehr werth, als sechsundzwanzig unthätig verlebte Jahre. Etliche Secunden eines Pascal oder Newton sind kostbarer, als das ganze Leben einer rohen Masse von Dummköpfen ….

– Und was folgerst Du daraus, ewiger Schwätzer? fragte der Präsident Barbicane.

– Ich folgere, daß wir noch sechsundzwanzig Minuten haben, erwiderte Ardan.

– Nur noch vierundzwanzig, sagte Nicholl.

– Vierundzwanzig, wenn Du’s so genau nimmst, mein wackerer Kapitän, erwiderte Ardan, vierundzwanzig Minuten, binnen welchen man könnte grĂĽndlich ….

– Michel, sagte Barbicane, auf unserer Fahrt werden wir reichlich Zeit haben, die schwierigsten Fragen gründlich zu erörtern. Befassen wir uns jetzt mit der Abfahrt.

– Sind wir nicht bereit?

– Allerdings. Doch sind noch einige Vorkehrungen zu treffen, um die Gewalt des ersten Stoßes möglichst abzuschwächen!

– Haben wir nicht die Wasserschichten in den zerbrechlichen Verschlägen unter uns, deren Spannkraft uns hinlänglich schützen wird?

– Das hoffe ich, Michel, erwiderte sanft Barbicane, aber ganz sicher bin ich dessen doch nicht!

– Ah! Possen! rief Michel Ardan. Er hofft! …. Ist der Sache nicht sicher! … Und dies klägliche GeständniĂź erst in dem Moment, da wir bereits eingepackt sind! Da möcht‘ ich auf und davon!

– Und wfie? erwiderte Barbicane.

– In der That, sagte Michel Ardan, das ist schwer. Wir sind im Zug und vor Ablauf von vierundzwanzig Minuten wird der Conducteur pfeifen …

– Zwanzig Minuten, sagte Nicholl.

Einige Minuten blickten sich die Reisenden einander an. Darauf prüften sie die mitgenommenen Gegenstände.

»Alles ist richtig an seiner Stelle«, sagte Barbicane. »Jetzt handelt sich’s zu bestimmen, wie wir am Besten Platz nehmen, um den StoĂź bei der Abfahrt auszuhalten. Es ist dabei nicht einerlei, in welcher Stellung oder Lage man sich befindet, und man muĂź soviel wie möglich verhĂĽten, daĂź das Blut zu stark nach dem Kopfe dringt.«

– Richtig, sagte Nicholl.

– Dann, erwiderte Michel Ardan, um die Regel durch das Beispiel zu erklären, legen wir uns, den Kopf unten und die Füße oben, wie die Clowns im Circus!

– Nein, sagte Barbicane, aber auf die Seite mĂĽssen wir uns legen. So widerstehen wir am besten dem StoĂź. Merken Sie wohl, im Moment der Abfahrt ist’s fast einerlei, ob wir drinnen oder davor sind.

– Wenn nur »fast« einerlei, will ich’s zufrieden sein, erwiderte Michel Ardan.

– Stimmen Sie mir bei, Nicholl? fragte Barbicane.

– Ganz und gar, erwiderte der Kapitän. Noch dreizehn Minuten und eine halbe.

– Der Nicholl ist kein Mensch, rief Michel, sondern ein Secundenchronometer …

Aber seine Gefährten hörten ihn schon nicht mehr an, und machten ihre letzten Vorkehrungen mit einer KaltblĂĽtigkeit ohne Gleichen. Sie machten’s, wie zwei methodische Reisende, die, wenn sie in einen Waggon eingestiegen, sich’s so bequem wie möglich zu machen suchen. Man fragt sich wahrhaftig, aus welchem Stoff die Herzen dieser Amerikaner gemacht sind, denen im Angesicht der erschrecklichsten Gefahr der Puls nicht rascher schlägt!

Man hatte drei dicke und solid gepolsterte Lagerstätten in dem Projectil hergerichtet. Nicholl und Barbicane brachten sie auf die Mitte der Scheibe, welche den beweglichen Fußboden bildete; auf diesen sollten die drei Reisenden einige Augenblicke vor der Abfahrt sich hinstrecken.

Während dessen verhielt sich Ardan, der sich nicht ruhig halten konnte, in seinem engen Gefängniß, wie ein Stück Rothwild im Käfig, plauderte mit seinen Freunden, schwatzte mit seinen Hunden, Diana und Trabant, denen er seit Kurzem diese bezeichnenden Namen gegeben hatte.

»He! Diana! He! Trabant!« rief er sie an. »Ihr werdet den Mondhunden die guten Sitten der Erdhunde zu zeigen haben! Ihr werdet dem Hundegeschlecht Ehre machen! Potz! Blitz! Ihr sollt euch mit Monddoggen paaren, daß ich, kommen wir zurück, eine Mischrasse mitbringe, die Furore machen wird!«

– Wenn’s dort Hunde giebt, sagte Barbicane.

– Es giebt deren dort, versicherte Michel Ardan, wie es dort Pferde, Kühe, Esel, Hühner giebt. Ich wette darauf, daß wir Hühner dort antreffen.

– Hundert Dollars, daß wir keine treffen, sagte Nicholl.

– Angenommen, lieber Kapitän, erwiderte Ardan mit einem Händedruck. Aber Du hast ja schon drei Wetten an unseren Präsidenten verloren, weil die nöthigen Geldmittel aufgebracht wurden, weil der Guß gelungen ist, und weil die Columbiade ohne Unfall geladen wurde, – das macht sechstausend Dollars.

– Ja, erwiderte Nicholl. Zehn Uhr siebenunddreißig Minuten und sechs Secunden.

– Wohl gemerkt, Kapitän. Nun, ehe eine Viertelstunde vorüber ist, wirst Du noch neuntausend Dollars an den Präsidenten zu zahlen haben, viertausend, weil die Columbiade nicht zerspringen wird, und fünftausend, weil die Kugel höher als sechs Meilen in die Lüfte dringen wird.

– Ich habe die Dollars bei mir, erwiderte Nicholl, und klopfte auf seine Tasche, ich wünsche nur, daß es zum Zahlen komme.

– Nicholl, ich sehe, daß Du ein Mann der Ordnung bist, was mir nie gelingen wollte, aber schließlich, Du hast da eine Reihe Wetten gemacht, wobei Du Dich sehr im Nachtheil befindest, erlaube mir diese Bemerkung.

– Und weshalb? fragte Nicholl.

– Weil, wenn Du die erste gewinnst, im Falle nämlich die Columbiade springt, und die Kugel mit, Barbicane nicht mehr in der Lage sein wird, Dich bezahlen zu können.

– Mein Einsatz befindet sich auf der Bank zu Baltimore, erwiderte einfach Barbicane, daß er, wo nicht an Nicholl, seinen Erben ausgezahlt werden kann.

– Was für praktische Leute! rief Michel Ardan. Positive Geister! Ich bewundere Euch um so mehr, als ich Euch nicht begreife.

– Zehn Uhr zweiundvierzig, sagte Nicholl.

– Noch über fünf Minuten! erwiderte Barbicane.

– Ja! FĂĽnf kurze Minuten! entgegnete Michel Ardan. Und wir sind eingeschlossen in einem GeschoĂź innerhalb einer neunhundert FuĂź langen Kanone! Und unter diesem GeschoĂź befinden sich viermalhunderttausend Pfund SchieĂźbaumwolle, die eine Wirkung von sechzehnhunderttausend Pfund gewöhnlichen Pulvers haben! Und Freund Murchison, den Chronometer in der Hand, das Auge unverwandt auf dem Zeiger, den Finger auf dem elektrischen Apparat, zählt die Secunden, im Begriff uns in die Räume der Planetenwelt zu schleudern! …

– Genug, Michel, genug! sagte Barbicane mit ernstem Ton. Machen wir uns bereit. Nur noch einige Augenblicke haben wir bis zum letzten. Einen Handschlag, meine Freunde!

– Ja! rief Michel Ardan, mit etwas mehr Rührung, als er kund geben wollte. Die drei kühnen Genossen umarmten sich.

»Gott behüte uns!« sagte der fromme Barbicane.

Michel Ardan und Nicholl streckten sich auf die Polster auf der Mitte des Bodens.

»Zehn Uhr siebenundvierzig«, murmelte der Kapitän. Noch zwanzig Secunden! Barbicane löschte rasch die Gasflamme und legte sich neben seine Kameraden.

Nur die Secundenschläge des Chronometers unterbrachen die tiefste Stille.

Mit einem Mal ein entsetzlicher StoĂź, und das Projectil, von sechs Milliarden Liter Gas getrieben, flog empor in den Weltraum.

Neunzehntes Capitel


Neunzehntes Capitel

Kampf mit dem Unmöglichen.

Geraume Zeit lang blickten Barbicane und seine Gefährten stumm und nachdenklich auf diese Welt, welche sie, wie Moses das Land Kanaan, nur aus der Ferne gesehen hatten, und von welcher sie sich wieder ohne Umkehr entfernten. Das Projectil hatte in Beziehung zum Mond seine Lage geändert und kehrte jetzt sein Bodenstück der Erde zu.

Diese Aenderung konnte Barbicane nur beunruhigen. Wenn die Kugel in elliptischer Bahn um den Trabanten kreisen sollte, warum kehrte sie ihm nicht ihren schwereren Theil zu, wie es bei dem Mond in Beziehung zur Erde der Fall ist. Hierin lag etwas Unerklärliches.

Bei Beobachtung der Bahn des Projectils konnte man wahrnehmen, daß es bei seiner Entfernung vom Mond eine krumme Linie verfolgte, welche der bei seiner Annäherung gleich war. Es beschrieb also eine sehr lange Ellipse, die sich wahrscheinlich bis zu dem Punkt gleicher Anziehung, wo die Einwirkung von Seiten der Erde und seines Trabanten sich das Gleichgewicht hielten, erstrecken würde.

Dieses eben folgerte Barbicane aus den beobachteten Thatsachen, und seine Freunde theilten seine Ansicht.

»Und wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, was wird aus uns werden? fragte Michel Ardan.

– Das ist’s eben, was wir nicht wissen! erwiderte Barbicane.

– Aber man kann doch muthmaĂźlich Fälle annehmen, denk‘ ich.

– Ich nehme deren zwei an, versetzte Barbicane. Entweder die Geschwindigkeit des Projectils wird nicht ausreichen, und dann wird es ewig unbeweglich auf dieser Linie doppelter Anziehung bleiben …

– Da würde ich doch den anderen Fall vorziehen, wie er auch sein mag, entgegnete Michel.

– Oder sie wird ausreichen, fuhr Barbicane fort, und es wird seine elliptische Bahn verfolgen, um ewig um das Nachtgestirn zu kreisen.

– Eine wenig tröstliche Aenderung, sagte Michel. Wir würden dann gehorsame Diener des Mondes, den wir als Diener anzusehen gewohnt sind! Und das wäre die Zukunft, welche uns bevorsteht?«

Weder Barbicane, noch Nicholl wuĂźten eine Antwort.

»Sie schweigen? fuhr Michel ungeduldig fort.

– Es giebt darauf keine Antwort, sagte Nicholl.

– Läßt sich denn nichts versuchen?

– Nein, erwiderte Barbicane. Würdest Du gegen das Unmögliche ankämpfen wollen?

– Warum nicht? Sollten ein Franzose und zwei Amerikaner davor zurückschrecken?

– Aber was willst Du machen?

– Der Bewegung, welche uns fortreißt, Meister werden!

– Meister werden?

– Ja, versetzte Michel lebhaft, entweder sie hemmen oder abändern, zur Erreichung unserer Zwecke verwenden.

– Und wie?

– Das ist Eure Sache. Wenn die Artilleristen ihrer Kugeln nicht Meister sind, so sind sie keine Artilleristen mehr. Wenn die Kugel den Kanonier beherrscht, so muĂź man diesen statt ihrer in die Kanone laden! Treffliche Gelehrten, wahrhaftig! Da wissen sie nun nicht, was werden soll, nachdem sie mich verleitet …

– Verleitet! schrieen Barbicane und Nicholl. Verleitet! Was meinst Du damit?

– Keine Beschuldigungen! sagte Michel. Ich beklage mich nicht! Die Fahrt gefällt mir! Das Geschoß befriedigt! Aber thuen wir doch alles Menschenmögliche, um, wo nicht auf den Mond, doch wieder auf die Erde zu fallen.

– Nichts anderes begehren wir, wackerer Michel, erwiderte Barbicane, aber an den Mitteln fehlt’s.

– Können wir nicht die Bewegung des Projectils abändern?

– Nein.

– Noch seine Geschwindigkeit vermindern?

– Nein.

– Nicht einmal durch Ballastauswerfen?

– Was willst Du hinaus werfen? versetzte Nicholl. Wir haben nichts von Ballast. Und übrigens dünkt mir, ein leichteres Fahrzeug wird noch schneller fahren.

– Nicht so schnell, sagte Michel.

– Schneller, entgegnete Nicholl.

– Weder mehr, noch minder schnell, erwiderte Barbicane, um seine Freunde in Einklang zu bringen, denn im leeren Raum, worin wir uns bewegen, kommt das specifische Gewicht nicht mehr in Anschlag.

– Dann, rief Michel Ardan mit entschiedenem Ton, bleibt uns nur etwas zu thun übrig.

– Und was? fragte Nicholl.

– Frühstücken!« erwiderte, ohne sich irre machen zu lassen, der verwegene Franzose, der in den schwierigsten Fällen stets diese selbe Lösung bei der Hand hatte.

In der That, hatte diese Verrichtung auch keinen EinfluĂź auf die Richtung des Projectils, so konnte man sie doch ohne Nachtheil vornehmen, und in Beziehung auf den Magen mit Erfolg. Wahrhaftig, Michel hatte doch gute Ideen.

Man frĂĽhstĂĽckte also um zwei Uhr morgens; aber auf die Stunde kam’s ja nicht an. Michel tischte auf, wie gewöhnlich, und dazu eine liebliche Flasche aus seinem geheimen Keller. Wenn ihnen dabei nicht Ideen in den Kopf kamen, so muĂźte man am Chambertin von 1863 verzweifeln.

Nach Beendigung des Mahls singen sie wieder an zu beobachten.

Die aus dem Projectil hinaus geworfenen Gegenstände hielten sich unveränderlich in einer gewissen Entfernung. Es ging daraus klar hervor, daß dasselbe bei seiner Bewegung um den Mond keine Atmosphäre durchschnitt, weil dann das specifische Gewicht dieser Gegenstände ihre Bewegung verhältnißmäßig geändert hätte.

Von der Erde war nichts zu sehen. Es war erst ein Tag verflossen, seit sie Neulicht hatte, und erst nach zwei Tagen konnte ihre Sichel, aus den Sonnenstrahlen heraustretend, den Seleniten als Uhr dienen, weil bei ihrer Achsenbewegung jeder ihrer Punkte nach vierundzwanzig Stunden wieder an demselben Meridian des Mondes erscheint.

Der Mond dagegen bot einen ganz anderen Anblick. Er strahlte in vollem Glanze inmitten unzähliger Sternbilder, deren reines Licht das seinige nicht schwächen konnte. Auf der Scheibe nahmen die Ebenen bereits wieder den düsteren Schein an, wie er von der Erde aus zu sehen ist. Der übrige Theil des Luftkreises schimmerte fortwährend, und mitten in dem allgemeinen Glanz leuchtete Tycho noch wie eine Sonne vor.

Es war Barbicane durchaus nicht möglich, die Schnelligkeit des Projectils zu schätzen; aber er urtheilte nach den Gesetzen der rationellen Mechanik, daß diese Schnelligkeit sich gleichmäßig mindern müsse.

In der That, nahm man an, die Kugel sei im Begriff eine Kreisbahn um den Mond zu beschreiben, so mußte diese nothwendig eine Ellipse sein. Die Wissenschaft enthält den Beweis. Jeder Körper, der in seiner Bewegung um einen andern ihn anziehenden Körper kreist, ist diesem Gesetz unterworfen. Alle Kreisbahnen im Weltraum sind elliptisch, die der Trabanten um die Planeten, der Planeten um die Sonne, die der Sonne um das unbekannte Gestirn, um welches im Mittelpunkt Alles sich dreht. Warum sollte das Projectil des Gun-Clubs von diesem Naturgesetz ausgenommen sein?

In den elliptischen Bahnen nun befindet sich der anziehende Körper stets an einem der Brennpunkte der Ellipse. Der Trabant ist daher dem Gestirn, um welches er kreist, bald näher, bald ferner. Kommt die Erde auf ihrer Bahn der Sonne näher, so steht sie in ihrer Perihelie (Sonnennähe), dagegen in der Aphelie (Sonnenferne), wann sie am weitesten von ihr absteht. Ebenso befindet sich der Mond in seiner Erdnähe und Erdferne. Wenden wir zur Bereicherung der Sprache diese Astronomen-Begriffe auf das Projectil als Trabanten des Mondes an, so befindet es sich in einer Mondnähe (Periselene) und Mondferne (Aposelene).

Im ersten Falle mußte es seine größte Geschwindigkeit erreichen, im zweiten seine geringste. Nun bewegte es sich offenbar dem Punkt seiner Mondferne zu, und Barbicane schloß richtig, seine Geschwindigkeit werde bis zu diesem Punkt abnehmen, um dann allmälig in dem Verhältniß, wie es sich dem Monde näherte, wieder zuzunehmen. Diese Geschwindigkeit werde gänzlich aufhören, wenn dieser Punkt mit dem der gleichen Anziehung zusammen fiele.

Barbicane studirte die Folgen dieser verschiedenen Fälle, um sicher zu sein, wie man sich dabei zu verhalten habe, als ihn plötzlich Michel Ardan mit dem lauten Ausbruch unterbrach:

»Herrgott! Wir sind doch rechte Dummköpfe!

– Ich sage nicht Nein dazu, erwiderte Barbicane, aber weshalb?

– Weil wir ein sehr einfaches Mittel besitzen, die Schnelligkeit zu hemmen, und wenden’s nicht an!

– Und welches?

– Haben wir nicht die Hemmkraft unserer Raketen?

– Wirklich, sagte Nicholl.

– Wir haben allerdings von dieser Kraft noch keinen Gebrauch gemacht, aber wir werden’s noch thun.

– Wann? fragte Michel.

– Wann die rechte Zeit dafür kommt. Bemerken Sie, meine Freunde, daß bei der gegenwärtigen Lage des Projectils, welche im Verhältniß zur Mondscheibe noch schief ist, die Wirkung unserer Raketen auf Aenderung seiner Richtung den Erfolg haben könnte, dasselbe vom Mond zu entfernen, anstatt es ihm zu nähern, was doch wohl unser Zweck ist.

– Hauptsächlich, erwiderte Michel.

– Merken Sie weiter. Durch einen unerklärlichen Einfluß zeigt das Projectil das Bestreben, seinen Boden der Erde zuzukehren. Wahrscheinlich wird es auf dem Punkt gleicher Anziehung seine konische Spitze gerade auf den Mond richten. In diesem Moment läßt sich erwarten, daß seine Geschwindigkeit aufgehoben sein wird. Dies wird der rechte Moment sein, um durch die Wirkung unserer Raketen vielleicht einen directen Fall auf die Mondoberfläche hervorzurufen.

– So recht! sprach Michel.

– Wir haben das nicht gethan, als wir uns zum ersten Mal auf dem Punkt des Stillstandes befanden, und konnten’s auch nicht thun, weil die bewegende Kraft im Projectil noch zu beträchtlich war.

– Richtig geurtheilt, sagte Nicholl.

– Warten wir in Geduld ab, fuhr Barbicane fort. Versichern wir uns für jeden Fall des Vortheils, dann fasse ich, nachdem wir so lange verzweifelten, wieder Hoffnung, daß wir unser Ziel erreichen werden.«

Michel Ardan begrĂĽĂźte diese AeuĂźerung mit Hip und Hurrah! und keiner dieser TollkĂĽhnen erinnerte sich, daĂź sie zu der Resolution gekommen waren: Nein, der Mond ist nicht bewohnt, der Mond ist wahrscheinlich nicht bewohnbar! Und dennoch waren sie im Begriff, Alles zu versuchen, um auf demselben anzukommen!

Es blieb nur noch die Frage zu beantworten: in welchem Moment wĂĽrde das Projectil genau den Punkt gleicher Anziehung erreichen, wo sodann die Reisenden Alles auf’s Spiel setzen wollten?

Um diesen Moment bis auf einige Secunden genau zu berechnen, brauchte Barbicane nur seine Reisenotizen zu Rathe zu ziehen und herauszuheben, wann er ĂĽber den verschiedenen Parallelgraden des Mondes sich befand. Es muĂźte demnach die Zeit, welche erforderlich war, um die Linie zwischen dem Punkt des Stillstandes und dem SĂĽdpol zu durchlaufen, derjenigen gleich sein, welche vom Nordpol bis zu dem Stillstandspunkt zu durchlaufen war. Die Zeitpunkte der zurĂĽckgelegten Linie waren genau notirt, und dadurch die Berechnung leicht.

Barbicane fand nun, daß das Projectil um ein Uhr frühe in der Nacht vom 7. zum 8. December diesen Punkt erreichen werde. In diesem Moment war es drei Uhr frühe in der Nacht vom 6. zum 7. December. Folglich mußte, wenn keine Störung eintrat, das Projectil binnen zweiundzwanzig Stunden an dem gedachten Punkt anlangen.

Die Raketen hatten ursprünglich die Bestimmung, das Fallen auf den Mond langsamer zu machen, und jetzt waren die Wagehälse im Begriff, sie für den gerade entgegengesetzten Zweck zu verwenden. Wie dem auch sein mochte, sie waren bereit, im Augenblick angezündet zu werden.

»Weil wir jetzt nichts zu thun haben, sagte Nicholl, so mache ich einen Vorschlag.

– Welchen? fragte Barbicane.

– Zu schlafen.

– Das wäre köstlich! rief Michel Ardan.

– Seit vierzig Stunden haben wir die Augen nicht geschlossen, sagte Nicholl. In einigen Stunden werden wir uns völlig erholen.

– Niemals, entgegnete Michel.

– Gut, versetzte Nicholl, thue jeder nach Belieben! Ich für meinen Theil schlafe!«

Und Nicholl streckte sich auf einen Divan und bald schnarchte er gleich einem Achtundvierzig-PfĂĽnder.

»Der Nicholl ist gescheit, sagte Barbicane. Ich mach’s ihm nach.«

Und nach einigen Augenblicken secundirte er mit seiner Baßbegleitung den Bariton des Kapitäns.

»Gewiß, sagte Michel Ardan, als er sich allein sah, diese praktischen Leute haben Ideen, die so übel nicht sind.«

Und seine langen Beine ausgestreckt, seine Arme unterm Kopf, schlief auch Michel ein.

Aber dieser Schlaf konnte weder ruhig noch dauernd sein. Die drei Männer hatten doch allzuviel beunruhigende Gedanken im Kopf, und nach einigen Stunden, gegen sieben Uhr frühe, waren sie alle drei wieder auf den Füßen.

Das Projectil entfernte sich immer mehr von dem Mond und kehrte ihm immer mehr seine Spitze zu. Die Erscheinung war bis jetzt unerklärlich, aber zum GlĂĽck den Absichten Barbicane’s förderlich.

Noch siebenzehn Stunden bis zum Moment des Handelns.

Dieser Tag wurde ihnen lang. So kühn die Reisenden auch waren, so lebhaft waren sie doch beunruhigt beim Herannahen des Augenblicks, der die Entscheidung bringen sollte, ob sie nach dem Mond fallen, oder ewig in einer unabänderlichen Bahn festgehalten werden sollten. Sie zählten die Stunden, welche ihnen allzulang wurden, Barbicane und Nicholl unablässig in ihre Berechnungen vertieft, Michel zwischen den engen Wänden hin und her gehend mit sehnsüchtigen Blicken nach dem Mond.

Bisweilen durchkreuzten flĂĽchtige Erinnerungen an die Erde ihren Kopf. Sollten sie ihre Freunde des Gun-Clubs, und vor Allen den theuren J.T. Maston wieder sehen? In dem Augenblick muĂźte der ehrenwerthe Secretär an seinem Posten im Felsengebirge sein. Wenn er das Projectil vor dem Spiegel seines Riesenteleskopf sah, was dachte er wohl? Nachdem er’s hinter dem SĂĽdpol des Mondes verschwinden gesehen, sah er’s am Nordpol wieder zum Vorschein kommen! Es war also Trabant eines Trabanten! Hatte J.T. Maston diese unerwartete Neuigkeit in der Welt verbreitet? Das also war die Lösung des groĂźen Unternehmens? …

Inzwischen verlief der Tag ohne Zwischenfall. Es kam Mitternacht auf der Erde heran. Der 8. December sollte anbrechen. Noch eine Stunde, und der Moment gleicher Anziehung war gekommen. Welche Schnelligkeit hatte damals das Projectil noch? Man konnte es nicht schätzen. Aber die Berechnungen Barbicane’s konnten nicht irrig sein. Um ein Uhr frĂĽhe sollte diese Schnelligkeit gleich Null sein.

Eine andere Erscheinung muĂźte ĂĽbrigens den Punkt kenntlich machen, wo das Projectil bei der neutralen Linie ankam. Die beiden Anziehungskräfte, von der Erde und dem Mond her, sollten sich aufheben. Die Gegenstände verloren dann ihr Gewicht. Diese auffallende Thatsache, welche bei der ersten Ankunft Barbicane und seine Gefährten so merkwĂĽrdig ĂĽberrascht hatte, muĂźte bei der RĂĽckkehr unter den gleichen Bedingungen sich wiederholen. In dem Moment eben galt’s zu handeln.

Bereits hatte sich die konische Spitze des Projectils merklich der Mondscheibe zugekehrt. Es nahm eine Lage an, daß man die ganze Kraft des durch Abbrennen der Raketen erzeugten Rückstoßes benützen konnte. Das war also eine günstige Aussicht für die Reisenden. Wenn die Geschwindigkeit des Projectils auf dem neutralen Punkt völlig aufgehoben war, konnte ein entschiedener Stoß nach dem Monde hin, wenn auch nicht bedeutend, doch das Fallen zu Stande bringen.

»Noch fünf Minuten bis ein Uhr, sagte Nicholl.

– Alles ist fertig, erwiderte Michel Ardan, und hielt schon eine angezündete Lunte nach der Gasflamme hin.

– Warte,« sagte Barbicane, sein Chronometer in der Hand.

In diesem Augenblick gewahrte man keine Wirkung der Schwere mehr. Die Reisenden empfanden in sich selbst den völligen Mangel derselben. Sie waren dem neutralen Punkt sehr nahe, wo nicht auf demselben …

»Ein Uhr!« sagte Barbicane.

Michel Ardan hielt die brennende Lunte an eine Vorrichtung, welche die Raketen augenblicklich zu gemeinsamer Wirkung brachte. Man hörte aus Mangel an Luft innen keinen Knall. Aber durch die Luken gewahrte Barbicane ein fortdauerndes Ausströmen eines alsbald erlöschenden Feuers.

Das Projectil hatte eine ErschĂĽtterung zu erleiden, die im Innern sehr merklich verspĂĽrt wurde.

Die drei Freunde schauten, horchten stumm, kaum athmend. Man hätte bei der absoluten Stille ihr Herz können klopfen hören.

»Fallen wir? fragte endlich Michel Ardan.

– Nein, erwiderte Nicholl, denn der Boden des Projectils kehrt sich nicht dem Mond zu!«

In diesem Augenblick trat Barbicane vom Fenster zurück und wendete sich zu seinen Gefährten, entsetzlich bleich, die Stirne gerunzelt, die Lippen zusammengepreßt.

»Wir fallen! sprach er.

– Ach! rief Michel Ardan, auf den Mond?

– Der Erde zu! erwiderte Barbicane.

– Teufel! schrie Michel Ardan, und fügte philosophisch hinzu: Richtig, als wir uns in die Kugel begaben, konnten wir wohl ahnen, daß es nicht leicht sein werde, wieder heraus zu kommen!«

Wirklich begann der fĂĽrchterliche Herabsturz. Die im Projectil noch enthaltene Geschwindigkeit hatte es ĂĽber den neutralen Punkt hinaus gebracht. Das Abbrennen der Raketen konnte es nicht hemmen. Dieselbe Geschwindigkeit, welche bei der Ankunft das Projectil ĂĽber die neutrale Linie hinausgetrieben hatte, trieb’s ebenso bei der RĂĽckkehr. Nach den Gesetzen der Physik muĂźte es auf seiner elliptischen Bahn wieder auf dieselben Punkte kommen, worauf es bereits gewesen war.

Es war ein erschrecklicher Sturz aus einer Höhe von achtundsiebenzigtausend Lieues herab, ohne daß irgend eine Vorrichtung ihn schwächen konnte. Nach den Gesetzen der Ballistik mußte das Projectil mit gleicher Geschwindigkeit auf der Erde anlangen, wie die war, welche es beim Herausfahren aus der Columbiade hatte, also von »sechzehntausend Meter in der letzten Secunde!«

Und um zur Vergleichung eine andere Zahl daneben zu stellen, hat man berechnet, daĂź ein von der Spitze des Thurmes Notre-Dame, der nur zweihundert FuĂź hoch ist, herabfallender Gegenstand mit einer Geschwindigkeit von hundertundzwanzig Lieues in der Stunde auf dem Pflaster anlangt. Im jetzigen Fall muĂźte das Projectil mit einer Geschwindigkeit von siebenundfĂĽnfzigtausendsechshundert Lieues in der Stunde auf die Erde schmettern.

»Wir sind verloren, sagte Nicholl kaltblütig.

– Nun dann, werden wir um’s Leben kommen, erwiderte Barbicane mit einer Art frommer Begeisterung, so wird das ErgebniĂź unserer Reise sich prachtvoll erweitern! Gott wird uns sein GeheimniĂź selbst mittheilen! Im jenseitigen Leben wird die Seele zum Wissen nicht mehr der Maschinen und Instrumente bedĂĽrfen! Sie wird mit der ewigen Weisheit eins werden!

– Wahrhaftig, versetzte Michel Ardan, die ganze jenseitige Welt kann uns wohl tröstlichen Ersatz geben für das unbedeutende Gestirn, welches Mond heißt!«

Barbicane kreuzte die Arme vor der Brust mit dem GefĂĽhl erhabener Ergebung.

»Wie der Himmel will!« sprach er.

Neuntes Capitel


Neuntes Capitel

Folgen einer Abweichung von der Bahn.

Barbicane hatte nun keine BesorgniĂź mehr, auĂźer in Beziehung auf das Ende der Reise hinsichtlich eines starken Anprallens.

Die noch wirksame Geschwindigkeit des Projectils trieb es ĂĽber die neutrale Linie hinaus; folglich wĂĽrde es nicht mehr auf die Erde zurĂĽckfallen, auch nicht unbeweglich an der neutralen Stelle bleiben. Zu verwirklichen blieb nur noch die Voraussetzung, daĂź es unter Einwirkung der Anziehungskraft des Mondes sein Ziel erreiche.

In Wirklichkeit war es ein Herabfallen aus einer Höhe von achttausendzweihundertsechsundneunzig französischen Meilen auf einen Weltkörper, wo die Schwere allerdings nicht höher als auf den sechsten Theil der Schwere auf der Erde anzuschlagen ist. Dennoch ein fürchterlicher Fall, gegen welchen unverzüglich alle Vorkehrungen getroffen sein wollten.

Diese Vorkehrungen waren zweierlei Art: die einen sollten im Moment, wo das Projectil den Boden des Mondes berühren würde, den Schlag abschwächen; die anderen sollten den Fall verzögern, folglich ihn weniger stark machen.

Um das Anprallen abzuschwächen, war es zu bedauern, daß Barbicane nicht mehr im Stande war, die Mittel anzuwenden, welche bei der Abfahrt so wirksam waren, den Gegenstoß zu vermindern, nämlich das Wasser und die zerbrechlichen Verschläge. Die Scheidewände existirten noch, aber an Wasser mangelte es; denn den noch vorhandenen Vorrath konnte man nicht verwenden, da derselbe zu kostbar war für den Fall, daß man in den ersten Tagen auf dem Boden des Mondes ein flüssiges Element nicht vorhanden träfe.

Uebrigens wäre dieser Vorrath auch sehr unzureichend gewesen. Das bei der Abfahrt des Projectils dazu verwendete, worauf die wasserdichte Scheibe ruhte, war nicht minder wie drei Fuß hoch auf einer Fläche von vierundfünfzig Quadratfuß, enthielt sechs Kubikmeter und wog tausendsiebenhundertundfünfzig Kilogramm. Nun enthielten aber die Behälter nur den fünften Theil davon. Man mußte also auf dieses so wirksame Mittel verzichten.

Zu allem Glück hatte Barbicane sich nicht auf diese Wasservorrichtung beschränkt, sondern die bewegliche Scheibe durch starke Zapfen mit Federn gestützt, welche nach Zertrümmerung der Verschläge den Stoß wider das Bodenstück schwächen sollten. Diese Zapfen waren noch vorhanden; man brauchte sie nur wieder herzurichten und die bewegliche Scheibe wieder an ihre Stelle zu bringen. Alle diese Stücke, die, weil sie kaum merkbares Gewicht hatten, leicht zu handhaben waren, konnten rasch wieder eingerichtet werden.

Dies geschah. Die verschiedenen StĂĽcke waren leicht wieder hergestellt. Man brauchte nur Bolzen und Schrauben. An Werkzeug fehlte es nicht. Bald ruhte die wieder eingesetzte Scheibe auf ihren Stahlfederzapfen, wie ein Tisch auf seinen FĂĽĂźen. Ein Uebelstand ergab sich aus der Wiederherstellung der Scheibe: sie versperrte das untere Fenster, so daĂź die Reisenden nicht mehr den Mond durch diese Lucke beobachten konnten, wenn sie senkrecht auf derselben stehen wĂĽrden. Darauf muĂźte man nun verzichten. Uebrigens sonnte man durch die Seitenfenster noch die ungeheuren Mondregionen anschauen, wie der Luftschiffer die Erde aus seiner Gondel.

Diese Einrichtung der Scheibe erforderte eine Stunde Zeit. Es war schon zwölf Uhr Mittags vorüber, als die Vorbereitungen fertig waren. Barbicane stellte von Neuem Beobachtungen über die Neigung des Projectils an; aber zu seinem großen Leidwesen hatte es sich nicht hinreichend umgedreht, um zu fallen; es schien eine krumme Linie parallel mit der Mondscheibe zu beschreiben. Das Nachtgestirn strahlte glänzend im Weltraum, während auf der entgegengesetzten Seite das Tagesgestirn es mit seiner Gluth beleuchtete.

Diese Lage konnte nur beunruhigen.

»Werden wir anlangen?« fragte Nicholl.

– Thun wir nur, als müßten wir anlangen, erwiderte Barbicane.

– Ihr seid zu zaghaft, versetzte Michel Ardan. Wir werden anlangen, und rascher, als uns lieb sein wird.

Diese Antwort veranlaßte Barbicane, die Vorbereitungen fortzusetzen, und er machte sich daran, die zur Verzögerung des Falls bestimmten Maschinen bereit zu halten.

Erinnern wir uns des Meetings zu Tampa-Town, da der Kapitän Nicholl als Feind Barbicane’s und als Gegner Michel Ardan’s auftrat. Dem Kapitän Nicholl hatte auf seine Behauptung, das Projectil werde wie Glas zersplittern, Michel geantwortet, er werde dessen Fall durch angemessen verwendete Raketen verzögern.

Wirklich vermochten starke Kunstfeuer, vom Bodenstück auswärts gerichtet, indem sie eine starke Rückstoßbewegung hervorbrachten, die Schnelligkeit der Kugel einigermaßen zu hemmen. Diese Raketen mußten zwar im luftleeren Raum in Brand gesetzt werden, aber es sollte doch nicht an Sauerstoff fehlen, denn sie waren in ihrem Innern damit versehen, gleich den Mondvulkanen, deren Brand unerachtet des Mangels an Atmosphäre um den Mond herum niemals gehindert war.

Die Raketen nun, welche Barbicane angeschafft hatte, waren in kleinen Röhren von Stahl, welche mit einem Schraubengewinde versehen in das Bodenstück eingeschraubt werden konnten. Innen waren diese Röhren dem Boden gleich, außerhalb reichten sie einen halben Fuß weit hervor. Es waren deren zwanzig. Eine in der Scheibe angebrachte Oeffnung machte es möglich, daß man die an jeder befindliche Lunte anzünden konnte. Sie entluden sich dann nach außen. Die Füllung der Röhren war im Voraus vorgenommen. Man brauchte nun nur die in den Boden eingelassenen metallenen Stöpsel wegzunehmen und an ihre Stelle die genau hineingepaßten Röhren zu setzen.

Diese Arbeit war binnen drei Stunden vollendet, und nach allen diesen Vorkehrungen muĂźte man abwarten.

Inzwischen näherte sich das Projectil sichtbar immer mehr dem Mond, welcher in einem gewissen Verhältniß auf dasselbe einwirkte; aber die ihm noch eigene Schnelligkeit trieb es auch in schiefer Linie weiter. Die durch diese beiden Einwirkungen hervorgebrachte Linie wurde vielleicht zu einer Tangente. Aber gewiß fiel das Projectil nicht senkrecht auf die Mondoberfläche, denn sein Untertheil hätte in Gemäßheit seines Gewichts derselben zugekehrt sein müssen.

Barbicane’s Unruhe wurde größer, als er seine Kugel den Einwirkungen der Gravitation widerstehen sah. Er fand sich gegenĂĽber dem Unbekannten, welches in dem Weltraum zwischen den Sternen herrscht. Er glaubte als Gelehrter nur die drei Fälle möglich, RĂĽckfall auf die Erde, Fall auf den Mond und Unbewegtheit auf der neutralen Linie! Und siehe, da erhob sich unversehens ein vierter Fall sammt allen Schrecken des Unendlichen. Um bei dieser Ansicht seines Geistes mächtig zu bleiben, muĂźte man ein entschlossener Charakter sein, wie Barbicane, ein Phlegma wie Nicholl, oder ein tollkĂĽhner Abenteurer wie Michel Ardan.

Die Unterhaltung fiel auf diesen Gegenstand. Andere Leute hätten die Frage vom praktischen Gesichtspunkt aus betrachtet, und sich gefragt, wohin ihr Waggon-Projectil sie führe. Sie dagegen forschten nach der Ursache, welche diese Wirkung gehabt.

»Also wir sind aus der Bahn gekommen?« sagte Michel. »Aber weshalb?«

– Ich fürchte wohl, erwiderte Nicholl, daß trotz aller Vorsichtsmaßregeln die Columbiade nicht genau gerichtet wurde. Eine noch so kleine Unrichtigkeit mußte schon hinreichen, uns aus der Einwirkung der Anziehung des Mondes heraus zu bringen.

– Also hätte man schlecht visirt? fragte Michel.

– Ich glaub’s nicht, erwiderte Barbicane. Die Kanone war streng senkrecht gerichtet, unstreitig gerade auf den Zenith des Ortes. Wenn nun der Mond in den Zenith kam, muĂźten wir ihn als Vollmond erreichen. Es giebt noch einen anderen Grund, ich kann aber nicht darauf kommen.

– Kommen wir nicht zu spät? fragte Nicholl.

– Zu spät? versetzte Barbicane.

– Ja, fuhr Nicholl fort. Die Anweisung des Observatoriums zu Cambridge verlangte, daß die Fahrt in siebenundneunzig Stunden, dreizehn Minuten und zwanzig Secunden vor sich gehe. Das will heißen: wenn früher, so werde der Mond noch nicht an dem bestimmten Punkt angekommen sein; wenn später, so werde er nicht mehr an der Stelle sein.

– Einverstanden, erwiderte Barbicane. Aber wir sind dreizehn Minuten und fünfundzwanzig Secunden vor elf Uhr Abends abgefahren, und müssen am fünften zu Mitternacht ankommen, genau zu dem Zeitpunkt, da der Mond voll sein wird. Nun sind wir am 5. December. Es ist halb vier Uhr Nachmittags, und in acht und einer halben Stunde sollten wir am Ziel anlangen. Weshalb kommen wir nun nicht dort an?

– Sollte vielleicht die Schnelligkeit zu groß sein? erwiderte Nicholl, denn wir wissen jetzt, daß die Anfangsgeschwindigkeit größer gewesen ist, als man voraussetzte.

– Nein! Hundertmal nein! entgegnete Barbicane. War die Richtung des Projectils gut, so hätte ein Uebermaß von Geschwindigkeit uns nicht gehindert, den Mond zu erreichen. Nein, es ist eine Abweichung der Bahn. Wir sind von der Bahn abgekommen.

– Wodurch? Durch wen? fragte Nicholl.

– Ich kann’s nicht sagen, erwiderte Barbicane.

– Nun, Barbicane, sprach darauf Michel, soll ich Dir meine Meinung sagen über die Frage, woher diese Abweichung kommt?

– – Nur immer heraus.

Ich wĂĽrde keinen halben Dollar dafĂĽr geben, um es zu erfahren! Wir sind aus der Bahn heraus, das ist Thatsache. Wohin wir fahren, daran liegt mir wenig. Wir werden’s schon sehen. Der Teufel! Da wir nun einmal in den Weltraum hineingezogen sind, so werden wir schlieĂźlich irgend einem Centrum der Anziehungskraft zufallen!

Mit dieser Gleichgiltigkeit Michel Ardan’s konnte sich Barbicane nicht zufrieden geben. Nicht daĂź er wegen der Zukunft BesorgniĂź hatte! Vielmehr hätte er um jeden Preis gern gewuĂźt, weshalb sein Projectil von der Bahn abgekommen.

Inzwischen änderte die Kugel sammt den hinausgeworfenen Gegenständen fortwährend ihre Lage, und zwar seitwärts vom Mond. Barbicane konnte sogar durch Merkzeichen, welche er an dem Mond, der keine zweitausend Lieues mehr entfernt war, aufgenommen hatte, feststellen, daß seine Geschwindigkeit gleichförmig wurde. Ein neuer Beweis, daß nicht ein Fallen stattfand. Die treibende Kraft hatte noch über die anziehende des Mondes das Uebergewicht, aber das Projectil kam doch unstreitig dem Mond immer näher und man konnte hoffen, daß, je näher man kam, die Schwerkraft überwiegen, und definitiv ein Fallen verursachen werde.

Da die drei Freunde nichts Besseres zu thun hatten, setzten sie ihre Beobachtungen fort. Doch konnten sie ĂĽber die topographische Beschaffenheit des Trabanten noch nichts feststellen, weil alle Erhabenheiten unter dem RĂĽckwerfen der Sonnenstrahlen flacher wurden.

Sie betrachteten ihn also bis um acht Uhr Abends durch die Seitenlucken. Der Mond hatte damals vor ihren Augen dermaßen an Größe zugenommen, daß er die ganze eine Hälfte des Firmaments verdeckte. Das Projectil wurde auf der einen Seite vom Nachtgestirn mit Licht überschwemmt.

In diesem Moment glaubte Barbicane die Entfernung von ihrem Ziel auf nur noch siebenhundert Lieues schätzen zu können. Die Schnelligkeit des Projectils schien ihm noch zweihundert Meter in der Secunde zu betragen, das macht etwa hundertundsiebenzig franz. Meilen in der Stunde. Das Bodenstück desselben zeigte unterm Einfluß der Centripetalkraft das Bestreben, sich dem Monde zuzukehren; aber die centrifugale behauptete stets das Uebergewicht, und es wurde wahrscheinlich, daß sich die geradlinige Bahn in irgend eine krumme verwandelte, ohne daß man über ihre Beschaffenheit noch etwas Bestimmtes kannte.

Barbicane trachtete fortwährend nach der Lösung seines unlösbaren Problems.

Die Stunden verflossen ohne Ergebniß. Das Projectil kam sichtbar dem Monde näher, aber es wurde auch sichtbar, daß es denselben nicht erreichen würde. Aus dem Zusammenwirken der anziehenden und abstoßenden Kraft, welche die Bewegung desselben bestimmten, mußte sich der kürzeste Abstand ergeben, bis zu welchem es gelangen würde.

»Ich begehre nur etwas«, sagte Michel wiederholt: »nahe genug an den Mond heranzukommen, um in seine Geheimnisse zu dringen!«

– »Verfluchte Ursache, rief Nicholl, die unser Projectil zur Abweichung gebracht hat!

– Verwünscht dann, erwiderte Barbicane, als sei ihm auf einmal ein Gedanke gekommen, verwünscht dann der Bolide, dem wir begegneten!

– Hm! brummte Michel Ardan.

– Was meinen Sie damit? rief Nicholl.

– Ich meine, erwiderte Barbicane so zuversichtlich, als sei er davon überzeugt, ich meine, daß unsere Abweichung einzig und allein der Begegnung mit diesem schweifenden Körper zuzuschreiben ist!

– Aber er hat ja nicht einmal uns gestreift, erwiderte Michel.

– Darauf kommt’s nicht an. Seine Masse war im VerhältniĂź zu der unseres Projectils enorm, so daĂź seine Anziehungskraft hinreichend stark war, um auf unsere Richtung einzuwirken.

– So wenig! rief Nicholl.

– Ja! Nicholl, so wenig es auch der Fall gewesen sein mag, erwiderte Barbicane, bei einer Entfernung von vierundachtzigtausend Lieues bedurfte es nicht mehr, um ein Verfehlen des Mondes zu veranlassen!«

Zehntes Capitel


Zehntes Capitel

Die Beobachter des Mondes.

Barbicane hatte offenbar in Beziehung auf diese Abweichung den einzigen Grund, der sich hören ließ, getroffen. So gering auch die Veranlassung gewesen sein mag, so war sie hinreichend, um auf die Bahn des Projectils einzuwirken. Es war ein Verhängniß. Das kühne Unternehmen scheiterte an einem ganz zufälligen Umstand, und wenn nicht außerordentliche Ereignisse eintraten, war es nicht mehr möglich, die Mondscheibe zu erreichen. Würde man nahe genug vorbei kommen, um einige bisher unlösbare Fragen der Physik oder Geologie zu lösen? Dieser Punkt allein nahm jetzt die kühnen Reisenden vorerst in Anspruch. An das Schicksal, welches ihnen die Zukunft vorbehielt, wollten sie nicht einmal denken. Doch, was sollte aus ihnen werden mitten in dieser unendlichen Verlassenheit, da ihnen bald die Lebenslust ausgehen mußte? Wenige Tage noch, und sie verfielen in dieser unstät schweifenden Kugel dem unvermeidlichen Tode. Aber die wenigen Tage hatten für die unerschrockenen Männer den Werth von Jahrhunderten, und sie widmeten jeden Augenblick der Beobachtung dieses Mondes, welchen sie zu erreichen nicht mehr hoffen konnten.

Die damalige Entfernung vom Trabanten wurde auf etwa zweihundert Lieues geschätzt. Unter diesen Umständen befanden sich die Reisenden, in Hinsicht auf die Sichtbarkeit des Details der Scheibe, weiter vom Mond entfernt, als die Bewohner der Erde bei ihrer Bewaffnung mit den weitreichenden Teleskopen.

Wir wissen ja, daĂź das von John RoĂź zu Parson-Town aufgestellte Instrument, dessen Vergrößerung sechstausendfĂĽnfhundertfach ist, den Mond bis auf sechzehn Lieues nahe bringt; ferner durch die Maschine zu Long’s Peak, welche achtundvierzigtausendfach vergrößert, wurde das Nachtgestirn auf weniger als zwei Meilen in die Nähe gebracht, und man konnte Gegenstände von zehn Meter Durchmesser hinlänglich klar erkennen.

Bei dieser Entfernung also waren die topographischen Details des Mondes, ohne Fernrohr betrachtet, nicht merklich klar bestimmt. Das Auge faßte zwar den unbestimmten Umriß der unermeßlichen Niederungen, welche man nicht im eigentlichen Sinn »Meere« genannt hat, aber ihre Beschaffenheit näher zu erkennen vermochte es nicht. Das Hervorspringen der Berge verschwand in der glänzenden Beleuchtung durch die rückgeworfenen Sonnenstrahlen. Der Blick wendete sich unwillkürlich wieder ab, als wäre es eine Masse geschmolzenen Silbers.

Inzwischen wurde die längliche Gestalt der Kugel bereits erkennbar. Sie erschien wie ein riesenhaftes, mit dem spitzen Ende der Erde zugekehrtes Ei. In Wirklichkeit hatte der Mond, als er in den ersten Tagen seiner Bildung flüssig oder dehnbar war, eine vollständige Kugelgestalt, aber sobald die Erde ihn in ihr Attractions-Centrum zog, wurde er durch die Wirkung der Schwere länglich. Indem er Trabant wurde, büßte er durch die Wirkung der Schwere die ursprüngliche Reinheit seiner Formen ein; sein Centrum der Schwere verlegte sich vor das Centrum der Gestalt, und aus dieser Eigenthümlichkeit zogen einige Gelehrte den Schluß, daß Luft und Wasser sich auf die entgegengesetzte Seite des Mondes, welche nie auf der Erde sichtbar ist, zurückziehen konnten.

Diese Veränderung der ursprünglichen Formen wurde erst seit einigen Augenblicken merklich. Die Entfernung des Projectils vom Mond minderte sich sehr rasch, da seine jetzige Geschwindigkeit so bedeutend geringer war, als die anfängliche; doch war sie immer noch acht- bis neunfach stärker, als unsere Eilzüge auf den Eisenbahnen. Die schiefe Richtung der Kugel, in Gemäßheit ihrer schiefen Lage, ließ Michel Ardan einige Hoffnung, man werde auf irgend einen Punkt der Mondscheibe treffen. Er konnte gar nicht glauben, daß er nicht anlangen werde; das wiederholte er öfters von Neuem. Aber Barbicane, der richtiger zu urtheilen verstand, erwiderte ihm unablässig mit unbarmherziger Logik:

»Nein, Michel, nein. Wir können nur durch Fallen auf den Mond gelangen, und wir fallen nicht. Die centripetale Kraft hält uns unter dem Einfluß des Mondes, aber die centrifugale entfernt uns unwiderstehlich.«

Die Betonung, womit er dieses sprach, raubte Michel Ardan seine letzten Hoffnungen.

Das Projectil näherte sich der Nordhälfte des Mondes, welche auf den Mondkarten unten ist, denn diese werden meistens nach dem von den Fernröhren dargebotenen Bild entworfen, welches bekanntlich ein umgekehrtes ist. Dieses war auch bei der Mädler’schen Mondkarte, welche Barbicane zu Rathe zog, der Fall. Auf dieser zeigten sich ausgedehnte Ebenen, worauf hie und da einzelne Berge vorkommen.

Zu Mitternacht war es Vollmond. Genau zu diesem Zeitpunkt hätten die Reisenden ankommen müssen, hätte nicht der unglückselige Bolid ihre Richtung geändert. Das Gestirn langte unter den vom Observatorium zu Cambridge scharf bezeichneten Bedingungen an. Es befand sich mathematisch in seiner Erdnähe und im Zenith des achtundzwanzigsten Parallelgrades. Auf dem Boden der enormen, senkrecht auf den Horizont gerichteten Columbiade hätte ein Beobachter den Mond in der Mündung der Kanone eingerahmt gesehen. Die Achse derselben in gerader Linie fortgesetzt, hätte das Nachtgestirn in seinem Centrum getroffen.

Ich brauche nicht zu sagen, daß die Reisenden diese ganze Nacht vom 5. auf den 6. December schlaflos zubrachten. Hätten sie der neuen Welt so nahe die Augen schließen können? Alle ihre Gefühle concentrirten sich in dem einzigen Gedanken: Schauen. Sie waren Repräsentanten der Erde, des Menschengeschlechts der Vergangenheit und Gegenwart, welches mit ihren Augen die Mondregionen betrachtete, in die Geheimnisse seines Trabanten eindrang! Von spannender Gemüthsbewegung durchdrungen begaben sie sich schwankend von einem Fenster an das andere.

Ihre von Barbicane aufgezeichneten Beobachtungen waren sehr genau bestimmt. Sie wurden vermittelst Fernrohren gemacht, zur Controle dienten ihre Karten.

Der erste Beobachter des Mondes war Galiläi, dessen unzureichendes Fernrohr nur dreißigmal vergrößerte. Dennoch erkannte er in den Flecken, womit die Mondscheibe, »wie der Pfauenschweif mit Augen« bedeckt ist, Gebirge, und maß einige Höhen, welche er in übertriebenem Maßstab einem Fünftheil des Durchmessers der Scheibe gleich setzte, nämlich achttausendachthundert Meter. Galiläi entwarf keine Karte von seinen Beobachtungen.

Einige Jahre später setzte der Danziger Astronom Helvetius – durch ein Verfahren, das nur zweimal im Monat, zur Zeit des ersten und zweiten Viertels, genau sein konnte – die Höhebestimmungen Galiläi’s auf den sechsundzwanzigsten Theil des Monddurchmessers herab. Das war eine Uebertreibung in entgegengesetzter Richtung. Man verdankt aber diesem Gelehrten die erste Mondkarte. Die hellen runden Flecken bilden auf derselben ringförmige Gebirge, und die dunkeln sind als ausgedehnte Meere bezeichnet, die in Wirklichkeit nur Ebenen sind. Diesen Bergen und Gewässern gab er von der Erde entliehene Namen. Man sieht da den Sinai mitten in einem Arabien, einen Aetna im Centrum von einem Sicilien, die Alpen, Apenninen, Karpathen, dann das Mittelländische, das Marmora- und Schwarze Meer, das Kaspische. Diese Namen sind um so unpassender, als sie nicht an die Gestaltung der gleichnamigen Gebirge erinnern. Kaum könnte man in dem groĂźen weiĂźen Flecken, der sĂĽdlich an ausgedehnte Continente grenzt und in eine Spitze ausläuft, das umgekehrte Bild der indischen Halbinsel, des bengalischen Golfs und Cochinchinas erkennen. Darum hat man auch diese Namen nicht beibehalten. Ein anderer Kartograph, der mit dem menschlichen Herzen besser bekannt war, schlug eine neue Benennung vor, welche von der menschlichen Eitelkeit eifrig angenommen wurde. Pater Riccioli nämlich, ein Zeitgenosse des Helvetius, verfaĂźte eine plumpe Karte, die zwar voller IrrthĂĽmer war, aber den Mondbergen Namen groĂźer Männer des Alterthums und von Gelehrten jener Zeit gab, ein Gebrauch, dem man nachher gern folgte.

Eine dritte Mondkarte wurde im siebenzehnten Jahrhundert von Dominico Cassini entworfen; besser zwar ausgefĂĽhrt als die Riccioli’s, ist sie in Hinsicht der Messungen ungenau. Es wurden zwar einige Ausgaben derselben mit Abänderungen veröffentlicht, aber die lange aufbewahrte Platte wurde doch zuletzt als altes Kupfer nach dem Pfund verkauft.

Die vier Meter hohe Karte La Hire’s wurde nie gestochen. Der deutsche Astronom Tobias Mayer begann um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Herausgabe einer prächtigen Mondkarte nach strenge berichtigten Messungen; aber durch seinen Tod 1762 blieb die schöne Arbeit unvollendet.

Hierauf kam Schröter, aus Lilienthal, der zahlreiche Mondkarten entwarf, hernach ein gewisser Lohrmann aus Dresden, welchem man eine Platte von fünfundzwanzig Abtheilungen verdankt, wovon vier gestochen wurden.

Im Jahre 1830 lieferten Beer und Mädler ihre berühmte Mappa selenographica nach orthographischer Projection. Diese Karte stellt die Mondscheibe genau so, wie sie scheint, dar; doch sind die Zeichnungen der Berge und Ebenen nur auf dem mittleren Theile richtig; überall sonst, nördlich und südlich, östlich und westlich, sind diese in Verkürzung gegebenen Zeichnungen nicht mit denen in der Mitte zu vergleichen. Diese fünfundneunzig Centimeter hohe, in vier Abtheilungen getheilte Karte ist das Hauptwerk der Mondkartenzeichnung.

Nach diesen Gelehrten sind noch die Reliefkarten des deutschen Astronomen Julius Schmitt anzuführen, die topographischen Arbeiten des Pater Secchi, die prächtigen Probedrucke des Engländers Waren de la Rue, und endlich eine Karte von Lecoutourier und Chapuis nach orthographischer Projection, deren Original im Jahre 1860 entworfen wurde, von sehr richtiger Zeichnung und sehr klarer Anordnung.

Dieses sind die verschiedenen Karten, welche man von der Mondwelt hat. Barbicane besaß die beiden von Beer und Mädler und von Chapuis und Lecoutourier. Sie konnten ihm seine Beobachtungen erleichtern.

Die optischen Instrumente, welche er zur Verfügung hatte, waren ausgezeichnete See-Fernrohre, welche besonders für diese Reise gefertigt worden waren. Sie vergrößerten hundertfach, konnten also auf der Erde den Mond bis zu einer Entfernung von nicht tausend Lieues nahe bringen. Aber bei der damaligen Nähe, welche um drei Uhr Morgens nicht mehr als hundertundzwanzig Kilometer betrug, und in der von keiner Atmosphäre getrübten Umgebung, mußte durch diese Instrumente die Mondfläche auf nicht ganz mehr als fünfzehnhundert Meter nahe kommen.

Elftes Capitel


Elftes Capitel

Phantasie und Wirklichkeit.

»Haben Sie jemals den Mond gesehen?« fragte ein Professor ironisch einen seiner Schüler.

– Nein, mein Herr, erwiderte noch ironischer der Schüler, aber ich darf sagen, daß ich von demselben reden gehört habe.

Die scherzhafte Antwort könnte in gewissem Sinn von der immensen Majorität der Leute unter dem Mond gegeben werden. Wie viele Leute haben von dem Mond reden gehört, ohne ihn jemals zu sehen … wenigstens durch ein Fernrohr oder Teleskop! Wie viele haben selbst nie eine Mondkarte genau angesehen!

Betrachtet man eine Mondkarte, so springt eine Eigenthümlichkeit sogleich in die Augen. Gerade umgekehrt wie bei der Erde und dem Mars nehmen die Continente vorzugsweise die südliche Hemisphäre ein. Diese zeigen nicht so deutliche und so regelmäßige Grenzlinien, wie Nordamerika, Afrika und die indische Halbinsel. Ihre eckigen, launenhaften, tief ausgezackten Küsten sind reich an Golfen und Halbinseln. Sie erinnern leicht an das ganze Durcheinander der Sunda-Inseln, wo das Land übermäßig zerstückelt ist. Wenn jemals auf der Mondoberfläche Schifffahrt stattfand, mußte sie ganz besonders schwierig und gefährlich sein; und es sind auf dem Mond die Seeleute und die Hydrographen zu beklagen; letztere, wenn sie die zerrissenen Küsten aufnehmen, erstere, wenn sie an den gefährlichen Stellen landen mußten.

Man wird ferner bemerken, daĂź auf der Mondkugel der SĂĽdpol weit mehr mit Festland besetzt ist wie der Nordpol. Der letztere ist nur wie von einem leichten Käppchen mit Land bedeckt, welches durch ungeheure Meere [FuĂźnote] vom anderen Festland gesondert ist. SĂĽdlich bedecken die Continente fast die ganze Hemisphäre. Möglich also, daĂź die Seleniten bereits auf einem ihrer Pole die Fahne aufgesteckt haben, während die Franklin, RoĂź, Kane, Dumont d’Urville, Lambert an diesen unbekannten Punkt des Erdballs noch nicht gelangen konnten.

Inseln giebt’s auf der Mondoberfläche sehr viele. Fast alle länglich oder kreisrund und wie mit dem Zirkel gemacht, scheinen sie einen ungeheuren Archipel zu bilden, der reizenden Gruppe zwischen Griechenland und Kleinasien vergleichbar, welche die Mythologie ehemals mit ihren schönsten Sagen geschmĂĽckt hat. UnwillkĂĽrlich fallen einem die Namen Naxos, Tenedos, Milo, Karpathos ein, und unsere Augen suchen das Schiff des Ulysses oder den »Klipper« der Argonauten. Dies wenigstens wĂĽnschte Michel Ardan zu sehen, einen griechischen Archipel. Die wenig phantasiereichen Augen seiner Gefährten wurden durch den Anblick dieser KĂĽsten vielmehr an die zerstĂĽckelten Lande Neu-Braunschweig und Neu-Schottland erinnert, und da, wo der Franzose die Helden der Fabel aufspĂĽrte, fanden diese Amerikaner die fĂĽr Errichtung von Comptoiren gĂĽnstigen Punkte im Interesse von Handel und Gewerben auf dem Mond.

Zum Schluß dieser Beschreibung des Festlandes auf dem Mond einige Worte über seine orographische Beschaffenheit. Man unterscheidet darauf sehr deutlich Gebirgsketten, einzelne Berge, Ringberge und Streifen. Unter diese Abtheilung läßt sich die ganze Bodenerhebung des Mondes begreifen, welche außerordentlich zerrissen ist. Es ist eine ungeheure Schweiz, ein ununterbrochenes Norwegen, wo sich alles auf plutonischem Wege gebildet hat. Diese so tief eingerissene Oberfläche ist das Ergebniß wiederholter Zusammenziehungen der Bodenrinde zur Zeit, als das Gestirn noch in seiner Bildung begriffen war. Die Mondscheibe ist daher geeignet zum Studium der großen geologischen Erscheinungen. Nach der Bemerkung einiger Astronomen ist die Oberfläche des Mondes, wenngleich älter als die Oberfläche der Erde, dennoch neuer. Es giebt da keine Gewässer, welche die ursprüngliche Bodengestaltung abändern, und deren zunehmendes Einwirken eine Art allgemeiner Abflachung erzeugt; keine Luft, deren zersetzender Einfluß die orographischen Profile entstellt. Da ist die plutonische Arbeit, durch neptunische Kräfte nicht gestört, in ihrer ganzen natürlichen Reinheit. Gerade so die Erde, bevor die Sümpfe und Ströme schichtenweis ihren Bodenniederschlag absetzten.

Nachdem sie einen Ueberblick dieser weiten Continente genommen, gewährten ihnen die noch ausgedehnteren Meere ein anziehenderes Bild. Nicht allein ihre Gestaltung, ihre Lage, ihr Aussehen erinnern an die Oceane der Erde, sondern auch, gleichwie auf der Erde, nehmen diese Meere den größeren Theil der Oberfläche ein. Und doch sind es nicht mit Flüssigkeiten bedeckte Räume, sondern Ebenen, deren Natur die Reisenden bald zu bestimmen hofften.

Die Astronomen haben diese angeblichen Meere mit wenigstens seltsamen Namen geschmĂĽckt, welche die Wissenschaft bisher in Achtung behalten hat. Michel Ardan sagte in Beziehung auf dieselben: Diese Karte ist gleich dem. Leben sehr deutlich in zwei Theile getheilt, eine weibliche und eine männliche, den Frauen gehört die Hemisphäre zur Rechten, den Männern die zur Linken. Barbicane und Nicholl zuckten dabei die Achseln; doch ihr phantastischer Freund fuhr fort. In dieser Hemisphäre zur Linken erstreckt sich »das Wolkenmeer«, worin so oft die menschliche Vernunft ertrinkt. Nicht weit davon zeigt sich »das Regenmeer«, welches durch die Wirren des Lebens genährt wird. Daneben das »Meer der StĂĽrme«, wo der Mensch unaufhörlich gegen seine Leidenschaften ankämpft, die ihn nur zu oft besiegen. Hernach, erschöpft durch Täuschungen, Verrath, Treulosigkeit sammt dem ganzen Gefolge irdischen Elends, was findet er am Ende seiner Laufbahn? Dieses ungeheure »Meer der Launen«, welches kaum durch einige Tropfen aus dem »Thau-Golf« versĂĽĂźt wird! Wolken, Regen, StĂĽrme, Launen, enthält das Leben des Menschen etwas anderes, und läßt sich’s nicht in diese vier Begriffe zusammenfassen?

Die den Frauen gewidmete Hemisphäre zur Rechten enthält kleinere Meere, deren bezeichnende Namen alle Eigenthümlichkeiten weiblichen Lebens an sich tragen. Da ist »das Meer der Heiterkeit«, worüber das junge Mädchen sich neigt, und »der See der Träume«, welche ihm eine lachende Zukunft entgegen strahlt! Da ist »das Nectarmeer« mit seinen Wellen der Zärtlichkeit und seinem Fächeln der Liebe! Hier »das Meer der Fruchtbarkeit«, »das Meer der Krisen«, sodann »das Meer der Mißlaunen«, dessen Umfang vielleicht zu beschränkt ist, und endlich dieses ungeheure »Meer der Seelenruhe«, worin alle täuschenden Leidenschaften, alle unnützen Träume, alle unerfüllten Wünsche untergehen, und dessen Fluthen friedlich in den »See des Todes« verlaufen.

Welche seltsame Reihe von Namen, und welche sonderbare Deutung von Seiten des Phantasten Michel!

Aber seine ernsten Genossen mit einer mehr geographischen Anschauung der Dinge maĂźen die Winkel und Diameter.

Barbicane und Nicholl sahen in dem »Wolkenmeer« eine unermeßliche Niederung mit einigen zerstreuten ringförmigen Bergen, welche eine große Strecke des östlichen Theiles der Südhemisphäre bedeckte; sie umfaßte hundertvierundachtzigtausendachthundert Quadratlieues, und sein Centrum befand sich unterm 15° südlicher Breite und 20° westlicher Länge.

Der Ocean der Stürme, Oceanus Procellarum, die ausgedehnteste Ebene der Mondscheibe, umfaßte einen Flächenraum von dreihundertachtundzwanzigtausenddreihundert Quadratlieues, dessen Centrum unterm 10° nördlicher Breite und 45° östlicher Länge lag. Mitten aus demselben ragten die erstaunlichen strahlenförmigen Berge Keppler und Aristarch empor. Nördlicher und von dem Wolkenmeer durch hohe Gebirgsketten getrennt, erstreckte sich das »Regenmeer«, Mare Imbrium, mit seinem Mittelpunkt unter 35° nördlicher Breite und 20° östlicher Länge; es hatte fast kreisrunde Gestalt, und deckte einen Raum von hundertdreiundneunzigtausend Quadratlieues. Nicht fern davon das Meer des Humors, Mare Humorum, ein kleines Becken von nur vierundvierzigtausendzweihundert Quadratlieues, lag unterm 25° südlicher Breite und 40° östlicher Länge. Endlich sah man noch drei Golfe am Rande dieser Hemisphäre, benannt: der glühendheiße Golf, der Thau-Golf und der Regenbogen-Golf, kleine, schmale Ebenen zwischen hohen Gebirgsketten.

Die »weibliche« Hemisphäre, natürlich launenhafter, unterschied sich durch kleinere und zahlreichere Gewässer. Es waren nördlich das Frostmeer, Mare Frigoris, unter 55° nördlicher Breite und 0° der Länge, mit einer Oberfläche von sechsundsiebenzigtausend Quadratlieues, welches an den See des Todes und den See der Träume grenzte; das Meer der Heiterkeit, Mare Serenitatis, unter 25° nördlicher Breite und 20° westlicher Länge, hatte einen Umfang von sechsundachtzigtausend Quadratlieues; das Meer der Krisen, Mare Crisium, wohl abgegrenzt, sehr rund, umfaßte unterm 17° nördlicher Breite und 55° westlicher Länge eine Fläche von vierzigtausend Lieues, ganz gleich dem Kaspischen von Gebirgen rings umgeben. Sodann beim Aequator unter 5° nördlicher Breite und 25° westlicher Länge zeigte sich das Meer der Ruhe, Mare Tranquillitatis, von hunderteinundzwanzigtausendfünfhundertundneun Quadratlieues; dieses Meer grenzte südlich an das Nectarmeer, mit einer Fläche von achtundzwanzigtausendachthundert Quadratlieues unter 15° südlicher Breite und 35° westlicher Länge, und östlich an das Meer der Fruchtbarkeit, Mare Fecunditatis, das größte dieser Hemisphäre, mit einem Flächeninhalt von zweihundertneunzehntausenddreihundert Quadratlieues unter 3° südlicher Breite und 50° westlicher Länge. Endlich, ganz im Norden und ganz im Süden, stachen noch zwei Meere hervor, das Humboldt-Meer, Mare Humboldtianum, sechstausendfünfhundert Quadratlieues groß, und das Südmeer, Mare Australe, mit einer Fläche von sechsundzwanzigtausend.

In der Mitte der Mondscheibe, auf beiden Seiten des Aequators und des Meridians 0, erstreckte sich der Golf des Centrums, Sinus Medii, eine Art Bindestrich zwischen den beiden Hemisphären.

Aus diesen Theilen bestand, wie Nicholl und Barbicane vor Augen sahen, die stets sichtbare Oberfläche des Erdtrabanten. Als sie diese verschiedenen Maße addirten, ergab sich für diese Hemisphäre ein Flächengehalt von vier Millionen siebenhundertachtunddreißigtausendhundertundsechzig Quadratlieues, von welchen drei Millionen dreihundertsiebenzehntausendsechshundert Lieues auf die Vulkane, die Gebirgsketten, Ringberge, Inseln, kurz Alles, was den festen Theil des Mondes zu bilden schien, zu rechnen; und vierzehnhundertzehntausendvierhundert Lieues auf die Meere, Seen, Sümpfe, Alles was scheinbar dem flüssigen Theil angehörte.

Diese Hemisphäre ist demnach dreizehn und ein halb Mal kleiner als die Erdhemisphäre. Doch haben die Selenographen bereits ĂĽber fĂĽnfzigtausend Krater auf derselben gezählt. So ist also, aufgetrieben, voll Runzeln und Schrunnen, wie ein Schaumgebäck, das Angesicht der schönen Diana, der blonden Phöbe, der reizenden Astarte, der Königin der Nacht, der Tochter Jupiter’s und der Latona.

Zwölftes Capitel


Zwölftes Capitel

Orographische Details.

Die vom Projectil eingeschlagene Richtung führte dasselbe, wie bereits bemerkt, der nördlichen Hemisphäre des Mondes zu. Die Reisenden waren weit ab von dem Punkt des Centrums, auf welchen sie stoßen mußten, wäre ihre Bahn nicht unabänderlich abgewichen.

Es war schon eine halbe Stunde nach Mitternacht. Barbicane schätzte damals seine Entfernung auf vierzehnhundert Kilometer, etwas mehr als die Länge des Mondradius, und dieser Abstand mußte in dem Verhältniß, als sie dem Nordpol sich näherten, geringer werden. Das Projectil befand sich damals nicht über dem Aequator, sondern quer über dem zehnten Breitegrad, und von dieser Breite aus, welche auf der Karte bis zum Pol hin sorgfältig aufgenommen war, konnte Barbicane mit seinen Genossen den Mond unter den vortheilhaftesten Bedingungen beobachten.

In der That wurde durch das Fernrohr dieser Abstand von vierzehnhundert Kilometer auf vierzehn, nämlich drei und eine halbe Lieue, herabgebracht. Das Teleskop des Felsengebirges brachte den Mond noch näher, aber die Erdatmosphäre schwächte bedeutend seine optische Kraft. Daher nahm auch Barbicane von seinem Projectil aus mit der Lorgnette schon manche Details wahr, welche von den Beobachtern auf der Erde fast nicht zu erkennen waren.

»Meine Freunde, sagte darauf der Präsident mit ernstem Ton, ich weiß nicht, wohin wir fahren, ich weiß nicht, ob wir jemals unsern Erdball wieder sehen. Dennoch wollen wir verfahren, als sollten diese Arbeiten einmal unseres Gleichen nützlich sein. Halten wir unseren Geist frei von jeder Befangenheit. Wir sind Astronomen. Diese Kugel ist ein in den Weltraum versetztes Cabinet des Observatoriums zu Cambridge. So wollen wir Beobachtungen anstellen.«

Unverzüglich wurde die Arbeit mit äußerster Genauigkeit begonnen, und es wurden die verschiedenen Ansichten des Mondes von den wechselnden Standpunkten aus, welche das Projectil dem Gestirn gegenüber einnahm, getreu aufgenommen.

Zu derselben Zeit, als die Kugel sich über dem zehnten Grad nördlicher Breite befand, schien sie strenge dem zwanzigsten Grad östlicher Länge zu folgen.

Hierhin gehört eine wichtige Bemerkung hinsichtlich der Karte, welche bei den Beobachtungen gebraucht wurde. Bei den Mondkarten, wo, in Folge des verkehrten Bildes, welches die Fernröhre von Gegenständen werfen, der SĂĽden oben ist, der Norden unten, sollte es natĂĽrlich scheinen, daĂź in Folge dieser Umkehrung der Osten links fallen mĂĽĂźte, der Westen rechts. Jedoch so ist’s nicht der Fall. WĂĽrde die Karte umgekehrt, und stellte den Mond so dar, wie er sich den Blicken darbietet, so wäre Osten links und Westen rechts, umgekehrt wie bei den Landkarten. Der Grund dieser abweichenden Erscheinung ist folgender. Wer den Mond von der nördlichen Hemisphäre aus, in Europa, wenn man will, beobachtet, sieht ihn sich gegenĂĽber im SĂĽden, und kehrt dem Norden den RĂĽcken zu, umgekehrt wie bei Betrachtung einer Landkarte. Weil er dem Norden den RĂĽcken zuwendet, hat er den Osten links, den Westen rechts. Ein Beobachter auf der sĂĽdlichen Hemisphäre, in Patagonien z.B., hätte die Westseite des Mondes vollständig links, die östliche rechts, weil SĂĽden hinter ihm ist.

Dieses ist der Grund der anscheinenden Umkehrung der beiden Cardinalpunkte, und man muß sich desselben bewußt sein, um die Beobachtungen des Präsidenten Barbicane zu begleiten.

Mit Hilfe der Mappa selenographica von Beer und Mädler konnten die Reisenden auf dem Theil der Mondscheibe, welche sich vor dem Feld ihres Fernrohres befand, sich leicht zurecht finden.

»Was erblicken wir in diesem Augenblick? fragte Michel.

– Den nördlichen Theil des Wolkenmeeres, erwiderte Barbicane. Wir sind noch nicht nahe genug, um seine Beschaffenheit zu erkennen. Sind diese Ebenen mit dürrem Sand bedeckt, wie die ersten Astronomen angenommen haben? Sind es nur unermeßliche Waldungen, wie Waren de la Rue meinte, welcher auf dem Mond eine sehr niedrige, aber sehr dichte Atmosphäre voraussetzt, das werden wir später erfahren. Behaupten wollen wir nicht eher etwas, als wir dazu befugt sind.«

Dieses Wolkenmeer ist auf den Karten ziemlich unbestimmt abgegrenzt. Man nimmt an, jene ungeheure Ebene sei mit Lavablöcken bedeckt, welche von den rechtsbenachbarten Vulkanen Ptolemäus, Purbach, Arzachel ausgeworfen worden. Aber das Projectil kam merklich näher, und bald zeigten sich die Berghöhen, welche die nördliche Grenze dieses Meeres bilden. Vor demselben ragte ein in voller Schönheit strahlender Berg empor, dessen Gipfel Sonnenstrahlen auszusprühen schienen, gleich den Gluthstrahlen aus einem Krater.

»Das ist? … fragte Michel.

– Kopernicus! erwiderte Barbicane.

– Betrachten wir Kopernicus.«

Dieser Berg, unterm 9° nördl. Breite und 20° östl. Länge erhebt sich bis zu einer Höhe von dreitausendvierhundertachtunddreißig Meter über der Mondoberfläche. Er ist auf der Erde gut sichtbar, und die Astronomen können ihn genau studiren, besonders während der Phase zwischen dem letzten Viertel und Neumond, weil dann seine Schatten weithin von Osten nach Westen fallen und seine Höhen zu messen gestatten.

Dieser Kopernicus bildet nach dem auf der südlichen Hemisphäre gelegenen Tycho das bedeutendste strahlende System der Mondscheibe. Er steht einzeln, wie ein riesenhafter Pharus auf dem an das Meer der Stürme grenzenden Theile des Wolkenmeers, und beleuchtet mit seinem glänzenden Strahlenwurf zwei Oceane zugleich. Diese langen Lichtstreifen boten einen Anblick ohne Gleichen dar; beim Vollmond von blendendem Glanze reichen sie nördlich über die Grenzgebirgsketten, um im Regenmeere allmälig zu erlöschen. Um ein Uhr Morgens, nach dem Maßstab der Erde gerechnet, beherrschte das Projectil gleich einem in den Raum geschleuderten Ballon dieses prachtvolle Gebirge.

Barbicane konnte sehr genau die hauptsächlichen Eigenthümlichkeiten desselben erkennen. Kopernicus gehört zu den Ringgebirgen ersten Ranges in der Abtheilung des großen Circus. Gleich dem Keppler und Aristarch, welche den Ocean der Stürme beherrschen, zeigt er sich manchmal wie ein Punkt, der durch das aschfarbene Licht hindurch glänzt, und wurde für einen thätigen Vulkan gehalten. Aber es ist ein ausgebrannter Vulkan, wie alle auf dieser Seite der Mondfläche. Seine Ringwälle zeigten einen Durchmesser von ungefähr zweiundzwanzig Lieues. Das Fernrohr entdeckte auf demselben Spuren von Schichtungen, welche von aufeinander folgenden Ausbrüchen herrührten, und die Umgebung schien mit vulkanischen Trümmern bedeckt, wovon sich manche noch in den Kratern drinnen zeigten.

»Es giebt, sagte Barbicane, auf der Oberfläche des Mondes mehrere Arten von Ringgebirgen, und es ist leicht zu erkennen, daß Kopernicus zu der Sorte der strahlenden gehört. Wären wir näher, so würden wir die kegelförmigen Spitzen, welche in seinem Innern so zahlreich sind und ehemals feuerspeiende kleine Krater waren, erkennen. Eine merkwürdige Eigenthümlichkeit, die ohne Ausnahme auf der Mondscheibe vorkommt, besteht darin, daß, umgekehrt wie die Krater der Erde gebildet sind, der innere Boden dieses Circus auffallend niederer liegt, als die äußere Ebene. Es folgt daraus, daß die allgemeine Krümmung des Innern dieses Circus eine Kugel bildet von kleinerem Durchmesser, als der des Mondes ist.

– Und wozu diese Eigenthümlichkeit? fragte Nicholl.

– Das weiß man nicht, erwiderte Barbicane.

– Welch glänzende Strahlen! rief Michel wiederholt. Ich kann mir kaum denken, daß man einen schöneren Anblick haben könne!

– Was wirst Du erst sagen, erwiderte Barbicane, wenn uns der Zufall der südlichen Hemisphäre zuführte?

– Nun, da würde ich sagen, das ist noch schöner!« versetzte Michel Ardan.

In diesem Augenblick konnte man vom Projectil aus den Ring senkrecht beschauen. Die Umwallung des Kopernicus bildete einen fast vollständigen Kreis, und seine sehr steilen Wälle waren deutlich zu erkennen. Man konnte sogar einen doppelten Wall innen erkennen. Um den Berg herum breitete sich eine etwas graue Ebene von wildem Aussehen, worauf die Erhöhungen in Gelb hervortraten. Im Innern des Rings funkelten wie in einem Schmuckkasten einen Augenblick zwei bis drei speiende Kegel, gleich enormen blendenden Gemmen. Nördlich senkte sich die Umwallung zu einer Vertiefung, wodurch man wahrscheinlich in das Innere des Kraters gelangen konnte.

Bei einem Ueberblick über die umgebende Ebene konnte Barbicane eine große Anzahl unbedeutender Gebirge wahrnehmen, unter anderen ein kleines Ringgebirge, Gay-Lussac benannt, das dreiundzwanzig Kilometer breit war. Nach Süden hin zeigte sich die Ebene sehr flach, ohne Anschwellung, ohne Erhabenheit des Bodens. Nach Norden dagegen, bis zu der Stelle, wo sie an den Ocean der Stürme grenzt, glich sie einer flüssigen, vom Sturm gepeitschten Oberfläche, deren spitze und runde Erhöhungen das Bild einer Reihe von Wellen, die plötzlich feste Gestalt annahmen, darstellte. Ueber dieses Ganze zogen sich in allen Richtungen die Lichtstreifen, welche im Gipfel des Kopernicus zusammen liefen. Einige derselben zeigten eine Breite von dreißig Kilometer bei einer nicht zu berechnenden Länge.

Die Reisenden sprachen ĂĽber den Ursprung dieser seltsamen Strahlen und konnten so wenig wie die Beobachter auf der Erde ĂĽber ihre Natur etwas Bestimmtes sagen.

»Aber warum, sagte Nicholl, sollten nicht diese Strahlen ganz einfach Strebemauern vom Gebirge sein, welche das Sonnenlicht lebhafter rückstrahlen?

– Nein, erwiderte Barbicane, wenn dem so wäre, würden unter gewissen Bedingungen diese Bergspitzen Schatten werfen. Aber sie werfen keinen.«

Wirklich kommen diese Strahlen nur dann vor, wenn das Tagesgestirn in Opposition mit dem Mond steht, und verschwinden, sobald seine Strahlen schief auffallen.

»Aber was hat man sich denn zur Erklärung dieser Lichtstreifen für Vorstellungen gemacht? fragte Michel, denn ich kann nicht glauben, daß die Gelehrten mit Erklärungen je zurückhalten.

– Ja, erwiderte Barbicane, Herschel hat zwar eine Erklärung ausgedacht, aber nicht zu behaupten gewagt.

– Gleichviel. Was ist seine Meinung?

– Er dachte sich, diese Strahlen möchten wohl kalt gewordene Lavaströme sein, welche, wann die Sonne sie senkrecht bestrahlt, einen Widerschein würfen. Das ist wohl möglich, aber durchaus nicht gewiß. Uebrigens, wenn wir etwas näher zu Tycho herantreten, werden wir einen besseren Standpunkt haben, um die Ursache dieses Strahlens zu erkennen.

– Wissen Sie, meine Freunde, womit, von unserem jetzigen Standpunkt herab gesehen, diese Ebene zu vergleichen ist? fragte Michel.

– Nein, erwiderte Nicholl.

– Nun, mit all diesen Lavastücken, lang wie Spindeln, gleicht sie einem ungeheuren Spiel mit durcheinandergeworfenen Stäbchen. Man braucht nur einen Haken, um sie nach einander heraus zu ziehen.

– Sei doch ernst! sagte Barbicane.

– Um ernst zu sein, versetzte Michel ruhig, wollen wir Knochen anstatt Stäbchen annehmen. Dann wäre diese Ebene nur ein ungeheures Knochenfeld, worauf die sterblichen Ueberreste von Tausenden hingestorbener Generationen ruhten. Würdest Du eine solche wirkungsvolle Erklärung vorziehen?

– Die eine taugt so wenig, wie die andere, entgegnete Barbicane.

– Teufel! Du bist peinlich! versetzte Michel.

– Mein würdiger Freund, fuhr der gesetzte Barbicane fort, es kommt wenig darauf an zu wissen, womit dies zu vergleichen, während man nicht weiß, was es ist.

– Gut geantwortet, rief Michel. Ich lerne daraus mit Gelehrten mich besprechen!«

Inzwischen fuhr das Projectil mit fast gleichförmiger Geschwindigkeit längs der Mondscheibe immer weiter. Die Reisenden dachten, wie man leicht denken kann, nicht einen Augenblick an Ruhe. Jede Minute änderte die vor ihren Blicken entschwindende Aussicht. Gegen halb zwei Uhr Morgens sahen sie die Gipfel eines anderen Gebirges. Barbicane befragte seine Karte und erkannte Eratosthenes.

Es war ein viertausendfĂĽnfhundert Meter hohes Ringgebirge, einer von den auf dem Trabanten so zahlreichen Circus. Und bei diesem AnlaĂź erzählte Barbicane seinen Freunden von der merkwĂĽrdigen Ansicht Keppler’s ĂĽber die Entstehung dieser Circus. Dem berĂĽhmten Mathematiker zufolge sollten diese kraterförmigen Vertiefungen von Menschenhand gegraben worden sein.

»In welcher Absicht? fragte Nicholl.

– In sehr natürlicher Absicht! erwiderte Barbicane. Die Seleniten wollten darin Zuflucht und Schutz gegen die Sonnenstrahlen suchen, welche sie vierzehn Tage hinter einander auszustehen haben.

– Die Seleniten sind doch keine Dummköpfe! sagte Michel.

– Sonderbare Idee! erwiderte Nicholl. Aber es ist wahrscheinlich, daß Keppler nicht mit den wirklichen Maßen dieser Circus bekannt war, denn es wäre eine für Seleniten unausführbare Riesenarbeit gewesen!

– Weshalb, wenn auf dem Mond die Schwere sechsfach geringer ist, wie auf der Erde? fragte Michel.

– Wenn aber die Seleniten sechsfach kleiner sind? entgegnete Nicholl.

– Und wenn es gar keine Seleniten giebt!« fügte Barbicane bei. Damit schloß diese Unterhaltung.

Bald verschwand Eratosthenes unterm Horizont, ohne daĂź das Projectil nahe genug kam, um genaue Beobachtungen anzustellen.

Dieser Berg schied die Apenninen von den Karpathen.

In der Orographie des Mondes hat man einige Gebirgsketten unterschieden, welche hauptsächlich der nördlichen Hemisphäre angehören. Einige jedoch befinden sich auf der südlichen.

Es folge hier ein Verzeichniß dieser verschiedenen Ketten in der Richtung von Süden nach Norden, mit Angabe ihrer Breite und Höhe, nach den höchsten Gipfeln:

Dörfel 84° –S. Br. 7603 Meter
Leibnitz 65°–S. Br. 7600 Meter
Rook 20°–30°S. Br. 1600 Meter
Altai 17°–28°S. Br. 4047 Meter
Cordilleren 10°–20°S. Br. 3898 Meter
Pyrenäen  8°–18°S. Br. 3631 Meter
Ural  5°–13°S. Br. 838 Meter
Alembert  4°–10°S. Br. 5847 Meter
Hämus  8°–21°N. Br. 2021 Meter
Karpathen 15°–19°N. Br. 1939 Meter
Apenninen 14°–27°N. Br. 5501 Meter
Taurus 21°–28°N. Br. 2746 Meter
Schwarzwald 17°–29°N. Br. 1170 Meter
Kaukasus 32°–41°N. Br. 5567 Meter
Alpen 42°–49°N. Br. 3617 Meter

Von diesen ist die Apenninenkette die bedeutendste, die sich hundertundfünfzig Lieues weit erstreckt, eine Länge, welche jedoch den größeren Gebirgszügen der Erde nachsteht. Die Apenninen ziehen längs dem Nordrande des Regenmeeres, und ihre Fortsetzung nördlich bilden die Karpathen von ungefähr hundert Meilen Länge.

Die Reisenden konnten im Vorbeifahren nur den höchsten Theil derjenigen Apenninen sehen, welche vom 10° westlicher bis zum 16° östlicher Länge ziehen; aber die Karpathenkette erblickten sie in ihrer ganzen Ausdehnung von 18–30° östlicher Länge, und konnten ihre Vertheilung aufnehmen.

Eine Vermuthung schien ihnen sehr gerechtfertigt. Als sie diese Karpathenkette ansahen, wie sie hie und da kreisrunde Formen annimmt und von steilen Spitzen beherrscht wird, schlossen sie daraus, sie habe ehemals bedeutende Circus gebildet. Diese Gebirgsringe mußten wohl von der ungeheuren Ausströmung, wodurch das Regenmeer entstand, durchbrochen worden sein. Diese Karpathen waren damals, ihrem Aussehen nach, was die Circus Purbach, Arzachel und Ptolemäus wären, wenn eine Ueberschwemmung ihre Wälle auf der linken Seite niedergeworfen und sie in eine zusammenhängende Kette verwandelt hätte. Sie zeigen eine mittlere Höhe von dreitausendzweihundert Meter, welche einigen Punkten der Pyrenäen vergleichbar ist. Ihre Südseite fällt schroff zu dem unermeßlichen Regenmeere ab.

Gegen zwei Uhr Morgens befand sich Barbicane über dem zwanzigsten Mondbreitegrad, unweit des fünfzehnhundertneunundfünfzig Meter hohen Berges, welcher Pythias heißt. Das Projectil war nur noch zwölfhundert Kilometer von dem Mond entfernt, der durch das Fernrohr bis auf drei Lieues nahe gerückt wurde.

Das » Mare Imbrium« lag vor den Augen der Reisenden wie eine unermeßliche Niederung, deren Einzelheiten noch wenig zu erkennen waren. Zu ihrer Linken ragte in der Nähe der Berg Lambert, dessen Höhe auf achtzehnhundertunddreizehn Meter geschätzt wird, und weiter hin auf der Grenze des Oceans der Stürme, unterm 23° nördlicher Breite und 29° östlicher Länge, erglänzte der strahlende Berg Euler. Ueber diesen, nur achtzehnhundertundfünfzehn Meter hohen Berg hat der Astronom Schröter eine interessante Arbeit geliefert. Dieser Gelehrte hatte bei seinen Forschungen über den Ursprung der Mondberge sich die Frage gestellt, ob der Kubikgehalt des Kraters sich stets dem der Umwallung, welche ihn bildet, merklich gleich zeige. Dieses Verhältniß bestand nur im Allgemeinen, und Schröter folgerte daraus, daß ein einziger Ausbruch vulkanischer Stoffe genügt habe, um diese Wälle zu bilden, denn wiederholt nach einander erfolgte Ausbrüche hätten dieses Verhältniß geändert. Nur der Berg Euler trat zu diesem allgemeinen Gesetz in Widerspruch, und man mußte annehmen, daß er durch mehrere auf einander folgende Ausbrüche gebildet worden, denn der Inhalt seiner Aushöhlung betrug das Doppelte seiner Umwallung.

Alle diese Vermuthungen durften die Beobachter auf der Erde sich erlauben, trotzdem ihre Instrumente ungenügend waren. Barbicane wollte sich nicht damit begnügen, und da er sah, wie sein Projectil regelmäßig der Mondscheibe näher kam, gab er die Hoffnung nicht auf, es werde ihm, wenn er dieselbe nicht erreichen könne, doch wenigstens möglich sein, durch die verringerte Entfernung in die Geheimnisse der Bildung des Mondes zu dringen.

Dreizehntes Capitel


Dreizehntes Capitel

Mondlandschaften.

Um halb drei Uhr befand sich das Projectil gegenüber der dreißigsten Mondparallele in einer wirklichen Entfernung von tausend Kilometer, welche durch die optischen Instrumente auf zehn herabgesetzt wurden. Es hatte stets den Anschein, als könne es unmöglich irgend einen Punkt der Mondscheibe erreichen. Die Schnelligkeit seiner Fortbewegung, so mäßig sie war, konnte sich der Präsident Barbicane nicht erklären. In dieser Nähe bei dem Mond hätte sie bedeutend sein müssen, um der Anziehungskraft gegenüber fort zu bestehen. Es fand also eine Erscheinung statt, deren Grund ihm nicht erfindlich war. Zudem fehlte es an Zeit, denselben aufzusuchen. Das Bild des Mondes mit seinen Höhen und Tiefen schwebte vor den Augen der Reisenden, und sie wollten nicht das Geringste davon verlieren.

Die Scheibe zeigte sich also vor dem Fernrohr in einer Entfernung von zwei und einer halben Lieue. Was würde ein Luftschiffer, so nahe bei der Erde, auf ihrer Oberfläche erkennen? Das könnte man nicht sagen, weil die höchsten Fahrten noch nicht bis auf tausend Meter emporgestiegen sind.

Doch mag hier genau verzeichnet stehen, was Barbicane mit seinen Gefährten von dieser Höhe herab sah.

Es zeigten sich ziemlich bunte Färbungen in weiten Flächen. Ueber die Natur dieser Färbungen sind die Selenographen einstimmig. Dieselben sind eigenthümlich und grell abstechend. Julius Schmidt behauptet, wenn die Oceane der Erde ausgetrocknet wären, würde ein Mondbeobachter zwischen den Oceanen und continentalen Ebenen unseres Erdballs nicht so verschiedenartige Nuancen aufzählen können, wie sie sich dem Beobachter auf der Erde am Mond darstellen. Er hält die gemeinsame Farbe der unter dem Namen Meere bekannten großen Ebenen für dunkelgrau mit grün und braun gemischt. Auch zeigen einige große Krater diese Färbung.

Diese Ansicht des deutschen Selenographen, welche auch Beer und Mädler theilen, war Barbicane bekannt. Er überzeugte sich, daß sie Recht hatten gegenüber anderen Astronomen, welche auf der Mondoberfläche nur die graue Farbe gelten lassen wollen. An manchen Stellen schien die grüne Farbe sehr lebhaft vor, wie, nach Julius Schmidt, bei den Meeren der Heiterkeit und des Humors zu erkennen ist. Ebenso bemerkte Barbicane weite Krater ohne Kegelspitzen im Inneren, welche eine bläuliche Farbe zeigten, gleich den Reflexen einer frisch polirten Stahlplatte. Diese Färbungen gehörten also wirklich der Mondscheibe an und waren nicht, wie manche Astronomen angeben, der Unvollkommenheit des Objectivs unserer Fernröhre, oder der Mittelwirkung der Erdatmosphäre zuzuschreiben. Für Barbicane konnte in der Hinsicht kein Zweifel mehr statthaben, denn er beobachtete im luftleeren Raum, und eine optische Täuschung war hier auch nicht möglich. Er sah die Thatsache dieser verschiedenen Färbungen als eine Eroberung der Wissenschaft an. Rührte nun diese grüne Färbung von einer tropischen Vegetation her, welche durch eine dichte und niedrige Atmosphäre unterhalten wurde? Er konnte sich darüber noch nicht aussprechen.

Weiter entfernt bemerkt er hinreichend deutlich eine röthliche Färbung. Eine ähnliche Nuance war schon auf dem Inneren eines einzelstehenden Ringes, der unter der Benennung Circus Lichtenberg bekannt ist und nächst dem Schwarzwald am Rand des Mondes liegt, beobachtet worden, aber die Beschaffenheit desselben konnte er nicht erkennen.

Nicht glĂĽcklicher war er in Beziehung auf eine andere eigenthĂĽmliche Erscheinung des Mondes, denn er konnte ihre Ursache nicht genau angeben. Dieselbe bestand in Folgendem.

Michel Ardan war zunächst dem Präsidenten in die Beobachtung vertieft, als er lange weiße Streifen bemerkte, welche durch directe Bestrahlung von der Sonne lebhaft erleuchtet waren. Es war eine Reihenfolge leuchtender Furchen, die von dem Ausstrahlen, welches Kopernicus kürzlich zeigte, sehr verschieden waren. Sie zogen parallel der Länge nach neben einander her.

Ardan rief mit seiner gewohnten Sicherheit aus: »Sieh da! Bebaute Felder!

– Bebaute Felder! erwiderte Nicholl mit Achselzucken.

– Gepflügt wenigstens, entgegnete Michel Ardan. Aber was müssen die Seleniten für Ackersleute sein, und was für Riesenochsen an ihren Pflug spannen, um solche Furchen zu ziehen!

– Es sind nicht Furchen, sagte Barbicane, sondern Streifen ( rainures).

– Meinetwegen Streifen, erwiderte Michel. Nun, was versteht man in der Wissenschaft unter dem Wort Streifen ( rainures)?«

Barbicane theilte seinem Kameraden sogleich mit, was er über die Mondstreifen wußte. Er wußte, daß es Furchen waren, die man auf allen nicht gebirgigen Theilen der Mondscheibe beobachtet hatte; daß diese Furchen, am häufigsten einzeln, eine Länge von vier bis fünf Lieues hatten; ihre Breite verschieden zwischen tausend und fünfzehnhundert Meter schwankte, und daß ihre Ränder streng parallel laufen; sonst aber wußte er nichts, weder über ihre Bildung, noch ihre Natur.

Barbicane beobachtete diese Streifen mit seinem Instrument äußerst achtsam. Er bemerkte, daß ihre Ränder sehr steile Abhänge hatten. Es waren lange parallel laufende Wälle, und mit einiger Phantasie konnte man annehmen, es seien lange, von Seleniten-Ingenieuren errichtete Fortificationslinien.

Von diesen verschiedenen Streifen waren die einen durchaus gerade und wie nach der Meßschnur gezogen. Andere zeigten eine leichte Krümmung, doch mit stets parallelen Rändern. Diese durchkreuzten sich, jene durchschnitten Krater. Hier bildeten sie gewöhnliche Vertiefungen, wie Posidonius oder Petavius, dort bedeckten sie Meere, wie das der Heiterkeit, mit bunten Streifen.

Diese verschiedenartigen Natureigenthümlichkeiten mußten nothwendig die Einbildungskraft der Astronomen auf der Erde beschäftigen. Die ersten Beobachtungen hatten diese rainures nicht entdeckt. Weder Helvetius, noch Cassini, noch La Hire, noch Herschel scheinen sie gekannt zu haben. Zuerst richtete Schröter im Jahre 1789 die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf dieselben. Andere nach ihnen studirten sie, wie Pastorf, Gruithusen, Beer und Mädler. Jetzt beläuft sich ihre Anzahl auf siebenzig. Mit dem Aufzählen hat man aber noch nicht ihre Natur bestimmt. Fortificationen sind es sicherlich nicht, ebensowenig ausgetrocknete vormalige Flußbeete; denn einerseits hätten die auf der Mondoberfläche so dünnen Gewässer nicht sich solche Dämme graben können, und anderseits ziehen diese Furchen oft quer durch sehr hoch liegende Krater.

Man muĂź doch zugeben, daĂź Michel Ardan eine Idee hatte, wobei er, ohne es zu wissen, in dieser Hinsicht mit Julius Schmidt ĂĽbereinstimmte.

»Warum«, sagte er, »sollten diese unerklärlichen Wahrnehmungen nicht ganz einfach Erscheinungen der Vegetation sein?

– Wie meinst Du das? fragte Barbicane lebhaft.

– Ereifere Dich nicht, würdiger Präsident, erwiderte Ardan. Ist es nicht möglich, daß diese dunklen Linien, welche die Brustwehr bilden, regelmäßig geordnete Baumreihen wären?

– Du hältst wohl recht fest an Deiner Vegetation? sagte Barbicane.

– Ja wohl, versetzte lebhaft Michel Ardan, um das zu erklären, was Ihr Gelehrte nicht erklärt! Wenigstens böte meine Annahme den Vortheil, daß sie angiebt, weshalb diese Streifen zu regelmäßiger Zeit verschwinden oder zu verschwinden scheinen.

– Und aus welchem Grunde?

– Weil diese Bäume dann, wenn sie ihr Laub verlieren, nicht mehr sichtbar sind, und sichtbar, wenn sie wieder Blätter treiben.

– Deine Erklärung ist sinnreich, lieber Kamerad, erwiderte Barbicane, aber sie ist nicht zulässig.

– Weshalb?

– Weil es auf der Oberfläche des Mondes, so zu sagen, keinen Wechsel der Jahreszeiten giebt, und folglich solche Vorgänge der Vegetation, wovon Du sprichst, dort nicht statthaben können.«

Wirklich, da die Mondachse so wenig schief ist, so hält sich die Sonne fast gleichmäßig hoch unter jeder Breite. Ueber den Gegenden um den Aequator steht das strahlende Gestirn fast unveränderlich im Zenith, und in den Polarregionen verläßt es fast nicht die Grenze des Horizonts. Darum herrscht, in Gemäßheit jeder Region, beständiger Winter, Frühling, Sommer und Herbst, wie auf dem Planeten Jupiter, dessen Achse ebenfalls wenig zu seiner Bahn geneigt ist.

Auf welchen Ursprung sind nun die Streifen zurückzuführen? Die Frage ist schwer zu lösen. Sie sind offenbar später, als die Krater und Circus entstanden, denn mehrere sind in diese eingedrungen, indem sie ihre Ringwälle durchbrachen. Es ist also möglich, daß sie zur Zeit der letzten geologischen Epochen nur durch die gewaltsam nach außen gerichtete Wirkung der Naturkräfte entstanden sind.

Inzwischen war das Projectil über den vierzigsten Grad der Mondbreite gekommen, bis zu einer Entfernung, welche achthundert Kilometer nicht übersteigen mochte. Die Gegenstände erschienen auf dem Sehfeld des Fernrohrs, als seien sie nur zwei Lieues entfernt. Auf diesem Punkt, zu ihren Füßen, ragte der Helikon fünfhundertfünf Meter hoch, und links reihten sich die mäßigen Höhen, welche einen kleinen Theil des Regenmeeres unter der Benennung Regenbogen-Golf umschließen.

Die Erdatmosphäre müßte hundertundsiebenzig Mal durchsichtiger sein, als sie ist, um den Astronomen vollständige Beobachtungen auf der Oberfläche des Mondes möglich zu machen. Aber in dem leeren Raum, wo das Projectil sich bewegte, befand sich kein Fluidum zwischen dem Auge des Beobachters und dem beobachteten Gegenstand. Zudem befand sich Barbicane in einer solchen Nähe, wie sie nie die stärksten Teleskope, weder das von John Roß, noch das des Felsengebirgs, je gewährt hatten. Er befand sich also in einer äußerst günstigen Lage, um die bedeutende Frage der Bewohnbarkeit des Mondes zu lösen. Doch gelang ihm diese Lösung noch nicht. Er konnte nur das öde Bette unermeßlicher Ebenen unterscheiden und nach Norden zu dürre Gebirge. Nirgends eine Spur eines Werkes von Menschenhand. Nicht eine Ruine zum Zeugniß, daß solche da gewesen. Nicht eine Versammlung thierischer Geschöpfe, welche eine Entwickelung des Lebens auf niederer Stufe kundgab. Nirgends Bewegung, nirgends nur ein Anschein von Vegetation. Von den drei Reichen, welche den Erdball gemeinsam inne haben, war nur eins auf dem Mond repräsentirt, das Mineralreich.

»Also!« sagte Michel Ardan mit etwas bestĂĽrzter Miene, Menschen giebt’s dort nicht?

– »Nein, erwiderte Nicholl, so viel man bis jetzt sieht. Kein Mensch, kein Thier, kein Baum. Bei alle dem, wenn die Atmosphäre sich in die Höhlungen, in’s Innere der Circus, oder selbst auf die entgegengesetzte Seite des Mondes zurĂĽckgezogen hat, so können wir nicht mit unserem Urtheil vorgreifen.

– Uebrigens, fügte Barbicane hinzu, kann man in einer Entfernung von mehr als sieben Kilometer auch mit dem weitreichendsten Auge einen Menschen nicht erkennen. Giebt es also Seleniten, so können sie wohl unser Projectil sehen, wir aber nicht sie.«

Gegen vier Uhr Morgens, auf der Höhe des fünfzigsten Breitegrades, war die Entfernung nur noch sechshundert Kilometer. Links entwickelte sich eine Reihe von Bergen mit launenhaften Umrissen, die sich in vollem Licht zeichneten. Rechts dagegen sah man ein schwarzes Loch gleich einem ungeheuren Brunnen, der in den Boden des Monds gegraben und dunkel war, daß man nichts darin sehen konnte.

Dieses Loch war der Schwarze See, Plato, ein tiefer Circus, den man von der Erde aus gut studiren kann, wann zwischen dem letzten Viertel und dem Vollmond die Schatten von Westen nach Osten hin fallen.

Diese schwarze Färbung findet sich auf der Oberfläche des Trabanten selten. Man hat sie nur erst in den Tiefen des Circus Endymion, östlich vom Frostmeer ( Mare Frigoris) in der Nordhälfte erkannt, und in der Tiefe des Circus Grimaldi, überm Aequator, am Ostrande des Gestirns.

Plato ist ein Ringgebirge unterm 51° nördlicher Breite und 9° östlicher Länge. Sein Circus ist zweiundneunzig Kilometer lang und einundsechzig Kilometer breit. Barbicane bedauerte, nicht senkrecht über seiner ungeheuren Mündung zu fahren. Es war da ein Abgrund zu untersuchen, vielleicht eine geheimnißvolle Erscheinung zu ergründen. Aber es ließ sich an dem Lauf des Projectils nichts ändern, man mußte sich ihn ruhig gefallen lassen. Man versteht noch nicht den Luftballon zu leiten, noch weniger die Kugeln, wenn man in ihnen eingeschlossen ist.

Um fĂĽnf Uhr Morgens war man endlich ĂĽber die Nordgrenze des Regenmeers hinausgekommen. Es blieben noch die Berge La Condamine und Fontanelle, der eine links, der andere rechts. Dieser Theil der Scheibe, vom sechzigsten Grad an, wurde durchaus gebirgig. Durch das Fernrohr war sie auf eine Meile nahe gebracht, eine Entfernung, die nicht so groĂź ist, als der Gipfel des Montblanc vom Meeresspiegel. Diese ganze Gegend war mit Bergspitzen und Circus dicht besetzt. Die Gegend des siebenzigsten Grades beherrschte Philolaus, dreitausendsiebenhundert Meter hoch, mit einem elliptischen Krater, der sechzehn Lieues lang, vier Lieues breit war.

Von dieser Entfernung aus gesehen, hatte die Mondscheibe ein sehr sonderbares Aussehen. Die Landschaften stellten sich dem Blick unter Verhältnissen dar, welche von denen der Erde sehr verschieden waren, aber sehr zu ihrem Nachtheil.

Da der Mond keine Atmosphäre hat, so entstehen aus dem Mangel einer Dunstumgebung Folgen, die wir schon nachgewiesen haben. Da es keine Dämmerung da giebt, so folgen Nacht auf Tag und Tag auf Nacht so grell, wie wenn man mitten in dunkler Nacht eine Lampe anzündet oder auslöscht. So findet auch kein Uebergang von Kälte zu Wärme statt, und es fällt die Temperatur in einem Augenblick von dem Grad der Siedhitze des Wassers zu dem der Kälte des Weltraums.

Eine andere Folge dieses Mangelns der Luft besteht darin, daß da, wohin die Sonnenstrahlen nicht dringen, absolute Finsterniß herrscht. Was man auf der Erde verbreitetes Licht nennt, dieser lichthaltige Stoff, welcher Morgen- und Abend-Dämmerung, Schatten, Halbschatten und den Zauber des Helldunkels erzeugt, existirt nicht auf dem Mond. Daher eine Schroffheit des Gegensatzes, welcher nur zwei Farben, schwarz und weiß, gestattet. Mag ein Selenite seine Augen gegen die Sonnenstrahlen schützen, der Himmel erscheint ihm völlig schwarz, und die Sterne glänzen ihm wie in der dunkelsten Nacht.

Man denke sich den Eindruck, welchen dieser seltsame Anblick auf Barbicane und seine beiden Freunde machte. Eine Mondlandschaft ohne die mildernde Vermittlung des Helldunkels hätte von einem Landschaftsmaler der Erde nicht dargestellt werden können. Tintenflecken auf einem weißen Blatt, das war Alles.

Dieses Aussehen änderte sich nicht, selbst als das Projectil auf der Höhe des achtzigsten Grades nur noch hundert Kilometer von dem Monde entfernt war. Selbst nicht, als es um fĂĽnf Uhr Morgens keine fĂĽnfzig Kilometer weit vom Berge Gioja vorĂĽber kam, welche Entfernung durch das Fernrohr auf eine halbe Viertel Lieue beschränkt wurde. Es schien, als könne man den Mond mit der Hand greifen. Es schien unmöglich, daĂź das Projectil nicht in Kurzem, sei’s auch nur an seinem Nordpol, dessen glänzende Spitze auf dem schwarzen Hintergrund des Himmels grell abstach, zusammenstoĂźen sollte. Michel Ardan wollte eins der Luckenfenster öffnen und sich auf den Mond hinabstĂĽrzen. Ein Sturz von zwölf Meilen! Das beachtete er nicht. Der Versuch wäre ĂĽbrigens erfolglos gewesen, denn wenn das Projectil nicht an irgend einen Punkt des Trabanten gelangen sollte, so wäre Michel Ardan, der in seiner Bewegung mit fortgerissen wurde, ebensowenig dahin gekommen.

In diesem Augenblick, um sechs Uhr, wurde der Pol des Mondes sichtbar. Die Scheibe bot den Blicken der Reisenden nur noch eine sehr stark erleuchtete Hälfte dar, während die andere im Dunkel verschwand. Plötzlich kam das Projectil über die Scheidelinie zwischen starkem Licht und absolutem Schatten hinaus, und wurde mit einem Mal in tiefe Nacht versenkt.

Vierzehntes Capitel


Vierzehntes Capitel

Die dreihundertvierundfĂĽnfzigstĂĽndige Nacht.

Im Augenblick, wo diese Erscheinung so plötzlich vorging, strich das Projectil in einer Nähe von nicht fünfzig Kilometer am Nordpol des Mondes vorbei. Binnen einigen Secunden versank es in das absolute Dunkel des Weltraums. Der Uebergang war so rasch eingetreten, ohne Nuancen, ohne Lichtabstufung, ohne Abschwächung der Lichtwellen, als wäre das Gestirn mit einem gewaltigen Hauch ausgeblasen worden.

»Verschwunden, zerstoben der Mond!« rief Michel Ardan ganz bestürzt.

In der That, kein Widerschein, kein Schatten, keine Spur mehr von der eben noch so blendenden Scheibe. Vollständiges Dunkel, das beim Schimmern der Sterne noch tiefer war. Solche Stockfinsterniß durchdringt die Mondnächte, welche für jeden Punkt der Scheibe dreihundertvierundfünfzig und eine halbe Stunde währen. Diese Nachtlänge ist durch die Gleichheit der Bewegungen des Mondes um seine Achse und um die Erde verursacht. Das Projectil, in den Schattenkegel des Trabanten versenkt, empfand die Wirkung der Sonnenstrahlen eben so wenig, als irgend ein Punkt seines unsichtbaren Theiles.

Im Innern desselben herrschte ebenfalls vollständiges Dunkel. Man sah einander nicht mehr, und man mußte die Finsterniß verscheuchen. So sehr daher Barbicane das Gas, dessen Vorrath so gering war, zu sparen wünschte, man mußte das kostspielige Licht, welches die Sonne damals verweigerte, von ihm sich geben lassen.

»Den Teufel auch mit dem strahlenden Gestirn, rief Michel Ardan aus. Anstatt uns seine Strahlen umsonst zu spenden, verleitet es zur Gasverschwendung.

– Nicht die Sonne haben wir anzuklagen, fuhr Nicholl fort. Sie ist nicht schuld, sondern der Mond, welcher sich wie ein Schirm zwischen uns und sie geschoben hat.

– Nein, die Sonne! wiederholte Michel.

– Nein, der Mond!« entgegnete Nicholl.

Ein mĂĽĂźiger Wortstreit, dem Barbicane ein Ende machte.

»Meine Freunde, sagte er, weder die Sonne noch der Mond trägt die Schuld, sondern das Projectil, welches von der strenge vorgeschriebenen Richtung so ungeschickt abgewichen ist. Will man jedoch gerecht sein, so ist dem unglückseligen Bolid, welcher uns so kläglich von der ersten Richtung abgeleitet hat, die Schuld zuzuschreiben.

– Gut! erwiderte Michel Ardan, weil dieser Punkt im Reinen ist, so wollen wir frühstücken. Nachdem wir eine ganze Nacht über Beobachtungen angestellt, müssen wir uns ein wenig restauriren.«

Dieser Vorschlag stieĂź auf keinen Widerspruch. Michel hatte in einigen Minuten das Mahl fertig. Aber man aĂź, um zu essen, man trank ohne Toaste, ohne Hurrahs. Die kĂĽhnen Reisenden empfanden in diesem finsteren Raume, wohin sie gerathen waren, ohne die gewohnte Umgebung von Lichtstrahlen, die Regung einer unbestimmten Unbehaglichkeit. Das ungemĂĽthliche Dunkel beengte sie doch auf allen Seiten.

Indessen plauderten sie von der Nacht, die kein Ende nehmen will, der dreihundertvierundfünfzigstündigen, also vierzehntägigen, welche das Naturgesetz den Mondbewohnern auferlegt hat. Barbicane gab seinen Freunden einige Erklärungen über die Ursachen und Folgen dieser merkwürdigen Erscheinung.

»MerkwĂĽrdig ganz gewiĂź, sagte er, denn wenn jede Hemisphäre des Mondes vierzehn Tage lang des Sonnenlichtes beraubt ist, so hat sich diejenige, ĂĽber welcher wir jetzt schweben, während dieser langen Nacht nicht einmal des Anblicks der glänzend erleuchteten Erde zu erfreuen. Kurz, will man den Ausdruck ›Mond‹ auf unsern Erdball anwenden, so existirt der Mond nur fĂĽr eine Seite der Scheibe. Wenn es nun ebenso auf der Erde wäre, wenn z.B. der Mond niemals in Europa sichtbar wäre, sondern nur den Antipoden Europa’s, so können Sie sich denken, wie ein Europäer, der nach Australien käme, erstaunen wĂĽrde.

– Man würde blos deshalb nach Australien reisen, um den Mond zu sehen, erwiderte Michel.

– Nun, fuhr Barbicane fort, solch ein Erstaunen ist dem Seleniten, welcher die der Erde gegenüber befindliche Seite des Mondes bewohnt, vorbehalten, welche dem Erdbewohner niemals sichtbar wird.

– Und die wir gesehen haben würden, fügte Nicholl bei, wenn wir zur Zeit des Neumondes, das heißt vierzehn Tage später angekommen wären.

– Dagegen will ich beifügen, fuhr Barbicane fort, daß der Bewohner der sichtbaren Seite von der Natur zum Nachtheil seiner Brüder der unsichtbaren Seite ausnehmend begünstigt ist. Letztere hat, wie Sie sehen, dreihundertvierundfünfzigstündige Nächte tiefen Dunkels, welches durch keinen Lichtstrahl unterbrochen wird. Die andere dagegen sieht, wann nach vierzehntägigem Beleuchten die Sonne untergeht, am entgegengesetzten Horizont ein glänzendes Gestirn. Es ist die Erde, dreizehnmal größer als der Mond, wie wir ihn kennen; die Erde, welche mit einem Durchmesser von zwei Graden ein dreizehnmal stärkeres, durch keine Luftschichte gemildertes Licht ihm spendet; die Erde, welche erst dann wieder verschwindet, wann die Sonne wieder am Himmel erscheint!

– Schöne Phrase! sagte Michel Ardan, etwas akademisch vielleicht.

– Daraus folgt, fuhr Barbicane fort, ohne sich irre machen zu lassen, daß diese sichtbare Seite der Mondscheibe zum Wohnen sehr angenehm sein muß, weil sie stets entweder die Sonne, beim Vollmond, oder die Erde, beim Neumond, zu sehen hat.

– Aber, sagte Nicholl, dieser Vortheil muß wohl durch die unerträgliche Hitze, welche das Licht begleitet, aufgewogen werden.

– Das Unzuträgliche in dieser Hinsicht ist für die beiden Hälften gleich, denn das von der Erde reflectirte Licht ist offenbar ohne Wärme. Jedoch hat diese unsichtbare Seite noch mehr von der Hitze zu leiden, als die sichtbare. Ich sage das für Sie, Nicholl, weil Michel es vermuthlich nicht begreifen wird.

– Ich danke sehr für das Compliment, sagte Michel.

– In der That, fuhr Barbicane fort, wann diese unsichtbare Seite Licht und Wärme von der Sonne empfängt, ist’s Neumond, d.h. der Mond ist in Conjunction, hat seinen Stand zwischen Sonne und Erde. Er befindet sich also – im VerhältniĂź zu seiner Stellung in Opposition, wann Vollmond ist – der Sonne um das Doppelte seines Abstandes von der Erde näher. Dieser Abstand nun läßt sich auf den zweihundertsten Theil der Entfernung der Sonne von der Erde schätzen, nämlich in runder Ziffer auf zweimalhunderttausend Lieues. Folglich ist die unsichtbare Seite, wann sie von der Sonne bestrahlt wird, um zweimalhunderttausend Lieues näher bei der Sonne.

– Ganz richtig, erwiderte Nicholl.

– Dagegen – fuhr Barbicane fort.

– Einen Augenblick, sagte Michel, seinen ernsten Gefährten unterbrechend.

– Was willst Du?

– Ich begehre die Fortsetzung der Erklärung zu geben.

– Weshalb?

– Um zu beweisen, daß ich begriffen habe.

– Meinetwegen, sagte Barbicane lächelnd.

– Dagegen, sagte Michel, den Präsidenten Barbicane in Ton und Handbewegungen nachahmend, dagegen, wenn die sichtbare Seite des Mondes von der Sonne beleuchtet wird, ist es Vollmond, d.h. der Mond steht in Opposition zur Sonne im Verhältniß zu der Erde. Die Entfernung des strahlenden Gestirns beträgt dann in runder Ziffer zweimalhunderttausend Lieues mehr, und die Wärme, welche der Mond von demselben empfängt, muß etwas geringer sein.

– Richtig! rief Barbicane. Weißt Du, Michel, für einen Künstler bist Du doch gescheit.

– Ja, erwiderte Michel gleichgiltig, wir sind alle so auf dem Boulevard des Italiens!«

Barbicane drückte seinem liebenswürdigen Kameraden tüchtig die Hand, und fuhr fort, aufzuzählen, was für Vortheile die Bewohner der sichtbaren Seite voraushaben.

Unter Anderem führte er die Beobachtung der Sonnenfinsternisse an, welche nur für diese Seite der Mondscheibe möglich sind, weil dann der Mond in Opposition stehen muß. Diese Finsternisse, welche durch die Stellung der Erde zwischen dem Mond und der Sonne entstehen, können zwei Stunden dauern, während dessen in Gemäßheit der Brechung der Strahlen durch seine Atmosphäre die Erdkugel nur als ein schwarzer Punkt vor der Sonne erscheinen kann.

»Demnach, sagte Nicholl, kommt die eine Hemisphäre, die unsichtbare, durch Ungunst der Natur sehr schlecht dabei weg!

– Ja, erwiderte Barbicane, aber doch nicht die ganze Hälfte. In der That, durch eine Art schwankender Bewegung, durch ein gewisses Schaukeln auf seinem Centrum zeigt der Mond der Erde etwas mehr als die Hälfte seiner Scheibe. Er gleicht einem Pendel, dessen Schwerpunkt nach dem Erdball zu rückwärts gelegt ist, mit regelmäßigen Schwingungen. Woher kommt es, daß er diese Schwingungen macht, – dieses Oscilliren? Es kommt daher, weil seine Achsenbewegung gleichförmig eine und dieselbe ist, während bei seiner elliptischen Bewegung um die Erde dieses nicht stattfindet. Bei der Erdnähe des Mondes überwiegt die Schnelligkeit seiner Bahnbewegung, und er zeigt noch einen Theil seines westlichen Randes. Bei seiner Erdferne überwiegt dagegen die Schnelligkeit seiner Achsenbewegung, und es kommt dann ein Stück seines östlichen Randes zum Vorschein. Ein Segment von ungefähr acht Grad wird bald auf der westlichen, bald auf der östlichen Seite sichtbar. Das Ergebniß ist, daß der Mond von tausend Theilen fünfhundertneunundsechzig sichtbar werden läßt.

– Gleichviel, erwiderte Michel, werden wir je Seleniten, so wohnen wir auf der sichtbaren Seite. Ich für meinen Theil bin ein Lichtfreund!

– Sofern nicht etwa, versetzte Nicholl, die dichte Atmosphäre auf der andern Seite ist, wie manche Astronomen behaupten.

– Der Punkt verdient Erwägung«, erwiderte Michel einfach.

Inzwischen war das Frühstück beendigt und die Beobachter nahmen ihren Posten wieder ein. Sie bemühten sich, durch die dunkeln Fensterlucken zu sehen, und löschten alles Licht im Projectil aus. Aber kein Stäubchen Licht zeigte sich in der Finsterniß.

Eine unerklärliche Thatsache ging Barbicane im Kopf herum. Weshalb, da man so nahe bei dem Mond vorbei kam, – ungefähr fünfzig Kilometer – weshalb ist das Projectil nicht zum Fallen gekommen? Wäre seine Schnelligkeit sehr groß gewesen, so war es begreiflich, daß das Herabfallen nicht vor sich ging. Aber bei einer verhältnißmäßig geringen Schnelligkeit war dieser Widerstand gegen die Anziehungskraft des Mondes nicht mehr erklärlich. Machte sich hier eine fremdartige Einwirkung geltend? Wurde es durch irgend einen Körper im Aether schwebend gehalten? Nunmehr war es völlig klar, daß es an keinen Punkt des Mondes anlangen werde. Wohin trieb es? kam es der Scheibe näher oder ferner? Durchfuhr es in dieser tiefen Nacht den unendlichen Raum? Wie konnte man es wissen, wie inmitten dieser Finsterniß berechnen? Alle diese Fragen setzten Barbicane in Unruhe, aber er vermochte sie nicht zu lösen.

Zwar war das unsichtbare Gestirn da, vielleicht nur einige Meilen weit, aber weder er, noch seine Genossen konnten es erkennen. Wenn auf seiner Oberfläche ein Geräusch vorging, konnten sie es nicht hören: es mangelte die Luft, dieser Träger des Tons, um ihnen dasselbe zuzuführen.

Man wird zugeben, daß auch geduldigere Beobachter darüber unruhig werden konnten. Gerade die unbekannte Hemisphäre lag vor ihren Augen! Diejenige Seite, welche vierzehn Tage früher oder später von den Sonnenstrahlen glänzend erleuchtet war oder sein würde, war damals in absolute Finsterniß gehüllt. Wo sollte in vierzehn Tagen das Projectil sein? Wohin würden zufällige Anziehungskräfte es fortgezogen haben? Wer konnte das sagen?

Im Allgemeinen nimmt man an, nach den Beobachtungen der Selenographen, daß die unsichtbare Hemisphäre des Mondes ihrer Naturbeschaffenheit nach seiner sichtbaren durchaus gleich sei. Man kann, in Folge der von Barbicane erwähnten Schwankungen, in der That ungefähr den siebenten Theil derselben erkennen. Und auf diesen Segmenten, die man gesehen, befanden sich nur Ebenen und Berge, Circus und Krater, den auf den Karten aufgenommenen gleichartig. Man konnte daraus auf die nämliche Natur, eine nämliche trockene und todte Welt, schließen. Und doch, ob die Atmosphäre sich auf diese Seite gezogen hat? Ob mit der Luft auch das Wasser diesen Landschaften erneuertes Leben gab? Ob da noch Vegetation besteht? Ob diese Landschaften und Meere von lebenden Geschöpfen bewohnt sind? Ob der Mensch unter diesen Bedingungen der Bewohnbarkeit dort noch lebt? Wie interessant wäre es gewesen, diese Fragen zu beantworten! Welche Lösungen hätte man aus der Anschauung dieser Hemisphäre geschöpft! Welches Entzücken, einen Blick auf diese Welt zu werfen, welche das menschliche Auge niemals gesehen hat!

Man begreift das Mißbehagen, welches daher die Reisenden mitten in dieser schwarzen Nacht empfanden. Jede Beobachtung der Mondscheibe war versagt, nur allein die Sternbilder beschäftigten ihre Blicke, und man muß gestehen, nie befanden sich Astronomen, wie Faye, Chacornac, Secchi, in einer für die Beobachtung so günstigen Lage.

In der That, unvergleichlich war der Glanz dieser Sternenwelt im klaren Aether; prachtvoll das Feuer, womit diese Diamanten am Himmelsgewölbe leuchteten. Der Blick umfaßte das Firmament vom Kreuz des Südens bis zum Nordstern, den beiden Sternbildern, welche in Folge des Vorrückens der Aequinoctien in zwölftausend Jahren ihre Rollen als Polarsterne abtreten werden, jener südliche an Canopus, der nördliche an Wega. Die Phantasie verlor sich in dem erhabenen unendlichen Raum, worin das Projectil seine Bahn hatte wie ein neues von Menschenhand geschaffenes Gestirn. Diese Sternbilder glänzten in sanftem Licht, aus natürlichem Grunde; sie flimmerten nicht, weil keine Atmosphäre vorhanden war, welche vermittelst ihrer Schichten von ungleicher Dichtheit und verschiedener Feuchtigkeit das Flimmern bewirkt. Diese Sterne waren sanfte Augen, welche in diese tiefe Nacht, in das absolute Schweigen des Raumes herabblickten.

Lange betrachteten die Reisenden in stummem Schweigen das sternbesäete Firmament, auf welchem die große Scheibe des Mondes ein ungeheures schwarzes Loch bildete. Aber eine peinliche Empfindung störte sie endlich in ihrer Betrachtung. Es entstand eine arge Kälte, welche bald die Fenster mit einer dicken Lage Eis überzog. In der That, da die Sonne nicht mehr direct mit warmen Strahlen das Projectil traf, so verlor dieses allmälig die zwischen seinen Wänden eingeschlossene Wärme. Diese Wärme war durch Ausstrahlen rasch in den Raum hinaus verdunstet, und die Temperatur war bedeutend niederer geworden. Die innen befindliche Feuchtigkeit verwandelte sich bei Berührung der Fenster in Eis und hinderte damit jede Beobachtung.

Nicholl befragte das Thermometer und sah, daß es auf siebenzehn hunderttheilige Grad unter Null gesunken war. Daher sah sich Barbicane, trotz aller Gründe für Sparsamkeit, genöthigt, seine Zuflucht zum Gas zu nehmen, um, wie bisher Licht, nun auch Wärme von ihm zu begehren. Die niedere Temperatur im Projectil war nicht mehr zu ertragen.

»Wir wollen uns, bemerkte Michel Ardan, ĂĽber die Einförmigkeit unserer Reise nicht beklagen! Welche Verschiedenheit, wenigstens der Temperatur! Bald sind wir vom Licht geblendet und mit Wärme so reichlich versehen, wie die Bewohner der Pampa’s! Bald sind wir in tiefe FinsterniĂź versenkt, mitten in einer nordischen Kälte, wie die Eskimos des Pols! Wahrhaftig nein! Wir haben kein Recht uns zu beklagen, und die Natur macht’s recht so zu unserer Ehre.

– Aber, fragte Nicholl, wie ist die Temperatur außen?

– Gerade so, wie im Planetenraum, erwiderte Barbicane.

– Dann, fuhr Michel Ardan fort, hätten wir wohl Gelegenheit, diese Untersuchung vorzunehmen, welche nicht möglich war, so lange wir von den Sonnenstrahlen umfluthet waren?

– Der Zeitpunkt ist jetzt da, oder nie, erwiderte Barbicane, denn wir sind in gĂĽnstiger Lage, die Temperatur des Raumes zu untersuchen, und zu sehen, ob die Berechnungen Fourier’s oder Pouillet’s genau sind.

– Jedenfalls ist’s kalt, erwiderte Michel. Sehen Sie nur, wie die Feuchtigkeit an den Fenstern gefriert. Wenn diese Kälte fortdauert, werden die von uns ausgeathmeten DĂĽnste als Schnee um uns herumfallen!

– Machen wir einen Thermometer zurecht«, sagte Barbicane.

Man kann sich wohl denken, daĂź ein gewöhnliches Thermometer unter den Umständen, wo das Instrument zu gebrauchen war, kein ErgebniĂź geliefert haben wĂĽrde. Das Quecksilber wĂĽrde in dem Glasbehälter gefroren sein, weil es unterhalb zweiundvierzig Grad unter Null nicht mehr flĂĽssig bleibt. Aber Barbicane hatte sich mit einem Thermometer nach Walferdin’s System versehen, welches den niedrigsten Stand äuĂźerst niedriger Temperatur angiebt.

Ehe man das Experiment machte, verglich man das Instrument mit einem gewöhnlichen Thermometer, und Barbicane machte es für die Anwendung zurecht.

»Wie werden wir das anfangen? fragte Nicholl.

– Nichts ist leichter, erwiderte Michel Ardan, den nichts in Verlegenheit setzte. Man öffnet rasch das Fenster, wirst das Instrument hinaus, welches exemplarisch folgsam das Projectil begleitet; eine Viertelstunde nachher zieht man’s wieder herein …

– Mit der Hand? fragte Barbicane.

– Ja wohl, erwiderte Michel.

– Das, mein Freund, probire ja nicht, erwiderte Barbicane, denn Du würdest Deine Hand nur noch als einen Stummel hereinziehen, so würde sie durch die fürchterliche Kälte zusammenfrieren und entstellt, werden.

– Wirklich!

– Du würdest das Gefühl eines fürchterlichen Verbrennens, wie mit einem weißglühenden Eisen, empfinden; denn es ist ganz dieselbe Sache, ob die Wärme in schroffster Weise aus dem Körper heraus, oder in denselben hinein dringt. Uebrigens bin ich doch nicht sicher, ob die Gegenstände, welche wir aus dem Projectil hinaus warfen, noch in unserem Gefolge sind.

– Weshalb? sagte Nicholl.

– Weil, wenn wir durch eine, wenn auch noch so wenig dichte Atmosphäre fahren, diese Gegenstände zurĂĽckbleiben werden. Die Dunkelheit aber hindert uns zu beobachten, ob sie noch um uns herum sich bewegen. Folglich, wollen wir uns nicht der Gefahr aussetzen unser Thermometer zu verlieren, wollen wir’s anbinden, und werden es dann leichter wieder hereinziehen.«

Man folgte Barbicane’s Rath. Nicholl warf das an einer kurzen Schnur befestigte Instrument aus dem blitzschnell geöffneten Fenster, so daĂź es rasch wieder hereingezogen werden konnte. Das Fenster wurde dabei nur eine Secunde geöffnet, und doch drang in dieser kurzen Zeit eine heftige Kälte in’s Projectil hinein.

»Tausend Teufel! schrie Michel Ardan, es ist ja so kalt, um zu Eisbären zu gefrieren!«

Barbicane lieĂź eine halbe Stunde verstreichen, eine mehr als genĂĽgende Zeit, um das Instrument in gleiche Temperatur mit dem Raum gelangen zu lassen. Nach Ablauf dieser Zeit wurde das Thermometer eilig hereingezogen.

Barbicane berechnete die Quantität Weingeist, welche in das kleine, unten an das Instrument gelöthete Fläschchen herabgeträufelt war, und sagte:

»Hundertundvierzig hunderttheilige Grad unter Null!«

Pouillet hat Recht gegen Fourier. So tief war der Stand der fürchterlichen Temperatur des Sternenraums! So niedrig ist vielleicht die der Mondcontinente, wann das Nachtgestirn alle Wärme, welche ihm vierzehn Tage lang die Sonne mitgetheilt hatte, durch Ausstrahlen wieder verloren hat!