Fünfzehntes Capitel.


Fünfzehntes Capitel.

Von jetzt ab stieg die Sonne Tag für Tag höher über den Horizont hinauf. Wenn die lange Nacht aber auch für einige Stunden unterbrochen wurde, so nahm doch die Kälte dabei zu, wie das ja im Februar häufig beobachtet wird, und das Thermometer zeigte – 17°, die niedrigste in diesem seltsamen Winter aufgetretene Temperatur.

»Wann beginnt in diesen Meeren wohl das Thauwetter? fragte da einmal die Reisende den Lieutenant Hobson.

– In gewöhnlichen Jahren, Madame, antwortete Dieser, findet der Eisbruch in den ersten Tagen des Mai statt; nach einem so milden Winter, wie dem gegenwärtigen, könnte das aber, wenn nicht noch eine Periode strengen Frostes dazwischen tritt, schon Anfangs April geschehen, – wenigstens nach meiner Beurtheilung der einschlagenden Verhältnisse.

– Demnach hätten wir also noch zwei Monate lang zu warten?

– Mindestens noch zwei Monate, Madame, da es räthlich erscheint, unsere Einschiffung nicht zu übereilen, und ich denke, wir werden die meiste Aussicht auf glücklichen Erfolg haben, wenn wir den Zeitpunkt abwarten können, in dem die Insel sich in der engsten nur etwa hundert Meilen breiten Stelle der Behrings- Straße befinden wird.

– Was sagen Sie da, Herr Jasper? entgegnete die Reisende, erstaunt über diese Erklärung des Lieutenants. Haben Sie denn ganz vergessen, daß wir von dem nach Norden abfließenden Kamtschatka- Strome hierher geführt wurden, daß dieser uns mit Eintritt des Thauwetters wieder erfassen und möglicher Weise noch weiter hinauf verschlagen wird?

– Das denke ich nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson; ja, ich möchte gerade das Gegentheil behaupten. Der Eisgang vollzieht sich immer in der Richtung von Norden nach Süden, mag nun der Kamtschatka-Strom sich zu der Zeit umkehren oder das Eis dem Behrings-Strome verfallen, oder auch ein anderer mir unbekannter Grund dafür vorliegen. Unabänderlich treiben aber die Eisberge alle nach der Behrings-Straße zu und schmelzen endlich m den wärmeren Fluchen des Pacifischen Oceans. Fragen Sie Kalumah darüber. Sie kennt diese Meere und wird Ihnen meine Aussage bezüglich der Aufeinanderfolge des Thauwetters bestätigen.«

Die herbeigerufene Kalumah bezeugte die Worte des Lieutenants. Man hatte demnach zu erwarten, daß die Insel in den ersten Tagen des April gleich einer großen Eisscholle nach Süden, und damit nach der schmälsten Stelle der Behrings-Straße treiben würde. Letztere aber befahren sowohl Fischer aus Neu-Archangel häufig, als auch Lootsen und Küstenschiffer. Brachte man indeß alle leicht möglichen Verzögerungen bei Berechnung der Zeit in Anschlag, welche diese Rückfahrt nach Süden wohl erfordern mochte, so durfte man vor Anfang Mai nicht darauf rechnen, das Festland zu betreten. Obgleich die Kälte übrigens nicht intensiv gewesen war, so mußte doch die Insel insofern haltbarer geworden sein, als sie durch Eisanlagerung von unten her gewiß an Dicke zugenommen hatte, so daß man auf ihr Ausdauern während mehrerer Monate rechnen konnte.

Die Ueberwinterer mußten sich also in Geduld fassen und ruhig die Zukunft abwarten.

Die Genesung des kleinen Kindes machte weitere Fortschritte. Am 20. Februar kam es nach vierzigtagiger Krankheit zum ersten Male wieder an die Luft, d.h. es trippelte von dem Zimmer seiner Eltern nach dem allgemeinen Saale hinüber, wo es von Zärtlichkeiten überhäuft wurde. Seine Mutter, die es schon mit Vollendung des ersten Lebensjahres entwöhnen wollte, that das auf Madge’s Zureden nicht, und so erlangte es, nur abwechselnd Rennthiermilch genießend, bald seine vollen Kräfte wieber. Tausenderlei Spielsachen hatten die freundlichen Soldaten während seiner Krankheit hergestellt, und selbstverständlich war es dabei das glücklichste Baby von der Welt.

Die letzte Februarwoche zeichnete sich durch außerordentlichen Regen- und Schneefall aus, bei kräftigem Winde aus Südwesten. Bei der niedrigen Temperatur einzelner Tage lagerte sich wieder fußhoher Schnee ab. Dabei wuchs der Wind zum Sturme. Von Cap Bathurst und der Packeismauer her erklang das Heulen des Sturmes wahrhaft betäubend, dazu stürzten an einander geworfene Eisberge mit donnerähnlichem Krachen zusammen, und ein unsichtbarer Druck häufte im Norden die Schollen an das Ufer der Küste. Es stand selbst zu befürchten, daß das Cap, – eigentlich doch auch eine Art mit Sand und Erde überdeckter Eisberg, niedergeworfen würde. Zum Glücke für die Factorei leistete es jedoch aushaltenden Widerstand und schützte die Baulichkeiten vor vollkommener Zerstörung.

Man sieht leicht ein, wie höchst gefährlich sich die einstige Lage der Insel an der engen Meeresstraße gestalten mußte, vor welcher das Eis sich staute. Sie konnte dort von einer horizontalen Lawine, wenn man so sagen darf, zerdrückt, von den aus der offenen See herantreibenden Eisschollen zersprengt werden, bevor sie in den Abgrund zu versinken drohte. Hierin lag eine neue, zu den übrigen noch hinzutretende Gefahr. Als Mrs. Paulina Barnett die furchtbare Kraft des Eisdruckes und die unwiderstehliche Gewalt sah, die jene Berge übereinander thürmte, wurde ihr klar, wie bedrohlich das erwartete Thauwetter für die Insel werden mußte. Sie sprach davon mehrmals gegen Lieutenant Hobson; doch dieser zuckte nur mit den Achseln, wie Jemand, der nicht antworten will oder es auch nicht kann.

In den ersten Tagen des März legte sich der Sturm vollkommen und konnte man nun die an dem Eisfelde eingetretenen Veränderungen übersehen. In der Thai schien es, als ob die Packeismauer über die Oberfläche des Eises hinweg gleitend sich der Insel Victoria genähert habe. An manchen Stellen kaum noch zwei Meilen von letzterer entfernt, ähnelte sie in gewisser Hinsicht den Gletschern, nur mit dem Unterschiede, daß diese herabsinken, während jene nur vorwärts schritt.

Der Boden, oder vielmehr das Eisfeld zwischen der hohen Mauer und der Küste mit seiner krampfhaften Umwälzung, den starrenden Spitzhügeln, zerbrochenen Eisnadeln, gestürzten Stämmen und eingesunkenen Pyramiden, dazu seiner wellenförmige!! Grundfläche, – das Bild eines während des tollsten Sturmes verzauberten Meeres, – war gar nicht wieder zu erkennen. Man hätte die Ruinen einer zerstörten Stadt, in der kein Stein auf dem anderen geblieben war, zu sehen geglaubt. Nur die hohe, wunderbar geschnittene Packeismauer mit ihren himmelan strebenden Kegeln, Kuppeln und Kämmen und ihren spitzigen Pics erhielt sich unverändert, und umschloß das pittoreske Gewühl mit erhabenem Rahmen.

Um diese Zeit kam das Fahrzeug zur Vollendung. Trotz ihrer etwas plumpen Form, bei der es indeß bewenden mußte, machte die Schaluppe ihrem Baumeister alle Ehre und versprach mit ihrem gallionenförmigen Vordertheile dem Stoße des Eises desto besser zu widerstehen. Sie ähnelte etwas jenen holländischen Barken, welche sich weit in die nördlichen Meere hinauf wagen. Ihre Takelage bestand, wie die eines Kutters, aus Fockmast und Klüverbaum, die Zeltleinwand der Factorei war zu den Segeln verwendet worden.

Das Schiff vermochte die ganze Bewohnerschaft der Insel Victoria bequem aufzunehmen und voraussichtlich, wenn die Insel der Erwartung gemäß nach der Behrings-Enge zu trieb, auch die größte Entfernung bis zur amerikanischen Küste leicht zu durchschneiden. Nur mußte eben das Thauwetter abgewartet werden.

Da kam dem Lieutenant Hobson der Gedanke, zum Zwecke der Recognoscirung des Eisfeldes eine ausgedehnte Expedition nach Südosten zu unternehmen, welche mit dazu dienen sollte, etwaige Vorzeichen der Auflösung zu finden, die eigentliche Schollenwand selbst zu beobachten und aus dem tatsächlichen Zustande des Meeres zu ersehen, ob noch jeder Weg nach dem amerikanischen Continente versperrt sei. Mancherlei Ereignisse und Unfälle konnten ja noch statt haben, bevor der Eisbruch das Meer wieder frei legte, und so erschien diese vorzunehmende Besichtigung als ein Gebot der Klugheit.

Die Expedition wurde also beschlossen und auf den ?. März festgesetzt. Die Theilnehmer an derselben bestanden aus Lieutenant Hobson, der Reisenden, Kalumah nebst Marbre und Sabine. Wenn ein Weg ausfindig zu machen war, wollte man auch die Packeiswand überschreiten; jedenfalls sollte die Abwesenheit vom Fort nicht länger als achtundvierzig Stunden währen.

Der nöthige Proviant wurde mitgenommen, und am Morgen des 7. verließ das für jeden Zufall wohl bewaffnete kleine Detachement Fort-Esperance in der Richtung nach dem Cap Michael.

Das Thermometer stand auf dem Gefrierpunkte. Die Luft war etwas dunstig, aber ruhig. Sieben bis acht Stunden lang beschrieb die Sonne ihren Tagesbogen über dem Horizonte und durchblitzten ihre schrägen Strahlen mit hinreichendem Lichte die Massen des Eises.

Nach kurzer Rast stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter gegen neun Uhr den Abhang am Cap Michael hinab, und schritten in südöstlicher Richtung über das Eisfeld. Von dieser Seite war die Eiswand etwa drei Meilen entfernt.

Selbstverständlich ging es nur langsam vorwärts. Fortwährend mußte man entweder eine tiefe Spalte oder einen unübersteiglichen Spitzhügel umwandern. Auf dem unebenen Wege hätte ein Schlitten sich gar nicht verwenden lassen. Jener bestand nur aus einer chaotischen Anhäufung von Blöcken jeder Gestalt und Größe, von denen sich nicht wenige nur noch durch ein Wunder im Gleichgewicht hielten. Andere waren erst neuerdings zusammen gestürzt, wie man an ihren frischen, glatten Bruchstellen sah. Aber nirgends zeigte sich die Spur eines Menschen oder Thieres in diesem Gewirr! Kein lebendes Wesen athmete in diesen selbst von den Vögeln verlassenen Einöden!

Verwundert fragte Mrs. Paulina Barnett, wie man bei einer Abfahrt im December wohl dieses durcheinander gewürfelte Eisfeld habe überschreiten wollen; doch machte sie Jasper Hobson darauf aufmerksam, daß jenes zur erwähnten Zeit ein ganz anderes Aussehen geboten hätte. Wegen des damals noch nicht wirksamen enormen Druckes durch das Packeis müßte die Oberfläche verhältnißmäßig eben gewesen sein, und lag das einzige Hinderniß de: Reise nur in der mangelhaften Verbindung der Schollen, und nirgends anders.

Inzwischen näherte man sich dem hohen Walle, wobei Kalumah der kleinen Truppe fast immer voraus war. Mit sicherem Schritte wandelte die lebhafte und leichtfüßige Eingeborene mitten durch die Eisblöcke. Ohne Zaudern und ohne Irrthum schlug sie, wie durch Instinct geleitet, immer den gangbarsten Weg in diesem Labyrinthe ein. Sie lief ab und zu, und ihren Weisungen konnte man vertrauensvoll nachgehen.

Gegen Mittag war die ausgedehnte Basis der Packeiswand zwar erreicht, doch hatten die drei Meilen bis dahin nicht weniger als drei Stunden beansprucht.

Welch‘ imposante Masse bildete diese Eismauer, deren einzelne Gipfel über vierhundert Fuß hoch aufstiegen! Deutlich hoben sich die Schichten, aus denen sie bestand, von einander ab, und ihre Wände waren mit den zartesten Farbenschattirungen geschmückt. Bald irisirend, bald jaspisartig gestreift, erschien sie wie mit Arabesken bedeckt, und mit einzelnen Glanzpunkten durchsetzt. Vergeblich würde der ein Passendes Bild zur Vergleichung suchen, der die Eiswand jemals in ihrer Erhabenheit erblickte, wie sie auf einer Stelle trübe, auf der anderen durchscheinend durch wechselndes Licht und Schatten in den wunderbarsten Reflexen spielte.

Wohl mußte man aber vorsichtig eine zu große Annäherung an diese lockenden Eismassen, deren Zusammenhalt sehr fraglich erschien, vermeiden. An dem fortwährenden Knistern und Krachen ihres Inneren erkannte man die geheime Arbeit des Thauwetters.

Eingeschlossene und jetzt sich ausdehnende Luftblasen sprengten ihre Wände, und man ersah daraus den vergänglichen Charakter dieser Eisbauwerke, welche den arktischen Winter nicht überleben, und den Strahlen der jungen Sonne unterliegen sollten, um die Quelle ganz ansehnlicher Ströme zu werden.

Lieutenant Hobson hatte seine Begleiter ernsthaft vor der Gefahr der Eislawinen gewarnt, die jeden Augenblick von der Höhe der Schollenwand herabstürzten. Die kleine Gesellschaft zog deshalb auch nur in gemessener Entfernung von dem Fuße derselben hin. Wie weise diese Vorsicht war, sollten sie bald erfahren, als sich gegen zwei Uhr an dem Eingänge eines Thales, das die Wanderer zu durchziehen beabsichtigten, ein ungeheurer Block von mehr als hundert Tonnen Gewicht loslöste und mit Donnerkrachen auf das Eisfeld herabstürzte. Zersplitternd brach es unter diesem Stoße, und thurmhoch spritzte das Wasser ringsum auf. Zum Glücke wurde Niemand von den abgesprengten Stücken des Blockes getroffen, als er wie eine Bombe zerplatzte.

Von zwei bis fünf Uhr folgte man einem engen, gewundenen, weit in das Innere hinein verlaufenden Thale. Ob es die ganze Packeismauer durchsetzte, ließ sich zwar vorher nicht entscheiden, doch gestattete es einen belehrenden Einblick in die innere Structur derselben. Schollen und Blöcke erschienen hier mehr in Ordnung auf einander gelagert, als an der Außenseite. An manchen Stellen fand man Baumstämme im Eise eingeschlossen, die aber nicht arktischen Baumarten, sondern solchen aus der Tropenzone angehörten. Offenbar hatte sie der Golfstrom hier hinauf getragen, wo sie vom Froste gefesselt, mit dem Eise den Rückweg nach dem wärmeren Oceane antraten. Auch Schiffskielstücke und andere Trümmer fehlten dazwischen nicht.

Gegen fünf Uhr zwang die eingetretene Dunkelheit, den Weitermarsch aufzugeben, nachdem man in dem Thale gegen zwei Meilen zurück gelegt hatte, ohne in Folge der Windungen desselben die Entfernung in gerader Linie abschätzen zu können.

Jasper Hobson ließ nun halten. In Zeit von einer halben Stunde arbeiteten Marbre und Sabine mittels der Schneemesser eine Höhle im massiven Eise aus, in welche Alle hinein schlüpften, ihr Nachtmahl verzehrten, und in Folge der Anstrengung durch den Weg sehr bald sanft entschlummerten.

Um acht Uhr früh war Alles auf den Füßen, und schlug Jasper Hobson wieder den Weg längs des Thales ein, um sich zu überzeugen, ob dieses nicht die ganze Breite der Eismauer durchziehe. Dem Stande der Sonne nach veränderte sich die Richtung desselben nach Nordosten in die nach Südosten.

Um elf Uhr stiegen Lieutenant Hobson und seine Begleiter an der anderen Seite der Eismauer hinab. Unzweifelhaft war hier also ein Durchgang vorhanden.

Die ganze Ostseite des Eisfeldes bot den nämlichen Anblick wie die Westseite, dasselbe Chaos von Schollen, dieselbe Zerklüftung durch Blöcke, Eisberge und Spitzhügel so weit das Auge reichte, da und dort durch kleine ebene Flächen unterbrochen oder durch offene Spalten, deren Ränder schon wegthauten, getrennt. Sonst gähnte überall dieselbe Wüstenei, dieselbe Verlassenheit den Beschauern entgegen.

Kein lebendes Geschöpf war in dieser Einöde sichtbar!

Eine Stunde lang verweilte Mrs. Paulina Barnett auf einem Spitzhügel, versunken in den trostlosen Anblick dieser Polar-Landschaft. Wieder kam ihr unwillkürlich die vor fünf Monaten versuchte Abreise in den Sinn, und vor ihren Augen erschien das ganze Personal der Colonie als traurige Karawane, wie sie durch Nacht und Frost inmitten solcher Eiswüsten und bedroht von lauernden Gefahren sich nach dem Festlande Amerikas zu retten suchte!

Jasper Hobson weckte sie endlich aus ihrer Träumerei.

»Madame, sagte er, wir sind nun über vierundzwanzig Stunden von dem Fort weg, und kennen den Durchmesser dieser Eisbank. Unserem Versprechen gemäß wollten wir nicht über achtundvierzig Stunden ausbleiben; demnach, denke ich, ist es Zeit, den Rückweg anzutreten.«

Mrs. Paulina Barnet widersprach nicht. Der Zweck des Ausflugs war ja erreicht morden. Die Packeiswand von mittelmäßigem Durchmesser versprach sich bald zu lösen und Mac Nap’s Schiffe ein freies Fahrwasser zu eröffnen. Der baldige Antritt der Heimkehr empfahl sich auch noch deshalb, weil ein etwaiger Witterungswechsel mit Schneewehen den Zug durch das Thal unendlich erschweren mußte.

So brach man nach eingenommenem Frühstück um ein Uhr wieder auf. Um fünf Uhr lagerte man sich, wie am Tage vorher, in einer Eishöhle, und nach der ohne Zwischenfall verbrachten, Nacht gab Lieutenant Hobson am 9. März früh um acht Uhr Befehl zum Weiterziehen.

Schon glänzte bei klarem Himmel die Sonne über der Eismauer und grüßte die Sohle des Thales mit einzelnen Strahlen. Jasper Hobson und seine Begleiter wandten ihr, da sie nach Westen zogen, den Rücken, und doch trafen jene Strahlen ihre Augen, da jene sich an den kreuz und quer gelagerten Schollen tausendfach wiederspiegelten,

Mrs. Paulina Barnett und Kalumah blieben plaudernd und umherschauend eine Strecke zurück und folgten der schmalen Fußspur Marbre’s und Sabine’s. Man gab sich der Hoffnung hin, die Eisbank bis Mittag zu durchwandern und noch die drei Meilen bis zur Insel Victoria zurück zu legen. So mußte die kleine Gesellschaft vor Sonnenuntergang im Fort eintreffen, und konnten ihre Gefährten wegen der wenigen Stunden Verspätung nicht besonders beunruhigt sein.

Hierbei rechnete man jedoch ohne einen Zwischenfall, den allerdings keine menschliche Vorsicht hätte ahnen können.

Es mochte gegen zehn Uhr sein, als Marbre und Sabine, die etwa zwanzig Schritte voraus waren, plötzlich stehen blieben. Sie schienen über Etwas nicht einig zu werden. Als die Uebrigen nachkamen, sahen sie, wie Sabine, die Boussole in der Hand, diese seinem Kameraden wies, der sie mit sprachlosem Erstaunen betrachtete.

»Das ist doch ein närrisches Ding, wendete sich dieser an Lieutenant Hobson. Könnten Sie mir sagen, Herr Lieutenant, auf welcher Seite der Eisbank die Insel Victoria eigentlich liegt? Im Westen oder Osten?

– Natürlich im Westen, antwortete Jasper Hobson, verwundert über diese Frage.

– Ja, das weiß ich zwar auch, versetzte Markire, den Kopf schüttelnd. Wenn das aber der Fall ist, sind wir auf falschem Wege, und kommen immer weiter von ihr ab.

– Was! Wir entfernten uns von ihr? fragte der Lieutenant, den der überzeugte Ton des Jägers stutzig machte.

– Gewiß, Herr Lieutenant! Hier, sehen Sie nach der Boussole, und ich will nicht Marbre heißen, wenn wir ihrer Angabe nach nicht nach Osten, statt nach Westen marschiren.

– Das ist unmöglich, warf die Reisende ein.

– Ueberzeugen Sie sich selbst, Madame«, antwortete Sabine.

Wirklich wies die Magnetnadel nach einer der angenommenen ganz entgegengesetzten Richtung.

»Wir müssen uns heute Morgen beim Verlassen des Eishauses getäuscht und den Weg nach links, statt nach rechts zu eingeschlagen haben.

– Nein, rief Mrs. Paulina Barnett, das ist unmöglich; wir haben uns nicht getäuscht!

– Aber … entgegnete Marbre.

– Nun, aber …, da betrachten Sie doch die Sonne. Geht sie etwa nicht mehr im Osten auf? Da wir ihr nun von heute Morgen ab den Rücken zurückgekehrt haben, und es auch jetzt noch thun, so steht es fest, daß wir nach Westen wandern. Weil nun die Insel im Westen liegt, so treffen wir auf diese, wenn wir auf der Westseite der Eiswand herauskommen.«

Marbre, der gegen diese Beweisführung nicht aufkommen konnte, kreuzte sinnend die Arme.

»Zugegeben, es verhalt sich so, sagte Sabine, dann widersprechen sich aber Sonne und Boussole ganz und gar.

– Wenigstens augenblicklich, belehrte ihn Jasper Hobson. Das hängt indeß nur davon ab, daß unter hohen nördlichen Breiten und in den Meeren in der Nachbarschaft des magnetischen Poles die Boussolen nicht selten alterirt werden, und die Magnetnadeln ganz falsch zeigen.

– Nun gut, sagte Marbre, so setzen wir also unseren Weg, die Sonne im Rücken, weiter fort.

– Ohne Zweifel, antwortete Lieutenant Hobson, zwischen Boussole und Sonne kann die Wahl nicht schwer sein, denn die Sonne kommt nicht außer Ordnung.«

Die kleine Gesellschaft zog in der Richtung, welche nach Allem eine falsche nicht sein konnte, in dem Thale weiter, brauchte aber längere Zeit dazu, als man voraus gesehen hatte. Schon gegen Mittag hätte man am Ende des Thales sein sollen, und nun kam die zweite Stunde heran, ehe der enge Ausgang wieder erreicht wurde.

Diese auffällige Verzögerung hätte Jasper Hobson wohl schon beunruhigt; man male sich nun aber sein und seiner Begleiter Erstaunen, als sie beim Wiederbetreten des Eisfeldes die Insel Victoria, welche doch vor ihnen liegen mußte, nicht mehr sahen! Die Baume auf dem Cap Michael hätte man ohne Zweifel erkennen müssen. – Nichts war vorhanden. An der Stelle des letzteren dehnte sich ein grenzenloses Eisfeld aus, auf dem die Sonne in zahllosen Lichtpunkten glitzerte.

Lieutenant Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Kalumah sahen sich fragend an.

»Dort müßte doch die Insel liegen! rief Sabine verwundert.

– Sie ist aber doch nicht da, erwiderte Marbre; können Sie wohl sagen, Herr Lieutenant, was aus ihr geworden ist?«

Mrs. Paulina Barnett wußte Nichts hierauf zu erwidern, und auch Jasper Hobson sagte kein Wort.

Da näherte sich Kalumah dem Letzteren, nahm ihn beim Arme und sprach:

»Wir haben uns in dem Thale geirrt und befinden uns jetzt an derselben Stelle, wie gestern nach dem ersten Durchschreiten des Packeises. Kommen Sie! Kommen Sie!«

Ganz maschinenmäßig ließen sich Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett, Marbre und Sabine im Vertrauen auf den Instinct der jungen Eingeborenen von dieser wegführen und kehrten noch einmal in dem engen Thale ihren eigenen Weg zurück, trotzdem nach dem Stande der Sonne alle Anzeichen gegen Kalumah’s Behauptung sprachen.

Diese Letztere hatte sich gar nicht weiter erklärt, sondern eilte unbeirrt vorwärts.

Ganz erschöpft von Anstrengung gelangten der Lieutenant, die Reisende und ihre Begleiter nach einem dreistündigen Wege, über den die Nacht sich schon herabgesenkt hatte, an der anderen Seite der Eisbank an. Zwar verhinderte die Dunkelheit zu erkennen, ob die Insel in der Nahe sei, doch sollten sie darüber nicht lange im Unklaren bleiben.

Nur wenige hundert Schritte von ihnen bewegten sich auf dem Eisfelde leuchtende Harzfackeln hin und her und knallten Flintenschüsse in kurzen Zwischenräumen. Auch wurden schallende Rufe gehört.

Die kleine Truppe beantwortete diese und befand sich bald in Gesellschaft des Sergeant Long, Thomas Black’s, den die unruhige Sorge um das Loos seiner Freunde doch einmal aufgerüttelt hatte, und noch Anderer, welche entgegen gelaufen kamen. In Wahrheit war die Angst der armen Leute keine geringe gewesen, da sie, – wir wissen, mit wie gutem Rechte, – angenommen hatten, daß Jasper Hobson auf dem Rückwege nach der Insel irre gegangen sein werde.

Wie kamen sie aber auf diesen Gedanken, während sie doch ruhig in Fort-Esperance verblieben waren? Was veranlaßte sie zu der Annahme von Schwierigkeiten bei der Auswahl des Heimweges?

Es rührte daher, daß das ungeheure Eisfeld sammt der Insel in den letzten vierundzwanzig Stunden seine Lage geändert und sich – halb um sich selbst gedreht hatte. In Folge dieses Ereignisses lag die Insel nicht mehr westlich, sondern östlich von der Packeiswand!

Sechzehntes Capitel.


Sechzehntes Capitel.

Zwei Stunden nachher waren Alle nach Fort- Esperance zurück gekehrt. Am Morgen des 10. März beschien die Sonne dasjenige Ufergebiet, welches früher die Westseite der Insel gebildet hatte. Cap Bathurst lief jetzt nach Süden, statt wie vorher nach Norden aus; die junge Kalumah, der diese Erscheinung bekannt war, hatte sich also nicht getäuscht, und wenn kein Irrthum Seitens der Sonne vorlag, so konnte man auch die Boussole keines Fehlers beschuldigen.

Die Orientation der Insel hatte demnach wiederholte und durchgreifende Veränderungen erfahren. Seit der Zeit, da sie sich vom Festlande Amerikas loslöste, hatte sie einer halben Drehung um sich selbst unterlegen, und zwar nickt die Insel allein, sondern auch das ganze sie umgebende Eisfeld. Diese Bewegung um ihren Mittelpunkt bewies übrigens, daß auch letzteres nicht mehr am Continente hafte, sondern vom Ufer getrennt, und folglich auch, daß das Thauwetter nicht mehr fern sei.

»Auf jeden Fall, sagte da Lieutenant Hobson zu Mrs. Paulina Barnett, ist diese Frontveränderung uns nur günstig. Cap Bathurst und Fort-Esperance hat sich nach Südosten gewendet, d.h. nach dem dem Continente zunächst gelegenen Punkte, und jetzt schiebt sich die Packeiswand, durch welche hindurch wir nur einen sehr beschwerlichen Weg gefunden hätten, nicht mehr zwischen uns und Amerika hinein.

– Also geht jetzt Alles zum Besten? fragte lächelnd die Reisende.

– Für jetzt Alles, Madame«, entgegnete Jasper Hobson, der sich die Folgen dieser Lagenveränderung der Insel Victoria vergegenwärtigte.

Vom 10. bis zum 21. März ereignete sich nichts Bemerkenswertes, doch machten sich die Vorzeichen der kommenden Jahreszeit mehrfach fühlbar. Die Temperatur schwankte zwischen + 6 und + 10° C. Unter dem Einflüsse solches Thauwetters konnte der Eisbruch wohl ganz plötzlich eintreten.

Neue Spalten eröffneten sich, und das Wasser quoll über die Oberfläche herauf. Nach dem eigenthümlichen Ausdruck der Walfänger stellten diese Spalten ebenso viele Wunden dar, aus welchen das Eisfeld »blutete«. Der Lärm der brechenden Schollen ähnelte ganz den Artilleriesalven. Ein warmer, mehrere Tage andauernder Regen konnte die Schmelzung der festen Meeresfläche nur beschleunigen.

Von den Vögeln, welche mit Anfang des Winters die Insel verlassen hatten, kamen Fettgänse, Regenpfeifer, Taucherhühner und Enten schon wieder zurück. Marbre und Sabine erlegten eine Anzahl derselben, von denen einige noch das Billet am Halse trugen, wie es Lieutenant Hobson und die Reisende vor ihrem Abzüge daran befestigt hatten. Weiße Schwäne erschienen bandenweise wieder und erfüllten die Luft mit ihren schmetternden Trompetentönen. Die vierfüßigen Thiere, Nage- und Raubthiere, besuchten fort und fort, ganz wie Hausthiere, die nächste Nachbarschaft der Factorei.

Fast täglich, und jedenfalls so oft der Zustand des Himmels es gestattete, maß Lieutenant Hobson die Sonnenhöhe. Oft unterstützte ihn Mrs. Paulina Barnett, die schon eine gewisse Geschicklichkeit in der Handhabung des Sextanten erlangte, bei diesen Beobachtungen, oder trat ganz an seine Stelle. Wirklich erschien es von großer Wichtigkeit, die geringste Veränderung in der Längen- oder Breitenlage kennen zu lernen. Die bedeutungsvolle Frage bezüglich der beiden Strömungen harrte ja noch immer ihrer Lösung, und Jasper Hobson nicht minder wie Mrs. Paulina Barnett lag natürlich sehr viel daran, bald zu wissen, ob sie nun nach Norden oder nach Süden hin treiben würden.

Es verdient bemerkt zu werden, daß die muthige Frau immer und in allen Stücken eine weit über die gewöhnliche ihres Geschlechts hinausgehende Energie zeigte. Alltäglich sahen es ihre Gefährten, wie sie, allen Anstrengungen, dem schlechtesten Weiter, dem Regen und dem Schnee trotzend, irgend einen Theil der Insel recognoscirte und sich dabei wohl auch auf das halb aufgelöste Eisfeld hinauswagte, und wenn sie davon zurückkam, dann nahm sie sich wieder des häuslichen Lebens in der Factorei an und war, macker unterstützt von ihrer Madge, stets mit Rath und That zur Hand.

Mrs. Paulina Barnett sah der Zukunft unverzagt in’s Auge, und wenn auch Befürchtungen sie anwandelten oder böse Ahnungen, von denen sie ihren Geist nicht völlig befreien konnte, so ließ sie doch nie etwas davon wahrnehmen. Immer erschien sie als die vertrauensselige, muthige Frau, als welche man sie kannte, und Niemand hätte unter ihrer gleichbleibenden guten Laune die Gemüthsbewegungen errathen können, denen sie sich doch nicht zu entziehen vermochte. Jasper Hobson zollte ihr seine ungetheilte Bewunderung.

Auch zu Kalumah hatte dieser ein unbedingtes Zutrauen und verließ sich nicht selten auf den natürlichen Instinct der jungen Eingeborenen, wie etwa die Jäger auf den ihrer Hunde. Die übrigens mit vortrefflichen Anlagen ausgestattete Kalumah bewies sich mit allen Zufällen und Erscheinungen der Polarmeere vollkommen vertraut. An Bord eine Walfängers hatte sie die Stelle eines »Icemaster«, des Piloten, der vor Allem auf die Führung des Schiffes durch die Schollen hindurch zu achten hat, gewiß zur Zufriedenheit versehen. Jeden Tag faßte Kalumah den Zustand des Eisfeldes in’s Auge, und nur aus dem Geräusch der sich in der Ferne brechenden Eisberge beurtheilte sie schon den Fortschritt der Zersetzung. Ein sichrerer Fuß konnte sich auf dieses gefährliche Feld gar nicht hinauswagen. Durch Instinct wußte sie, wenn das »von unten angefaulte« Eis keine genügende Sicherheit mehr bot, und ohne Zaudern eilte sie über das von Sprüngen und Spalten zerrissene Eisfeld.

Vom 20. bis zum 30. März machte das Thauwetter sehr beträchtliche Fortschritte, welche der reichliche und laue Regen nicht wenig beschleunigte. In kurzer Zeit war die vollständige Zerstörung desselben zu erwarten, und vielleicht sollten kaum vierzehn Tage vergehen, bis Jasper Hobson sein Fahrzeug dem wieder offenen Meere übergeben konnte.

Zum Zaudern war er nicht der Mann, zumal da es zu befürchten stand, daß der Kamtschatka- Strom sie noch weiter nach Norden hin verschlagen würde.

»Das ist aber nicht zu befürchten, wiederholte Kalumah immer wieder. Der Eisbruch geht nicht aufwärts, sondern da hin; dort ist die Gefahr!« und wies nach Süden, wo sich der ungeheure Stille Ocean ausdehnte.

Das junge Mädchen verblieb hartnäckig bei ihrer Ansicht. Jasper Hobson kannte diese, und beruhigte sich dabei, denn er sah es als die geringste Gefahr an, daß die Insel in dem wärmeren Wasser jenes Meeres ihren Untergang finden sollte. Vorher würde ja das ganze Personal der Factorei an Bord der Schaluppe eingeschifft sein, und es konnte nur einer kurzen Ueberfahrt bedürfen, um den einen oder den anderen Continent zu erreichen, weil die Meerenge zwischen dem Ostcap an der ostasiatischen, und dem Cap Prince de Galles an der amerikanischen Küste nur ein schmales Becken bildete.

Es erscheint begreiflich, mit welcher Aufmerksamkeit man die geringste Veränderung der Insel beachten mußte. Die Lage wurde demnach immer, sobald der Zustand des Himmels es gestattete, bestimmt, und von dieser Zeit ab ergriffen Lieutenant Hobson und seine Begleiter alle Vorsichtsmaßregeln zu einer bevorstehenden und vielleicht übereilten Einschiffung.

Die eigentlichen ersten Zwecke der Factorei, d. h. die Jagd und die Unterhaltung der Fallen, gab man selbstverständlich ganz auf, und strotzten die Magazine von Pelzfellen, welche doch zum größten Theil verloren waren. Jäger und Fallensteller feierten also. Der Meister Zimmermann vollendete mit seinen Leuten das Fahrzeug in der Erwartung, dasselbe, sobald das Meer frei wäre, vom Stapel laufen zu lassen, und beschäftigte sich dann damit, das Hauptgebäude des Forts noch fester zu machen, da es während des Thauwetters einem starken Drucke durch das Eis der Küste ausgesetzt sein könnte, wenn Cap Bathurst diesem nicht genug Widerstand leistete.

So unterstützte man die Holzmauern durch starke Pfeiler. Im Inneren der Zimmer stellte man da und dort noch lothrechte Stämme auf, die den Deckbalken weitere Stützpunkte boten. Nachdem auch der Dachstuhl durch Stützbänder und Strebepfeiler verstärkt war, konnte das Haus eine ganz beträchtliche Last aushalten, denn es war so zu sagen casemattirt. Die Beendigung dieser Arbeiten fiel in die ersten Tage des Monates April, und sollte man bald die Ueberzeugung von deren Nützlichkeit sowohl, als ihrer Zeitgemäßheit gewinnen.

Inzwischen traten die Vorzeichen der kommenden Jahreszeit tagtäglich deutlicher hervor. Der eigenthümliche zeitige Frühling folgte ja einem für Polarländer unerwartet milden Winter. Schon erschienen an den Bäumen einige Knospen. Unter dem wieder aufsteigenden Safte schwoll die Rinde der Birken, Weiden und einzelner Gesträuche an. Mit blassem Grün schmückten junge Moose die Abhänge, welche den Sonnenstrahlen direct ausgesetzt waren, konnten aber nicht eingebracht werden, da die in der Umgebung der Factorei angehäuften, hungerigen Nagethiere ihnen kaum Zeit ließen, aus der Erde hervor zu keimen.

Wenn irgend Jemand seine liebe Noth hatte, so war es der wackere Corporal Joliffe, dem die von seiner Frau besäeten Beete zu schützen aufgetragen war. Sonst nur beschäftigt, dieselben gegen die Schnäbel der geflügelten Räuber, die Schneegänse und Taucherhühner, zu vertheidigen, wozu im Nothfalle auch eine Vogelscheuche hingereicht hätte, setzten ihm jetzt auch noch die Nagethiere und Wiederkäuer der arktischen Fauna zu, die der Winter ja nicht vertrieben hatte. Rennthiere, Polarhasen, Bisamratten, Spitzmäuse u. s. w. verspotteten alle Maßregeln des Corporals. Wenn er sie von dem einen Ende seines Gartens wegjagte, beraubten sie nur einstweilen das andere.

Es hätte sich wohl als das Klügste empfohlen, eine Ernte, von der man doch keinen Nutzen ziehen konnte, so zahlreichen Feinden einfach zu überlassen, da die Factorei binnen Kurzem aufgegeben werden mußte. Dahin ging auch der Rath der Mrs. Paulina Barnett, wenn der Corporal sie zwanzig Mal des Tages mit seinen ewigen Klagen ermüdete; doch Corporal Joliffe wollte absolut keine Vernunft annehmen.

»So viel verlorene Mühe! wiederholte er stets, ein solches Etablissement verlassen, nun es auf dem besten Wege des Gedeihens ist. Die Körner opfern, die Mrs. Joliffe und ich mit solcher Sorgfalt gesäet haben! O, Madame, manchmal wandelt mich eine Lust an, Sie Alle wegziehen zu lassen, und mit meiner Gattin allein hier zurück zu bleiben. Gewiß würde die Compagnie die Insel uns ganz zum Eigenthum überlassen…«

Solche sinnlose Gedanken konnte Mrs. Paulina Barnett freilich nur mitleidig belächeln, und schickte sie den Corporal zu seiner kleinen Frau, welche die Ernte an Sauerampher, Löffelkraut und anderen antiscorbutischen Hausmitteln schon längst aufgegeben hatte.

Der Gesundheitszustand der ganzen Colonie hielt sich zum Glücke ganz ausgezeichnet, auch der kleine Bursche erfreute sich wieder des besten Wohlseins und gedieh sichtlich unter den warmen Strahlen der Frühlingssonne.

Vom 2. bis zum 5. April machte das Thauwetter entschiedene Fortschritte; die Wärme wurde recht fühlbar, doch blieb der Himmel bedeckt und häufig fiel Regen in großen Tropfen. Mit warmer Feuchtigkeit beladen wehte der Wind vom Festlande her. Leider verbot eine so dunstige Atmosphäre jede astronomische Beobachtung, da Sonne, Mund und Sterne sich hinter diesem undurchsichtigen Vorhang verbargen. Jetzt, wo es so hochwichtig war, die geringsten Lagenveränderungen der Insel Victoria fest zu stellen, wurde jener Umstand nur desto unangenehmer fühlbar.

In der Nacht vom 7. zum 8. April begann der Eisbruch. Als Lieutenant Hobson, Mrs. Barnett, Kalumah und Sergeant Long an diesem Morgen Cap Bathurst bestiegen, fiel ihnen eine entschiedene Veränderung der Packeismauer in’s Auge. Der ungeheure Wall hatte sich in der Mitte getheilt und bildete zwei deutlich zu unterscheidende Theile, deren oberer offenbar nach Norden abzuweichen schien.

Machte sich hier der Einfluß des Kamtschatka-Stromes geltend? Würde die schwimmende Insel dieselbe Richtung einschlagen? Wie lebhafte Empfindungen der Angst erweckte diese Ungewißheit in der Brust des Lieutenants und seiner Begleiter. In wenig Stunden konnte ihr Loos entschieden sein, denn wenn es das Unglück wollte, daß sie noch mehrere hundert Meilen nach Norden hinauf getrieben wurden, so wuchsen auch die Mühen und Gefahren einer weiteren Seefahrt auf dem doch verhältnißmäßig beschränkten Schiffchen.

Zum Unglück ging den Ueberwinternden jetzt jedes Mittel ab, den Umfang und die Natur der sich vollziehenden Ortsveränderung abzuschätzen. Sie vermochten nur zu constatiren, daß die Insel sich noch nicht bewegte, mindestens nicht in dem Sinne der Schollenwand, da sich diese merklich entfernte. Man gelangte also zu der Annahme, daß ein Theil des Eisfeldes sich losgetrennt habe und wieder nach Norden hinauf treibe, während der Theil, welcher der Insel unmittelbar anlag, noch unbeweglich bleibe.

Auch diese Abweichung der hohen Eisbarrière war nicht im Stande, Kalumah’s Ansichten zu modificiren. Sie behauptete immer wieder, daß der Eisbruch von Norden nach Süden zu erfolge und daß auch das Packeis in nicht zu ferner Zeit dem Einflusse des Behrings-Stromes unterliegen werde. Um sich verständlicher zu machen, zeichnete die junge Eingeborene die Umrisse der Meerenge mittels eines Stäbchens in den Sand und suchte zu beweisen, daß die Insel sich der amerikanischen Küste werde nähern müssen. Hierin konnte sie kein Widerspruch beirren, und man fühlte sich fast beruhigter, wenn man sie ihre Sache mit solcher Sicherheit vertheidigen hörte.

Die nächsten Tage jedoch schienen Kalumah allerdings Unrecht zu geben. Immer weiter und weiter verschwand der bewegliche Theil der Eismauer nach Norden zu. Der Aufbruch des Meeres ging mit furchtbarem Getöse vor sich, und längs der ganzen Insel lösten sich die Massen unter betäubendem Lärm, der es unmöglich machte, sich in freier Luft gegenseitig zu hören; so krachte es mit der Gewalt eines unausgesetzten Kanonendonners rings umher. Eine halbe Meile um Cap Bathurst herum schoben sich die Schollen drohend über einander. Die Packeiswand hatte sich in zahlreiche Stücke zertheilt, die als ebenso viele Eisberge umhertrieben. Ohne es laut werden zu lassen, war Lieutenant Hobson doch sehr beunruhigt, so daß auch Kalumah’s Versicherungen ihm nicht mehr genügten, trotzdem diese seine Einwürfe nie unerwidert ließ.

Am Morgen des 11. April wies Lieutenant Hobson Kalumah die letzten Eisberge, welche im Norden verschwanden, und suchte ihr zu beweisen, daß ihre Ansichten doch nicht verläßlich seien.

»Und doch, nein, nein! rief diese mit überzeugterem Tone als je vorher, nein! Die Schollenwand zieht nicht nach Norden, aber unsere Insel treibt nach Süden!«

Vielleicht hatte Kalumah recht, wenigstens war Jasper Hobson von dieser unerwarteten Antwort betroffen. Wirklich konnte ja das Verschwinden des Packeises nur ein scheinbares sein, während vielmehr die Insel Victoria schon nach der Meerenge getrieben wurde. Auch diesen Fall angenommen, wie sollte man jetzt die Richtung und Größe der Bewegung, ohne Aufnahme der Länge und Breite abschätzen?

In der That dauerte die bedeckte und zu Beobachtungen ungeeignete Witterung nicht nur weiter an, sondern sie wurde sogar durch ein in den Polargegenden eigenthümliches Phänomen noch dunkler und im Gesichtskreise beschränkter.

Zusammenfallend mit dem Anfange des Thauwetters hatte sich die Temperatur nämlich um mehrere Grade erniedrigt. Ein dichter Nebel verhüllte bald diese Theile des Arktischen Meeres, doch war das kein gewöhnlicher Nebel. Der Boden überzog sich mit einer von dem eigentlichen Eise ganz verschiedenen weißen Kruste, die nur aus wässerigen nach erfolgtem Niederschlage gefrierenden Dünsten bestand. Die losen Theilchen dieses Nebels hingen sich an die Bäume, Sträucher, an die Mauern des Forts, überhaupt an alles Hervorspringende in dicker Lage an, aus der nur lange Fasern heraus traten, die der Wind hin und her bewegte.

Jasper Hobson erkannte diese Erscheinung, von deren Auftreten im Frühlinge die Walfänger und Ueberwinternden nicht selten berichten, sehr bald.

»Das ist kein Nebel, sagte er zu seinen Leuten, das ist ein « Frost-rime», ein Rauchfrost, ein dichter Dunst im Zustande der Erstarrung.«

Ob Nebel oder Rauchfrost, jedenfalls war das Auftreten dieser Erscheinung nicht minder bedauerlich, denn jener stieg bis zu einer Höhe von wenigstens hundert Fuß über die Meeresfläche an, und seine Undurchsichtigkeit machte das Erkennen von Personen schon auf drei Schritte Entfernung unmöglich.

Wie sehr verstimmte das die Bewohner der Kolonie, denen die Natur keine Prüfung ersparen zu wollen schien. Gerade zur Zeit des Thauwetters, wo die irrende Insel von den Fesseln, die sie seit so langen Monaten trug, frei werden sollte, in dem Augenblicke, wo es so nöthig war, ihre geringsten Bewegungen zu überwachen, gerade da mußte dieser Nebel jede Beobachtung verhindern!

Vier Tage über dauerte das in Gleichem fort! Erst am 15. April zerstreute sich der Rauchfrost, als ihn am frühen Morgen ein frischer Südwind zerriß und aufsaugte.

Hell glänzte die Sonne. Lieutenant Hobson stürzte nach seinen Instrumenten. Er maß die Höhe jener und berechnete als thatsächliche Lage der Insel:

Breite 69° 5?‘; Länge 179° 33′.

Kalumah hatte recht gehabt. Die vom Behrings- Strome ergriffene Insel Victoria wendete sich wieder nach Süden.

Siebenzehntes Capitel.


Siebenzehntes Capitel.

Endlich näherten sich nun die Ueberwinterer dem besuchteren Meere der Behrings-Straße und brauchten nicht mehr zu fürchten, wieder nach Norden verschlagen zu werden. Jetzt war nur noch die Ortsveränderung der Insel zu überwachen und ihre in Folge verschiedener Hindernisse sehr wechselnde Geschwindigkeit abzuschätzen. Jasper Hobson ließ sich das ängstlich angelegen sein, und maß die Höhe der Sonne und einzelner Sterne Tag für Tag auf’s Genaueste. Unter Voraussetzung einer jetzt gleich bleibenden Schnelligkeit berechnete er am folgenden Tage, dem 16. April, daß die Insel mit Anfang Mai den Polarkreis, von dem sie noch zwei Breitengrade entfernt war, durchschneiden müsse.

Dann lag die Annahme nahe, daß sie, an der engsten Stelle der Meerenge eingekeilt, bis zu der Zeit, wo das zunehmende Thauwetter ihr Platz schaffen würde, unbewegt verharrte. Zu derselben Zeit wollte man aber das Fahrzeug vom Stapel laufen lassen und nach der Küste Amerikas segeln.

Wie schon erwähnt, war Alles zur schnellsten Einschiffung vorbereitet.

Mit mehr Geduld und vorzüglich mit mehr Vertrauen als jemals warteten die Bewohner der Insel der Zukunft. Die hartgeprüften Leute fühlten es voraus, daß ihre Lage sich der endlichen Lösung näherte und sie so dicht an einem oder dem anderen Erdtheile vorüber kommen würden, daß Nichts sie hindern könne, binnen wenigen Tagen daselbst zu landen.

Ein neues Leben zog mit dieser Aussicht in ihre Herzen ein; sie gewannen die natürliche Heiterkeit wieder, welche vorher die langen Prüfungen niedergehalten hatte. Bei den Mahlzeiten ging es lustig her; an Küchenvorräthen fehlte es ja nicht, und die Verhältnisse schrieben kein sparsames Umgehen mit denselben vor. Nun machte sich auch der Einfluß des Frühlings geltend, und Jeder sog die warmen Lüfte, die er daher wehte, mit vollem Wohlbehagen ein.

Während der folgenden Tage wurden mehrere kurze Ausflüge in’s Innere der Insel und nach den Küsten derselben unternommen. Die Thiere alle waren noch in derselben reichen Anzahl vorhanden und konnten ja auch gar nicht daran denken, die Insel zu verlassen, da das jetzt vom amerikanischen Continente abgelöste Eisfeld keinen Uebergang nach demselben zuließ.

Weder im Inneren der Insel, noch an irgend einem hervorragenden Küstenpunkte derselben zeigte sich irgend welche merkliche Veränderung; auch die Ufer der Lagune erwiesen sich noch unverändert. Der große Spalt, der sich neben Cap Michael während jenes heftigen Sturmes aufgethan hatte, war durch den verflossenen Winter wieder vollkommen geschlossen und ein anderer Sprung nirgends beobachtet morden.

Bei derartigen Ausflügen sah man ganze Banden Wölfe, wie sie eilenden Laufes die Insel durchstreiften. Von der ganzen Fauna blieben diese feigen Raubthiere die einzigen, welche bei der drohenden allgemeinen Gefahr nicht zutraulicher wurden. Mehrmals kam auch Kalumah’s Retter wieder zum Vorschein. Melancholisch trabte der würdige Bär durch die Einöden, und blieb nur stehen, wenn sich Menschen nahten. Manchmal folgte er ihnen auch, im Bewußtsein vor jeder Gefahr sicher zu sein, bis zum Fort nach.

Am 20. April constatirte Jasper Hobson, daß die Insel in ihrer Abweichung nach Süden noch immer fortfahre. Die Ueberbleibsel der Packeiswand, Eisberge und Schollen ihrer südlicheren Theile, folgten ihr in gleichbleibender Entfernung, so daß in Ermangelung jedes andern Merkzeichens nur die astronomischen Beobachtungen über die Ortsveränderung Aufschluß gaben.

An verschiedenen Stellen und vorzüglich am Fuße des Cap Bathurst ließ Lieutenant Hobson auch Messungen der Eisstärke der Insel vornehmen. Diese ergaben keine Zunahme während der verflossenen Kälteperiode, auch schien das allgemeine Niveau der Insel nicht höher aus dem Meere emporgestiegen zu sein, und folglich erschien es rathsam, den zerbrechlichen Boden derselben sobald als möglich zu verlassen, bevor er sich in dem wärmeren Wasser des Pacifischen Oceans auflöste.

Zu dieser Zeit, nämlich am 25. April, änderte sich die Orientation der Insel zum dritten Male, und zwar um anderthalb Viertel des Umfangs (135°) in der Richtung von Norden nach Osten. Cap Bathurst sprang nun nach Nordwesten zu vor. Die letzten Reste der Schollenwand begrenzten den Horizont im Norden. Hierdurch war also bewiesen, daß das Eisfeld sich in der Meerenge noch frei bewegte und an keiner Seite ein Land berührte.

Der entscheidende Augenblick kam nun heran. Mit Genauigkeit ergaben die täglichen oder nächtlichen Beobachtungen die Situation der Insel und des Eisfeldes. Am 30. April wich die Gesammtmasse nach der Kotzebue-Bai, einem ausgedehnten dreieckigen Einschnitt, der tief in die Küste Amerikas hineingreift, merklich ab. Südlich von dieser springt das Cap Prince-de-Galles vor, das die schwimmende Insel wahrscheinlich aufhalten mußte, wenn sie die Mitte der engen Straße nicht ganz genau einhielt.

Jetzt blieb die Witterung beständig schön und häufig las man am Thermometer wohl 10° Wärme ab, so daß die Winterkleidung abgelegt werden konnte. Der Astronom hatte in der Schaluppe, die noch immer auf dem Zimmerplatze lag, schon seinen ganzen gelehrten Apparat, Instrumente und Bücher, untergebracht. Ebenso waren neben einer Anzahl der kostbarsten Pelzfelle hinreichende Nahrungsmittel im Voraus eingeschifft worden.

Am 2. Mai lieferte eine sehr sorgfältige Beobachtung das erfreuliche Resultat, daß die Insel Victoria zu einer Ablenkung nach Osten hinneigte und folglich dem amerikanischen Festlande noch näher kam. Hiermit verschwand auch die Furcht, von dem längs des asiatischen Ufers verlaufenden Kamtschatka- Strome auf’s Neue ergriffen und nach Norden verschlagen zu werden. Endlich schienen sich die Aussichten für die armen Dulder günstiger zu gestalten!

»Ich glaube, wir haben unser widriges Geschick nun ermüdet, Madame, sagte da Sergeant Long zu Mrs. Paulina Barnett. Wir kommen an’s Ende unserer Leiden, und ich hoffe, daß uns keine neuen mehr aufgespart sind.

– Ich theile ganz Ihre Ansicht, Sergeant, entgegnete die Reisende, und bin herzlich froh darüber, daß wir vor fünf Monaten auf die Fahrt über das Eisfeld verzichteten. Durch seine Unwegsamkeit lieh uns die Vorsehung ihre Hilfe!«

Gewiß hatte Mrs. Paulina Barnett recht, in dieser Weise zu sprechen, denn welche Hindernisse mußte diese Winterreise, welche Gefahren die lange Polarnacht bergen, und dazu lagen damals fünfhundert Meilen zwischen der Insel und der Küste.

Am 5. Mai verkündete Jasper Hobson seinen Gefährten, daß sie eben den Polarkreis überschritten hätten und damit in diejenigen Theile der Erde zurückkehrten, welche die Sonne selbst zur Zeit ihrer größten südlichen Abweichung niemals verließ. Für die wackeren Leute erschien das wie eine Rückkehr in die bewohnten Länder der Welt.

Dieser Tag wurde durch manchen guten Schluck gefeiert, und credenzte man ein Glas dem Polarkreise, wie es auf den Schiffen Sitte ist, die zum ersten Male die Linie (d.i. den Aequator) passiren.

Nun galt es also blos noch den Zeitpunkt abzuwarten, wo das schon lose und halb zersetzte Eis dem Schiffe, das die ganze Colonie tragen sollte, eine offene Fahrstraße bieten würde.

Am 7. Mai unterlag die Insel nochmals einer Viertelsdrehung. Cap Bathurst wies nun wieder nach Norden, über sich die Massen, welche von der Packeiswand noch übrig waren. Es hatte demnach die Orientation wieder erlangt, wie sie auf den Karten verzeichnet war, so lange es noch dem amerikanischen Festlande angehörte. Nach dieser nun vollständigen Umdrehung der Insel hatte die Morgensonne nach und nach jeden Punkt ihrer Küste getroffen.

Am 8. Mai ließ die Sonnenbeobachtung erkennen, daß die vorläufig feststehende Insel etwa die Mitte der Meerenge einnahm und nur vierzig Meilen vom Cap Prince-de-Galles entfernt lag. Das Land war also in verhältnißmäßig kurzer Entfernung fast in Sicht, und Aller Rettung schien gesichert.

Am Abend wurde im großen Saale ein festliches Mahl arrangirt, bei dem es an Toasten auf Mrs. Paulina Barnett und Lieutenant Hobson nicht fehlte.

Noch dieselbe Nacht beschloß Letzterer, nach den etwaigen Veränderungen des Eisfeldes im Süden der Insel zu sehen und womöglich ein brauchbares Fahrwasser aufzufinden.

Mrs. Paulina Barnett wollte Jasper Hobson hierbei begleiten, doch dieser bestand darauf, daß sie sich einige Ruhe gönne, und nahm nur Sergeant Long mit sich.

Die Nacht war schön. Statt des Mondes leuchteten die Sterne alle in prächtigem Glanze. Eine Art zerstreuten und durch das Eisfeld wiedergestrahlten Lichtes erhellte die Atmosphäre einigermaßen und erweiterte den Gesichtskreis. Die beiden Kundschafter verließen um neun Uhr das Fort und wandten sich zunächst nach dem Küstenstriche zwischen dem Barnett-Hafen und Cap Michael.

Auf zwei bis drei Meilen folgten sie dem Ufer. Doch welch‘ grausigen Anblick bot noch immer das Eisfeld! Welches Schollenlabyrinth! Welches Chaos! Man stelle sich einen ungeheuren Haufen der sonderbarsten Krystalle vor, ein Meer, das vom Orkane aufgewühlt, urplötzlich fest gebannt wurde. Jedenfalls zeigte sich zwischen dem Eise kein irgendwie freier Durchgang, den ein Schiff hätte benutzen können.

Bis Mitternacht verweilten Lieutenant Hobson und der Sergeant unter Gesprächen und Beobachtungen am Ufer. Da sie aber bemerkten, daß sich in dem allgemeinen Zustande Nichts änderte, beschlossen sie nach Fort-Esperance zurückzukehren, um auch selbst einige Stunden der Ruhe zu genießen.

Schon hatten sie einige Hundert Schritte zurückgelegt und befanden sich am Bett des ehemaligen Paulina-Flusses, als ein unerwartetes Geräusch ihre Schritte hemmte. Es ähnelte einem entfernten Donnergrollen und kam aus den nördlichen Theilen des Eisfeldes her. Der Lärm verdoppelte sich sehr schnell und wurde bald zum entsetzlichen Getöse. Jedenfalls ging in jenen Seegebieten eine sehr folgenschwere Erscheinung vor sich, und zu seiner größten Bestürzung fühlte Lieutenant Hobson den Boden der Insel unter den Füßen erzittern.

»Jenes Tosen kommt von der Seite der Eisbank her, sagte Sergeant Long. Was mag da vorgehen?«

Jasper Hobson gab keine Antwort und zog, im höchsten Grade beunruhigt, seinen Begleiter nach dem Ufer zu.

»Nach dem Fort! Nach dem Fort! rief Lieutenant Hobson. Vielleicht hat sich das Eis verschoben und können wir unser Schiff in’s Wasser bringen!«

Athemlos stürmten Beide auf kürzestem Wege zum Fort-Esperance.

Tausend Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Welche neue Erscheinung war die Ursache jenes Höllenlärmens? Hatten die schlafenden Bewohner des Forts davon Kenntniß? Gewiß, denn die von Minute zu Minute sich verdoppelnden Detonationen hätten, wie man zu sagen pflegt, hingereicht, um »Todte zu erwecken«.

Binnen zwanzig Minuten hatten Jasper Hobson und Sergeant Long die zwei Meilen bis Fort-Esperance durchlaufen. Noch vor dessen Palissadenwand aber bemerkten sie ihre Gefährten, Männer und Frauen, welche in Unordnung, zum Tode erschreckt und unter verzweifelndem Aufschrei entflohen.

Der Zimmermann Mac Nap mit seinem Kinde auf dem Arme traf zuerst auf den Lieutenant.

»Da! Sehen Sie, Herr Hobson!« rief er und zog den Lieutenant nach einer kleinen Erhöhung hinter dem Zaune der Factorei. Jasper Hobson traute kaum seinen Augen.

Die letzten Reste des Packeises, bei seinem Weggange noch zwei Meilen vom Ufer, hatten sich auf dasselbe gestürzt. Cap Bathurst existirte nicht mehr! Seine Erd- und Sandmassen waren von den Eisbergen zerdrückt und mit den Eisbergen über die Ansiedelung hereingeschoben worden. Das Hauptgebäude und Alles, was nördlich von diesem lag, war unter der enormen Lawine verschwunden. Unter Donnerkrachen sah man die Schollen sich noch eine über die andere schieben, herabstürzen und zerschmettern, was in ihrem Wege lag. Das Bild glich einem Sturmangriffe von Eisbergen auf die unglückliche Insel.

Das mühsam am Fuße des Cap Bathurst erbaute Schiff war – zertrümmert… die letzte Hilfe der armen Kolonisten verschwunden!

In diesem Augenblick brach das früher von den Soldaten bewohnte Nebenhaus unter einem furchtbaren Eisstoße zusammen. Jene selbst hatten sich noch früh genug retten können. Den Unglücklichen entrang sich ein herzzerreißender Schrei der Verzweiflung.

»Und die Anderen! Unsere Begleiterinnen!… rief der Lieutenant im Tone des furchtbarsten Schreckens.

– Sind noch dort!« erwiderte Mac Nap und wies auf den Berg von Erde, Sand und Eis, unter dem das Hauptgebäude vollkommen vergraben lag.

Wirklich, dieser Trümmerhaufen bedeckte Mrs. Paulina Barnett, und mit ihr Madge, Kalumah und Thomas Black, welche der Eissturz Alle im Schlafe überrascht hatte.

Achtzehntes Capitel.


Achtzehntes Capitel.

Eine furchtbare Umwälzung hatte stattgefunden, und die Eisbank sich auf die schwimmende Insel gestürzt. Bis zu einer großen Tiefe, der fünffachen ihrer über das Wasser aufragenden Höhe, in’s Meer eintauchend, hatte jene dem Zuge der unterseeischen Strömungen nicht zu widerstehen vermocht, und als sich ein Weg durch das gesprengte Eis öffnete, war sie mit voller Wucht auf die Insel Victoria gestoßen, die durch den heftigen Anprall getrieben, schnell nach Süden zu abwich. Im ersten Augenblick, als der Eissturz donnernd die Ställe und das Hauptgebäude zertrümmerte, hatten Mac Nap und seine Leute alle ihre bedrohte Wohnung noch verlassen können. Schon war das Unheil aber geschehen – von den andern Wohnräumen war kein Balken mehr sichtbar. Und jetzt entführte die Insel ihre Bewohner nach dem endlosen Oceane! Vielleicht lebten aber unter diesem Trümmerhaufen ihre muthige Gefährtin, Mrs. Paulina Barnett, Madge, die junge Eingeborene und Thomas Black noch? Zu ihnen mußte man eindringen, und sollte man nur ihre Leichen wiederfinden.

Der Lieutenant, welcher zuerst wie vom Donner gerührt war, gewann sein kaltes Blut wieder und rief:

»An die Beile und die Hacken! Das Haus ist fest und hat den Druck wohl aushalten können! An’s Werk!«

Aexte und Hacken fehlten zwar nicht, doch verbot sich in diesem Augenblicke jede Annäherung an die Umzäunung. Noch immer glitten und polterten Schollen von den gelockerten Eisbergen, deren einige die Insel Victoria wohl um zweihundert Fuß überragten. Die zerschmetternde Gewalt dieser Massen, welche vom nördlichen Horizonte her überall heranzurücken schienen, kann man sich daraus leicht vorstellen. Der ganze Küstenstrich zwischen dem früheren Cap Bathurst und dem Cap Eskimo war von ihnen umschlossen, und schon drängten sie sich bis auf eine Viertelmeile über denselben herein. Fortwährend verrieth das Erzittern des Bodens und das erneute Donnern und Krachen die Loslösung frischer Massen und ließ befürchten, daß die Insel unter einer solchen Last versinken würde. Aus einer sehr merklichen Neigung des Bodens erkannte man auch, daß sich das Ufer dort nach und nach senkte, und schon rollten die langen Meereswellen bis in die Nähe der Lagune.

Die Lage der Unglücklichen war eine schreckliche, und dazu mußten sie die ganze Nacht über, ohne einen Rettungsversuch ihrer Freunde vornehmen zu können, erfaßt von düsterer Verzweiflung verbringen, da die Eisstürze jede Annäherung unmöglich machten und sie weder dagegen ankämpfen, noch dieselben abwenden konnten.

Endlich brach der Tag an. Welch‘ ein Bild der Zerstörung bot da ihre Umgebung! So weit das Auge reichte, schloß eine Mauer von Eis den Gesichtskreis, doch schienen die Massen wenigstens für jetzt zur Ruhe gekommen zu sein, und nur da und dort bröckelte sich noch ein schlecht unterstütztes Eisstück von dem Haufen los. Die ganze gewaltige, tief eintauchende Masse theilte aber nun ihre Kraft der Abweichung, welche die unterseeische Strömung ihr verlieh, der Insel mit und drängte diese nach dem Süden, dem Untergange zu.

Keiner der unglücklichen Bewohner ward indeß hiervon etwas gewahr. Ihnen lag die Rettung der Opfer dieses Unfalls am Herzen, und unter diesen befand sich die muthige, von Allen geliebte Frau, für die sie gern ihr eigenes Leben gelassen hätten. Jetzt, da man sich der Umzäunung wieder nähern konnte, galt es zu handeln und keine Minute zu verlieren, denn schon sechs Stunden lang seufzten die Opfer unter den Trümmern des Eissturzes.

Das Cap Bathurst gab es, wie gesagt, nicht mehr. Von einem ungeheuren Eisberge getroffen, hatte es sich über die Factorei gestürzt, das Schiff zertrümmert, die Ställe bedeckt und die Thiere darin zermalmt. Hierauf verschwand das Hauptgebäude unter einer Lage von Sand und Erde, über welche sich die Eisblöcke bis zu einer Höhe von fünfzig bis sechzig Fuß aufthürmten. Der Hof war vollständig ausgefüllt, und von der Palissade sah man kaum noch einen Pfahl. Und unter diesem Gemisch von Erde, Sand und Eis sollten die Unglücklichen ausgegraben werden.

Noch bevor man an’s Werk ging, rief Lieutenant Hobson den Zimmermann zu sich.

»Mac Nap, sagte er, glauben Sie, daß das Haus den Eisdruck ausgehalten haben könne?

– Das möchte ich fast behaupten, Herr Lieutenant, erwiderte Mac Nap. Das Haus hatten wir, wie Sie ja wissen, noch widerstandsfähiger gemacht, das Dach casemattirt, und die aufgerichteten Stämme im Innern müssen nur noch zu seiner Festigkeit beitragen. Vergessen Sie auch nicht, daß dasselbe zuerst mit einer Schicht von Sand und Erde überdeckt worden ist, welche das Aufschlagen des herabstürzenden Eises wesentlich gemildert haben mag.

– Gott möge Ihnen Recht geben, Mac Nap, entgegnete Jasper Hobson, und uns einen solchen Schmerz ersparen!«

Da kam Mrs. Joliffe hinzu. »Sind noch Lebensmittel in dem Hause vorräthig? fragte er diese.

– Ja wohl, Herr Hobson, antwortete sie, Küche und Speisekammer sind noch hinreichend versorgt.

– Auch mit Wasser?

– Mit Wasser und etwas Branntwein, bestätigte Mrs. Joliffe.

– Gut, sagte Lieutenant Hobson, durch Hunger und Durst werden sie also nicht zu Grunde gehen, aber wird ihnen die Luft nicht mangeln?«

Diese Frage konnte auch der Meister Zimmermann nicht beantworten; gerade hierin lag jedoch, vorausgesetzt, daß das Gebäude nicht zermalmt worden war, die größte Gefahr. Diese konnte nur durch eine schnelle Befreiung abgewendet werden, wenn es nicht vorher gelang, eine Verbindung zwischen der freien Luft und den Verschütteten herzustellen. Mit Axt und Schaufel gingen Alle, Männer und Frauen, an die Arbeit; in Gefahr, von nachstürzenden Blöcken getroffen zu werden, griffen sie den Berg an. Mac Nap übernahm die Leitung der Arbeiten.

Er hielt es für das Beste, am höchsten Punkte anzufangen, von wo aus man die aufgehäuften Schollen nach der Seite der Lagune herabwälzen konnte. Mittelgroße überwältigte man wohl mit der Axt und dem Hebel, noch größere mußten erst mit dem Beile zerkleinert werden, und wo auch das nicht ausreichte, nahm man das Feuer, das mit harzigen Stämmen genährt wurde, zu Hilfe. Nichts blieb unversucht, um die Eismassen in kürzester Zeit zu beseitigen.

Trotz der eifrigsten Anstrengung aber, und trotzdem man sich kaum Ruhe gönnte, um einige Bissen zu sich zu nehmen, sah man, als die Nacht hereinbrach, fast noch keine Verminderung des Schutthaufens, da eigentlich nur der Gipfel desselben abgeräumt war. Als nun weitere Nachstürze nicht mehr zu befürchten standen, entschied sich der Zimmermann dafür, nur einen lothrechten Schacht abzuteufen, wodurch er schneller an das Ziel zu gelangen und der freien Luft einen Zugang zu eröffnen hoffte.

Die ganze Nacht hindurch blieben Lieutenant Hobson und alle seine Leute bei der Arbeit; mit Eisen und Feuer griff man die nicht zusammenhängenden Schollen an: die Männer schwangen die Aexte, die Frauen unterhielten die Flammen. Alle beseelte nur der eine Gedanke: Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah und Thomas Black zu retten!

Als aber der Morgen wieder graute, waren die Unglücklichen schon dreißig Stunden und in einer durch die dicke Schicht über ihnen gewiß verschlechterten Luft verschüttet.

Der Zimmermann begann nun die Abteufung des Schachtes, der direct auf dem Dachstuhle des Hauses münden sollte, wozu derselbe seiner Berechnung nach eine Länge von etwa fünfzig Fuß erhalten mußte. Durch das Eis hindurch, d. h. ungefähr zwanzig Fuß tief, mochte die Arbeit wohl eine leichte sein, aber die Schwierigkeiten drohten zu wachsen, wenn man dahin kam, gegen dreißig Fuß durch die lockere Erd- und Sandmaße einzudringen. Zur Ausplankung dieser Strecke wurden demnach lange Stämme zugerichtet und dann der Schacht in Angriff genommen. Nur drei Mann konnten gleichzeitig daran arbeiten; da sich die Soldaten also in kurzen Zwischenräumen ablösten, durfte man auf einen schnellen Fortschritt der Arbeit rechnen.

Wie es immer in solch schrecklichen Lagen der Fall ist, schwankten die armen Leute oft zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Wenn eine neue Schwierigkeit sie aufhielt, oder ein Nachsturz einen Theil des Schachtes wieder ausfüllte, übermannte sie die Entmuthigung, und bedurfte es der erfolgssicheren Aufmunterung des Zimmermanns, um sie auf’s Neue anzufeuern.

Während die Männer so der Reihe nach arbeiteten und aushöhlten, sorgten die drei Frauen fast ohne ein Wort zu wechseln und unter manchem stummen Gebete, nothdürftig für die Nahrung, welche die Anderen in ihren Ruhepausen einnahmen.

Trotz der Härte des Eises und dem langsamen Fortschreiten der Schachtarbeit traten ihnen doch jetzt die größten Schwierigkeiten noch nicht entgegen. Erst mit dem Ende des Tages erreichte Mac Nap die loseren Schichten, deren Ausschachtung unter vierundzwanzig Stunden gar nicht zu erwarten war.

Wiederum kam die Nacht. Das Rettungswerk sollte nicht unterbrochen, sondern bei Fackelschein fortgesetzt werden. Daneben stellte man in aller Eile eine Art Eishaus her, in dem die Frauen und das Kind nothdürftig Schutz fanden, als der Wind sich nach Südwesten gedreht hatte und ein mit heftigen Windstößen untermischter Regen herabfiel. Dagegen dachte weder Lieutenant Hobson noch ein Anderer daran, die Arbeit einzustellen.

Jetzt erst begannen die Hindernisse, da man in das bewegliche Erdreich nicht ohne Vorsichtsmaßregeln tief eindringen konnte, sondern den Schacht auszimmern mußte, um dem Nachrutschen der Erde zu wehren. Die aufgegrabene Erde zogen die Männer mittels eines an einem Stricke befestigten Eimers nach oben. Daß man jetzt nicht schnell vorwärts kam, ist wohl leicht einzusehen. Immer mußte man darauf Acht haben, daß die Arbeitenden selbst nicht auf’s Neue verschüttet wurden.

Der Zimmermann blieb fast die ganze Zeit über mit im Grunde, beaufsichtigte die Arbeiten und sondirte wiederholt mit einer langen Stange. Noch traf er aber auf keinen Widerstand, wie ihn der Dachstuhl hätte leisten müssen.

Als es wieder tagte, war man nur zehn Fuß tief vorwärts gekommen, und noch lagerte eine zwanzig Fuß dicke Schicht über dem Dache des Hauses, wenn dieses dem Drucke nicht nachgegeben hatte.

Seit vierundzwanzig Stunden schmachteten nun Mrs. Paulina Barnett, die beiden Frauen und der Astronom unter dem Schutthaufen!

Oefters fragten sich der Lieutenant und Mac Nap, ob Jene nicht ihrerseits den Versuch gemacht haben könnten, eine Verbindung nach Außen herzustellen. Bei ihrem kalten Blute und ihrer Unerschrockenheit schien es unzweifelhaft, daß Mrs. Paulina Barnett, wenn sie sich überhaupt zu bewegen vermöchte, versucht haben würde, sich einen Ausweg zu bahnen, da auch noch einige Werkzeuge im Hause vorhanden waren; wenigstens erinnerte sich einer der Leute Mac Nap’s mit Bestimmtheit, seine Axt in der Küche zurück gelassen zu haben. Sollten die Gefangenen keine Thüre eingeschlagen und einen Gang durch die Sandschicht auszuhöhlen begonnen haben? Freilich konnten sie diesen nur in wagerechter Richtung ausgraben, und das verlangte eine weit längere Arbeit, als die Ausschachtung durch Mac Nap, denn der aufgethürmte Berg maß bei sechzig Fuß Höhe mehr als fünfhundert in seinem unteren Durchmesser. Diese Verhältnisse blieben den Verschütteten natürlich unbekannt, und hätten sie zur Herstellung eines horizontalen Ganges mindestens acht Tage nöthig gehabt. Reichten die Nahrungsmittel auch für so lange aus, so mußten sie doch inzwischen aus Mangel an frischer Luft zu Grunde gehen.

Nichts desto weniger überwachte Jasper Hobson alle Theile der Schuttmasse, um jedes Geräusch durch ein Arbeiten von Innen her zu vernehmen. Aber nichts, gar nichts ließ sich hören.

Mit neuem Muthe gingen Alle bei Anbruch des Tages an’s Werk. Erde und Sand förderte man durch die Mündung des Schachtes heraus, der sich regelmäßig vertiefte und dessen lose Wand die Zimmerung hinlänglich zurück hielt. Wenn auch kleine Nachschübe vorkamen, so wurden diese doch bald beseitigt und hatte man den Tag über keinen neuen Unfall zu beklagen. Nur der Soldat Garry wurde durch ein herabstürzendes Eisstück leicht am Kopfe verwundet, wollte sich deshalb aber nicht von der Arbeit ausgeschlossen wissen.

Um vier Uhr hatte der Schacht eine Gesammttiefe von fünfzig Fuß erreicht, bei welcher Mac Nap auf den Dachstuhl zu treffen rechnete, wenn er dem Drucke des Eissturzes widerstanden hätte.

Er befand sich in der Tiefe des Schachtes, und leicht kann man sich wohl seine Enttäuschung vorstellen, als er jetzt die Stange einbohrte und noch immer auf keinen Widerstand traf.

Einen Augenblick sah er mit gekreuzten Armen den mit anwesenden Sabine an.

»Nichts? sagte der Jäger.

– Nichts, antwortete der Zimmermann, Nichts! Doch, guten Muth, das Dach könnte wohl nachgegeben haben, unmöglich aber die abgesteifte Zimmerdecke. Nur noch zehn Fuß, und wir müssen diese selbst erreichen … oder…«

Mac Nap sprach seinen Gedanken nicht ganz aus, und mit Sabinens Beistand wurden die Arbeiten wieder aufgenommen.

Um sechs Uhr Abends waren wiederum gegen zehn bis zwölf Fuß ausgehöhlt.

Von Neuem sondirte Mac Nap. Noch immer nichts; seine Stange sank nur in die lose Erdmasse ein.

Da unterbrach der Zimmermann einen Augenblick seine Arbeit, bedeckte das Gesicht mit den Händen und murmelte halblaut:

»Ach, die Unglücklichen!«

Auf den Steifen, welche die Holzzimmerung hielten, hinaufkletternd, verließ er den Schacht.

Oben angelangt, traf er Lieutenant Hobson und Sergeant Long ängstlicher als je, nahm sie bei Seite und vertraute ihnen die schreckliche Enttäuschung, die er eben erfahren hatte.

»Nun denn, sagte Jasper Hobson, dann ist das Haus also von der Lawine zermalmt worden und die Armen …

– Nein, fiel ihm der Zimmermann im Tone der unerschüttertsten Ueberzeugung in das Wort, nein, das Haus ist nicht zerdrückt; so wie es gestützt war, mußte es Alles aushalten; nein, es kann nicht sein!

– Was ist aber dann geschehen, Mac Nap, fragte der Lieutenant, aus dessen Augen große Thränen perlten.

– Das will ich Ihnen sagen, erwiderte Jener, das Haus wird noch ganz sein, aber der Boden, auf dem es stand, hat nachgegeben; es ist durch die Eiskruste gebrochen, die unsere Infel bildet. Es ist nicht zertrümmert, aber versenkt … und die bedauernswerthen Opfer …

– Sollen ertrunken sein? rief Sergeant Long.

– Ja, Sergeant, ertrunken, bevor sie eine Bewegung machen konnten, «wie die Passagiere eines untergegangenen Schiffes».«

Einige Augenblicke schwiegen drei die Männer.

Mac Nap’s Hypothese mußte der Wahrheit wohl sehr nahe kommen. Was war denn wahrscheinlicher, als die Annahme, daß sich unter dem enormen Drucke der Boden der Insel gesenkt, und das unzerbrochene Haus denselben durchschlagen habe und im Abgrunde versunken sei?

»Nun denn, Mac Nap, sagte Lieutenant Hobson, und wenn wir keine Lebenden retten können …

– Ja, fiel der Zimmermann ein, so wollen wir sie wenigstens todt wiederfinden!«

Nach diesen Worten nahm Mac Nap, ohne den Anderen diese schreckliche Mittheilung zu machen, seine unterbrochene Arbeit im Grunde des Schachtes wieder auf, während Lieutenant Hobson mit ihm hinab stieg.

Die ganze Nacht über blieb man thätig und löste sich von Stunde zu Stunde ab. Immer aber blieben Jasper Hobson und Mac Nap auf einer Steife gegenwärtig, um jeden Augenblick zur Hand zu sein.

Um drei Uhr Morgens traf Kellet’s Axt auf einen harten Körper. Der Meister Zimmermann fühlte das mehr, als er es hörte.

»Wir sind auf dem Hause, rief erfreut der Soldat – Gerettet!

– Schweig‘ und fahre fort«, antwortete ihm der Lieutenant mit dumpfer Stimme.

Jetzt waren schon nahe an sechsundsiebenzig Stunden verflossen, seit der Eissturz über das Haus herein brach.

Kellet und sein Nebenmann, der Soldat Pond, schaufelten weiter. Die Tiefe des Schachtes mußte ziemlich die Oberfläche des Meeres erreicht haben, und folglich schwand Mac Nap nun jede Hoffnung.

In weniger als zwanzig Minuten lag der harte Körper, auf dem die Axt getroffen hatte, frei. Es war ein Balken des Daches. Der Zimmermann schwang sich vollends hinunter und beseitigte die schwächeren Latten, so daß eine ausreichende Oeffnung entstand …

Da schleppte sich eine kaum erkennbare Gestalt durch die Dunkelheit heran.

Es war die Gestalt Kalumah’s!

»Zu Hilfe, zu Hilfe!« rief die Arme mit schwacher Stimme.

Jasper Hobson kletterte durch die Oeffnung. Er schauderte vor Kälte zusammen – das Wasser stieg ihm bis zum Gürtel. Das Dach war nicht, wie man voraus gesetzt, eingebrochen, Wohl aber hatte das Haus, entsprechend der Annahme Mac Nap’s, den Boden durchschlagen und das Wasser eindringen lassen. Nur der Dachraum, in dem es kaum einen Fuß hoch stand, blieb noch frei davon. Es war noch eine schwache Hoffnung vorhanden! … Der Lieutenant wagte sich in die Dunkelheit hinein und traf einen Körper ohne Bewegung. Diesen schleppte er nach der Oeffnung hin, wo ihn Kellet und Pond empfingen und heraus zogen. Es war Thomas Black.

Bald darauf wurde auch Madge aufgefunden. Mittels Seilen, welche man in den Schacht hinab ließ, wurden Beide an die freie Luft empor gezogen.

Noch galt es, Mrs. Paulina Barnett zu retten. Von Kalumah geführt, tastete sich Jasper Hobson durch den ganzen Bodenraum, an dessen Ende er Die, welche er suchte, den Kopf kaum über dem Wasser, auffand. Die Reisende erschien wie todt. Lieutenant Hobson trug sie auf seinen Armen nach der Oeffnung, und wenige Minuten nachher erschienen Alle an der oberen Mündung des Schachtes.

Ringsum standen sie Alle versammelt, die Gefährten der muthigen Frau, doch ihre Verzweiflung raubte ihnen die Sprache.

Die junge Eskimodin hatte sich, so schwach sie selbst war, über den leblosen Körper der geliebten Freundin geworfen.

Noch athmete Mrs. Paulina Barnett und fühlte man ihren Pulsschlag; als dann die frische Luft durch ihre Lungen einzog, kam sie langsam zum Leben zurück.

Da löste sich ein Aufschrei der Freude aus Aller Brust und stieg ein Ausruf des Dankes zum Himmel, der gewiß da droben gehört wurde.

Gleichzeitig ward es Tag; die Sonne stieg über dem Horizonte auf und beleuchtete die Scene mit ihren ersten Strahlen.

Mit äußerster Anstrengung erhob sich Mrs. Paulina Barnett; von der Höhe der Lawine schaute sie wie prüfend um sich, und mit seltsamem Tone sagte sie die Worte:

»Das Meer, das Meer!«

Wirklich umrauschte auf beiden Seiten, im Westen und im Osten, das eisfreie Meer die schwimmende Insel!

Elftes Capitel.


Elftes Capitel.

So war also die Lage. Die Insel hatte nach dem Ausdrucke Sergeant Long’s Anker geworfen, sie war stationär geworden, wie zu der Zeit, als sie noch am amerikanischen Festlande hing. Jetzt trennten sie aber sechshundert Meilen von der bewohnten Erde, und diese sechshundert Meilen galt es über das erstarrte Meer, mitten durch die Eisberge, welche die Kälte darauf häufen mußte, und zwar während der rauhesten Monate des arktischen Winters auf Schlitten zurückzulegen.

Wohl war es ein furchtbares Unternehmen, und doch durfte man damit nicht zögern. Dieser Winter, den Lieutenant Hobson so heiß herbei gewünscht hatte, kam endlich; er unterbrach den verderblichen Lauf der Insel nach Norden und spannte eine sechshundert Meilen lange Brücke zwischen ihr und den benachbarten Continenten aus. Von dieser gebotenen Aussicht auf Rettung mußte man Gebrauch machen, um die ganz in den hyperboräischen Gegenden verlorene kleine Kolonie zurück zu führen.

Jedenfalls konnte man, wie Lieutenant Hobson seinen Freunden auseinandersetzte, nicht erst den kommenden Frühling und das Aufbrechen des Eises abwarten, das heißt, sich noch einmal den Launen der Strömungen der Behrings-Straße aussetzen. Im Gegentheil handelte es sich einzig darum, abzuwarten, bis das Meer fest genug sei, was in einem Zeitraume von etwa drei Wochen zu gewärtigen war. Von jetzt ab nahm sich der Lieutenant vor, das die Insel einschließende Eisfeld fleißig zu untersuchen, um den Zustand seiner Haltbarkeit, die Möglichkeit auf Schlitten darüber hin zu gleiten, und den günstigsten Weg zu ermitteln, ob dieser nun nach den Ufern Asiens oder dem Festlande Amerikas führte.

»Selbstverständlich, fügte Jasper Hobson hinzu, der sich mit Mrs. Paulina Barnett und dem Sergeant Long über dieses Thema unterhielt, selbstverständlich geben wir dem Gebiete Neu-Georgias, nicht aber der asiatischen Küste den Vorzug, und werden uns unter gleich günstigen Verhältnissen nach dem russischen Amerika wenden.

– Wobei uns Kalumah sehr von Nutzen sein wird, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, denn in ihrer Eigenschaft als Eingeborene kennt sie alle diese Länder vollkommen.

– Wahrhaftig, sagte Lieutenant Hobson, hierzu ist sie uns wie von der Vorsehung geschickt worden. Mit ihrer Hilfe mag es auch leicht werden, die Etablissements des Forts Michael am Norton-Golfe zu erreichen, und vielleicht gar weiter im Süden Neu-Archangel, woselbst wir den Winter vollends verbringen könnten.

– Armes Fort-Esperance! sagte Mrs. Paulina Barnett, um den Preis so vieler Anstrengungen erbaut, und von Ihnen, Herr Hobson, so glücklich begründet! Mir wird das Herz brechen, wenn ich diese Insel inmitten des Eisfeldes, und vielleicht hinter dem unübersteiglichen Packeise verlassen soll. Ja, ich weiß, daß mir das Herz bluten wird, wenn ich ihr das letzte Lebewohl sage!

– Ich werde dabei nicht weniger leiden, als Sie, Madame, antwortete Jasper Hobson, und vielleicht noch mehr! Das war das wichtigste Werk meines Lebens! Der Gründung dieses so unglücklich getauften Fort-Esperance hatte ich alle meine Kenntnisse, allen Fleiß gewidmet, und ich werde mich nie darüber trösten, es aufgeben zu müssen. Und dann, was wird die Compagnie dazu sagen, die mich mit diesem Versuche betraut, und deren ergebener Agent ich trotz Allem bleibe!

– Sie wird sagen, Herr Hobson, rief die Reisende in edler Aufwallung, daß Sie Ihre Pflicht gethan haben, daß Sie nicht verantwortlich sein können für die Launen der Natur, die eben mächtiger ist und sein wird, als die Hand und der Geist des Menschen. – Sie muß einsehen, daß Sie das Vorgefallene nicht voraussehen konnten, denn das lag außerhalb der menschlichen Vorsicht! Sie muß endlich der Ueberzeugung sein, daß sie Ihrer Klugheit, Ihrer moralischen Energie die Rettung der Leute, die sie Ihnen anvertraute, allein zu danken hat.

– Ich danke Ihnen, Madame, erwiderte der Lieutenant, und drückte Mrs. Paulina Barnett die Hand, ich danke Ihnen für diese Worte, welche aus Ihrem Herzen stammen; aber ein wenig kenne ich die Menschen, und glauben Sie mir, einen Erfolg zu haben, ist besser, als ein Fehlschlagen. Doch, wie Gott will!«

Sergeant Long, der den Lieutenant von seinen trüben Gedanken abzuleiten suchte, brachte das Gespräch wieder auf den vorliegenden Sachbestand; er sprach von den für die Abreise nöthigen Vorbereitungen und fragte ihn, ob er nun den Zeitpunkt für gekommen erachte, seinen Leuten über die jetzigen Verhältnisse der Insel Victoria Aufklärung zu geben.

»Noch werden wir damit warten, entgegnete Jasper Hobson; bis heute haben wir durch unser Stillschweigen den armen Leuten so manche Unruhe erspart; warten wir also noch, bis unsere Abreise endgiltig festgesetzt ist, dann sollen sie die ganze Wahrheit hören!«

Die gewohnten Arbeiten in der Factorei wurden in den folgenden Wochen unbeirrt fortgesetzt.

Welches war die Lage der glücklichen und zufriedenen Einwohner von Fort-Esperance vor einem Jahre?

Damals traten ebenso wie heute die ersten Anzeichen der kalten Jahreszeit ein. Langsam wuchs das junge Eis an das Ufer an. Die Lagune mit ihrem ruhigeren Wasser erstarrte zuerst. Die Temperatur hielt sich den Tag über auf ein bis zwei Grade über dem Gefrierpunkte, und sank während der Nacht um drei bis vier Grade. Jasper Hobson ließ seine Leute die Winterkleidung, die Pelze und die wollenen Stoffe, anlegen. Im Inneren des Hauses setzte man die Condensatoren in Stand, reinigte das Luftreservoir und die Ventilationspumpen. Rings um den Palissadenzaun errichtete man Fallen, und Sabine und Marbre beglückwünschten sich über die Erfolge ihrer Jagd. Zuletzt vollendete man noch die innere Einrichtung des Hauses.

Auch dieses Jahr beschäftigten sich die wackeren Leute auf die nämliche Weise. Obgleich Fort-Esperance jetzt um sieben Grade höher lag, als zu Anfang des letzten Winters, so konnte dieser Unterschied doch keine so beträchtliche Veränderung im Zustande der Temperatur herbeiführen. Zwischen dem siebenzigsten und dem siebenundsiebenzigsten Parallelkreise variirt das Mittel der Temperatur nicht so auffallend. Vielmehr constatirte man, daß die Kälte jetzt minder streng war, als sie sich zu Anfang der vorigen Ueberwinterung zeigte. Jetzt schien sie sogar erträglicher, da die Ueberwinternden sich an das rauhe Klima schon besser gewöhnt hatten.

Hierbei muß bemerkt werden, daß die schlechte Jahreszeit sich nicht mit der gewöhnlichen Strenge einführte.

Das Wetter blieb feucht, und die Atmosphäre belud sich tagtäglich mit Dünsten, die sich bald in Regen und bald in Schnee auflösten. Nach Lieutenant Hobson’s Wunsche meldete sich die Kälte noch immer nicht.

Rund um die Insel wurde nun das Meer, freilich noch nicht beständig, fest. Breite schwarze Flecke, welche die Oberfläche des neuen Eisfeldes noch unterbrachen, bewiesen, daß die Schollen nur leicht unter einander verbunden waren. Fast unablässig hörte man das von dem Bruch der Eisbank herrührende Krachen, die sich aus einer unendlichen Zahl unzulänglich verlötheter Stücke zusammensetzte, und deren Kamm der Regen wieder löste. Noch machte sich der enorme Druck nicht fühlbar, der gewöhnlich auftritt, wenn sich die Eisschollen unter lebhaftem Frost bilden und eine über die andere thürmen. Eisberge und Spitzhügel traten nur selten auf, und auch am Horizonte zeigte sich das Packeis noch nicht.

»Das ist eine Witterung, sagte häufig Sergeant Long, wie sie den Aufsuchern der Nordwest-Passage und den Nordpolfahrern nicht mißfallen hätte; leider ist sie unserer Absicht zuwider und unserer Rückkehr schädlich.«

Der ganze Monat October hielt sich in gleicher Witterung, und Jasper Hobson constatirte, daß das Mittel der Temperatur den Gefrierpunkt nicht überstieg. Man weiß aber, daß nur eine mehrere Tage hinter einander andauernde Kälte von sieben bis acht Grad unter Null hinreichend ist, um das Meer fest werden zu lassen. Noch ein anderer Umstand, der Mrs. Paulina Barnett so wenig entging, wie dem Lieutenant Hobson, bestätigte, daß das Eisfeld jetzt noch nicht tragfähig war.

Die auf der Insel zurückgebliebenen Thiere, Pelzthiere, Elenns, Wolfe u.s.w., würden gewiß nach anderen Breiten davon gegangen sein, wenn eine Flucht möglich, das heißt, wenn das erstarrte Meer passirbar gewesen wäre. Dagegen schweiften sie noch haufenweise um die Factorei herum, und suchten mehr und mehr die Nachbarschaft des Menschen. Selbst die Wölfe kamen der Umzäunung bis auf Schußweite nahe und fingen sich dort die Marder und Polarhasen, die ihre einzige Nahrung bildeten. Die hungernden armen Thiere, welche weder Gras noch Moos abzuweiden hatten, streiften in ganzen Rudeln in der Umgebung des Cap Bathurst umher.

Ein Bär – wahrscheinlich derselbe, gegen den Mrs. Paulina Barnett und Kalumah zu so großer Erkenntlichkeit verpflichtet waren, – erschien häufig zwischen den Bäumen des Hochwaldes an den Ufern der Lagune. Waren aber alle jene verschiedenen Thiere noch anwesend, die in der Hauptsache auf Pflanzennahrung angewiesen sind, bevölkerten sie die Insel Victoria noch im Monat October, so sprach das dafür, daß sie weder früher noch bis jetzt von derselben entfliehen konnten.

Wie erwähnt, hielt sich die Temperatur immerfort nahe dem Schmelzpunkte des Eises. Befragte Jasper Hobson sein Journal, so ersah er daraus, daß das Thermometer zu derselben Zeit des vergangenen Jahres 10º unter Null gezeigt hatte. Welch‘ großer Unterschied, und wie launenhaft vertheilt sich demnach die Temperatur in diesen arktischen Gegenden!

Die Ueberwinternden litten also keineswegs von der Kälte und sahen sich noch nicht auf das Haus beschränkt. Dagegen war es sehr feucht, denn häufig fallender Regen mit Schnee untermischt, und der niedrige Stand des Barometers verrieth, daß die Atmosphäre mit Dünsten überladen war.

Noch während des Octobers unternahmen Jasper Hobson und Sergeant Long mehrere Ausflüge, um den Zustand des Eisfeldes in der Umgebung der Insel kennen zu lernen. An einem Tage gingen sie nach Cap Michael, am anderen nach dem früheren Winkel der Walroß-Bai, immer begierig, sogleich zu wissen, ob der Uebergang nach einem oder dem anderen Erdtheile zu ausführbar sei und wann ihre Abreise statthaben könne.

Das Eisfeld zeigte an gewissen Stellen offenes Wasser, und war da und dort von Rissen und Sprüngen durchsetzt, welche den Lauf der Schlitten unzweifelhaft aufgehalten hätten. Kaum durfte sich wohl der Fuß eines Wanderers in diese halb flüssige, halb feste Einöde hinauswagen. Was es noch wahrscheinlicher machte, daß ein unzureichender und unregelmäßiger Frost, eine wechselnde Temperatur diese unvollkommene Uebereisung erzeugt hatte, das war die große Menge der Spitzen, Krystalle, Prismen und Polyeder jeder Art, welche wie eine Stalaktiten- Concretion die Oberfläche des Eisfeldes höckerartig unterbrachen. Letzteres ähnelte weit mehr einem Gletscher, als einem Felde, und mußte der Weg außerordentlich beschwerlich werden, wenn er überhaupt gangbar erschien.

Lieutenant Hobson und Sergeant Long wagten sich auf das Eisfeld hinaus und legten so, aber nur mit großer Mühe und beträchtlichem Zeitaufwand ein bis zwei Meilen in südlicher Richtung zurück. Sie erkannten bald, daß man jetzt noch warten müsse, und zogen sehr entmuthigt nach Fort-Esperance wieder heim. Es kamen die ersten Tage des November, die Temperatur ging ein wenig, doch nur um einige Grade zurück, aber auch das erschien wohl noch nicht hinreichend. Ausgedehnte, feuchte Nebel hüllten die Insel Victoria ein, so daß man den ganzen Tag über die Lampen im großen Saale in Brand erhalten mußte. Mit dem Lichte galt es aber etwas sparsam umzugehen. Der Vorrath an Oel war sehr bemessen, da die erwartete Sendung des Kapitän Craventy ausblieb, und auf der anderen Seite die Robbenjagd unmöglich wurde, weil diese Amphibien die umherirrende Insel nicht mehr besuchten. Verlängerte sich die Durchwinterung also unter den nämlichen Verhältnissen, so nöthigte das die Bewohner bald, Thierfett zu verwenden, oder gar Thran und Harz, um sich etwas Licht zu verschaffen. Die Tage wurden jetzt schon ungewöhnlich kurz, und nur wenig Stunden des Tages wandelte die Sonne mit bleichem Glanze und wärmeloser Scheibe über dem Horizonte. Ja, der Winter war wohl da mit seinen Nebeln, Regen und Schneegestöber, der Winter wohl – aber ohne Frost!

Der 11. November wurde zum Festtage in Fort- Esperance, den Mrs. Joliffe durch einige »Extragänge« zur Mittagsmahlzeit auszeichnete. Es war der Geburtstag des kleinen Michael Mac Nap. Das Kind blühte lustig auf mit seinen blonden lockigen Haaren und den lieblichen blauen Augen. Daß es seinem Vater, dem Meister Zimmermann, ähnelte, machte den braven Mann ordentlich stolz. Nach Tische wurde der Bursche feierlich gewogen. Da mußte man ihn in der Wage zappeln sehen und munter schreien hören! Wirklich, er wog vierunddreißig Pfund! Mit welchem Hurrah begrüßte man dieses tüchtige Gewicht und beglückwünschte Mrs. Mac Nap als Mutter und Ernährerin. Nicht zum geringsten Theile bezog auch Corporal Joliffe diese Glückwünsche mit auf sich, wahrscheinlich als Bonne dieses kleinen Weltbürgers. Der würdige Corporal hatte das Kind so viel umher getragen, gehätschelt und gewiegt, daß er seine Einwirkung bei dessen physischem Gewichte mit in Anschlag zu bringen glauben mochte.

Am nächsten Tage, dem 12. November, erschien die Sonne nicht über dem Horizonte. Nun begann die lange Polarnacht, und zwar neun Tage früher, als im vergangenen Jahre auf dem amerikanischen Continente, was von dem Unterschiede der Breitenlage zwischen diesem und der Insel Victoria herrührte.

Auch das Ausbleiben der Sonne veränderte jedoch den Zustand der Atmosphäre keineswegs, und noch immer blieb die Temperatur wie vorher launenhaft und unbestimmt. An einem Tage sank das Thermometer, am anderen stieg es wieder, Regen und Schnee lösten einander ab. Der gelinde Wind wurde in keiner Richtung stetig, sondern durchlief an manchem Tage alle Striche der Windrose. Die dauernde Feuchtigkeit dieses Klimas war nicht außer Acht zu lassen, da sie leicht scorbutische Affectionen hervorzurufen vermochte. Doch wenn auch durch das Ausbleiben der Sendung des Kapitän Craventy Citronen- und Limoniensaft und Kalkpastillen auf die Neige gingen, so ersetzte diese die reichliche Ernte an Sauerampfer und Löffelkraut, von denen man auf Jasper Hobson’s Empfehlung täglich gebrauchen konnte.

Inzwischen mußte Alles vorbereitet werden, um Fort-Esperance verlassen zu können, und unter den gegebenen Verhältnissen reichten vielleicht kaum drei Monate hin, um das Festland Amerikas zu erreichen. Auch durfte man die einmal auf dem Wege befindliche Expedition nicht der Gefahr aussetzen, vor Erreichung des Landes in die Thauperiode zu kommen. War man zur Abreise gezwungen, so mußte diese spätestens mit Ende November erfolgen.

Daß man sich auf den Weg machen müsse, darüber bestand keinerlei Zweifel. Wenn die Reise aber schon durch die strenge Winterkälte, welche alle Theile des Eisfeldes unverrückbar verband, eine beschwerliche zu werden versprach, so drohte diese unbestimmte Witterung die Lage noch sehr bedenklich zu verschlimmern.

Am 13. November traten Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und Sergeant Long zusammen, um den Tag der Abfahrt festzusetzen. Die Ansicht des Sergeanten ging dahin, die Insel so bald als möglich zu verlassen.

»Denn, sagte er, bei einem Zuge von sechshundert Meilen über das Eis müssen wir auf jede mögliche Verzögerung gefaßt sein. Jedenfalls ist es nothwendig, noch vor dem März den Fuß auf das Festland zu setzen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, durch den Eisbruch in eine weit schlimmere Lage zu kommen, als wir es jetzt auf unserer Insel sind.

– Ist das Meer aber, fragte Mrs. Paulina Barnett, jetzt schon hinreichend fest, um unseren Uebergang zu sichern?

– Gewiß, entgegnete Sergeant Long, und es wird auch mit jedem Tage tragfähiger. Uebrigens zeigt das Barometer eine Neigung zum Steigen, was eine weitere Erniedrigung der Temperatur verspricht. Binnen einer Woche, und bis dahin, denke ich, können die nöthigen Vorbereitungen beendet sein, wird die Witterung dauernd kalt bleiben.

– Mag sein, sagte Lieutenant Hobson, jedenfalls meldet sich der Winter ungünstig an, und Alles scheint gegen uns verschworen zu sein. Man kennt auch ganz eigenthümliche Witterungsverhältnisse in diesen Meeren, unter denen die Walfänger da bequem fahren konnten, wo sie, selbst in anderen Sommern, für ihren Kiel keinen Zoll freies Wasser vorgefunden hatten. Doch wie dem auch sei, ich stimme bei, daß kein Tag unnütz vergeudet wird, und bedaure nur, daß die gewöhnliche Temperatur dieser Klimate uns ihre Mithilfe versagt.

– Das wird noch geschehen, meinte Mrs. Paulina Barnett, auf jeden Fall müssen wir bereit sein, uns die Umstände zu Nutze zu machen. Für wann denken Sie spätestens unsere Abreise festzusetzen, Herr Hobson?

– Auf Ende November als äußersten Zeitpunkt, antwortete Jasper Hobson, sollten unsere Vorarbeiten aber schon in acht Tagen, also bis 20. November, vollendet und der Uebergang ausführbar sein, so würde ich das für einen sehr glücklichen Umstand ansehen, und schon zu dieser Zeit aufbrechen.

– Gut, sagte der Sergeant, demnach ist kein Augenblick zu verlieren.

– Dann, Herr Hobson, bemerkte die Reisende, werden Sie auch unseren Genossen die Lage, in der wir uns befinden, mittheilen müssen.

– Ja, Madame, der Augenblick, zu sprechen, ist jetzt gekommen, da es nun darnach zu handeln gilt.

– Und wann wollen Sie ihnen sagen, was jene bis jetzt noch nicht wissen?

– Sofort! – Sergeant Long, fügte Jasper Hobson, sich nach seinem Unterofficier hinwendend, hinzu, der jetzt eine militärische Haltung annahm, lassen Sie die Mannschaft sich im großen Saale versammeln, um eine Mittheilung von mir entgegen zu nehmen.«

Automatisch drehte sich der Sergeant auf seinen Füßen herum und ging, die Hand an der Mütze, in Paradeschritt ab.

Einige Minuten lang blieben Mrs. Paulina Barnett und Lieutenant Hobson allein, ohne nur ein Wort zu sprechen.

Bald kehrte der Sergeant zurück und meldete, daß sein Befehl vollzogen sei.

Gleichzeitig traten Jasper Hobson und die Reisende in den großen Saal ein. Alle Bewohner der Factorei, Männer und Frauen, waren darin versammelt und von dem Licht der Lampen nur undeutlich beleuchtet.

Jasper Hobson trat in die Mitte und sagte in ernstem Tone:

»Meine Freunde, bis jetzt hielt ich es für meine Pflicht, um Euch unnöthige Beunruhigung zu ersparen, die Lage unseres Fort-Esperance geheim zu halten … ein Erdbeben hat uns vom Festlande losgerissen … Dieses Cup Bathurst ist von der amerikanischen Küste abgewichen … unsere Halbinsel ist seitdem nur noch eine Insel, und zwar eine umherirrende Eisinsel …«

In diesem Augenblicke näherte sich Marbre Jasper Hobson und sagte mit fester Stimme:

»Das wußten wir schon, Herr Lieuteuant!«

Zwölftes Capitel.


Zwölftes Capitel.

Sie wußten es, diese braven Männer! Um den Kummer ihres Vorgesetzten nicht zu vergrößern, hatten sie sich nur verstellt und den Arbeiten zur Ueberwinterung mit gleichem Fleiße hingegeben.

Jasper Hobson traten Thränen der Rührung in die Augen. Er gab sich keine Mühe, seine Erregung zu verbergen, ergriff Marbre’s Hand, die dieser ihm entgegenstreckte, und drückte sie herzlich.

Ja, diese wackeren Soldaten wußten Alles, denn Marbre hatte schon seit längerer Zeit Alles durchschaut. Die mit salzigem Wasser gefüllte Rennthierfalle, das aus Fort-Reliance erwartete, aber nicht eingetroffene Detachement, die täglich vorgenommenen, auf dem Festlande doch völlig nutzlosen Aufnahmen der Länge und Breite, Jasper Hobson’s Heimlichkeit dabei, die Thiere, welche vor dem Winter nicht weggezogen warm, endlich der in den letzten Tagen eingetretene und gar wohl bemerkte Wechsel in der Orientation der Insel, – alle diese Zeichen hatten den Bewohnern von Fort-Esperance über ihre Lage Licht gegeben. Nur die Ankunft Kalumah’s blieb unerklärt und führte sie zu der – wie man weiß, richtigen – Annahme, daß der Sturm dies junge Eskimomädchen zufällig an das Ufer der Insel verschlagen habe.

Marbre, in dem es zuerst über alle Verhältnisse Tag geworden war, theilte seine Gedanken darüber dem Zimmermann Mac Nap und dem Schmied Raë mit.

Alle Drei betrachteten das allgemeine Unglück mit sehr ruhigen Augen, und kamen dahin überein, nicht allein ihre Kameraden, sondern selbst ihre Frauen darüber aufzuklären. Dann hatten sich Alle verabredet, ihrem Lieutenant gegenüber Nichts zu wissen, und seinen Anordnungen wie bisher blindlings nachzukommen.

»Ihr seid wackere Leute, meine Freunde, sagte da Mrs. Paulina Barnett, tiefgerührt von diesem Feingefühl, als der Jäger Marbre seine Erklärungen abgegeben hatte; Ihr seid edelmüthige und muthige Soldaten!

– Und unser Lieutenant, bemerkte Mac Nap, kann auf uns rechnen. Er hat seine Pflicht gethan, wir werden die unsere thun.

– Ja, meine lieben Gefährten, sagte Jasper Hobson, der Himmel wird uns nicht verlassen und wir werden ihn unterstützen, uns zu retten!«

Hierauf berichtete Jasper Hobson Alles, was sich seit der Zeit zugetragen hatte, da das Erdbeben den Isthmus zerbrach und aus dem Continentalgebiete des Cap Bathurst eine Insel schuf. Er erzählte, wie diese seit der Mitte des Frühlings von einem bislang unbekannten Strome zweihundert Meilen vom Lande entfernt auf dem eisfreien Meere entführt worden sei; wie der Orkan sie bis nahe an das Land zurück und in der Nacht des 31. August wieder in die offene See hinaus getrieben, und endlich wie milchig Kalumah ihr Leben auf’s Spiel gesetzt habe, um ihren europäischen Freunden zu Hilfe zu kommen. Dann sprach er von den vorgekommenen Veränderungen der Insel, welche sich in dem wärmeren Wasser auflösen mußte, und wie nahe die Befürchtung gelegen hatte, entweder in den Stillen Ocean hinab gerissen oder von dem Kamtschatka- Strome entführt zu werden. Zuletzt theilte er seinen Schicksalsgenossen mit, daß die umherirrende Insel seit dem 27. September definitiv zum Stehen gekommen sei.

Nach Herbeischaffung der Karten des Eismeeres zeigte Jasper Hobson selbst die Position, welche sie jetzt in einer Entfernung von sechshundert Meilen vom Lande einnahm.

Er schloß mit dem Geständnisse, daß ihre Lage außerordentlich gefährlich erscheine, daß die Insel bei Gelegenheit des Eidbruches nothwendig zermalmt werden würde und daß man, ohne auf das im Bau befindliche Schiff, welches doch erst im kommenden Sommer von Werth sein könne, zurückzugreifen, den Winter benutzen müsse, um quer über das Eisfeld nach dem amerikanischen Continent zurück zu gehen.

»Sechshundert Meilen werden wir durch Nacht und Kälte zurück zu legen haben. Schwierig wird die Aufgabe sein, meine Freunde, doch begreift Ihr wohl Alle, daß wir davor nicht zurückschrecken dürfen.

– Sobald Sie den Befehl zur Abreise geben, Herr Lieutenant, versicherte Mac Nap, so werden wir Ihnen folgen!«

So waren also Alle einig und wurden die Zurüstungen zu dem gefährlichen Zuge mit größter Eile betrieben. Die Leute hatten sich entschieden, selbst unter solchen Umständen die sechshundert Meilen zurückzulegen. Sergeant Long widmete seine Sorge den Schlitten, während Jasper Hobson, die beiden Jäger und Mrs. Barnett häufig auszogen, den Zustand des Eisfeldes zu untersuchen. Gewöhnlich schloß sich auch Kalumah ihnen an, da ihre Erfahrung hierin nicht selten von großem Vortheil sein mußte. Ohne eine dazwischen tretende Verzögerung sollte die Abreise am 20. November stattfinden; es galt also, keinen Augenblick zu verlieren.

Wie es Jasper Hobson voraus gesehen, hatte sich der Wind wieder erhoben, die Temperatur erniedrigte sich ein wenig, und die Quecksilbersäule zeigte – 4º. An Stelle des Regens der letzten Tage trat Schnee, der auf dem Boden erhärtete. Nur einige Tage solcher Kälte, und die Schlitten mußten Verwendung finden können. Der bei Cap Michael entstandene Einschnitt war von Schnee und Eis wieder so ziemlich geschlossen, doch durfte man nicht vergessen, daß sein ruhigeres Wasser eben eher zum Festwerden neigte, was schon der noch unbefriedigende Zustand des Seewassers bewies.

Wirklich dauerte der ziemlich heftige Wind fast unausgesetzt an. Der Seegang verhinderte eine regelmäßige Eisbildung. Breite Wasserlöcher trennten da und dort die Schollen, und noch erschien ein Zug über das Eisfeld unbedingt unmöglich.

»Die Witterung wendet sich entschieden zum Froste, sagte da eines Tages Mrs. Paulina zu Lieutenant Hobson, – es war am 15. November gelegentlich einer bis in den Süden der Insel fortgesetzten Auskundschaftung; – die Temperatur erniedrigt sich merklich, und auch jene noch offenen Stellen werden bald ihre Eisdecke haben.

– Das glaub‘ ich zwar auch, Madame, antwortete Jasper Hobson, unglücklicher Weise ist aber die Art des Gefrierens unseren Zwecken nicht eben förderlich. Die sehr kleinen Schollen bilden mit ihren Rändern ebenso viele Kanten, welche über die Fläche herausragen, und unsere Schlitten werden, wenn das überhaupt erst möglich wird, nur mit größter Mühe darüber hingleiten.

– Meiner Ansicht nach, erwiderte die Reisende, bedürfte es nur einiger Tage, ja selbst nur einiger Stunden reichlichen Schneefalles, um die ganze Oberfläche einzuebnen.

– Ohne Zweifel, Madame, entgegnete der Lieutenant, wenn aber Schnee fällt, ist auch die Temperatur gestiegen, und wenn dieser Fall eintritt, verschiebt sich für jetzt das Eisfeld noch. Das ist ein Dilemma, welches auf beiden Seiten gegen unseren Vortheil ist.

– Nun, Herr Hobson, tröstete die Reisende, das hieße doch wahrlich unglücklich spielen, wenn wir in dieser Gegend, mitten im Eismeer, einen milden Winter, statt eines arktischen, erleben sollten.

– Und doch wäre das nicht der erste Fall, Madame. Ich erinnere Sie, wie streng die kalte Jahreszeit war, welche wir an dem amerikanischen Continente verbrachten. Nach oft wiederholten Beobachtungen folgen aber zwei gleich rauhe und andauernde Winter nur selten einander, was auch die Walfänger in den Meeren des Nordens recht wohl wissen. Gewiß hieße es aber unglücklich spielen, einen kalten Winter da erlebt zu haben, wo uns ein milderer so viel angenehmer gewesen wäre, und einen gemäßigten da, wo wir einen kalten brauchen. Und wenn ich daran denke, daß eine Entfernung von sechshundert Meilen mit Frauen und einem Kinde zu durchziehen ist!« …

Jasper Hobson zeigte mit der Hand nach der unabsehbaren Weite, die sich im Süden ihren Blicken bot, nach der weißen Ebene mit den launenhaften Unterbrechungen. Ein trauriger Anblick, dieses stellenweise gefrorene Meer, dessen Oberfläche mit unheimlichem Geräusche krachte. Der trübe Mond, den die feuchten Nebel halb begruben und der nur wenige Grade über dem düsteren Horizonte stand, goß ein bleiches Licht über das Ganze. Das Halbdunkel verdoppelte mit Hilfe gewisser Brechungserscheinungen des Lichtes die Größe aller Gegenstände.

Manche Eisberge von nur mittlerer Höhe nahmen kolossale Dimensionen und die Gestalt apokalyptischer Ungeheuer an. Mit rauschendem Flügelschlage zogen Vögel vorüber, deren kleinster in Folge jener optischen Täuschung größer als ein Condor oder ein Aasgeier erschien.

Nach verschiedenen Richtungen schienen sich zwischen den Eisriesen ungeheure schwarze Tunnel zu eröffnen, in welche einzudringen wohl auch der Furchtloseste gezaudert hätte. Dann hörte man wieder ein Donnern und Krachen, das von eingestürzten Eisbergen herrührte, wenn sie unten abgenagt außer Gleichgewicht gekommen waren, und das das Echo hallend wiedergab. So wechselte die Scene immer, wie die Decoration eines Zaubermärchens.

Mit welch‘ staunendem Schrecken mußten aber die Unglücklichen jene furchtbaren Erscheinungen betrachten, da sie ihr Weg mitten durch diese Eisfelder führte!

Einem unwillkürlichen Grauen konnte sich die Reisende trotz ihres Muthes und ihrer moralischen Energie dabei doch nicht erwehren. Es überlief sie eiskalt, so daß sie gern Augen und Ohren verschlossen hätte, um nur nicht mehr zu sehen und zu hören. Und als der Mond sich einen Augenblick hinter noch dichterem Nebel ganz verbarg, färbte sich das Bild dieser Polarlandschaft noch düsterer, und Mrs. Paulina Barnett stellte sich dazu die Karawane von Männern und Frauen vor, auf dem Zuge durch diese Eiswüsten mitten im Sturm und Schnee, und bedroht von Lawinen in der tiefen Finsterniß einer arktischen Nacht!

Dennoch zwang sich die Reisende, den Anblick zu ertragen. Sie wollte ihre Augen gewöhnen und ihre Seele gegen den Schrecken abhärten. Plötzlich aber schrie sie, die Hand des Lieutenants ergreifend, laut auf und zeigte auf eine gewaltige Masse von unerkennbarer Gestalt, die sich im Halbdunkel, kaum hundert Schritte von ihnen, bewegte.

Jene war ein Ungeheuer von blendender Weiße, riesigem Wuchse und scheinbar über fünfzig Fuß hoch. Langsam begab es sich über die einzelnen Eisstücke dahin, setzte mit furchtbarem Sprunge von einem zum anderen, und focht mit den gigantischen Tatzen; es schien selbst einen gangbaren Weg über das Eisfeld zu suchen, um diese verderbendrohende Insel verlassen zu können. Man erkannte, wie die Schollen unter seinem Gewichte einsanken, und es ihm nur nach mehreren plumpen Bewegungen gelang, in’s Gleichgewicht zu kommen.

So drang das Ungethüm etwa eine Viertelmeile über das Eisfeld vor. Dann mochte ihm der weitere Weg mangeln, und es kehrte in der Richtung nach derselben Uferstelle zurück, an der Lieutenant Hobson und Mrs. Paulina Barnett sich aufhielten.

Sofort ergriff Jasper Hobson sein Gewehr, das er am Riemen trug, und hielt sich schußfertig. Als er aber schon auf das Thier angelegt hatte, ließ er die Waffe wieder sinken und sagte halblaut:

»Es ist weiter nichts als ein Bär, Madame, dessen Dimensionen durch die Lichtbrechung so ungeheuerlich vergrößert waren!«

Wirklich war es ein Polarbär, und Mrs. Paulina Barnett erkannte bald die optische Täuschung, die sie befangen hatte.

Erleichtert athmete sie tief auf, als ihr ein eigener Gedanke kam.

»Das ist mein Bär, rief sie, ein Neufoundland- Bär! Wahrscheinlich der einzige, der auf der Insel zurück blieb. Was hat er dort aber vor?

– Er sucht zu entkommen, antwortete Lieutenant Hobson, er sucht diese verwünschte Insel zu fliehen, und vermag es noch nicht, wobei er gleichzeitig den Beweis liefert, daß der Weg auch für uns noch versperrt ist!«

Jasper Hobson tauschte sich hierin nicht. Das gefangene Thier hatte die Insel verlassen und das Festland wieder erreichen wollen, und da ihm das mißlang, kehrte es zum Ufer zurück. Der Bär schüttelte langsam den Kopf, brummte grollend und trabte kaum zwanzig Fuß neben dem Lieutenant und seiner Begleiterin vorüber. Entweder sah er diese gar nicht oder würdigte sie nur keines Blickes, denn schwerfälligen Schrittes setzte er seinen Weg nach Cap Michael zu fort, und verschwand bald hinter einem Landrücken.

Traurig und schweigsam wandten sich Lieutenant Hobson und Mrs. Paulina Barnett an diesem Tage nach dem Fort zurück.

Indessen wurden in der Factorei die Vorbereitungen zur Abreise steißig fortgesetzt, so als ob das Eis schon gangbar gewesen wäre. Es handelte sich ja auch darum, für die Sicherheit der Expedition Nichts zu vernachlässigen, Alles vorzusehen und nicht nur die Schwierigkeiten und Anstrengungen in Anschlag zu bringen, sondern auch die Launen der polaren Natur, welche ihrer Erforschung durch den Menschen so energischen Widerstand leistet.

Die Hundebespannung bildete den Gegenstand der ernsthaftesten Sorge. Die Thiere ließ man sich in der Umgebung des Forts weidlich austummeln, um durch Uebung ihre bei der langen Unthätigkeit verminderten Kräfte wieder herzustellen. Alles in Allem befanden sie sich übrigens in erwünschtestem Wohlsein, und war ihnen, wenn sie nicht überlastet wurden, wohl eine längere Reise zuzumuthen.

Auch die Schlitten erfuhren eine aufmerksame Prüfung, da die holperige Eisfläche sie nothwendig den heftigsten Stößen aussetzte. Deshalb verstärkte man dieselben in ihren Haupttheilen, den Kufen und den vorn aufstrebenden Bögen u.s.w., was der sachverständige Mac Nap mit seinen Leuten ausführte.

Ebenso baute man zwei groß angelegte Lastschlitten, den einen zum Transport der Provisionen, den anderen zu dem der Pelzwaaren. Die dazu ganz geeigneten zahmen Rennthiere sollten diesen als Zugkraft dienen. Die Pelzwaaren bildeten zwar eine scheinbar überflüssige Last, mit der man sich vielleicht nicht beladen sollte, Jasper Hobson wollte aber die Interessen der Compagnie nach Kräften wahrnehmen, war jedoch entschlossen, jene zurück zu lassen, wenn sie den Zug der Karawane aufhalten oder wesentlich verzögern sollten. Man wagte also nicht zu viel, da jene kostbaren Pelzfelle, wenn sie in den Magazinen der Factorei zurückblieben, doch rettungslos verloren waren.

Bezüglich des Proviantes war die Sachlage eine andere. Lebensmittel mußten reichlich vorhanden und leicht transportabel sein, da auf etwaige Jagdbeute gar nicht zu, rechnen war. Das eßbare Wild lief gewiß, wenn der Uebergang statthaft war, nach dem Continente voraus, und entfloh in südlichere Gegenden. Deshalb wurden auf dem eigens dazu bestimmten Schlitten conservirtes Fleisch, Pökelfleisch, Hasenpasteten, getrocknete Fische, Zwieback, dessen Vorrath leider sehr zusammengeschmolzen war, ferner ausreichend Sauerampher und Löffelkraut, Branntwein und Alkohol zur Bereitung warmer Getränke u.s.w. vorsorglich verpackt.

Gern hätte Jasper Hobson auch Brennmaterial mitgeführt, denn auf der ganzen Strecke von sechshundert Meilen war auf die Auffindung irgend welchen Ersatzes dafür nicht zu zählen; doch mußte man auf eine solche Mehrbelastung verzichten. Zum Glücke fehlte es an warmen Kleidungsstücken nicht, und waren diese aus dem Vorrath auf dem Schlitten im Nothfalle leicht zu ergänzen.

Thomas Black, der sich seit seinem Mißgeschicke von aller Welt zurück gezogen hatte, seine Umgebung floh, sich auf sein Zimmer beschränkte und an den Berathungen Jasper Hobson’s und des »Generalstabes« überhaupt keinerlei Antheil nahm, trat endlich wieder an’s Tageslicht, nachdem die endgiltige Bestimmung des Tages der Abreise sein Ohr erreichte. Aber auch dann beschäftigte er sich einzig und allein mit dem Schlitten, der seine Person nebst Instrumenten und Büchern aufnehmen sollte. Kein Wort war aus ihm hervorzulocken. Er schien Alles vergessen zu haben, selbst daß er ein Gelehrter sei, und seitdem ihm die Beobachtung »seiner« Sonnenfinsterniß so jämmerlich mißglückte, seitdem die Entscheidung der Frage bezüglich der Protuberanzen ihm entschlüpfte, fehlte es ihm auch an jeder Aufmerksamkeit für die anderen, jenen hohen Breiten eigenthümlichen Erscheinungen, wie die Nordlichte, Mondhöfe, Nebenmonde u.s.w.

Die letzten Tage über hatte Jedermann mit solchem eifrigen Fleiße gearbeitet, daß man schon am Morgen des 18. Novembers zur Abreise bereit gewesen wäre.

Leider war das Eisfeld noch immer nicht zu Passiren. Wenn die Temperatur auch noch etwas abnahm, so mangelte doch die lebhafte Kälte, welche das Meer zum Festwerden verlangt. Der übrigens sehr feinflockige Schnee fiel nicht gleichmäßig und anhaltend genug. Jasper Hobson, Marbre und Sabine durchstreiften Tag für Tag den Küstenstrich zwischen Cap Michael und der Ecke an der ehemaligen Walroß-Bai. Fast anderthalb Meilen weit wagten sie sich wohl auch über das Eisfeld hinaus, kamen aber dabei zu der Einsicht, daß jenes noch viel zu sehr von offenen Stellen, Sprüngen und Spalten durchsetzt war. Von Schlitten gar nicht zu sprechen, hätten sich nicht einmal Fußgänger ohne Gepäck und unbehindert in ihren Bewegungen ihm anvertrauen können. Die Mühseligkeiten Jasper Hobson’s und seiner beiden Leute gelegentlich dieser nur kurzen Ausflüge riefen öfters die Befürchtung wach, daß sie bei den veränderlichen Wegen und inmitten der noch beweglichen Eisschollen kaum die Insel Victoria wieder erreichen würden.

In der Thai gewann es den Anschein, als ob die Natur sich gegen die unglücklichen Wintergäste verschworen habe, denn am 18. und 19. November stieg das Thermometer von Neuem, während das Barometer andererseits fiel. Diese Wandlung der atmosphärischen Verhältnisse ließ das Schlimmste befürchten. Mit dem Nachlassen der Kälte verhüllte sich der Himmel in einen Dunstmantel. Mit 1° über Null trat Regen, statt Schnee, ein, der im Ueberfluß herabströmte, und schmolz bei diesem Rückschlag des Wetters zu verhältnißmäßiger Wärme die weiße Decke des Bodens stellenweise weg. Man begreift unschwer die Wirkung der geöffneten Schleusen des Himmels auf das Eisfeld, dessen lose Verbindung sich dadurch noch weiter lockerte. Auch an den Eisschollen traten Anfänge des Schmelzens ein, so als ob das Thauwetter anbräche. Lieutenant Hobson, der trotz der abscheulichen Witterung jeden Tag die südlichen Theile der Insel aufsuchte, kam ganz in Verzweiflung von dort zurück.

Am 20. entfesselte sich noch in jenen verderbendrohenden Seegebieten ein heilloser Sturm, der an Heftigkeit fast jenem gleichkam, welcher zwei Monate vorher über die Insel gebraust war. Die Ueberwinternden waren gar nicht im Stande, nur einen Fuß in’s Freie zu setzen, und blieben mehrere Tage über in Fort-Esperance eingesperrt.

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

Das von Jasper Hobson an der Grenze des Polarmeeres gegründete Fort-Esperance war von seiner Stelle gewichen! Verdiente der muthige Agent der Compagnie deshalb einen Vorwurf? Nein, jeder Andere hätte sich dabei eben so getäuscht. Keine menschliche Vorsicht hätte vor einer solchen Zufälligkeit schützen können. Er hatte auf Felsen zu bauen geglaubt und hatte nur – auf Sand gebaut.

Dieser die Halbinsel Victoria bildende Theil des Landes, welchen die genauesten Karten des englischen Amerika an das Festland anfügten, hatte sich nun plötzlich davon getrennt. Im Grunde bestand diese Halbinsel nur aus einem ungeheuren Eisfelde von etwa hundertundfünfzig Quadratmeilen Oberfläche, dem allmälige Anschwemmungen nach und nach das Aussehen eines festen Landes, welchem weder die Vegetation, noch der Humus fehlte, ertheilt hatten. Seit undenklichen Jahrtausenden mit dem Ufer verbunden, hatte die Erderschütterung am 3. Januar seine Bande zerrissen, und aus der Halbinsel war eine Insel, aber seit drei Monaten eine umher schwimmende geworden, welche die Strömungen auf dem Arktischen Oceane hinwegführten.

Ja, ein Eisfeld war es nur, das Fort-Esperance nebst seinen Bewohnern davontrug! Jasper Hobson hatte es sogleich begriffen, daß die Veränderung der beobachteten Breite nicht anders zu erklären war.

Der Isthmus, d. h. die Landzunge, welche die Halbinsel Victoria mit dem Continente verband, war offenbar durch die Kräfte unterirdischer Convulsionen in Folge der vor einigen Monaten stattgefundenen vulkanischen Eruption gebrochen. So lange dann der Winter noch anhielt und das Meer unter dem strengen Frost fest blieb, veranlaßte dieser Bruch keinerlei Aenderung in der geographischen Lage der Halbinsel. Als aber das Thauwetter kam und das Eis unter den Sonnenstrahlen zusammen schmolz, als die Schollen in das freie Meer hinaus getrieben wurden und hinter dem Horizonte verschwanden, als endlich das ganze Meer frei wurde, gerieth auch dieses ganze Gebiet, das auf eisigem Untergrunde lagerte, mit seinen Wäldern, seinen Küsten und seinem Vorgebirge, der Lagune im Inneren unter dem Einfluß einer unbekannten Strömung in Abweichung. So war es nun schon während einiger Monate dahin geschwommen, ohne daß die Ueberwinternden, die sich gelegentlich ihrer Jagden niemals weit von Fort-Esperance entfernten, es hätten bemerken können. Ein Merkzeichen war nicht vorhanden, da die dicken Dünste kaum einen Fernblick auf einige Meilen gestatteten, und hatte auch die Unbeweglichkeit des Bodens weder den Lieutenant Hobson, noch seine Genossen wahrnehmen lassen, daß sie aus Festlandbewohnern zu Insulanern geworden waren. Zu verwundern blieb es, daß sich die Lage der Insel hinsichtlich der Himmelsgegenden trotz ihrer Abweichung nicht geändert hatte, was jedenfalls auf ihre Ausdehnung und die Geradlinigkeit des Stromes, dem sie folgte, zurückzuführen war. Denn es liegt auf der Hand, daß ein Wechsel der Hauptpunkte des Cap Bathurst durch eine Drehung der Insel, wenn also etwa die Sonne oder der Mond an anderen Stellen als früher auf- oder untergegangen wären, von Thomas Black, Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett oder irgend jemand Anderem bemerkt worden sein müßte. Aus irgend einem Grunde aber ging die Ortsveränderung parallel den Längengraden der Erde vor sich, und obgleich sie vielleicht eine schnelle sein mochte, wurde man sie doch nicht gewahr.

Obgleich Jasper Hobson den Muth, das kalte Blut und die moralische Energie seiner Begleiter durchaus nicht bezweifelte, zögerte er doch, ihnen die volle Wahrheit mitzutheilen. Ihnen über die jetzige Lage Aufklärung zu geben, mußte ja immer noch Zeit sein, wenn man sich selbst erst ordentlich darüber klar geworden war. Zum Glück verstanden diese braven Männer, Soldaten und Werkleute, wenig von astronomischen Beobachtungen, noch von geographischer Länge und Breite, und aus der seit einigen Monaten stattgefundenen Lageveränderung der Insel konnten sie die ernsten Schlußfolgerungen nicht ziehen, welche Jasper Hobson so vollberechtigt in Unruhe versetzten.

Der Lieutenant raffte mit dem Entschlusse, so lange als möglich zu schweigen und eine Situation, welche er doch nicht zu ändern im Stande war, zu verheimlichen, alle seine Energie zusammen. Mit einer äußersten Anstrengung des Willens, welche aber Mrs. Barnett keineswegs entging, suchte er seiner selbst Herr zu werden und tröstete den unglücklichen Thomas Black, welcher sich klagend die Haare raufte, nach besten Kräften.

Der Astronom seinerseits ahnte den Vorgang, dessen Opfer er geworden war, noch keineswegs.

Da er nicht, wie der Lieutenant, die Eigenthümlichkeiten des Territoriums beobachtet hatte, kam er zu keinem Einsehen und grübelte über Nichts, als über das unselige Factum, daß an jenem Tage der Mond zur voraus berechneten Stunde die Sonne nicht vollkommen bedeckt habe. Welches war aber sein natürlicher Gedankengang? Daß die Ephemeriden zur Schande der Observatorien falsch seien, und daß diese so ersehnte Sonnenfinsternis, seine, Thomas Black’s Sonnenfinsternis zu deren Beobachtung er um den Preis so vieler Strapazen so weit hergekommen war, für diese Zone des Erd-Sphäroides unter dem siebenzigsten Parallelkreise überhaupt nicht »total« gewesen wäre? Nein! Das hätte er nie zugegeben! Niemals! Deshalb war auch seine Enttäuschung so groß und mußte es sein. Aber Thomas Black mußte doch bald die Wahrheit erfahren.

Jasper Hobson hatte indessen seine Leute glauben lassen, daß die nicht eingetroffene Sonnenfinsterniß nur den Astronomen interessire und ihnen selbst nichts angehe. Darauf hin hielt er sie zur Wiederaufnahme ihrer Beschäftigungen an. In dem Augenblicke aber, als sie den Gipfel des Cap Bathurst verlassen und nach der Factorei zurückkehren wollten, blieb Corporal Joliffe plötzlich stehen.

»Herr Lieutenant, sagte er, näher tretend und die Hand an der Mütze, dürfte ich eine Frage an Sie richten?

– Gewiß, Corporal, antwortete Jasper Hobson, der nicht recht wußte, wohinaus sein Untergebener ziele; sprechen Sie!«

Der Corporal sprach aber nicht; er zauderte, so daß ihn seine kleine Frau mit dem Ellenbogen stieß.

»Nun, Herr Lieutenant, begann er zögernd, es handelt sich um diesen siebenzigsten Breitengrad. Habe ich recht verstanden, so befinden wir uns nicht an der Stelle, welche Sie annahmen…«

Der Lieutenant zog die Augenbrauen zusammen.

»In der That, antwortete er ausweichend… wir haben uns in unserer Rechnung getäuscht. Unsere erste Beobachtung ist falsch gewesen. Aber inwiefern kann Sie das beunruhigen?

– Ei, es handelte sich dabei um den Sold, erwiderte der Corporal, der eine sehr pfiffige Miene annahm. Sie wissen selbst, der uns von der Compagnie versprochene doppelte Sold…«

Jasper Hobson athmete auf. Seine Leute hatten wirklich, wie man sich erinnern wird, für den Fall der Überschreitung des siebenzigsten Breitengrades ein Anrecht auf erhöhte Löhnung. Corporal Joliffe, der immer seinen Vortheil im Auge hatte, betrachtete die ganze Angelegenheit als eine Geldfrage, und konnte also befürchten, daß der ausgesetzte Preis noch nicht erworben sei.

»Beruhigen Sie sich, Corporal, antwortete lächelnd Jasper Hobson, und beruhigen Sie Ihre braven Kameraden. Unser wirklich unerklärbarer Irrthum gereicht Ihnen nicht zum Nachtheil. Wir befinden uns nicht unter, sondern über dem siebenzigsten Grade, und folglich bleibt Ihnen der doppelte Sold gesichert.

– Ich danke, Herr Lieutenant, sagte der Corporal, dessen Gesicht wieder freudig erglänzte, ich danke Ihnen. Es ist nicht darum, daß man am Gelde hinge, aber das verdammte Geld hängt uns so sehr an.«

Corporal Joliffe und seine Kameraden begaben sich hierauf wieder, ohne eine Ahnung der schrecklichen und sonderbaren Veränderung der Natur und der Lage des Gebietes, an ihre Arbeit. Auch Sergeant Long wollte eben nach der Factorei zurückkehren, als Jasper Hobson ihn aufhielt.

»Bleiben Sie, Sergeant Long!« rief er.

Der Unterofficier machte rechtsumkehrt und erwartete, was der Lieutenant ihm zu sagen habe.

Die einzigen jetzt noch auf dem Vorgebirge befindlichen Menschen waren Mrs. Paulina Barnett, Madge, Thomas Black, der Lieutenant und der Sergeant. Seit der Entdeckung gelegentlich der Sonnenfinsterniß hatte die Reisende noch kein Wort gesagt. Nur mit den Augen fragte sie Jasper Hobson, welcher ihr auszuweichen suchte. Das Gesicht der muthigen Frau zeigte aber mehr Erstaunen als Unruhe. Sah sie jetzt schon klar? War der Schleier vor ihren Augen ebenso schnell gefallen, wie vor denen Jasper Hobson’s? Auf jeden Fall verhielt sie sich ruhig und stützte sich auf Madge, deren Arm sie umschlang.

Der Astronom lief immer hin und her; er konnte an keiner Stelle ausdauern; sein Haar war verwirrt; er schlug die Hände zusammen und ließ sie wieder sinken. Mancher Ausruf der Verzweiflung entrang sich seinen Lippen, und gegen die Sonne ballte er die Faust, während er ihr, ohne zu bedenken, wie er sich schaden könne, frei entgegen sah.

Nach einigen Minuten schien sich seine innere Aufregung zu legen. Er bekam die Sprache wieder, und mit gekreuzten Armen, wuthflammenden Blicken und unheildrohender Stirn pflanzte er sich quer vor Lieutenant Hobson.

»Jetzt haben wir Zwei es mit einander zu thun, rief er, wir Zwei, Sie, Herr Agent der Hudsons-Bai-Compagnie!«

Diese Worte, deren Ton und seine Haltung sahen einer Herausforderung sehr ähnlich. Jasper Hobson wollte darauf kein Gewicht legen und begnügte sich, den armen Mann, dessen ungeheure Enttäuschung er sich wohl vorstellen konnte, ruhig anzusehen.

»Herr Hobson, fuhr Thomas Black mit schlecht verhehltem Zorne in seinem Tone fort, wollen Sie mir nun wohl sagen, was das Alles bedeutet? Ist das eine Mystification Ihrerseits? In dem Falle, mein Herr, würde sie ihre Wirkung auch noch weiter, als nur auf mich, äußern, und Sie dürften sie zu bereuen haben!

– Was wollen Sie damit sagen, Herr Black? fragte ganz gelassen Jasper Hobson.

– Ich will damit sagen, mein Herr, daß Sie sich verpflichtet hatten, Ihr Detachement an die Grenze des siebenzigsten Breitengrades zu führen…

– Oder darüber hinaus, Herr, fügte Jasper Hobson hinzu.

– Darüber hinaus, Herr, schrie Thomas Black, was hatte ich denn darüber hinaus zu suchen? Um diese Finsterniß zu beobachten, durfte ich mich nicht aus dem kreisförmigen Schatten, der sie begrenzt, hinausbegeben, und der hier im britischen Amerika innerhalb des siebenzigsten Breitengrades liegt, jetzt sind wir aber drei Grade darüber hinaus!

– Ja wohl, Herr Black, erwiderte Jasper Hobson immer gelassen, wir haben uns getäuscht, das ist eben Alles!

– Das soll Alles sein! rief der Astronom, den die Gelassenheit des Lieutenants noch mehr erregte.

– Ich mache Sie überdies darauf aufmerksam, fuhr Jasper Hobson fort, daß, wenn ich mich täuschte, Sie, Herr Black, diesen meinen Irrthum getheilt haben, denn nach unserer Ankunft bei Cap Bathurst haben wir zusammen, Sie mit Ihrem Instrument, ich mit dem meinigen, die Breitenlage desselben bestimmt. Sie können mich also nicht für einen Beobachtungsfehler verantwortlich machen wollen, der Sie ebenso schwer trifft!«

Diese Antwort entriß Thomas Black alle Waffen, und trotz seiner Erregung hatte er Nichts dawider vorzubringen. Es gab eben keine Entschuldigung!

War ein Fehler vorgekommen, so war er schuldig, er selbst auch. Was würde man aber im gelehrten Europa, auf dem Observatorium in Greenwich von einem Astronomen denken, der so ungeschickt war, sich bei einer Aufnahme der geographischen Breite zu täuschen? Ein Thomas Black beging einen Fehler von drei Graden bei Beobachtung der Sonnenhöhe, und das unter welchen Verhältnissen? Hier, wo die genaue Bestimmung der Parallele zur Beobachtung einer totalen Sonnenfinsterniß, welche erst nach langer, langer Zeit wiederkehrte, so besonders nöthig war! Thomas Black war von nun an ein entehrter Gelehrter!

»Aber wie in aller Welt, rief er endlich, und raufte sich von Neuem das Haar, wie habe ich mich nur so sehr irren können? Ich weiß also mit keinem Sextanten mehr umzugehen, ich verstehe keine Winkel zu berechnen – ich bin eben mit Blindheit geschlagen! Und wenn es so ist, ist es am Besten, mich überhaupt hier von dem Vorgebirge herabzustürzen…

– Herr Black, fiel Jasper Hobson mit ernster Stimme ein, klagen Sie sich nicht an, Sie haben keinen Beobachtungsfehler begangen, und haben sich keinen Vorwurf zu machen!

– Also Sie allein…

– Ich trage nicht mehr Schuld als Sie. Hören Sie mich freundlichst an, ich bitte Sie, und Sie auch, Madame, sagte er, sich an Mrs. Barnett wendend, Sie auch Madge, und auch Sie, Sergeant Long. Ich verlange von Ihnen Allen zunächst nur das Eine, die vollkommenste Geheimhaltung dessen, was ich Ihnen mittheilen werde. Es ist unnütz, die Genossen unseres Winterlagers zu erschrecken und zur Verzweiflung zu bringen.«

Die Zuhörer dieser Worte hatten sich dem Lieutenant genähert. Sie antworteten nicht, aber es erschien wie eine stillschweigende Übereinkunft, die erwartete Mittheilung geheim zu halten.

»Meine Freunde, sagte Jasper Hobson, als wir vor nun einem Jahre an dieser Stelle des britischen Amerika anlangten, und die Lage des Cap Bathurst aufnahmen, befand es sich genau unter dem siebenzigsten Breitengrade, und wenn es diesen jetzt um drei Grade nach Norden zu überschritten hat, so liegt das daran, daß es von seiner Stelle – abgewichen ist.

– Abgewichen? rief Thomas Black, das erzählen Sie Anderen, mein Herr! Seit wann weicht denn ein Cap ab?

– Und doch ist es an dem, entgegnete ernsthaft Lieutenant Hobson. Diese ganze Halbinsel Victoria ist nichts als eine Eisinsel. Das Erdbeben hat sie von der Küste losgerissen, und nun entführt sie eine der großen arktischen Strömungen…

– Wohin? fragte Sergeant Long.

– Wohin es Gott gefällt! antwortete Jasper Hobson.

Die Genossen des Lieutenants verharrten in tiefem Schweigen. Unwillkürlich wandten sich ihre Blicke nach Süden, über die weiten Ebenen hinaus, und nach der Seite des zerrissenen Isthmus hin, doch von der Stelle, die sie einnahmen, konnten sie, außer im Norden, den Meereshorizont nicht wahrnehmen, der sie jetzt von allen Seiten umschloß. Wäre Cap Bathurst um einige hundert Fuß höher über dem Meere gewesen, so hätte ihr Blick wohl den ganzen Umfang ihres Gebietes umfassen und ihnen beweisen können, daß es sich in eine Insel verwandelt hatte.

Wohl krampfte sich ihnen das Herz zusammen, wenn sie Fort-Esperance betrachteten und seine Bewohner, welche vom Lande weg in die offene See trieben und mit jenem ein Spiel der Winde und Wellen geworden waren.

»Auf diese Weise also, sagte da Mrs. Barnett, erklären sich alle die sonderbaren Erscheinungen, welche Sie auf diesem Lande bemerkten?

– Ja, Madame, diese Halbinsel, oder jetzt vielmehr Insel Victoria, welche wir für unerschütterlich fest betrachteten, ist nur ein ungeheures Eisfeld, welches Jahrhunderte lang an das amerikanische Festland geschmiedet war. Nach und nach wehte der Wind Sand und Erde darauf, und verstreute die Samen, aus denen der Wald und die Moose entstanden sind. Aus den Wolken stammte das süße Wasser der Lagune und des kleinen Baches. Die Vegetation hatte das Aussehen der Oberfläche verändert. Aber unter diesem See, unter der Erde, unter dem Sande und unter unseren Füßen erstreckt sich ein Eisboden, der vermöge seiner specifischen Leichtigkeit auf dem Meere schwimmt. Ja, ein Eisfeld ist es, das uns trägt und das uns davon führt, und daher kommt es auch, daß wir während unseres Aufenthaltes hier weder einen Kiesel, noch sonst einen Stein gefunden haben. Daher kommen diese schroff abfallenden Ufer, daher die seltsame Erscheinung, daß wir bei der Anlage von Rennthiergruben zehn Fuß unter dem Erdboden auf Eis trafen, daher endlich die Unmerkbarkeit der Fluth an der Küste, weil das steigende und fallende Wasser die Insel gleichmäßig mit sich hob und senkte.

– Wahrlich, jetzt erklärt sich Alles, Herr Hobson, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, und Ihre Ahnung hat Sie nicht getäuscht. Doch möchte ich Sie bezüglich der Fluth noch fragen, warum sie früher am Cap Bathurst noch leicht bemerkbar war, während sie doch jetzt ganz verschwunden ist?

– Ganz einfach, entgegnete der Lieutenant, weil sich die Halbinsel zur Zeit unserer Hierherkunft noch durch ihren biegsamen Isthmus an das Festland hielt. Sie leistete der Fluth eben dadurch einen gewissen Widerstand, und deshalb hob sich das Wasser an ihrer Nordküste noch um etwa zwei Fuß über den niedrigen Wasserstand, statt um zwanzig, wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen. Von dem Augenblick aber, da das Erdbeben den vollständigen Bruch veranlaßte, und die nun völlig freie Halbinsel sich mit Ebbe und Fluth senken und heben konnte, wurde deren Einfluß gleich Null, was wir ja vor einigen Tagen bei Gelegenheit des Neumondes bestätigt gesehen haben.«

Mit wechselndem Interesse hatte Thomas Black trotz seiner erklärlichen Verzweiflung der Auseinandersetzung Jasper Hobson’s gelauscht. Die Schlußfolgerungen des Lieutenants schienen ihm vollkommen richtig; aber wüthend darüber, daß solch‘ ein seltener, unerwarteter, so »absurder« Vorgang, wie er ihn später nannte, gerade stattfinden mußte, um ihm die Beobachtung der Sonnenfinsterniß unmöglich zu machen, sprach er für jetzt kein Wort, sondern hörte düster und fast verschämt zu.

»Armer Herr Black, sagte da endlich Mrs. Barnett, man muß wohl zugestehen, daß kein Astronom seit Entstehung der Welt ein solches Mißgeschick erlebt hat!

– Auf jeden Fall, Madame, fiel Jasper Hobson ein, trifft uns keine Schuld an dem Unfall, und Niemandem ist deshalb ein Vorwurf zu machen. Die Natur hat es allein gethan, sie ist die einzig Schuldige. Die Erderschütterung hat das Band zerrissen, welches die Halbinsel an den Continent fesselte, und wir selbst sind von einer schwimmenden Insel entführt worden. Das erklärt auch, warum die Pelzthiere und andere, welche mit uns gefangen sind, in der Umgebung des Forts so zahlreich bleiben.

– Und warum wir, mischte sich Madge in das Gespräch, in der guten Jahreszeit von dem Besuche aller Concurrenten verschont geblieben sind, deren Anwesenheit Sie, Herr Hobson, so besonders befürchteten.

– Und warum, fügte der Sergeant hinzu, das von Kapitän Craventy entsendete Detachement nicht bei Cap Bathurst anlangen konnte.

– Und warum ich endlich, sagte noch Mrs. Paulina Barnett mit einem Seitenblick auf den Lieutenant, mindestens für dieses Jahr auf jede Rückkehr nach Europa verzichten muß.«

Diese letzte Bemerkung hatte die Reisende in einem Tone gemacht, welcher bewies, daß sie sich in ihr Schicksal mit weit größerer philosophischer Ruhe ergab, als man hätte erwarten sollen.

Sie schien sich ganz plötzlich in diese fremdartige Lage eingelebt zu haben, eine Lage, welche ihr mindestens eine Reihe interessanter Beobachtungen versprach. Und wenn sie verzweifelt gewesen wäre, wenn alle ihre Begleiter gejammert und sich gegenseitig beschuldigt hätten, konnten sie die Vergangenheit ungeschehen machen?

Konnten sie den Lauf der umherirrenden Insel aufhalten, oder sie auf irgend eine Weise wieder an das Festland heften? Nein! In Gottes Hand allein lag das Schicksal des Fort-Esperance; seinem Willen mußten sie sich fügen.

Zweites Capitel.


Zweites Capitel.

Jasper Hobson beeilte sich, mit der Karte in der Hand, die neue, den Agenten der Compagnie unvorhergesehen geschaffene Lage möglichst sorgfältig aufzunehmen. Um aber die Länge der Insel Victoria – denn dieser Name wurde beibehalten – zu bestimmen, so wie es mit der Breite schon geschehen war, mußte der andere Tag abgewartet werden. Zur Ausführung dieser Berechnung bedurfte man zwei Beobachtungen der Sonnenhöhe, in der Vormittags- und Nachmittagszeit, um die beiden Stundenwinkel messen zu können.

Um zwei Uhr Nachmittags maßen Lieutenant Hobson und Thomas Black mittels der Sextanten die gerade Aufsteigung der Sonne über dem Horizonte.

Am anderen Tage wollten sie die Beobachtung um zehn Uhr Morgens fortsetzen, um aus den beiden Höhen die geographische Länge des von der Insel jetzt eingenommenen Punktes herzuleiten.

Die kleine Gesellschaft ging aber noch nicht sogleich zum Fort zurück, und das Gespräch zwischen Jasper Hobson, dem Astronomen, dem Sergeanten, Mrs. Paulina Barnett und Madge dauerte noch ziemlich lange Zeit fort. Die Letztere dachte an sich selbst gar nicht, sondern hatte sich vollkommen in den Willen der Vorsehung ergeben. Ihre Herrin, »ihre Tochter Paulina«, vermochte sie aber nicht ohne Besorgniß anzusehen, wenn sie an die Prüfungen, vielleicht die Gefahren dachte, welche die Zukunft ihr vorbehalten haben könne. Madge war wohl bereit, ihr Leben für Paulina zu lassen, aber würde dadurch Diejenige, welche sie mehr liebte, als Alles in der Welt, gerettet werden? Jedenfalls wußte sie, daß Mrs. Paulina Barnett nicht eine so schnell niederzubeugende Frau sei. Ihre unerschrockene Seele sah der kommenden Zeit furchtlos entgegen, und für jetzt hatte sie ja auch noch keinen Grund, zu verzagen.

Wirklich drohte den Insassen des Fort-Esperance keine unmittelbare Gefahr, im Gegentheil rief Alles den Glauben hervor, daß ihnen eine äußerste Katastrophe erspart bleiben werde, wenigstens sprach sich Jasper Hobson gegen seine Begleiter in dieser Weise aus.

Nur zwei Gefahren drohten der schwimmenden Insel.

Entweder wurde sie durch die Strömung bis nach jenen hohen Polarbreiten hingeführt, aus denen man nie wiederkehrt, –

Oder die Strömungen trieben sie nach Süden, vielleicht nach der Behrings-Straße und von da aus in den Stillen Ocean.

Im ersteren Falle würden die Ueberwinternden, im Eise gefesselt und von einem unübersteiglichen Schollenwalle umschlossen, jeder Verbindung mit der Außenwelt beraubt sein, und durch Hunger und die Kälte der hochnördlichen Einöden umkommen.

Im anderen Falle mußte die Insel Victoria von der Strömung bis nach den wärmeren Gewässern des Stillen Oceans entführt werden, an der Basis nach und nach zum Schmelzen kommen und sich unter den Füßen ihrer Bewohner allmälig senken.

Jede Hypothese stellte den Untergang Jasper Hobson’s, aller seiner Gefährten und der um den Preis so vieler Strapazen errichteten Factorei in gleich gewisse Aussicht.

Aber mußte denn einer oder der andere Fall wirklich unbedingt eintreten? Nein; viel Wahrscheinlichkeit hatte das nicht.

Die Jahreszeit war jetzt schon weit vorgeschritten. Vor Ablauf dreier Monate stand zu erwarten, daß das Meer unter dem ersten Polarfroste fest würde. Es versprach dann eine zusammenhängende Eisfläche, über welche hin man mittels Schlitten das nächstgelegene Land, entweder das russische Amerika, wenn sich die Insel östlich hielt, oder die Küste Asiens, im Falle sie nach Westen verschlagen wurde, zu erreichen hoffen konnte.

»Denn, fügte Jasper Hobson hinzu, wir sind nach keiner Seite hin unserer schwimmenden Insel Herr. Da das Aufspannen eines Segels, wie an einem Schiffe, unthunlich ist, vermögen wir auf ihre Richtung nicht im Geringsten einzuwirken, und gehen eben hin, wo sie uns gerade hinführt.«

Jasper Hobson’s klarer und bestimmter Darlegung der Sachlage wurde ohne Widerspruch beigestimmt. Es war unzweifelhaft, daß der strenge Winterfrost die Insel Victoria an das unendliche Eisfeld anlöthen und diese weder nach Norden, noch nach Süden hin allzu weit abweichen würde. Einige hundert Meilen über das Eisfeld zurückzulegen, setzte aber muthige und entschlossene Männer, die an das Polarklima und weite Exkursionen durch die arktischen Länder gewöhnt waren, nicht in große Verlegenheit. Zwar mußte Fort-Esperance, das Ziel aller ihrer Sorgen, aufgegeben und auf den Lohn so vieler glücklich durchgeführter Arbeiten verzichtet werden; doch was blieb denn Anderes übrig? Die auf beweglichem Boden aufgeführte Factorei konnte der Hudsons-Bai-Compagnie ja doch keine weiteren Dienste leisten und ihrem endlichen Untergange im Oceane über kurz oder lang nicht entgehen. Es galt also dieselbe zu verlassen, sobald es die Umstände gestatteten.

Die einzige bedenklichste Aussicht, auf welche Jasper Hobson immer und immer wieder zurückkam, war die, daß die Insel Victoria während der acht oder neun Wochen bis zur Erstarrung des Eismeeres zu weit nach Norden oder nach Süden hinweg geführt werden möchte, und wirklich kannte man aus den Berichten über Durchwinterungen Beispiele von Abweichungen, welche auf sehr weite Strecken hin stattfanden, ohne daß man ihnen Einhalt zu thun vermochte.

Alles hing demnach von den unbekannten Strömungen ab, welche von der Behringsstraße her ihren Ausgang nahmen, und es machte sich nöthig, ihre Richtungen nach den Karten des Eismeeres möglichst genau kennen zu lernen. Jasper Hobson, der eine solche Karte besaß, bat Mrs. Paulina Barnett, Madge, den Astronomen und den Sergeanten, ihm in sein kleines Zimmer zu folgen; bevor sie jedoch Cap Bathurst verließen, legte er ihnen nochmals das tiefste Stillschweigen über die gegenwärtige Sachlage an’s Herz.

»Ganz zum Verzweifeln ist unsere Lage keineswegs, setzte er noch hinzu, und folglich halte ich es für unzweckmäßig, unsere Gefährten überhaupt zu beunruhigen, da sie nicht so wie wir die guten und die schlechten Aussichten unserer Zukunft abzuwägen verstehen.

– Sollte es indessen, bemerkte Mrs. Paulina Barnett, nicht weise sein, von jetzt ab die Erbauung eines uns Allen Raum bietenden Fahrzeuges in die Hand zu nehmen, welches bei einer Ueberfahrt von einigen hundert Meilen die See zu halten im Stande wäre?

– Gewiß wäre es das, antwortete Jasper Hobson, und wir werden es nicht unterlassen. Einen Vorwand, diese Arbeit ohne Verzug aufzunehmen, werde ich leicht finden, und deshalb dem Meister Zimmermann sofort den nöthigen Befehl geben, an die Construction eines seefesten Schiffes zu gehen. Diesen Ausweg der Rückkehr verspare ich mir indessen nur für den schlimmsten Fall. Das Wichtigste wird es immer bleiben, nicht mehr auf der Insel zu sein, wenn die Verschiebung der Eismassen wieder beginnt, das heißt also, sie zu verlassen und das Festland wieder zu Fuße zu erreichen, sobald der Ocean im Winterfroste erstarrt ist.«

In der That war dieser Beschluß wohl der beste. Zur Erbauung eines Schiffes von dreißig bis fünfunddreißig Tonnen bedurfte es wenigstens der Zeit dreier Monate, dann aber konnte man von demselben keinen Gebrauch machen, da das Meer nicht mehr offen sein würde. Gelang es dagegen Lieutenant Hobson, seine kleine Kolonie über das Eisfeld nach dem festen Lande zurück zu führen, so bildete das gewiß die einfachste und glücklichste Lösung des Knotens, denn die Einschiffung der ganzen Gesellschaft bei eintretendem Thauwetter blieb immerhin ein sehr gefährliches Unternehmen. Mit Recht betrachtete Jasper Hobson also das zu erbauende Fahrzeug nur als das letzte Hilfsmittel, und alle Uebrigen theilten seine Meinung. Ueberdies wiederholte man ihm, der offenbar der sachkundigste Beurtheiler der Frage war, das Versprechen der Geheimhaltung.

Wenig Minuten, nachdem sie Cap Bathurst verlassen hatten, umringten die beiden Frauen und die drei Männer in Fort-Esperance den Tisch des großen Saales, in welchem sich deshalb Niemand befand, weil Alle mit verschiedenen Arbeiten im Freien beschäftigt waren.

Der Lieutenant brachte eine ausgezeichnete Karte der atmosphärischen und oceanischen Strömungen herbei und unterzog mit den Anderen denjenigen Theil des Eismeeres, der zwischen der Behrings-Straße und Cap Bathurst liegt, der eingehendsten Prüfung.

Vorzüglich sind es zwei Stromrichtungen, welche jene gefährlichen Seegegenden zwischen dem Polarkreise und der seit der kühnen Entdeckungsfahrt Mac Clure’s so genannten »nordwestlichen Durchfahrt« theilen, mindestens verzeichneten die hydrographischen Beobachtungen bisher keine weiteren.

Die eine nennt man den Kamtschatka-Strom. Nach seiner Entstehung in dem der Halbinsel dieses Namens benachbarten Meere folgt er der asiatischen Küste und dringt unter Berührung des Ostcaps, einer vorspringenden Spitze des Landes der Tchouktchis, durch die Behrings-Straße. Sechshundert Meilen oberhalb der Meerenge verändert sich seine Hauptrichtung von Süden nach Norden und wendet sich, etwa in dem Breitengrade, welcher der während der warmen Jahreszeit gewiß einige Monate lang passirbaren Durchfahrt Mac Clure’s entspricht, direct nach Westen.

Ein anderer, der sogenannte Behrings-Strom, verläuft in gerade entgegengesetztem Sinne. Nachdem er höchstens hundert Meilen vom Ufer ab längs der amerikanischen Küste von Osten nach Westen gezogen ist, stößt er so zu sagen mit dem Kamtschatka- Strome an der Oeffnung der Meerenge zusammen, wendet sich dann unter Annäherung an das russische Amerika nach Süden und verschwindet im Behrings- Meere, getheilt durch den fast kreisförmigen Wall der Aleuten.

Diese Karte gewährte einen vollkommen getreuen Ueberblick über die nautischen Entdeckungen bis auf die neueste Zeit, und durfte man sich wohl auf sie verlassen.

Jasper Hobson sah sie sehr aufmerksam durch, bevor er sich aussprach. Dann strich er mit der Hand über die Stirn, so als wollte er ein unangenehmes Vorgefühl verscheuchen, und sprach:

»Hoffen wir, meine Freunde, daß unser Unstern die Insel nicht allzu weit in’s offene Meer hinaustreibt, aus der sie Gefahr liefe, nie zurückzukehren.

– Und weshalb, Herr Hobson? fragte lebhaft Mrs. Paulina Barnett.

– Weshalb, Madame? erwiderte der Lieutenant. Betrachten Sie diesen Theil des Arktischen Oceans, und Sie werden es leicht einsehen. Zwei uns gleich gefährliche Ströme laufen dort in entgegengesetztem Sinne. An dem Punkte, wo sie aufeinander treffen, würde die Insel in großer Entfernung von jedem Lande fest gehalten werden. Genau an derselben Stelle würde sie den Winter über verbleiben, und bei Gelegenheit des wieder eintretenden Eisganges entweder dem Kamtschatka-Strome bis mitten in die verlassenen Gegenden im Nordwesten folgen, oder unter dem Einfluß des Behrings-Stromes in den Tiefen des Pacifischen Oceans versinken.

– Das wird nicht geschehen, Herr Lieutenant, sagte Madge mit glaubensinnigem Tone, Gott kann das nicht wollen.

– Ich habe nur, fiel Mrs. Paulina Barnett ein, bis jetzt keine Vorstellung davon, auf welchem Theile des Polarmeeres wir augenblicklich treiben, denn in der offenen See neben Cap Bathurst sehe ich nur jenen gefährlichen Kamtschatka-Strom, der unmittelbar nach Nordwesten führt. Liegt nicht die Befürchtung nahe, daß dieser uns schon ergriffen habe und wir nach dem Gebiete von Nord-Georgia zu geführt werden?

– Das glaube ich nicht, sagte Jasper Hobson nach einigen Augenblicken der Ueberlegung.

– Und warum nicht?

– Weil dieser Strom ein sehr rascher ist, Madame, und wir, wenn wir seit drei Monaten mit ihm gingen, irgend eine Küste hätten in Sicht bekommen müssen, was doch noch nicht der Fall gewesen ist.

– Wo befinden wir uns also nach Ihrer Ansicht? fragte die Reisende.

– Ohne Zweifel, antwortete ihr Jasper Hobson, zwischen dem Kamtschatka-Strome und dem Ufer, wahrscheinlich in einer Art großen Wirbels, der nahe der Küste vorhanden ist.

– Das kann nicht sein, Herr Hobson, entgegnete schnell Mrs. Paulina Barnett.

– Das kann nicht sein? wiederholte der Lieutenant, und aus welchem Grunde nicht, Madame?

– Weil die von einem Wirbel erfaßte, also in keiner bestimmten Richtung gehaltene Insel Victoria gewiß irgend welcher Drehungsbewegung unterlegen wäre. Da sich nun ihre Lage gegenüber den Himmelsgegenden nicht verändert hat, so ist auch jenes nicht der Fall gewesen.

– Sie haben Recht, Madame, erwiderte Jasper Hobson, Sie sehen in diesen Dingen völlig klar und ich habe keine Einwendung gegen Ihre Beobachtung, vorausgesetzt, daß nicht ein unbekannter Strom, der auf dieser Karte noch nicht eingezeichnet wäre, existirt. Wirklich, diese Ungewißheit ist abscheulich. Ich wünschte, es wäre schon der morgende Tag, um über die Lage der Insel sicher aufgeklärt zu sein.

– Auch der morgende Tag wird kommen«, vertröstete ihn Madge.

Es galt jetzt also nur zu warten. Man ging auseinander, und Jeder nahm seine gewohnten Beschäftigungen wieder auf. Sergeant Long unterrichtete seine Leute, daß die für morgen angesetzte Abreise nach Fort-Reliance nicht stattfinden werde. Als Grund dafür gab er ihnen an, daß man nach genauerer Ueberlegung die Jahreszeit schon für so vorgeschritten erachten müsse, daß es unmöglich sei, die Factorei vor Eintritt der strengen Kälte zu erreichen; daß der Astronom sich der Vervollständigung seiner meteorologischen Beobachtungen wegen zu einer zweiten Überwinterung entschlossen habe und daß die frische Verproviantirung von Fort-Esperance nicht so unbedingt nöthig sei u.s.w. – Lauter Gründe, welche in den wackeren Leuten keinen Verdacht aufkommen ließen.

Den Jägern empfahl Lieutenant Hobson noch speciell, in Zukunft die Pelzthiere, mit denen er nun nichts anzufangen wußte, zu schonen und sich auf das eßbare Wild zu beschränken, um die Vorräthe der Factorei zu erneuern. Eben so verbot er ihnen, sich weiter als zwei Meilen von dem Fort zu entfernen, da er nicht wollte, daß Marbre, Sabine oder die anderen Jäger plötzlich da angesichts eines Meeres stehen sollten, wo sich vor einigen Monaten der Isthmus, welcher die Halbinsel an das Festland kettete, befand. Das Verschwinden der schmalen Landzunge hätte ja über ihre Lage Licht verbreiten müssen.

Dieser Tag wollte für Jasper Hobson gar kein Ende nehmen. Mehrmals kehrte er, nur in Begleitung der Mrs. Paulina Barnett, nach dem Cap Bathurst zurück. Die Reisende, eine starke, abgehärtete Seele, war keineswegs entsetzt. Die Zukunft erschien ihr nicht im Geringsten furchtbar. Ja, sie scherzte sogar noch, indem sie zu Lieutenant Hobson sagte, diese umherirrende Insel sei vielleicht das einzig richtige Fahrzeug, um nach dem Nordpol zu gelangen! Warum sollte man bei einer günstigen Strömung nicht nach diesem unerreichbaren Punkte der Erdkugel vordringen können?

Lieutenant Hobson schüttelte den Kopf, als er seiner Begleiterin ihre Theorie entwickeln hörte, aber seine Augen rissen sich nicht vom Horizonte los und suchten, ob nicht ein bekanntes oder unbekanntes Land in der Nähe erschiene. Himmel und Erde verschwammen aber unzertrennlich in einer ununterbrochenen Kreislinie, was Jasper Hobson in der Annahme bekräftigte, daß die Insel Victoria mehr nach Westen, als nach irgend einer anderen Richtung hin abwiche.

»Haben Sie nicht die Absicht, Herr Hobson, fragte da Mrs. Paulina Barnett, unsere Insel, und zwar so bald als möglich, einmal zu umgehen? – Gewiß, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, sobald ich ihre Lage genau aufgenommen habe, wollte ich die Form und Ausdehnung derselben kennen zu lernen suchen. Es ist das ja eine unerläßliche Maßnahme, um die Veränderungen, welche die Zukunft herbeiführen wird, abschätzen zu können. Mit höchster Wahrscheinlichkeit aber hat sie sich von dem Isthmus selbst losgelöst und ist durch diesen Bruch die ganze Halbinsel zur vollständigen Insel geworden.

– Wir haben doch ein eigenthümliches Geschick, Herr Hobson, fuhr die Reisende fort. Andere kommen von ihrer Reise zurück und haben dem geographischen Kontinente wohl einige neue Länder hinzugefügt, wir werden ihn dagegen vermindert haben, da wir diese vermeintliche Halbinsel Victoria von den Karten streichen lassen.«

Am anderen Tage, am 18. Juli, um zehn Uhr Morgens, ermittelte Jasper Hobson bei reinem Himmel genau die Sonnenhöhe. Durch Zusammmenstellung dieses Resultates mit dem des vorigen Tages berechnete er die geographische Länge des Ortes.

Selbst während dieser Operation hatte sich der Astronom nicht blicken lassen; er schmollte wie ein großes Kind in seinem Zimmer, daß er dem wissenschaftlichen Leben geraubt sei.

Die Insel befand sich unter 157° 37′ östlicher Länge von Greenwich. Die am Tage vorher, d.h. die an dem nach der Sonnenfinsternis nachgewiesene Breite war, wie erwähnt, 73° 7′ 20″.

In Gegenwart der Mrs. Paulina Barnett und des Sergeant Long wurde der Punkt auf der Karte angemerkt.

Es war das ein Augenblick ängstlicher Erwartung, die übrigens folgendes Resultat ergab:

Die schwimmende Insel hatte sich, wie Lieutenant Hobson vorausgesehen hatte, nach Westen gewendet, aber ein auf der Karte nicht verzeichneter und den Hydrographen dieser Küste unbekannter Strom führte sie offenbar nach der Behrings-Straße zu. Alle von dem Lieutenant Hobson vorausgefühlten Gefahren blieben also zu befürchten, wenn die Insel Victoria nicht vor dem Winter wieder an eine Küste anlief.

»In welcher Entfernung vom amerikanischen Continente befinden wir uns nun aber eigentlich? fragte die Reisende; das hat doch für jetzt das meiste Interesse.«

Mittels des Zirkels maß Jasper Hobson die geringste Meeresweite zwischen der Küste und dem dreiundsiebenzigsten Breitengrade auf der Karte.

»Wir sind thatsächlich mehr als zweihundertundfünfzig Meilen entfernt von jenem Theile des nördlichen Amerika, welcher die Barrow-Spitze bildet.

– Dazu müßte man die Größe der Abweichung kennen, welcher die Insel gegenüber der früheren Lage des Cap Bathurst unterlegen hat, fügte Sergeant Long.

– Diese beträgt schlecht gerechnet siebenhundert Meilen, antwortete Jasper Hobson nach wiederholter Zuratheziehung der Karte.

– Und in welche Zeit ist der Anfang der Abweichung zu versetzen?

– Gewiß begann sie gegen Ende April, belehrte Lieutenant Hobson. Zu dieser Zeit lockerte sich das Eisfeld und wurde die von der Sonne nicht geschmolzene Scholle nach Norden weggeführt. Es ist also anzunehmen, daß sie durch einen der Küste nahezu parallelen Strom etwa seit drei Monaten nach Westen zu abweicht, was eine mittlere Geschwindigkeit von neun bis zehn Meilen täglich ergäbe.

– Ist das nicht eine sehr beträchtliche Schnelligkeit? fragte Mrs. Paulina Barnett.

– Ja wohl ist sie das, schloß Jasper Hobson, und Sie können selbst berechnen, wie weit wir in den beiden Monaten, während der das Meer noch eisfrei bleibt, verschlagen werden dürften!«

Der Lieutenant, Mrs. Paulina Barnett und Sergeant Long schwiegen einige Augenblicke. Unbeweglich hafteten ihre Augen auf der Karte jener Polarländer, welche dem Fuße des Menschen so hartnäckig jeden Eintritt verwehren und gegen welche sie selbst jetzt mit unwiderstehlicher Gewalt geführt wurden.

»In unserer jetzigen Lage haben wir also Nichts zu thun, Nichts zu versuchen? fragte die Reisende.

– Gar nichts, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, wir müssen warten und können nur aus ganzem Herzen jenen arktischen Winter herbei sehnen, der im Allgemeinen und mit vollem Rechte von den Seefahrern so sehr gefürchtet wird, und der uns doch allein noch zu erretten vermag. Der Winter, Madame, ist das Eis, und das Eis ist der Anker unserer Hoffnung, der einzige, der dem Laufe unserer schwimmenden Insel ein Halt gebieten kann.«

Sechstes Capitel.


Sechstes Capitel.

Zweihundert Meilen hatte die Expedition seit ihrer Abfahrt von Fort-Reliance zurückgelegt. Die Reisenden, welche, begünstigt durch die lange Dämmerung, Tag und Nacht auf den durch die Zughunde schnell davongeführten Schlitten verblieben, waren sehr erschöpft, als sie die Ufer des Snure-Sees, neben welchem Fort-Entreprise liegt, erreichten.

Dieses Fort, das erst seit wenigen Jahren von der Hudsons-Bai-Compagnie errichtet war, bildete nur einen Verproviantirungsplatz von untergeordneter Bedeutung. Hauptsächlich diente es als Haltepunkt für die Detachements, welche die Fellsendungen vom See des Großen Bären her, der gegen dreihundert Meilen nordwestlich davon lag, begleiteten. Nur ein Dutzend Soldaten waren dort auf Posten. Das Fort bestand auch nur aus einem umplankten Holzgebäude. So wenig einladend diese Wohnstätte aber auch war, so willkommen erschien sie doch den Gefährten des Lieutenants Hobson, welche dort zwei Tage lang von den ersten Anstrengungen der Reise ausruhten.

Der Polarfrühling machte hier schon seinen bescheidenen Einfluß geltend. Allmälig schmolz der Schnee und die Nächte waren nun nicht mehr kalt genug, ihn frisch zu übereisen. Einige leichte Moose und schwächliche Grasarten grünten da und dort auf, und kleine, fast farblose Blumen erhoben ihre feuchte Blüthe zwischen den Kieseln. Diese Vorzeichen des langsamen Erwachens der Natur nach langem Winterschlafe ergötzten das von der Weiße des Schnees angegriffene Auge, das mit Wohlgefallen auf diesen noch seltenen Beispielen der arktischen Flora ruhte.

Mrs. Paulina Barnett und Jasper Hobson benutzten die Mußezeit, um die Ufer des kleinen Sees kennen zu lernen. Beide hatten Verständniß für die Natur, deren begeisterte Bewunderer sie waren. Sie wanderten also zusammen über die gebrochenen Eisstücken und die durch die Wirkung der Sonnenwärme hervorgezauberten Cascaden. Das Eis des Snure-Sees stand noch. Kein Sprung deutete auf einen bevorstehenden Bruch desselben hin.

Einige zerfallende Eisberge starrten aus der festen Fläche empor und bildeten sonderbare Formen und Erscheinungen, vorzüglich wenn das Licht, das sich an ihren scharfen, durchsichtigen Spitzen brach, deren Farben veränderte. Es erschien, als habe eine mächtige Hand einen Regenbogen zerstückelt, dessen Strahlen sich nun auf dem Erdboden kreuzten.

Das ist doch ein herrliches Schauspiel, Herr Hobson, sagte wiederholt Mrs. Paulina. Diese Strahlenbrechungen ändern sich stets, je nachdem man den Ort wechselt. Erscheint es Ihnen nicht so, als stünden wir vor der Oeffnung eines ungeheuren Kaleidoskops? Vielleicht sind Sie aber für dieses mir so neue Schauspiel schon unempfänglicher geworden?

– Gewiß nicht, Mistreß, erwiderte der Lieutenant. Ich bin zwar in diesem Lande geboren, welches meine ganze Kindheit und Jugend sah, aber ich werde niemals satt, seine Schönheiten zu betrachten. Ist aber Ihr Enthusiasmus schon so groß, wenn die Sonne ihr Licht über diese Gegenden gießt, das will sagen, wenn das Tagesgestirn den Anblick des Landes schon verändert hat, wie groß wird er sein, wenn Sie diese Gebiete mitten in der strengsten Winterkälte werden betrachten können? – Ich muß Ihnen gestehen, Mistreß, daß die Sonne, welche für gemäßigte Zonen so unbezahlbar ist, mir die Freude an meinem arktischen Vaterlande etwas verleidet.

– Wirklich, Herr Hobson? antwortete die Reisende, welche über diese Bemerkung des Lieutenants lächelte. Meines Erachtens nach ist die Sonne doch ein trefflicher Reisebegleiter, und hat man sich über die Wärme, welche sie ausstrahlt, selbst in den Polargegenden doch nicht zu beklagen.

– Ah, Madame, entgegnete Jasper Hobson, ich gehöre zu denen, welche Rußland mit Vorliebe im Winter und die Sahara im Sommer besuchen. Dann erst sieht man diese Länder in ihrem charakteristischen Gewande. Nein! Die Sonne ist ein Gestirn für die gemäßigten und heißen Zonen. Dreißig Grade vom Pole ist sie nicht an ihrem Platze. Der Himmel dieser Erdengegend ist der reine, kalte Winterhimmel, der mit Sternen besäet und manchmal durch ein Nordlicht erhellt ist. Hier ist das Reich der Nacht, Madame, nicht das des Tages, und diese lange Polarnacht birgt auch noch Freuden und Wunder in ihrem Schooße.

– Haben Sie, Herr Hobson, die gemäßigten Zonen Europas und Amerikas besucht? fragte da die Dame.

– Ja, Mistreß, und habe sie nach Verdienst bewundert. Aber stets bin ich mit brennender Begierde und neuem Enthusiasmus nach dem Lande meiner Geburt zurückgekehrt. Ich bin einmal der Mann der Kälte, und rechne mir das, daß ich sie ertrage, nicht zum Verdienst an. Sie hat durchaus keine Gewalt über mich, und ich könnte, wie die Eskimos, ganze Monate in einer Schneehütte zubringen.

– Herr Hobson, antwortete die Reisende, Sie haben eine Art und Weise von diesem furchtbaren Feinde zu reden, welche Einem ordentlich das Herz erwärmt. Ich hoffe mich Ihrer würdig zu zeigen, und so weit Sie nach dem Pole hinauf der Kälte zu trotzen wagen, werden wir es auch zusammen thun.

– Schön, Madame, sehr schön; möchten nur Alle, die mir folgen, Soldaten wie Frauen, sich ebenso entschlossen zeigen, wie Sie! Mit Gottes Hilfe werden wir noch weit gehen.

– Ueber den Anfang der Reise haben Sie sich eben nicht zu beklagen. Bis jetzt gab es keinen Unfall, aber günstiges Wetter und erträgliche Temperatur, so daß Alles nach Wunsch ging.

– Gewiß, Madame, entgegnete der Lieutenant; aber gerade die von Ihnen so bewunderte Sonne wird bald Strapazen und Hindernisse unter unserem Fuße hervorrufen.

– Und inwiefern, Herr Hobson? fragte begierig Mrs. Paulina Barnett.

– Insofern, als die Sonne binnen Kurzem das Aussehen dieses Landes verändert haben wird; als das schmelzende Eis dann den Schlitten keine geeignete Oberfläche mehr bietet; als der Erdboden holperig und hart werden wird, und die keuchenden Hunde uns nicht mehr mit Pfeilgeschwindigkeit werden befördern können. Dann gehen Flüsse und Seen wieder in flüssigen Zustand über, und wir werden sie umfahren oder durchwaten müssen. Alle diese dem Einflusse der Sonne zuzuschreibenden Veränderungen werden sich in Verzögerungen, Mühen und Gefahren übersetzen, von denen der lockere Schnee, welcher unter den Füßen weicht, und die Lawinen, welche von den Eisbergen hernieder donnern, nur die kleinsten sind. Sehen Sie, das wird uns die Sonne nützen, wenn sie sich mehr und mehr über den Horizont erhebt. Erinnern Sie sich später meiner Worte, Mistreß! Von den vier Elementen des Alterthums ist uns hier ein einziges, die Luft, nützlich, nothwendig, ja, unentbehrlich; die drei anderen aber, Erde, Feuer und Wasser, brauchten für uns gar nicht vorhanden zu sein. Sie entsprechen der Natur der Polargegenden nicht!«

Offenbar übertrieb der Lieutenant. Mrs. Paulina Barnett hätte ihn leicht mit seinen eigenen Beweismitteln schlagen können, aber es machte ihr Vergnügen, Jasper Hobson mit solcher Wärme der Ueberzeugung sprechen zu hören. Leidenschaftlich liebte der Lieutenant das Land, durch welches des Lebens Wechselfälle die Reisenden soeben führten, und ihr gab das die Versicherung, daß er vor keinem Hinderniß zurückweichen werde.

Immerhin hatte Jasper Hobson ganz Recht, wenn er sich von der Sonne zukünftiger Schwierigkeiten versah. Man merkte das schon, als sich das Detachement nach drei Rasttagen am 4. Mai wieder auf den Weg machte. Das Thermometer hielt sich selbst während der kältesten Nachtstunden immer über dem Gefrierpunkte. Die weiten Flächen kamen zum Thauen. Die weiße Decke verschwand in Form von Wasser. Die Unebenheiten des aus Urgebirge bestehenden Bodens verriethen sich durch die wiederholten Stöße, welche die Schlitten, und in Folge dessen die Darinsitzenden, erschütterten. Die Hunde konnten sich in Folge des beschwerlicheren Ziehens nur in mäßigem Traben erhalten, und nun durften auch die Zügel gefahrlos wieder Corporal Joliffe’s unkluger Hand anvertraut werden. Weder sein Zuruf, noch das Kitzeln mit der Peitsche hätte die angestrengte Bespannung in schnelleren Gang gebracht.

So kam es, daß die Reisenden von Zeit zu Zeit die Last der Hunde verminderten, indem sie einen Theil des Weges zu Fuße zurücklegten. Damit waren vor Allen die Jäger des Detachements einverstanden, denn Letzteres näherte sich unmerklich den wildreicheren Jagdgründen des britischen Amerikas. Mrs. Paulina Barnett und ihre getreue Madge folgten den Jagden mit ausgesprochener Theilnahme. Thomas Black dagegen gab sich den Anschein, als habe er durchaus kein Interesse an allen waidmännischen Uebungen. In diese entlegenen Gegenden hatte er sich nicht begeben, um Wiesel und Hermelins zu erlegen, sondern einzig, um den Mond in den Augenblicken, wo seine Scheibe die der Sonne überdecken würde, zu beobachten. Sobald die Leuchte der Nacht über dem Horizonte auftauchte, verschlang sie der ungeduldige Astronom mit den Augen, was den Lieutenant einmal zu den Worten veranlaßte:

»He, Herr Black, nun sollte, wenn’s auch nicht gut möglich ist, der Mond kommenden 18. Juli 1860 das Stelldichein verfehlen, das dürfte Ihnen wohl unangenehm sein!

– Herr Hobson, erwiderte der Astronom mit allem Ernste, wenn der Mond so gegen alles Uebereinkommen sündigte, würde ich ihn gerichtlich belangen lassen.«

Die besten Jäger der Gesellschaft waren die Soldaten Marbre und Sabine, Beide Meister in ihrem Fache. Ihre Geschicklichkeit ohne Gleichen, die Schärfe ihres Auges und die Sicherheit ihrer Hand übertraf kein Indianer. Sie waren Schützen und Fallensteller zu gleicher Zeit. Ihnen waren alle Apparate und Maschinen bekannt, mit deren Hilfe man Marder, Ottern, Wölfe, Füchse und Bären fing. Keine Jägerlist war ihnen fremd. Es waren im Ganzen geschickte und intelligente Männer, und Kapitän Craventy hatte wohl daran gethan, sie Lieutenant Hobson’s Detachement beizugeben.

Während des Marsches fanden Marbre und Sabine freilich nicht die Muße, Schlingen zu legen. Sie konnten sich nur eine bis zwei Stunden lang entfernen, und mußten sich mit dem Wilde begnügen, das ihnen selbst in Schußweite kam. Doch wären sie schon sehr zufrieden gewesen, einen jener großen Wiederkäuer der amerikanischen Fauna zu erlegen, welche in so hohen Breiten freilich selten angetroffen werden.

Eines Tages, am Morgen des 15. Mai, hatten sich die beiden Jäger, Lieutenant Hobson und Mrs. Barnett einige Meilen östlich von ihrem Wege hinwegbegeben. Marbre und Sabine hatten von ihrem Lieutenant die Erlaubniß erhalten, einige eben entdeckte frische Wildspuren zu verfolgen, und Jasper Hobson gestattete das nicht nur, sondern wollte ihnen, in Begleitung der reisenden Dame, folgen.

Jene Spuren rührten offenbar von einem Rudel großen Damwildes her. Ein Irrthum war nicht denkbar. Marbre und Sabine stimmten in obiger Ansicht überein, und im Nothfall hätten sie auch noch die specielle Art, der diese Wiederkäuer angehörten, bezeichnen können.

»Die Anwesenheit jener Thiere in diesen Gegenden scheint Sie Wunder zu nehmen, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett den Lieutenant.

– Ja wohl, Madame, antwortete Jasper Hobson, nur selten begegnet man diesen Gattungen über dem siebenundfünfzigsten Breitengrade. Wir jagen sie eigentlich nur im Süden des Sklaven-Sees, dort, wo sich neben Schößlingen von Pappeln und Weiden auch gewisse wilde Rosen finden, nach denen das Damwild sehr lüstern ist.

– Dann muß man also annehmen, daß diese Wiederkäuer, ebenso wie die Pelzthiere, von den Jägern vertrieben, jetzt nach stilleren Gegenden flüchten.

– Es ist mir keine andere Ursache für ihr Vorkommen hier im fünfundsechzigsten Breitengrade erklärlich, erwiderte der Lieutenant, wenn wir annehmen, daß sich unsere beiden Jäger bezüglich der Natur und des Ursprungs dieser Spuren nicht getäuscht haben.

– Nein, Herr Lieutenant, meldete sich Sabine, das nicht. Marbre und ich, wir haben uns nicht geirrt. Diese Spuren auf der Erde rühren von Damhirschen her, welche wir anderen Jäger rothe Damhirsche, und die Eingeborenen ›Wapitis‹ nennen.

– Das steht fest, bekräftigte Marbre. Alte Trappers, wie wir, täuschen sich darin nicht. Uebrigens, Herr Lieutenant, hören Sie nicht jenes eigenthümliche Pfeifen?«

Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und ihre Begleiter waren jetzt am Fuße eines kleinen Hügels angekommen, dessen schneefreie Abdachung gangbar war. Sie eilten also denselben hinan, während das von Marbre bezeichnete Pfeifen deutlich hörbar wurde. Ein Geschrei, wie das eines Esels, vermischte sich manchmal damit und bewies, daß die beiden Jäger Recht gehabt hatten.

Auf dem Gipfel angelangt, ließen Alle den Blick über die Ebene nach Osten schweifen. An manchen Stellen war der Boden noch weiß, aber ein schüchternes Grün unterbrach doch schon da und dort die blendenden Schneeflächen. Einzelne nackte Gebüsche waren sichtbar. Am Horizonte hoben sich große, platt abgeschnittene Eisberge von dem graulichen Himmel ab.

»Wapitis! Wapitis! Da sind sie! riefen Sabine und Marbre wie aus einem Munde, und zeigten eine Viertelmeile östlich auf eine dichte, doch leicht unterscheidbare Gruppe von Thieren.

– Aber was beginnen diese? fragte die Reisende.

– Sie kämpfen, Mistreß, antwortete Jasper Hobson; das ist so ihre Gewohnheit, wenn die Polarsonne ihr Blut erhitzt. Wieder eine traurige Folge des Tagesgestirns!«

Von der Entfernung aus, in welcher sie sich befanden, konnten Jasper Hobson, Mrs. Paulina Barnett und die Jäger den Trupp Wapitis bequem sehen. Es waren prächtige Exemplare jener Damwildfamilie, welche unter den verschiedenen Namen der Damhirsche mit rundem Geweih, amerikanischen Hirsche und Hindinnen, der grauen und rothen Elenns verstanden werden. Diese zierlichen Thiere haben feingebaute Beine. Einige röthliche Streifen, welche sich in der warmen Jahreszeit noch lebhafter färben, ziehen sich durch ihr braunes Fell. An dem weißen, stolz entwickelten Geweih erkennt man die Männchen unter ihnen leicht, denn die Weibchen entbehren dieses Schmuckes vollkommen. Früher waren diese Wapitis auf dem ganzen Gebiete des nördlichen Amerikas verbreitet und sogar noch zahlreich in den Vereinigten Staaten. Aber bei der allseitigen Urbarmachung, bei dem Sinken der Wälder unter der Axt der Pionniere, mußte sich der Wapiti in die friedlicheren Gefilde Kanadas zurückziehen. Auch dort fehlte ihm bald die Ruhe, und so floh er zumeist an die Küsten der Hudsons-Bai. Kurz, der Wapiti ist zwar ein Thier der kälteren Länder, doch bevölkert er, wie der Lieutenant erwähnt hatte, nur selten Gegenden über dem siebenundfünfzigsten Breitengrade. Die hier Vorgefundenen waren zweifellos nur deshalb bis in diese hohen Breiten geflohen, um den Chipeways, welche gegen sie einen Krieg bis auf’s Messer führen, zu entgehen und jene Sicherheit wiederzufinden, die der Wüstenei niemals abgeht.

Der Kampf der Wapitis setzte sich indessen mit Erbitterung fort. Die Thiere hatten das Erscheinen der Jäger, welches dem Streite wahrscheinlich auch kein Ende gemacht hätte, offenbar nicht bemerkt. Marbre und Sabine, welche schon wußten, mit welch‘ blinden Kämpfern sie zu thun hatten, konnten sich also ohne Scheu nähern und bequem schießen.

Dieser Vorschlag wurde auch von Lieutenant Hobson gemacht.

»Entschuldigen Sie, Herr Lieutenant, sprach da Marbre. Schonen wir unser Pulver und Blei. Diese Thiere spielen ein wenig ›sich gegenseitig tödten‹, und wir kommen immer noch zeitig genug, die Gefallenen aufzulesen.

– Haben diese Wapitis einen Handelswerth? fragte da Mrs. Paulina Barnett.

– Ja, Mistreß, antwortete Jasper Hobson, und ihre Haut, welche nicht ganz so stark ist, wie die des eigentlichen Elenns, liefert ein sehr geschätztes Leder. Reibt man sie mit dem eigenen Fett und Gehirn des Thieres ein, so wird dieses sehr weich, und widersteht der Trockenheit und Feuchtigkeit gleich gut. Deshalb ergreifen und suchen sogar die Indianer jede Gelegenheit, sich Wapitihäute zu verschaffen.

– Ist ihr Fleisch nicht auch eine ausgezeichnete Nahrung?

– Eine mittelmäßige, Madame, wirklich, eine sehr mittelmäßige. Dieses Fleisch ist hart und wenig schmackhaft, das Fett desselben gerinnt, sobald es vom Feuer wegkommt, und klebt an den Zähnen. Es wird also nur gering geschätzt und steht weit unter dem des anderen Damwildes. Doch ißt man es in der Noth, beim Mangel eines besseren, und dann ernährt es seinen Mann so gut wie anderes Fleisch.«

So unterhielten sich die Beiden während einiger Minuten, als der Kampf der Wapitis plötzlich aufhörte. Hatten die Thiere ihren Zorn gestillt oder die Jäger, und damit eine drohende Gefahr, gewittert? Wie dem auch sei, jedenfalls entfloh, mit Ausnahme zweier großer Exemplare, die ganze Gesellschaft mit Windeseile nach Osten. Nach wenigen Augenblicken waren sie verschwunden, und das schnellste Pferd hätte sie nicht einzuholen vermocht.

Zwei stolze Damhirsche aber waren auf dem Schlachtfelde zurückgeblieben. Mit gesenkten Köpfen, Geweih gegen Geweih, die Hinterfüße kräftig eingestemmt, boten sie sich die Spitze. Wie zwei Kämpfer, die sich nicht loslassen, bis Einer unterliegt, drehten sie sich nur auf den Vorderfüßen, so als ob sie aneinander genietet wären.

»O, welche Erbitterung! rief Mrs. Barnett.

– Ja, sagte Jasper Hobson, diese Wapitis sind sehr nachtragende Thiere, und Jene kämpfen jetzt gewiß einen alten Strauß aus.

– Wäre das nicht aber der Zeitpunkt, sich ihnen zu nähern, während sie so wuthblind sind? fragte die Reisende.

– Dazu ist noch Zeit, Mistreß, bemerkte Sabine, diese da können uns nicht mehr entwischen. Wir könnten ihnen auf drei Schritte nahe sein, das Gewehr in Anschlag und den Finger am Drücker, sie wichen doch nicht von der Stelle.

– Wirklich?

– In der That, Madame, meinte Jasper Hobson, der darauf die Zweikämpfer aufmerksamer beobachtet hatte, ob durch unsere Hand oder die Zähne der Wölfe, jedenfalls werden diese Wapitis auf der Stelle selbst, auf der sie sich befinden, früher oder später umkommen.

– Ich begreife nicht, wie Sie das wissen können, Herr Hobson, versetzte die Reisende.

– Nun wohl, Mistreß, erwiderte der Lieutenant, nähern Sie sich Jenen. Fürchten Sie nicht, die Thiere zu verscheuchen. Diese können, wie unser Jäger gesagt hat, nicht mehr fliehen.«

Mrs. Paulina Barnett stieg, von Sabine, Marbre und dem Lieutenant begleitet, den Hügel hinab. Wenige Minuten reichten zur Durchschreitung der kleinen Entfernung hin, die sie von dem Schauplatz des Kampfes trennte. Die Wapitis waren nicht von der Stelle gewichen. Sie stießen sich noch immer mit den Köpfen, wie zwei streitende Widder, und schienen doch fest mit einander verbunden.

Wirklich hatten sich die Geweihe der beiden Wapitis in der Hitze des Kampfes so in einander gestoßen, daß jene dieselben, ohne sie abzubrechen, nicht wieder lösen konnten. Eben das kommt übrigens häufig vor, und es ist nicht selten, in den Jagdgebieten solche abgebrochene, aber fest aneinander hängende Geweihe auf der Erde zu finden. Die derselben beraubten Thiere sterben bald vor Hunger oder werden eine leichte Beute der Raubthiere.

Zwei Kugeln endigten das Duell der Wapitis. Marbre und Sabine, welche dieselben auf der Stelle abzogen, nahmen nur die Häute mit, um diese später zuzurichten, und überließen den Wölfen und Bären einen Haufen blutigen Fleisches.

Siebentes Capitel.


Siebentes Capitel.

Die Expedition ging weiter nach Norden, aber das Ziehen der Schlitten auf dem unebenen Boden ermüdete die Hunde übermäßig. Die muthigen Thiere, welche am Anfang der Reise der Zügel der Führer kaum bändigen konnte, kamen nur noch langsam vorwärts, so daß ihnen mehr als zehn bis zwölf Meilen den Tag nicht zuzumuthen waren. Dennoch beeilte Jasper Hobson den Zug seines Detachements nach Möglichkeit. Es drängte ihn, an der Grenze des Sees des Großen Bären anzukommen und Fort-Confidence zu erreichen. Dort hoffte er manche für die Expedition wichtige Fingerzeige zu erhalten. Hatten die Indianer, welche das nördliche Ufer des Sees besuchen, auch schon die Gegenden in der Nachbarschaft des Meeres durchstreift? War das Eismeer zu jener Jahreszeit überhaupt offen? Das waren gewichtige Fragen, von deren zweifelloser Beantwortung die Zukunft der neuen Factorei abhing.

Die Gegend, welche die kleine Gesellschaft durchzog, war von einer großen Anzahl Wasserläufen, meist Zuflüssen der beiden großen Ströme, welche von Süden nach Norden laufend sich in den arktischen Ocean stürzen, durchschnitten. Diese waren, im Westen der Mackenzie-, im Osten der Coppermine-Strom. Zwischen diesen zwei Hauptpulsadern lagen Seen, Lagunen und zahlreiche Teiche. Auf ihre schon im Aufthauen begriffene Oberfläche durfte man sich mit den Schlitten nicht wagen. Man mußte diese also umfahren, wodurch die Länge des Weges wesentlich vergrößert wurde.

Entschieden hatte Lieutenant Hobson recht gehabt: der Winter ist die eigentliche Jahreszeit dieser hochnördlichen Länder; er macht sie wenigstens leichter passirbar. Mrs. Paulina Barnett sollte das noch bei mancher Gelegenheit bestätigt finden.

Diese unter dem Namen des »Verwünschten Landes« bekannte Gegend war übrigens, wie fast alle die nördlichen Gebiete des amerikanischen Festlandes, völlig verlassen. Die Bevölkerungsdichtigkeit ergiebt durch Rechnung noch nicht einen Menschen auf zehn Quadratmeilen. Die Bewohner bestehen, wenn man von den schon sehr verminderten Eingeborenen absieht, aus einigen Tausend Agenten oder Soldaten, welche den verschiedenen Pelzcompagnien angehören. Es drängt sich diese Bevölkerung mehr in den südlichen Districten und in der Nachbarschaft der Forts zusammen. Auf dem Wege des Detachements traf man also auf keines Menschen Spuren. Was von solchen in dem mürben Schnee noch gefunden wurde, rührte allein von Wiederkäuern oder Nagethieren her. Einige Bären wurden bemerkt; furchtbare Thiere, wenn sie zur Familie der Polarbären gehören. Immerhin erstaunte Mrs. Paulina Barnett über diese Seltenheit der Fleischfresser. Die Reisende dachte, in Erinnerung der Berichte von Ueberwinterungen, daß die arktischen Regionen sehr reich an dergleichen furchtbaren Thieren sein müßten, weil Schiffbrüchige oder Wallfischfahrer der Baffins-Bai, wie die von Grönland und Spitzbergen, regelmäßig von denselben angegriffen wurden, und sich hier kaum dann und wann ein solches Raubthier im Sehfelde der Gesellschaft zeigte.

»Warten Sie den Winter ab, Madame, erwiderte ihr Lieutenant Hobson; gedulden Sie sich bis zur Kälte, die den Hunger reizt, dann werden Sie vielleicht nach Wunsch bedient werden.«

Endlich kam die kleine Gesellschaft nach einem langen, anstrengenden Zuge am 23. Mai an der Grenze des Polarkreises an. Bekanntlich bezeichnet der vom Pole um 23º 27′ 5″ entfernte Parallelkreis diejenige Linie, bis zu der die Sonnenstrahlen am kürzesten Tage nur reichen, wenn die andere südliche Erdhälfte Sommer hat. Von dieser Stelle aus betrat die Expedition also frischen Muthes die Gebiete der arktischen Regionen.

Die geographische Breite war mittelst der sehr feinen Instrumente, welche Thomas Black und Jasper Hobson gleich geschickt handhabten, sorgfältig aufgenommen worden. Mrs. Paulina Barnett, welche dabei zugegen war, hörte mit Vergnügen, daß sie nun den Polarkreis betrete. Es war das eine gewiß zulässige Eigenliebe von ihr.

»Sie haben bei Ihren früheren Reisen, Madame, bemerkte der Lieutenant, die beiden Tropenzonen durchwandert und begeben sich hiermit über den nördlichen Polarkreis. Wenige Forscher haben sich so verschiedenen Zonen ausgesetzt. Die Einen befassen sich, so zu sagen als Specialität, mit den warmen Ländern, und Afrika und Australien bilden das Hauptfeld ihrer Thätigkeit, z.B. eines Barth, Burton, Livingstone, Speke, Douglas und Stuart. Andere dagegen widmeten sich mit Vorliebe den noch so wenig bekannten arktischen Regionen, wie Mackenzie, Franklin, Penny, Kane, Parry und Raë, auf deren Wegen wir uns eben befinden. Alle Ehre also der Mrs. Paulina Barnett, der so kosmopolitischen Reisenden!

– Man muß Alles sehen, oder doch zu sehen suchen, Herr Hobson, erwiderte die Dame. Ich glaube, die Schwierigkeiten und Gefahren sind wohl unter jeder Zone gleich groß. In den Polarländern hat man die Fieber der heißen Zone nicht zu fürchten, so wenig, wie die gesundheitlichen Nachtheile der zu großen Hitze oder die Grausamkeit der Wilden, dafür ist wohl die Kälte ein ebenso schrecklicher Feind. Auf wilde Thiere stößt man in allen solchen Gegenden, und die Eisbären, denke ich, werden hier gegen Reisende nicht freundlicher sein, als die Tiger in Thibet oder die Löwen in Afrika. Ueber den Polarkreisen drohen also wohl die nämlichen Gefahren, wie unter den Tropen. Das sind eben Landstriche, welche sich lange der Erforschung durch den Menschen widersetzen.

– Ohne Zweifel, Madame, antwortete Jasper Hobson, aber ich glaube, daß das bei den hochnördlichen Gegenden am längsten der Fall sein wird. In den Tropengegenden sind es vorzüglich die Ureinwohner, deren Auftreten ein schwer zu beseitigendes Hinderniß bietet, und ich weiß, wie viele Opfer diesen afrikanischen Barbaren, welche doch ein civilisatorischer Krieg früher oder später einmal zu Paaren treiben wird, gefallen sind. In den arktischen und antarktischen Gegenden dagegen halten zwar keine Einwohner den Schritt der Reisenden auf, sondern die Natur selbst errichtet eine unübersteigliche Schranke, die Kälte, die grausame Kälte, welche die Kraft des Menschen verzehrt.

– Sie glauben demnach, Herr Hobson, daß die heiße Zone bis in die unbekanntesten Theile Afrikas und Australiens eher bekannt sein wird, bevor die kalte Zone vollkommen durchforscht sein werde?

– Ja, Madame, antwortete der Lieutenant, und diese Ansicht scheint auch wohlbegründet. Die kühnsten Entdeckungsreisenden in den arktischen Gegenden, wie Parry, Penny, Franklin, Mac Clure und Andere mehr, sind noch nie über den dreiundachtzigsten Breitengrad hinausgekommen, blieben also noch immer sieben Grade vom Pole entfernt. Dagegen ist Australien von Süden nach Norden schon mehrere Male, z. B. durch den unerschrockenen Stuart durchforscht worden, und Afrika, – das so furchtbare – hat Doctor Livingstone von der Loanga-Bai bis zur Mündung des Zambese durchzogen. Man hat also allen Grund zu der Annahme, daß die Gebiete der heißen Zone eher geographisch bekannt sein werden, als die der kalten.

– Sind Sie auch der Meinung, Herr Hobson, fragte Mrs. Paulina Barnett, daß der Mensch nie im Stande sein werde, den Pol selbst zu erreichen?

– Ohne Zweifel erreicht ihn einst ein Mann, Madame, sagte Hobson, oder eine Frau, fügte er galant hinzu. Doch scheint mir, daß die von den Seefahrern bislang dazu angewendeten Mittel einer tiefgreifenden Modification bedürfen. Man spricht von einem freien Meere, welches einzelne Forscher gesehen haben wollen. Dieses eisfreie Meer ist aber, wenn es überhaupt existirt, nur sehr schwer zu erreichen, und so kann zunächst Niemand mit Sicherheit voraussagen, daß er zum Pol gelangen werde. Ich bin übrigens der Meinung, daß ein solches freies Meer weit mehr eine Erschwerung, als eine Erleichterung jeder dorthin gerichteten Reise darstellen würde. Einen festen, gleichviel ob aus Eis oder aus Felsen bestehenden Boden würde ich für meinen Theil bei einer solchen Reise weit lieber sehen. Dann ließe ich durch wiederholte Expeditionen Niederlagen von Nahrungsmitteln und Kohlen immer naher nach dem Pole hin errichten und so glaube ich, daß man nach langer Zeit, großen Geldopfern, und wohl auch mit dem Verluste so manchen Menschenlebens, doch endlich bis zu diesem unerreichten Punkte der Erdkugel gelangen müßte.

– Ich theile ganz Ihre Meinung, Herr Hobson, antwortete Mrs. Paulina Barnett, und wenn Sie sich jemals an dieses Unternehmen wagten, werd‘ ich nicht davor zurückschrecken, Mühen und Gefahren mit Ihnen zu theilen, um auf den Nordpol die Fahne des Vereinigten Königreichs zu pflanzen. Aber für jetzt ist das ja wohl unser Zweck nicht.

– Für jetzt, Madame, nein, erwiderte Jasper Hobson. Immerhin könnte, nach Realisirung der Projecte der Compagnie, das an der obersten Grenze des amerikanischen Festlandes begründete Fort einen natürlichen Ausgangspunkt für alle ferneren Nordpolexpeditionen bilden. Wenn übrigens die Pelzthiere durch die Jagd weiter, und bis zu dem Nordpole hin vertrieben würden, müßten wir ihnen auch bis dahin folgen.

– Mindestens, wenn diese kostspielige Mode des Pelztragens nicht einmal aufhört, ergänzte Mrs. Paulina Barnett.

– O, Mistreß, entgegnete der Lieutenant, eine schöne Fran, welche einen Zobelmuff oder eine Pelzpelerine haben möchte, wird es immer geben, und diese muß doch befriedigt werden.

– Das fürchte ich auch, lenkte die Reisende lächelnd ein, und wahrscheinlich ist der Erste, der den Pol erreicht, ein Jäger bei der Verfolgung eines Marders oder eines Silberfuchses.

– Das ist meine Ueberzeugung, Madame, erwiderte Jasper Hobson. Die menschliche Natur ist nun einmal so geschaffen, daß die Gewinnsucht mehr und weiter treibt, als der Wissensdrang.

– Wie? Und so sprechen Sie, Herr Hobson?

– Nun, bin ich denn nicht Beamter der Hudsons-Bai-Compagnie, und besteht deren Thätigkeit denn in etwas Anderem, als ihre Agenten und ihre Capitalien daran zu wägen, in der einzigen Hoffnung, ihre Erträgnisse zu erhöhen?

– Herr Hobson, sagte da Mrs. Paulina Barnett, ich glaube Sie so weit zu kennen, daß Sie, wenn nöthig, Leib und Seele der Wissenschaft zu opfern im Stande wären. Gälte es ein einfaches geographisches Interesse, bis zum Pole vorzudringen, so bin ich überzeugt, daß Sie nicht zögern würden. Doch, fügte sie lächelnd hinzu, das ist eine große Frage, deren Lösung noch in weiter Ferne liegt. Wir selbst sind ja bis jetzt nur am Polarkreise angelangt, den wir hoffentlich ohne zu große Schwierigkeiten überschreiten werden.

– Ich weiß das nicht bestimmt, Madame, antwortete Jasper Hobson, welcher den Himmel aufmerksam musterte. Seit einigen Tagen droht schon ein Witterungswechsel. Betrachten Sie diese gleichmäßige, graue Himmelsbedeckung. Alle diese Nebel werden sich bald in Schnee auflösen, und sollte sich nur Wind erheben, so würden wir auch bald einen tüchtigen Sturm haben. Mich drängt es wirklich, erst am See des Großen Bären anzukommen.

– Dann, Herr Hobson, schloß Mrs. Paulina Varnelt, sich erhebend, dieses Gespräch, wollen wir keine Zeit verlieren, und Sie sollten wohl das Zeichen zum Aufbruch geben.«

Der Lieutenant bedurfte keiner weiteren Anregung. Allein, oder in Begleitung thatkräftiger Männer, wie er es war, hatte er seinen Zug Tag und Nacht fortgesetzt. Aber er konnte nicht von Allen verlangen, was er sich selbst zumuthete. Er mußte wohl die Ermüdung der Anderen in Anschlag bringen, wenn er auch die seinige nicht beachtete. An jenem Tage hatte er deshalb seiner kleinen Gesellschaft, welche erst gegen drei Uhr Nachmittags weiter zog, eine dreistündige Rast gegönnt.

Bezüglich des nahe bevorstehenden Umschlages der Witterung hatte sich Jasper Hobson nicht getäuscht. Noch an diesem Tage ballten sich die Dunstmassen dichter zusammen und boten einen gelblichen, düsteren Anblick. Der Lieutenant war sehr unruhig, ohne es äußerlich durchblicken zu lassen, und während die Hunde seinen Schlitten nur mit großer Mühe dahin zogen, unterhielt er sich mit Sergeant Long, der die Vorzeichen des Sturmes nicht so sehr wahrnahm.

Das Land, über welches der Zug ging, war zu einer Schlittenreise zum Unglück wenig geeignet. Der sehr unebene, da und dort von Hohlwegen durchschnittene Boden, dessen Wege einmal mit Granitblöcken besäet, ein andermal durch große, kaum vom Thauwetter angenagte Eisberge versperrt waren, verzögerte den Lauf der Zugthiere sehr wesentlich, und machte ihn sehr beschwerlich. Die armen Hunde konnten nicht mehr leisten und auch die Peitsche der Führer hatte keinen Erfolg.

Der Lieutenant und seine Leute waren oft genöthigt, zu Fuße zu gehen, und um die Kräfte der erschöpften Bespannung zu unterstützen, die Schlitten zu schieben, oder diese auch zu halten, wenn sie bei den stark wechselnden Bodenneigungen umzustürzen drohten. Es ist einleuchtend, daß hierdurch eine unausgesetzte Anstrengung erwuchs, welche übrigens Alle ohne Klage ertrugen. Nur Thomas Black, der immer seiner fixen Idee nachhing, verließ seinen Schlitten niemals, da seine Corpulenz auch zu derartigen mühseligen Hebungen nicht besonders paßte.

Seit Überschreitung des Polarkreises hatte sich also, wie man sieht, die Bodenbeschaffenheit vollkommen geändert. Offenbar hatten Erdrevolutionen jene gigantischen Felsblöcke dahin verschlagen. Auf der Oberfläche erhob sich dagegen eine ausgebildetere Vegetation. Nicht Büsche und Sträucher allein, auch Bäume besetzten die Abhänge der Hügel an Stellen, wo sie gegen die gar so rauhen Nordwinde geschützt waren. Sie bestanden aus Tannen, Fichten und Weiden, Baumarten, welche durch ihr Vorkommen in dieser kalten Zone doch eine gewisse vegetative Kraft der Letzteren bewiesen. Jasper Hobson rechnete sehr darauf, daß an diesen Erzeugnissen der arktischen Zone auch an den Küsten des Eismeeres kein Mangel sein werde. Diese Bäume lieferten ja Holz, Holz zum Erbauen eines Forts, Holz zum Erwärmen seiner einstigen Bewohner. Jedermann drängte sich der Unterschied zwischen dieser minder unfruchtbaren Gegend und den langen, weißen Flächen auf, welche sich zwischen dem Sklaven-See und Fort-Entreprise erstreckten.

Gegen Abend wurden die gelben Dünste dunkler. Der Wind sprang auf. Bald fiel der Schnee in großen Flocken und in wenigen Minuten hatte sich der Boden mit einer dicken weißen Decke überzogen. In weniger als einer Stunde lag ein Fuß hoch Schnee, und da derselbe sich nicht hielt, sondern zu mürbem Kothe wurde, so kamen die Schlitten nur mit größter Anstrengung vorwärts. Ihr aufgebogener Vordertheil sank tief in die weiche Masse ein, welche sie stets aufhielt.

Gegen acht Uhr Abends steigerte sich der Wind zum Sturme. Der heftig fortgetriebene Schnee, der bald den Boden berührte, bald wieder in die Höhe geweht wurde, bildete nur noch einen dichten Wirbel. Die von den Windstößen zurückgeworfenen Hunde, welche durch das Schneetreiben blind waren, konnten nicht mehr vorwärts. Der Zug bewegte sich jetzt durch einen schmalen Engpaß, den hohe Eisberge flankirten, und durch welchen der Sturm mit schrecklichster Heftigkeit fegte. Vom Orkan abgerissene Stücken der Eisberge stürzten in den Hohlweg und machten den Durchmarsch sehr gefährlich. Sie bildeten ebenso viele partielle Lawinen, deren jede einzelne hingereicht hätte, die Schlitten und deren Insassen zu zerschmettern. Unter solchen Umständen konnte der Weg nicht weiter fortgesetzt werden. Jasper Hobson mußte sich ergeben. Nachdem er noch Sergeant Long’s Ansicht eingeholt hatte, ließ er Halt machen. Nun galt es aber einen Schutz vor den Schneewehen zu suchen, welche unerhört fortwütheten.

Männer, welche an Polarexpeditionen gewöhnt sind, konnte das nicht in Verlegenheit setzen. Jasper Hobson und seine Gefährten wußten sich in solchen Fällen zu helfen. Es war ja nicht das erste Mal, daß der Sturm sie, vielleicht einige Hundert Meilen von einem Fort der Compagnie, überfiel, ohne daß ihnen eine Eskimohütte oder ein Indianerwigwam zur Verfügung stand.

»Nach den Eisbergen! Nach den Eisbergen!« rief Jasper Hobson.

Der Lieutenant wurde von Allen verstanden. Es galt jetzt in den dichten Eismassen sogenannte ›Schneehäuser‹ auszuhöhlen, oder vielmehr nur Löcher, in welche sich Alle während der Dauer des Sturmes bergen könnten. Die Aexte und Messer waren schnell in Thätigkeit, die mürbe Masse anzugreifen.

Dreiviertel Stunde später schon war ein Dutzend Höhlen mit engen Eingängen ausgearbeitet, deren jede zwei bis drei Menschen aufnehmen konnte. Die Hunde wurden abgezäumt und sich selbst überlassen. Man überließ es ihrem Spürsinne, unter dem Schnee ein schützendes Obdach zu finden.

Vor zehn Uhr war das ganze Personal der Expedition in den Schneehäusern untergebracht. Man hatte sich zu Zweien und zu Dreien, zum Theil je nach Neigung, zusammengefunden. Mrs. Paulina Barnett, Madge und Lieutenant Hobson nahmen eine Hütte ein. Thomas Black und Sergeant Long vergruben sich zusammen in einer anderen Höhle. Die Anderen würfelte der Zufall zusammen.

Diese Zufluchtsorte waren, wenn nicht comfortabel, so doch wenigstens verhältnißmäßig warm, und man erinnerte sich dabei auch, daß die Eskimos und Indianer selbst in der strengsten Kälte keinen besseren Schutz haben. Jasper Hobson und die Seinen konnten den Sturm nun ruhig abwarten und hatten nur dafür zu sorgen, daß sich die Oeffnungen der Höhlen nicht mit Schnee verstopften, weshalb diese von einer halben Stunde zur anderen immer frei gelegt wurden. Während dieses Unwetters konnte Niemand einen Fuß in’s Freie setzen. Zum Glück aber hatten sich Alle hinreichend mit Proviant versehen, um dieses Biberleben, ohne von Frost oder Hunger gequält zu werden, auszuhalten.

Achtundvierzig Stunden lang nahm der Sturm an Heftigkeit zu. Der Wind heulte durch den Engpaß und entriß den Eisbergen ihre Gipfel. Ein Donner, den das Echo zwanzigfach wiedergab, bezeichnete den Sturz der Eislawinen. Jasper Hobson hatte allen Grund, zu befürchten, daß sein Weg durch herabgestürzte Eisblöcke ganz und gar versperrt sein möchte. Unter jenes Donnern mischte sich auch ein Brummen, über dessen Ursprung der Lieutenant nicht im Unklaren sein konnte, und er verhehlte der furchtlosen Mrs. Barnett auch nicht, daß Bären durch den Engpaß trotteten. Die mit sich selbst zu sehr beschäftigten Thiere entdeckten aber glücklicher Weise das Versteck der Reisenden nicht. Weder die Hunde, noch die Schlitten, welche unter dichter Schneedecke vergraben waren, erregten ihre Aufmerksamkeit.

Die letzte Nacht, die vom 25. zum 26. Mai, war noch furchtbarer. Die Wuth des Orkanes nahm so zu, daß ein allgemeiner Einsturz des Eisberges zu befürchten war, denn man fühlte diese ungeheuren Massen in ihren Grundfesten erzittern.

Ein schrecklicher Tod erwartete die Unglücklichen, die von dem Berge zerschmettert worden wären. Entsetzlich krachten die Eisblöcke, und schon bildeten sich da und dort Sprünge in der Masse, welche ihre Haltbarkeit bedrohlich verminderten. Doch trat kein Einsturz ein. Die ganze Bergmasse leistete Widerstand; gegen Ende der Nacht ließ, wie man das in Polarländern häufig beobachtet, die Gewalt des Sturmes, wie erschöpft, plötzlich unter dem Eintritt einer grellen Temperaturerniedrigung nach, und mit dem anbrechenden Tageslichte war die vollkommene Ruhe der Atmosphäre wieder hergestellt.