Drittes Capitel


Drittes Capitel

Man richtet sich ein.

Nach dieser merkwürdigen, aber gewiß richtigen Erklärung versanken die drei Freunde wieder in tiefen Schlummer. Wo hätten sie auch einen stilleren Ort, eine friedlichere Umgebung finden können? Auf der Erde haben die Häuser in den Städten, die Hütten auf dem Lande alle Erschütterungen zu empfinden, welche die Oberfläche derselben treffen. Auf dem Meere hat das von den Wogen umher geschaukelte Schiff nur Stoß auf Stoß zu dulden. In der Luft schwankt der Ballon unablässig auf den Luftschichten. Nur dies Projectil im absolut leeren Raum bot seinen Bewohnern in absoluter Stille die absolute Ruhe dar.

Daher würde auch der Schlaf der drei wagehalsigen Reisenden vielleicht unendlich lange gedauert haben, wären sie nicht acht Stunden nach ihrer Abfahrt, gegen sieben Uhr am 2. December, durch ein unerwartetes Geräusch geweckt worden.

Ein ganz eigenthümliches Bellen ließ sich vernehmen. »Die Hunde! Das sind unsere Hunde!« rief Michel Ardan, und sprang unverzüglich auf.

– Sie haben Hunger, sagte Nicholl.

– Wahrhaftig! wir haben sie vergessen! versetzte Michel.

– Wo sind sie? fragte Barbicane.

Man suchte, und fand das eine der Thiere unter dem Divan kauernd. Verstört, vernichtet von dem Stoß war es bis zu dem Moment, da mit der Pein des Hungers die Stimme ihm wiederkehrte, in diesem Winkel geblieben.

Es war die liebenswürdige Diana. Ziemlich verdutzt noch kroch sie aus ihrem Winkel hervor, nicht ohne sich bitten zu lassen. Doch Michel Ardan sprach ihr mit zärtlichen Worten zu.

»Komm, Diana«, sagte er, »komm‘, mein Kind! Dein Geschick wird in den Annalen der Hundezüchtung Epoche machen! Die Heiden hätten Dich dem Gott Anubis zur Lebensgefährtin gegeben, und die Christen dem heiligen Rochus zur Freundin! Du verdienst von dem König der Unterwelt in Erz getrieben zu werden, wie jener, den Jupiter der schönen Europa für einen Kuß hingab! Du wirst berühmter werden, als die Helden zu Montargis und auf dem St. Bernhard! In die Weltenräume geschleudert wirst Du vielleicht zur Stammmutter der Selenitenhunde! Dort oben wirst Du vielleicht Toussenel’s Ausspruch rechtfertigen: ›Im Anfang schuf Gott den Menschen, und da er ihn so schwach sah, gab er ihm zum Gefährten den Hund!‹ Komm, Diana, komm her!«

Diana, geschmeichelt oder auch nicht, kam gemach herbei und jammerte kläglich.

»Gut!« sagte Barbicane, »hier ist Eva, aber wo ist Adam?«

– Adam! erwiderte Michel, Adam kann nicht weit sein! Irgendwo ist er! Man muß rufen! Trabant! hier! Trabant!

Aber Trabant kam nicht zum Vorschein. Diana fuhr fort zu jammern. Man überzeugte sich jedoch, daß sie nicht verwundet war, und gab ihr zur Stillung ihrer Klagen einen leckeren Brocken.

Trabant schien gar nicht mehr vorhanden. Man mußte lange suchen, bis man ihn endlich in einem der oberen Gefächer des Projectils fand, wohin der Gegenstoß in kaum erklärlicher Weise ihn gewaltsam geschleudert hatte. Das arme Thier, arg beschädigt, befand sich in jämmerlichem Zustand.

Man hob ihn behutsam herunter. Es war ihm an der Decke der Kopf zerschlagen, und er schien schwerlich davon zu kommen. Doch ließ man ihn sich bequem auf einem Kissen strecken, und da ließ er einen Seufzer hören.

»Wir pflegen Dich«, sagte Michel. »Wir sind für Dein Leben verantwortlich. Ich würde lieber einen Arm verlieren, als eine Pfote meines armen Trabanten!«

Mit diesen Worten reichte er dem Patienten einige Schluck Wasser, welches er gierig schlürfte.

Hierauf beobachteten die Reisenden achtsam die Erde und den Mond. Die Erde zeigte sich nur noch als düster beleuchtete Scheibe mit einer noch schmäleren Sichel am Rande, wie Abends zuvor; doch war ihre Größe noch enorm in Vergleichung mit der des Mondes, der mehr und mehr in vollständiger Kreisform erschien.

»Wahrhaftig!« sagte Michel Ardan, »es thut mir ernstlich leid, daß wir nicht abfuhren, als die Erde in vollem Licht war, d.h. als sie in Opposition zur Sonne stand.«

– Weshalb? fragte Nicholl.

– Weil wir unser Festland und Meere in neuer Beleuchtung gesehen hätten, diese im Glanz der darauf fallenden Sonnenstrahlen, jene düsterer, so wie man sie auf manchen Landkarten darstellt! Ich hätte die Erdpole sehen mögen, wohin des Menschen Blicke noch nicht zu dringen vermochten!

– Allerdings, erwiderte Barbicane, allein war die Erde in vollem Licht, so mußte es Neumond sein, d.h. der Mond in der Umstrahlung von der Sonne nicht sichtbar. Nun ist’s aber doch besser, das Ziel, wohin wir gelangen wollen, in’s Auge zu fassen, als den Punkt, wovon wir ausgingen.

– Sie haben Recht, Barbicane, erwiderte der Kapitän Nicholl, und übrigens, wenn wir auf dem Mond angelangt sind, werden wir in den langen Mondnächten noch Zeit genug haben, gemächlich die Kugel zu besehen, worauf unseres Gleichen wimmeln!

– Unseres Gleichen! rief Michel Ardan, aber jetzt sind sie das nicht mehr, so wenig wie die Seleniten. Wir bewohnen eine neue Welt, das Projectil, dessen einzige Bevölkerung wir ausmachen. Wir Drei sind allein unseres Gleichen; draußen, droben keine Menschen weiter. Wir allein bewohnen diesen Mikrokosmus, bis wir Seleniten werden!

– In achtundachtzig Stunden etwa, versetzte der Kapitän.

– Das heißt? … fragte Michel Ardan.

– Es ist jetzt halb neun Uhr, erwiderte Nicholl.

– Nun, fuhr Michel fort, so sehe ich durchaus keinen Grund, weshalb wir nicht unverzüglich frühstücken.

In der That, ohne zu essen, konnten die Bewohner des neuen Gestirns nicht leben, und die Gesetze des Hungers machten sich damals gebieterisch geltend. Michel Ardan als Franzose erklärte sich als Küchenmeister, und Niemand konnte in dieser Stelle mit ihm wetteifern. Das Gas gab den hinreichenden Grad Hitze für die Zubereitung, und das Vorrathsbehälter lieferte den Stoff zur ersten Mahlzeit.

Das Frühstück begann mit drei Tassen vortrefflicher Bouillon, welche durch Auflösung jenes köstlichen Liebig’schen Fleischextracts gewonnen wurde, der aus den besten Stücken des Rindviehs der Pampas bereitet wird. Hierauf folgten einige Schnitten mit hydraulischer Presse comprimirten Beefsteaks, so zart und saftig, wie man sie im Café anglais zu Paris bekommt. Michel Ardan versicherte sogar, seiner Phantasie gemäß, sie seien »blutig«. Auf das Fleischgericht folgte conservirtes Gemüse, das, wie ebenfalls der liebenswürdige Michel versicherte, »frischer als das natürliche« war, und dann gab’s noch einige Tassen Thee mit amerikanischen Butterbemmen. Dies ausgesuchte Getränk war ein Aufguß auf Blätter ersten Ranges, welche der Kaiser von Rußland den Reisenden hatte zukommen lassen.

Endlich, das Mahl zu krönen, holte Ardan eine seine Flasche Nuits herbei, die sich »zufällig« im Vorrathsfach fand; und die drei Freunde leerten sie auf die Verbindung der Erde mit ihrem Trabanten.

Und als begnüge sich die Sonne nicht, das köstliche Product auf den Burgunder Rebhügeln destillirt zu haben, wollte sie auch Gesellschaft leisten. In diesem Augenblick verließ das Projectil den Bereich des Schattenkegels, welchen der Erdball wirst, und glänzende Strahlen fielen gerade auf den Boden des Geschosses in Gemäßheit des Winkels, welchen die Mondbahn mit der der Erde macht.

»Die Sonne!« rief Michel Ardan.

– Allerdings, erwiderte Barbicane. So dacht‘ ich mir’s.

– Doch erstreckt sich nicht, sagte Michel, der Schattenkegel hinter der Erde noch über den Mond hinaus?

– Weit darüber hinaus, wenn man die Brechung in der Atmosphäre nicht in Anschlag bringt. Wann aber der Mond ganz von diesem Schatten umhüllt ist, dann befinden sich die Centren der drei Gestirne, Sonne, Erde und Mond, in einer geraden Linie. Dann treffen die Knoten mit den Phasen des Vollmonds zusammen, und es entsteht eine Verfinsterung. Wären wir im Moment einer Mondfinsterniß abgefahren, so wäre unsere ganze Fahrt im Dunkel vorgegangen, was unangenehm gewesen wäre.

– Weshalb?

Weil, obwohl wir im leeren Raum uns bewegen, unser Projectil, in der Mitte von Sonnenstrahlen getroffen, Licht und Wärme von ihr erhalten wird, so daß man also Gas spart, eine in jeder Hinsicht kostbare Sparsamkeit.

In der That, durch die Einwirkung dieser Strahlen, deren Wärmegrad und Glanz nicht durch eine Atmosphäre gemildert war, wurde das Projectil sowohl erleuchtet, als erwärmt, als wäre es plötzlich aus dem Winter in den Sommer übergegangen. Von oben der Mond, von unten die Sonne spendeten ihm Licht und Wärme.

»Man kann sich hier wohl befinden«, sagte Nicholl.

– Das glaub‘ ich gerne! rief Michel Ardan. Hätten wir ein wenig fruchtbaren Erdgrund auf unserem Aluminplaneten, so könnten wir binnen vierundzwanzig Stunden Erbsen zum Wachsen bringen. Ich habe nur die eine Besorgniß, es möchten die Wände unserer Kugel schmelzen!

– Beruhige Dich, würdiger Freund, erwiderte Barbicane. Das Projectil hatte, während es durch die atmosphärischen Luftschichten glitt, eine weit höhere Temperatur auszustehen. Ich wäre nicht einmal erstaunt, wenn es in den Augen der Floridaner als wie ein feuriger Bolide erschienen wäre.

– Aber dann müßte J.T. Maston meinen, wir seien gebraten.

– Daß wir’s nicht wurden, erwiderte Barbicane, nimmt mich Wunder. Diese Gefahr hatten wir nicht vorausgesehen.

– Ich habe die Befürchtung gehabt, sagte Nicholl.

– Und hast uns nichts davon gesagt, hochherziger Kapitän! rief Michel Ardan, und drückte seinem Gefährten die Hand.

Indessen verfuhr Barbicane bei seiner Einrichtung im Projectil, als sollte er’s nimmer verlassen.

Wir erinnern uns, daß dieser Luftwaggon einen Fußboden von vierundfünfzig Quadratfuß hatte und bis zur Spitze der gewölbten Decke zwölf Fuß hoch war; bei geschickter Benutzung des Raums, ohne Ueberladung mit Instrumenten und Reisegeräthen, welche sämmtlich ihre besondere Stelle hatten, blieb den drei Bewohnern noch eine gewisse Freiheit der Bewegung. Das dicke Glasfenster, welches in einen Theil des Bodens eingelassen war, konnte ein beträchtliches Gewicht tragen, so daß Barbicane und seine Gefährten auf demselben wie auf festem Zimmerboden herum spazierten; aber die Sonne, welche ihre Strahlen direct darauf warf und das Innere des Projectils von unten beleuchtete, veranlaßte eigenthümliche Lichteffecte.

Man begann damit, den Zustand der Behälter für Wasser und Lebensmittel in Augenschein zu nehmen. Dieselben hatten in Folge der gegen den Stoß getroffenen Vorkehrungen durchaus nicht gelitten. Lebensmittel waren reichlich für ein volles Jahr vorhanden. Barbicane wollte sich für den Fall vorsehen, daß das Projectil an einem durchaus unfruchtbaren Theile des Mondes anlangen würde. Wasser und Branntwein hatte man nur für zwei Monat mitgenommen. Aber nach den neuesten astronomischen Beobachtungen hat der Mond eine niedrige, dichte Atmosphäre von Gehalt, wenigstens in den Thalgründen, so daß es da an Bächen und Quellen nicht mangeln konnte. Daher sollten die abenteuerlichen Forscher während der Fahrt und des ersten Jahres ihrer Einrichtung auf dem Mondcontinent weder Hunger noch Durst zu leiden haben.

Wie stand’s nun mit der Luft im Innern des Projectils. Auch in dieser Hinsicht konnte man völlig ruhig sein. Der Apparat Reiset und Regnaut, welcher Sauerstoff zu bereiten hatte, war auf zwei Monat mit chlorsaurem Kali versehen. Es verzehrte nothwendig eine gewisse Quantität Gas; aber man war auch in dieser Hinsicht versorgt. Der Apparat bedurfte übrigens nur wenig Ueberwachung, er arbeitete automatisch. Bei dieser hohen Temperatur gab das chlorsaure Kali bei seiner Verwandlung in salzsaures Kali allen Sauerstoff, welchen es enthielt, frei. Und was ergaben achtzehn Pfund chlorsaures Kali? Die sieben Pfund Sauerstoff, welche zum täglichen Verbrauch der Bewohner des Projectils nöthig waren.

Aber es war nicht genug, den verbrauchten Sauerstoff zu erneuern, man mußte auch die durch das Ausathmen erzeugte Kohlensäure vernichten. Nun war seit zwölf Stunden die Atmosphäre in der Kugel mit diesem durchaus schädlichen Gas, welches aus dem Verbrennen der Blutelemente durch eingeathmeten Sauerstoff sich erzeugt, bereits erfüllt. Nicholl erkannte diesen Zustand der Luft, als er gewahrte, wie Diana mühselig keuchte.

In der That, die Kohlensäure – eine Erscheinung gleich der in der berühmten Hundsgrotte – verdichtete sich in Folge ihrer Schwere am Boden des Projectils. Die arme Diana mit ihrem herabgesenkten Kopf mußte also früher, als ihre Herren, das schlimme Gas spüren. Aber der Kapitän Nicholl beeilte sich, abzuhelfen. Er stellte auf den Boden des Projectils einige Gefäße mit kaustischem Kali, schüttelte es ein wenig, und dieser die Kohlensäure gierig aufsaugende Stoff reinigte die Luft im Inneren vollständig.

Darauf wurden die Instrumente gemustert. Die Thermometer und Barometer waren gut erhalten, nur bei einem kleinen Thermometer war das Glas zerbrochen. Ein vortreffliches Instrument wurde aus seinem Futteral gezogen und an der Wand aufgehängt. Natürlich zeigte es nur den Luftdruck im Inneren des Projectils an; aber auch die Quantität wässeriger Dünste, welche dasselbe enthielt. In diesem Augenblick schwankte seine Nadel zwischen 765 und 760 Millimeter. Das bedeutete »schönes Wetter«.

Auch einige Compasse, die Barbicane mitgenommen hatte, waren unversehrt geblieben. Begreiflich wies unter den gegebenen Bedingungen ihre Nadel nicht richtig, d.h. ohne bleibende Richtung. In der That konnte bei der Entfernung der Kugel von der Erde der magnetische Pol keine merkliche Wirkung auf die Vorrichtung äußern. Aber diese Bussolen konnten, auf der Mondscheibe angelangt, vielleicht dort eigenthümliche Erscheinungen constatiren. Jedenfalls war es interessant, zu untersuchen, ob der Trabant der Erde gleich ihr dem magnetischen Einfluß unterworfen sei.

Ein Hypsometer, um die Höhe der Mondberge zu messen, ein Sextant, um die Höhe der Sterne aufzunehmen, ein Theodolit, der beim Feldmessen und zur Bestimmung der Winkel am Horizont gebraucht wird, Fernröhre, die bei Annäherung an den Mond sehr schätzbar für den Gebrauch waren, alle diese Instrumente wurden bei sorgfältiger Besichtigung als gut befunden, trotz der Heftigkeit des erlittenen Stoßes.

Die Geräthe, Hacken und Schaufeln, die verschiedenen Werkzeuge, welche Nicholl sorgfältig ausgewählt hatte, die Säcke voll allerlei Körner, die jungen Bäume, welche Michel Ardan auf den Selenitenlandgütern anzupflanzen gedachte, befanden sich in den oberen Räumen an ihrer Stelle. Dort war eine Art Speicher angebracht voll Gegenstände, die der Franzose daselbst mit vollen Händen aufgeschichtet hatte. Was es für Gegenstände waren, wußte man nicht recht, und der heitere Geselle sprach sich nicht darüber aus. Von Zeit zu Zeit stieg er über Kloben, die in den Wänden festgenietet waren, zu dieser Vorrathskammer hinauf, deren Besichtigung er sich vorbehalten hatte. Er räumte auf und ordnete, und that gierige Griffe in gewisse geheimnißvolle Kisten, und sang dabei mit Falsettstimme einen alten französischen Vers, welcher heiter stimmte.

Barbicane bemerkte mit Vergnügen, daß seine Raketen und Kunstfeuerwerke nicht beschädigt waren. Diese wichtigen Gegenstände mit starker Ladung hatten die Bestimmung, das Herabfallen des Projectils zu mäßigen, wenn es nach Ueberschreitung der neutralen Linie der Anziehungskraft des Mondes anheim gegeben auf die Mondoberfläche fallen würde. Dieser Fall mußte indessen sechsmal minder rasch erfolgen, als auf der Erde, nach Verhältniß der Masse dieser beiden Weltkörper.

Die Musterung fiel also zu allgemeiner Befriedigung aus. Darauf begab sich Jeder wieder an die Fensterlucken an den Seiten und im Boden, um in den Weltraum hinaus zu blicken.

Stets der nämliche Anblick. Das ganze weite Feld der Himmelssphäre, von Sternen und Sternbildern in wunderbar reinem Glanze wimmelnd, konnte einen Astronomen zum Narren machen. Auf der einen Seite die Sonne, gleich der Mündung eines Gluthofens, eine blendende Scheibe ohne Lichtring, hob sich ab auf dem dunkeln Hintergrund des Himmels. Auf der anderen der Mond, seine Gluthstrahlen ihm zurückwerfend, und wie unbeweglich inmitten der Sternenwelt. Sodann ein ziemlich starker Flecken, der im Firmament ein Loch zu bilden schien und noch zur Hälfte am Rande mit silbernem Saum umgeben war: das war die Erde. Hier und da gehäufte Nebelflecken gleich dicken Flocken Sternenschnees, und vom Zenith bis zum Nadir ein unfaßbarer Ring von Sternenstaub, jene Milchstraße, in deren Mitte die Sonne nur als Stern vierter Größe gerechnet wird!

Die Beobachter konnten von diesem noch nicht gekannten Schauspiel, wovon keine Schilderung einen Begriff geben konnte, ihren Blick nicht wegwenden. Welche Gedanken regte es an! Welche unbekannten Gefühle weckte es in der Seele! Barbicane entschloß sich, von diesen Eindrücken beherrscht, seinen Reisebericht zu beginnen, und zeichnete Stunde für Stunde alle die Thatsachen auf, welche den Anfang der Unternehmung bezeichneten. Er schrieb ruhig mit seiner starken fetten Handschrift und in einem etwas handelsmäßigen Styl.

Während dessen warf der Rechner Nicholl einen Rückblick auf seine Formeln der Bahnen und verfuhr mit den Ziffern so gewandt, daß er seines Gleichen nicht hatte. Michel Ardan plauderte bald mit Barbicane, der ihm nicht antwortete, bald mit Nicholl, der ihn nicht anhörte, mit Diana, die von seinen Theorien nichts verstand, mit sich selber endlich, warf Fragen auf und beantwortete sie, ging hin und her und beschäftigte sich mit tausend Kleinigkeiten, bald zum unteren Fenster hinabgebeugt, bald im Oberraum hockend, und stets mit halblautem Gesang. In dieser kleinen Welt repräsentirte er die Beweglichkeit und französische Geschwätzigkeit, und man möge versichert sein, daß sie würdig vertreten war.

Der Tag oder vielmehr – denn dieser Ausdruck paßt nicht mehr – der Zeitraum von zwölf Stunden, welcher auf der Erde einen Tag ausmacht, endigte mit einem reichlichen Abendessen, das sein zubereitet war. Es war noch nichts vorgefallen, was den Reisenden die Zuversicht schwächen konnte. Daher schliefen sie auch voll Hoffnung, ihres Erfolges versichert, ruhig ein, indeß das Projectil mit gleichmäßig abnehmender Geschwindigkeit die Himmelsbahnen durchschnitt.

Viertes Capitel


Viertes Capitel

Ein wenig Algebra.

Die Nacht verlief ohne einen Zwischenfall. Richtig zu sagen, ist das Wort »Nacht« unpassend. Die Lage des Projectils im Verhältniß zur Sonne blieb unverändert. Astronomisch genommen war’s Tag auf seiner Bodenseite, Nacht auf seiner oberen. Wenn nun ferner bei dieser Erzählung diese beiden Ausdrücke gebraucht werden, ist darunter der Zeitraum zu verstehen, welcher auf der Erde zwischen Aufgang und Untergang der Sonne verfließt.

Die Reisenden schliefen um so ruhiger, als das Projectil trotz seiner äußersten Geschwindigkeit durchaus unbeweglich schien. Gar keine Bewegung gab sein Hingleiten durch den Raum zu erkennen. Die Veränderung des Orts, so rasch sie auch sein mag, kann auf den Organismus keine merkliche Wirkung äußern, wenn sie im leeren Raum vorgeht, oder wenn die Luftmasse um den Körper herum sich zugleich mit fortbewegt. Welcher Bewohner der Erde bemerkt die Schnelligkeit, womit sie doch stündlich um neunzigtausend Kilometer sich fortbewegt? Unter diesen Bedingungen hat man von Bewegung eben so wenig eine Empfindung, als von Ruhe. Jeder Körper verhält sich in der Hinsicht gleichgiltig. Befindet er sich in Ruhe, so bleibt er so lange darin, bis ihn irgend eine fremde Gewalt aus seiner Stelle bringt. Ist er in Bewegung, so hält er nicht inne, wenn nicht ein Hinderniß seine Bewegung hemmt. Diese Gleichgiltigkeit in Beziehung auf Bewegung oder Ruhe heißt Trägheit.

Barbicane und seine Genossen konnten also, im Projectil eingeschlossen, meinen, sie seien in völlig unbewegtem Zustand.

Hätten sie sich übrigens außen auf demselben befunden, so wäre die Wirkung doch die gleiche gewesen. Hätte nicht der Mond über ihnen stets an Größe zugenommen, so hätten sie darauf geschworen, sie befänden sich in vollständig bewegungslosem Zustande.

Am 3. December wurden die Reisenden Morgens frühe durch ein munteres, ganz unvermuthetes Geräusch geweckt. Der Hahn im Waggon ließ sich vernehmen.

Michel Ardan sprang auf, kletterte empor, schloß eine halb offene Kiste, und sprach leise:

»Willst Du schweigen? Das Thier bringt meinen Plan zum Scheitern!«

Indessen waren Nicholl und Barbicane wach geworden.

»Ein Hahn?« sagte Nicholl.

– »O nein! mein Freunde, erwiderte lebhaft Michel, ich habe diesen ländlichen Ton hervorgebracht, um Euch zu wecken!«

Und dazu ließ er ein prachtvolles »Kikeriki« hören, welches dem stattlichsten Gockelhahn Ehre gemacht hätte.

Die beiden Amerikaner lachten unwillkürlich.

»Ein hübsches Talent«, sagte Nicholl mit einem argwöhnischen Blick auf seinen Genossen.

– »Ja, erwiderte Michel, ein echt gallischer Spaß, wie er in meiner Heimat üblich ist, und zwar in der besten Gesellschaft!«

Dann ablenkend fuhr er fort:

»Weißt Du, Barbicane, woran ich die ganze Nacht gedacht habe?«

– Nein, erwiderte der Präsident.

– An unsere Freunde zu Cambridge! Du hast bereits bemerkt, daß ich in mathematischen Dingen ein erstaunlicher Ignorant bin. Ich kann mir daher durchaus keinen Begriff davon machen, wie die Gelehrten bei dem Observatorium ausrechnen konnten, welche Anfangsgeschwindigkeit das Projectil, als es aus der Columbiade kam, haben mußte, um bis zum Mond zu gelangen.

– Du meinst, versetzte Barbicane, bis zu dem neutralen Punkt, wo die Anziehungskraft der Erde und des Mondes sich ausgleichen; denn von diesem Punkte an, etwa neun Zehntel der ganzen Fahrt, wird das Projectil lediglich kraft seiner Schwere auf den Mond fallen.

– Gut, erwiderte Michel, aber ich frage nochmals, wie konnten sie die Anfangsgeschwindigkeit berechnen?

– Nichts leichter, wie das, entgegnete Barbicane.

– Und verständest Du, diese Berechnung zu machen? fragte Michel Ardan.

– Vollständig. Ich hätte sie mit Nicholl angestellt, wenn uns nicht das Observatorium diese Mühe abgenommen hätte.

– Mein werthester Barbicane, erwiderte Michel Ardan, eher hätte man mir, von den Füßen angefangen, den Kopf abgeschnitten, als daß ich diese Aufgabe zu lösen vermocht hätte!

– Weil Du nichts von Algebra verstehst, entgegnete ruhig Barbicane.

– Ah! Seht doch, was seid Ihr für Buchstabenfresser! Ihr meint, mit Eurer Algebra Alles fertig zu bringen.

– Michel, versetzte Barbicane, meinst Du, man könne schmieden ohne Hammer, und ackern ohne Pflug?

– Schwerlich.

– Nun denn, die Algebra ist ein Werkzeug, wie der Pflug oder Hammer, und für den, welcher sich darauf versteht, ein gutes Werkzeug.

– Ernstlich?

– Sehr ernstlich gemeint.

– Und Du könntest in meiner Gegenwart dieses Werkzeug gebrauchen?

– Wenn’s Dich interessirt.

– Und mir zeigen, wie man die Anfangsgeschwindigkeit unseres Waggons ausgerechnet hat?

– Ja, mein werther Freund. Indem ich alle Elemente des Problems in Anschlag bringe, die Entfernung des Centrums der Erde von dem des Mondes, den Halbdurchmesser der Erde, den Massengehalt der Erde sowie des Mondes, kann ich ganz genau bestimmen, wie groß die Anfangsgeschwindigkeit des Projectils sein mußte, und zwar durch eine einfache Formel.

– Laß hören, welche Formel.

– Du sollst sie zu hören bekommen. Nur werde ich Dir nicht die krummen Linien angeben, welche das Projectil zwischen der Erde und dem Mond beschreibt, indem ich ihre Bewegung um die Sonne mit in die Rechnung ziehe. Sondern ich will die beiden Gestirne als unbewegt ansehen, das reicht für uns hin.

– Und weshalb?

– Weil ich sonst die Lösung der Aufgabe suchen würde, welche das Problem der drei Körper heißt, für deren Lösung die Integralrechnung noch nicht genug vorgeschritten ist.

– Also, sagte Michel Ardan in spöttischem Ton, haben die Mathematiker noch nicht ihr letztes Wort gesprochen?

– Allerdings nicht, erwiderte Barbicane.

– Gut! Vielleicht sind die Seleniten in der Integralrechnung etwas weiter gekommen! Und beiläufig, was heißt man denn Integralrechnung?

– Diese Rechnungsart ist das Gegentheil von der Differentialrechnung, erwiderte Barbicane mit würdigem Ernst.

– Danke verbindlichst.

– Mit anderen Worten, es ist eine Rechnungsart, durch welche man die bestimmten Größen sucht, deren Differentiale man kennt.

– Das ist wenigstens klar gesprochen, erwiderte Michel mit der befriedigtsten Miene.

– Und jetzt, fuhr Barbicane fort, ein Stückchen Papier, ein Bleistift, und vor Ablauf einer halben Stunde will ich die begehrte Formel gefunden haben.

Darauf vertiefte sich Barbicane in diese Arbeit, während Nicholl in den Weltraum hinaus sah und seinem Kameraden überließ, für’s Frühstück zu sorgen.

Bevor eine halbe Stunde verflossen war, hob Barbicane den Kopf empor und zeigte Michel eine Seite voll algebraischer Zeichen, worunter diese allgemeine Formel:

»Und das bedeutet? … fragte Michel.

– Es bedeutet, erwiderte Nicholl: ein halb v in der zweiten minus v Null Quadrat ist gleich gr multiplicirt mit r auf x minus 1 plus m in der ersten auf m multiplicirt mit r auf d minus x, minus r auf d minus r …

– x auf y steigt auf z und reitet über p, rief Michel Ardan mit hellem Lachen. Und Du begreifst das, Kapitän?

– Nichts ist klarer.

– Wie so? sagte Michel. Aber das springt ja in die Augen, und mehr begehr‘ ich nicht.

– Immer nur lachen! versetzte Barbicane. Du wolltest Algebra, und nun hast Du vollauf!

– Lieber laß‘ ich mich hängen!

– Wahrhaftig! erwiderte Nicholl, der die Formel als Kenner prüfte, es scheint mir richtig aufgefunden, Barbicane. Es ist die Integrale der Gleichung lebender Kräfte, und ich zweifle nicht, daß sie uns das gesuchte Resultat ergiebt.

– Aber verstehen möcht‘ ich’s! rief Michel. Ich würde zehn Jahre von Nicholl’s Leben drum geben!

– Höre denn, Michel, fuhr Barbicane fort. Ein halb v in der zweiten minus v Null Quadrat ist die Formel, welche uns die halbe Veränderung der lebenden Kraft giebt.

– Gut, und Nicholl weiß, was das bedeutet?

– Allerdings, Michel, erwiderte der Kapitän. Alle diese Zeichen, welche Dir wie eine Geheimnißsprache vorkommen, bilden jedoch für den, der sie versteht, die klarste, deutlichste, logischste Sprache.

– Und Du behauptest, Nicholl, fragte Michel, daß Du vermittelst dieser Hieroglyphen, die noch unverständlicher sind, als die ägyptischen Ibis, finden könnest, welche Anfangsgeschwindigkeit man dem Projectil geben mußte?

– Unfehlbar, erwiderte Nicholl, und vermittelst derselben Formel werde ich Dir stets angeben können, wie groß seine Geschwindigkeit auf jedem Punkt seiner Fahrt ist.

– Dein Wort?

– Mein Wort darauf.

– Dann bist Du ein Schelm, wie unser Präsident?

– Nein, Michel, Barbicane hat etwas Schwieriges geleistet, indem er eine Gleichung aufstellte, welche alle Bedingungen des Problems berücksichtigt. Das Uebrige ist nur ein Rechenexempel, wofür man nur die vier Species zu kennen braucht.

– Das will schon etwas heißen! erwiderte Ardan, der in seinem Leben nicht ein Additions-Exempel fertig brachte, und diese Regel also definirte: ›Eine kopfbrechende Arbeit aus China, durch die man unbestimmte mannichfaltige Summen heraus bekommt.‹«

Barbicane jedoch versicherte, Nicholl hätte, wenn er darüber nachgesonnen, sicherlich auch diese Formel gefunden.

»Das glaub‘ ich nicht, sagte Nicholl, denn je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr erkenne ich ihre Vortrefflichkeit.

– Jetzt gieb Acht, sagte Barbicane zu seinem unwissenden Kameraden, und Du wirst sehen, daß alle diese Buchstaben ihre Bedeutung haben.

– Ich gebe Acht, sagte Michel mit anscheinender Resignation.

– d, sagte Barbicane, bedeutet die D-istanz des Centrums der Erde vom Centrum des Mondes, denn will man die Attractionen berechnen, so muß man die Centren nehmen.

– Das begreif‘ ich.

– r bezeichnet den R-adius der Erde.

– r, Radius. Zugegeben.

– Unter m wird die M-asse der Erde verstanden; unter m 1 die Masse des Mondes. In der That muß man die Masse der beiden anziehenden Körper in Berechnung ziehen, weil die Anziehungskraft im Verhältniß zu den Massen steht.

– Versteht sich.

– g bedeutet die g-ravitirende oder Schwerkraft, die Schnelligkeit eines auf die Erdoberfläche fallenden Körpers nach Verlauf einer Secunde. Ist das klar?

– Wasser aus einem Felsen! erwiderte Michel.

– Jetzt bezeichne ich mit x die veränderliche Distanz des Projectils vom Centrum der Erde, und mit v (vitesse) die Geschwindigkeit des Projectils bei dieser Distanz.

– Gut.

– Endlich, unter v Null, wie’s in der Gleichung vorkommt, verstehe ich die Geschwindigkeit, welche das Projectil hat, wenn es die Atmosphäre verläßt.

– In der That, an diesem Punkt muß man diese Geschwindigkeit berechnen, da wir bereits wissen, daß die Geschwindigkeit bei der Abfahrt genau drei Hälften der Geschwindigkeit beim Austritt aus der Atmosphäre gleichkommt.

– Immerfort, begreife! sagte Michel.

– Es ist doch sehr simpel, versetzte Barbicane.

– Nicht so simpel wie ich, entgegnete Michel.

– Das will heißen: als unser Projectil von der Grenze der Erdatmosphäre ankam, hatte es schon ein Drittel seiner Anfangsgeschwindigkeit verloren.

– So viel?

– Ja, mein Freund, lediglich durch seine Reibung an Schichten der Atmosphäre. Du begreifst wohl, daß, je schneller es dahin glitt, desto größer der Widerstand der Luft war.

– Das begreif‘ ich und geb’s zu, erwiderte Michel, obgleich Deine v Null in der zweiten, und Deine v Null Quadrat in meinem Kopf rappeln, wie Nägel in einem Sack.

– Das ist nur der erste Eindruck, den die Algebra macht, versetzte Barbicane. Und jetzt wollen wir, um zum Schluß zu kommen, das Zahlenergebniß dieser verschiedenen Ausdrücke aufstellen, d.h. ihren Werth beziffern.

– Kommen Sie nur zum Schluß! erwiderte Michel.

– Von diesen Ausdrücken, sagte Barbicane, sind einige bekannt, andere zu berechnen.

– Ich nehme die letzteren auf mich, sagte Nicholl.

– Sehen wir, fuhr Barbicane fort, r ist der Radius der Erde, welcher unter dem Breitegrad Florida’s, wo wir abfuhren, sechs Millionen dreimalhunderttausend Meter groß ist; d, d.h. die Distanz des Centrums der Erde von dem des Mondes, beträgt sechsundfünfzig Halbdurchmesser (Radien) der Erde, das macht …«

Nicholl rechnete schnell aus.

»Es macht«, sagte er, »dreihundertsechsundfünfzig Millionen siebenhundertundzwanzigtausend Meter zu der Zeit, wo der Mond in seiner Sonnennähe sich befindet.«

– Recht, sagte Barbicane. Jetzt m 1 auf m, d.h. das Verhältniß der Mondmasse zu der Erdmasse, beträgt den einundachtzigsten Theil.

– Ganz richtig, sagte Nicholl.

– g, die Schwerkraft, die Schnelligkeit in einer Secunde, ist zu Florida neun Meter 81. Daraus ergiebt sich, daß gr = …

– Zweiundsechzig Millionen viermalhundertsechsundzwanzigtausend Quadratmeter, erwiderte Nicholl.

– Und jetzt? fragte Michel Ardan.

– Jetzt, da die Ausdrücke beziffert sind, erwiderte Barbicane, will ich die Geschwindigkeit v Null suchen, d.h. die Geschwindigkeit, welche das Projectil beim Verlassen der Atmosphäre haben muß, um den Punkt zu erreichen, wo die Anziehungskraft eine Geschwindigkeit = Null hat. Weil zu dem Zeitpunkt gar keine Geschwindigkeit stattfindet, stelle ich auf, daß sie = 0, und daß x, die Entfernung dieses neutralen Punkts, durch neun Zehntel von d dargestellt ist, d.h. von der Distanz der beiden Centren.

– Ich habe eine unbestimmte Idee, daß es so richtig ist, sagte Michel.

– Dann werd‘ ich also haben: a = neun Zehntel von d, und v = Null, und meine Formel wird sein …

Barbicane schrieb hastig nieder:

Formel

Nicholl las mit gierigem Auge, und rief aus:

»Richtig! Richtig!«

– Ist’s klar? fragte Barbicane.

– Es steht in feurigen Buchstaben geschrieben! erwiderte Nicholl. – Wackere Leute! murmelte Michel.

– Hast Du’s endlich begriffen? fragte Barbicane.

– Ob ich’s begriff! rief Michel Ardan, aber es berstet mir darüber der Kopf!

– Also, fuhr Barbicane fort, v Null zwei = zwei gr multiplicirt mit 1, minus 10 r auf 9 d, minus 1/ 81 multiplicirt mit 10 r auf d minus r gegen d minus r .

– Und jetzt, sagte Nicholl, um die Geschwindigkeit des Geschosses beim Verlassen der Atmosphäre zu bekommen, braucht man nur zu rechnen.

Der Kapitän, ein allen Schwierigkeiten gewachsener Praktiker, begann mit erschrecklicher Schnelligkeit zu rechnen. Lange Divisions- und Multiplicationsexempel quollen unter seinen Fingern hervor. Es hagelte Ziffern auf sein weißes Blatt. Barbicane sah ihm gespannt zu, während Michel Ardan mit beiden Händen ein Kopfweh zu erdrücken suchte.

»Nun?« fragte Barbicane, nach einigen Minuten.

– Nun, die Rechnung ist fertig, erwiderte Nicholl, v Null, d.h. die Geschwindigkeit des Projectils beim Verlassen der Atmosphäre, mußte, um bis zum neutralen Punkt der Anziehung zu gelangen, betragen …

– Nun?

– Elftausendfünfhundertundein Meter in der ersten Secunde.

– Wie? sagte Barbicane aufspringend, Sie meinen?

– Elftausendfünfhundertundein Meter.

– Verdammt! rief der Präsident mit einer Handbewegung der Verzweiflung.

– Was fehlt Dir? fragte Michel Ardan überrascht.

– Was mir fehlt? Wenn zu der Zeit die Schnelligkeit durch die Reibung bereits um ein Drittel vermindert war, so mußte die Anfangsgeschwindigkeit betragen …

– Sechzehntausendfünfhundertsechsundsiebenzig Meter! erwiderte Nicholl.

– Und das Observatorium zu Cambridge erklärte, elftausend Meter seien bei der Abfahrt hinreichend, und unserem Projectil wurde nur diese Geschwindigkeit gegeben!

– Nun? fragte Nicholl.

– Nun! sie wird nicht hinreichen!

– Richtig!

– Wir werden nicht bis zum neutralen Punkt kommen!

– Sacrement!

– Nicht einmal halbwegs werden wir kommen!

– Hol‘ der Henker! rief Michel Ardan, und sprang empor, als wäre das Projectil schon im Begriff, am Erdball zu zerschellen.

– Und wir werden wieder auf die Erde fallen!

Fünftes Capitel


Fünftes Capitel

Die Kälte des Weltraums.

Diese Enthüllung war ein Donnerschlag. Wer hätte sich auch eines solchen Rechenfehlers versehen? Barbicane wollte nicht daran glauben. Nicholl revidirte seine Ziffern. Sie waren genau. Die Richtigkeit der Formel, worauf die Rechnung beruhte, ließ sich nicht bezweifeln, und eine wiederholte Prüfung ergab als ausgemacht, daß eine Anfangsgeschwindigkeit von sechzehntausendfünfhundertfünfundsiebenzig Meter in der ersten Secunde nothwendig war, um den neutralen Punkt zu erreichen.

Die drei Freunde sahen sich schweigend an. An Frühstück kein Gedanke. Barbicane schaute mit verbissenen Lippen, gerunzelter Stirne, krampfhaft geballter Faust durch die Fensterlucke. Nicholl kreuzte die Arme, und prüfte seine Berechnung. Michel Ardan brummte:

»Da seht mir diese Gelehrten! Sie haben nie Andere gescheit gemacht! Ich gäb‘ zwanzig Pistolen darum, wenn wir auf das Observatorium zu Cambridge fielen und es sammt allen Ziffernpfuschern drinnen zertrümmerten!«

Plötzlich richtete der Kapitän eine Bemerkung direct an Barbicane. »Jetzt ist es, sagte er, um sieben Uhr frühe. Wir sind also schon zweiunddreißig Stunden unterwegs. Ueber die Hälfte unserer Fahrt ist gemacht, und soviel ich wüßte, fallen wir nicht!«

Barbicane schwieg. Aber nach einem raschen Blick auf den Kapitän ergriff er einen Compaß, der ihm zum Messen des Winkelabstands des Erdballs diente. Darauf stellte er durch das Bodenfenster eine sehr genaue Beobachtung an, in Betracht der scheinbaren Unbeweglichkeit des Projectils. Dann stand er auf, trocknete den perlenden Schweiß von seiner Stirne und warf einige Ziffern auf’s Papier. Nicholl begriff, daß der Präsident beschäftigt war, aus dem Maß des Erddurchmessers die Entfernung des Projectils von der Erde zu berechnen. Er sah ihm gespannt zu.

»Nein! rief Barbicane nach einigen Augenblicken, wir sind nicht im Fallen begriffen! Wir sind schon über fünfzigtausend Lieues von der Erde entfernt! Wir sind schon über den Punkt hinaus, wo das Projectil hätte stille stehen müssen, wenn seine Geschwindigkeit bei der Abfahrt nur elftausend Meter betragen hätte! Wir fahren immer noch aufwärts!«

– »’s ist offenbar, erwiderte Nicholl, und es ist daraus abzunehmen, daß unsere Anfangsgeschwindigkeit durch die Wirkung der viermalhunderttausend Pfund Schießbaumwolle die geforderten elftausend Meter überstieg. Daraus erkläre ich mir, daß wir schon nach dreizehn Minuten dem zweiten Trabanten begegneten, dessen Bahn über zweitausend Lieues von der Erde entfernt ist.

– Und diese Erklärung ist um so wahrscheinlicher, fügte Barbicane hinzu, als das Projectil, nachdem das zwischen den Verschlägen befindliche Wasser hinausgetrieben war, plötzlich an Gewicht um ein Beträchtliches leichter wurde.

– Richtig! sagte Nicholl.

– Nun! mein wackerer Nicholl, rief Barbicane, dann sind wir gerettet!

– Nun denn, versetzte ruhig Michel Ardan, da wir gerettet sind, machen wir uns an’s Frühstück.«

Wirklich, Nicholl irrte sich nicht. Die Anfangsgeschwindigkeit war zum Glück höher gewesen, als das Observatorium zum Cambridge angegeben hatte, aber dieses hatte sich ebenfalls nicht geirrt.

Als die Reisenden sich von dem falschen Schrecken erholt hatten, begaben sie sich zu Tische und frühstückten lustig. Man speiste reichlich, und sprach noch mehr. Die Zuversicht nach »dem Zwischenfall der Algebra« war größer, wie zuvor.

»Warum sollten wir nicht Erfolg haben?« fragte wiederholt Michel Ardan. »Warum sollten wir nicht ankommen? Wir befinden uns auf der Fahrt ohne Hinderniß vor uns, ohne Steine auf dem Weg. Die Bahn ist frei, freier als die des Schiffs, welches mit den Wellen zu kämpfen, freier als der Ballon, der mit den Winden zu ringen hat! Wenn nun ein Schiff ankommt, wohin es segelt; wenn ein Ballon aufsteigt, wo es ihm beliebt, warum sollte unser Ballon nicht an dem beabsichtigten Ziel anlangen?

– Er wird dasselbe erreichen«, sagte Barbicane.

»Und wär‘ es auch nur, um das amerikanische Volk zu ehren, fügte Michel bei, das einzige Volk, welches im Stande war, eine solche Unternehmung gut auszuführen, das einzige, das einen Präsidenten Barbicane hervorbringen konnte! Ach! ich denke, da wir nicht mehr darüber in Unruhe zu sein brauchen, was aus uns werden wird, werden wir uns königlich langweilen!«

Barbicane und Nicholl gaben mit einem Wink ihre Nichteinstimmung zu erkennen.

– Aber ich habe schon dafür gesorgt, meine Freunde, fuhr Michel fort. Sie brauchen sich nur auszusprechen. Schach, Damenbret, Karten, Domino stehen zu Diensten! Nur ein Billard fehlt!

– Wie? Solch Spielzeug hast Du mitgenommen?

»Allerdings, erwiderte Michel, und zwar nicht allein zu unserm Zeitvertreib, sondern auch in der löblichen Absicht, die Wirthshäuser der Seleniten damit auszustatten.«

– »Mein Freund, sagte Barbicane, wenn der Mond Bewohner hat, so sind diese schon einige tausend Jahre vor den Erdbewohnern zum Dasein gekommen, denn es ist nicht daran zu zweifeln, daß dies Gestirn älter als das unserige ist. Wenn also Seleniten seit Hunderttausenden von Jahren existiren, wenn ihr Gehirn gleich dem des Menschen organisirt ist, so haben sie alle Erfindungen, die wir bis jetzt gemacht haben, bereits selbst gemacht, und noch jene dazu, die wir in den folgenden Jahrhunderten machen werden. Sie haben nichts von uns zu lernen, wir dagegen von ihnen.

– Wie? erwiderte Michel, Du meinst, sie hätten Künstler gehabt, wie Phidias, Michel Angelo oder Raphael?

– Ja.

– Dichter, wie Homer, Virgil, Milton, Göthe, Schiller, Lamartine, Hugo.

– Ganz gewiß.

– Philosophen wie Plato, Aristoteles, Descartes, Kant?

– Ohne Zweifel.

– Gelehrte wie Archimedes, Euklides, Pascal, Newton?

– Darauf wollt‘ ich schwören.

– Komiker wie Arnal, und Photographen wie … Nadar?

– Ich bin’s überzeugt.

– Dann aber, Freund Barbicane, wenn die Seleniten uns darin gleich sind und sogar übertreffen, warum haben sie nicht versucht, sich mit der Erde in Verkehr zu setzen? Warum haben sie nicht ein Projectil vom Mond zur Erde entsendet?

– Wer sagt Dir denn, daß sie’s nicht gethan haben? erwiderte Barbicane ernst.

– In der That, fügte Nicholl bei, war dies für sie leichter, als für uns, aus zwei Gründen: erstens weil auf der Oberfläche des Mondes die Anziehungskraft sechsmal geringer ist, als auf der Erdoberfläche, weshalb ein Projectil leichter aufsteigen kann; zweitens, weil man es nur achttausend Lieues anstatt achtzigtausend zu schleudern braucht, was eine zehnmal geringere treibende Kraft erforderlich macht.

– Dann, fuhr Michel fort, frage ich nochmals: Warum haben sie’s noch nicht gethan?

– Und ich wiederhole, versetzte Barbicane: Wer sagt Dir, daß sie’s noch nicht gethan haben?

– Wann?

– Es sind Jahrtausende verflossen, ehe der Mensch auf der Erde auftrat.

– Und die Kugel? Wo ist eine solche? Die möcht‘ ich sehen!

– Mein Freund, erwiderte Barbicane, fünf Sechstel unserer Erdkugel sind mit Meer bedeckt. Daher giebt’s fünf triftige Gründe, anzunehmen, daß, wenn ein Projectil vom Mond abgeschleudert wurde, dasselbe jetzt im Grunde des Meeres, des Atlantischen oder des Stillen, versenkt steckt, sofern es nicht zur Zeit, als die Erdrinde noch nicht völlig sich gebildet hatte, in eine Spalte hinein gedrungen ist.

– Mein werther Barbicane, erwiderte Michel, Du hast auf Alles eine Antwort, und ich verbeuge mich vor Deiner Weisheit. Doch schmeichelt mir eine Annahme vor allen anderen; nämlich daß die Seleniten, die doch älter als wir sind, nicht das Pulver erfunden haben!«

In diesem Augenblick mischte sich Diana mit lautem Bellen in die Unterhaltung. Sie verlangte ihr Frühstück.

»Ueber diesem Disputiren, sagte Michel Ardan, vergessen wir Diana und Trabant.«

Und sogleich wurde dem Thiere ein ansehnliches Gericht bereitet, das mit Heißhunger verschlungen wurde.

»Siehst Du, Barbicane, sagte Michel, wir hätten aus diesem Projectil eine Arche Noë machen, und von allen Hausthieren ein Paar mitnehmen sollen!«

– Allerdings, erwiderte Barbicane, aber es mangelte dafür an Raum.

– Richtig! sagte Michel, und rückte etwas näher bei.

– Unstreitig, erwiderte Nicholl, würden Ochse, Kuh, Pferd, alle Wiederkäuer uns auf dem Mond sehr nützlich sein. Leider konnte dieser Waggon nicht zu einem Stall werden.

– Aber wenigstens, sagte Michel Ardan, hätten wir einen Esel mitnehmen können, nur ein kleines Thier, so muthig und geduldig, wie das, worauf der alte Silenus so gerne ritt! Ich bin ein Freund dieser armen Esel! Diese Thiere sind wohl in der ganzen Schöpfung am meisten zurückgesetzt. Man behandelt sie nicht nur bei Lebzeiten mit Schlägen, sondern auch noch nach dem Tod!

– Wie so? fragte Barbicane.

– Weil man, sagte Michel, aus ihrer Haut Trommelfelle macht.

– Barbicane und Nicholl konnten sich bei dieser abgeschmackten Bemerkung des Lachens nicht erwehren. Aber ein Schrei ihres munteren Genossen stimmte sie anders.

Derselbe hatte sich über Trabant’s Lager gebückt, und richtete sich auf mit den Worten:

»Gut! Trabant ist nicht mehr krank.«

– »Ach! sagte Nicholl.

– Nein, fuhr Michel fort, er ist verendet. Das ist, fuhr er kläglich fort, doch bedauerlich. Ich fürchte sehr, arme Diana, daß Du auf dem Mondgebiet keine Sprößlinge mehr bekommen wirst!«

Wirklich hatte der unglückliche Trabant seine Wunden nicht zu überleben vermocht. Er war mausetodt. Michel Ardan blickte verstört seine Freunde an.

»Nun tritt die Frage ein, sagte Barbicane, was sollen wir in den achtundvierzig Stunden, die wir noch haben, mit dem Hund anfangen?«

– Wir können ihn allerdings nicht bei uns behalten, erwiderte Nicholl, aber unsere Fensterlucken, deren Läden mit Charnieren geschlossen sind, lassen sich öffnen. Wir machen eine auf und werfen den Leichnam hinaus.

Der Präsident überlegte eine Weile, dann sagte er: »Ja, das müssen wir thun, aber mit äußerster Vorsicht.«

– Weshalb? fragte Michel.

– Aus zwei Gründen, die Dir einleuchten werden, erwiderte Barbicane. Erstens, von der im Projectil enthaltenen Luft darf so wenig wie möglich entweichen.

– Aber wir erneuern ja diese Luft!

– Nur zum Theil. Wir ergänzen nur den Sauerstoff, lieber Michel, – und in dieser Hinsicht haben wir aufzupassen, daß unser Apparat denselben nicht so reichlich liefere, denn dieses Uebermaß würde in bedenklicher Weise Störungen unseres Gesundheitszustands herbeiführen. Aber den Stickstoff erneuern wir nicht, welchen die Lungen nicht einathmen, und der vollständig bleiben muß. Dieser Stickstoff nun würde durch die Lucken rasch entweichen.

– O! es ist Zeit, den armen Trabant hinauszuwerfen, sagte Michel.

– Ich stimme bei, aber verfahren wir rasch.

– Und der zweite Grund? fragte Michel.

– Zweitens darf die außen befindliche, äußerst große Kälte nicht in das Projectil dringen, wollen wir nicht erfrieren.

– Doch, die Sonne …

– Die Sonne wärmt wohl unser Projectil, das ihre Strahlen aufsaugt, aber nicht den leeren Raum, in welchem wir uns eben bewegen. Wo keine Luft ist, ist auch ebenso wenig Wärme als Licht verbreitet, und da, wohin die Sonnenstrahlen nicht direct fallen, ist’s ebenso kalt wie dunkel. Diese Temperatur ist daher nicht höher, als die von den Strahlen der Sterne herrührende, d.h. diejenige, welche der Erdball haben würde, wenn die Sonne nur einen Tag erlöschte.

– Das ist aber nicht zu fürchten, versetzte Nicholl.

– Wer weiß? sagte Michel Ardan. Uebrigens, geben wir auch zu, daß die Sonne nicht erlösche, ist’s nicht möglich, daß die Erde sich von ihr entferne?

– Gut! sagte Barbicane, das sind wieder Michel’s Ideen!

– So! fuhr Michel fort, ist’s nicht bekannt, daß die Erde im Jahre 1861 durch den Schweif eines Kometen gegangen ist? Denken wir uns nun einen Kometen von größerer Anziehungskraft, als die der Sonne ist, so wird die Bahn der Erde sich nach dem Wandelstern hin ausbiegen, und die Erde wird so weit als sein Trabant hinweggezogen werden, daß die Sonnenstrahlen nicht mehr auf ihre Oberfläche einwirken können.

– Das könnte wohl wirklich geschehen, erwiderte Barbicane, aber die Folgen einer solchen Aenderung in der Bahn möchten wohl nicht so fürchterlich sein, als Du annimmst.

– Und warum?

– Weil dann immer noch auf unserem Erdball Kälte und Wärme sich im Gleichgewicht halten würden. Man hat ausgerechnet, daß, wenn die Erde im Jahre 1861 vom Kometen wäre mit fortgezogen worden, sie bei seiner weitesten Entfernung von der Sonne nicht eine sechzehnfach größere Wärme empfunden haben würde, als die ist, welche wir vom Monde bekommen, welche im Brennpunkt der stärksten Linsen concentrirt, durchaus keine merkbare Wirkung äußert.

– Nun? sagte Michel.

– Warte ein wenig, erwiderte Barbicane. Man hat auch berechnet, daß bei seiner Sonnennähe, seinem der Sonne am nächsten kommenden Stand, die Erde eine achtundzwanzigtausendfach größere Hitze auszustehen haben würde, als in unserem Sommer. Aber diese Hitze, welche die Erdstoffe zu Glas zerschmelzen und die Gewässer in Dunst aufzulösen fähig sein würde, hätte einen dicken Ring von Gewölk gebildet, welches die übermäßige Hitze gemindert haben würde. Daraus ergiebt sich eine Ausgleichung zwischen der Kälte der Sonnenferne und der Hitze der Sonnennähe, und ein vermuthlich erträgliches Mittelmaß.

– Aber wie hoch schätzt man die Temperatur der Planetenräume? fragte Nicholl.

– Früher, erwiderte Barbicane, hielt man diese Temperatur für äußerst niedrig. Indem man das wachsende Sinken des Thermometers berechnete, rechnete man Millionen von Graden unter Null heraus. Fourier, ein Landsmann Michel’s und berühmter Gelehrter der Akademie der Wissenschaften, hat diese Zahlen auf richtigere Maße zurückgeführt. Ihm zufolge sinkt die Temperatur des Weltraums nicht unter sechzig Grad herab.

– Pöh!

– Das ist, fuhr Barbicane fort, ungefähr die in den Polargegenden, auf der Insel Melville oder auf dem Fort Reliance, beobachtete Temperatur, nämlich sechsundfünfzig hunderttheilige Grad unter Null.

– Es bleibt noch zu beweisen, sagte Nicholl, daß Fourier sich nicht bei seinen Schätzungen geirrt hat. Irre ich nicht, so schätzt ein anderer Franzose, Pouillet, die Temperatur des Raumes auf hundertundsechzig Grad unter Null. Darüber wollen wir das Richtige feststellen.

– Nicht in diesem Augenblick, erwiderte Barbicane, denn die direct auf unser Thermometer wirkenden Sonnenstrahlen würden im Gegentheil eine sehr hohe Temperatur ergeben. Aber wenn wir auf dem Mond angekommen sind, während der vierzehntägigen Nächte, welche abwechselnd auf seiner Oberfläche stattfinden, werden wir Zeit genug haben, dieses Experiment zu machen, denn unser Trabant bewegt sich im leeren Raum.

– Aber was verstehst Du unter leer? fragte Michel, giebt’s etwas absolut Leeres?

– Der von Luft absolut leere Raum.

– Und worin nichts anderes die Luft ersetzt hat?

– Ja. Der Aether, erwiderte Barbicane.

– Ach! Aether, was ist das?

– Aether ist eine Masse unwägbarer Atome, welche bezüglich ihrer Dimensionen, sagen die Lehrbücher der Molecularphysik, ebenso von einander getrennt sind, wie die Himmelskörper im Weltraum. Ihr Abstand von einander beträgt jedoch nicht ganz ein drei Milliontheil eines Millimeters. Diese Atome bringen durch ihre Schwungbewegung das Licht und die Wärme hervor, indem sie in einer Secunde vierhundertunddreißig Trillionen Schwingungen machen, bei einer Größe von vier bis sechs Zehntausendtheilen eines Millimeters.

– Milliarden von Milliarden! rief Michel Ardan; man hat also diese Schwingungen gemessen und gezählt! Das Alles, Freund Barbicane, sind Ziffern der Gelehrten, welche das Ohr in Schrecken setzen und dem Geist nichts sagen.

– Man muß doch gut ziffern können ….

– Nein! Besser ist vergleichen. Eine Trillion bedeutet Nichts. Ein Vergleichungsgegenstand sagt Alles. Zum Beispiel: Wenn Du mir noch so oft vorsagst, der Massengehalt des Uranus sei sechsundsiebenzigmal so groß, als der der Erde, die Masse Saturn’s sei neunhundertmal größer, Jupiter’s dreizehnhundertmal, der Sonne dreizehntausendmal, so bin ich damit nicht viel weiter. Auch ziehe ich die alten Vergleichungen des Double Liégeois weit vor, der ganz einfach aussagt: »Die Sonne ist ein Kürbis von zwei Fuß Durchmesser, Jupiter eine Orange, Saturn ein Api-Apfel, Neptun eine kleine Süßkirsche, Uranus eine dicke Kirsche, die Erde eine Erbse, Mars ein dicker Stecknadelskopf, Merkur ein Senfkorn, Juno, Ceres, Vesta, Pallas bloße Sandkörner! Man weiß wenigstens, woran man sich halten soll!«

Nach diesem Ausfall Michel Ardan’s gegen die Gelehrten, und diese Trillionen, welche sie in einem Augenblick an einander reihen, schritt man zur Bestattung Trabant’s. Es handelte sich darum, den Leichnam hinauszuwerfen, wie die Matrosen es auf dem Meere machen. Doch, wie Barbicane anempfohlen hatte, verfuhr man dabei rasch, um so wenig Luft als möglich dabei zu verlieren, die durch ihre Elasticität reißend schnell entwichen wäre. Die Bolzen der Oeffnung auf der rechten Seite, die etwa dreißig Centimeter maß, wurden sorgfältig abgeschraubt, indeß Michel in voller Betrübniß den Hund zum Hinauswerfen fertig machte. Die Fensterscheibe, durch einen starken Hebel in Bewegung gesetzt, der den Druck der inneren Luft überwand, drehte sich rasch vermittelst seiner Charnière, und Trabant flog hinaus. Es entwichen kaum einige Elementartheilchen Luft, und es ging dabei so rasch her, daß Barbicane später kein Bedenken hatte, sich auf diese Weise noch anderer unnützer Trümmer zu entledigen.

Sechstes Capitel


Sechstes Capitel

Fragen und Antworten.

Am 4. December wiesen die Chronometer auf fünf Uhr früh Morgens nach irdischer Berechnung, als die Reisenden nach vierundfünfzigstündiger Fahrt erwachten. Der Zeit nach waren sie erst um fünf Stunden und vierzig Minuten über die Hälfte der für die Fahrt angezeigten Dauer hinaus; von dieser Fahrt aber hatten sie schon beinahe sieben Zehntel zurückgelegt. Dieser eigenthümliche Umstand war der regelmäßigen Abnahme ihrer Geschwindigkeit zuzuschreiben.

Wenn sie die Erde von ihrem Fußbodenfenster aus beobachteten, erschien sie ihnen nur noch wie ein dunkler Flecken in einem Meer von Sonnenstrahlen. Keine Sichelform, kein aschfarbenes Licht mehr. Am folgenden Tag um Mitternacht, gerade zur Zeit des Vollmonds, mußte die Erde Neulicht haben. Oben näherte sich der Mond mehr und mehr der Linie ihrer Fahrt, so daß das Projectil zu der festgesetzten Stunde mit ihm zusammentreffen mußte. Ringsumher war das schwarze Himmelsgewölbe mit glänzenden Punkten besäet, welche langsam ihre Stelle zu ändern schienen. Aber bei der bedeutenden Entfernung schien ihre verhältnißmäßige Größe nicht geändert. Sonne und Sterne erschienen gerade so, wie man sie von der Erde aus schaut. Der Mond zeigte sich um ein Beträchtliches größer; aber mit ihren Fernröhren, welche überhaupt nicht weit reichten, vermochten die Reisenden noch nicht auf seiner Oberfläche ausgiebige Beobachtungen anzustellen, topographische oder geologische Eigenthümlichkeiten zu erkennen.

So verfloß denn auch die Zeit in fortgesetzten Unterhaltungen. Man plauderte vom Mond überhaupt, wobei jeder zum Besten gab, was er an Kenntnissen Besonderes hatte, Barbicane und Nicholl stets ernst, Michel Ardan stets phantastisch. Das Projectil, seine Lage und Richtung, die Zwischenfälle, welche eintreten konnten, die Vorsichtsmaßregeln, welche ein bevorstehender Fall auf den Mond erforderlich machte – dies alles bot unerschöpflichen Stoff zu Muthmaßungen.

Eben beim Frühstück rief eine auf das Projectil bezügliche Frage Michel’s eine merkwürdige Beantwortung von Seiten Barbicane’s hervor.

Michel, in Voraussetzung, das Geschoß werde, während es mit seiner furchtbaren Geschwindigkeit in voller Bewegung war, zu einem plötzlichen Innehalten veranlaßt, wünschte zu wissen, welche Folgen ein solcher Anhalt haben würde.

»Aber«, erwiderte Barbicane, »ich sehe nicht ein, wie das Projectil zu einem Innehalten veranlaßt werden könnte.«

– Nehmen wir den Fall an, erwiderte Michel.

– Ein solcher Fall könnte nicht wirklich werden, versetzte der praktische Barbicane, sofern nicht die treibende Kraft in Abgang kommen sollte. Allein dann würde seine Geschwindigkeit allmälig abnehmen, ein plötzlicher Stillestand würde nicht eintreten.

– Angenommen, es stoße wider einen Körper an.

– Was für einen Körper?

– So ein Bolide, welchem wir begegnet sind.

– Dann, sagte Nicholl, würde das Projectil in tausend Stücke zersplittert, und wir mit.

– Noch besser, versetzte Barbicane, wir würden lebendig verbrannt.

– Verbrannt! rief Michel. Wahrhaftig! Ich bedauere, daß der Fall nicht eingetreten ist, »um es mit anzusehen«.

– »Und Du würdest es erlebt haben, erwiderte Barbicane. Man weiß jetzt, daß die Wärme nur eine Modification der Bewegung ist. Wenn man Wasser siedet, d.h. wenn man seine Wärme vermehrt, so bedeutet das, man vermehrt die Bewegung seiner Elementartheilchen.

– Nun! sagte Michel, das ist ja eine geniale Theorie!

– Und eine richtige, mein werther Freund, denn sie erklärt alle Erscheinungen des Wärmestoffs. Die Hitze ist nur eine Bewegung der Elementartheile, eine bloße Schwingung der Theilchen eines Körpers. Wenn man einen Zug zum Stillestehen bringt, so hält der Zug an. Aber was wird aus der Bewegung, welche ihn trieb? Sie verwandelt sich in Wärme, und der hemmende Zügel wird heiß. Warum schmiert man die Achse der Räder mit Fett? Um sie zu hindern, in Hitze zu kommen, in Betracht, daß die durch die Umwandlung verlorene Bewegung zu Hitze wird. Begreifst Du?

– Ob ich’s begreife! erwiderte Michel, zum Staunen! So zum Beispiel, wenn ich lange gelaufen und ganz in Schweiß bin, daß mir die Tropfen rinnen, weshalb muß ich inne halten? Ganz einfach, weil meine Bewegung sich in Wärme verwandelt hat!«

Barbicane konnte bei Michel’s Erwiderung das Lachen nicht halten. Dann kam er auf seine Theorie zurück und sprach:

»Also im Fall eines Anstoßes wäre es unserem Projectil ergangen, wie einer Kugel, welche, nachdem sie auf eine eiserne Platte getroffen, brennend heiß nieder fällt. Ihre Bewegung hat sich in Hitze verwandelt. Demnach behaupte ich, daß, wäre unsere Kugel mit dem Boliden zusammengestoßen, seine mit einem Male aufgehobene Geschwindigkeit eine Hitze erzeugt hätte, welche es augenblicklich zu verflüchtigen im Stande war.

– Dann, fragte Nicholl, was für eine Folge würde eintreten, wenn die Erde plötzlich in ihrer Umlaufbewegung gehemmt würde?

– Ihre Temperatur würde einen Höhegrad erreichen, erwiderte Barbicane, daß sie unverzüglich in Dünste aufgelöst würde.

– Gut, sagte Michel, da gäb’s also ein höchst einfaches Mittel, der Welt ein Ende zu machen.

– Und wenn die Erde auf die Sonne fiele? sagte Nicholl.

– Den Berechnungen nach, erwiderte Barbicane, würde dieser Fall eine Hitze entwickeln gleich der von sechzehnhundert Kohlenkugeln von der Größe des Erdballs.

– Das würde der Sonnenhitze einen hübschen Zuwachs geben, versetzte Michel Ardan, worüber die Bewohner des Uranus und Saturn sich gewiß nicht beklagen würden, denn die müssen auf ihrem Planeten eine entsetzliche Kälte auszustehen haben.

– Also, meine Freunde, fuhr Barbicane fort, jede plötzlich zum Stillstand gebrachte Bewegung erzeugt Wärme. Und diese Theorie gestattet die Annahme, daß die Hitze der Sonnenscheibe durch einen Hagel von Boliden, welche unaufhörlich auf ihre Oberfläche fallen, unterhalten wird. Man hat selbst berechnet …

– Verlassen wir uns nicht darauf, brummte Michel, das sind Ziffern, die gehen in’s Weite.

– Man hat selbst berechnet, sagte Barbicane, ohne sich stören zu lassen, daß das Zusammenstoßen eines jeden Boliden mit der Sonne eine Hitze erzeugen muß, welche der von viertausend Massen Kohlen von demselben Kubikinhalt gleich kommt.

– Und wie stark ist die Sonnenhitze? fragte Michel.

– Sie ist gleich derjenigen, welche durch das Verbrennen einer um die Sonne herumgelegten siebenundzwanzig Kilometer dicken Kohlenschichte erzeugt würde.

– Und diese Hitze? …

– Sie würde fähig sein, stündlich zwei Milliarden, neunhundert Millionen Kubikmyriameter Wasser siedend zu machen.

– Und sie röstet uns nicht? rief Michel.

– Nein, erwiderte Barbicane, weil die Erdatmosphäre vier Zehntel der Sonnenhitze verzehrt. Uebrigens beträgt die Quantität der von der Erde aufgefangenen Sonnenwärme nur zwei Milliardetheile der Gesammtausstrahlung derselben.

– Ich sehe wohl, daß Alles zum Besten dient, versetzte Michel, und daß diese Atmosphäre eine nützliche Erfindung ist, denn sie vergönnt uns nicht allein zu athmen, sondern verhindert uns auch zu braten.

– Ja, sagte Nicholl, und leider wird’s auf dem Mond nicht ebenso sein.

– Bah! sagte Michel, stets voll Zuversicht. Wenn’s dort Bewohner giebt, so athmen sie auch. Giebt’s keine mehr, so werden sie wohl Sauerstoff übrig gelassen haben, der für drei Personen ausreicht, sei’s auch im Grund der Schluchten, wo er durch seine Schwere sich ansammelte! Nun! Die Berge werden wir nicht erklettern können! Das ist Alles.«

Michel stand auf und betrachtete die Mondscheibe, deren Glanz so stark war, daß man nicht hineinschauen konnte.

»Sacrement!« sagte er, »es muß doch warm da oben sein.«

– »Nicht zu rechnen, erwiderte Nicholl, daß der Tag dort dreihundertundsechzig Stunden dauert!

– Zur Ausgleichung, sagte Barbicane, sind die Nächte da eben so lang, und da die Wärme durch Strahlen erneuert wird, so dürfte ihre Temperatur nicht anders sein, als die der Planetenräume.

– Ein hübsches Land! sagte Michel. Gleichviel! Ich möchte schon dort sein! Nicht wahr, liebe Kameraden, es wird recht merkwürdig sein, wenn man die Erde zum Mond hat, sie am Horizont aufgehen sieht, die Gestaltung ihrer Continente erkennt und sich sagt: hier ist Amerika, hier Europa! dann ihr mit den Blicken folgt, wenn sie sich in den Sonnenstrahlen verliert! – Ei, Barbicane, giebt’s denn Finsternisse für die Seleniten?

– Ja, Sonnenfinsternisse, erwiderte Barbicane, wann sich die Centren der drei Gestirne in der nämlichen Linie befinden, die Erde in der Mitte.

Aber sie sind nur ringförmig, indem die Erde gleich einem vor die Sonnenscheibe gestellten Schirm, den größeren Theil derselben unbedeckt läßt.

– Und warum, fragte Nicholl, giebt’s keine totale Verfinsterung? Reicht nicht der von der Erde geworfene Schattenkegel über den Mond hinaus?

– Ja, wenn man die von der Erdatmosphäre bewirkte Brechung der Strahlen nicht berücksichtigt. Nein, wenn man dieselbe in Betracht zieht. Also sei d 1 die horizontale Parallaxe und r 1 er halbe scheinbare Durchmesser.

– O! sagte Michel, ein halb v Null Quadrat …! Sprich doch, daß es Jedermann versteht, Algebramensch!

– Nun denn in gewöhnlicher Sprache, erwiderte Barbicane. Da die mittlere Entfernung des Mondes von der Erde sechzig Erdradien beträgt, so beschränkt sich die Länge des Schattenkegels in Folge der Strahlenbrechung auf nicht ganz zweiundvierzig Radien. Daraus ergiebt sich, daß zur Zeit der Verfinsterungen der Mond sich außerhalb des reinen Schattenkegels befindet, und daß die Sonne ihm nicht allein die Strahlen ihres Randes, sondern auch die ihres Centrums zusendet.

– Dann, sagte Michel spöttisch, weshalb giebt’s denn eine Finsterniß, da ja keine stattfinden soll?

– Blos deshalb, weil die Sonnenstrahlen durch die Lichtbrechung geschwächt sind, indem die Atmosphäre, durch welche sie dringen, den größeren Theil derselben verschlingt!

– Dieser Grund ist befriedigend, erwiderte Michel. Uebrigens, wir werden’s wohl zu sehen bekommen, wenn wir dort sind. – Jetzt sag‘ mir, Barbicane, glaubst Du, daß der Mond ein vormaliger Komet sei?

– Das ist einmal wieder eine Idee!

– Ja, versetzte Michel mit liebenswürdiger Albernheit, ich habe manchmal Ideen der Art.

– Aber diese Idee rührt nicht von Michel her, erwiderte Nicholl.

– Gut! So bin ich ein Ideendieb!

– Allerdings, entgegnete Nicholl. Nach dem Zeugniß der Alten behaupteten die Arkadier, ihre Vorfahren hätten bereits auf der Erde gewohnt, als sie noch nicht den Mond zum Trabanten hatte. Von dieser Thatsache ausgehend haben manche Gelehrte den Mond für einen Kometen gehalten, den seine Bahn einmal der Erde so nahe brachte, daß er von ihrer Anziehungskraft festgehalten wurde.

– Und was ist denn Wahres an dieser Annahme? fragte Michel.

– Nichts, erwiderte Barbicane, und es läßt sich dies durch den Umstand beweisen, daß der Mond keine Spur von der gashaften Umhüllung bewahrt hat, die sich bei den Kometen stets findet.

– Aber, fuhr Nicholl fort, war es nicht möglich, daß der Mond, bevor er Trabant der Erde ward, bei seiner Sonnennähe so nahe an dieselbe herankam, daß er alle diese Gassubstanzen durch Verdünstung verlor?

– Möglich wohl, Freund Nicholl, aber nicht wahrscheinlich.

– Warum?

– Weil … Meiner Treu‘, ich weiß nicht.

– Ei! rief Michel, wie viele Hundert Bücher lassen sich davon schreiben, was man nicht weiß!

– Laß das! Wie viel Uhr ist’s? fragte Barbicane.

– Drei Uhr, erwiderte Nicholl.

– Wie doch bei der Unterhaltung so gelehrter Leute, wie wir sind, die Zeit hingeht! Sicherlich, ich merke, daß ich zu viel lerne! ich fühle, daß ich zu einem Brunnen werde!«

Mit diesen Worten schwang sich Michel zur Decke des Projectils empor, »um den Mond besser zu schauen«, wie er angab. Während dessen schauten seine Gefährten durch das untere Fenster in den Raum hinaus. Nichts Neues zu melden.

Als Michel wieder herabstieg, kam er bei der einen Seitenlucke vorüber, und stieß plötzlich einen Schrei der Verwunderung aus.

»Was giebt’s denn?« fragte Barbicane.

Der Präsident trat an das Fenster und gewahrte eine Art von plattem Sack, der einige Meter vom Projectil entfernt schwebte. Der Gegenstand schien unbeweglich, wie die Kugel, folglich war er von derselben Bewegung aufwärts getrieben.

»Was ist das für eine Maschine? fragte Michel Ardan wiederholt. Ist’s ein im Weltraum schwebender kleiner Körper, den unser Projectil im Bereich seiner Anziehung festhält und es bis zum Mond begleiten will?«

– »Ich staune nur, erwiderte Nicholl, daß die specifische Schwere dieses Körpers, welche gewiß weit geringer ist, als die der Kugel, ihm gestattet, sich so strenge in ihrem Niveau zu halten!

– Nicholl, erwiderte Barbicane nach kurzem Besinnen, ich weiß nicht, was es für ein Gegenstand ist, aber ich weiß doch, weshalb er sich dem Projectil quer gegenüber hält.

– Und weshalb?

– Weil wir uns im luftleeren Raum bewegen, lieber Kapitän, und in einem solchen leeren Raum fallen oder bewegen sich – was einerlei ist – die Körper mit gleicher Geschwindigkeit, ohne Rücksicht auf ihre Schwere oder Gestalt. Der Widerstand der Luft verursacht die Verschiedenheit des Gewichts. Wenn man mit einer Luftpumpe eine Röhre entleert, so fallen die hineingeworfenen Gegenstände, Staub- oder Bleikörner, mit gleicher Schnelligkeit hinein. Hier im leeren Weltraum erzeugt dieselbe Ursache gleiche Wirkung.

– Sehr richtig, sagte Nicholl, und Alles, was wir aus dem Projectil hinauswerfen, wird uns auf der ganzen Fahrt bis zum Mond unablässig begleiten.

– Ach was sind wir für Dummköpfe! rief Michel.

– Wir hätten das Projectil mit nützlichen Gegenständen, Büchern, Instrumenten, Werkzeugen etc. ganz füllen sollen. Dann hätten wir alles hinausgeworfen, und ›Alles‹ würde in einem Zug mit gefahren sein! Aber ich denke weiter: Weshalb begeben wir uns nicht hinaus, wie dieser Bolid? Warum springen wir nicht aus den Fenstern in den Raum hinaus? Was wäre das für eine Luft, so im Aether zu schweben, ohne daß wir, wie der Vogel mit Flügeln zu schlagen brauchten.

– Einverstanden, sagte Barbicane, aber wie sollten wir athmen?

– Daß auch die verdammte Luft so zur Unzeit fehlt!

– Aber, wenn sie auch nicht fehlte, Michel, da Dein Körper weniger dicht ist, als der des Projectils, so würdest Du sehr bald zurückbleiben.

– Dann ist’s ein verkehrter Zirkel.

– Das Verkehrteste, was es giebt.

– So müssen wir im Waggon eingeschlossen bleiben?

– Ja wohl.

– Unmöglich! rief Michel mit fürchterlichem Ton.

– Was ist Dir? fragte Nicholl.

– Ich weiß, ich rathe, was es mit dem vermeintlichen Boliden für eine Bewandtniß hat! Nicht ein Asteroïd begleitet uns, nicht ein Planetenstückchen.

– Nun, was ist’s denn? fragte Barbicane.

– Unser verendeter Hund! Diana’s Gatte!«

Wirklich, dieser mißgestaltete, unkenntliche, zu Nichts gewordene Gegenstand war Trabant’s Leichnam, platt wie ein nicht aufgeblasener Dudelsack, in steter Bewegung aufwärts.

Siebentes Capitel


Siebentes Capitel

Ein Moment der Berauschung.

So begab sich also unter diesen ganz besonderen Bedingungen ein merkwürdiges, aber logisches, seltsames, doch erklärbares Ereigniß. Jeder aus dem Projectil herausgeworfene Gegenstand mußte dieselbe Bahn gehen und nur gemeinsam mit demselben stille stehen. Dieser Gegenstand der Unterhaltung ließ sich diesen Abend nicht erschöpfen. Die Gemüthsbewegung der drei Reisenden steigerte sich übrigens in dem Verhältniß, wie sie ihrem Reiseziel näher kamen. Sie hielten sich auf unvorhergesehene, neue Erscheinungen gefaßt, und in ihrer Geistesstimmung hätte sie nichts in Verwunderung gebracht. Ihre überreizte Phantasie eilte dem Projectil voraus, dessen Geschwindigkeit bedeutend abnahm, ohne daß sie’s merkten. Aber der Mond wurde vor ihren Augen größer, und sie meinten schon, sie brauchten nur die Hand auszustrecken, um ihn zu fassen.

Am folgenden Morgen, 5. December, waren sie schon früh um fünf Uhr auf den Beinen. Dieser Tag sollte der letzte ihrer Reise sein, wenn die Berechnung richtig war. An demselben Abend um Mitternacht, binnen achtzehn Stunden, gerade bei Eintritt des Vollmonds, sollten sie bei seiner glänzenden Scheibe an langen. Zu Mitternacht sollte diese Reise, die außerordentlichste in alter und neuer Zeit, zur Vollendung kommen. Daher begrüßten sie auch in aller Frühe durch die von seinen Strahlen versilberten Fenster das Nachtgestirn mit zuversichtlichem, freudigem Hurrahrufen.

Der Mond schritt majestätisch am bestirnten Firmament weiter. Noch einige Grade, und er kam just zu der Stelle im Raum, wo das Zusammentreffen mit dem Projectil stattfinden sollte. Nach seinen eigenen Beobachtungen rechnete Barbicane darauf, an seiner Nordhälfte auf ihn zu stoßen, wo unermeßliche Ebenen sich ausdehnen und wenig Gebirg ist. Ein günstiger Umstand dies, falls die Mondatmosphäre, wie man dachte, nur in den Niederungen sich befand.

»Zudem, bemerkte Michel Ardan, ist eine Ebene zum Anlanden geeigneter, als ein Gebirg. Wenn ein Selenit in Europa auf dem Gipfel des Montblanc, oder in Asien auf der Spitze des Himalaya herabkäme, so bliebe ihm noch ein Stückchen der Reise zu machen!

– Ferner, fügte der Kapitän Nicholl hinzu, wird in ebener Gegend das Projectil, sobald es den Boden berührt, unbeweglich sein. Auf einem Abhange dagegen würde es wie eine Lavine fortrollen, und da wir keine Eichhörnchen sind, würden wir nicht mit heiler Haut davon kommen. Es ist also so in jeder Hinsicht am besten.«

In der That schien der glückliche Erfolg des kühnen Unternehmens nicht mehr zweifelhaft. Ein Gedanke jedoch machte Barbicane Sorge; aber um seine Genossen nicht zu beunruhigen, schwieg er darüber.

Die Richtung des Projectils nach der Nordhälfte des Mondes bewies, daß seine Fahrt ein wenig von ihrer Linie abgewichen war. Mathematisch genommen mußte die Kugel gerade das Centrum der Mondscheibe treffen; nur durch eine Abweichung konnte es anderswohin sich richten. Woher kam eine solche? Barbicane konnte sich’s nicht denken, noch über die Bedeutung dieser Abweichung urtheilen, weil ihm die Merkzeichen dafür abgingen. Er hoffte jedoch, es werde nur das zur Folge haben, daß man dem oberen Rand des Mondes zugeführt würde, eine zum Landen geeignetere Gegend.

Barbicane beschränkte sich daher, ohne seine Besorgnisse seinen Freunden mitzutheilen, darauf, den Mond häufig zu beobachten, um zu erkennen, ob sich die Richtung des Projectils nicht ändere. Denn es würde eine fürchterliche Lage sein, wenn die Kugel, ihr Ziel verfehlend, über die Mondscheibe hinaus in die Planetenräume gelangte.

In diesem Augenblick ließ der Mond, anstatt daß er bisher flach wie eine Scheibe schien, seine Wölbung bereits wahrnehmen. Hätten die Sonnenstrahlen ihn schräg von der Seite getroffen, so würde der geworfene Schatten die hohen Gebirge, welche dann klar hervortraten, haben erkennen lassen; der Blick hätte in den klaffenden Grund seiner Krater dringen, und die launenhaften Streifen, welche über seine unermeßlichen Ebenen ziehen, verfolgen können. Aber jede Erhöhung verlor sich noch in dem starken Lichtglanz. Kaum konnte man die großen Flecken unterscheiden, welche dem Mond den Anschein eines menschlichen Angesichts geben.

»Menschengesicht, meinetwegen, sagte Michel Ardan, aber es thut mir leid für die liebenswürdige Schwester Apollo’s, ein benarbtes Gesicht!«

Inzwischen beobachteten die Reisenden, so nahe ihrem Ziel, unablässig diese neue Welt. Ihre Phantasie ließ sie die unbekannten Landschaften durchwandern. Sie erklimmten hohe Berggipfel, stiegen in den Grund der weiten Ringgebirge hinab. Hie und da glaubten sie ungeheure Meere zu sehen, die unter einer dünnen Atmosphäre kaum bestehen konnten, und Bäche, die den Tribut der Gebirge zollten. Ueber den Abgrund gebeugt hofften sie von dem Gestirn her Geräusch zu vernehmen, das in der Einsamkeit des leeren Raumes ewig stumm blieb.

Von diesem letzten Tage blieben ihnen tiefe Erinnerungen. Sie zeichneten die geringsten Details auf. Es durchdrang sie eine unbestimmte Unruhe in dem Verhältniß, wie sie sich dem Ziele näherten, und diese Unruhe wäre noch größer gewesen, wenn sie die geringe Geschwindigkeit, mit der sie fuhren, gewahr geworden wären. Sie würde ihnen wohl unzureichend vorgekommen sein, um sie bis an ihr Ziel zu bringen. Das Projectil hatte damals fast kein Gewicht mehr. Dieses nahm beständig ab, und mußte am Ende auf der Linie verschwinden, wo die Anziehungskräfte des Mondes und der Erde sich gegenseitig aufhoben, was überraschende Wirkungen hervorbrachte.

Trotz dieser beunruhigenden Gedanken vergaß jedoch Michel Ardan nicht, das Frühstück mit gewohnter Pünktlichkeit zu bereiten, und man aß mit großem Appetit. Die Bouillon war vortrefflich; nicht minder das conservirte Fleisch. Einige Gläser guten Franzweins setzten dem Mahle die Krone auf. Und bei dieser Gelegenheit bemerkte Michel Ardan, daß die Mondweinberge – wofern es solche gäbe, – bei dieser glühenden Hitze die feurigsten Weine erzeugen müßten. Für jeden Fall hatte der vorsorgliche Franzose nicht vergessen, einige köstliche Reben, als Medoc und Côte d’or, in sein Packet zu thun, worauf er hauptsächlich baute.

Der Apparat Reisset und Regnault war fortwährend sehr pünktlich in Thätigkeit, so daß die Luft in völlig reinem Zustand blieb. Kein Elementartheilchen Kohlensäure, das nicht von dem Kali verschlungen ward, und vom Sauerstoff versicherte der Kapitän Nicholl, »er sei erster Qualität«. Etwas Wasserdünste im Projectil mischten sich mit dieser Luft und milderten ihre Trockenheit, und man kann sagen, daß viele Wohnungen in Paris, London oder New-York, viele Theatersäle sich gewiß nicht in so günstigem Gesundheitszustand befinden.

Doch mußte, um regelmäßig thätig zu sein, dieser Apparat in vollkommenem Zustand erhalten werden. Daher untersuchte Michel jeden Morgen die Regulatoren der Ausströmung, probirte die Hahnen, regelte mit dem Pyrometer den Wärmegrad des Gases. So ging bisher Alles gut, und die Reisenden fingen an, nach dem Beispiel des würdigen J.T. Maston eine Wohlbeleibtheit zu gewinnen, daß man sie nicht wieder erkannt haben würde, wenn sie einige Monat lang in diesem Gefängniß geblieben wären. Sie befanden sich mit einem Wort, wie die Hühner im Korbe: sie wurden fett.

Wenn Barbicane zu den Luckenfenstern hinaussah, gewahrte er das Hundegespenst und die verschiedenen hinausgeworfenen Gegenstände, welche standhaft das Projectil begleiteten. Diana heulte melancholisch, wenn sie Trabant’s irdische Reste erblickte. Diese heimat- und herrenlosen Gegenstände schienen so unbeweglich, als lägen sie auf festem Boden.

»Wissen Sie, meine Freunde«, sagte Michel Ardan, »wenn Einer von uns den Gegenstoß bei der Abfahrt nicht überlebt hätte, wir wären in Verlegenheit gewesen, ihn zu beerdigen, d.h. im Aether zu bestatten. Sehen Sie diesen Leichnam, der uns als Ankläger wie mit Gewissensbissen im Weltraum verfolgt!

– Es wäre traurig gewesen, sagte Nicholl.

– Ach! fuhr Michel fort, wie bedauere ich, daß ich nicht draußen einen Spaziergang machen kann. Was wär’s für eine Luft, in diesem strahlenden Aether sich zu baden und zu wiegen, in diesen reinen Sonnenstrahlen sich zu wälzen! Hätte nur Barbicane daran gedacht, für ein Skaphanderkleid und eine Luftpumpe zu sorgen, so würde ich mich hinaus gewagt haben, um auf der Spitze des Projectils wie ein Hippogryph oder eine Chimäre Stellung zu nehmen.

– Aber, mein alter Michel, erwiderte Barbicane, Du würdest nicht lange den Hippogryphen gespielt haben, denn trotz Deines Skaphanderkleides würdest Du, aufgetrieben durch die in Deinem Innern enthaltene Luft, wie eine Granate zerplatzt sein, oder vielmehr wie ein Ballon, der zu hoch steigt. Also bedauere nichts, und beherzige wohl: So lange wir uns im luftleeren Raum bewegen, mußt Du Dir jeden sentimentalen Spaziergang außerhalb des Projectils versagen!«

Michel Ardan ließ sich einigermaßen überzeugen. Er gab zu, die Sache sei schwierig, aber nicht »unmöglich«. Dieser Begriff und das Wort dafür ging ihm gänzlich ab.

Die Unterhaltung ging von diesem Gegenstand auf einen anderen über, und stockte keinen Augenblick.

Es kam den drei Freunden vor, als sproßten in dieser Lage ihnen die Ideen im Gehirn wie die Blätter bei der ersten Frühlingswärme. Sie fühlten sich wie stark belaubt.

Mitten unter diesen Fragen und Antworten, die an diesem Morgen sich kreuzten, stellte Nicholl eine Frage, die nicht sogleich gelöst wurde.

»Eine Reise zum Mond«, sagte er, »ist jedenfalls eine hübsche Sache, aber wie kommen wir wieder zurück?«

Seine Kameraden sahen ihn mit Ueberraschung an. Man hätte denken können, dieser mögliche Fall komme jetzt zum erstenmale ihnen in den Sinn.

»Was meinen Sie damit, Nicholl«, fragte Barbicane ernst.

– Daß man, fügte Michel bei, ehe man in ein Land kommt, schon nach der Rückkehr fragt, scheint mir nicht an der Zeit.

– Ich sag’s nicht, um zurückzuweichen, entgegnete Nicholl, sondern ich wiederhole meine Frage mit den Worten: Wie werden wir zurückkehren?

– Das weiß ich nicht, erwiderte Barbicane.

– Und ich, sagte Michel, wäre gar nicht hingegangen, hätte ich gewußt, wie wieder heim zu kommen.

– Das heißt eine Antwort, rief Nicholl aus.

– Ich billige Michel’s Aeußerung, sagte Barbicane, und ich füge hinzu, daß die Frage für jetzt kein Interesse hat. Später, wenn wir für angemessen halten, zurück zu kehren, werden wir darüber berathen. Ist die Columbiade nicht mehr da, so wird das Projectil stets da sein.

– Gut gesagt! Eine Kugel ohne Flinte!

– Die Flinte, erwiderte Barbicane, kann man verfertigen. Das Pulver läßt sich fabriciren! Auf dem Mond kann es weder an Metallen, noch an Salpeter, noch an Kohlen fehlen. Uebrigens braucht man für die Rückkehr nur die Anziehungskraft des Mondes zu überwinden, und nur achttausend Lieues zu steigen, um blos in Folge der Schwerkraft auf den Erdball zu fallen.

– Genug, sagte Michel lebhaft, kein Wort mehr von Rückkehr! Wir haben schon zu viel davon gesprochen. Mit unseren vormaligen Collegen auf der Erde zu verkehren, wird so schwer nicht sein.

– Und wie?

– Vermittelst der aus den Kratern des Mondes geschleuderten Boliden.

– Richtig getroffen, Michel, erwiderte Barbicane, als sei er davon überzeugt. Laplace hat berechnet, es sei nur eine fünfmal stärkere Kraft, wie die unserer Kanonen erforderlich, um einen Boliden von dem Mond zur Erde zu schleudern. Nun giebt’s aber keinen Vulkan, der nicht eine stärkere Kraft besäße.

– Hurrah! rief Michel. Diese Boliden sind bequeme Briefboten, und die nichts kosten! Wir können die Postverwaltung auslachen! Aber, ich meine …

– Was meinst Du?

– Eine kostbare Idee! Warum haben wir nicht einen Draht an unser Projectil befestigt? Dann könnten wir Telegramme mit den Erdbewohnern wechseln!

– Tausend Teufel! versetzte Nicholl. Und Du bringst das Gewicht eines Drahtes von sechsundachtzigtausend Lieues nicht in Anschlag?

– Nein! Man hätte die Ladung der Columbiade dreimal stärker gemacht! Ja viermal! fünfmal! rief Michel mit einer heftigen Betonung.

– Es erhebt sich nur ein kleiner Einwand gegen Dein Project, erwiderte Barbicane; während der Bewegung unseres Erdballs um ihre Achse hätte sich der Draht um sie herum gelegt, gleich der Kette um eine Winde, und das hätte uns unvermeidlich auf die Erde zurückgezogen.

– Bei den neununddreißig Sternen der Union! Da habe ich also heute nur unpraktische Ideen! Ideen, unseres J.T. Maston würdig! Aber ich denke, wenn wir nicht auf die Erde zurück kommen, ist Maston im Stande uns zu besuchen!

– Ja, versetzte Barbicane, der würdige und muthige Kamerad wird gewiß kommen. Uebrigens ist’s auch eine sehr leichte Sache. Ist nicht die Columbiade noch im Boden Florida’s? Giebt’s nicht Baumwolle und Stickstoff genug, um Schießbaumwolle zu verfertigen? Kommt nicht der Mond wieder in den Zenith Florida’s? und zwar in achtzehn Jahren gerade wieder in dieselbe Stellung?

– Ja, wiederholte Michel, ja, Maston wird kommen, und unsere Freunde Elphistone, Blomsberry, alle Mitglieder des Gun-Clubs werden mitkommen, und werden uns willkommen sein! Und später richtet man Projectilzüge zwischen der Erde und dem Mond ein: »Hurrah für J.T. Maston!«

Wenn der ehrenwerthe J.T. Maston nicht die zu seinen Ehren erschallten Hurrahs hören konnte, so hat’s ihm doch in den Ohren geklingelt. Was trieb er damals? Ohne Zweifel war er auf dem Posten zu Longs Peak, um das nicht sichtbare Projectil aufzusuchen. Dachte er an seine theuren Kameraden, so blieben diese nicht hinter ihm zurück, und widmeten ihm in Folge einer ganz besonderen Steigerung ihre besten Gedanken.

Aber woher kam diese Aufgeregtheit bei den Bewohnern des Projectils, welche sichtbar größer ward? Ihre Nüchternheit konnte man nicht in Zweifel ziehen. War diese seltsame Steigerung des Gehirns der außerordentlichen Lage, worin sie sich befanden, zuzuschreiben, der Nähe des Nachtgestirns, von welchem sie nur noch einige Stunden entfernt waren, einer stillen Einwirkung des Mondes auf ihre Nerven? Ihr Angesicht war roth, als befänden sie sich vor einem Schmelzofen; ihr Athmen wurde lebhafter, ihre Lungen spielten wie ein Blaseblag; ihre Augen glänzten von außerordentlichem Feuer; ihre Stimme schallte fürchterlich laut; ihre Worte platzten heraus, wie die Pfropfen einer Champagnerflasche; ihre Bewegungen wurden unruhiger und verwirrt. Und, sonderbar, Keiner von ihnen merkte diese maßlose Steigerung ihres Geistes.

»Jetzt«, sagte Nicholl in barschem Ton, »jetzt, da ich nicht weiß, ob wir wieder zurückkommen, möcht‘ ich wissen, was wir auf dem Mond vorhaben.«

– Was wir dort vorhaben? erwiderte Barbicane und stampfte mit dem Fuß, als wär‘ er in einem Waffensaal, das weiß ich nicht!

– Du weißt’s nicht! rief Michel heulend, daß es laut im Projectil widerhallte.

– Nein, ich hab‘ nicht einmal eine Idee davon! entgegnete Barbicane, indem er den gleichen Ton anstimmte.

– Aber ich weiß es, ich, erwiderte Michel.

– Dann sprich’s heraus, schrie Nicholl, der seinen Zorn nicht länger zurückhalten konnte.

– Das sag ich, wann mir’s beliebt, rief Michel und faßte dabei seinen Kameraden beim Arme.

– Das muß Dir belieben, sagte Barbicane mit feurigem Blick und drohender Faust. Du hast uns zu dieser fürchterlichen Reise fortgerissen, und wir wollen wissen, warum!

– Ja! sagte der Kapitän, jetzt, da ich nicht weiß, wohin ich gehe, will ich wissen warum!

– Warum? schrie Michel, und sprang einen Meter hoch, warum? Um im Namen der Vereinigten Staaten den Mond in Besitz zu nehmen! um ihnen einen vierzigsten Staat hinzuzufügen! Um die Mondlandschaften zu cultiviren, zu bevölkern, alle Wunderwerke der Kunst, Wissenschaft und Industrie dahin zu verpflanzen! Um die Seleniten zu civilisiren, sofern sie nicht civilisirter als wir sind, und bei ihnen eine Republik einzuführen, wenn sie noch nicht eine solche haben!

– Und wenn es keine Seleniten giebt, entgegnete Nicholl, der in seiner unerklärlichen Trunkenheit sehr widerwärtig wurde.

– Wer sagt, daß es keine Seleniten giebt? schrie Michel mit drohendem Ton.

– Ich! brüllte Nicholl.

– Kapitän, sagte Michel, sage nicht zum zweitenmal so ein unverschämtes Wort, oder ich versetze Dir eins durch die Zähne in den Rachen hinein!

Die beiden Gegner waren schon im Begriff, aufeinander loszustürzen, und die unzusammenhängenden Streitreden drohten in eine Schlacht auszuarten, als Barbicane mit einem fürchterlichen Sprung sich dazwischen warf.

»Halt, Unglückselige«, sagte er, indem er seine Kameraden auseinander riß, »wenn’s keine Seleniten giebt, so brauchen wir keine!«

– Ja, rief Michel, der nicht darauf bestand, wir können sie entbehren. Wir haben mit den Seleniten nichts zu schaffen! Nieder mit den Seleniten!

– Uns gehört die Herrschaft über den Mond, sagte Nicholl.

– Uns Dreien, errichten wir eine Republik!

– Ich werde Congreß sein, schrie Michel.

– Und ich Senat, versetzte Nicholl.

– Und Barbicane Präsident, brüllte Michel.

– Kein von der Nation ernannter Präsident, erwiderte Barbicane.

– Nun denn! Ein vom Congreß ernannter Präsident, rief Michel, und als Congreß erwähle ich Dich einstimmig!

– Hurrah! Hurrah! dem Präsidenten Barbicane! schrie Nicholl.

– Hip! Hip! Hip! rief Michel Ardan.

Darauf stimmten Präsident und Senat das populäre Yankee doodle an, während der Congreß sie mit der schwungvollen Marseillaise begleitete.

Darauf begannen sie einen Rundtanz mit unsinnigen Bewegungen und tollen Sprüngen, machten Purzelbäume wie Clowns. Diana tanzte mit, heulte mit, sprang bis zur Decke empor. Man vernahm unerklärliche Flügelschläge, seltsam tönende Hahnrufe. Fünf bis sechs Stück Geflügel flatterten umher, und stießen wie tolle Fledermäuse wider die Wände …

Die drei Reisekameraden aber, deren Lungen durch eine unbegreifliche Einwirkung in Unordnung geriethen, sanken, mehr als berauscht, mit glühenden Athmungswerkzeugen, bewegungslos zu Boden.

Achtes Capitel


Achtes Capitel

Achtundsiebenzigtausendhundertundvierzehn Meilen.

Was war vorgegangen? Woher kam diese seltsame Berauschung, welche verderbliche Folgen haben konnte? Eine bloße Unachtsamkeit Michel’s war schuld, und glücklicher Weise konnte Nicholl noch zeitig abhelfen.

Nach einer wirklichen. Ohnmacht von einigen Minuten kam der Kapitän zuerst wieder zur Besinnung, zum Besitz seines Verstandes.

Obwohl er zwei Stunden zuvor gefrühstückt hatte, empfand er einen fürchterlichen Hunger, der ihn peinigte, als habe er seit einigen Tagen nichts gegessen. Sein Magen war, wie das Gehirn und alle Nerven im höchsten Grad überreizt.

Er stand also auf und begehrte von Michel ein nachträgliches Frühstück. Michel, der noch nicht bei Sinnen war, antwortete nicht. Nun wollte Nicholl einige Tassen Thee bereiten, um das Verschlingen von einem Dutzend Sandwichs zu erleichtern. Um sich dafür Feuer zu machen, rieb er hastig ein Zündhölzlein.

Wie erstaunte er, als er den Schwefel außerordentlich glänzend brennen sah, daß seine Augen es fast nicht aushalten konnten. Aus dem Hahnen des Gases, welches er anzündete, strömte eine Flamme, wie ein elektrischer Lichtstrom.

Jetzt ging dem Kapitän ein Licht auf. Dieser starke Lichtglanz, die in ihm vorgegangenen physiologischen Störungen, die Ueberreizung aller seiner geistigen und sittlichen Kraft, Alles ward ihm verständlich.

»Der Sauerstoff«! rief er aus.

Er besichtigte den Luftbereitungs-Apparat, und gewahrte wie dem Hahnen reichlich das farblose, geschmacklose, geruchlose Gas entströmte, welches zwar äußerst belebend ist, aber in unvermischtem Zustand die bedenklichsten Störungen des Organismus herbeiführt. Aus Unachtsamkeit hatte Michel den Hahnen zu weit offen gelassen!

Nicholl hemmte rasch das Ausströmen das Sauerstoffs, womit die Atmosphäre gesättigt war, so daß der Tod der Reisenden nicht durch Ohnmacht, sondern durch Verbrennen erfolgt wäre.

Eine Stunde hernach, als die Luft weniger von Sauerstoff überladen war, konnten die Lungen wieder regelmäßig ihre Function verrichten. Allmälig kamen die drei Freunde aus ihrem Rausch wieder zu sich; aber sie mußten diesen Gasrausch ausschlafen, wie ein Betrunkener seinen Weinrausch.

Als Michel hörte, wie sehr er diesen Zwischenfall verschuldet hatte, ließ er sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Diese unversehene Trunkenheit beseitigte die langweilige Einförmigkeit der Reise. Zwar hatte man sich in diesem Zustand manche Beleidigungen gesagt, aber sie waren rasch wieder vergessen.

»Sodann«, fügte der lustige Franzose bei, »bin ich nicht böse, etwas von diesem Gas, das in den Kopf steigt, genossen zu haben. Wissen Sie, meine Freunde, es ließe sich eine merkwürdige Anstalt gründen, Sauerstoffcabinette, worin Leute von abgeschwächtem Organismus auf einige Stunden könnten zu einem thätigeren Leben gesteigert werden! Denken Sie sich einmal Versammlungen, worin die Luft mit diesem heroischen Fluidum gesättigt wäre, Theater, worin die Administration dasselbe in großer Dosis verwendet, welche Leidenschaft in der Seele der Schauspieler und Zuschauer, welches Feuer, welcher Enthusiasmus würde dadurch erzeugt! Und wenn man, statt einer bloßen Versammlung, ein ganzes Volk damit sättigen könnte, welche Belebung der Thätigkeit in seinen Verrichtungen, welche Lebensergänzung würde erfolgen. Aus einer durch Erschöpfung herabgekommenen Nation könnte man vielleicht eine kräftige und große Nation machen, und ich kenne mehr wie einen Staat unseres alten Europas, welcher im Interesse seiner Gesundheit sich einer Sauerstoffcur unterziehen sollte!«

Michel sprach und steigerte sich dergestalt, daß man meinen konnte, der Hahnen sei immer noch zu weit offen. Aber mit einem einzigen Worte hemmte Barbicane seinen Enthusiasmus.

»Das ist alles gut, Freund Michel«, sprach er zu ihm, »aber willst Du uns nicht sagen, woher das Geflügel kam, das sich in unser Concert mischte?«

– Dies Geflügel?

– Ja.

In der That spazierten ein halb Dutzend Hennen sammt einen prachtvollen Hahn umher, flatterten und gackerten.

»Ach! Die Tölpel!« rief Michel. »Der Sauerstoff hat sie in Aufruhr gebracht!«

– Aber was willst Du denn mit dem Geflügel anfangen? fragte Barbicane.

– Sie auf dem Mond acclimatisiren, wahrhaftig!

– Weshalb hast Du sie denn versteckt?

– Ein Possenstreich, mein würdiger Präsident, ein bloßer Scherz, der kläglich scheiterte! Ich wollte sie auf dem Mondland im Stillen frei lassen, ohne Ihnen ein Wörtchen zu sagen! Nicht wahr, Sie wären erstaunt gewesen, daß solch irdisches Geflügel auf den Gefilden des Mondes nach Körnern scharrt!

– Ach, was bist Du ewig ein Gamin! erwiderte Barbicane, bei Dir bedarf’s keines Sauerstoffs, um den Kopf zu steigern! Du bis stets, was wir in der Gasbenebelung waren: stets ein Narr!

– So! wer sagt denn, daß wir damals nicht gescheit gewesen, entgegnete Michel Ardan.

Nach dieser philosophischen Betrachtung stellten die drei Freunde die Ordnung im Projectil wieder her. Hennen und Hahn wurden wieder eingesperrt. Aber während sie dieses vornahmen, kam Barbicane und seinen Genossen eine neue Erscheinung sehr auffallend zum Bewußtsein.

Seit dem Moment, da sie von der Erde abgefahren waren, hatten sie selbst, die Kugel sammt den darin enthaltenen Gegenständen, beständig und in zunehmendem Verhältniß an Schwere abgenommen. Konnten sie diese Abnahme für das Projectil nicht constatiren, so mußte doch ein Zeitpunkt kommen, wo diese Wirkung in Beziehung auf sie selbst und für die Geräthe oder Instrumente, deren sie sich bedienten, merkbar wurde.

Es versteht sich, daß eine Wage die Abnahme nicht angezeigt haben würde, weil das zum Abwiegen eines Gegenstands bestimmte Gewicht gerade ebensoviel an Schwere verloren haben würde, als der Gegenstand selbst; aber eine Schnellwage mit einer Feder, deren Spannkraft von der Anziehungskraft unabhängig ist, hätte dieses Schwinden genau anzugeben vermocht.

Bekanntlich steht die Anziehungskraft, sonst Schwere genannt, im gleichen Verhältniß der Massen, und im umgekehrten des Quadrats der Entfernungen. Daraus folgt nun: Wäre die Erde allein in dem Raum gewesen, und die anderen Himmelskörper plötzlich zu Nichte geworden, so würde das Projectil nach Newton’s Gesetz um so viel mehr, als es sich von der Erde entfernte, an Gewicht verloren haben, doch ohne dasselbe jemals ganz zu verlieren, denn die Anziehungskraft der Erde würde sich stets, bei jeder Entfernung, fühlbar gemacht haben.

Aber in dem gegebenen Fall mußte ein Zeitpunkt eintreten, wo das Projectil gar nicht mehr den Gesetzen der Schwere unterworfen war, wenn man von den anderen Himmelskörpern absah, deren Einwirkung man als Null ansehen konnte.

In der That zog sich die Bahnlinie des Projectils zwischen der Erde und dem Mond. Je mehr sich dasselbe von der Erde entfernte, nahm die Anziehung der letzteren ab im umgekehrten Verhältniß des Quadrats der Entfernungen, aber auch die Anziehung von Seiten des Mondes nahm in gleichem Verhältniß zu. Es mußte also ein Punkt kommen, wo diese beiden Anziehungen sich gegenseitig aufhoben, die Kugel also gar keine Schwere mehr hatte. Wäre Erde und Mond von gleichem Massengehalt gewesen, so hätte dieser Punkt in gleicher Entfernung von beiden, gerade in der Mitte der Linien gelegen. Zog man aber die Verschiedenheit der Massen in Berechnung, so war es leicht zu berechnen, daß dieser Punkt zwischen siebenundvierzig und zweiundfünfzig Theilen der Reise lag, in Ziffern nämlich, achtundsiebenzigtausendeinhundertundvierzehn französische Meilen von der Erde ab.

Auf diesem Punkt würde ein Körper, der keine treibende Kraft der Schnelligkeit oder Ortsveränderung in sich enthielt, ewig unverändert bleiben, indem er von den beiden Gestirnen gleichmäßig angezogen würde und keine andere Kraft ihn abzog.

Nun aber mußte das Projectil, wenn die treibende Kraft richtig berechnet war, beim Anlangen an diesem Punkt keine Geschwindigkeit mehr haben, indem zugleich bei ihm, wie bei allen in demselben enthaltenen Gegenständen, gar keine Schwere mehr zu erkennen war.

Was würde jetzt erfolgen? Es konnte einer von den drei Fällen eintreten:

Entweder das Projectil hatte noch einige Geschwindigkeit behalten, dann drang es über den Punkt gleicher Anziehung hinaus, und mußte, vermöge der überwiegenden Anziehungskraft des Mondes auf diesen fallen.

Oder, wenn ihm die Kraft mangelte, den Punkt gleicher Anziehung zu erreichen, so mußte es vermöge der überwiegenden Anziehungskraft der Erde auf diese zurückfallen.

Oder endlich, seine Kraft reichte zum Anlangen an dem neutralen Punkt gerade aus, aber nicht weiter vorwärts, dann würde sie ewig an dieser Stelle bleiben, wie das angebliche Grab Mahomed’s, zwischen dem Zenith und Nadir.

In dieser Lage befand man sich, und Barbicane setzte seinen Reisegefährten die Folgen derselben klar auseinander. Das entsprach im höchsten Grad ihrem Interesse. Wie konnten sie nun aber erkennen, daß das Projectil, diesen neutralen Punkt in der Entfernung von achtundsiebenzigtausendeinhundertundvierzehn französischen Meilen erreicht habe?

Eben daran, wenn sowohl sie, als die im Projectil enthaltenen Gegenstände sich gar nicht mehr den Gesetzen der Schwere unterworfen zeigten.

Bisher hatten die Reisenden, obwohl sich ihnen ergab, daß diese Kraft mehr und mehr schwand, doch noch nicht ihre völlige Abwesenheit erkannt. Aber diesen Tag, gegen elf Uhr Morgens, als Nicholl ein Glas aus der Hand fallen ließ, blieb dasselbe, anstatt zu fallen, in der Luft schweben.

»Ei!« rief Michel Ardan, »da seht einmal eine spaßhafte Physik!«

Und sofort hielten sich verschiedene Gegenstände, Waffen, Flaschen, die man sich selbst überließ, wie zauberhaft an ihrer Stelle. Auch Diana, von Michel in die Luft gestellt, führte, jedoch ohne ein Zauberkunststück, das einst von Caston und Robert Houdin veranstaltete schwebende Wunder auf. Der Hund schien übrigens gar nicht zu merken, daß er in der Luft schwebte.

Sie selbst, diese drei wagehalsigen Genossen, waren überrascht und trotz ihres wissenschaftlichen Urtheils bestürzt, als sie, in das Bereich des Wunderbaren versetzt, merkten, daß ihrem Körper die Schwere abging. Wenn sie die Arme ausstreckten, fühlten diese kein Bedürfniß, wieder zu sinken. Ihr Kopf wackelte auf den Schultern. Ihre Füße blieben nicht mehr auf dem Boden des Projectils. Sie waren wie Betrunkene, die nicht mehr fest stehen können. Die Phantasie hat Menschen ohne Schatten, ohne Widerschein geschaffen. Hier aber bildete die Wirklichkeit durch Aufhebung der Anziehungskräfte Menschen, bei denen nichts mehr ein Gewicht, und die selbst keine Schwere mehr hatten!

Plötzlich schwang sich Michel mit einem Sprung empor, und blieb so in der Luft schwebend, wie bei Murillo der Mönch in der Engelsküche.

Seine beiden Freunde gesellten sich ihm auf ein Weilchen zu, so daß sie alle drei in der Mitte des Projectils eine wunderbare Himmelfahrt darstellten.

»Ist das glaublich, ist’s wahrscheinlich? ist’s möglich?« rief Michel aus. »Nein. Und doch ist’s so! Ach! hätte uns Raphael so gesehen, was hätte er für eine ›Himmelfahrt‹ dargestellt!«

– »Das Schweben in der Höhe kann nicht andauern, erwiderte Barbicane. Wenn das Projectil über den neutralen Punkt hinaus kommt, wird die Anziehungskraft des Mondes uns nach diesem hin ziehen.

– Dann werden wir also auf der Decke des Projectils Fuß fassen, erwiderte Michel.

– Nein, sagte Barbicane, weil das Projectil, dessen Schwerpunkt sehr weit unten liegt, sich allmälig umkehren wird.

– Das will heißen, unsere ganze Einrichtung, von oben bis unten, wird sich umkehren!

– Beruhige Dich, Michel, erwiderte Nicholl. Eine Umkehrung ist durchaus nicht zu befürchten. Nicht ein einziger Gegenstand wird von seiner Stelle rücken, weil die Wendung des Projectils ganz unmerklich vorgeht.

– Richtig, fuhr Barbicane fort, und wenn es über den Punkt gleicher Anziehung hinaus ist, wird sein Boden als der verhältnißmäßig schwerere Theil dasselbe senkrecht nach dem Mond hin ziehen. Aber damit dieses vor sich gehe, müssen wir über die neutrale Linie hinaus sein.

– Ueber die neutrale Linie hinaus! schrie Michel. Dann machen wir’s wie die Seeleute, welche die Linie des Aequators passiren. Benutzen wir den Uebergang.«

Eine leichte Seitenbewegung brachte Michel an die ausgefütterte Wand. Hier nahm er eine Flasche und Gläser, stellte sie in die Luft vor seine Kameraden, sie stießen lustig an und begrüßten die Linie mit einem dreifachen Hurrah.

Diese Wirkung der Anziehungskräfte dauerte kaum eine Stunde. Die Reisenden fühlten sich unmerklich wieder nach dem Boden gezogen, und Barbicane glaubte wahrzunehmen, daß die konische Spitze des Projectils ein wenig von der senkrecht dem Mond zugewendeten Richtung abwich. Durch eine entgegengesetzte Bewegung näherte sich das Bodenstück demselben. Die Anziehungskraft des Mondes überwog also die der Erde. Der Fall nach dem Mond zu begann, noch fast unmerklich; er konnte in der ersten Secunde nur 1/3 Millimeter, d.h. fünfhundertundneunzig Tausendtheile einer Linie betragen. Aber allmälig würde die anziehende Kraft zunehmen, der Fall würde auffallender werden, das Projectil, mit dem Boden gegen den Mond gezogen, würde seine Spitze der Erde zukehren, und mit wachsender Schnelligkeit auf die Oberfläche des Mondlandes fallen. Damit wäre der Zweck erreicht. Jetzt konnte nichts mehr das Gelingen hindern, und Nicholl mit Michel Ardan theilten Barbicane’s Freude. Hernach plauderten sie über alle diese Erscheinungen, welche sie eine nach der anderen in Staunen versetzten. Diese Neutralisation der Gesetze der Schwere zumal gab immer neuen Stoff der Unterhaltung. Michel Ardan, stets Enthusiast, wollte daraus Consequenzen ziehen, die pure Phantasie waren.

»Nun, meine würdigen Freunde«, rief er aus, »welcher Fortschritt, wenn man sich dergestalt der Schwere, dieser an die Erde fesselnden Kette, entledigen könnte! Es wäre gleichsam Befreiung eines Gefangenen! Es gäbe keine Ermüdung mehr für die Arme, wie für die Beine. Und wenn es richtig steht, daß, um auf die Erdoberfläche zu fliegen, um sich durch bloßes Muskelspiel in der Luft zu halten, es einer hundertfach stärkeren Kraft, als die unserige ist, bedarf, so würde ein bloßer Willensact, eine Laune uns in den Weltraum versetzen, wenn die Anziehungskraft nicht mehr existirte.«

– Wirklich, sagte Nicholl lächelnd, wenn man die Schwere unterdrücken könnte, wie man den Schmerz durch Chloroform unterdrückt, so würde das gewiß die Gestalt der modernen Gesellschaft ändern!

– Ja! rief Michel, der von seinem Gegenstand ganz erfüllt war, heben wir die Schwerkraft auf, dann giebt’s keine Bürden mehr. Folglich Krahnen, Winden, Spillen, Kurbeln und dergleichen Maschinen hätten kein Recht mehr zu existiren!

– Gut gesagt, entgegnete Barbicane, aber wenn es keine Schwere mehr gäbe, so hielte und säße auch nichts mehr fest, würdiger Michel, so wenig Dein Hut auf dem Kopf, wie Dein Haus auf seiner Stelle, denn nur durch Schwere hängen die Steine zusammen! Keine Schiffe, deren Festigkeit auf den Gewässern nur eine Folge der Schwere ist! Selbst der Ocean nicht, dessen Wogen nicht mehr durch die Anziehungskraft der Erde im Gleichgewicht gehalten würden. Endlich keine Atmosphäre, deren Elementartheilchen ohne Zusammenhalt sich im Weltraum zerstreuen würden!

– Das ist aber bedauerlich, versetzte Michel. Es gleicht doch nichts den positiven Leuten, die uns brutal zur Wirklichkeit zurückführen.

– Aber tröste Dich, Michel, fuhr Barbicane fort, denn wenn es keine Weltkörper giebt, wo die Gesetze der Schwere aufgehoben sind, so wirst Du wenigstens einen besuchen, wo sie weit geringer ist, wie auf der Erde.

– Der Mond?

– Ja, der Mond, auf dessen Oberfläche die Gegenstände sechsmal weniger Gewicht haben, als auf der Oberfläche der Erde, was sehr leicht zu beweisen ist.

– Und wir werden es erfahren? fragte Michel.

– Offenbar, denn zweihundert Kilogramm sind nicht schwerer als dreißig auf dem Mond.

– Und unsere Muskelkraft wird dort nicht geringer sein?

– Keineswegs. Anstatt einen Meter hoch zu springen, würdest Du achtzehn Fuß Dich erheben.

– Aber dann sind wir auf dem Mond Riesen, wie Herkules! rief Michel.

– Um so mehr, erwiderte Nicholl, als, wenn die Körpergröße der Seleniten im Verhältniß zur Masse ihres Planeten steht, sie kaum einen Fuß hoch sind.

– Liliputer! versetzte Michel. Dann werde ich die Rolle Gulliver’s spielen! Wir werden die Fabel von den Riesen zur Wirklichkeit machen! Den Vortheil hat man davon, wenn man seinen Planeten verläßt und in der Sonnenwelt Reisen macht!

– Einen Augenblick, Michel, erwiderte Barbicane. Wenn Du Gulliver spielen willst, so besuche nur die kleinen Planeten, wie Merkur, Venus oder Mars, deren Masse geringer ist als die der Erde. Aber wage Dich nicht auf die großen, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, denn da würde die Rolle sich umkehren, und Du würdest Liliputer sein.

– Und auf der Sonne?

– Ist die Dichtigkeit der Sonne viermal geringer, wie die des Erdkörpers, so ist dagegen ihr Umfang dreizehnhundertundachtzigtausendmal beträchtlicher, und die Anziehungskraft ist da siebenundzwanzigmal stärker, als auf der Oberfläche des Erdballs. Wäre Alles dort in gleichem Verhältniß, so müßten die Bewohner im Durchschnitt zweihundert Fuß hoch sein.

– Tausend Teufel! rief Michel. Da wäre ich ja nur ein Zwerg, ein Knirps!

– Gulliver im Lande der Riesen, sagte Nicholl.

– Richtig, erwiderte Barbicane.

– Und es würde gar nichts schaden, zu seiner Vertheidigung einige Geschützstücke bei sich zu haben.

– Gut! entgegnete Barbicane, Deine Kugeln würden auf der Sonne ganz wirkungslos sein, und sie würden in der Entfernung einiger Meter zu Boden fallen.

– Das ist stark!

– Das ist aber ganz gewiß, erwiderte Barbicane. Auf diesem enormen Weltkörper ist die Anziehungskraft so beträchtlich, daß ein Gegenstand, welcher auf der Erde siebenzig Kilogramm wiegt, auf der Oberfläche der Sonne ein Gewicht von neunzehnhundertunddreißig haben würde. Dein Hut würde zehn Kilogramm wiegen, Deine Cigarre ein halbes Pfund. Endlich, wenn Du auf der Sonne zu Boden fielest, so würde Dein Gewicht von ungefähr zweitausendfünfhundert Kilo Dir’s unmöglich machen, wieder aufzustehen!

– Teufel! sagte Michel. Da müßte man einen tragbaren Krahnen bei sich haben! Nun denn, meine Freunde, so wollen wir für heute uns auf den Mond beschränken. Da werden wir wenigstens die Großen spielen! Später wollen wir überlegen, ob es nöthig ist, die Sonne zu besuchen, wo man nicht trinken kann, ohne mittelst einer Winde sein Glas zum Munde zu bringen!

Achtzehntes Capitel


Achtzehntes Capitel

Bedeutsame Fragen.

Unterdessen war das Projectil an dem Bereiche Tycho’s vorüber gekommen. Barbicane und seine beiden Freunde beobachteten dann noch mit sorgfältigster Achtsamkeit die glänzenden Lichtstreifen, welche der berühmte Berg so merkwürdig nach allen Seiten hin verbreitet.

Was hat es mit dieser strahlenden Lichtkrone für eine Bewandtniß? Welches geologische Phänomen hatte diesem gluthsprühenden Hauptschmuck den Ursprung gegeben? Diese Frage nahm mit Recht Barbicane’s Gedanken in Anspruch.

Unter ihren Augen sahen sie wirklich nach allen Richtungen hin lange Lichtstreifen ziehen mit aufgebogenem Rand und vertiefter Mitte, zwanzig bis fünfzig Kilometer breit. Diese glänzenden Streifen liefen vom Tycho aus an manchen Stellen bis zu dreihundert Lieues weit hinaus und schienen, vornehmlich nach Osten, Nordosten und Norden hin, die Hälfte der südlichen Hemisphäre zu bedecken. Einer dieser Ausläufer reichte bis zum Circus Neander unter dem vierzigsten Meridian. Ein anderer durchfurchte das Nectarmeer und brach sich nach einem Laufe von vierhundert Lieues an der Pyrenäenkette. Andere bedeckten in westlicher Richtung das Wolkenmeer und das Meer des Humors.

Wie entstanden diese funkelnden Strahlen, die auf den Ebenen wie auf den Höhen, so hoch es auch sein mochte, zu sehen waren? Alle gingen von einem gemeinschaftlichen Centrum, dem Krater Tycho’s, aus; sie waren ein Ausfluß desselben. Herschel hielt sie ihres glänzenden Aussehens wegen für ehemalige, im Kalten fest gewordene Lava-Ausströmungen, seine Ansicht fand aber keinen Beifall. Andere Astronomen wollten in diesen unerklärlichen Strahlen eine Art Schuttanhäufung sehen, unregelmäßige Trümmer und Blöcke durcheinander, welche zur Zeit der Bildung des Tycho dahin geworfen wurden.

»Und warum nicht? fragte Nicholl Barbicane, der diese verschiedenen Meinungen vortrug und verwarf.

– Weil die Regelmäßigkeit dieser lichtstrahlenden Linien und die Gewalt, welche nöthig war, um die vulkanischen Stoffe in solche Entfernung zu schleudern, damit nicht zu erklären sind.

– Ja, wahrhaftig! erwiderte Michel Ardan, es scheint mir so schwer nicht, den Ursprung dieser Strahlen zu erklären.

– Wirklich? sagte Barbicane.

– Wirklich, erwiderte Michel. Ich brauche nur zu sagen, es geschah durch ein ungeheures sternförmiges Zerspringen, wie wenn man mit einem Ball oder Stein wider ein Glasscheibe wirft!

– Gut! versetzte Barbicane lächelnd. Und welche Hand wäre kräftig genug, um den Stein zu schleudern, der so weit gesprungen ist.

– Die Hand ist dabei nicht nöthig, entgegnete Michel, der sich nicht von seinem Gedanken abbringen ließ; und was den Stein betrifft, nehmen wir an, es sei ein Komet.

– Ah! Die Kometen! rief Barbicane, die müssen aushelfen. Mein wackerer Michel, Deine Erklärung ist nicht übel, aber Deinen Kometen braucht man nicht. Der Stoß, welcher diesen Bruch veranlaßt hat, kann aus dem Inneren des Gestirns gekommen sein. Eine heftige Zusammenziehung der Mondkruste, unter Einwirken der Erkältung, konnte hinreichend sein, um das riesenhafte Zerspringen hervorzubringen.

– Meinetwegen eine Zusammenziehung, so etwas wie eine Kolik des Mondes, erwiderte Michel Ardan.

– Uebrigens, fügte Barbicane hinzu, ist auch ein englischer Gelehrter dieser Ansicht, Nasmyth, und sie scheint mir auch hinreichend das Ausstrahlen dieses Gebirgs zu erklären.

– Dieser Nasmyth ist kein Narr!« erwiderte Michel.

Lange waren unsere Reisenden, die sich an solchem Schauspiel nicht satt sehen konnten, in Bewunderung dieses Glanzes vertieft. Ihr Projectil, von der Lichtausströmung durchdrungen, in doppelter Bestrahlung, von Seiten der Sonne und des Mondes, mußte wie eine glühende Kugel aussehen. Sie waren auch aus bedeutender Kälte plötzlich in starke Hitze übergegangen. Die Natur wollte sie vorbereiten, Seleniten zu werden.

Seleniten werden! Dieser Gedanke führte nochmals auf die Frage der Bewohnbarkeit des Mondes. Waren die Reisenden nach dem, was sie gesehen hatten, im Stande, sie zu lösen? Konnten sie ein Urtheil für oder wider aussprechen. Michel Ardan forderte seine beiden Freunde auf, ihre Ansicht zu bilden, und fragte entschieden, ob sie glaubten, daß Thier- und Menschenwelt auf dem Mond repräsentirt seien.

»Ich glaube, daß wir im Stande sind, eine Antwort zu geben, sagte Barbicane; aber meiner Ansicht nach darf die Frage nicht in dieser Form auftreten. Ich bitte sie anders zu stellen.

– Du magst sie stellen, erwiderte Michel.

– Nun denn, versetzte Barbicane. Die Aufgabe ist eine doppelte und verlangt eine zweifache Lösung. Ist der Mond bewohnbar? Ist er bewohnt gewesen?

– Gut, erwiderte Nicholl. Fragen wir zuerst, ob der Mond bewohnbar ist.

– Offen gestanden, ich weiß es nicht zu sagen, entgegnete Michel.

– Und ich, versetzte Barbicane, antworte mit Nein. In dem gegenwärtigen Zustand des Mondes – mit der gewiß sehr beschränkten Umgebung von Atmosphäre, den meist ausgetrockneten Meeren und nicht hinreichenden Gewässern, der geringen Vegetation, dem schroffen Wechsel von Kälte und Wärme, den dreihundertvierundfünfzigstündigen Tagen und Nächten – scheint mir der Mond nicht bewohnbar, und auch nicht geeignet zur Entwickelung thierischen Lebens, noch hinreichend für die Bedürfnisse einer Existenz, wie wir sie verstehen.

– Einverstanden, erwiderte Michel. Aber ist der Mond nicht bewohnbar für anders organisirte Wesen?

– Auf diese Frage zu antworten, versetzte Barbicane, ist noch schwieriger.

Doch will ich den Versuch machen, aber ich frage Nicholl, ob er der Meinung ist, daß Bewegung das nothwendige Resultat des Lebens sei, wie es auch organisirt sein möge?.

– Ohne allen Zweifel, erwiderte Nicholl.

– Nun denn, mein würdiger Freund, so antworte ich: Wir haben die Continente des Mondes aus einer Entfernung von höchstens fünfhundert Meter betrachtet und nichts gesehen, was eine Bewegung auf der Oberfläche desselben verrieth. Das Vorhandensein irgend eines Menschengeschlechts würde sich durch dem Entsprechendes, durch errichtete Werke, selbst durch Ruinen zu erkennen gegeben haben. Was haben wir aber gesehen? Ueberall und stets die geologische Arbeit der Natur, niemals Menschenarbeit. Sollten also Repräsentanten des Thierreichs auf dem Mond vorhanden sein, so müßten sie in den unergründlichen Aushöhlungen, wohin der Blick nicht dringen kann, versteckt sein. Dies kann ich aber nicht gelten lassen, denn sie hätten Spuren vorübergehender Anwesenheit auf den Ebenen lassen müssen, welche die Schichte Atmosphäre, so niedrig sie auch sein mag, überziehen muß. Solche Spuren sind aber nirgends sichtbar. So bliebe dann nur übrig anzunehmen, es gebe eine Race lebender Wesen, welchen die Bewegung, worin doch Leben besteht, abgehe!

– Das wären also lebende Wesen, die kein Leben hätten, versetzte Michel.

– Getroffen! erwiderte Barbicane. Für uns aber hat dies keinen Sinn.

– Wir können also unsere Ansicht formuliren, sagte Michel.

– Ja, erwiderte Nicholl.

– Nun denn, fuhr Michel Ardan fort: Die wissenschaftliche Commission, welche im Projectil des Gun-Clubs versammelt ist, in ihrer Beweisführung auf die jüngst beobachteten Thatsachen gestützt, giebt mit Stimmeneinhelligkeit über die gegenwärtige Bewohnbarkeit des Mondes ihr Urtheil dahin ab: Nein, der Mond ist nicht bewohnbar!«

Diese Entscheidung wurde vom Präsidenten Barbicane in sein Notizbuch eingetragen, wo sich das Protokoll der Sitzung vom 6. December befindet.

»Jetzt, sagte Nicholl, machen wir uns an die zweite Frage, welche eine nothwendige Ergänzung der ersten enthält. Ich frage also die verehrliche Commission: Wenn der Mond nicht bewohnbar ist, ist er früher bewohnt gewesen?

– Bürger Barbicane hat das Wort, sagte Michel Ardan.

– Meine Freunde, erwiderte Barbicane, um eine Ansicht über die vormalige Bewohnbarkeit unseres Trabanten zu bilden, habe ich diese Reise nicht abgewartet, und habe nur hinzuzufügen, daß unsere persönlichen Beobachtungen mich in derselben nur bestärken können. Ich glaube, ich behaupte sogar, daß der Mond von einer Menschenrace bewohnt gewesen ist, die gleich der unserigen organisirt war; daß sie Thiere hervorgebracht hat, welche anatomisch gleichförmig unseren Thieren auf der Erde waren; aber ich setze hinzu, daß die Zeit dieser Menschen- oder Thierracen vorüber ist, daß sie für immer erloschen sind.

– So wäre also, fragte Michel, der Mond eine ältere Welt als die Erde?

– Nein, erwiderte Barbicane mit Ueberzeugung, aber eine Welt, die früher gealtert ist, die rascher ihre Gestaltung sowohl gewonnen, als verloren hat. Die organisirenden Kräfte des Stoffs sind verhältnißmäßig weit gewaltsamer im Inneren des Mondes thätig gewesen, als im Inneren des Erdballs. Der gegenwärtige Zustand dieser zerklüfteten, zerrissenen, aufgeschwollenen Scheibe beweist es zum Ueberfluß. Mond und Erde waren ursprünglich nur gasartige Massen. Dieses Gas wurde unter verschiedenen Einwirkungen zu Flüssigkeiten und die feste Masse bildete sich erst später heraus. Aber ganz sicher ist unser Erdball noch in gasartigem oder flüssigem Zustand gewesen, als der Mond durch Erkalten bereits Festigkeit gewonnen hatte und dadurch bewohnbar wurde.

– Das glaub‘ ich, sagte Nicholl.

– Damals, fuhr Barbicane fort, war er von einer Atmosphäre umgeben. Die durch diese dunstreiche Umhüllung festgehaltenen Gewässer konnten nicht verdampfen. Unterm Einwirken von Luft, Licht, Wärme der Sonne und des Inneren waren die für eine Vegetation vorbereiteten Continente von einer solchen bedeckt, und sicherlich offenbarte sich in dieser Epoche das Leben, denn die Natur vergeudet sich nicht unnütz, und eine in so wunderbarem Grad bewohnbare Welt ist nothwendig auch bewohnt gewesen.

– Doch, erwiderte Nicholl, mußten viele den Bewegungen unseres Trabanten eigenthümliche Erscheinungen einer Verbreitung des Thier- und Pflanzenreichs hinderlich sein. Diese dreihundertvierundfünfzigstündigen Tage und Nächte zum Beispiel?

– An den Polen der Erde, sagte Michel, dauern sie sechs Monate!

– Dies Argument hat wenig Gewicht, da unsere Pole nicht bewohnt sind.

– Bemerken wir auch, meine Freunde, fuhr Barbicane fort, daß, wenn bei dem gegenwärtigen Zustand des Mondes die langen Tage und Nächte Verschiedenheiten der Temperatur verursachen, welche der Organismus nicht verträgt, dieses zu jener Epoche nicht der Fall war. Das Fluidum der Atmosphäre umhüllte ihn wie ein Mantel. Die Dünste gestalteten sich zu Wolken, welche als natürlicher Schirm die Hitze der Sonnenstrahlen milderten und das nächtliche Ausstrahlen hemmten. Licht wie Wärme konnten sich in der Luft zerstreuen, woraus ein Gleichgewicht zwischen diesen Einflüssen entstand, welches jetzt, da diese Atmosphäre fast gänzlich verschwunden ist, nicht mehr existirt. Uebrigens will ich Sie gleich in Staunen versetzen …

– Thun Sie’s nur, sagte Michel Ardan.

– Aber ich bin geneigt zu glauben, daß zu der Epoche, als der Mond bewohnt war, Tag und Nacht nicht die Dauer von dreihundertvierundfünfzig Stunden hatte?

– Und weshalb? fragte Nicholl lebhaft.

– Weil sehr wahrscheinlich damals die Achsenbewegung des Mondes und seine Umdrehung um die Erde nicht gleich waren, durch welche Gleichheit jeder Punkt der Scheibe vierzehn Tage lang dem Einwirken der Sonnenstrahlen ausgesetzt ist.

– Einverstanden, erwiderte Nicholl, aber warum sollten diese beiden Bewegungen nicht gleich gewesen sein, da sie’s doch gegenwärtig sind?

– Weil diese Gleichheit nur durch die Anziehung von Seiten der Erde bewirkt worden ist. Wer sagt uns aber, daß diese Anziehungskraft zur Zeit, als die Erde noch in flüssigem Zustand war, hinreichte, um die Bewegungen des Mondes abzuändern?

– In der That, erwiderte Nicholl, und wer sagt uns, daß der Mond immer Trabant der Erde gewesen ist?

– Und wer sagt uns, rief Michel Ardan, daß der Mond nicht weit früher, als die Erde, existirt hat?«

Die Phantasie verlor sich auf dem unbegrenzten Feld der Hypothesen. Barbicane wollte sie zügeln.

»Damit gerathen wir, sagte er, in zu hohe Speculationen, wahrhaft unlösbare Probleme. Darauf wollen wir uns nicht einlassen. Nehmen wir nur an, die ursprüngliche Anziehungskraft sei unzureichend gewesen, und dann konnten, wegen Ungleichheit der beiden Bewegungen, um die Achse und um die Erde, die Tage und Nächte in der Weise, wie auf der Erde sich ablösen. Uebrigens ist es selbst ohne diese Bedingungen dort möglich gewesen zu leben.

– Also, fragte Michel Ardan, wäre das Menschengeschlecht auf dem Mond verschwunden?

– Ja, erwiderte Barbicane, nachdem es ohne Zweifel einige Tausend Jahrhunderte dort bestanden hatte. Indem die Atmosphäre allmälig dünner wurde, wird der Mond unbewohnbar geworden sein, wie es der Erdball einmal durch Erkalten werden wird.

– Durch Erkalten?

– Ohne Zweifel, erwiderte Barbicane. Die Rinde des Mondes ist in dem Verhältniß erkaltet, wie die inneren Feuer erloschen, der glühende Stoff sich zusammenzog. Allmälig traten die Folgen dieser Erscheinung ein: Verschwinden der organisirten Geschöpfe, Verschwinden der Vegetation. Bald wurde die Atmosphäre dünner, wahrscheinlich durch Anziehung von Seiten der Erde entzogen; es verschwand die athmungsfähige Luft, das Wasser durch Verdunsten. Von der Zeit an, wie der Mond unbewohnbar wurde, ist er nicht bewohnt gewesen. Es war eine erstorbene Welt, und so erscheint sie uns jetzt.

– Und Du sagst, solch ein Loos stehe der Erde bevor?

– Sehr wahrscheinlich.

– Aber wann?

– Wenn sie durch Erkaltung ihrer Rinde unbewohnbar sein wird.

– Und hat man die Zeit berechnet, wann unser unglücklicher Erdball erkalten wird?

– Ja wohl.

– Und Du kennst die Berechnung.

– Ganz genau.

– Aber so rede doch, widerlicher Gelehrter, rief Michel Ardan, ich sitze auf Kohlen vor Ungeduld.

– Nun, mein wackerer Michel, erwiderte Barbicane ruhig, da man die Abnahme der Temperatur während eines Jahrhunderts kennt, so hat man daraus abgenommen, daß diese mittlere Temperatur auf Null herabsinken wird nach Verlauf von vierhundert Jahrtausenden!

– Vierhundert Jahrtausende! rief Michel. Ach! Jetzt athme ich wieder frei! Wahrhaftig, wie war ich erschrocken! Meinte gar, wir hätten nur noch fünfzigtausend Jahre zu leben!«

Barbicane und Nicholl konnten sich über die Unruhe ihres Genossen des Lachens nicht enthalten. Darauf stellte Nicholl, um abzuschließen, nochmals die zweite Frage:

»Ist der Mond bewohnt gewesen?«

Dieselbe wurde einstimmig bejaht.

Aber während dieser Unterhaltung, reich an Theorien, die etwas gewagt waren – obwohl sie die über diesen Punkt von der Wissenschaft errungenen allgemeinen Ideen zusammenfaßt – war das Projectil rasch dem Mondäquator näher gekommen, wobei es sich regelmäßig von der Scheibe entfernte. Es war in einer Entfernung von achthundert Kilometer beim Circus Willem vorbei über den vierzigsten Breitegrad hinausgekommen. Darauf, den Pilatus unterm dreißigsten Grad rechts lassend, fuhr es längs der Südseite des Wolkenmeers, dem es im Norden nahe gewesen war. Einige Circus waren im Glanz des Vollmondes unklar zu sehen: Bouillaud, Purbach, fast viereckig mit einem Krater im Mittelpunkt, dann Arzachel, der im Inneren unendlich glänzend leuchtet.

Endlich, bei zunehmender Entfernung des Projectils, verschwanden die Umrisse vor den Blicken der Reisenden, die Berge wurden in der Entfernung unkenntlich, und von dem wundervollen, bizarren, seltsamen Gesammtbild des Erdtrabanten blieb ihnen bald nur die unvertilgbare Erinnerung.

Erstes Capitel


Erstes Capitel

Von zehn Uhr zwanzig bis zehn Uhr vierzig Minuten Abends.

Mit dem Schlag zehn Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren zahlreichen Freunden auf der Erde. Die beiden Hunde, welche das Hundegeschlecht in die Mondlande einführen und verbreiten sollten, befanden sich bereits im Projectil. Die drei Reisenden näherten sich der Mündung des enormen Laufs, und ein schwebender Krahnen brachte sie bis zur conischen Spitze der Kugel.

Hier traten sie durch eine zu diesem Behuf angebrachte Oeffnung in den Alumin-Waggon ein. Als die Taue des Krahnens aus der Röhre herausgezogen waren, wurde augenblicklich das letzte Gerüste von der Mündung der Columbiade entfernt.

Sowie Nicholl sich mit seinen Gefährten im Projectil befand, schloß er sorgfältig die Oeffnung mit einer starken Platte, welche von Innen durch Stellschrauben befestigt wurde. Andere, fest angepaßte Platten bedeckten die Linsengläser der Ausgucklöcher. Die Reisenden befanden sich im tiefsten Dunkel in ihrem metallenen Gefängniß hermetisch eingeschlossen.

»Und nun, meine lieben Kameraden«, sagte Michel Ardan, »thun wir, als wären wir hier zu Hause. Ich führe die Verwaltung des Inneren, ein Fach, worin ich sehr stark bin. Wir müssen’s uns in unserer neuen Wohnung so bequem wie möglich machen. Vor Allem, suchen wir ein wenig Luft zu bekommen! Was Teufel! Für Maulwürfe ist das Gas nicht erfunden worden!«

Bei diesen Worten ergriff der sorglose Geselle ein Zündhölzchen, rieb’s an der Sohle seines Stiefels und zündete damit die Flamme an dem Hahnen des Behälters, welcher das höchst zusammengepreßte Gas enthielt, das zur Erleuchtung und Erwärmung der Kugel auf sechs Tage und sechs Nächte, hundertvierundvierzig Stunden, ausreichen konnte.

Das also erleuchtete Projectil zeigte sich als wie ein comfortabel eingerichtetes Zimmer mit ausgefütterten Wänden, runden Divans daran, und wie in einem Dom gewölbter Decke.

Die darin enthaltenen Gegenstände, Waffen, Instrumente, Geräthe, waren an der Polsterfütterung wohl befestigt, so daß sie den Stoß bei der Abfahrt wohl aushalten konnten. Es waren alle nur ersinnbaren Vorkehrungen getroffen, um ein so tollkühnes Unternehmen glücklich auszuführen.

Michel Ardan untersuchte Alles und erklärte seine volle Zufriedenheit mit der Einrichtung.

»Es ist ein Gefängniß«, sagte er, »aber ein Reisegefängniß mit der Erlaubniß durch’s Fenster zu sehen; ich wäre im Stande, mich auf hundert Jahre einzumiethen! Du lächelst, Barbicane? Hast Du dabei einen Hintergedanken? Meinst Du, dies Gefängniß könne unser Grab sein? Grab, meinetwegen, aber ich möchte es nicht mit dem Mahomed’s tauschen, welches ohne Reisezweck in dem Weltraum fährt.«

Während Michel Ardan also sprach, trafen Barbicane und Nicholl ihre letzten Vorbereitungen.

Nicholl’s Chronometer zeigte zehn Uhr zwanzig Minuten Abends, als die drei Reisenden definitiv in ihr Geschoß eingeschlossen wurden. Der Chronometer war fast auf ein Zehntel einer Secunde nach dem des Ingenieurs Murchison gerichtet. Barbicane befragte ihn.

»Meine Freunde«, sagte er, »es ist zehn Uhr zwanzig Minuten. In siebenundzwanzig Minuten wird Murchison mit dem elektrischen Funken den Draht berühren, welcher mit der Ladung der Columbiade in Verbindung ist. In dem Moment werden wir dann unseren Erdball verlassen. Siebenundzwanzig Minuten also haben wir noch auf der Erde zu bleiben.«

– Sechsundzwanzig Minuten und dreißig Secunden, erwiderte der exacte Nicholl.

– Ei nun! rief Michel Ardan im besten Humor, in sechsundzwanzig Minuten läßt sich noch viel fertig bringen! Man kann da noch die wichtigsten politischen und sittlichen Fragen besprechen, und selbst lösen! Sechsundzwanzig wohl verwendete Minuten sind mehr werth, als sechsundzwanzig unthätig verlebte Jahre. Etliche Secunden eines Pascal oder Newton sind kostbarer, als das ganze Leben einer rohen Masse von Dummköpfen ….

– Und was folgerst Du daraus, ewiger Schwätzer? fragte der Präsident Barbicane.

– Ich folgere, daß wir noch sechsundzwanzig Minuten haben, erwiderte Ardan.

– Nur noch vierundzwanzig, sagte Nicholl.

– Vierundzwanzig, wenn Du’s so genau nimmst, mein wackerer Kapitän, erwiderte Ardan, vierundzwanzig Minuten, binnen welchen man könnte gründlich ….

– Michel, sagte Barbicane, auf unserer Fahrt werden wir reichlich Zeit haben, die schwierigsten Fragen gründlich zu erörtern. Befassen wir uns jetzt mit der Abfahrt.

– Sind wir nicht bereit?

– Allerdings. Doch sind noch einige Vorkehrungen zu treffen, um die Gewalt des ersten Stoßes möglichst abzuschwächen!

– Haben wir nicht die Wasserschichten in den zerbrechlichen Verschlägen unter uns, deren Spannkraft uns hinlänglich schützen wird?

– Das hoffe ich, Michel, erwiderte sanft Barbicane, aber ganz sicher bin ich dessen doch nicht!

– Ah! Possen! rief Michel Ardan. Er hofft! …. Ist der Sache nicht sicher! … Und dies klägliche Geständniß erst in dem Moment, da wir bereits eingepackt sind! Da möcht‘ ich auf und davon!

– Und wfie? erwiderte Barbicane.

– In der That, sagte Michel Ardan, das ist schwer. Wir sind im Zug und vor Ablauf von vierundzwanzig Minuten wird der Conducteur pfeifen …

– Zwanzig Minuten, sagte Nicholl.

Einige Minuten blickten sich die Reisenden einander an. Darauf prüften sie die mitgenommenen Gegenstände.

»Alles ist richtig an seiner Stelle«, sagte Barbicane. »Jetzt handelt sich’s zu bestimmen, wie wir am Besten Platz nehmen, um den Stoß bei der Abfahrt auszuhalten. Es ist dabei nicht einerlei, in welcher Stellung oder Lage man sich befindet, und man muß soviel wie möglich verhüten, daß das Blut zu stark nach dem Kopfe dringt.«

– Richtig, sagte Nicholl.

– Dann, erwiderte Michel Ardan, um die Regel durch das Beispiel zu erklären, legen wir uns, den Kopf unten und die Füße oben, wie die Clowns im Circus!

– Nein, sagte Barbicane, aber auf die Seite müssen wir uns legen. So widerstehen wir am besten dem Stoß. Merken Sie wohl, im Moment der Abfahrt ist’s fast einerlei, ob wir drinnen oder davor sind.

– Wenn nur »fast« einerlei, will ich’s zufrieden sein, erwiderte Michel Ardan.

– Stimmen Sie mir bei, Nicholl? fragte Barbicane.

– Ganz und gar, erwiderte der Kapitän. Noch dreizehn Minuten und eine halbe.

– Der Nicholl ist kein Mensch, rief Michel, sondern ein Secundenchronometer …

Aber seine Gefährten hörten ihn schon nicht mehr an, und machten ihre letzten Vorkehrungen mit einer Kaltblütigkeit ohne Gleichen. Sie machten’s, wie zwei methodische Reisende, die, wenn sie in einen Waggon eingestiegen, sich’s so bequem wie möglich zu machen suchen. Man fragt sich wahrhaftig, aus welchem Stoff die Herzen dieser Amerikaner gemacht sind, denen im Angesicht der erschrecklichsten Gefahr der Puls nicht rascher schlägt!

Man hatte drei dicke und solid gepolsterte Lagerstätten in dem Projectil hergerichtet. Nicholl und Barbicane brachten sie auf die Mitte der Scheibe, welche den beweglichen Fußboden bildete; auf diesen sollten die drei Reisenden einige Augenblicke vor der Abfahrt sich hinstrecken.

Während dessen verhielt sich Ardan, der sich nicht ruhig halten konnte, in seinem engen Gefängniß, wie ein Stück Rothwild im Käfig, plauderte mit seinen Freunden, schwatzte mit seinen Hunden, Diana und Trabant, denen er seit Kurzem diese bezeichnenden Namen gegeben hatte.

»He! Diana! He! Trabant!« rief er sie an. »Ihr werdet den Mondhunden die guten Sitten der Erdhunde zu zeigen haben! Ihr werdet dem Hundegeschlecht Ehre machen! Potz! Blitz! Ihr sollt euch mit Monddoggen paaren, daß ich, kommen wir zurück, eine Mischrasse mitbringe, die Furore machen wird!«

– Wenn’s dort Hunde giebt, sagte Barbicane.

– Es giebt deren dort, versicherte Michel Ardan, wie es dort Pferde, Kühe, Esel, Hühner giebt. Ich wette darauf, daß wir Hühner dort antreffen.

– Hundert Dollars, daß wir keine treffen, sagte Nicholl.

– Angenommen, lieber Kapitän, erwiderte Ardan mit einem Händedruck. Aber Du hast ja schon drei Wetten an unseren Präsidenten verloren, weil die nöthigen Geldmittel aufgebracht wurden, weil der Guß gelungen ist, und weil die Columbiade ohne Unfall geladen wurde, – das macht sechstausend Dollars.

– Ja, erwiderte Nicholl. Zehn Uhr siebenunddreißig Minuten und sechs Secunden.

– Wohl gemerkt, Kapitän. Nun, ehe eine Viertelstunde vorüber ist, wirst Du noch neuntausend Dollars an den Präsidenten zu zahlen haben, viertausend, weil die Columbiade nicht zerspringen wird, und fünftausend, weil die Kugel höher als sechs Meilen in die Lüfte dringen wird.

– Ich habe die Dollars bei mir, erwiderte Nicholl, und klopfte auf seine Tasche, ich wünsche nur, daß es zum Zahlen komme.

– Nicholl, ich sehe, daß Du ein Mann der Ordnung bist, was mir nie gelingen wollte, aber schließlich, Du hast da eine Reihe Wetten gemacht, wobei Du Dich sehr im Nachtheil befindest, erlaube mir diese Bemerkung.

– Und weshalb? fragte Nicholl.

– Weil, wenn Du die erste gewinnst, im Falle nämlich die Columbiade springt, und die Kugel mit, Barbicane nicht mehr in der Lage sein wird, Dich bezahlen zu können.

– Mein Einsatz befindet sich auf der Bank zu Baltimore, erwiderte einfach Barbicane, daß er, wo nicht an Nicholl, seinen Erben ausgezahlt werden kann.

– Was für praktische Leute! rief Michel Ardan. Positive Geister! Ich bewundere Euch um so mehr, als ich Euch nicht begreife.

– Zehn Uhr zweiundvierzig, sagte Nicholl.

– Noch über fünf Minuten! erwiderte Barbicane.

– Ja! Fünf kurze Minuten! entgegnete Michel Ardan. Und wir sind eingeschlossen in einem Geschoß innerhalb einer neunhundert Fuß langen Kanone! Und unter diesem Geschoß befinden sich viermalhunderttausend Pfund Schießbaumwolle, die eine Wirkung von sechzehnhunderttausend Pfund gewöhnlichen Pulvers haben! Und Freund Murchison, den Chronometer in der Hand, das Auge unverwandt auf dem Zeiger, den Finger auf dem elektrischen Apparat, zählt die Secunden, im Begriff uns in die Räume der Planetenwelt zu schleudern! …

– Genug, Michel, genug! sagte Barbicane mit ernstem Ton. Machen wir uns bereit. Nur noch einige Augenblicke haben wir bis zum letzten. Einen Handschlag, meine Freunde!

– Ja! rief Michel Ardan, mit etwas mehr Rührung, als er kund geben wollte. Die drei kühnen Genossen umarmten sich.

»Gott behüte uns!« sagte der fromme Barbicane.

Michel Ardan und Nicholl streckten sich auf die Polster auf der Mitte des Bodens.

»Zehn Uhr siebenundvierzig«, murmelte der Kapitän. Noch zwanzig Secunden! Barbicane löschte rasch die Gasflamme und legte sich neben seine Kameraden.

Nur die Secundenschläge des Chronometers unterbrachen die tiefste Stille.

Mit einem Mal ein entsetzlicher Stoß, und das Projectil, von sechs Milliarden Liter Gas getrieben, flog empor in den Weltraum.

Neunzehntes Capitel


Neunzehntes Capitel

Kampf mit dem Unmöglichen.

Geraume Zeit lang blickten Barbicane und seine Gefährten stumm und nachdenklich auf diese Welt, welche sie, wie Moses das Land Kanaan, nur aus der Ferne gesehen hatten, und von welcher sie sich wieder ohne Umkehr entfernten. Das Projectil hatte in Beziehung zum Mond seine Lage geändert und kehrte jetzt sein Bodenstück der Erde zu.

Diese Aenderung konnte Barbicane nur beunruhigen. Wenn die Kugel in elliptischer Bahn um den Trabanten kreisen sollte, warum kehrte sie ihm nicht ihren schwereren Theil zu, wie es bei dem Mond in Beziehung zur Erde der Fall ist. Hierin lag etwas Unerklärliches.

Bei Beobachtung der Bahn des Projectils konnte man wahrnehmen, daß es bei seiner Entfernung vom Mond eine krumme Linie verfolgte, welche der bei seiner Annäherung gleich war. Es beschrieb also eine sehr lange Ellipse, die sich wahrscheinlich bis zu dem Punkt gleicher Anziehung, wo die Einwirkung von Seiten der Erde und seines Trabanten sich das Gleichgewicht hielten, erstrecken würde.

Dieses eben folgerte Barbicane aus den beobachteten Thatsachen, und seine Freunde theilten seine Ansicht.

»Und wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, was wird aus uns werden? fragte Michel Ardan.

– Das ist’s eben, was wir nicht wissen! erwiderte Barbicane.

– Aber man kann doch muthmaßlich Fälle annehmen, denk‘ ich.

– Ich nehme deren zwei an, versetzte Barbicane. Entweder die Geschwindigkeit des Projectils wird nicht ausreichen, und dann wird es ewig unbeweglich auf dieser Linie doppelter Anziehung bleiben …

– Da würde ich doch den anderen Fall vorziehen, wie er auch sein mag, entgegnete Michel.

– Oder sie wird ausreichen, fuhr Barbicane fort, und es wird seine elliptische Bahn verfolgen, um ewig um das Nachtgestirn zu kreisen.

– Eine wenig tröstliche Aenderung, sagte Michel. Wir würden dann gehorsame Diener des Mondes, den wir als Diener anzusehen gewohnt sind! Und das wäre die Zukunft, welche uns bevorsteht?«

Weder Barbicane, noch Nicholl wußten eine Antwort.

»Sie schweigen? fuhr Michel ungeduldig fort.

– Es giebt darauf keine Antwort, sagte Nicholl.

– Läßt sich denn nichts versuchen?

– Nein, erwiderte Barbicane. Würdest Du gegen das Unmögliche ankämpfen wollen?

– Warum nicht? Sollten ein Franzose und zwei Amerikaner davor zurückschrecken?

– Aber was willst Du machen?

– Der Bewegung, welche uns fortreißt, Meister werden!

– Meister werden?

– Ja, versetzte Michel lebhaft, entweder sie hemmen oder abändern, zur Erreichung unserer Zwecke verwenden.

– Und wie?

– Das ist Eure Sache. Wenn die Artilleristen ihrer Kugeln nicht Meister sind, so sind sie keine Artilleristen mehr. Wenn die Kugel den Kanonier beherrscht, so muß man diesen statt ihrer in die Kanone laden! Treffliche Gelehrten, wahrhaftig! Da wissen sie nun nicht, was werden soll, nachdem sie mich verleitet …

– Verleitet! schrieen Barbicane und Nicholl. Verleitet! Was meinst Du damit?

– Keine Beschuldigungen! sagte Michel. Ich beklage mich nicht! Die Fahrt gefällt mir! Das Geschoß befriedigt! Aber thuen wir doch alles Menschenmögliche, um, wo nicht auf den Mond, doch wieder auf die Erde zu fallen.

– Nichts anderes begehren wir, wackerer Michel, erwiderte Barbicane, aber an den Mitteln fehlt’s.

– Können wir nicht die Bewegung des Projectils abändern?

– Nein.

– Noch seine Geschwindigkeit vermindern?

– Nein.

– Nicht einmal durch Ballastauswerfen?

– Was willst Du hinaus werfen? versetzte Nicholl. Wir haben nichts von Ballast. Und übrigens dünkt mir, ein leichteres Fahrzeug wird noch schneller fahren.

– Nicht so schnell, sagte Michel.

– Schneller, entgegnete Nicholl.

– Weder mehr, noch minder schnell, erwiderte Barbicane, um seine Freunde in Einklang zu bringen, denn im leeren Raum, worin wir uns bewegen, kommt das specifische Gewicht nicht mehr in Anschlag.

– Dann, rief Michel Ardan mit entschiedenem Ton, bleibt uns nur etwas zu thun übrig.

– Und was? fragte Nicholl.

– Frühstücken!« erwiderte, ohne sich irre machen zu lassen, der verwegene Franzose, der in den schwierigsten Fällen stets diese selbe Lösung bei der Hand hatte.

In der That, hatte diese Verrichtung auch keinen Einfluß auf die Richtung des Projectils, so konnte man sie doch ohne Nachtheil vornehmen, und in Beziehung auf den Magen mit Erfolg. Wahrhaftig, Michel hatte doch gute Ideen.

Man frühstückte also um zwei Uhr morgens; aber auf die Stunde kam’s ja nicht an. Michel tischte auf, wie gewöhnlich, und dazu eine liebliche Flasche aus seinem geheimen Keller. Wenn ihnen dabei nicht Ideen in den Kopf kamen, so mußte man am Chambertin von 1863 verzweifeln.

Nach Beendigung des Mahls singen sie wieder an zu beobachten.

Die aus dem Projectil hinaus geworfenen Gegenstände hielten sich unveränderlich in einer gewissen Entfernung. Es ging daraus klar hervor, daß dasselbe bei seiner Bewegung um den Mond keine Atmosphäre durchschnitt, weil dann das specifische Gewicht dieser Gegenstände ihre Bewegung verhältnißmäßig geändert hätte.

Von der Erde war nichts zu sehen. Es war erst ein Tag verflossen, seit sie Neulicht hatte, und erst nach zwei Tagen konnte ihre Sichel, aus den Sonnenstrahlen heraustretend, den Seleniten als Uhr dienen, weil bei ihrer Achsenbewegung jeder ihrer Punkte nach vierundzwanzig Stunden wieder an demselben Meridian des Mondes erscheint.

Der Mond dagegen bot einen ganz anderen Anblick. Er strahlte in vollem Glanze inmitten unzähliger Sternbilder, deren reines Licht das seinige nicht schwächen konnte. Auf der Scheibe nahmen die Ebenen bereits wieder den düsteren Schein an, wie er von der Erde aus zu sehen ist. Der übrige Theil des Luftkreises schimmerte fortwährend, und mitten in dem allgemeinen Glanz leuchtete Tycho noch wie eine Sonne vor.

Es war Barbicane durchaus nicht möglich, die Schnelligkeit des Projectils zu schätzen; aber er urtheilte nach den Gesetzen der rationellen Mechanik, daß diese Schnelligkeit sich gleichmäßig mindern müsse.

In der That, nahm man an, die Kugel sei im Begriff eine Kreisbahn um den Mond zu beschreiben, so mußte diese nothwendig eine Ellipse sein. Die Wissenschaft enthält den Beweis. Jeder Körper, der in seiner Bewegung um einen andern ihn anziehenden Körper kreist, ist diesem Gesetz unterworfen. Alle Kreisbahnen im Weltraum sind elliptisch, die der Trabanten um die Planeten, der Planeten um die Sonne, die der Sonne um das unbekannte Gestirn, um welches im Mittelpunkt Alles sich dreht. Warum sollte das Projectil des Gun-Clubs von diesem Naturgesetz ausgenommen sein?

In den elliptischen Bahnen nun befindet sich der anziehende Körper stets an einem der Brennpunkte der Ellipse. Der Trabant ist daher dem Gestirn, um welches er kreist, bald näher, bald ferner. Kommt die Erde auf ihrer Bahn der Sonne näher, so steht sie in ihrer Perihelie (Sonnennähe), dagegen in der Aphelie (Sonnenferne), wann sie am weitesten von ihr absteht. Ebenso befindet sich der Mond in seiner Erdnähe und Erdferne. Wenden wir zur Bereicherung der Sprache diese Astronomen-Begriffe auf das Projectil als Trabanten des Mondes an, so befindet es sich in einer Mondnähe (Periselene) und Mondferne (Aposelene).

Im ersten Falle mußte es seine größte Geschwindigkeit erreichen, im zweiten seine geringste. Nun bewegte es sich offenbar dem Punkt seiner Mondferne zu, und Barbicane schloß richtig, seine Geschwindigkeit werde bis zu diesem Punkt abnehmen, um dann allmälig in dem Verhältniß, wie es sich dem Monde näherte, wieder zuzunehmen. Diese Geschwindigkeit werde gänzlich aufhören, wenn dieser Punkt mit dem der gleichen Anziehung zusammen fiele.

Barbicane studirte die Folgen dieser verschiedenen Fälle, um sicher zu sein, wie man sich dabei zu verhalten habe, als ihn plötzlich Michel Ardan mit dem lauten Ausbruch unterbrach:

»Herrgott! Wir sind doch rechte Dummköpfe!

– Ich sage nicht Nein dazu, erwiderte Barbicane, aber weshalb?

– Weil wir ein sehr einfaches Mittel besitzen, die Schnelligkeit zu hemmen, und wenden’s nicht an!

– Und welches?

– Haben wir nicht die Hemmkraft unserer Raketen?

– Wirklich, sagte Nicholl.

– Wir haben allerdings von dieser Kraft noch keinen Gebrauch gemacht, aber wir werden’s noch thun.

– Wann? fragte Michel.

– Wann die rechte Zeit dafür kommt. Bemerken Sie, meine Freunde, daß bei der gegenwärtigen Lage des Projectils, welche im Verhältniß zur Mondscheibe noch schief ist, die Wirkung unserer Raketen auf Aenderung seiner Richtung den Erfolg haben könnte, dasselbe vom Mond zu entfernen, anstatt es ihm zu nähern, was doch wohl unser Zweck ist.

– Hauptsächlich, erwiderte Michel.

– Merken Sie weiter. Durch einen unerklärlichen Einfluß zeigt das Projectil das Bestreben, seinen Boden der Erde zuzukehren. Wahrscheinlich wird es auf dem Punkt gleicher Anziehung seine konische Spitze gerade auf den Mond richten. In diesem Moment läßt sich erwarten, daß seine Geschwindigkeit aufgehoben sein wird. Dies wird der rechte Moment sein, um durch die Wirkung unserer Raketen vielleicht einen directen Fall auf die Mondoberfläche hervorzurufen.

– So recht! sprach Michel.

– Wir haben das nicht gethan, als wir uns zum ersten Mal auf dem Punkt des Stillstandes befanden, und konnten’s auch nicht thun, weil die bewegende Kraft im Projectil noch zu beträchtlich war.

– Richtig geurtheilt, sagte Nicholl.

– Warten wir in Geduld ab, fuhr Barbicane fort. Versichern wir uns für jeden Fall des Vortheils, dann fasse ich, nachdem wir so lange verzweifelten, wieder Hoffnung, daß wir unser Ziel erreichen werden.«

Michel Ardan begrüßte diese Aeußerung mit Hip und Hurrah! und keiner dieser Tollkühnen erinnerte sich, daß sie zu der Resolution gekommen waren: Nein, der Mond ist nicht bewohnt, der Mond ist wahrscheinlich nicht bewohnbar! Und dennoch waren sie im Begriff, Alles zu versuchen, um auf demselben anzukommen!

Es blieb nur noch die Frage zu beantworten: in welchem Moment würde das Projectil genau den Punkt gleicher Anziehung erreichen, wo sodann die Reisenden Alles auf’s Spiel setzen wollten?

Um diesen Moment bis auf einige Secunden genau zu berechnen, brauchte Barbicane nur seine Reisenotizen zu Rathe zu ziehen und herauszuheben, wann er über den verschiedenen Parallelgraden des Mondes sich befand. Es mußte demnach die Zeit, welche erforderlich war, um die Linie zwischen dem Punkt des Stillstandes und dem Südpol zu durchlaufen, derjenigen gleich sein, welche vom Nordpol bis zu dem Stillstandspunkt zu durchlaufen war. Die Zeitpunkte der zurückgelegten Linie waren genau notirt, und dadurch die Berechnung leicht.

Barbicane fand nun, daß das Projectil um ein Uhr frühe in der Nacht vom 7. zum 8. December diesen Punkt erreichen werde. In diesem Moment war es drei Uhr frühe in der Nacht vom 6. zum 7. December. Folglich mußte, wenn keine Störung eintrat, das Projectil binnen zweiundzwanzig Stunden an dem gedachten Punkt anlangen.

Die Raketen hatten ursprünglich die Bestimmung, das Fallen auf den Mond langsamer zu machen, und jetzt waren die Wagehälse im Begriff, sie für den gerade entgegengesetzten Zweck zu verwenden. Wie dem auch sein mochte, sie waren bereit, im Augenblick angezündet zu werden.

»Weil wir jetzt nichts zu thun haben, sagte Nicholl, so mache ich einen Vorschlag.

– Welchen? fragte Barbicane.

– Zu schlafen.

– Das wäre köstlich! rief Michel Ardan.

– Seit vierzig Stunden haben wir die Augen nicht geschlossen, sagte Nicholl. In einigen Stunden werden wir uns völlig erholen.

– Niemals, entgegnete Michel.

– Gut, versetzte Nicholl, thue jeder nach Belieben! Ich für meinen Theil schlafe!«

Und Nicholl streckte sich auf einen Divan und bald schnarchte er gleich einem Achtundvierzig-Pfünder.

»Der Nicholl ist gescheit, sagte Barbicane. Ich mach’s ihm nach.«

Und nach einigen Augenblicken secundirte er mit seiner Baßbegleitung den Bariton des Kapitäns.

»Gewiß, sagte Michel Ardan, als er sich allein sah, diese praktischen Leute haben Ideen, die so übel nicht sind.«

Und seine langen Beine ausgestreckt, seine Arme unterm Kopf, schlief auch Michel ein.

Aber dieser Schlaf konnte weder ruhig noch dauernd sein. Die drei Männer hatten doch allzuviel beunruhigende Gedanken im Kopf, und nach einigen Stunden, gegen sieben Uhr frühe, waren sie alle drei wieder auf den Füßen.

Das Projectil entfernte sich immer mehr von dem Mond und kehrte ihm immer mehr seine Spitze zu. Die Erscheinung war bis jetzt unerklärlich, aber zum Glück den Absichten Barbicane’s förderlich.

Noch siebenzehn Stunden bis zum Moment des Handelns.

Dieser Tag wurde ihnen lang. So kühn die Reisenden auch waren, so lebhaft waren sie doch beunruhigt beim Herannahen des Augenblicks, der die Entscheidung bringen sollte, ob sie nach dem Mond fallen, oder ewig in einer unabänderlichen Bahn festgehalten werden sollten. Sie zählten die Stunden, welche ihnen allzulang wurden, Barbicane und Nicholl unablässig in ihre Berechnungen vertieft, Michel zwischen den engen Wänden hin und her gehend mit sehnsüchtigen Blicken nach dem Mond.

Bisweilen durchkreuzten flüchtige Erinnerungen an die Erde ihren Kopf. Sollten sie ihre Freunde des Gun-Clubs, und vor Allen den theuren J.T. Maston wieder sehen? In dem Augenblick mußte der ehrenwerthe Secretär an seinem Posten im Felsengebirge sein. Wenn er das Projectil vor dem Spiegel seines Riesenteleskopf sah, was dachte er wohl? Nachdem er’s hinter dem Südpol des Mondes verschwinden gesehen, sah er’s am Nordpol wieder zum Vorschein kommen! Es war also Trabant eines Trabanten! Hatte J.T. Maston diese unerwartete Neuigkeit in der Welt verbreitet? Das also war die Lösung des großen Unternehmens? …

Inzwischen verlief der Tag ohne Zwischenfall. Es kam Mitternacht auf der Erde heran. Der 8. December sollte anbrechen. Noch eine Stunde, und der Moment gleicher Anziehung war gekommen. Welche Schnelligkeit hatte damals das Projectil noch? Man konnte es nicht schätzen. Aber die Berechnungen Barbicane’s konnten nicht irrig sein. Um ein Uhr frühe sollte diese Schnelligkeit gleich Null sein.

Eine andere Erscheinung mußte übrigens den Punkt kenntlich machen, wo das Projectil bei der neutralen Linie ankam. Die beiden Anziehungskräfte, von der Erde und dem Mond her, sollten sich aufheben. Die Gegenstände verloren dann ihr Gewicht. Diese auffallende Thatsache, welche bei der ersten Ankunft Barbicane und seine Gefährten so merkwürdig überrascht hatte, mußte bei der Rückkehr unter den gleichen Bedingungen sich wiederholen. In dem Moment eben galt’s zu handeln.

Bereits hatte sich die konische Spitze des Projectils merklich der Mondscheibe zugekehrt. Es nahm eine Lage an, daß man die ganze Kraft des durch Abbrennen der Raketen erzeugten Rückstoßes benützen konnte. Das war also eine günstige Aussicht für die Reisenden. Wenn die Geschwindigkeit des Projectils auf dem neutralen Punkt völlig aufgehoben war, konnte ein entschiedener Stoß nach dem Monde hin, wenn auch nicht bedeutend, doch das Fallen zu Stande bringen.

»Noch fünf Minuten bis ein Uhr, sagte Nicholl.

– Alles ist fertig, erwiderte Michel Ardan, und hielt schon eine angezündete Lunte nach der Gasflamme hin.

– Warte,« sagte Barbicane, sein Chronometer in der Hand.

In diesem Augenblick gewahrte man keine Wirkung der Schwere mehr. Die Reisenden empfanden in sich selbst den völligen Mangel derselben. Sie waren dem neutralen Punkt sehr nahe, wo nicht auf demselben …

»Ein Uhr!« sagte Barbicane.

Michel Ardan hielt die brennende Lunte an eine Vorrichtung, welche die Raketen augenblicklich zu gemeinsamer Wirkung brachte. Man hörte aus Mangel an Luft innen keinen Knall. Aber durch die Luken gewahrte Barbicane ein fortdauerndes Ausströmen eines alsbald erlöschenden Feuers.

Das Projectil hatte eine Erschütterung zu erleiden, die im Innern sehr merklich verspürt wurde.

Die drei Freunde schauten, horchten stumm, kaum athmend. Man hätte bei der absoluten Stille ihr Herz können klopfen hören.

»Fallen wir? fragte endlich Michel Ardan.

– Nein, erwiderte Nicholl, denn der Boden des Projectils kehrt sich nicht dem Mond zu!«

In diesem Augenblick trat Barbicane vom Fenster zurück und wendete sich zu seinen Gefährten, entsetzlich bleich, die Stirne gerunzelt, die Lippen zusammengepreßt.

»Wir fallen! sprach er.

– Ach! rief Michel Ardan, auf den Mond?

– Der Erde zu! erwiderte Barbicane.

– Teufel! schrie Michel Ardan, und fügte philosophisch hinzu: Richtig, als wir uns in die Kugel begaben, konnten wir wohl ahnen, daß es nicht leicht sein werde, wieder heraus zu kommen!«

Wirklich begann der fürchterliche Herabsturz. Die im Projectil noch enthaltene Geschwindigkeit hatte es über den neutralen Punkt hinaus gebracht. Das Abbrennen der Raketen konnte es nicht hemmen. Dieselbe Geschwindigkeit, welche bei der Ankunft das Projectil über die neutrale Linie hinausgetrieben hatte, trieb’s ebenso bei der Rückkehr. Nach den Gesetzen der Physik mußte es auf seiner elliptischen Bahn wieder auf dieselben Punkte kommen, worauf es bereits gewesen war.

Es war ein erschrecklicher Sturz aus einer Höhe von achtundsiebenzigtausend Lieues herab, ohne daß irgend eine Vorrichtung ihn schwächen konnte. Nach den Gesetzen der Ballistik mußte das Projectil mit gleicher Geschwindigkeit auf der Erde anlangen, wie die war, welche es beim Herausfahren aus der Columbiade hatte, also von »sechzehntausend Meter in der letzten Secunde!«

Und um zur Vergleichung eine andere Zahl daneben zu stellen, hat man berechnet, daß ein von der Spitze des Thurmes Notre-Dame, der nur zweihundert Fuß hoch ist, herabfallender Gegenstand mit einer Geschwindigkeit von hundertundzwanzig Lieues in der Stunde auf dem Pflaster anlangt. Im jetzigen Fall mußte das Projectil mit einer Geschwindigkeit von siebenundfünfzigtausendsechshundert Lieues in der Stunde auf die Erde schmettern.

»Wir sind verloren, sagte Nicholl kaltblütig.

– Nun dann, werden wir um’s Leben kommen, erwiderte Barbicane mit einer Art frommer Begeisterung, so wird das Ergebniß unserer Reise sich prachtvoll erweitern! Gott wird uns sein Geheimniß selbst mittheilen! Im jenseitigen Leben wird die Seele zum Wissen nicht mehr der Maschinen und Instrumente bedürfen! Sie wird mit der ewigen Weisheit eins werden!

– Wahrhaftig, versetzte Michel Ardan, die ganze jenseitige Welt kann uns wohl tröstlichen Ersatz geben für das unbedeutende Gestirn, welches Mond heißt!«

Barbicane kreuzte die Arme vor der Brust mit dem Gefühl erhabener Ergebung.

»Wie der Himmel will!« sprach er.

Zwanzigstes Capitel


Zwanzigstes Capitel

Sondiren der Susquehanna.

»Nun, Lieutenant, und dies Sondiren?

– Ich glaube, mein Herr, wir werden bald damit zu Ende sein, erwiderte der Lieutenant Bronsfield. Aber wer hätte auch vermuthen können, daß sich hier so nahe beim Land eine solche Tiefe fände, nur hundert Lieues von der amerikanischen Küste?

– Es ist in der That, Bronsfield, eine starke Vertiefung, sagte der Kapitän Blomsberry, ein Thal auf dem Meeresgrund, von der Humboldtströmung gebildet, welche sich längs der amerikanischen Küste bis zur Magellan’schen Enge hinzieht.

– Solche große Tiefen, fuhr der Lieutenant fort, sind dem Legen telegraphischer Kabel ungünstig. Besser ein gleichmäßig ebener Grund, wie unter dem amerikanischen Kabel zwischen Valentia und Neufundland.

– Ich glaub’s wohl, Bronsfield. Und, erlauben Sie, Lieutenant, wie weit sind wir jetzt damit?

– Mein Herr, erwiderte Bronsfield, wir haben in diesem Augenblick einundzwanzigtausendfünfhundert Fuß Schnur draußen, und die Kugel, welche die Sonde hinabzieht, ist noch nicht auf dem Grund, denn die Sonde würde von selbst wieder herauskommen.

– Der Brook’sche Apparat ist doch recht sinnreich, sagte der Kapitän Blomsberry. Man kann damit äußerst genau sondiren.

– Grund!« schrie in diesem Augenblick einer der Bootsleute, der die Arbeit überwachte.

Der Kapitän und der Lieutenant begaben sich auf’s Vordercastell.

»Welche Tiefe haben wir jetzt? fragte der Kapitän.

– Einundzwanzigtausendsiebenhundertzweiundsechzig Fuß, erwiderte der Lieutenant, und notirte diese Ziffer in sein Büchlein.

– Gut, Bronsfield, sagte der Kapitän, ich will dies Ergebniß eintragen. Jetzt lassen Sie die Sonde herausziehen; das wird einige Stunden dauern. Mittlerweile wird der Ingenieur heizen lassen, und wir wollen abfahren, sobald Sie fertig sind. Es ist jetzt zehn Uhr Abends und mit Ihrer Erlaubniß, Lieutenant, will ich mich schlafen legen.

– Thun Sie’s nur, mein Herr, thun Sie’s!« erwiderte verbindlich der Lieutenant Bronsfield.

Der Kapitän der Susquehanna, ein wackerer Mann, wie je einer, und seinen Officieren freundlich ergeben, begab sich in seine Cabine, nahm ein Gläschen Grog mit schmeichelhafter Begrüßung seines Küchenmeisters, legte sich schlafen, nachdem er seinen Diener über sein Bettmachen belobt, und schlief ruhig ein.

Es war zehn Uhr Abends. Der 11. December endigte mit einer prachtvollen Nacht.

Die Corvette Susquehanna von fünfhundert Pferdekraft, zur Nationalmarine der Vereinigten Staaten gehörig, war im Stillen Ocean mit Sondiren beschäftigt, etwa hundert Meilen vor der amerikanischen Küste, gegenüber der langen Halbinsel, die sich vor Neu-Mexico hinzieht.

Der Wind hatte sich allmälig gelegt, die Luft war unbewegt, schlaff hing vom Mast der Wimpel.

Der Kapitän Jonathan Blomsberry, Vetter des Obristen Blomsberry, den wir als ein so eifriges Mitglied des Gun-Clubs kennen – hätte sich für seine Sondirungen kein besseres Wetter wünschen können. Seine Corvette hatte nichts von dem ungeheuren Sturm zu leiden, welcher das Gewölk vom Felsengebirge wegfegend dem Teleskop seine Beobachtung des Projectils möglich machte. Alles ging nach Wunsch, und er versäumte nicht, mit der inbrünstigen Andacht eines Presbyterianers dem Himmel dafür zu danken.

Die von der Susquehanna vorgenommenen Sondirungen hatten zum Zweck, den geeignetsten Boden für Legung eines unterseeischen Kabels zwischen den Hawaï-Inseln und der amerikanischen Küste zu erforschen.

Das große Project wurde von einer vielvermögenden Gesellschaft in die Hand genommen. Ihr Director, der einsichtige Cyrus Field, beabsichtiget sogar, alle Inseln des Oceans mit einem elektrischen Netz zu verbinden, eine ungeheure, des amerikanischen Geistes würdige Unternehmung.

Die ersten Vorrichtungen dafür waren der Corvette Susquehanna anvertraut. Während der Nacht des 11. zum 12. December befand sie sich genau unterm 27°7′ nördl. Breite und 41°37′ westl. Länge vom Meridian Washingtons ab.

Der Mond, damals in seinem letzten Viertel, stieg am Horizont heraus.

Nachdem der Kapitän Blomsberry sich entfernt hatte, stand der Lieutenant Bronsfield mit einigen Officieren auf dem Verdeck beisammen. Als der Mond aufging, richteten sich ihre Blicke nach dem Gestirn, das eben von den Augen einer ganzen Hemisphäre betrachtet wurde. Die besten Seefernrohre hätten das um seine Halbkugel kreisende Projectil nicht auffinden können, und doch wurden alle nach der leuchtenden Scheibe gerichtet, die zu gleicher Zeit-Millionen Blicke mit Lorgnetten betrachteten.

»Sie sind seit zehn Tagen fort, sagte der Lieutenant Bronsfield. Was ist aus ihnen geworden?

– Sie sind angekommen, mein Lieutenant, rief ein junger See-Cadet, und sie machen’s wie jeder Reisende, der in ein neues Land kommt, sie gehen spazieren!

– Das bin ich überzeugt, weil Sie mir’s sagen, mein junger Freund, erwiderte lächelnd der Lieutenant Bronsfield.

– Indessen, versetzte ein anderer Officier, läßt sich ihre Ankunft nicht in Zweifel ziehen. Das Projectil mußte den Mond im Moment, da er voll war, am 5. zu Mitternacht, erreichen. Nun haben wir 11. December, das macht sechs Tage. In sechsmal vierundzwanzig Stunden hat man, das ist klar, Zeit genug, sich bequem einzurichten. Es dünkt mir, als sähe ich unsere braven Landsleute, in einem Thalgrund am Ufer eines selenitischen Baches gelagert, neben dem in Folge des Herabsturzes halb im Boden steckenden Projectil mitten unter vulkanischen Trümmern, wie der Kapitän Nicholl seine Nivellirarbeiten beginnt, der Präsident Barbicane seine Reisenotizen ordnet, Michel Ardan die Einöden des Mondes mit dem Duft seiner Cigarre parfümirt.

– Ja, so muß es wohl sein, so! rief der junge See-Cadet, von der idealen Schilderung seines Vorgesetzten begeistert.

– Ich will’s wohl glauben, erwiderte der Lieutenant Bronsfield, der sich nicht ereiferte. Leider fehlen uns immer noch directe Nachrichten aus der Mondwelt.

– Verzeihen Sie, mein Lieutenant, sagte der See-Cadet, aber kann der Präsident Barbicane nicht schreiben?«

Lautes Lachen war die Antwort.

»Nicht Briefe, fuhr der junge Mann lebhaft fort. Die Postadministration geht das nichts an.

– Aber doch wohl die Administration des Telegraphenverkehrs? fragte ironisch einer der Officiere.

– Ebensowenig, erwiderte der Cadet, der auf seinem Gedanken beharrte. Aber es ist doch nicht schwer, einen schriftlichen Verkehr mit der Erde einzurichten.

– Und wie?

– Vermittelst des Teleskops zu Long’s Peak. Sie wissen, daß es den Mond bis auf zwei Lieues dem Felsengebirge nahe bringt, und daß man vermittelst desselben auf dessen Oberfläche Gegenstände von neun Fuß Durchmesser sehen kann. Nun! Wenn unsere sinnreichen Freunde ein riesenmäßiges Alphabet verfassen, damit hundert Toisen lange Worte und eine Lieue lange Sätze schreiben, so können sie uns Nachricht von sich zukommen lassen.«

Dem jungen Cadetten, dem es sicherlich nicht an Phantasie fehlte, ward rauschender Beifall zu Theil. Der Lieutenant Bronsfield gab selbst zu, die Idee sei ausführbar. Er fügte ferner bei, man könne auch vermittelst parabolischer Spiegel durch bündelweise gruppirte Lichtstrahlen einen directen Verkehr herstellen; doch müsse er bemerken, könne man auch auf diese Weise Mittheilungen aus der Mondwelt erhalten, so könne man nicht umgekehrt von der Erde aus sie zusenden, weil sie dort nicht mit den dazu erforderlichen Instrumenten versehen wären.

»Das ist klar, erwiderte einer der Officiere; aber was aus den Reisenden geworden ist, was sie ausgerichtet, gesehen haben, das interessirt uns doch höchlich. Uebrigens, wenn, woran ich nicht zweifle, das Unternehmen glückte, wird man’s wiederholen. Die Columbiade ist im Boden Florida’s wohl aufbewahrt. Es handelt sich also nur um das Geschoß und Pulver, und jedesmal, wann der Mond im Zenith steht, kann man ihm eine Ladung Besucher zusenden.

– Offenbar, erwiderte der Lieutenant Bronsfield, wird J.T. Maston nächster Tage seinen Freunden nachreisen.

– Wenn er mich mitnehmen will, rief der Cadet, bin ich gerne dabei.

– O! An Reiselustigen wird’s nicht fehlen, versetzte Bronsfield, und läßt man sie gewähren, so wird die Hälfte der Erdbewohner bald nach dem Mond auswandern!«

Diese Unterhaltung unter den Officieren der Susquehanna dauerte bis ungefähr ein Uhr Morgens. Was für schwindelhafte Systeme, was für Umsturztheorien von diesen Verwegenen aufgestellt wurden, läßt sich nicht sagen. Seit Barbicane’s Unternehmen schien den Amerikanern nichts unmöglich zu sein. Sie machten schon das Project, nicht blos eine Commission von Gelehrten, sondern eine ganze Colonie zu den Selenitengestaden zu entsenden, und ein ganzes Heer mit Infanterie, Artillerie und Cavallerie, um die Mondwelt zu erobern.

Um ein Uhr Morgens war das Herauswinden der Sonde noch nicht fertig; es waren achtzehntausend Fuß draußen, was noch einige Stunden Arbeit erforderte. Gemäß dem Befehl des Commandanten waren die Feuer angezündet, und der Dampfdruck begann. Die Susquehanna war zum Auslaufen bereit.

In diesem Moment – ein Uhr siebenzehn Minuten – war der Lieutenant Bronsfield im Begriff, von seinem Posten abgelöst, sich in seine Cabine zu begeben, als ganz unerwartet ein fernes Pfeifen seine Aufmerksamkeit erregte.

Er glaubte nebst seinen Kameraden Anfangs, das Pfeifen rühre von einem Entweichen des Dampfes her; aber als sie die Köpfe emporrichteten, konnten sie sich überzeugen, daß der Ton aus den entferntesten Luftschichten her kam.

Sie hatten nicht Zeit, sich gegenseitig zu fragen, als das Pfeifen unendlich stark wurde, und plötzlich vor ihren bestürzten Blicken ein enormer Bolid zum Vorschein kam, der bei der reißenden Schnelligkeit seines Falles durch seine Reibung der atmosphärischen Luftschichten in vollen Flammen war.

Diese feurige Masse nahm vor ihren Augen an Größe zu, schlug mit donnergleichem Getöse wider das Bugspriet der Corvette, zerschmetterte es dicht am Vordersteven und versank mit betäubendem Tosen in die Tiefe der Fluthen!

Einige Fuß näher hätte es die Susquehanna mit Mann und Maus zertrümmert.

In diesem Augenblick erschien halb angekleidet der Kapitän Blomsberry auf dem Vordercastell, wohin seine Officiere vorangeeilt waren.

»Mit Erlaubniß, meine Herren, was ist vorgegangen?« fragte er. Und der Cadet, der für alle das Wort ergriff, rief:

»Commandant, ›sie‹ sind zurückgekehrt!«