Zehntes Capitel


Zehntes Capitel

Beim Kreuzen im Archipel.

Die »Syphanta«, eine Corvette zweiter Classe, führte in der Batterie zweiundzwanzig Vierpfünder und auf Deck – damals eine Seltenheit für diese Schiffsclasse – sechs zwölfpfündige Karonaden. Mit ihrem scharfen Vordersteven und sein gebautem Achter, sowie der wohlberechneten Schwimmlinie konnte dieselbe mit den besten Fahrzeugen jener Zeit recht gut in die Schranken treten. Bei keiner Bewegung besonders stark arbeitend, sanft im Rollen und scharf am Winde segelnd, wie sonst nur die besten Schiffe, wäre sie nicht verhindert gewesen, selbst bei stärkerem Winde das volle Segelwerk beizubehalten. Ihr Befehlshaber konnte, wenn er sonst ein unerschrockener Seemann war, immer unter Segel bleiben, ohne davon etwas fürchten zu müssen. Die »Syphanta« wäre deshalb gewiß ebensowenig gekentert, wie ein Fregattschiff, und wahrscheinlich würden eher die Masten derselben gebrochen sein, als daß sie unter Segel zugrunde gegangen wäre. Das gestattete also, ihr, selbst bei sehr schwerem Seegange, doch immer eine große Geschwindigkeit zu verleihen, und damit vergrößerte sich auch nur die Aussicht auf Erfolg bei der abenteuerlichen Kreuzfahrt, für welche sie ihre, gegen die Piraten des Archipels vereinigten Rheder ausgerüstet hatten.

Obwohl die »Syphanta« eigentlich kein wirkliches Kriegsschiff zu nennen war, weil dieselbe nicht einem anerkannten Staate, sondern einfachen Privatleuten angehörte, so war der Dienst auf derselben doch vollständig militärisch organisirt. Ihre Officiere wie die Besatzung hätten dem Orlogsschiffe jeder anderen Seemacht Ehre gemacht. Sowohl während der Fahrt, wie während der Ruhe im Hafen, hätte man hier dasselbe gleichmäßige Manövriren, dieselbe Disciplin an Bord beobachten können. Hier zeigte sich nichts von dem Sichgehenlassen der Leute eines überhastet ausgerüsteten Schiffes, wo die Thätigkeit derselben meist nicht so nach strengen Vorschriften geregelt ist, wie der Befehlshaber eines Fahrzeugs der Kriegsmarine das verlangen müßte.

Die »Syphanta« führte in ihrer Musterungsrolle zweihundertfünfzig Mann auf, zur größeren Hälfte Matrosen aus den westlichen Küstenländern, Franzosen, Provençalen, zur anderen kleineren Engländer, Griechen und Korfioten. Es waren gewandte Leute in der Bedienung des Segelwerkes, verläßliche Streiter im Kampf, Seeleute mit Leib und Seele, auf welche man rechnen konnte Alle hatten dafür schon hinlängliche Proben abgelegt. Schiemänner, zweite und erste Bootsleute waren ihrer Functionen als vermittelnde Glieder zwischen Mannschaft und Officierscorps völlig würdig. Der Stab selbst bestand aus vier Lieutenants, acht Schiffsfähnrichen, von korslötischer, englischer und französischer Herkunft, und einem zweiten Befehlshaber. Letzterer, der Capitän Todros, war ein alter Seemann aus dem Archipel, und also genau bekannt mit den Gewässern, deren versteckteste Straßen und Schlupfwinkel die Corvette absuchen sollte. Da gab es keine Insel, von der ihm nicht alle Baien, Golfe, Buchten und Schlupfhäfen bekannt gewesen wären; nicht ein Eiland, dessen hydrographische Lage er nicht bei Gelegenheit früherer Fahrten bestimmt hätte; keine Wassertiefe, die er nicht ebenso sicher im Kopfe hatte, als wenn die Seekarte vor ihm läge.

Dieser Officier, der jetzt wenig über fünfzig Jahre zählte und ein Grieche aus Hydra war, auch schon früher unter dem Befehle Canaris‘ und Tomasis‘ gedient hatte, mußte für den Befehlshaber der »Syphanta« ein höchst werthvoller Helfer sein.

Den ersten Theil ihrer Kreuzfahrt im Archipel hatte die Corvette unter dem Oberbefehl des Capitäns Stradena ausgeführt, und die ersten Wochen auf See waren, wie erwähnt, sehr glücklich verlaufen. Die Vernichtung verschiedener Seeräuberschiffe und die Aufbringung werthvoller Prisen, das verdiente wohl den Namen eines günstigen Anfangs. Die weitere Fahrt brachte aber doch sehr empfindliche Verluste an Mannschaft und Officieren mit sich. Daß man eine Zeit lang ohne Nachrichten von der »Syphanta« geblieben war, lag daran, daß diese am 27. Februar unweit Lemnos einen hitzigen Kampf gegen eine ganze Flottille von Piratenschiffen zu bestehen gehabt hatte.

Dieser Kampf hatte nicht allein vierzig Mann an Todten und Verwundeten gekostet, sondern es war dabei auch der Commandant Stradena, auf seinem Posten von einer Kugel tödtlich getroffen, gefallen.

Darauf übernahm damals der Capitän Todros das Commando der Corvette; dann war er, nachdem er den Sieg über die Seeräuber nach Kräften ausgenützt, in den Hafen von Aegina eingelaufen, um höchst nothwendige Reparaturen an Rumpf und Takelage vornehmen zu lassen.

Wenige Tage nach dem Eintreffen der »Syphanta« daselbst hörte man zu nicht geringem Erstaunen, daß das Schiff zu sehr hohem Preise für Rechnung eines Banquiers in Ragusa gekauft worden war, dessen Bevollmächtigter nach Aegina kam, um die Umschreibung der Schiffspapiere vornehmen zu lassen. Alles das vollzog sich, ohne daß dagegen eine Einrede hätte erhoben werden können, und es stand nun unbestreitbar fest, daß die Corvette ihren früheren Eigenthümern, der korfiotischen Rhederei, welche bei dem Wiederverkauf noch ein sehr gutes Geschäft gemacht hatte, nicht mehr angehörte.

Wenn die »Syphanta« aber auch in andere Hände übergegangen war, so blieb ihre Bestimmung doch ganz dieselbe. Sie verfolgte das Ziel, den Archipel von den ihm so lästigen Seeräubern zu befreien, wenn sich Gelegenheit dazu bot, etwaige befreite Gefangene nach der Heimat zurückzubefördern und jedenfalls ihre Bemühungen nicht eher aufzugeben, als bis sie diese Meere von dem verwegensten, blutgierigsten Schurken, dem Piraten Sacratif, erlöst hatte. Nach Vollendung der Ausbesserungen ging dem zweiten Officier der Befehl zu, im Norden der Insel Scio zu kreuzen, wo sich der neue Capitän einfinden werde, der bestimmt war, an Bord »der Nächste nach Gott« zu werden.

Zur selben Zeit war es, wo Henry d’Albaret das höchst lakonische Billet erhielt, durch welches er benachrichtigt wurde, daß im Stabe der Corvette »Syphanta« für ihn ein Platz frei sei.

Wie wir wissen, nahm er das Anerbieten an, ohne sich darum zu kümmern, ja, ohne zu ahnen, daß diese Stellung die des Befehlshabers sein sollte. Deshalb aber geschah es, daß der zweite Befehlshaber, die Officiere und die Mannschaften, sobald er den Fuß auf’s Deck gesetzt, sich seinem Oberbefehle unterordneten, während die Kanonen die Flagge Korfus begrüßten.

Alles das erfuhr Henry d’Albaret erst durch ein Gespräch, welches er mit dem Capitän Todros hatte. Der Vertrag, durch welchen er mit der Führung der Corvette betraut wurde, war völlig rechtsgiltig aufgesetzt, es konnte also Niemand die Machtvollkommenheit des jungen Officiers in Zweifel ziehen, und es geschah das auch von keiner Seite. Uebrigens kannten ihn auch mehrere Officiere des Schiffes schon von früher; sie wußten, daß er zwar einer der jüngsten, aber auch einer der befähigtesten Schiffslieutenants der französischen Marine gewesen war.

Der Antheil ferner, den er an dem Unabhängigkeitskampfe genommen, hatte ihm die verdiente Achtung verliehen. Bei der ersten Revue, die er an Bord der »Syphanta« abnahm, wurde sein Name mit lebhaften Beifallsrufen begrüßt.

»Officiere und Matrosen! sagte Henry d’Albaret in seiner einfachen Ansprache, ich weiß, welche Aufgabe der »Syphanta« gestellt worden ist. Wir werden derselben, wenn es Gott gefällt, nach allen Seiten gerecht werden! Ehre unserem alten Commandanten Stradena, der auf seinem Posten einen ehrenvollen Tod fand. Ich zähle auf Euch! Zählt Ihr auf mich! – Tretet ab!…«

Am nächsten Tage, den 2. März, verlor die Corvette beizeiten die Küsten von Scio, bald darauf auch den dieselben beherrschenden Gipfel des Elias-Berges aus dem Gesicht und schlug eine Richtung nach dem Norden des Archipels ein.

Ein Seemann braucht nur einen Blick und nur einen halben Tag Segelfahrt, um den Werth seines Schiffes beurtheilen zu können. Der Wind blies eben ziemlich frisch aus Nordwesten, ohne daß es nöthig geworden wäre, die Segelfläche zu vermindern. Der Befehlshaber Henry d’Albaret kam also sehr bald in die Lage, die ausgezeichneten nautischen Eigenschaften der Corvette kennen und schätzen zu lernen.

»Sie würde gewiß vor keinem anderen Schiffe der vereinigten Flotten die Segel streichen, sagte ihm der Capitän Todros, und dieselben sogar noch bei steifem Zweireefwind beibehalten.«

Das bedeutet aber in der Vorstellung des wackeren Seemanns zwei Dinge; erstens, daß kein anderer Segler im Stande sein würde, die »Syphanta« an Schnelligkeit zu übertreffen, und ferner, daß ihre solide Takelage und ihre Stabilität auf dem Meere ihr noch gestatten würden, das volle Segelwerk beizubehalten bei einem Wetter, das jedes andere Schiff genöthigt haben würde, dasselbe zu vermindern, wenn es vor dem Untergange sicher sein wollte. Dicht am Winde und mit Steuerbordhalsen hielt die »Syphanta« ihren Curs nach Norden ein, wobei sie im Osten die Insel Metelin oder Lesbos, eine der größten des Archipels, liegen ließ.

Am folgenden Morgen kam die Corvette seewärts von dieser Insel vorüber, wo die Griechen im Anfange des Krieges, 1821, große Vortheile über die ottomanische Flotte errangen.

»Ich war mit dabei, erzählte der Capitän Todros dem Commandanten d’Albaret. Es war im Mai. Wir waren sechzig Briggs, um fünf türkische Linienschiffe, vier Fregatten und vier Corvetten zu verfolgen, die nach dem Hafen von Metelin flüchteten. Ein Schiff von vierundsiebenzig Kanonen trennte sich von dem Geschwader, um aus Constantinopel Hilfe herbeizurufen. Wir blieben ihm aber auf den Fersen, und zuletzt sprang es mit neunhundertfünfzig Matrosen in die Luft. Ja, ich war mit dabei, und ich bin’s gewesen, der selbst die Schwefel- und Pechsäcke anzündete, die wir am Rumpf desselben angebracht hatten. Das waren gute Hemden, welche warm hielten, Herr Commandant, und die ich Ihnen vorkommenden Falles empfehle… für die Herren Piraten!«

Man mußte den Capitän Todros so seine Kriegsthaten erzählen hören mit der frohen Laune eines Matrosen vom Vordercastell; doch was der zweite Officier der »Syphanta« hier berichtete, das beruhte auch Alles auf Wahrheit

Nicht ohne triftigen Grund hatte Henry d’Albaret, nachdem er die Führung der Corvette übernommen, einen Curs nach Norden eingeschlagen. Nur wenige Tage vor seinem Aufbruch aus Scio waren in der Nähe von Lemnos und Samothrake verdächtige Fahrzeuge gemeldet worden.

Einige levantinische Küstenfahrer waren fast an der Küste der europäischen Türkei beraubt und zerstört worden. Vielleicht hielten es die Piraten, seitdem die »Syphanta« sie so hartnäckig verfolgte, für angezeigt, sich mehr nach den nördlichen Theilen des Archipels zurückzuziehen.

Von ihrer Seite konnte man das nur klug gehandelt nennen.

In den Gewässern bei Metelin war nichts zu entdecken. Hier traf man nur einige Handelsfahrzeuge, welche sich mit der Corvette selbst in Verbindung setzten, da sie sich durch ihre Anwesenheit für geschützt ansahen.

Während einer Zeit von vierzehn Tagen erfüllte die »Syphanta«, obgleich sie von dem schlechten Wetter der Tag- und Nachtgleiche nicht wenig zu leiden hatte, gewissenhaft ihre Mission.

Bei zwei oder drei sehr heftigen Böen, welche sie nöthigten, nur unter Sturmsegel zu laufen, konnte Henry d’Albaret sich nicht allein weiter über ihre Eigenschaften, wie über die seiner Mannschaft belehren. Die Anderen lernten auch ihn dabei kennen, und er strafte den Ruf nicht Lügen, den die Officiere der französischen Marine schon von jeher genießen, gewandte Seeleute bei schwerstem Wetter zu sein. Ueber seine Anlagen als Taktiker bei einem Seegefecht würde man sich später ein Urtheil bilden können; dagegen bezweifelte schon jetzt Niemand seinen Muth im Feuer.

Unter den schwierigsten Umständen erwies sich der junge Befehlshaber ebenso bewandert in der Theorie wie in der Praxis. Er besaß einen kühnen Charakter, große Seelenstärke, unerschütterliche Kaltblütigkeit und war stets bereit, alle Ereignisse vorauszusehen und zu beherrschen, mit einem Wort, er war ein Seemann, wie er sein soll, damit ist genug gesagt.

In der zweiten Hälfte des Monats beschäftigte sich die Corvette damit, das Landgebiet von Lemnos von der Seeseite zu besichtigen.

Diese Insel, die größte auf dieser Seite des ägäischen Meeres, welche bei fünfzehn Lieues in der Länge, fünf bis sechs in der Breite mißt, war ebenso wie das benachbarte Imbro von dem eigentlichen Unabhängigkeitskampfe noch nicht berührt worden, wiederholt hatten sich hier dagegen Seeräuber eingestellt, welche selbst vom Eingang zur Rhede Handelsschiffe mit frecher Hand wegzuführen wagten. Um frischen Proviant einzunehmen, ging die Corvette in dem damals stark überfüllten Hafen vor Anker. Zu jener Zeit baute man nämlich in Lemnos viele Schiffe, und wenn die, welche noch auf den Werften lagen, aus Furcht vor den Seeräubern nicht vollendet wurden, so wagten sich die bereits fertiggestellten nicht auszulaufen. Daher diese Ueberfüllung.

Diese Nachrichten, welche der Commandant d’Albaret hier auf der Insel erhielt, konnten ihn nur bestimmen, seine Fahrt nach dem Norden des Archipels fortzusetzen. Wiederholt wurde nämlich sogar der Name Sacratif’s sowohl ihm als seinen Officieren gegenüber erwähnt.

»Ah, rief der Capitän Todros, ich wäre wirklich begierig, mich einmal Auge in Auge gegenüber diesem Schurken zu befinden, der mir etwas sagenhaft erscheint. Das würde mir wenigstens den Beweis liefern, daß er überhaupt existirt.

– Stellen Sie seine Existenz in Zweifel? fragte Henry d’Albaret mit Interesse.

– Auf mein Wort, Herr Commandant, erwiderte Todros, wenn Sie meine offene Meinung hören wollen, muß ich Ihnen sagen, daß ich an jenen Sacratif gar nicht glaube, und ich wüßte nicht, daß irgend Jemand sich rühmen könnte, ihn jemals gesehen zu haben. Vielleicht ist das nur ein Kriegsname, den die Piraten Einer nach dem Anderen annehmen. Meiner Meinung nach wird sich schon so Mancher unter diesem Namen auf einem Schiffsdeck geschaukelt haben; doch, das thut nichts! Die Hauptsache bleibt, daß diese Spitzbuben gehenkt werden, und das soll ihnen nicht erspart bleiben.

– Was Sie da gesagt haben, ist Alles in Allem ja möglich, Capitän Todros, antwortete Henry d’Albaret, und das erklärte wenigstens die Allgegenwart, deren Jener sich zu erfreuen scheint.

– Sie haben ganz Recht, Herr Commandant, setzte ein französischer Officier hinzu. Wenn Sacratif, wie die Leute behaupten, gleichzeitig an mehreren Punkten gesehen worden ist, so deutet das unleugbar darauf hin, daß dieser Name unter allen Umständen gleichmäßig von verschiedenen jener Piraten geführt wird.

– Und wenn Sie das thun, geschieht es nur, um Andere, die sie verfolgen, auf falsche Fährte zu leiten, meinte der Capitän Todros. Doch ich wiederhole, es gibt ein ganz sicheres Mittel, diesen Namen auszumerzen – Alle, welche denselben tragen, müssen eben gefangen und gehangen werden… und sogar alle Die, welche ihn je geführt haben. Auf diese Weise wird der wahre Sacratif, wenn es überhaupt einen solchen gibt, dem mit Recht verdienten Stricke ja nicht entgehen.«

Der Capitän Todros hatte wohl ganz Recht, die Frage blieb aber immer, diesen unfaßbaren Uebelthäter erst sicher in die Hand zu bekommen.

»Capitän Todros, fragte Henry d’Albaret, haben Sie während der ersten Kreuzfahrt der »Syphanta«, oder auch schon bei früheren Fahrten nicht etwa eine Sacoleve von gegen hundert Tonnen kennen gelernt, welche den Namen »Karysta« führte?

– Niemals, erklärte der zweite Officier.

– Und Sie, meine Herren?« fuhr der Commandant fort, sich an seine Officiere wendend.

Kein Einziger derselben hatte je von der Sacoleve reden gehört, obwohl die Meisten von ihnen auf den Meeren des Archipels seit dem Anfange des Unabhängigkeitskrieges in Dienst gewesen waren.

»Der Name eines gewissen Nicolas Starkos, des Capitäns jener »Karysta«, wäre niemals bis zu Ihnen gedrungen?« fragte Henry d’Albaret noch einmal nachdrücklicher. Der betreffende Name war den Officieren der Corvette völlig unbekannt. Darüber konnte sich übrigens Niemand besonders wundern, da es sich nur um den Patron eines einfachen Handelsfahrzeuges handelte, wie man deren zu Hunderten an den Stapelplätzen der Levante begegnet.

Todros glaubte sich aber doch unklar zu erinnern, den Namen eines Nicolas Starkos einmal aussprechen gehört zu haben, als er im Hafen von Arkadia in Messenien vor Anker lag. Es sollte das der Name eines jener Schmugglercapitäne sein, welche die von der ottomanischen Behörde gekauften Gefangenen nach den Barbareskenküsten überführten.

»Ja, das kann aber kaum der Starkos sein, den Sie meinen, fügte er hinzu. Dieser, sagen Sie, war der Patron einer Sacoleve, und eine Sacoleve kann unmöglich den Bedürfnissen eines solchen Schleichhandels genügen.

– Freilich nicht!« antwortete Henry d’Albaret und ließ dieses Gespräch vorläufig fallen. Wenn er aber fortwährend an Nicolas Starkos dachte, kam das daher, daß ihm das undurchdringliche Geheimniß des Verschwindens Hadjine Elizundo’s und auch Andronikas kaum je aus dem Sinne kam, denn jetzt verknüpften sich diese beiden Namen stets in seiner Erinnerung.

Gegen den 25. März befand sich die »Syphanta« auf der Höhe der Insel Samothrake, sechzig Lieues im Norden von Scio. Betrachtet man die auf den zurück gelegten Weg verwendete Zeit, so ergibt sich, daß hier alle möglichen Schlupfwinkel gewiß mit aller Sorgfalt durchsucht worden waren, und was die Corvette in den tief in’s Land eindringenden Buchten wegen Mangels an Wassertiefe nicht selbst ausführen konnte, das übernahmen dann die Boote derselben. Bisher waren jedoch alle derartigen Nachforschungen völlig ohne Erfolg geblieben.

Die Insel Samothrake war während des Krieges grausam verwüstet worden, und die Türken hielten sie noch immer unter ihrem Joche. Es ließ sich also annehmen, daß die Seeräuber hier in den zahlreichen Buchten derselben – da ein eigentlicher Hafen nicht vorhanden war – sichere Zuflucht suchen und finden würden. Der Berg Saoce überragt diese Insel um fünf- bis sechstausend Fuß, und von dieser Höhe ist es für einen Wachtposten leicht, jedes verdächtig erscheinende Schiff zeitig genug wahrzunehmen und zu signalisiren. Die vorher gewarnten Piraten gewannen Zeit zu entfliehen, bevor sie blockirt werden konnten. Jedenfalls waren solche Schiffe hier verborgen gewesen, denn die »Syphanta« traf kein einziges derselben auf dem jetzt fast ganz öden Gewässer.

Henry d’Albaret schlug nun einen Curs nach Nordwesten ein, um die Insel Thasos anzulaufen, welche einige zwanzig Lieues von Samothrake entfernt liegt. Da die Windrichtung eine entgegengesetzte war, mußte die Corvette bei ziemlich steifer Brise laviren, sie fand jedoch bald Schutz vom Land und folglich ruhigeres Meer, wo die Fahrt leichter und angenehmer von Statten ging.

Welch‘ eigenthümliches Schicksal haben doch die Inseln des Archipels gehabt! Während Scio und Samothrake so schwer von Seiten der Türken zu leiden hatten, entgingen Thasos ebenso wie Lemnos und Imbro fast ganz den Verheerungen des Krieges. In Thasos ist die ganze Bevölkerung griechischen Ursprungs; hier herrschen noch die Sitten der Väter, Männer und Frauen haben noch die frühere Tracht bewahrt und erscheinen in Kleidung und Haartracht noch in der vollen Grazie des Alterthums. Die türkischen Machthaber, denen die Insel seit Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts unterworfen ist, hätten hier also nach Gefallen plündern können, ohne auf ernsten Widerstand zu stoßen. Auf wirklich unerklärliche Weise blieb derselben jedoch, obgleich der Reichthum ihrer Bewohner wohl die Habgier der gewissenlosen Barbaren zu erregen geeignet schien, bisher alles Ungemach erspart.

Ohne die Ankunft der »Syphanta« hätte Thasos freilich über kurz oder lang alle Greuel der Plünderung zu erfahren gehabt.

Am 2. April nämlich war der Hafen im Norden der Insel, der heutzutage Port Pyrgo genannt wird, von einer Landung zahlreicher Piraten bedroht. Fünf bis sechs Schiffe derselben, Mistiken und Djermen in Begleitung einer Brigantine, welche etwa ein Dutzend Kanonen führte, erschienen damals in Sicht der Stadt. Der Ueberfall jener Banditen, inmitten einer des Kampfes völlig ungewohnten Bevölkerung, hätte mit schrecklicher Verwüstung enden müssen, denn die Insel besaß nirgends hinreichende Streitkräfte, jenen Widerstand zu leisten.

Da erschien zur rechten Zeit die Corvette auf der Rhede, und sobald dieselbe durch einen, am Großmast der Brigantine gehißten Wimpel signalisirt worden war, stellten sich alle jene Fahrzeuge in Schlachtordnung, was von ihrer Seite immerhin eine ungewöhnliche Kühnheit verrieth.

»Sollten sie gar einen Angriff wagen? rief der Capitän Todros, der sich auf die Commandobrücke in die Nähe des Befehlshabers begeben hatte.

– Wer weiß, ob sie uns angreifen oder sich nur vertheidigen wollen, erwiderte Henry d’Albaret, den diese Haltung der Seeräuber überraschte.

– Zum Teufel, ich hätte eher erwartet, die Schufte mit Beisetzung aller Segel entfliehen zu sehen.

– Im Gegentheil, mögen sie nur Widerstand leisten, Capitän Todros… am liebsten selbst angreifen! Wenn sie die Flucht ergriffen, würde es doch Einem und dem Andern gelingen, uns zu entwischen. Commandiren Sie »Klar zum Gefecht!«

Der Befehl des Commandanten wurde sofort aufgeführt. In der Batterie erhielten die Kanonen ihre Ladung, die Lunten wurden zurecht gelegt und die Geschosse herbeigeschafft, so daß sie der Bedienung bequem lagen, auf dem Verdeck machte man die Corvette zum Kampfe fertig und vertheilte die Waffen, Musketen, Pistolen, Säbel und Enterhaken. Die Mastwächter standen bereit, ihre Pflicht zu thun, und zwar ebenso bei einem Kampf an Ort und Stelle, wie wenn es sich um Verfolgung von Flüchtlingen gehandelt hätte. Alles das geschah in einer solchen Ordnung und Schnelligkeit, als ob die »Syphanta« ein wirkliches Kriegsschiff gewesen wäre.

Inzwischen näherte sich die Corvette der Flottille, bereit zum Angriff überzugehen oder einen solchen abzuschlagen. Die Absicht des Befehlshabers ging dahin, direct auf die Brigantine loszusteuern, sie mit einer Breitseite zu begrüßen, welche sie wohl kampfunfähig machen konnte, dann sie anlaufen und seine Mannschaft dieselbe erstürmen zu lassen.

Immerhin war es möglich, daß die Piraten, noch während sie sich zum Kampfe vorbereiteten, doch nur daran dachten, zu entfliehen. Wenn sie es nicht früher gethan hatten, lag das wohl daran, daß die plötzliche Ankunft der Corvette, welche die Rhede vor ihnen beherrschte, sie überrascht hatte. Es blieb nun also kaum etwas Anderes übrig, als der Versuch, sich mit Gewalt einen Durchgang zu erzwingen.

Die Brigantine war es, welche das Feuer eröffnete. Sie richtete ihre Kugeln so, um die Corvette womöglich eines ihrer Masten zu berauben. Wenn ihr das gelang, befand sie sich sofort in weit günstigeren Verhältnissen, der Verfolgung des gefährlichen Gegners zu entgehen.

Die Geschosse flogen etwa sieben bis acht Fuß über dem Deck der »Syphanta« hinweg, zerrissen einige Drissen und Schooten und zertrümmerten einige kleinere Raaen, zersprengten auch einen Theil anderer Reservestücke und verwundeten drei oder vier Matrosen, zum Glück aber nicht schwer. Alles in Allem war die Beschädigung des Schiffes keine bedeutende zu nennen.

Henry d’Albaret antwortete nicht unmittelbar. Er steuerte noch weiter und ließ eine Breitenlage vom Steuerbord nicht eher abgeben, als bis der Dampf von den ersten Schüssen sich verzogen hatte.

Zum Glück für die Brigantine hatte deren Capitän unter Benützung der Brise eine Wendung machen können und erhielt so nur zwei oder drei Kugeln in den Schiffsrumpf oberhalb der Schwimmlinie. Wenn dadurch auch einige Mann getödtet wurden, so war das Schiff damit doch nicht außer Gefecht gesetzt.

Die Projectile der Corvette, welche fehl gingen, waren deshalb doch noch nicht verloren. Die Mistike, welche durch die Wendung der Brigantine sichtbar geworden war, erhielt einen guten Theil derselben in die Backbordwand, und zwar so unglücklich für sie, daß dieselbe Wasser zu schöpfen begann.

»Na, ist’s nicht die Brigantine, so ist’s doch deren Begleiterin, welche ein Gericht eiserner Bohnen in den Magen bekommen hat, rief einer der Matrosen, die auf dem Vordercastell der »Syphanta« standen.

– Meine Ration Wein, daß sie binnen fünf Minuten sinkt!

– Binnen drei Minuten!

– Ich halte die Wette, und wünsche nur, daß mir Dein Wein ebenso leicht die Kehle hinunterläuft, wie ihr das Wasser durch die Löcher in den Rumpf eindringt!

– Sie sinkt!… Sie sinkt!…

– Da sitzt sie schon bis zur Schanzkleidung drin…. Der Rumpf wird nicht mehr lange über Wasser bleiben.

– Und die Teufelskerle darauf springen kopfüber in’s Meer und retten sich durch Schwimmen…

– Nun sie ziehen eben einen Strick um den Hals dem Ertrinken im Wasser vor, dabei wollen wir sie nicht stören!«

In der That sank die Mistike immer mehr und mehr. Ehe das Wasser aber die Reeling erreichte, hatte die Besatzung derselben einen Sprung in’s Meer gewagt, um irgend ein anderes Fahrzeug der Flottille zu erreichen.

Die Leute auf diesen hatten freilich ganz anderes zu thun, als sich mit der Rettung der Ueberlebenden von der Mistike zu beschäftigen Sie dachten jetzt nur noch an die Flucht. So fanden die Unglücklichen Alle den Tod in den Wellen, ohne daß ihnen nur ein Tauende zugeworfen worden wäre, um sie an Bord zu ziehen.

Die zweite Breitlage der »Syphanta« wurde dieses Mal auf eine der Djermen abgefeuert, welche quer gegen jene lag, und setzte dieselbe vollständig außer Gefecht; es bedurfte auch keiner weiteren Mühe, sie ganz zu vernichten. Bald verschwand die Djerme in aufwirbelnden Flammen, welche ein halbes Dutzend glühende Kugeln auf dem Deck derselben entzündet hatten.

Als sie diesen Ausgang sahen, begriffen die anderen kleineren Schiffe, daß es ihnen doch nicht gelingen würde, sich gegen das grobe Geschütz der Corvette zu vertheidigen. Freilich, wenn sie die Flucht ergriffen, hatten sie auch nicht große Aussicht, einem größeren schnellsegelnden Schiffe zu entgehen.

Der Capitän der Brigantine griff also zu der einzigen Maßregel, die ihm übrig blieb, wenn er deren Mannschaft retten wollte. Er ließ sie durch ein Signal zusammenrufen, und binnen wenigen Minuten hatten sich die Piraten an seinen Bord geflüchtet, nachdem sie eine Mistike und eine Djerme verlassen, welche sie vorher selbst in Brand setzten und die auch bald darauf in die Luft sprangen.

Die Besatzung der Brigantine befand sich jetzt, nachdem sie eine Verstärkung von gegen hundert Mann erhalten, in bester Lage, einem directen Sturme von Seite des Feindes die Spitze zu bieten, wenn es ihr nicht gelang, zu entkommen.

Wenn die Mannschaft derselben jetzt aber an Zahl der der Corvette gleich war, blieb es für sie immer noch das Beste, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Sie zögerten denn auch nicht, die größere Schnelligkeit, welche dem Schiffe eigen war, sich zu nutze zu machen, um an der türkischen Küste Zuflucht zu finden. Dort wäre ihr Capitän im Stande gewesen, sich so sicher zwischen den Felsen des Uferlandes zu verbergen, daß die Corvette ihn weder finden, noch, wenn sie ihn fand, ihn verfolgen konnte.

Die Brise hatte wesentlich aufgefrischt. Die Brigantine zögerte indeß nicht, alles Segelwerk, was sie nur führen konnte, beizusetzen, selbst auf die Gefahr hin, die Masten zu zerbrechen, und begann sich von der »Syphanta« zu entfernen.

»Schön, rief der Capitän Todros, es sollte mich doch wundern, wenn ihre Beine ebenso lang wären, wie die unserer Corvette!«

Er wandte sich nach dem Commandanten um, dessen Befehl er erwartete.

In diesem Augenblicke wurde aber die Aufmerksamkeit Henry d’Albaret’s nach einer ganz anderen Seite hingelenkt. Er sah die Brigantine gar nicht mehr. Das Fernrohr auf den Hafen von Thasos gerichtet, beobachtete er ein leichtes Fahrzeug, das mit aller Kraft der Segel das Weite zu gewinnen sachte.

Es war eine Sacoleve Getrieben von einer steifen Nordwestbrise, welche ihr gestattete, alle Segel beizusetzen, war sie in die südliche Ausgangsstraße des Hafens eingesteuert, zu der ihr geringer Tiefgang ihr den Eingang ermöglichte.

Henry d’Albaret legte, nachdem er scharf nach derselben ausgelugt, das Fernrohr hastig bei Seite.

»Die »Karysta«! rief er.

– Wie, das wäre jene Sacoleve, von der Sie mit mir gesprochen haben? fragte der Capitän Todros.

– Sie selbst; ich gäbe etwas darum, sie einzuholen….«

Henry d’Albaret vollendete den Satz nicht. Zwischen der Brigantine, auf der sich eine zahlreiche, aus Seeräubern bestehende Mannschaft befand, und der »Karysta« durfte er, obgleich letztere jedenfalls von Nicolas Starkos befehligt wurde, keinen Augenblick wählen. Gewiß hätte er, wenn er die Verfolgung der Brigantine aufgab und sich nach dem Eingang der seichten Wasserstraße begab, der Sacoleve den Weg abschneiden können, er konnte sie erreichen und sich ihrer bemächtigen. Damit hätte er freilich das allgemeine Interesse seinem eigenen persönlichen Vortheile geopfert. Das durfte er nicht. Seine Pflicht gebot ihm, ohne einen Augenblick zu verlieren, der Brigantine nachzueilen, den Versuch zu machen, diese abzufangen, um sie zu zerstören, und dazu entschloß er sich denn auch sofort. Noch einen letzten Blick warf er auf die »Karysta«, die sich durch die offenliegende Wasserstraße mit großer Schnelligkeit aus dem Staube machte, und ertheilte dann die nöthigen Befehle, auf das Piratenschiff Jagd zu machen, das sich schon in entgegengesetzter Richtung entfernte.

Mit allen Segeln steuerte die »Syphanta«, so schnell sie konnte, im Kielwasser der Brigantine hin. Gleichzeitig wurden ihre Jagdgeschütze in Position gebracht, und da die beiden Schiffe jetzt nur noch ein Zwischenraum von einer halben Seemeile trennte, begann die Corvette ihren ehernen Mund aufzuthun.

Was sie da sagte, schien gar nicht besonders nach dem Geschmacke der Brigantine zu sein. Diese fiel möglichst schnell zwei Viertel ab und versuchte, ob es ihr nicht bei dieser neuen Fahrtrichtung möglich sein würde, vor dem Gegner einen Vorsprung zu gewinnen.

Das erwies sich jedoch als Täuschung. Der Steuermann der »Syphantadrehte ebenfalls ein wenig bei, und die Corvette wechselte auch ihrerseits den Curs.

Etwa eine Stunde lang wurde die Verfolgung unter diesen Verhältnissen fortgesetzt. Die Piraten verloren offenbar an Weg, und es schien gar nicht zweifelhaft, daß man dieselben noch vor Mitternacht einholen würde. Der zu erwartende Kampf zwischen den beiden Fahrzeugen sollte aber auf ganz andere Weise ein Ende finden.

Durch einen glücklichen Schuß beraubte eine Paßkugel von der »Syphanta« die Brigantine ihres Fockmastes. Sofort unterlag das Schiff der Wirkung des Windes, und die Corvette brauchte nur zu brassen und abzuwarten, um sich eine Viertelstunde später derselben quer gegenüber zu befinden.

Da rollte ein furchtbarer Geschützdonner über das Wasser hin. Auf weniger als eine halbe Kabellänge hatte die »Syphanta« vom Steuerbord eine ganze Breitseite abgegeben. Die Brigantine wurde durch diese Lawine von Eisen fast in die Höhe gehoben, doch war nur der über das Wasser aufragende Theil des Rumpfes getroffen worden, und sie sank deshalb noch nicht.

Der Capitän, dessen Mannschaft durch diese letzte Salve noch einmal decimirt worden war, sah nun wohl ein, daß er nicht länger Widerstand leisten konnte, und strich also die Flagge.

Binnen wenigen Minuten schon stießen die Boote der Corvette an die Brigantine und holten die noch Ueberlebenden von derselben ab. Dann setzte man das Schiff in Flammen und es brannte hellauf bis hinunter zur Schwimmlinie.

Erst als das Feuer diese erreicht, versank es lautlos in den Fluten.

Die »Syphanta«hatte hiermit ein gutes und nützliches Werk gethan. Wer der Anführer dieser Flottille war, wie er hieß, woher er stamme und was er früher getrieben, das sollte man niemals erfahren, denn er verweigerte es hartnäckig, auf die Fragen Antwort zu geben, die man bezüglich dieser Verhältnisse an ihn stellte. Auch seine Leute bewahrten ein beharrliches Schweigen, und vielleicht wußten diese, wie es damals öfters vorzukommen pflegte, nicht einmal selbst etwas von dem Vorleben dessen, der sie befehligte. Daß sie jedoch Seeräuber waren, daran konnte ein Zweifel nicht aufkommen, und so ließ man denn der Gerechtigkeit ihren Lauf.

Das Erscheinen und Verschwinden der Sacoleve hatte in Henry d’Albaret doch ganz eigenthümliche Gedanken wachgerufen. Die Umstände, unter welchen sie eben den Hafen von Thasos verließ, mußten sie ihm erst recht verdächtig erscheinen lassen, da sie allem Anscheine nach sich das eben im Gange befindliche Gefecht zunutze gemacht hatte, um sicherer zu entkommen. Jedenfalls fürchtete sie, in die Nähe der »Syphanta« zu kommen, die sie wohl erkannt haben mochte. Ein ehrbares Schiff wäre da ganz ruhig im Hafen geblieben, da die Piraten sich von demselben jetzt ja nur zu entfernen trachteten. Diese »Karysta« dagegen hatte sich, selbst auf die Gefahr hin, jenen in die Hände zu fallen, beeilt, den Anker zu lichten und in See zu stechen. Zweideutiger hätte sie gar nicht verfahren können, und man durfte sich gewiß fragen, ob sie mit den Seeräubern nicht in geheimem Bunde stand. Den Commandanten Henry d’Albaret hätte es in der That gar nicht verwundert, Nicolas Starkos als einen Spießgesellen derselben zu erkennen. Leider konnte er jetzt, dessen Spuren wiederzufinden, nur noch auf einen glücklichen Zufall rechnen. Allmählich sank die Nacht herab und die »Syphanta« verlor, da sie einen mehr südlichen Curs einhielt, alle Aussicht, die Sacoleve noch einmal zu treffen. So sehr es Henry d’Albaret auch bedauerte, sich diese Gelegenheit, Nicolas Starkos zum Gefangenen zu machen, haben entgehen zu lassen, so mußte er doch wohl darauf verzichten, aber er hatte ja seine Pflicht gethan. Der Erfolg dieses Kampfes bei Thasos bestand in der Zerstörung von fünf Fahrzeugen, ohne daß die Besatzung der Corvette dabei besonders Schaden gelitten hatte. Vielleicht war durch denselben wenigstens für einige Zeit die allgemeine Sicherheit in dem nördlichen Theile des Archipels gewährleistet.

Elftes Capitel


Elftes Capitel

Signale ohne Antwort.

Acht Tage hindurch nach dem Gefechte bei Thasos durchkreuzte die »Syphanta«, nachdem sie alle Buchten der türkischen Küste von Cavale bis Orphana durchsucht, den Golf von Contessa, segelte darauf vom Cap Deprano bis zum Cap Paliuri, zwischen den Einfahrten nach den Golfen von Monte Santo und Cassandra; endlich im Laufe des 15. April verlor sie nach und nach die Gipfel des Berges Athos aus dem Gesicht, dessen höchste Spitze bis auf nahezu zweitausend Meter über die Meeresfläche hinaufsteigt.

Im ganzen Verlaufe dieser Fahrt wurde kein einziges verdächtiges Schiff beobachtet. Wiederholt bemerkte man wohl türkische Geschwader; die »Syphanta« aber, welche unter korslötischer Flagge segelte, glaubte keine Veranlassung zu haben, sich mit diesen Schiffen in Verbindung zu setzen, welche deren Commandant lieber mit Kanonenschüssen, als durch Abnehmen des Hutes begrüßt hätte.

Unter diesen Umständen erhielt Henry d’Albaret – es war am 26. April – die Nachricht von einem hochwichtigen Ereignisse. Die verbündeten Mächte hatten sich nämlich dahin geeinigt, daß jede Verstärkung, welche den Truppen Ibrahim’s auf dem Seewege zu geführt würde, angehalten werden solle. Rußland ging sogar mit einer offenen Kriegserklärung gegen den Sultan vor. Die Lage Griechenlands verbesserte sich also mehr und mehr, und wenn darin auch noch mehrere Verzögerungen eintraten, so ging das Land doch sicher der Erlangung seiner Unabhängigkeit entgegen.

Am 30. April war die Corvette bis tief in den Hintergrund von Salonichi eingedrungen das heißt, sie hatte den für die Kreuzfahrt in Aussicht genommenen nördlichsten Punkt erreicht. Hier fand sie noch Gelegenheit, auf einige Schebeks, Senalen und Polakren Jagd zu machen, welche ihr nur entkamen, indem sie sich auf den Strand flüchteten. Wenn die Mannschaft derselben auch nicht vollständig vernichtet wurde, so gelang es doch wenigstens, den größten Theil jener Fahrzeuge dienstuntauglich zu machen.

Die »Syphanta« schlug nun wieder einen südlichen Curs ein, um die Südränder des Golfs von Salonichi sorgfältig zu durchsuchen. Jedenfalls war aber ihre Anwesenheit hier überall hin gemeldet worden, denn nirgends ließ sich nur ein einziger Seeräuber sehen, dem sie hätte den verdienten Proceß machen können.

Da ereignete sich ein eigenthümliches, so gut wie unerklärliches Vorkommniß an Bord der Corvette.

Am 10. Mai, gegen sieben Uhr Abends, als Henry d’Albaret in seine Cajüte eintrat, welche das ganze Hintertheil der »Syphanta« einnahm, fand derselbe einen auf seinem Tische liegenden Brief. Er nahm denselben auf, näherte ihn der Hängelampe, welche an der Decke schwankte, und las dessen Adresse.

Die Aufschrift desselben lautete folgendermaßen:

»An den Capitän Henry d’Albaret, Befehlshaber der Corvette »Syphanta«, z. Z. in See«.

Henry d’Albaret glaubte diese Schriftzüge wieder zu erkennen. Sie glichen offenbar vollkommen denjenigen des Schreibens, das er früher einmal in Scio empfangen und in dem er die Aufforderung erhielt, einen an Bord der Corvette frei gewordenen Platz einzunehmen.

Der erwähnte, diesmal auf so eigenthümliche Weise, und ohne daß an eine Vermittelung der Post zu denken war, eingetroffene Brief war von folgendem Inhalt:

 

»Wenn der Commandant Henry d’Albaret seine Fahrtdispositionen so einrichten kann und will, daß er bei seinen Kreuzzügen im Archipel in der ersten Septemberwoche in den Gewässern der Insel Scarpanto eintrifft, so wird er dem Heile Aller und den ihm anvertrauten Interessen die besten Dienste leisten.«

Der Brief zeigte, ebensowenig wie der nach Scio gelangte, eine Datumangabe und eine Unterschrift. Und als Henry d’Albaret beide mit einander verglich, überzeugte er sich noch einmal, daß dieselben von der nämlichen Hand herrührten.

Wie sollte er sich die Sache erklären? Den ersten Brief hatte er auf gewöhnlichem Wege durch die Post erhalten; diesen zweiten konnte nur eine an Bord befindliche Person auf seinen Tisch gelegt haben. Nothwendiger Weise mußte also die betreffende Person das Schreiben schon seit Anfang der Fahrt in Besitz gehabt haben, oder es war während eines der letzten Hafenaufenthalte der »Syphanta« nach dieser gelangt. Der Brief befand sich auch noch nicht an seiner jetzigen Stelle, als der Commandant heute seine Cajüte zum letzten Male verließ, was etwa vor einer Stunde gewesen sein mochte, um sich nach dem Deck zu begeben und seine Befehle für die kommende Nacht zu ertheilen. Unbedingt war derselbe also seit weniger als einer Stunde auf den Tisch in der Cajüte niedergelegt worden.

Henry d’Albaret klingelte.

Ein Bootsmann erschien.

»Wer ist hierher gekommen, seit ich nach dem Verdeck hinaufstieg? fragte Henry d’Albaret.

– Niemand, Herr Commandant, antwortete der Matrose.

– Niemand?… Hätte nicht irgend Jemand hier hineintreten können, ohne daß Du es bemerkt hättest?

– Nein, Herr Commandant, denn ich habe diese Thür inzwischen keinen Augenblick verlassen.

– Es ist gut.«

Der Bootsmann zog sich zurück, nachdem er die Hand an die Mütze gelegt hatte.

»Es erscheint mir wirklich selbst fast unmöglich, sprach Henry d’Albaret für sich, daß ein Mann vom Schiffe hätte ungesehen durch diese Thür eindringen können. Möglicherweise hatte Jemand, gedeckt durch die zunehmende Dunkelheit, doch bis zur äußersten Galerie hinschleichen und durch ein Fenster des Achters hereinschlüpfen können.«

Henry d’Albaret untersuchte also die stückpfortenähnlichen Fensteröffnungen, welche nach dem Spiegel der Corvette zu lagen. Diese aber, wie auch die seines Schlafraumes, erwiesen sich von innen geschlossen. Es war also unbedingt unmöglich, daß eine von außen kommende Person durch eine dieser Oeffnungen hätte gelangen können.

Das ganze Vorkommniß war nicht dazu angethan, in Henry d’Albaret die mindeste Beunruhigung zu erregen, sondern höchstens einige Ueberraschung und vielleicht jenes Gefühl unbefriedigter Neugier, dem man sich einer schwer erklärlichen Thatsache gegenüber ja nicht verschließen kann. Sicher war hierbei nur das Eine, daß der anonyme Brief auf irgend eine Weise an seine Adresse gelangt, und daß derjenige, der ihn empfangen sollte, kein anderer war, als der Befehlshaber der »Syphanta«.

Nach einiger Ueberlegung beschloß Henry d’Albaret, nichts von der ganzen Sache zu erwähnen, auch nicht einmal gegen seinen zweiten Officier. Wozu hätte es auch gedient, mit ihm davon zu sprechen? Der geheimnißvolle Briefschreiber, mochte es nun sein, wer es wollte, wäre dadurch doch gewiß auch nicht an’s Licht gekommen.

Nun drängte sich dem Commandanten die Frage auf, ob er der in dem Briefe enthaltenen Mahnung Folge geben sollte.

»Gewiß! sagte er für sich. Der, von dem der erste, mir auf Scio zugegangene Brief herrührte, hat mich ja nicht betrogen mit der Meldung, daß im Stabe der »Syphanta« ein Platz für mich ledig sei. Warum sollte er mich jetzt, beim zweiten Male, damit irre führen, daß er mir in der ersten Septemberwoche die Insel Scarpanto anzulaufen gebietet? Wenn er das thut, kann es nur im Interesse der mir anvertrauten Mission geschehen sein. Ja, ich werde meinen Fahrplan ändern und zur bestimmten Zeit da sein, wo ich offenbar erwartet werde.«

Henry d’Albaret verschloß sorgfältig den Brief, der ihm diese neuen Instructionen brachte; dann holte er seine Seekarten hervor und begann eine neue Kreuzfahrt auszuarbeiten, um sich während der vier, bis Ende August noch übrigen Monate nutzbringend zu beschäftigen.

Die Insel Scarpanto liegt im Südosten, am anderen Ende des Archipels, d. h. in gerader Linie einige hundert Lieues entfernt. Es konnte der Corvette also nicht an Zeit fehlen, die verschiedenen Küstenpunkte Moreas, an denen sich Seeräuber so leicht verbergen können, zu untersuchen, ebenso wie die ganze Gruppe der Cykladen, die vom Eingange des Golfs von Aegina bis zur Insel Kreta verstreut sind.

Die Verpflichtung, sich zur bestimmten Zeit in Sicht der Insel Scarpanto zu befinden, konnte also die vom Commandanten Henry d’Albaret vorher festgestellte Segelordre nicht besonders beeinflussen. Was er zu thun beschlossen, wollte und konnte er ausführen, ohne einen wichtigeren Punkt aus seinem Programme zu streichen.

So fuhr die »Syphanta« also am 20. Mai weiter, um nach oberflächlicher Besichtigung der kleinen Inseln Pelerissa, Peperi, Sarakino und Skantxura im Norden von Negropontis die Insel Scyros sorgfältiger zu durchsuchen.

Scyros ist eine der bedeutendsten der neun Inseln jener Gruppe, welche das Alterthum als die Heimat der neun Musen zu bezeichnen pflegte. In ihrem sicheren, geräumigen und guten Ankergrund bietenden Hafen St. Georg konnte sich die Besatzung der Corvette leicht mit frischen Nahrungsmitteln, mit Lämmern, Rebhühnern, Weizen und Gerste versorgen und hinreichenden Vorrath an dem vorzüglichen Wein einnehmen, den das Land in großer Menge erzeugt. Diese Insel, welche in den halb mythologischen Ereignissen des trojanischen Krieges, in dem die Namen eines Lykomedes, Achilles und Ulysses besonders hervorragen, eine große Rolle spielte, sollte nun bald unter der Eparchie von Euböa zum neuen Königreiche Griechenland gehören.

Da das Gestade von Scyros so vielfach von Baien und Buchten zerschnitten ist, in welchen Seeräuber ein bequemes Versteck finden können, so ließ Henry d’Albaret dieselben sehr genau durchsuchen. Während die Corvette in der Entfernung weniger Kabellängen gegengebraßt lag, ließen deren Boote keine einzige Stelle ununtersucht.

Auch diese Nachforschungen blieben ohne Ergebniß, die Schlupfwinkel waren leer. Die einzigen Nachrichten, welche der Commandant von den Behörden der Insel erhielt, liefen darauf hinaus, daß vor etwa einem Monate im benachbarten Gewässer mehrere Handelsschiffe von einem unter Seeräuberflagge segelnden Fahrzeuge angegriffen, beraubt und zerstört worden seien, sowie daß man diese freche Schandthat dem berüchtigten Sacratif zuschreibe. Worauf sich diese Annahme gründete, vermochte freilich Niemand zu sagen, eine so große Unsicherheit herrschte allein über die wirkliche Existenz der betreffenden Persönlichkeit.

Nach fünf- bis sechstägigem Aufenthalt verließ die Corvette Scyros wieder. Gegen Ende des Monats näherte sie sich den Küsten der großen Insel Euböa, welche auch Negropontis genannt wird, deren Gestade sie auf eine Strecke von über vierzig Lieues sorgfältig in Augenschein nahm.

Bekanntlich war diese Insel eine der ersten, welche bei Beginn des Krieges 1821 in die Bewegung eintrat; die Türken hielten sich hier jedoch, nachdem sie sich in der Citadelle von Negropontis verschanzt und auch in der von Karystos festen Fuß gefaßt, mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit. Als sie dann durch Truppen Jussuf Paschas Verstärkung erhalten hatten, durchstreiften sie die ganze Insel und überließen sich ihren gewohnten Mordbrennereien, bis der griechische Hauptmann Diamantis denselben im September 1823 endlich ein Ziel setzte. Es gelang diesem, die ottomanischen Soldaten unerwartet zu überfallen, wobei er einen großen Theil derselben über die Klinge springen ließ und die Anderen zwang, sich über die Meerenge nach Thessalien zu flüchten.

Am Ende blieb aber doch der Vortheil auf Seite der Türken, welche eine bedeutende Uebermacht hatten. Nach einem vergeblichen Versuche des Obersten Fabvier und des Escadronschefs Regnaud de Saint Jean d’Angély, im Jahre 1826, blieben jene auf die Dauer Herren der Insel.

Sie waren es auch noch zu der Zeit, als die »Syphanta« in Sicht der Küsten von Negropontis vorüberkam. Von seinem Schiffe aus konnte Henry d’Albaret diesen Schauplatz eines der blutigsten Kämpfe übersehen, an dem er selbst rühmlichst Antheil genommen hatte. Jetzt schlug man sich daselbst nicht mehr, und nach Anerkennung des neuen Königreichs bildete die Insel Euböa mit ihren sechstausend Einwohnern eine der Nomarchien Griechenlands.

So gefährlich es auch war, auf diesem Meere Polizei zu üben, da das manchmal unter den türkischen Kanonen selbst geschah, setzte die Corvette dennoch ihre Kreuzfahrt fort und zerstörte wohl noch zwanzig Piratenschiffe, welche sich bis nach der Gruppe der Cykladen heranwagten.

Diese Expedition hatte den größten Theil des Juni in Anspruch genommen. Später segelte die Corvette mehr nach Süden hinab. In den letzten Tagen des Monats befand sie sich auf der Höhe von Andros, der ersten der Cykladen und nahe der südlichen Spitze von Euböa gelegen, eine sehr patriotische Insel, deren Bewohner sich gleichzeitig mit denen von Psara gegen die ottomanische Gewalt erhoben.

Der Commandant d’Albaret hielt es nun für angezeigt, seinen Curs zu ändern, um sich mehr den Küsten des Peloponnes zu nähern, und wandte sich auf kürzestem Wege direct nach Südwesten. Am 2. Juni bekam er die Insel Zea, das alte Ceos oder Cos, in Sicht, das von dem hohen Gipfel des Elias-Berges beherrscht wird.

Einige Tage ankerte die »Syphanta« in dem Hafen von Zea, einem der besten der hiesigen Gegend. Hier fanden Henry d’Albaret und seine Officiere mehrere jener Zeoten wieder, welche in den ersten Jahren des Krieges ihre Waffengefährten gewesen waren. Die Corvette hatte sich denn auch des herzlichsten Empfanges zu erfreuen. Da indeß kaum ein Pirat daran denken konnte, sich in die Buchten dieser Insel zu flüchten, so zögerte die »Syphanta« nicht, ihre Kreuzfahrt wieder aufzunehmen, und umschiffte am 5. Juli das Cap Colonna an der Südostspitze von Attika.

Gegen Ende der Woche ging die Fahrt etwas langsamer vor sich, weil es am Eingang des Golfs von Aegina, der in die griechische Landveste so tief, nämlich bis zum Isthmus von Korinth, einschneidet, an Wind fehlte. Schlaff hingen die Segel der »Syphanta« herab, und diese konnte weder nach der einen noch nach der anderen Seite an Weg gewinnen. Wenn sie in diesen wenig besuchten Meeren einige hundert Ruderboote entschlossen angegriffen hätten, würde sie gewiß Mühe gehabt haben, sich wirksam zu vertheidigen.

Die Besatzung mußte sich auch stets bereit halten, einen etwaigen Angriff zurückzuschlagen, und that gewiß sehr wohl daran.

Es erschienen in der That zuweilen verschiedene Boote, deren Absichten kaum zweifelhaft sein konnten; sie wagten aber doch, Angesichts der Geschütze und der Musketen der Corvette, nicht allzunahe heranzukommen.

Am 10. Juli erhob sich wieder ein mäßiger Wind aus Norden – ein günstiges Ereigniß für die »Syphanta«, welche, nachdem sie fast in Sicht der kleinen Stadt Damala vorübergekommen war, jetzt schnell das Cap Skyli an der äußersten Spitze des Golfs von Nauplia umsegeln konnte.

Am 11. erschien sie vor Hydra und zwei Tage später vor Spezzia. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung des Antheils, den die Bewohner dieser beiden Inseln am Unabhängigkeitskriege nahmen. Zu Anfang desselben besaßen die Hydrioten, Spezzioten und ihre Nachbarn, die Isparioten, über dreihundert Handelsfahrzeuge. Nachdem sie dieselben, so gut es anging, zu Kriegsschiffen umgewandelt, sandten sie sie, nicht ohne Erfolg, gegen die ottomanische Flotte hinaus. Hier stand die Wiege jener Familien Condurlotis, Tombasis, Miaulis, Orlandos und anderer Vornehmen, welche erst mit ihrem Vermögen und dann auch mit dem eigenen Blute dem Vaterlande die größten Opfer darbrachten. Von hier aus gingen jene furchtbaren Brander aus, welche bald der Schrecken der Türkei werden sollten. Trotz wiederholter innerer Erhebungen, betrat doch niemals der Fuß der Unterdrücker den Boden dieser Inseln.

Gerade als Henry d’Albaret sie besuchte, begannen sie eben, sich von einem Kampfe zurückzuziehen, der auf beiden Seiten nur noch schwach weiter geführt wurde. Die Stunde war jetzt nicht mehr fern, wo auch sie dem neuen Königreiche angeschlossen und aus dem Kreise von Korinth und Argolis zwei Eparchien gebildet wurden.

Am 20. Juli ankerte die Corvette in Hermopolis auf der Insel Syra, der Heimat des getreuen Eumeos, den Homer so hochpoetisch besungen hat. Zur gegenwärtigen Zeit diente sie noch als Zufluchtsort für alle Diejenigen, welche die Türken vom Festland verjagt hatten.

Syra, dessen katholischer Bischof von jeher unter dem Schutze Frankreichs steht, stellte Henry d’Albaret Alles zur Verfügung, was er nur bedurfte. In keinem Hafen des eigenen Vaterlandes hätte der junge Commandant einen freundlicheren Empfang finden können.

In die Freude, sich über alles Erwarten gut aufgenommen zu sehen, mischte sich nur ein einziger Tropfen Wermuth – nämlich der, nicht drei Tage früher hier eingetroffen zu sein.

Bei Gelegenheit eines Gesprächs mit dem französischen Consul berichtete ihm dieser, daß eine Sacoleve, welche den Namen »Karysta« führte und unter griechischer Flagge segelte, kaum sechzig Stunden vorher den Hafen verlassen habe. Daraus konnte er also abnehmen, daß die »Karysta«, als sie während des Gefechtes der Corvette mit den Seeräubern das Weite sachte, sich mehr nach dem südlichen Theil des Archipels gewendet haben müsse.

»Vielleicht weiß man aber, wohin sie gesegelt ist? fragte Henry d’Albaret mit lebhaftem Interesse.

– Nach dem, was ich darüber gehört, erwiderte der Consul, soll sie einen Curs nach den Inseln im Südosten eingeschlagen haben, wenn sie nicht gar nach einem der Häfen von Kreta gegangen ist.

– Sie sind mit dem Capitän derselben nicht in nähere Berührung gekommen? erkundigte sich Henry d’Albaret.

– In gar keine, Herr Commandant.

– Und wissen auch nicht, ob dieser Capitän sich Nicolas Starkos nannte?

– Das weiß ich nicht.

– Und nichts erweckte hier den Verdacht, daß diese Sacoleve zu der Seeräuber-Flottille gehören möchte, welche diesen Theil des Archipels so unsicher macht?

– Nichts; doch wenn dem so war, antwortete der Consul, ist es erst recht nicht zu verwundern, daß sie sich nach Kreta gewendet hätte, von dem gewisse Häfen von jeher für diese Uebelthäter offen stehen.«

Diese Mittheilungen erregten den Commandanten der »Syphanta« nicht wenig, sowie Alles, was direct oder indirect mit dem Verschwinden Hadjine Elizundo’s in Verbindung stand. Es war gewiß mehr als unangenehm, so kurze Zeit nach der Abfahrt der Sacoleve hier eingetroffen zu sein.

Da diese jedoch nach Süden zu abgesegelt war und die Corvette denselben Curs einschlagen sollte, lag ja wenigstens eine Möglichkeit vor, sie noch wieder zu finden. Deshalb verließ denn auch Henry d’Albaret, der nichts mehr wünschte, als jenem Nicolas Starkos Auge in Auge gegenüber zu stehen, Syra noch am nämlichen Abend, am 21. Juli, da sich eine schwache Brise erhob, welche nach den Anzeichen des Barometers jedenfalls bald auffrischen mußte.

Im Laufe der nächsten vierzehn Tage spürte der Commandant Henry d’Albaret nun ebenso viel der Sacoleve wie den Piraten nach. Seiner Meinung nach verdiente die »Karysta« entschieden jenen gleichgestellt und ebenso behandelt zu werden, und wenn sich ihm Gelegenheit böte, würde er ja sehen, was mit ihr zu thun sei.

Trotz aller Bemühungen gelang es der Corvette zunächst aber nicht, eine Spur der Sacoleve zu entdecken. In Naxos, dessen Häfen alle durchsucht wurden, war die »Karysta« nicht vor Anker gegangen. Inmitten der Eilande und der Klippen, welche genannte Inseln umgeben, war man nicht glücklicher. Außerdem erschienen hier auch gar keine Seeräuber, obgleich sie gerade diese Gegenden sonst mit Vorliebe besuchten. Der Handelsverkehr zwischen den reichen Cykladen ist nämlich ein sehr lebhafter und die Aussicht auf reiche Beute mußte jene ja hierher verlocken.

Dasselbe war in Paras der Fall, das nur ein einfacher Canal von sieben Seemeilen Breite von Naxos trennt. Nicolas Starkos hatte hier weder den Hafen von Parkia, Naussa oder Santa Maria, noch den von Agula oder Dico angelaufen. Allem Anscheine nach mochte die Sacoleve also, wie der Consul von Syra angenommen hatte, nach irgend einem Küstenpunkte von Kreta abgefahren sein.

Am 9. August ankerte die »Syphanta« im Hafen von Milo. Diese bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sehr reiche, seitdem aber durch vulkanische Ausbrüche verarmte Insel leidet jetzt stark unter den ungesunden Ausdünstungen des Erdbodens, und ihre Bevölkerung nimmt in Folge dessen mehr und mehr ab.

Hier erwiesen sich alle Nachforschungen ebenso vergeblich. Nicht allein die »Karysta« war nicht sichtbar, es bot sich auch keine Gelegenheit, Seeräuber zu verfolgen, welche gewöhnlich in den Gewässern der Cykladen sehr häufig erscheinen. Dieser auffällige Umstand legte die Frage nahe, ob jenen Schurken nicht das Erscheinen der »Syphanta« so frühzeitig gemeldet worden sein möge, daß dieselben hinreichend Zeit fanden, zu entfliehen. Die Corvette hatte den räuberischen Burschen im Norden des Archipels gerade genug Schaden zugefügt, so daß die des Südens es wohl vorziehen mochten, jedes Zusammentreffen mit derselben zu vermeiden.

Aus einem oder dem anderen Grunde war die Gegend hier wenigstens jetzt als ungewöhnlich sicher zu bezeichnen, so daß die Handelsfahrzeuge ohne jede Furcht ihre Straße ziehen konnten. Verschiedene jener großen Küstenfahrer, wie Schebecs, Senalen, Polakren, Tartanen, Feluquen, Caravellen, denen man unterwegs begegnete, wurden angesprochen, aus den Antworten ihrer Patrone oder Capitäne konnte der Commandant Henry d’Albaret aber nichts entnehmen, was ihm hätte weitere Aufklärung bieten können.

Jetzt war schon der 14. August herangekommen, und es blieben also bis zu den ersten Tagen des Septembers nur noch wenig über zwei Wochen übrig, wo die Insel Scarpanto aufgesucht werden sollte. Wenn sie die Cykladengruppe verließ, hatte die »Syphanta«auch nur siebenzig bis achtzig Lieues nach Süden zu fahren. Diesen Meerestheil schließt die langgestreckte Küste von Kreta, und schon zeigten sich über dem Horizonte die höchsten, mit ewigem Schnee bedeckten Berggipfel der Insel.

Nach dieser Richtung beschloß der Commandant Henry d’Albaret also zu steuern Wenn er bis nahe in Sicht von Kreta kam, hatte er dann geraden Wegs nur nach Osten zu segeln, um nach Scarpanto zu gelangen.

Von Milo steuerte die »Syphanta« jedoch noch in südlicher Richtung bis zur Insel Santorin und untersuchte auch die kleinsten Schlupfwinkel ihrer schwärzlichen Felsengestade. Hier ist höchst gefährliches Fahrwasser, weil unter dem Drucke des vulkanischen Feuers jeden Augenblick eine neue Klippe auf steigen kann. Dann lief die Corvette mit dem Berge Ida, dem jetzigen Pfilanti, als Zielpunkt, der Kreta mit mehr als siebentausend Fuß überragt, unter günstiger Westnordwestbrise, welche ihr alle Segel beizusetzen erlaubte, auf diese Insel zu.

Am übernächsten Tage, dem 15. August, zeichneten die Höhenzüge derselben, dieser größten Insel des Archipels, auf klarem Horizonte ihre malerischen Linien vom Cap Spada bis zum Cap Stavros hin ab. Eine scharfe Einbiegung der Küste verbarg noch die Bucht, in deren Hintergrund Candia, die Hauptstadt des Landes, gelegen ist.

»Beabsichtigen Sie, Herr Commandant, fragte der Capitän Todros, in einem der Häfen der Insel vor Anker zu gehen?

– Kreta befindet sich noch immer in den Händen der Türken, antwortete Henry d’Albaret, und ich meine, wir haben daselbst nichts zu thun. Den Mittheilungen nach, welche ich unlängst in Syra erhielt, sind die Soldaten Mustapha’s, nachdem sie sich Retimos bemächtigt, trotz der hochlöblichen Tapferkeit der Sphakioten, Herren des ganzen Landes geworden.

– Ja, es sind kühne Leute, diese Bergbewohner, sagte der Capitän Todros, und haben sich schon seit Beginn des Krieges eine weitreichende Achtung erworben, durch ihren Muth…

– Freilich durch ihren Muth… aber auch durch ihre Habgier, antwortete Henry d’Albaret.

Vor kaum zwei Monaten hatten sie das Schicksal Kretas eigentlich in der Hand. Mustapha war mit seinen Leuten nahe daran, vernichtet zu werden, da warfen dessen Soldaten aber auf seinen Befehl Edelsteine, Schmucksachen, kostbare Waffen und Alles, was sie Werthvolles bei sich hatten, vor dem Feinde weg, und während die Sphakioten sich zerstreuten, um diese Gegenstände aufzulesen, konnten die Türken durch den Engpaß flüchten, in dem sie sonst rettungslos hätten, den Untergang finden müssen.

– Das ist in der That recht betrübend, Herr Commandant, doch Alles in Allem sind die Kretenser keine wirklichen Griechen.«

Es darf sich Niemand wundern, den zweiten Officier der »Syphanta«, der von rein hellenischer Abstammung war, eine solche Sprache führen zu hören.

In seinen Augen waren die Kretenser, trotz der Beweise ihrer Vaterlandsliebe doch keine Griechen, und sie sollten das auch bei der endgiltigen Bildung des neuen Königreiches nicht einmal werden. Ebenso wie Samos blieb Kreta zunächst unter der Oberhoheit der Pforte, wenigstens bis zum Jahre 1832, zu welcher Zeit der Sultan gezwungen wurde, alle seine Rechte auf die Insel an Mehemet Ali abzutreten.

Bei der gegenwärtigen Lage der Dinge hatte der Commandant Henry d’Albaret keinerlei Interesse, mit den verschiedenen Häfen Kretas in Verbindung zu treten. Candia war zum Waffenplatz der Aegypter geworden, und von hier aus hatte der Pascha seine wilden Horden nach Griechenland entsendet. Was dann Canea anging, hätte dessen Einwohnerschaft auf Betrieb der ottomanischen Behörden der korfiotischen Flagge, welche am Topp der »Syphanta« wehte, wohl einen üblen Empfang bereiten können. Endlich sah Henry d’Albaret voraus, daß er auch weder in Gira-Petra, noch in Suda oder Cisamos würde Nachrichten erhalten können, die ihm Gelegenheit gegeben hätten, seine Kreuzfahrt durch einen wichtigen Fang zu krönen.

»Nein, sagte er zu dem Capitän Todros, es scheint mir unnütz, die Nordküste zu untersuchen; wohl könnten wir aber die Insel im Nordwesten umschiffen, dann um das Cap Spada segeln und einen oder zwei Tage vor Grabusa kreuzen.«

Damit geschah entschieden das Richtigere. In den übel berüchtigten Gewässern Grabusas mußte sich der »Syphanta« jedenfalls am ehesten eine Gelegenheit bieten, die ihr seit länger als einem Monat versagt geblieben war, nämlich einige Breitseiten auf die Seeräuber des Archipels abzugeben.

Wenn die Sacoleve außerdem, wie sich ja annehmen ließ, nach Kreta gesegelt war, so lag auch die Vermuthung nahe, daß sie im Hafen von Grabusa vor Anker gegangen sein werde, und das war ein weiterer Grund für den Commandanten Henry d’Albaret, alle Zugänge zu diesem Hafen genau in Augenschein zu nehmen und zu durchsuchen.

Zu jener Zeit durfte Grabusa in der That noch als ein wirkliches Seeräubernest gelten. Vor nahe sieben Monaten hatte es keines geringeren Aufgebots, als dessen einer englisch-französischen Flotte und einer Abtheilung regulären griechischen Militärs bedurft, um diesen Schlupfwinkel der schlimmsten Uebelthäter einmal auszuräumen. Was dabei am auffallendsten erschien, war, daß die Behörden der Insel es damals selbst verweigerten, ein Dutzend jener Piraten auszuliefern, welche der Befehlshaber des englischen Geschwaders beanspruchte. Dieser sah sich deshalb genöthigt, gegen die Citadelle das Feuer zu eröffnen, mehrere Schiffe niederzubrennen und selbst eine Landung vorzunehmen, um Satisfaction zu erhalten.

Die Vermuthung war also eine sehr natürliche, daß die Piraten nach dem Abzug des verbündeten Geschwaders mit Vorliebe wieder nach Grabusa geflüchtet waren, da sie hier so unerwartete Unterstützung gefunden hatten. Henry d’Albaret entschied sich deshalb auch dahin, nach Scarpanto längs der Südküste von Kreta zu segeln, um auf diese Weise bei Grabusa vorbeizukommen. Er gab also seine diesbezüglichen Befehle und der Capitän Todros beeilte sich, diese ausführen zu lassen. Die Witterung gestaltete sich ganz nach Wunsch. Uebrigens bildet unter diesem glücklichen Klima der December den Anfang des Winters und der Januar schon dessen Ende. Welche bevorzugte Insel, dieses Kreta, das Vaterland des Minos und des alten Ingenieurs Dädalus! Hierher sandte Hyppokrates auch seine zahlreiche Kundschaft aus Griechenland, das er durchstreifte, indem er die Kunst, Kranke zu heilen, lehrte.

Mit den Segeln so dicht wie möglich am Winde, lavirte die »Syphanta« in der Weise, um in größter Nähe das Cap Spada zu umschiffen, das sich am Ende der großen, zwischen der Bai von Canea und der von Kisamo vorspringenden Landzunge befindet. Gegen Abend kam das Schiff an derselben vorüber. Während der Nacht – einer jener so lichthellen Nächte des Morgenlandes – umsegelte die Corvette den äußersten Punkt der Insel. Ein Umlegen der Segel mit dem Winde von vorn genügte, dieselbe wieder in die Richtung nach Süden zu drängen, und am Morgen glitt sie unter vermindertem Segelwerk in kurzer Entfernung vor der Einfahrt nach Grabusa hin.

Sechs volle Tage beschäftigte sich der Commandant Henry d’Albaret mit Beobachtung der Westküste zwischen Grabusa und Kisamo. Mehrere Fahrzeuge, Feluquen oder Schebecs, welche friedlichem Handel dienten, verließen den Hafen. Die »Syphanta« sprach einige derselben an, hatte aber keine Ursache, bei ihren Antworten irgend welchen Verdacht zu schöpfen. Auf die an sie gerichteten Fragen wegen der Seeräuber, die in Grabusa etwa Unterkunft gesucht haben könnten, zeigten sie sich dagegen sehr zurückhaltend. Man erkannte leicht, daß sie sich zu compromittiren fürchteten. Henry d’Albaret konnte nicht einmal genau erfahren, ob die Sacoleve »Karysta« sich augenblicklich im Hafen daselbst befand.

Die Corvette erweiterte nun ihr Beobachtungsfeld. Sie untersuchte die Umgegend zwischen Grabusa und dem Cap Erlo. Dann umsegelte sie unter günstiger Brise, welche während des Tages auffrischte und mit einbrechender Nacht abflaute, jenes Cap und begann eine Fahrt in möglichster Nähe vom Ufer des Lybischen Meeres, welches eine weit leichtere Seefahrt bietet und weniger von Vorgebirgen und Landspitzen zerschnitten und durchbrochen ist, als das auf der entgegengesetzten Seite liegende Meer von Kreta. Am nördlichen Horizonte stieg nun die gewaltige Kette der Asprovuna-Berge empor, welche nach Osten zu von dem poetischen Berge Ida überragt wird, dessen ewige Schneefelder selbst der glühenden Sonne des Archipels widerstehen.

Ohne in einen der kleinen Häfen der Küste einzulaufen, machte die Corvette doch mehrmals, etwa je eine halbe Meile von Rumeli, Anipoli und Sphakia Halt; die Wachtposten an Bord konnten jedoch niemals von einem einzigen Seeräuberfahrzeuge in den Gewässern der Insel etwas melden.

Nachdem sie den Linien der großen Bai von Massara gefolgt, umschiffte die »Syphanta« am 27. August das Cap Matala, die südlichste Spitze von Kreta, deren Breite an dieser Stelle nicht mehr als zehn bis elf Lieues beträgt.

Es hatte nicht den Anschein, als sollte diese Untersuchung auch nur das geringste Resultat herbeiführen. Gewöhnlich begegnet man nur sehr wenigen Schiffen in dieser Breite des Lybischen Meeres. Sie halten ihren Curs entweder mehr im Norden oder im Süden des Archipels, indem sie sich den Küsten Aegyptens nähern. Hier traf man weiter nichts, als vereinzelte, nahe den Felsen verankerte Fischerboote, oder von Zeit zu Zeit höchstens einige jener langen Barken, die mit Seeschnecken beladen waren, das heißt mit einer Molluskenart, welche auf allen Inseln dieser Gegend einen sehr umfangreichen Handelsartikel bildet.

Wenn die Corvette nun in dem vom Cap Matala abgeschlossenen Theil des Gestades nichts gefunden hatte, wo die zahlreichen Eilande so viele kleinere Fahrzeuge verbergen können, war auch kaum anzunehmen, daß sie in dem zweiten Theile der südlichen Küste mehr begünstigt sein würde. Henry d’Albaret entschied sich deshalb dafür, direct auf Scarpanto zuzusteuern, wenn er damit dort auch etwas eher eintraf, als der geheimnißvolle Brief bestimmt hatte. Da sollte sein Vorhaben am Abend des 29. August plötzlich eine Aenderung erleiden.

Es war um sechs Uhr. Der Commandant, der Capitän und einige Officiere befanden sich auf dem Hintercastell und lugten nach dem Cap Matala aus. Da ließ sich die Stimme eines Mastwächters, der auf der kleinen Bramstange saß, vernehmen.

»Vor Backbord ein Schiff in Sicht!«

Die Fernrohre wurden sofort nach dem bezeichneten, nur einige Meilen vor der Corvette zu sehenden Punkt gerichtet.

»Wahrhaftig, sagte der Commandant Henry d’Albaret, da ist ein Schiff, welches sehr dicht am Lande hinsegelt…

– Und welches das Fahrwasser sehr genau kennen muß, da es sich so nahe an’s Ufer heranwagt, setzte der Capitän Todros hinzu.

– Hat es eine Flagge gehißt?

– Nein, Herr Commandant, antwortete einer der Officiere.

– Beauftragen Sie die Mastwächter, womöglich klar zu stellen, welcher Nationalität jenes Schiff angehört!«

Sein Befehl wurde ausgeführt. Einige Augenblicke später schallte die Antwort herab, daß keine Flagge und kein Wimpel weder an der Gaffelspitze des Fahrzeugs, noch am Top seiner Masten wahrzunehmen sei.

Dagegen war es augenblicklich eben noch hell genug, um, wenn nicht dessen Nationalität, so doch die Größe und Classe des Schiffes zu erkennen.

Es war eine Brigg, deren Großmast eine sehr auffallende Neigung nach rückwärts zeigte. Außerordentlich lang, von sehr feingeschnittener Gestalt, versehen mit besonders hohen Masten und weit ausragenden Raaen, konnte dieselbe, so viel das bei der ziemlich bedeutenden Entfernung abzuschätzen war, wohl einen Gehalt von sieben- bis achthundert Tonnen haben und mußte unter jedem Winde außerordentlich schnell laufen können. Dagegen war trotz Anwendung der besten Fernrohre weder zu unterscheiden, ob das Fahrzeug als Kriegsschiff ausgerüstet war, ob es Kanonen auf dem Verdeck führte, oder Stückpforten, deren Läden ja geschlossen sein konnten, an den Längsseiten hatte.

Jetzt trennte in der That noch eine Strecke von vier Seemeilen die Brigg von der Corvette; außerdem begann es, da die Sonne allmählich hinter den Höhen von Asprovuna versank, langsam zu dämmern; in der Nähe des Landes war es bereits ziemlich dunkel.

»Ein eigenthümliches Schiff! bemerkte der Capitän Todros.

– Man möchte fast annehmen, es suche zwischen der Insel Platana und dem Lande hindurch zu kommen, ließ sich einer der Officiere vernehmen.

– Ja, wie ein Schiff, welches es bereut, sich gezeigt zu haben, meinte der zweite Officier, und das nun bestrebt ist, sich zu verbergen!«

Henry d’Albaret äußerte dazu kein Wort, offenbar theilte er aber die Ansichten seiner Officiere. Die Manövers der Brigg mußten ihm ja, so weit er sie erkennen konnte, gleichfalls höchst verdächtig erscheinen.

»Capitän Todros, begann er endlich, es ist von Wichtigkeit, während der Nacht die Spur dieses Fahrzeuges nicht aus den Augen zu verlieren. Wir wollen darauf achten, bis Tagesanbruch stets in dessen Kielwasser zu bleiben. Da es aber darauf ankommt, daß wir unbemerkt bleiben, so lassen Sie alle Lichter löschen.«

Der zweite Officier ertheilte die diesbezüglichen Befehle. Man fuhr fort, die Brigg zu beobachten, so weit sie unter dem Schutze des hohen Landes zu erkennen war. Als die Nacht weiter herabsank, verschwand sie vollständig, und kein Licht derselben gestattete ferner ihre Lage zu bestimmen.

Am folgenden Morgen befand sich Henry d’Albaret schon beim ersten Tagesgrauen auf dem Vordertheile der Corvette »Syphanta«, in der Erwartung, daß der auf dem Wasser lagernde Dunst sich zerstreuen sollte.

Gegen sieben Uhr erst verschwand der Nebelschleier und alle Fernrohre richteten sich sofort nach Osten.

Die Brigg befand sich noch immer nahe am Lande, auf der Höhe des Caps Alikaporitha, etwa sechs Seemeilen vor der Corvette. Sie hatte während der Nacht also offenbar an Weg gewonnen und ohne daß sie dabei ihre Segeloberfläche vergrößert hatte, denn sie trug noch immer nur die Ober- und Unterbramsegel und die Gaffelsegel am Besan, während Großsegel, Focksegel und Klüverjäger vor wie nach eingebunden lagen.

»Das erscheint freilich nicht wie die Gangart eines Schiffes, welches zu entfliehen sucht, bemerkte der zweite Officier.

– Thut nichts! erwiderte der Commandant. Unsere Aufgabe bleibt es dennoch, dasselbe näher in Augenschein zu nehmen. Lassen Sie direct auf die Brigg zuhalten, Capitän Todros!«

Sofort wurden auf ein Pfeifensignal des Oberbootsmanns die höchsten Segel gehißt, und die Corvette gewann bedeutend an Fahrgeschwindigkeit.

Der Brigg lag aber jedenfalls daran, die vorherige Distanz beizubehalten, denn sie setzte jetzt als Antwort Fock- und Stagsegel bei, aber nichts weiter. Wenn sie die »Syphanta« nicht näher an sich herankommen lassen wollte, so schien sie doch auch nicht darauf auszugehen, diese allzuweit hinter sich zu lassen. Immer hielt sie sich dabei im Fahrwasser der Küste, indem sie der letzteren so nahe als möglich schnell dahin glitt.

Um zehn Uhr Vormittags hatte die Corvette, welche vielleicht durch besseren Segelwind begünstigt wurde, wenn das unbekannte Fahrzeug sie nicht absichtlich ein wenig näher hatte herankommen lassen, wohl vier Seemeilen Wegs gegenüber dem letzteren gewonnen.

Man konnte dasselbe jetzt bequem näher besichtigen. Es trug gegen zwanzig Karonaden und mußte auch ein Zwischendeck haben, obgleich es nur wenig über die Wasserfläche emporragte.

»Die Flagge zeigen!« befahl Henry d’Albaret.

Die Flagge wurde am Ende der Gaffel aufgezogen und zur Erregung größerer Aufmerksamkeit mit einem Kanonenschusse begleitet.

Das bedeutete, daß die Corvette auch die Nationalität des in Sicht befindlichen Schiffes kennen zu lernen wünsche. Auf dieses Signal erfolgte jedoch keine Antwort. Die Brigg veränderte weder ihre Richtung noch ihre Schnelligkeit, drehte aber bald um einen Viertelstrich bei, um die Bai von Keraton zu umsegeln.

»Besonders höflich ist der Bursche nicht! meinten die Matrosen.

– Aber vielleicht klug und weise, ließ sich ein alter Mastwächter vernehmen. Sein so schräg liegender Hauptmast gibt ihm das Ansehen, als hätte er den Hut schief auf dem Ohre sitzen und wollte denselben dadurch, daß er die Leute grüßt, nicht unnöthig abnützen.«

Aus einer der Jagdstückpforten der Corvette donnerte noch ein Kanonenschuß – vergeblich. Die Brigg ließ keine Flagge aufsteigen und setzte ruhig ihren Weg fort, ohne sich um die Aufforderungen der Corvette, welche für sie gar nicht vorhanden zu sein schien, im geringsten zu kümmern.

Jetzt begann nun zwischen den beiden Fahrzeugen eine wirkliche Hetzjagd. An Bord der »Syphanta« war an und zwischen den Masten, am Bugspriet wie am Klüverbaume alles Segelwerk angebracht worden, welches sie nur gleichzeitig führen konnte. Da setzte aber auch die Brigg mehr Leinwand bei und behielt damit ihren Vorsprung unvermindert fort.

»Die hat entschieden eine Teufelsmaschine im Leibe!« rief der alte Mastwächter.

Allmählich entwickelte sich an Bord der Corvette eine wahrhaft wüthende Stimmung, nicht allein bei der Mannschaft, sondern auch bei den Officieren, und mehr als bei allen Uebrigen bei dem ungeduldigen Todros. Bei Gott! Er hätte gern seinen Prisenantheil darum gegeben, wenn er diese Brigg, mochte sie nun sonst welcher Nationalität angehören, hätte ansegeln können.

Die »Syphanta« war am Vordertheile mit einem besonders langen Geschütz bewaffnet, das eine Vollkugel von dreißig Pfund wohl bis auf eine Entfernung von nahezu zwei Seemeilen schleudern konnte.

Ruhig – wenigstens dem äußeren Anscheine nach – gab der Commandant Henry d’Albaret Befehl, scharf zu feuern.

Der Schuß krachte, die Kugel schlug aber nach wiederholtem Ricochettiren etwa zwanzig Faden vor der Brigg ein.

Als einzige Antwort zog dieselbe einige weitere Segel auf, und hatte bald die, sie von der »Syphanta« trennende Entfernung erweitert.

Es war gewiß für einen so vorzüglichen Segler wie die »Syphanta« höchst demüthigend, sowohl auf die Einholung der Brigg, wie auf die wirksame Beschießung derselben zu verzichten.

Inzwischen brach wiederum die Nacht herein. Die Corvette befand sich jetzt nahezu auf der Höhe des Caps Peristera. Der Wind frischte auf, und das so bedeutend, daß es sich nöthig machte, Reefe einzusetzen, um für die Nacht eine geeignetere Segelfläche herzustellen.

Der Commandant befreundete sich schon mit dem Gedanken, daß er bei anbrechendem Tage nichts mehr von dem Schiffe sehen werde, nicht einmal dessen Mastspitzen, die ihm entweder der östliche Horizont oder ein Vorsprung der Küste verbergen würde.

Er täuschte sich.

Bei Sonnenaufgang war die Brigg noch immer in Sicht, segelte ebenso wie vorher und hatte dieselbe Entfernung beibehalten. Man hätte fast sagen können, sie regulire ihre Geschwindigkeit ganz nach der der Corvette.

»Wenn sie uns im Schlepptau hätte, äußerte Einer auf dem Vorderdecke, so wär‘ es ganz dasselbe!«

Der Mann hatte völlig Recht.

In diesem Augenblicke umschiffte die Brigg, nachdem sie in dem Canal Kuphonisi zwischen der gleichnamigen Insel und dem Lande eingelaufen, die Spitze von Kakiatithi, um nach der Ostseite von Kreta zu gelangen.

Es war dabei nicht vorherzusagen, ob sie hier in einen Hafen flüchten oder in einer Vertiefung des engen Canals werde verschwinden wollen.

Auch das war nicht der Fall. Gegen sieben Uhr Morgens steuerte die Brigg ganz frei nach Südosten und wandte sich damit nach dem offenen Meere.

»Sollte sie gar nach Scarpanto segeln?« fragte sich Henry d’Albaret etwas verwundert.

Und bei einer allmählich so weit auffrischenden Brise, daß ein Theil der Takelage dabei zu brechen drohte, setzte er diese Verfolgung ohne Ende fort, welche ebenso das Interesse seiner Mission, wie die Ehre seines Schiffes ihm aufzugeben nicht gestattete.

Hier in diesem Theile des Archipels, der nach allen Windrosen hin offen lag, inmitten der ausgedehnten Meeresfläche, auf deren Luftbewegungen die Bergkämme keinen weiteren hindernden Einfluß äußerten, schien die »Syphanta« gegenüber der Brigg einigen Vorsprung zu gewinnen.

Gegen ein Uhr Mittags war die Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen bis auf drei Seemeilen vermindert. Auch jetzt wurden einige Vollkugeln abgefeuert, konnten ihr Ziel aber nicht erreichen und brachten in der Bewegung der Brigg keinerlei Aenderung hervor.

Schon schimmerten hinter der kleinen Insel Caso die Höhen von Scarpanto am Horizonte. Die erstere hängt gewissermaßen an der letzteren, ebenso wie Sicilien an Italien hängt.

Der Commandant Henry d’Albaret, seine Officiere und Mannschaften konnten nun endlich hoffen, nähere Bekanntschaft zu machen mit diesem geheimnißvollen Schiffe, welches so unhöflich war, weder auf Signale noch auf Geschosse zu antworten.

Als der Wind aber gegen fünf Uhr Abends wieder abflaute, gewann auch die Brigg den früheren Vorsprung wieder.

»Ah, der Schurke!… Der Teufel ist mit dem Kerl im Bunde!.. Er wird uns doch entwischen!« rief der Capitän Todros.

Alles, was ein erfahrener Seemann irgend nur thun kann, um die Fahrtschnelligkeit zu steigern, geschah nun sofort. So wurden die Segel benetzt, um deren Gewebe dichter zusammen zu ziehen, die Hängematten in den Wind gebracht u. s. w. Das hatte auch einigen Erfolg. Gegen sieben Uhr Abends, kurz nach Sonnenuntergang, trennten höchstens noch zwei Seemeilen die feindlichen Schiffe.

Unter diesen Breiten tritt die Nacht aber sehr schnell ein. Die Dämmerung ist nur von kurzer Dauer. Die Schnelligkeit der Corvette mußte also unbedingt noch gesteigert werden, um die Brigg vor Einbruch völliger Nacht zu erreichen.

In diesem Augenblicke passirte die Letztere zwischen dem Eilande Caso-Poulo und der Insel Casos hindurch. Als sie dann um die Letztere wendete und nach der engen Fahrstraße segelte, welche dieselbe von Scarpanto trennt, konnte man sie überhaupt nicht mehr sehen.

Eine halbe Stunde später gelangte die »Syphanta« nach der nämlichen Stelle und hielt sich immer sehr weit vom Strande, um guten Segelwind zu behalten. Noch war es hell genug, um ein Schiff von solcher Größe auf die Entfernung einiger Seemeilen wenigstens wahrnehmen zu können…

Die Brigg war vollständig verschwunden.

Zwölftes Capitel


Zwölftes Capitel

Eine Versteigerung in Scarpanto.

Wenn Kreta, wie die Sage erzählt, einstmals die Wiege der Götter war, so war das alte Carpathos, das heutige Scarpanto, die der Titanen, der kühnsten und verschlagensten ihrer Gegner. Wenn man dafür einsetzt, daß sie nur Sterbliche angriffen, so sind die modernen Piraten nicht minder würdige Abkömmlinge jener mythologischen Missethäter, welche nicht davor zurückschreckten, selbst den Olymp zu stürmen. Zu dieser Zeit schien es, als ob Seeräuber jeder Art zu ihrem Hauptquartier diese Insel erkoren hätten, auf welcher die vier Söhne Japet’s, die Enkel Titan’s und der Gäa, geboren wurden.

In der That eignete sich Scarpanto ganz vortrefflich als Schlupfwinkel für die Piraten des Archipels und bot ihnen alle Hilfe, die sie gebrauchen konnten. Dasselbe liegt ziemlich isolirt am südöstlichen Ende dieser Meere und über vierzig Meilen von der Insel Rhodus entfernt. Seine hohen Berggipfel sind schon von weitem erkennbar. Bei dem geringen Umfange von zwanzig Lieues ist das Stückchen Land zerschnitten, vielfach ausgebuchtet und mit schmalen Ausläufern versehen, zwischen denen eine ungeheure Menge Klippen, fast ähnlich den Schären Scandinaviens, emporstarren. Wenn die Insel dem sie umgebenden Gewässer ihren Namen verliehen hat, so kommt das daher, daß sie schon von den Alten gefürchtet war, wie das bei den Neuern noch gleichmäßig der Fall ist. Für den, der nicht sehr bewandert ist, das Carpathische Meer zu befahren, war und ist es noch immer höchst gefährlich, sich in die Nähe derselben zu wagen.

Indeß ermangelt sie keineswegs guter Ankerplätze, diese Insel, welche die letzte Perle in der Kette der Sporaden bildet. Vom Cap Sidro und dem Cap Pernisa an bis zu dem Cap Bonandrea und Andemo an der nördlichen Seite, findet man an derselben zahlreiche geschützte Plätze. Vier Häfen derselben, Agata, Porto di Tristano, Porto Grato und Porto Malo Nato, wurden früher, so lange sie Rhodus noch nicht an commercieller Bedeutung überflügelt hatte, sehr viel von Küstenfahrern der Levante besucht, während jetzt nur ganz wenig Fahrzeuge Veranlassung haben, in jenen vor Anker zu gehen.

Scarpanto ist eine griechische Insel oder wenigstens von einer Einwohnerschaft griechischen Ursprungs bevölkert, gehört aber zum ottomanischen Reiche. Selbst nach der endgiltigen Errichtung des Königreichs Griechenland blieb sie noch türkisch und stand unter einem gewöhnlichen Kadi, der damals eine Art befestigtes Haus, unter der neuen Burg von Arkassa, bewohnte.

Jener Zeit hätte man auf der Insel eine große Menge Türken angetroffen, denen die Bevölkerung, welche sich an dem Unabhängigkeitskriege nicht betheiligt hatte, einen keineswegs schlechten Empfang bereitete. Da es allmählich zum Mittelpunkte der verbrecherischen Handelsoperationen geworden war, sah Scarpanto ebenso gern die ottomanischen Kriegsschiffe, wie die Fahrzeuge der Seeräuber, welche ihre Ladung Gefangener hier ans Land setzten, eintreffen. Hier trafen und drängten sich auf dem lebhaften Markte ebenso die Händler aus Kleinasien wie die von den Barbareskenküsten, da es Jenen niemals an menschlicher Waare fehlte. Sehr oft wurden hier Versteigerungen veranstaltet und für die Sclaven die, je nach dem Angebot und der Nachfrage schwankenden Preise festgestellt. Der Kadi war bei diesen Verkäufen keineswegs unbetheiligt, denn die Händler hätten ihre Pflicht zu vernachlässigen geglaubt, wenn sie ihm nicht ein Percent von dem Verkaufspreise zukommen ließen.

Die Ueberführung jener Unglücklichen nach den Bazaren von Smyrna oder nach den Hafenstädten Afrikas erfolgte gewöhnlich mit Schiffen, welche ihre Ladung meist im Hafen von Arkassa an der Westküste der Insel einnahmen. Wenn diese jedoch nicht ausreichten, sandte man einen Boten nach der entgegen gesetzten Küste, und die Piraten waren natürlich stets erbötig, aus diesem verabscheuungswürdigen Handel Vortheil zu ziehen.

Eben jetzt zählte man im Osten von Scarpanto und im Grunde kaum auffindbarer Buchten nicht weniger als etwa zwanzig größere und kleinere Fahrzeuge mit einer Besatzung von zwölf- bis dreizehnhundert Mann. Diese Flottille erwartete nur ihren Anführer, um zu neuen Schandthaten und Räubereien auszulaufen.

Im Hafen von Arkassa, etwa eine Kabellänge vom Molo, war die »Syphanta« auf vortrefflichem, zehn Faden tiefem Ankergrund am Abend des 2. Septembers vor Anker gegangen. Als Henry d’Albaret den Fuß auf den Boden der Insel setzte, dachte er nicht im Geringsten daran, daß die Zufälligkeiten seiner Kreuzfahrten ihn hier gerade nach dem Hauptplatze des Sclavenhandels geführt haben könnten.

»Gedenken Sie eine Zeit lang in Arkassa zu verweilen, Herr Commandant? fragte der Capitän Todros, als das Schiff völlig festgelegt war.

– Ich weiß es nicht, antwortete Henry d’Albaret. Mancherlei Umstände könnten mich zwingen, diesen Hafen unerwartet schnell zu verlassen, manche andere auch dürften uns hier zurückhalten.

– Können die Leute an’s Land gehen?

– Ja, aber nur abtheilungsweise; wenigstens die Hälfte der Mannschaft muß auf der »Syphanta« stets zu Allem bereit sein.

– Zu Befehl, Herr Commandant, antwortete der Capitän Todros. Wir befinden uns hier viel mehr in türkischem als griechischem Lande, und es ist nur weise Vorsicht, hier stets auf der Wacht zu sein!«

Der Leser erinnert sich, daß Henry d’Albaret weder seinem zweiten noch den anderen Officieren etwas von den Gründen mitgetheilt hatte, die ihn veranlaßten, überhaupt nach Scarpanto zu segeln, ebensowenig davon, daß er durch einen anonymen Brief, der unter ganz unerklärlichen Umständen an Bord kam, ersucht worden war, sich gerade in den ersten Tagen des Septembers hier einzustellen.

Uebrigens erwartete er hier weitere Aufklärung zu erhalten, was der geheimnißvolle Briefschreiber von der Corvette, wenn dieselbe sich im Carpathischen Meere befand, etwa verlangte

Nicht weniger merkwürdig war jedoch das ursprüngliche Verschwinden der Brigg jenseits des Canals von Casos, als die »Syphanta« sich schon auf dem Punkte glaubte, dieselbe einzuholen.

Ehe er in Arkassa vor Anker ging, hatte Henry d’Albaret auch nicht geglaubt, sein Vorhaben aufgeben zu dürfen. Nachdem er sich dem Lande, soweit es der Tiefgang der Corvette gestattete, genähert, ließ er es sich angelegen sein, alle Einbuchtungen der Küste genau zu besichtigen. Inmitten des Klippengewirrs, welches jene umgab, und unter dem Schutze der Uferfelsen, welche das Gestade umgrenzten, mußte es freilich einem Fahrzeuge wie jener Brigg allemal leicht werden, sich zu verbergen.

Hinter der Linie der starken Brandung, an welche sich die »Syphanta« kaum heranwagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, zu Grunde zu gehen, hatte ein Capitän, der diesen Canal genau kannte, die günstigste Aussicht, jeden Verfolger auf falsche Fährte zu verleiten. Hatte die Brigg sich also in eine jener versteckten Buchten geflüchtet, so mußte es sehr schwer werden, dieselbe aufzufinden, ebenso wie die anderen Piratenschiffe, denen die Insel mit ihren unbekannten Ankergründen Schutz verlieh.

Zwei Tage lang bemühte sich die Corvette unter vergeblichen Nachforschungen. Selbst wenn die Brigg jenseits Casos plötzlich im Wasser versunken wäre, hätte sie nicht mehr unsichtbar gewesen sein können, und so schmerzlich er sich auch enttäuscht fühlte, mußte der Commandant Henry d’Albaret auf jede Hoffnung sie wiederzufinden verzichten. Er kam also endlich zu dem Entschlusse, im Hafen von Arkassa vor Anker zu gehen, wo er ja zunächst nur die fernere Entwicklung der Dinge abzuwarten hatte.

Am folgenden Tage zwischen drei und fünf Uhr Nachmittags füllte sich die kleine Stadt Arkassa mit einem großen Theile der Bevölkerung der Insel, abgesehen von den Fremden aus Europa, Afrika und Asien, an denen es bei der vorliegenden Gelegenheit aus erklärlichen Gründen nicht fehlen konnte; heute war nämlich großer Markttag. Eine Menge bedauernswürdiger Geschöpfe jeden Alters und jeder Art, welche von den Türken in der jüngsten Zeit gefangen worden waren, sollten dabei zum Verkaufe kommen.

Jener Zeit gab es in Arkassa einen besonderen Bazar, der zu derlei Verkäufen bestimmt war, einen »Batistan« ganz ähnlich denen, welche man in den Städten der Barbareskenstaaten findet. Dieser Batistan enthielt heute gegen hundert gefangene Männer, Frauen und Kinder, die Beute der letzten, im Peloponnes unternommenen Razzias. Sie lagerten bunt durcheinander inmitten eines schattenlosen Hofes unter brennender Sonnengluth, und ihre zerfetzten Kleider, ihre traurige Haltung und ihr verzweifeltes Aussehen verriethen deutlich, was sie hier litten. Kaum mit Nahrung versorgt und nur mit schlechtem Wasser, um den quälenden Durst zu löschen, versehen, hatten sich die Unglücklichen familienweise zusammengedrängt, bis zu dem Augenblicke, wo die Launen eines Käufers die Frauen von ihren Männern und die Kinder von Vater und Mutter trennen würden. Jedem anderen Menschen als den grausamen »Bachis«, ihren Wächtern, welche kein Leid mehr zu rühren vermochte, hätten sie das wärmste Mitgefühl eingeflößt. Und doch, was hatten diese Leiden zu bedeuten gegenüber denen, welche sie in den sechzehn Bagnos von Algier, Tunis und Tripolis erwarteten, wo der Tod so schnell weite Lücken riß, welche doch unablässig wieder gefüllt werden mußten?

Inzwischen war den Gefangenen noch nicht jede Hoffnung, wieder frei zu kommen, geraubt. Wenn die Käufer damit, daß sie jene erstanden, ein gutes Geschäft machten, so war das nicht weniger der Fall, wenn sie dieselben wieder freigaben – natürlich nur gegen hohes Lösegeld – vorzüglich diejenigen, deren Handelswerth sich auf höhere gesellschaftliche Stellung in ihrem Vaterlande gründete. Auf diese Weise wurden so Viele vor der Sclaverei bewahrt, die entweder der Staat noch vor ihrer Fortschaffung wieder kaufte, oder welche von ihren Angehörigen, mit denen die zeitweiligen Eigenthümer sich direct in Verbindung setzten, ausgelöst wurden, abgesehen davon, daß die reiche Brüderschaft der Gnade, welche zu diesem Zwecke in ganz Europa Collecten veranstaltet hatte, noch Viele selbst tief aus den Barbareskenstaaten wieder befreite. Nicht selten kam es endlich vor, daß sehr reiche Leute, getrieben von edlem Gefühl des Mitleids, diesem wohlthätigen Werke einen Theil ihres Vermögens opferten. Gerade in letzterer Zeit waren so beträchtliche Summen, deren Ursprung Niemand kannte, zum Rückkauf von Sclaven, vorzüglich von solchen griechischer Abkunft, aufgewendet worden, wenn die Zufälligkeiten des Krieges solche bedauernswerthe Leute den Händlern von Afrika oder Kleinasien in die Hände geliefert hatten.

Auf dem Markte von Arkassa pflegte man gewöhnlich zu Versteigerungen zu schreiten. Hier konnten Alle, Fremde wie Einheimische, daran Theil nehmen. Heute, wo die Aufkäufer nur für Rechnung der Bagnos der Barbarei beschäftigt waren, sollten die Gefangenen anfänglich gleich Alle zusammen zur Auction kommen, und je nachdem der ganze »Vorrath« an den oder jenen Händler fiel sollte derselbe nach Algier, Tripolis oder Tunis befördert werden

Auf dem Markte befanden sich übrigens zwei Kategorien von Gefangenen. Die einen kamen aus dem Peloponnes – diese waren am zahlreichsten – die anderen wurden erst unlängst von einem griechischen Schiffe weggeschleppt, das sie von Tunis nach Scarpanto zurückbrachte, von wo aus sie in ihre Heimat zurückbefördert werden sollten.

Die armen, zu so unglücklichem Loose bestimmten Menschen kamen hier zum letzten Male zur Versteigerung, welche ihr Schicksal entscheiden sollte, und bis zum fünften Glockenschlage konnten Gebote auf dieselben abgegeben werden. Ein Kanonenschuß von der Citadelle von Arkassa, der die Schließung des Hafens verkündete, galt gleichzeitig als Zeichen, daß der zuletzt gebotene Preis den Zuschlag erhielt.

An diesem dritten September fehlte es nicht an Kauflustigen in der Umgebung des Batistan. Zahlreiche Agenten waren von Smyrna und anderen benachbarten Punkten Kleinasiens eingetroffen, welche, wie vorher bemerkt, Einkäufe für die Barbareskenstaaten machen sollten.

Der heute sehr starke Zulauf erklärte sich übrigens sehr natürlich. Die letzten Ereignisse deuteten darauf hin, daß der Unabhängigkeitskrieg seinem Ende entgegengehe. Ibrahim war nach dem Peloponnes zurückgedrängt, während der Marschall Maison auf Morea mit einem Expeditionscorps von zweitausend Franzosen landete. Die Ausfuhr von Gefangenen mußte also in nächster Zeit eine sehr verminderte werden, und eben deshalb stieg auch – natürlich zur großen Befriedigung des Kadi – der Preis für dieselben schon ganz ungewöhnlich.

Im Laufe des Vormittags hatten die Händler schon den Batistan besucht, um sich über die Anzahl und den Werth der Gefangenen zu unterrichten, welche heute gewiß nicht mehr so billig zu kaufen sein würden.

»Bei Mohammed! rief ein Agent aus Smyrna, der inmitten seiner Kameraden das Wort führte, die Zeit des guten Geschäftsganges ist vorüber! Erinnert Ihr Euch noch der Zeit, wo die Schiffe Gefangene zu Tausenden brachten, und nicht wie jetzt zu wenigen Hunderten?

– Ja!… Wie bei den Schlächtereien von Scio! antwortete ein anderer Händler. Auf einen Schlag über vierzigtausend Sclaven! Da reichten die Schiffe nicht zu, sie unterzubringen!

– Ganz recht, entgegnete ein Händler, der den Dingen auf den Grund zu gehen schien; aber je mehr Gefangene, desto mehr Angebot, je mehr Angebot, desto niedrigere Preise. Es ist doch besser, nur wenigere zu hohem Preise fortschaffen zu haben, da die laufenden Unkosten doch so beträchtlich sind.

– Ja wohl, mindestens in der Berberei! Zwölf Percent des Bruttoertrages zu Nutzen des Paschas, des Kadi oder des Gouverneurs!

– Ohne das eine Percent für Unterhaltung des Molo und der Küstenbatterien zu rechnen!

– Und noch ein weiteres Percent, welches den habgierigen Priestern zufällt!

– Wahrhaftig, das führt Alle zum Ruine, die Rheder ebenso wie die Händler!«

Diese und ähnliche Bemerkungen wurden zwischen jenen Agenten ausgetauscht, welche von der Sündhaftigkeit ihres Handels gar keine Vorstellung zu haben schienen. Immer dieselben Klagen über die nämlichen Sporteln und Abgaben. Jedenfalls würden sie sich darüber noch in weit härteren Redensarten ergangen haben, wenn nicht die Töne einer Glocke eben den Anfang des Marktes verkündet hätten.

Es versteht sich von selbst, daß der Kadi die Leitung des ganzen Handelsgeschäfts in die Hand nahm. Das erforderte seine Pflicht, die türkische Regierung zu repräsentiren, ebenso wie sein persönliches Interesse.

Er saß also auf einer Art Estrade, gegen die Sonne geschützt durch ein Zelt, über welchem die rothe Flagge mit dem Halbmond wehte, oder er lag vielmehr auf breitem Kissen mit der ganzen Ungenirtheit des Vollblut-Ottomanen hingestreckt.

Dicht neben ihm nahm der öffentliche Ausrufer seinen Stand ein; man darf aber nicht etwa glauben, daß dieser Ausrufer Veranlassung hatte, seine Lunge allzu sehr anzustrengen. Im Gegentheil, bei dieser Art von Geschäften nehmen sich die Käufer hinlänglich Zeit, ehe sie ein höheres Gebot thun. Wenn in diese Versteigerung überhaupt mehr Leben kam, so war das höchstens in der letzten Viertelstunde des Geschäfts, wo sich vielleicht einmal ein Kampf darum entspann, wer den Zuschlag erhalten sollte.

Das erste Angebot betrug von Seiten eines Händlers aus Smyrna tausend türkische Pfund.

»Tausend Pfund türkisch!« wiederholte der Ausrufer.

Dann schloß er die Augen, als hätte er hinlänglich Zeit auszuschlafen, ehe ein höheres Gebot erfolgte.

Während der ersten Stunden stiegen die einzelnen Mehrgebote um je tausend bis höchstens zweitausend Pfund türkisch, das heißt etwa dreiunddreißigtausend Mark. Die Händler sahen sich gegenseitig an, beobachteten vielleicht heimlich, plauderten dabei aber von ganz anderen Dingen. Wie weit sie gehen wollten, wußten sie schon im Voraus, und ihre Höchstgebote verschoben sie bis zu den letzten Minuten, welche dem Schluß der Auction vorangingen. Da veranlaßte aber das Miteintreten eines neuen Concurrenten eine Aenderung ihres gewöhnlichen Verfahrens, und das verlieh der Auction eine unerwartete Lebhaftigkeit.

Gegen vier Uhr erschienen nämlich zwei Männer auf dem Markte von Arkassa. Woher kamen dieselben? Jedenfalls von der Ostseite der Insel, soweit sich das aus der Fahrtrichtung der Araba beurtheilen ließ, welche sie bis zum Eingangsthore des Batistans gebracht hatte.

Ihr Erscheinen erregte eine lebhafte Bewegung des Erstaunens und der Beunruhigung. Offenbar erwarteten die gewöhnlichen Händler vorher nicht, eine Persönlichkeit hier auftreten zu sehen, mit der sie wohl oder übel rechnen mußten.

»Bei Allah! rief einer derselben, das ist Nicolas Starkos selbst!

– Und sein verdammter Skopelo! erwiderte ein Anderer.

– Und wir, wir glaubten, sie wären längst zum Teufel!«

Es waren in der That diese beiden Männer, welche auf dem Markte von Arkassa Jeder kannte. Wiederholt hatten sie daselbst höchst bedeutende Geschäfte abgeschlossen, indem sie Gefangene für Rechnung von Händlern in Afrika einkauften. An Geld fehlte es ihnen niemals, obwohl man nicht recht wußte, woher sie dasselbe nahmen; doch, das ging sie ja nur selbst an. Der Kadi konnte sich, was ihn betraf, nur Glück wünschen, so allgemein gefürchtete Concurrenten erscheinen zu sehen.

Skopelo, einem gewiegten Sachkenner, hatte ein einziger Blick genügt, um den Werth der vorhandenen Gefangenen im Großen und Ganzen abzuschätzen. Er begnügte sich darauf, Nicolas Starkos wenige Worte in’s Ohr zu flüstern, auf welche dieser mit Kopfnicken zustimmend antwortete.

Ein so scharfer Beobachter der zweite Officier der »Karysta« auch war, hatte er doch das Entsetzen nicht bemerkt, welches das Auftreten Nicolas Starkos‘ bei einer der Gefangenen hervorrief.

Es war das eine Frau in schon mehr vorgeschrittenem Alter und von hohem Wuchs. Während sie vorher in einem entfernten Winkel des Batistans saß, erhob sie sich, als ob eine unwiderstehliche Macht sie dazu drängte. Sie that sogar zwei bis drei Schritte, und schon wollte ein Aufschrei ihrem Munde entfahren… Doch nein, sie besaß genug Energie, sich zu beherrschen. Sie wich wieder langsam zurück, vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt in einen erbärmlichen Mantel, und nahm ihren Platz unter den Gefangenen wieder ein, aber so, daß sie jetzt ganz verborgen blieb. Es genügte ihr offenbar nicht, das Gesicht zu verstecken, sie wollte vielmehr ihre ganze Gestalt den Blicken Nicolas Starkos‘ entziehen.

Ohne ein Wort an ihn zu richten, behielten die anderen Händler den Capitän der »Karysta« doch unausgesetzt im Auge, während dieser ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken schien. Erstere mußten freilich befürchten, daß er hierher gekommen sei, ihnen den vorhandenen Gefangenentransport wegzukaufen, da sie ja wußten, in welchen Beziehungen Nicolas Starkos zu den Paschas und Beys der Barbareskenstaaten stand.

Sie sollten darüber auch nicht lange in Ungewißheit bleiben. Eben war der Ausrufer wieder aufgestanden und hatte mit lauter Stimme das letztgethane Gebot wiederholt:

»Zweitausend Pfund!

– Zweitausend fünfhundert, sagte Skopelo, der sich bei derartigen Gelegenheiten zum Sprachrohr seines Capitäns machte.

– Zweitausend fünfhundert Pfund!« meldete der Ausrufer.

Danach begann wieder die persönliche Unterhaltung unter den verschiedenen Gruppen, die sich jedoch nicht ohne einiges Mißtrauen betrachteten.

So verlief eine Viertelstunde. Nach dem Skopelo’s war kein anderes Mehrgebot gethan worden. Gleichgiltig und stolz schlenderte Nicolas Starkos auf dem Batistan umher. Niemand konnte bezweifeln, daß er am Ende, sogar ohne besonderen Kampf, den Zuschlag erhalten würde.

Nach Besprechung mit zwei oder drei Collegen meldete jedoch der Agent aus Smyrna ein weiteres Mehrgebot, nämlich zweitausend siebenhundert Pfund.

»Zweitausend siebenhundert Pfund! wiederholte der Ausrufer.

– Dreitausend!«

Dieses Mal war es Nicolas Starkos selbst gewesen, der sich an der Versteigerung betheiligte.

Es wird sich bald zeigen, was vorgegangen war, warum er sich persönlich an dem Wettstreite betheiligte und warum seine kalte Stimme plötzlich eine so auffallende Erregung verrieth, daß es selbst Skopelo wundernahm.

Seit einigen Minuten lustwandelte Nicolas Starkos, nachdem er die Barriere des Batistans überschritten, inmitten der Gruppe Gefangener. Die alte Frau hatte sich, als sie ihn näher kommen sah, noch ängstlicher in ihren Mantel versteckt; er hatte sie also nicht sehen können.

Dagegen wurde plötzlich seine Aufmerksamkeit durch zwei Gefangene erweckt, welche ein wenig abseits standen. Er war stehen geblieben, als wären seine Füße am Boden festgewurzelt. Hier war ein junges Mädchen neben einem hochgewachsenen Mann vor Erschöpfung fast zur Erde niedergesunken.

Der Mann erhob sich stolz, als er Nicolas Starkos wahrnahm, gleichzeitig schlug das junge Mädchen die Augen wieder auf. Sobald sie aber des Capitäns der »Karysta« ansichtig wurde, wendete sie dieselben schnell wieder weg.

»Hadjine!« rief Nicolas Starkos halblaut.

Wirklich war es Hadjine Elizundo, welche Xaris jetzt in seinen Armen hielt, als wollte er sie vertheidigen.

»Sie hier!« murmelte Nicolas Starkos.

Hadjine hatte sich aus Xaris‘ Armen losgemacht und starrte nun den Kunden ihres Vaters mit geheimer Scheu an.

Eben diese Entdeckung hatte Nicolas Starkos, der sich gar nicht die Frage vorlegte, wie es habe zugehen können, daß die Erbin des Banquiers Elizundo auf dem Markte von Arkassa zum Verkauf gestellt werden könne, jetzt veranlaßt, mit erregter Stimme das neue Angebot von dreitausend Pfund zu thun.

»Dreitausend Pfund!« hatte der Ausrufer laut wiederholt.

Die Uhr zeigte nun schon etwas über ein halb fünf Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten, dann mußte der Kanonenschuß erdröhnen und der Zuschlag erfolgte an den, der das letzte Höchstgebot gethan hatte.

Schon schickten sich die Agenten jedoch nach vorhergegangener Unterredung an, den Platz zu verlassen, da keiner gewillt schien, einen noch höheren Preis anzulegen. Es gewann also den Anschein, als sollte der Capitän der »Karysta« wegen Mangels an Concurrenten aus dieser Versteigerung als Sieger hervorgehen, als der Agent aus Smyrna noch einen letzten Versuch machte, ihm »die Waare« streitig zu machen.

»Dreitausend fünfhundert Pfund! rief er.

– Viertausend!« folgte Nicolas Starkos auf der Stelle nach.

Skopelo, der Hadjine noch nicht selbst gesehen hatte, begriff gar nicht, wie der Capitän so ohne Besinnen mehr bieten konnte. Seiner Meinung nach war der Werth der ganzen Gefangenen-Abtheilung schon bei weitem überschritten, vorzüglich aber durch dieses Gebot von viertausend Pfund. Er fragte sich deshalb verwundert, was Nicolas Starkos veranlassen könne, sich so unüberlegt in ein voraussichtlich ganz schlechtes Geschäft einzulassen.

Den letzten Worten des Ausrufers folgte ein längeres Stillschweigen. Auf einen Wink seiner Collegen gab auch der Agent aus Smyrna die Sache endgiltig auf. Niemand konnte mehr daran zweifeln, daß Nicolas Starkos bei derselben obsiegen werde, da ja nur noch wenig Minuten bis zum gesetzlichen Schluß der Auction fehlten.

Xaris hatte ihn vollständig durchschaut. Er drückte das junge Mädchen nur enger in seine Arme – so lange er noch athmete, sollte sie ihm Niemand entreißen.

Da ließ sich – destomehr vernehmbar bei dem allgemeinen Schweigen – eine andere Stimme vernehmen, welche dem Ausrufer die zwei Worte zurief:

»Fünftausend Pfund!«

Nicolas Starkos drehte sich um.

Eine Gruppe von Seeleuten war oben in den Batistan getreten, und vor derselben stand ein offenbar zu ihnen gehörender Officier.

»Henry d’Albaret! rief Nicolas Starkos. Henry d’Albaret… hier… in Scarpanto!«

Den Commandanten der »Syphanta« hatte nur der Zufall nach dem Platze der öffentlichen Verkäufe geführt. Er wußte heute – das heißt vierundzwanzig Stunden nach seinem Eintreffen in Scarpanto – nicht einmal, daß in der Hauptstadt der Insel eine Versteigerung von Sclaven stattfinden solle. Da er andererseits auch die Sacoleve nicht vor Anker liegen gesehen hatte, mußte er nicht minder erstaunt sein, Nicolas Starkos in Arkassa zu begegnen, wie dieser, ihn hier zu sehen.

Nicolas Starkos wußte ja auch nicht, daß die Corvette von Henry d’Albaret befehligt wurde, obwohl ihm nicht unbekannt war, daß diese in den Hafen von Arkassa eingelaufen war.

Die Empfindung der beiden Gegner, als sie sich hier Auge in Auge sahen, wird sich Jeder leicht ausmalen können.

Daß Henry d’Albaret jenes unerwartete Mehrgebot gethan, rührte daher, daß er unter den Gefangenen im Batistan Hadjine und Xaris bemerkt hatte; Hadjine, bedroht, der Gewalt des verhaßten Nicolas Starkos zu verfallen.

Hadjine aber hatte ihn gehört, ihn gesehen, und würde sich unverzüglich in seine Arme gestürzt haben, wenn die Wächter sie nicht daran gehindert hätten.

Mit verständlicher Handbewegung sachte Henry d’Albaret das junge Mädchen zu beruhigen. So entrüstet er sich auch fühlte, als er sich dem elenden Gegner gegenüber sah, gelang es ihm doch, sich zu beherrschen. Ja, und wenn es ihm sein ganzes Vermögen kosten sollte, würde er keinen Augenblick gezaudert haben, Nicolas Starkos die auf dem Markte von Arkassa zusammengepferchten Gefangenen zu entreißen, und mit ihnen die, welche er so lange Zeit gesucht, welche er kaum je noch wiederzusehen gehofft hatte.

Jedenfalls mußte der Kampf nun heißer entbrennen. Wenn Nicolas Starkos nämlich nicht begreifen konnte, wie Hadjine Elizundo unter die Gefangenen gekommen war, so blieb dieselbe in seinen Augen doch immer noch die reiche Erbin des Banquiers in Korfu.

Die vielen Millionen hatten ja nicht mit ihm verschwinden können; sie mußten noch immer vorhanden sein, um sie von dem zurückzukaufen, dessen Sclavin sie werden sollte. Er lief also keine Gefahr, wenn er auch noch mehr bot. Nicolas Starkos beschloß das um so eigensinniger, weil es sich jetzt darum handelte, gegen seinen Rivalen aufzutreten.

»Sechstausend Pfund! rief er.

– Siebentausend!« antwortete der Commandant der »Syphanta«, ohne sich nur nach Nicolas Starkos umzukehren.

Der Kadi konnte sich zu der Wendung, welche die Dinge nahmen, nur Glück wünschen. Angesichts dieser beiden Concurrenten bemühte er sich gar nicht, seine Befriedigung zu verbergen, welche die sonst bewahrte Würde des habgierigen Mannes sozusagen durchbrach.

Wenn der schlaue Beamte nun schon berechnete, welche Summe in seine Tasche fließen sollte, so konnte Skopelo jetzt doch kaum noch an sich halten. Er hatte Henry d’Albaret und dann auch Hadjine Elizundo bemerkt. Blieb nun Nicolas Starkos aus Haß und Hartnäckigkeit bei seinem Mehrbieten, was ja unter gewissen Bedingungen von großem Vortheil sein konnte, so mußte das Geschäft doch ein sehr schlechtes werden, wenn das junge Mädchen ebenso wie ihre Freiheit vielleicht auch ihr Vermögen eingebüßt hatte, was doch mindestens möglich war.

Er nahm deshalb Nicolas Starkos etwas zur Seite und bemühte sich, ihm vernünftige Vorstellungen zu machen, fand dabei aber einen so üblen Empfang, daß er bald davon gänzlich absah. Der Capitän der »Karysta« rief dem Ausrufer selbst sein Mehrgebot zu, und zwar mit einer Stimme, welche berechnet und geeignet war, seinen Rivalen möglichst zu demüthigen.

Erklärlicher Weise waren die Agenten, welche merkten, daß der Kampf ein sehr heißer werden würde, nun in der Nähe geblieben, um demselben wenigstens mit beizuwohnen. Eine Menge Neugieriger, welche dieses Hin- und Herwerfen von Tausenden von Pfunden besonders anzog, gaben ihr Interesse daran durch wiederholte Beifallsrufe zu erkennen. Wenn die meisten derselben zwar den Capitän der Sacoleve kannten, so kannte doch Niemand den Commandanten der »Syphanta«, ja, man wußte nicht einmal, was diese Corvette, welche unter korslötischer Flagge segelte, in dem Gewässer von Scarpanto beabsichtigte. Seit Anfang des Krieges hatten sich jedoch so viele Schiffe aller Nationen mit dem Transport von Gefangenen beschäftigt, daß die Annahme, die »Syphanta« befasse sich gleichfalls mit demselben Handel, für Alle am nächsten lag; ob die Gefangenen also von Henry d’Albaret oder von Nicolas Starkos erstanden wurden, das änderte für dieselben nichts, und die Sclaverei drohte ihnen wie vorher.

Jedenfalls mußte diese Frage binnen fünf Minuten entschieden sein.

Bei dem letzten durch den Ausrufer gemeldeten Gebote, hatte Nicolas Starkos sich sogleich wieder gemeldet mit den Worten:

»Achttausend Pfund!

– Neuntausend Pfund!« sagte Henry d’Albaret.

Neues Stillschweigen. Der Commandant der »Syphanta«, der immer seiner Herr blieb, folgte mit den Blicken Nicolas Starkos, welcher wüthend auf und ab ging, ohne daß Skopelo sich ihm nur zu nähern wagte. Uebrigens hätte ihn jetzt auch kein Zureden, keine Vorstellung davon abhalten können, voller Wuth noch weiter zu bieten.

»Zehntausend Pfund! rief Nicolas Starkos.

– Elftausend! antwortete Henry d’Albaret.

– Zwölftausend!« schrie Nicolas Starkos, ohne dieses Mal nur einen Moment zu warten.

Der Commandant Henry d’Albaret hatte nicht sofort geantwortet.

Nicht etwa, weil er überhaupt gezaudert hätte, das zu thun, wohl aber, weil er Skopelo auf Nicolas Starkos zueilen sah, um diesen von seinem tollen Vorgehen abzuhalten, was auch einen Augenblick die Aufmerksamkeit des Capitäns der »Karysta« ablenkte.

Gleichzeitig hatte sich die bejahrte Gefangene, die sich bisher so hartnäckig verborgen hielt, ihrer ganzen Länge nach erhoben, so, als beabsichtige sie, Nicolas Starkos ihr Gesicht zu zeigen.

In demselben Augenblick blitzte auf der Mauer der Citadelle von Arkassa zwischen einer dichten Wolke weißen Dampfes eine leuchtende Flamme auf, bevor die Detonation jedoch bis zum Batistan hinabgedrungen war, ertönte von einer weitschallenden Stimme noch ein neues Mehrgebot:

»Dreizehntausend Pfund!«

Gleich darauf krachte der Schuß, dem endlose Hurrahs folgten.

Nicolas Starkos hatte Skopelo so heftig zurückgestoßen, daß dieser davon zu Boden stürzte…. Jetzt war es zu spät! Nicolas Starkos hatte kein Recht mehr, ein noch höheres Gebot zu thun. Hadjine Elizundo war ihm entgangen, und das ohne Zweifel für immer!

»Komm!« sagte er mit grollender Stimme zu Skopelo.

Dennoch hätte man ihn noch können die Worte murmeln hören:

»So wird es desto sicherer und minder theuer sein!«

Beide bestiegen sodann ihre Araba und verschwanden hinter der Biegung der Straße, welche nach dem Innern der Insel führte. Schon war Hadjine Elizundo, welche Xaris mit sich fortzog, über die Barrieren des Batistans hinausgeeilt, schon lag sie in den Armen Henry d’Albaret’s, der ihr, sie innig an’s Herz drückend, zuflüsterte:

»Hadjine!… Hadjine!… Wie gern hätt‘ ich Alles geopfert, was ich mein nenne, um Dich frei zu kaufen!…

– So wie ich mein Vermögen geopfert habe, um die Ehre meines Namens zurückzukaufen, antwortete das junge Mädchen. O Henry – Hadjine Elizundo ist jetzt arm, aber sie ist Deiner würdig!«

Dreizehntes Capitel


Dreizehntes Capitel

An Bord der »Syphanta«.

Am folgenden Tage, dem 3. September, versuchte die »Syphanta«, nachdem sie gegen zehn Uhr Morgens die Anker gelichtet, dicht am Winde segelnd aus der engen Wasserstraße des Hafens von Scarpanto herauszukommen.

Die von Henry d’Albaret freigekauften Gefangenen hatten es sich, die Einen im Zwischendeck, die Andern in der Batterie, so bequem wie möglich gemacht. Obwohl die Fahrt über den Archipel nur wenige Tage in Anspruch nehmen konnte, hatten es Officiere und Matrosen sich doch angelegen sein lassen, die armen Leute an Bord so gut unterzubringen, wie das die Raumverhältnisse nur gestatteten.

Schon am Vorabende hatte der Commandant Henry d’Albaret Alles geordnet, um unverzüglich absegeln zu können. Zur Regulirung seines Gebotes von dreizehntausend Pfund hatte er Sicherheit gestellt, mit der der Kadi sich befriedigt erklärte. Die Einschiffung der Gefangenen war also ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen, und vor Ablauf von drei Tagen sollten alle diese Unglücklichen, denen vorher das schrecklichste Loos in den Bagnos der Barbareskenstaaten harrte, an irgend einem Punkte des nördlichen Griechenlands, wo sie für ihre persönliche Freiheit nichts mehr zu fürchten hatten, abgesetzt werden.

Ihre Einlösung aber verdankten sie einzig und allein Dem, der sie ohne Ansehung des Opfers, das er dabei brachte, den Händen Nicolas Starkos‘ entriß. Ihre Dankbarkeit fand auch, sobald sie den Fuß auf das Deck der Corvette gesetzt, in einer wahrhaft rührenden Handlung sprechenden Ausdruck.

Unter ihnen befand sich nämlich ein »Papa«, ein bejahrter Geistlicher aus Leondaris. Begleitet von seinen Unglücksgefährten, begab sich dieser nach dem Oberdeck, wo sich Hadjine Elizundo mit Henry d’Albaret und einigen Officieren aufhielt. Hier knieten Alle, der Greis an der Spitze, vor Jenen nieder, und die Hände gegen den Commandanten erhebend, begann der Greis:

»Gesegnet seien Sie, Henry d’Albaret, von Allen, die Ihr Edelmuth der Freiheit zurückgegeben hat!

– Liebe Freunde, antwortete der Commandant der »Syphanta« bewegt, ich habe ja nicht mehr als meine Pflicht gethan.

– Ja, gesegnet von Allen… von Allen… auch von mir, Henry!« fügte Hadjine, sich ebenfalls vor ihm verneigend, hinzu.

Henry d’Albaret hatte sie, fast verwirrt von dieser unerwarteten Huldigung, schnell wieder aufgehoben, und nun erschallte ein »Hoch Henry d’Albaret!« und »Hoch lebe Hadjine Elizundo!« vom Oberdeck bis nach dem Vordercastell, aus den Tiefen der Batterie bis hinauf nach den Marsraaen, wo etwa fünfzig Mann von der Besatzung Platz genommen hatten und den Vorgang mit donnernden Hurrahs begleiteten.

Eine einzige Gefangene – die, welche sich auch am Vortage im Batistan möglichst versteckt hielt – hatte an dieser Kundgebung nicht theilgenommen. Auch bei der Einschiffung ging ihr Hauptbestreben dahin, unter den Gefangenen unbemerkt zu bleiben. Das war ihr gelungen, und Niemand ahnte ihre Gegenwart an Bord, als sie sich nach der dunkelsten Ecke des Zwischendecks zurückgezogen hatte. Sie hoffte jedenfalls auch ebenso ungesehen wieder an’s Land gehen zu können. Warum sie so vorsichtig verfuhr und ob sie vielleicht einem Officier oder Matrosen der Corvette bekannt war, das hätte Niemand sagen können; gewiß aber mußte sie wichtige Gründe haben, dieses Incognito während der drei bis vier Tage, welche die Fahrt durch den Archipel dauern konnte, so streng zu bewahren.

Wenn aber Henry d’Albaret die volle Dankbarkeit der zufälligen Passagiere der Corvette verdiente, was verdiente dann Hadjine Elizundo für alle die großmüthigen Opfer, die sie seit ihrer Abreise von Korfu aus eigenem Antriebe gebracht hatte?

»Henry, hatte sie am vorhergehenden Tage gesagt, Hadjine Elizundo ist jetzt arm, aber sie ist nun Deiner würdig!«

Arm?… Das war sie in der That. – Des jungen Officiers würdig?… Das wird sich im weiteren Verlaufe zeigen.

Und wenn Henry d’Albaret Hadjine schon liebte, als so erschütternde Vorkommnisse sie von einander trennten, wie mußte diese Liebe erst wachsen, als er erfuhr, welcher Aufgabe sich das junge Mädchen während dieses langen Jahres bitterer Trennung gewidmet hatte.

Sobald Hadjine Elizundo erkannte, woher das von ihrem Vater hinterlassene große Vermögen stammte, hatte sie sofort beschlossen, dasselbe zum Rückkauf von Gefangenen zu verwenden, von deren Fortschaffung und Verkauf er soviel Vortheil gezogen hatte. Von jenen so unehrenhaft gewonnenen zwanzig Millionen wollte sie nichts für sich behalten und theilte Xaris dieses Vorhaben mit; Xaris stimmte demselben gern zu, und so wurden alle Vermögensbestandtheile des Bankhauses schnellstens flüssig gemacht.

Henry d’Albaret erhielt damals jenen Brief, in welchem das junge Mädchen ihn um Verzeihung bat und ihm Lebewohl sagte. Darauf verließ Hadjine unter dem Schutze des muthigen und ergebenen Xaris heimlich Korfu, um sich nach dem Peloponnes zu begeben.

Zu jener Zeit wütheten die Soldaten Ibrahim’s im Kampfe gegen die Bevölkerung des mittleren Morea, welche schon seit langer Zeit unendlich zu leiden gehabt hatte. Die Unglücklichen, die dabei nicht hingemordet wurden, schickten sie nach den Haupthäfen von Messenien, nach Patras oder Navarin. Von hier aus beförderten sie die entweder von der türkischen Regierung gestellten oder von den Seeräubern des Archipels bemannten Schiffe zu Tausenden entweder nach Scarpanto oder nach Smyrna, wo ein unausgesetzter Sclavenhandel stattfand.

Während der zwei ersten Monate nach ihrem Verschwinden gelang es Hadjine und Xaris, welche niemals vor einem noch so hohen Preise zurückschreckten, mehrere Hundert Gefangene von denen zurückzukaufen, welche die messenische Küste noch nicht verlassen hatten. Darauf ließen sie es sich angelegen sein, dieselben entweder auf den Ionischen Inseln oder in den schon von den Türken befreiten Theilen des nördlichen Griechenlands in Sicherheit zu bringen.

Nachdem das vollbracht, begaben sich Beide nach Kleinasien, nach Smyrna, wo sehr beträchtlicher Sclavenhandel betrieben wurde Hierher kamen in starken Transporten große Mengen jener griechischen Gefangenen, deren Befreiung Hadjine Elizundo vor Allem am Herzen lag Sie that dabei so hohe Gebote – welche die der Händler aus der Berberei oder von der asiatischen Küste ungeheuer überstiegen – daß die türkischen Beamten nur ihren Vortheil darin finden konnten, mit ihr zu handeln. Daß ihre edelmüthige Leidenschaft gelegentlich von gewissenlosen Agenten gemißbraucht wurde, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung; mehrere Tausende von Gefangenen verdankten es aber jedenfalls ihr allein, den Bagnos der afrikanischen Beys entgangen zu sein.

Noch immer blieb ihr jedoch viel zu thun übrig, und deshalb kam Hadjine Elizundo der Gedanke, auf zwei verschiedenen Wegen dem Ziele, welches sie zu erreichen strebte, näher zu kommen. Es genügte offenbar nicht, die auf den öffentlichen Märkten zum Verkauf gestellten Gefangenen zurückzukaufen oder um hohen Preis Diejenigen, welche schon das Sclavenjoch trugen, aus den Bagnos zu befreien; es kam ihr vielmehr auch darauf an, die Seeräuber, welche in den Gewässern des Archipels so viele Schiffe wegfingen und vernichteten, unschädlich zu machen.

Hadjine Elizundo befand sich eben in Smyrna, als sie hörte, was mit der »Syphanta« nach den ersten Monaten ihrer Kreuzfahrt vorgegangen war. Sie wußte zwar, daß diese Corvette für Rechnung korslötischer Rheder, und auch zu welchem Zwecke dieselbe ausgerüstet worden war. Ebenso blieb ihr nicht unbekannt, daß der Anfang ihrer Fahrt recht gute Erfolge aufzuweisen hatte; jener Zeit traf aber die betrübende Nachricht ein, daß die »Syphanta« ihren Capitän, mehrere Officiere und einen Theil der Mannschaft eingebüßt hatte im Kampfe gegen eine Piratenflottille, welche, der allgemeinen Annahme nach, von Sacratif selbst geführt und befehligt wurde.

Hadjine Elizundo setzte sich sofort in Korfu mit dem Agenten in Verbindung, der die Interessen der Rheder der »Syphanta« vertrat. Sie ließ den Letztgenannten einen so hohen Preis für das Schiff anbieten, daß diese nicht zauderten, ihr dasselbe zu verkaufen. Die Corvette wurde also unter dem Namen eines Banquiers von Ragusa erworben, sie gehörte jedoch niemand Anderem als der Erbin Elizundo’s, welche damit nur die Bobolina’s, die Modena’s, die Zacharia’s und verschiedene andere opferfreudige Patriotinnen nachahmte, deren schon zu Anfang des Unabhängigkeitskrieges auf eigene Kosten ausgestattete Schiffe den Geschwadern der ottomanischen Marine so vielen Schaden zufügten.

Bei diesem Ankauf hatte Hadjine von vornherein den Gedanken gehabt, den Oberbefehl über die »Syphanta« dem Capitän Henry d’Albaret anzubieten. Ein ihr gerne dienender junger Mann, ein Neffe Xaris‘ und Seemann von griechischer Abkunft gleich seinem Onkel, war dem jungen Officier von jeher heimlich nachgefolgt, sowohl in Korfu, als dieser sich so vergeblich bemühte, das junge Mädchen wieder aufzufinden, wie in Scio, als er sich dahin begab, um unter dem Obersten Fabvier zu kämpfen.

Auf ihren Wunsch schiffte sich dieser Mann als Matrose mit auf der Corvette ein, als diese nach dem Gefechte bei Lemnos die Lücken in ihrer Mannschaft wieder ausfüllte. Er war es auch gewesen, der Henry d’Albaret die beiden, übrigens von Xaris‘ Hand herrührenden Briefe in die Hände spielte. Den ersten in Scio, wo Jener die Nachricht erhielt, daß im Stabe der »Syphanta« für ihn ein Platz frei sei, und den zweiten, den er auf den Tisch der Cajüte des Befehlshabers legte, als er vor derselben als Posten stand, und durch welchen dieser ersucht wurde, sich mit der Corvette in den ersten Tagen des Monats September im Gewässer der Insel Scarpanto einzufinden.

Hier beabsichtigte nämlich Hadjine Elizundo zu gleicher Zeit einzutreffen, nachdem sie ihre Fahrt als rettender Liebesengel beendigt. Sie wollte die »Syphanta« benützen, um den letzten Gefangenentransport, den sie mit dem Reste ihres Vermögens zu kaufen gedachte, nach dem Vaterlande zurückzuführen.

Während der nachfolgenden sechs Monate hatte sie freilich noch viel Ungemach zu erleiden und viel Gefahren zu bestehen.

Selbst bis tief in die Berberei, in jene von Piraten wimmelnden Häfen an der afrikanischen Küste, in denen die schlimmsten Banditen bis zur Eroberung Algiers die Herren spielten, hatte sich das junge Mädchen in Begleitung ihres Xaris hineingewagt, um ihren edlen Trieben genug zu thun. Dieser selbstgewählten Aufgabe zu Liebe setzte sie ihre Freiheit, ja, ihr Leben auf’s Spiel und trotzte ohne Zögern allen Gefahren, welchen ihre Jugend und Schönheit sie preisgaben.

Nichts vermochte sie aufzuhalten, sie reiste ab.

So erschien sie zuerst wie ein Engel der Gnade in Tripolis, in Algier, in Tunis und auf allen Märkten der Barbareskenküste. Ueberall, wo griechische Gefangene verkauft worden waren, erstand sie dieselben zum großen Vortheile ihrer zeitweiligen Besitzer zurück. Ueberall, wo die Händler solche Heerden menschlicher Wesen zur Versteigerung brachten, war sie bei der Hand und achtete niemals des Geldes. Bei solchen Gelegenheiten lernte sie auch, hier in Ländern, wo die niedrigsten Leidenschaften durch keine Rücksicht im Zügel gehalten wurden, das ganze Elend schamloser Sclaverei aus eigener Anschauung kennen.

Algier stand zu jener Zeit noch unter der Gewalt einer aus Muselmännern und Renegaten bestehenden Miliz, die sich aus dem Ausschuß der drei Continente, welche die Gestade des Mittelmeeres bilden, recrutirte und die von nichts Anderem lebte, als vom Ankauf der durch Piraten herbeigeschafften Gefangenen, sowie durch deren Verkauf an die Christen.

Im siebzehnten Jahrhundert zählten die nördlichen Länder Afrikas schon nahe an vierzigtausend Sclaven beiderlei Geschlechts, die aus Frankreich, Italien, England und Deutschland, aus Flandern, Holland, Griechenland, Ungarn, Rußland, Polen und Spanien und aus allen Meeren Europas abgefangen worden waren.

In Algier, in den Bagnos des Paschas Ali-Mami, der Kulughi’s und Siddi Hassan’s, in Tunis, in denen Yussis-Dey’s, Galere-Patrone’s und Cicalais‘, wie in denen von Tripolis, sachte Hadjine Elizundo vorzüglich die Aermsten auf, welche der hellenische Krieg zu Sclaven gemacht hatte. So, als werde sie durch einen Talisman beschützt, wanderte sie ruhig inmitten aller Gefahren und erleichterte das namenlose Elend, wo sie nur konnte. Den tausendfältigen Gefahren, welche die Natur der Dinge rings um sie mit sich brachte, entging sie wie durch ein Wunder. Sechs Monate hindurch besuchte sie an Bord leichter Küstenschiffe die entlegensten Punkte der Grenzländer des Mittelmeeres, von der Regentschaft von Tripolis an bis zu den äußersten Grenzen Marokkos – bis nach Tetuan, früher eine vollständig organisirte Republik von Piraten – bis Tanger, dessen Bai den Seeräubern als Ueberwinterungsort diente – bis Sale, an der Westküste Afrikas, wo die unglücklichen Gefangenen in zwölf bis fünfzehn Fuß tief in die Erde gegrabenen Löchern und Höhlen ein wahrhaft erbärmliches Da sein fristen mußten.

Nachdem sie dann ihr Liebeswerk vollendet und von den, von ihrem Vater hinterlassenen Millionen nichts mehr besaß, gedachte Hadjine Elizundo mit Xaris nach Europa zurückzukehren. Sie schiffte sich deshalb auf einem griechischen Fahrzeuge ein, auf dem auch die letzten von ihr zurückgekauften Gefangenen untergebracht worden waren, und ging nach Scarpanto unter Segel. Hier hoffte sie Henry d’Albaret wieder zu finden, und von hier aus hatte sie an Bord der »Syphanta« nach Griechenland heimkehren wollen. Drei Tage nach der Abfahrt von Tunis wurde aber das Schiff, welches sie trug, von einem türkischen Kreuzer aufgebracht und sie selbst nach Arkassa geschafft, wo sie mit Allen, die sie eben befreit, als Sclavin verkauft werden sollte.

Der Gesammterfolg des von Hadjine Elizundo vollbrachten Liebeswerkes hatte darin bestanden, mehrere Tausend Gefangene mit dem Gelde zurückzukaufen, welches ihr Vater durch den Verkauf derselben gewonnen hatte. Das junge, jetzt selbst vermögenslose Mädchen hatte, so weit es ihr möglich war, also das Unrecht wieder gut zu machen gesucht, das ihr Vater vorher begangen hatte.

Alles das erfuhr nun auch Henry d’Albaret. Ja, Hadjine war jetzt zwar arm, aber seiner würdig, und um sie den Händen Nicolas Starkos‘ zu entreißen, hatte er sich ebenso arm gemacht, wie sie selbst.

Inzwischen bekam die »Syphanta« am nächsten Tage schon das Land von Kreta in Sicht. Sie schlug nun einen Curs ein, um nach dem Nordwesten des Archipels zu gelangen. Die Absicht des Commandanten Henry d’Albaret ging dahin, längs der Ostküste Griechenlands bis zur Höhe von Euböa hinauszusegeln. Hier konnten die Gefangenen entweder in Negropont oder in Aegina an sicherem Orte ausgeschifft werden, denn damit waren sie vor den, jetzt bis tief in den Peloponnes zurückgedrängten Türken geschützt. Jener Zeit befand sich nämlich kein einziger Soldat Ibrahim’s mehr auf der hellenischen Halbinsel.

Die an Bord der »Syphanta« so gut als möglich versorgten armen Leute singen schon an, sich von den furchtbaren Leiden, die sie zu überstehen gehabt, langsam zu erholen. Im Laufe des Tages sah man sie gruppenweise auf dem Verdeck, wo sie die erquickende Seeluft schlürften – Kinder, Mütter und Gatten, welche vorher bedroht waren, für immer getrennt zu werden, und die nun wieder vereinigt waren, um sich nicht mehr zu verlassen.

Sie wußten ja auch, was Hadjine Elizundo gethan, und wenn sie auf den Arm Henry d’Albaret’s gestützt vorüber kam, begegneten ihr Alle mit besonderer Hochachtung, der sie oft in rührendster Art und Weise Ausdruck gaben.

Mit den ersten Morgenstunden des 4. September verlor die »Syphanta die Gipfel von Kreta aus dem Gesicht; da der Wind aber sehr schwach geworden war, kam sie im Laufe des Tages nur sehr wenig vorwärts, obwohl man alle Segel beigesetzt hatte. Eine Verzögerung von vierundzwanzig und selbst achtundvierzig Stunden konnte aber von keiner besonderen Bedeutung sein.

Das Meer war ruhig, der Himmel wunderschön. Nichts deutete auf eine nahe bevorstehende Witterungsveränderung hin. Man mußte die Sache eben »gehen lassen, wie’s Gott gefällt«, wie die Seeleute gern sagen, und abwarten, bis die Verhältnisse sich änderten.

Diese friedliche und ruhige Seefahrt gab hinreichend Gelegenheit, an Bord ungestört zu plaudern, da mit Segelmanövern nichts zu thun war. Nur die wachthabenden Officiere und die Ausluger am Vordertheil hatten ihre Aufmerksamkeit auf etwa sichtbar werdendes Land oder auf sich zeigende Schiffe zu richten.

Hadjine Elizundo und Henry d’Albaret pflegten dann auf einer ihnen ausschließlich reservirten Bank des Oberdecks bei einander zu sitzen. Hier plauderten sie in der Hauptsache nicht von der Vergangenheit, sondern von der schönen Zukunft, die sie nun mit Sicherheit vor sich zu sehen glaubten. Sie entwarfen verschiedene bald auszuführende Projecte, ohne daß sie dabei vergaßen, diese auch dem wackern Xaris vorzulegen, der ja gewissermaßen zur Familie gehörte.

So wurde unter anderem verabredet, daß die Vermählung sofort nach der Ankunft auf griechischem Boden gefeiert werden sollte. Die endgiltige Ordnung der Verhältnisse Hadjine Elizundo’s konnte weder Schwierigkeiten noch Verzögerungen herbeiführen. Die Mission, welche sie seit fast einem Jahre erfüllte, hatte das bedeutend vereinfacht. Nach der Hochzeit sollte Henry d’Albaret dem Capitän Todros das Commando der Corvette abtreten, und er selbst wollte seine junge Frau einmal mit nach Frankreich führen, von dort aber bald nach deren Heimat zurückkehren.

Gerade am heutigen Abend unterhielten sie sich über diese Dinge.

Der leichte Wind reichte kaum hin, die hohen Segel der »Syphanta« zu schwellen. Ein herrlicher Sonnenuntergang beleuchtete den Horizont, und einzelne goldene Strahlen desselben schossen weit über die Nebelbank im Westen am Himmel hinaus. An der entgegengesetzten Seite glänzten die ersten Sterne des Morgenlandes. Das Meer zitterte unter einer Unzahl phosphorescirender Fünkchen, und die Nacht versprach eine herrliche zu werden.

Henry d’Albaret und Hadjine Elizundo gaben sich vollständig dem Genusse des prächtigen Abends hin. Sie schauten nach dem Kielwasser hinab, das sich kaum durch einige weißliche Streifen, welche die Corvette hinter sich zurückließ, abzeichnete. Nichts störte das tiefe Schweigen, als höchstens einmal ein leises Rauschen in den Segeln, wenn diese mehr erschlafften oder sich ein wenig anspannten. Die beiden jungen Leute sahen nichts mehr als sich selbst. Endlich wurden sie aus ihren schönen Träumen zur Wirklichkeit zurückgeführt, als Henry d’Albaret seinen Namen wiederholt rufen hörte.

Xaris stand vor ihm.

»Herr Commandant!… sagte Xaris schon zum dritten Male.

– Was wünscht Ihr, guter Freund? antwortete Henry d’Albaret, dem es vorkam, als zauderte Xaris etwas, mit der Sprache heraus zu gehen.

– Was willst Du, lieber Xaris? fragte Hadjine Elizundo.

– Ich hätte etwas mit Ihnen zu sprechen, Herr Commandant.

– Nun, und das wäre?

– So hören Sie. Die Passagiere der Corvette – die braven Leute, welche Sie nach deren Vaterlande zurückführen – haben einen Gedanken gehabt und mich beauftragt, Ihnen denselben mitzutheilen.

– Nun also, ich bin ganz Ohr, Xaris.

– O, Herr Commandant, Jene wissen ja, daß Sie sich mit Hadjine Elizundo vermählen werden…

– Ja freilich, erwiderte Henry d’Albaret lachend, das ist ja für Niemand ein Geheimniß!

– Nun ja, die guten Leute würden sich aber sehr glücklich schätzen, Zeugen Ihrer Hochzeit sein zu können.

– Das werden sie auch, Xaris, das sollen sie, und niemals wird eine Braut eine ehrenvollere Begleitung gehabt haben, als wenn man alle Diejenigen dazu versammeln könnte, die sie der Sclaverei entrissen hat.

– Henry!… sagte das junge Mädchen, die ihn abhalten wollte, in dieser Weise fortzufahren.

– Der Herr Commandant hat vollkommen Recht, erklärte Xaris. Auf jeden Fall müssen die Passagiere der Corvette dabei sein, und…

– Bei unserem Eintreffen auf griechischem Boden werde ich sie Alle zur Beiwohnung der Feierlichkeit einladen.

– Schön, Herr Commandant, fuhr Xaris fort. Aber nachdem den guten Leuten einmal jener Gedanke gekommen war, folgte diesem auch noch ein zweiter.

– Ein ebenso guter?

– Ein noch besserer. Sie lassen Sie bitten, die Trauung noch hier an Bord der »Syphanta« stattfinden zu lassen. Gleicht die Corvette, welche sie nach Griechenland zurückbringt, nicht gewissermaßen ihrem Vaterlande?

– Ich habe nichts dagegen, Xaris, antwortete Henry d’Albaret. Du stimmst doch auch mit ein, Hadjine!«

Statt jeder Antwort drückte Hadjine ihm zärtlich die Hand.

»O, das ist herrlich! rief Xaris.

– Ihr könnt den Passagieren der »Syphanta« die Meldung bringen, daß ihrem Wunsche entsprochen werden soll.

– Also abgemacht, Herr Commandant, aber… fuhr Xaris zögernd fort, das ist noch immer nicht Alles!

– So rede doch, Xaris, sagte das junge Mädchen.

– Nun die guten Leute haben, nachdem sie einen guten Gedanken, dann noch einen besseren ausgesprochen, auch noch einen dritten gehabt, den sie für den allerbesten halten.

– Wirklich, noch einen dritten? erwiderte Henry d’Albaret, und wie lautet dieser dritte Gedanke?

– Sie bitten darum, daß die Trauung nicht nur an Bord der Corvette, sondern auch hier auf offenem Meere und schon morgen stattfinden möchte. Unter ihnen befindet sich ein alter Geistlicher…«

Da wurde Xaris plötzlich durch die Stimme eines Mastwächters unterbrochen, der von der Großraa des Fockmastes herabrief:

»Schiffe vor dem Winde!«

Sofort erhob sich Henry d’Albaret und trat zu dem Capitän Todros, der schon in der bezeichneten Richtung hinaus blickte.

Wenigstens sechs Meilen nach Osten zu zeigte sich eine, aus etwa einem Dutzend Fahrzeugen von verschiedenem Tonnengehalt bestehende Flottille. Wenn die bei der hier herrschenden Windstille jetzt fast unbewegliche »Syphanta« kaum von der Stelle kam, so wurde jene durch die letzten Windstöße einer leichten Brise, welche bis zur Corvette nicht heranreichten, begünstigt, so daß sie diese endlich erreichen mußten.

Henry d’Albaret hatte sich ein Fernrohr bringen lassen und beobachtete aufmerksam die Bewegung jener Schiffe.

»Capitän Todros, sagte er, sich an den zweiten Officier wendend, jene Flottille ist noch zu entfernt, ebenso um ihre Absichten, wie um ihre Stärke erkennen zu lassen.

– Leider, Herr Capitän, antwortete dieser, und bei der mondlosen Nacht, welche voraussichtlich sehr dunkel wird, läßt sich darüber nichts entscheiden. Wir werden schon den morgenden Tag abwarten müssen.

– Ja, gewiß, sagte Henry d’Albaret; da diese Gegenden jedoch ziemlich unsicher sind, so geben Sie Befehl, möglichst aufmerksam Wache zu halten Gleichzeitig sollen alle unumgänglichen Maßregeln getroffen werden für den Fall, daß jene Fahrzeuge sich der »Syphanta« weiter nähern.«

Der Capitän Todros folgte dem erhaltenen Befehl und ordnete Alles in dieser Weise an. An Bord der Corvette wurden doppelte Wachen ausgestellt, welche bis Tagesanbruch auf dem Ausguck bleiben sollten.

Selbstverständlich wurde gegenüber den Vorkommnissen, welche immerhin eintreten konnten, die letzte Entscheidung über die Feier der Vermählung, welche Xaris so dringend beschleunigt wünschte, vorläufig verschoben. Hadjine Elizundo hatte sich auf die Bitte Henry d’Albaret’s wieder nach ihrer Cabine begeben.

Während der Nacht kam nicht viel Schlaf in die Augen der Seeleute; die fortwährende Gegenwart der in einiger Entfernung signalisirten Flottille erweckte eine leicht erklärliche Unruhe. So weit es möglich war, wurden alle Bewegungen derselben scharf beobachtet. Gegen neun Uhr Abends lagerte sich jedoch dichter Nebel auf das Meer, und jene verschwand vollständig hinter diesem Vorhange.

Am folgenden Morgen verbargen noch immer wallende Dunstmassen den östlichen Horizont bei Aufgang der Sonne, und da es gleichzeitig vollkommen windstill blieb, zerstreuten sich diese auch nicht vor zehn Uhr. Bisher hatte man übrigens noch nichts Verdächtiges wahrnehmen können. Als sich der Nebel aber vollständig auflöste, zeigte sich die Flottille in der Entfernung von kaum vier Meilen. Sie hatte sich der »Syphanta« also seit dem Vorabend um zwei Meilen genähert und wenn sie noch so weit von dieser war, kam es nur daher, daß der herrschende Nebel sie am Manövriren gehindert hatte. Da zeigten sich nun ein Dutzend Fahrzeuge, welche, mit einander Schritt haltend, unter dem Drucke langer Galeerenruder langsam vorwärts drangen. Die Corvette dagegen, auf welche solche ihrer Größe wegen ohne Wirkung gewesen wären, lag noch immer unbewegt auf derselben Stelle. Sie war also genöthigt zu warten, ohne selbst irgend eine Bewegung machen zu können.

Allmählich konnte über die Absichten der herannahenden Flottille ein Zweifel nicht mehr aufkommen.

»Das ist ja ein ganzer Haufen ziemlich verdächtiger Fahrzeuge! sagte Capitän Todros.

– Gewiß, und zwar desto verdächtiger, antwortete Henry d’Albaret, da ich unter denselben auch die Brigg wieder erkenne, auf die wir in den Gewässern von Kreta vergeblich Jagd gemacht haben.«

Der Commandant der »Syphanta« täuschte sich nicht. Die Brigg, welche auf fast wunderbare Weise jenseits der Spitze von Scarpanto verschwunden war, fuhr den anderen Schiffen voraus und hielt offenbar darauf, sich von den anderen unter ihrer Leitung stehenden Fahrzeugen nicht zu trennen.

Inzwischen hatte sich ein leichter Ostwind erhoben. Er begünstigte zwar die Fortbewegung jener Flottille, die einzelnen Windstöße aber, welche die Oberfläche des Meeres leicht kräuselten, erstarben etwa ein oder zwei Kabellängen vor der Corvette.

Plötzlich setzte Henry d’Albaret das Fernrohr ab, das er bisher immer vor die Augen gehalten hatte:

»Klar zum Gefecht!« rief er.

Er hatte eben eine lange weiße Dampfwolke aus dem Vordertheil der Brigg hervorquellen sehen, während gleichzeitig eine Flagge auf den Topp eines Mastes stieg und der rollende Donner eines Geschützes bis zur Corvette herüberschallte.

Diese Flagge war von schwarzer Farbe und in derselben zeigte sich nur ein großes, feuerrothes »S«.

Es war die Flagge des Seeräubers Sacratif.

Sechstes Capitel.


Sechstes Capitel.

Während der vier Tage, vom 17. bis zum 20. August, war das Wetter immer schön und die Wärme beträchtlich. Die Dünste des Horizontes verdichteten sich niemals zu Wolken; nur selten erhielt sich unter so hohen Breiten die Atmosphäre bei solcher Klarheit. Selbstverständlich konnten diese klimatischen Verhältnisse Jasper Hobson keineswegs erfreuen.

Am 21. August verkündete das Barometer eine bevorstehende Witterungsveränderung, indem die Quecksilbersäule plötzlich um einige Linien fiel; doch stieg sie am anderen Tage wieder, sank dann noch einmal, und erst am 23. August blieb sie dauernd niedriger.

Am 24. August stiegen die angesammelten Nebel, statt sich zu zerstreuen, als Wolken auf und verschleierten die Sonne zur Mittagszeit vollkommen, so daß Lieutenant Hobson seine gewöhnliche Beobachtung aussetzen mußte.

Am nächsten Tage erhob sich ein scharfer Wind aus Nordosten und fiel, wenn dieser sich zeitweilig legte, reichlicher Regen. Dabei unterlag die Temperatur aber keiner wesentlichen Veränderung, sondern hielt sich immer auf +12°.

Die projectirten Arbeiten waren um diese Zeit zum Glücke ausgeführt, und Mac Nap hatte den Rumpf des Schiffes im Groben vollendet. Auch die Jagd auf eßbares Wild konnte ohne Gefahr eingestellt werden, da man hinreichende Vorräthe besaß. Uebrigens wurde das Wetter bald so schlecht, der Wind so heftig, der Regen so durchdringend und der Nebel so dicht, daß man darauf verzichten mußte, die Umzäunung des Forts zu verlassen.

»Was halten Sie von dieser Aenderung des Wetters, Herr Hobson? fragte Mrs. Paulina Barnett, als sie am Morgen des 27. August die Wuth des Unwetters von Stunde zu Stunde wachsen sah. Könnte sie uns nicht von Nutzen sein?

– Das weiß ich noch nicht, Madame, antwortete Lieutenant Hobson, doch glauben Sie, daß für uns alles Andere besser ist, als das vorhergegangene prächtige Wetter, welches die Gewässer des Oceans mehr und mehr erwärmte. Uebrigens bemerke ich, daß der Wind aus Nordosten aushält, und da er sehr heftig ist, kann unsere Insel schon ihrer Masse wegen sich seiner Einwirkung nicht ganz entziehen. Es würde mich demnach gar nicht Wunder nehmen, wenn sie sich dabei dem amerikanischen Festlande näherte.

– Leider können wir, sagte Sergeant Long, unsere Lage nicht täglich aufnehmen. Bei dieser dicken Luft sind ja weder Sonne, noch Mond oder Sterne zu erblicken; da soll nun Einer Beobachtungen anstellen!

– Zugestanden, Sergeant Long, erwiderte Mrs. Paulina Barnett, dafür stehe ich Ihnen aber, daß wir das Land erkennen, wenn es uns nur zu Gesicht kommt, und wo es auch sei, es wird uns willkommen sein. Aller Voraussicht nach wird es ein Theil des russischen Amerika, wahrscheinlich Nord-Georgia sein.

– So scheint es in der That, fügte Jasper Hobson hinzu, denn in diesem ganzen Theile des Eismeeres trifft man auf keine Insel und kein Eiland, nicht einmal auf einen Felsen, an den wir uns anklammern könnten!

– Ei, sagte Mrs. Paulina Barnett, weshalb sollte unser Fahrzeug uns nicht direct bis an die Küste Asiens tragen? Kann es unter dem Einflusse der Strömungen nicht an der Behrings-Straße vorbei gehen und uns nach dem Lande der Tchouktchi’s führen!

– O nein, Madame, entgegnete der Lieutenant, unser Eisfeld begegnete dabei dem Kamtschatka-Strome, und würde durch diesen mit großer Schnelle nach Nordosten hin getrieben werden, was sehr zu bedauern wäre. Nein, es ist weit wahrscheinlicher, daß uns der Nordostwind dem Küstengebiete des russischen Amerika zutreibt.

– Dann werden wir wachsam sein müssen, Herr Hobson, sagte die Reisende, und unsere Richtung so gut als möglich zu erkennen suchen.

– Daran wird es nicht fehlen, Madame, antwortete Jasper Hobson, trotzdem daß diese dicken Nebel unseren Blick beschränken. Wenn wir jedoch an die Küste geworfen würden, müßte der Stoß heftig genug sein, um ihn bestimmt zu bemerken; hoffen wir nur, daß die Insel dabei nicht in Stücke bricht. Darin liegt die Gefahr! Und doch, wenn es sein sollte, würden wir Nichts dagegen vermögen.«

Natürlich fanden diese Gespräche nicht in dem allgemeinen Saale statt, in dem der größte Theil der Soldaten und die Frauen die Stunden der Arbeit verbrachten. Mrs. Paulina Barnett sprach über derlei Sachen nur in ihrem eigenen Zimmer, dessen Fenster nach dem Vordertheile der Umplankung gerichtet waren. Jetzt drang kaum hinreichendes Licht durch die trüben Scheiben, dafür hörte man draußen den schrecklichen Sturmwind sausen, gegen den das Gebäude, wenn jener von Nordosten blies, durch Cap Bathurst einigermaßen gedeckt wurde. Dafür trommelten der Sand und die Erde, welche er von der Spitze des Vorgebirges entführte, wie Schloßen auf dem Holzdache. Mac Nap beunruhigte sich neuerdings wegen seiner Kamine, vorzüglich wegen des von der Küche ausgehenden, welches ja fortwährend gebraucht wurde. In das Geheul des Windes mischte sich noch das furchtbare Tosen des empörten Meeres, das sich am Uferrande brach. Trotz der wüthenden Windstöße wollte Jasper Hobson am 28. August unbedingt Cap Bathurst besteigen, um den Horizont, das Meer und den Himmel genauer zu beobachten. Dicht eingehüllt, um den Wind sich nicht in seiner Kleidung fangen zu lassen, begab er sich nach außen.

Ohne große Beschwerden gelangte er nach Ueberschreitung des inneren Hofes bis zum Fuße des Cap Bathurst; zwar blendeten Erde und Sand ihm die Augen, doch hatte er unter dem Schutze der Uferhöhe noch nicht direct gegen den Sturm anzukämpfen.

Die schwierigste Aufgabe bestand nun aber darin, an den Seiten der Erhöhung, welche fast lothrecht abgeschnitten waren, empor zu klimmen. Nur dadurch, daß er sich an Grasbüscheln festhielt, erreichte er den Gipfel des Caps; dort konnte er aber bei der Gewalt des Sturmes weder stehen, noch sitzen, und mußte sich platt auf den Abhang nieder legen und an Gesträuche anklammern, wobei er nur den Kopf den wüthenden Windstößen aussetzte.

Jasper Hobson lugte mit aller Anstrengung durch den Nebel; der Anblick des Meeres und des Himmels war wirklich schrecklich. Schon in einer halben Meile Entfernung verschwammen Beide in einander. Ueber seinem Haupte sah er tiefgehende, zerrissene Wolken dahinjagen, während am Zenith noch dichte Nebelmassen unbeweglich hingen. Auf Augenblicke beruhigte sich wohl auch die Luft, und dann hörte man nur das Stürmen der Brandung und den Anprall der entfesselten Wellen. Dann aber setzte der Sturm wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen ein, und Jasper Hobson fühlte den Grund des Vorgebirges erzittern. Dann und wann wurde der Regen so heftig geschleudert, daß die Tropfenlinien tausend kleinen Wasserstrahlen glichen, welche der Wind wie Kartätschenhagel dahinblies.

Es war das ein Orkan, der aus der schlimmsten Himmelsgegend herkam. Dieser Nordost konnte wohl lange Zeit andauern, und lange Zeit die Atmosphäre peitschen. Doch Jasper Hobson beklagte sich darüber nicht. Unter anderen Verhältnissen wäre ihm die verderbliche Wirkung eines solchen Sturmes gewiß zu Herzen gegangen, jetzt freute er sich über jenen! Hielt nur die Insel aus, und darauf war ja zu hoffen, so mußte sie auch durch die Gewalt des Windes, welche die Meeresströmungen überwältigte, nach Südwesten getrieben werden, und dort im Südwesten war ja das Festland, – dort wohnte die Rettung! Für ihn, für alle seine Gefährten hätte nur der Sturm bis zu dem Augenblicke anhalten sollen, wo er sie an die Küste, und sei diese, welche es wolle, warf. Was das Verderben eines Schiffes gewesen wäre, das war das Heil der irrenden Insel.

Eine Viertelstunde lang lag Jasper Hobson so unter der Geißel des Orkanes, durchnäßt vom Wasser des Meeres und des Regens, und klammerte sich mit der Kraft eines Ertrinkenden an den Boden, indem er sich schon überlegte, welchen Vortheil ihm dieser Sturm wohl gewähren könne. Dann kehrte er zurück, glitt an der Seite des Caps hinab, eilte mitten durch den umherwirbelnden Sand über den Hof und trat wieder in das Haus ein. Jasper Hubson’s erste Sorge war es, seinen Gefährten die Mittheilung zu machen, daß der Orkan seinen Höhepunkt noch nicht erreicht habe, und man darauf rechnen könne, daß er noch einige Tage anhalten werde. Das that er aber in ganz eigentümlichem Tone, als verkündete er eine gute Neuigkeit, und voller Erstaunen richteten sich die Blicke Aller auf ihren Chef, dem dieser Kampf der Elemente nur angenehm zu sein schien.

Im Verlaufe des 30. wagte sich Jasper Hobson noch einmal hinaus und drang, wenn auch nicht bis zum Gipfel des Cap Bathurst, doch bis an den Rand des Ufers vor. An diesem Ufer, gegen das die Wogen in schräger Richtung anschlugen, fielen ihm plötzlich einige lange, in der Flora der Insel bisher nicht vorgekommene Meerespflanzen in’s Auge.

Diese Gräser waren noch frisch und bestanden in langen Filamenten des Varec, welche unzweifelhaft erst vor kurzer Zeit vom amerikanischen Continente losgerissen waren. Dieser Continent konnte also nicht mehr fern sein! Der Nordostwind hatte die Insel dem Strome, der sie bis daher geführt, entrissen. Gewiß schlug dem Columbus einst das Herz nicht freudiger, als er die schwimmenden Pflanzen entdeckte, die ihm die Nähe des Landes anzeigten.

Jasper Hobson kam zum Fort zurück und theilte Mrs. Barnett und Sergeant Long seine Entdeckung mit. In diesem Augenblicke hatte er fast Lust, seinen Begleitern über Alles reinen Wein einzuschenken, so sicher war er von ihrer Rettung überzeugt. Doch noch hielt ihn eine Ahnung davon zurück; er schwieg.

Während dieser langen Tage der Einsparung blieben die Bewohner des Forts nicht unthätig und verwandten ihre Zeit auf Hausarbeiten. Manchmal stachen sie auch im Hofe kleine Rinnen aus, um dem Wasser, das sich zwischen Haus und Magazin ansammelte, einen Abzug zu verschaffen. Einen Nagel in der einen und einen Hammer in der andern Hand, hatte Mac Nap in irgend einer Ecke stets Etwas auszubessern. So blieb man den ganzen Tag über beschäftigt, unbekümmert um die Wuth des Sturmes. Als die Nacht aber hereinbrach, schien dieser sich zu verdoppeln, so daß an Schlaf unmöglich zu denken war. Wie eben so viele Keulenschläge trafen die Windstöße das Haus, und manchmal bildete sich scheinbar eine Art Wasserhose zwischen dem Cap und dem Fort. Die Dielen krachten, die Balken schienen auseinander zu weichen, und man mußte befürchten, daß der ganze Bau in Stücke gehe. Für den Zimmermann war das eine Quelle fortwährender Sorgen, für seine Leute die Veranlassung, immer auf der Huth zu sein. Jasper Hobson lag weit weniger die Solidität des Hauses, als die des Bodens am Herzen, auf welchem es errichtet war. Der Orkan wurde so heftig, die Bewegung des Meeres so furchtbar, daß der Gedanke an eine Zerstörung des Eisfeldes nahe gelegt erschien. Unmöglich konnte das ungeheure, in seiner Dicke verminderte und an der Basis abgenagte Eisfeld dem unaufhörlichen Steigen und Fallen des Meerwassers lange Widerstand leisten. Zwar fühlten die Bewohner der Insel vom Seegange Nichts, doch unterlag sie den Wirkungen desselben nicht weniger. Es handelte sich demnach Alles in Allem um die Frage: wird die Insel bis zu dem Zeitpunkte, da sie gegen die Küste stößt, ausdauern oder vorher schon in Stücke gehen?

Jasper Hobson setzte Mrs. Paulina Barnett überzeugend auseinander, daß sie bis jetzt ausgehalten habe. Wenn das nicht der Fall gewesen und das Eisfeld schon in mehrere kleine Schollen getheilt wäre, so konnte das den Bewohnern von Fort-Esperance nicht verborgen bleiben, denn dasjenige Stück, welches sie selbst trug, wäre bei diesem Zustande des Meeres nicht unbewegt geblieben, und hätte dem Seegange unterlegen. Sein Schwanken und Stampfen hätte die, welche sich auf seiner Oberfläche befanden, geschüttelt, wie Passagiere auf einem Schiffe. Das war aber nicht der Fall. Auch bei Gelegenheit seiner täglichen Aufnahmen hatte Jasper Hobson niemals ein Zittern oder irgend welche Bewegung der Insel bemerkt, die so fest zu sein schien, als ob ihr Isthmus sie noch immer an das Festland bände.

Hatte ein Bruch auch noch nicht stattgefunden, so war ein solcher doch jeden Augenblick zu gewärtigen.

Jasper Hobson lag es vorzüglich am Herzen, zu wissen, ob die Insel, wenn sie außerhalb der Strömung dem Drucke des Nordostwindes gefolgt war, sich der Küste genähert hätte, worauf sich alle seine Hoffnung gründete.

Ohne Sonne, Mond und Sterne nützten auch die Instrumente nichts und konnte man die genaue Lage der Insel nicht aufnehmen. Näherte man sich der Erde, so würde man das erst wissen, wenn sie sichtbar wurde, und auch Lieutenant Hobson wäre zur richtigen Zeit, im Falle er nicht einen Stoß fühlte, ohne Kenntniß davon geblieben, wenn er sich nicht nach dem südlichen Theile dieses gefährlichen Gebietes begab. Die Orientation der Insel hatte sich bis jetzt nicht merklich geändert; noch immer wies Cap Bathurst nach Norden, eben so wie zur Zeit, als es einen vorspringenden Punkt des amerikanischen Festlandes ausmachte. Die Insel mußte also, wenn sie anlandete, mit ihrem südlichen Theile zwischen Cap Michael und dem Winkel, den sie vormals bei der Walroß-Bai bildete, anstoßen. Mit einem Worte, die Verbindung mit dem Lande mußte an der Stelle des früheren Isthmus statt haben. Es war also eben so nützlich als wichtig, zu wissen, was auf jener Seite vorging.

Lieutenant Hobson beschloß demnach, sich trotz des abscheulichen Wetters nach dem Cap Michael zu begeben, gleichzeitig aber auch seinen Leuten den wahren Grund dieser Auskundschaftung zu verheimlichen. Nur der Sergeant allein sollte ihn durch den tobenden Sturm begleiten.

An demselben Tage, am 31. August, ließ sich Jasper Hobson, um nach allen Seiten sicher zu sein, den Sergeanten auf sein Zimmer rufen.

»Sergeant Long, sagte er zu ihm, es ist unabweislich nöthig, daß wir uns ohne Verzug über die gegenwärtige Lage der Insel Victoria Gewißheit verschaffen oder doch zum Mindesten wissen, ob die Gewalt des Windes sie, wie ich vermuthe, dem Festlande Amerikas wieder zugetrieben hat.

– Das scheint mir in der That nöthig, Herr Lieutenant, entgegnete der Sergeant, und zwar je eher je besser.

– Wir müssen deshalb, fuhr Jasper Hobson fort, nach dem Süden der Insel gehen…

– Ich bin bereit, Herr Lieutenant.

– Ich weiß, Sergeant Long, daß Sie stets bereit sind, wenn es eine Pflicht zu erfüllen gilt. Doch sollen Sie nicht allein gehen, es ist besser, wenn wir unserer Zwei sind, um für den Fall, daß Land in Sicht wäre, unsere Gefährten zu unterrichten. Wir werden also zusammen gehen.

– Wann Sie wollen, Herr Lieutenant; noch diesen Augenblick, wenn es Ihnen passend erscheint.

– Heute Abend nach neun Uhr, wenn Alles im Schlafe liegt, brechen wir auf…

– Richtig, denn Alle würden uns begleiten wollen, antwortete Sergeant Long, und doch brauchen Jene den Grund nicht zu wissen, der uns so weit von der Factorei wegführt.

– Das ist auch meine Ansicht, erwiderte Jasper Hobson, und ich möchte Allen, so lange es angeht, das Beunruhigende dieser schrecklichen Lage ersparen. Sie nehmen Feuerzeug und Schwamm mit, um, wenn es nöthig würde, z.B. wenn sich Land im Süden zeigte, ein Signal geben zu können.

– Zu Befehl.

– Unser Zug wird voller Beschwerden sein, Sergeant.

– Das wird er, aber das thut auch nichts. Doch, Herr Lieutenant, unsere Reisende?

– Auch ihr wollte ich nichts mittheilen, antwortete Jasper Hobson, denn sie würde uns unfehlbar begleiten wollen.

– Und das ist unmöglich, meinte der Sergeant eine Frau kann nicht gegen einen solchen Sturm ankämpfen. Hören Sie, wie furchtbar er jetzt wüthet?«

Wirklich erzitterte das Haus in seinen Grundpfeilern.

»Nein! sagte Jasper Hobson, jene muthige Frau kann und wird uns nicht begleiten; Alles in Allem dürfte es aber doch gerathen sein, ihr unsere Absicht mitzutheilen. Sie muß unterrichtet sein, im Fall uns unterwegs ein Unglück zustieße…

– Gewiß, Herr Lieutenant, gewiß! antwortete Sergeant Long; ihr dürfen wir Nichts verhehlen, und für den Fall, daß wir nicht wiederkehrten…

– Also, um neun Uhr, Sergeant.

– Um neun Uhr!«

Mit militärischem Gruße zog sich Sergeant Long zurück.

Einige Augenblicke später unterhielt sich Jasper Hobson mit Mrs. Paulina Barnett und brachte sein Project zu deren Kenntniß. So wie er darauf bestand, so bestand die muthige Frau darauf, ihn zu begleiten und der Wuth des Sturmes mit ihm zu trotzen. Der Lieutenant, suchte sie nicht dadurch von diesem Gedanken abzubringen, daß er ihr die Gefahren der bevorstehenden Expedition schilderte, sondern betonte nur, daß ihre Gegenwart im Fort während seiner Abwesenheit unentbehrlich sei, und daß es von ihr abhange, dadurch, daß sie zurück blieb, ihm die so nöthige Ruhe des Geistes zu bewahren. Sollte sich ein Unglück ereignen, so wäre er mindestens sicher, daß seine thatkräftige Begleiterin zur Hand sei, um bei seinen Leuten seine eigene Stelle zu vertreten.

Mrs. Paulina Barnett verstand ihn und drängte nicht weiter. Jedenfalls bat sie Jasper Hobson, sich nicht unnütz einer Gefahr auszusetzen, indem sie ihm in’s Gedächtniß zurückrief, daß er der Chef der Factorei sei und sein Leben nicht ihm allein, sondern dem Wohl aller Uebrigen gehöre. Der Lieutenant versprach, so klug zu handeln, als es unter den gegebenen Verhältnissen möglich sein werde, doch wäre es unbedingt und ohne Verzug nöthig, den südlichen Theil der Insel in Augenschein zu nehmen. Am folgenden Tage sollte Mrs. Paulina Barnett den Anderen nur sagen, daß der Lieutenant und der Sergeant zum letzten Male vor Eintritt des Winters auf Kundschaft ausgezogen seien.

Siebentes Capitel.


Siebentes Capitel.

Der Lieutenant und der Sergeant verbrachten den Abend bis zur Schlafenszeit in dem großen Saale von Fort-Esperance. Alle hatten sich da versammelt, bis auf den Astronomen, der fortwährend in seiner Zelle hermetisch abgeschlossen blieb. Die Männer beschäftigten sich auf verschiedene Weise, reinigten die Waffen, besserten die Werkzeuge aus, oder schärften sie. Mrss. Mac Nap, Raë und Joliffe betrieben mit der guten Madge ihre Nadelarbeiten, und Mrs. Paulina Barnett endlich las mit lauter Stimme vor.

Oft wurde diese Lectüre nicht allein durch den Sturm, der wie ein Mauerbrecher an die Wände des Hauses donnerte, sondern auch durch das Geschrei des kleinen Kindes unterbrochen. Corporal Joliffe, welcher Letzteres besänftigen wollte, hatte damit vollauf zu thun. Seine Knie, die als Schaukelpferd dienen mußten, waren schon ganz lahm geworden, so daß sich der Corporal entschloß, seinen unermüdlichen kleinen Reiter auf den großen Tisch zu setzen, auf dem das Kind nach Herzenslust umher kollerte, bis es der Schlaf am Ende übermannte.

Um acht Uhr verrichteten Alle gemeinsam das gebräuchliche Gebet, die Lampen wurden verlöscht, und Jeder suchte seine gewohnte Schlafstätte.

Als Alle im Schlafe lagen, schritten Lieutenant Hobson und Sergeant Long geräuschlos durch den verlassenen großen Saal und gelangten nach dem Vorraume, wo Mrs. Paulina Barnett sie zu einem letzten Händedruck erwartete.

»Also auf morgen, sprach sie zu dem Lieutenant.

– Auf morgen, Madame, erwiderte Jasper Hobson, ja auf morgen … ohne Zweifel …

– Aber im Falle Sie ausbleiben? …

– Wird man uns ruhig erwarten müssen, entgegnete der Lieutenant, denn nach der nächtlichen Beobachtung des südlichen Horizontes, an dem ein Feuer sichtbar werden könnte, – wenn wir uns beispielsweise der Küste Nord-Georgias genähert hätten – liegt mir viel daran, am Tage unsere Lage genau festzustellen. Das könnte also schon vierundzwanzig Stunden in Anspruch nehmen. Vermögen wir aber Cap Michael noch vor Mitternacht zu erreichen, so werden wir morgen Abend im Fort zurück sein. Haben Sie also Geduld, Madame, und glauben Sie, daß wir uns nicht unklug einer Gefahr aussetzen werden.

– Wenn Sie aber, fragte die Reisende, morgen, in zwei Tagen noch nicht zurück gekehrt wären? …

– Dann kehren wir auch niemals zurück!« antwortete einfach Lieutenant Hobson.

Die Thür ging auf, und Mrs. Barnett schloß sie wieder hinter dem Lieutenant und seinem Begleiter. Unruhig und gedankenvoll schlich sie nach ihrem Zimmer zurück, wo Madge ihrer wartete.

Jasper Hobson und Sergeant Long überschritten den inneren Hof und mußten sich Einer an den Anderen halten, so fegte der Wind durch diesen; doch erreichten sie das äußere Thor und drangen muthig zwischen den Hügeln und dem östlichen Ufer der Lagune hinaus.

Ein unbestimmter Widerschein lag über dem Lande. Da seit dem Tage vorher Neumond war, so versprach auch dieser keine bessere Beleuchtung und machte der Nacht ihre furchtbare Dunkelheit, welche übrigens nur einige Stunden anhalten sollte, nicht streitig. Auch jetzt sah man noch nothdürftig, um sich zurecht zu finden.

Aber welcher Sturm und welcher Regenguß! Lieutenant Hobson und sein Begleiter waren zwar mit wasserdichten Stiefeln und gut anschließenden Wachstuchmänteln versehen, deren Capuchons ihren Kopf vollkommen verhüllten. So geschützt marschirten sie schnell, denn der Wind, den sie im Rücken hatten, trieb sie gewaltsam vorwärts und konnte man eher sagen, daß sie, wenn jener seine Heftigkeit verdoppelte, schneller gingen, als sie selbst wollten. Zu sprechen versuchten sie aber gar nicht, denn sie hätten sich, betäubt und außer Athem von dem Sturm, doch nicht hören können.

Jasper Hobson hatte nicht die Absicht, dem Ufer nachzugehen, dessen Unregelmäßigkeiten seinen Weg nur unnützer Weise verlängern und ihm der ganzen Gewalt des Windes, welcher dort natürlich kein Hinderniß fand, preisgeben mußten. So viel als möglich wollte er von Cap Bathurst bis zum Cap Michael eine gerade Linie einhalten, und trug deshalb einen kleinen Taschencompaß bei sich, um seiner Richtung sicher zu bleiben. So konnte der zurückzulegende Weg nur zehn bis elf Meilen betragen, und hoffte er ungefähr zu der Zeit an seinem Ziele anzulangen, wo die Dämmerung für wenige Stunden ganz verschwinden und die Nacht in voller Finsterniß herrschen würde.

Gejagt vom Winde und mit gekrümmtem Rücken, eingezogenem Kopfe und auf ihre Stöcke gestützt kamen der Lieutenant und sein Sergeant ziemlich geschwind vorwärts. So lange sie in der Nachbarschaft des Seeufers gingen, traf sie noch nicht die volle Gewalt des Sturmes und hatten sie verhältnißmäßig weniger zu leiden, da die Hügel und die Bäume, welche letztere bedeckten, sie einigermaßen schützten. Mit einer Wuth ohne Gleichen pfiff der Sturm durch die Aeste, immer nahe daran, einen lockeren Stamm zu entwurzeln und zu zersplittern, doch »brach« er sich selbst dabei. Selbst der Regen schlug nur zu feinem Staub zertheilt nieder. So wurden die Kundschafter auf einer Strecke von vier Meilen weniger geplagt, als sie selbst gefürchtet hatten.

Als sie aber das südliche Ende des Hochwaldes erreichten, da wo die Hügel auslaufen und der flache Erdboden, der ohne irgend welche Erhöhung oder Baumschutz war, vom Seewind überfegt wurde, hielten sie einen Augenblick an. Noch blieben sechs Meilen bis zum Cap Michael zu durchwandern.

»Das wird nun etwas härter hergehen! rief Lieutenant Hobson dem Sergeant Long in’s Ohr.

– Ja, erwiderte dieser, Wind und Regen werden uns um die Wette in’s Gebet nehmen.

– Ich fürchte sogar, daß sich zeitweilig etwas Hagel einmischen wird, fügte Jasper Hobson hinzu.

– Das ist immer noch besser, als Kartätschen! entgegnete gelassen der Sergeant. Uebrigens werden Sie, Herr Lieutenant, so gut wie ich, schon durch den Kugelregen gegangen sein, also in Gottes Namen vorwärts!

– Vorwärts, mein wackerer Soldat!«

Es war nun zehn Uhr; das letzte Dämmerlicht verschwand, als wäre es in Wasserdunst untergetaucht oder durch Wind und Regen ausgelöscht worden. Nur sehr verschwommen war noch die Spur eines Lichtscheines bemerkbar. Der Lieutenant schlug Feuer an und sah nach seiner Boussole, indem er diese unter seinem Ueberrocke hielt und mit einem Stückchen brennenden Schwammes über sie hinleuchtete; dann wagte er sich mit dem Sergeanten auf die ungeheure Ebene, welche weithin ohne jeden Schutz war, hinaus.

Im ersten Augenblick wurden Beide gewaltsam niedergeworfen; sie erhoben sich mühsam, klammerten sich Einer an den Andern und setzten sich, gebeugt wie zwei alte Männchen, schnell in Gang.

Der Sturm war wahrhaft prächtig in seinem Schrecken! Zerrissene Fetzen von Nebel, ein wahres Gemisch von Luft und Wasser, jagten über die Erde. Sand und Erde flogen wie Kartätschen umher, und an dem Salze, welches sich an ihre Lippen ansetzte, erkannten die Wanderer, daß das Wasser des Meeres mindestens aus einer Entfernung von zwei bis drei Meilen in Staubform bis zu ihnen hergetragen wurde.

In den seltenen und kurzen Pausen des Sturmes hielten sie an und schöpften Athem. Der Lieutenant corrigirte dann so gut als möglich unter Abschätzung des zurückgelegten Weges ihre Richtung, und wieder gingen sie weiter.

Mit eintretender Nacht nahm die Gewalt des Sturmes aber nur noch zu. Beide Elemente, die Luft und das Wasser, schienen ganz ineinander aufzugehen. Sie bildeten eine jener furchtbaren Tromben, welche Häuser umstürzen und Wälder entwurzeln, und auf die die Schiffer mit Kanonen feuern. Man hätte wirklich glauben können, daß der ganze, seinem Bette entrissene Ocean über die schwimmende Insel herstürze.

Jasper Hobson stellte sich auch die gegründete Frage, wie das Eisfeld, welches sie trug, einer solchen Wasserfluth Widerstand leisten könne und bei dem furchtbaren Seegange noch nicht an hundert Stellen gebrochen sei. In der Ferne hörte man das Meer rauschen. Da blieb Sergeant Long, der dem Lieutenant um einige Schritte voraus war, plötzlich stehen und stieß nur die wenigen Worte heraus:

»Nicht dorthin!

– Warum nicht?

– Das Meer! …

– Wie? Das Meer? Wir sind doch jetzt noch nicht am südwestlichen Ufer?

– Da, sehen Sie selbst, Herr Lieutenant.«

Wirklich erschien in der Dunkelheit eine breite Wasserfläche, und wüthend brachen sich die Wellen zu Füßen des Lieutenants.

Jasper Hobson schlug noch einmal Feuer und beobachtete mittels eines neuen Stückchen Schwammes aufmerksam die Nadel seiner Bussole.

»Nein, sagte er, das Meer liegt weiter nach links. Noch haben wir den Hochwald nicht durchschritten, der uns vom Cap Michael trennt.

– Nun, dann ist das …

– Ein neuer Bruch der Insel, fiel Lieutenant Hobson ein, der sich gleich seinem Begleiter hatte auf den Boden werfen müssen, um dem Ungestüm des Windes zu widerstehen. Entweder hat sich ein großer Theil der Insel losgerissen und treibt nun fort, oder es ist das nur ein Einschnitt, welchen wir umgehen können. Vorwärts also!«

Jasper Hobson und der Sergeant erhoben sich und wandten sich nach rechts, indem sie der Wasserlinie folgten, welche zu ihren Füßen schäumte. So gingen sie wohl zehn Minuten lang, immer mit der Furcht, von aller Verbindung mit dem südlichen Theile der Insel abgeschnitten zu sein. Da verstummte die Brandung, welche zu dem Lärmen des Sturmes sonst noch hinzu gekommen war.

»Das ist nur ein Einschnitt, sagte Lieutenant Hobson seinem Sergeanten in’s Ohr. Kehren wir um!«

Auf’s Neue schlugen sie die Richtung nach Süden ein. Gewiß setzten sich die muthigen Männer einer Gefahr aus, doch trotzdem sie das Beide recht wohl wußten, theilten sie ihre Gedanken einander doch nicht mit.

In der That konnte dieser Theil der Insel Victoria, über welchen sie jetzt schritten, und der schon auf eine weite Strecke aus der Ordnung geschoben war, sich jeden Augenblick gänzlich davon loslösen. Vertiefte sich der Einschnitt unter dem Zahn der Brandung noch weiter, so wurden sie mit ihm unfehlbar verschlagen. Sie zauderten aber nicht, sondern drangen durch die Finsterniß, ohne zu fragen, ob ihnen ein Weg zur Rückkehr übrig sein würde.

Welche beunruhigende Gedanken lasteten da auf Jasper Hobson’s Seele. Konnte er jetzt noch hoffen, daß die Insel bis zum Winter zusammen halten werde? War jenes nicht der Anfang des unvermeidlichen Bruches? Wenn sie jetzt der Wind nicht gegen die Küste trieb, war sie dann nicht verurtheilt, bald zu Grunde zu gehen, zu schmelzen und zu versinken? Welch eine trostlose Zukunft und welche Aussicht verblieb dann noch den unglücklichen Bewohnern dieses Eisfeldes?

Niedergeschmettert und zerschlagen von der Wucht der Windstöße verfolgten die beiden muthigen Männer, die nur das Gefühl einer zu erfüllenden Pflicht noch aufrecht erhielt, unaufhaltsam ihren Weg. So kamen sie an den Saum jenes weiten Hochwaldes, der an Cap Michael grenzte. Dieser war zu durchschreiten, um möglichst bald das Ufer zu erreichen. Jasper Hobson und Sergeant Long begaben sich also hinein, trotz der tiefsten Finsterniß, trotz des Höllengetöses des Sturmes in den Tannen und Birken. Alles krachte rings um sie und die abgerissenen Zweige schlugen ihnen in’s Gesicht. Jeden Augenblick liefen sie Gefahr, durch einen umstürzenden Baum erschlagen zu werden, oder stießen sich an den schon gefallenen Stämmen, die in der Dunkelheit nicht zu bemerken waren. Dennoch gingen sie jetzt nicht mehr auf gut Glück weiter, denn das Rauschen des Meeres leitete ihre Schritte durch das Gehölz. Sie vernahmen den furchtbaren Rückprall der Wogen, die sich mit schrecklichem Geräusche brachen, und mehr als einmal fühlten sie den dünner gewordenen Boden unter ihren Füßen zittern. Endlich kamen sie Hand in Hand, um sich nicht zu trennen, sich unterstützend und Einer dem Anderen aufhelfend, wenn sie gegen ein Hinderniß stießen, an den Küstenrand auf der anderen Seite des Waldes.

Dort riß sie aber ein Wirbelwind von einander; sie wurden mit Gewalt getrennt und zur Erde geschleudert.

»Sergeant! Sergeant! Wo seid Ihr? rief Jasper Hobson mit aller Kraft seiner Lungen.

– Hier, Herr Lieutenant!« antwortete der Sergeant.

Auf dem Boden hin kriechend suchten sich Beide wieder zu vereinigen, doch schien es, als ob eine übermächtige Hand sie an die Stelle banne. Nach unerhörten Anstrengungen näherten sie sich endlich und banden sich, um einer Wiederholung eines solchen Zufalls vorzubeugen, mit den Gürteln an einander; dann krochen sie auf dem Sande hin, um eine leichte Bodenerhöhung zu gewinnen, welche eine Gruppe dürftiger Tannen krönte. Unter dem geringen Schutze derselben gruben sie endlich ein Loch auf, in welchem sie erschöpft und athemlos eine Zuflucht suchten.

Jetzt war es um elf Uhr Nachts.

Einige Minuten verharrten Jasper Hobson und sein Begleiter schweigend. Die Augen halb geschlossen, konnten sie sich nicht mehr rühren, und eine Art Halblähmung oder Schlafsucht ergriff sie, während der tobende Sturm über ihren Köpfen die Tannen schüttelte, welche wie die Knochen eines Skelettes klapperten. Mit aller Anstrengung widerstanden sie dem Schlafe, und erquickten sich durch einige Schlucke Branntwein aus der Kürbisflasche des Sergeanten.

»Wenn nur diese Bäume aushalten! sagte Lieutenant Hobson.

– Und wenn nur unser Loch nicht mit ihnen dahingeht! fügte Sergeant Long hinzu, der sich mit dem Ellenbogen auf den Sand stützte.

– Da wir nun aber einmal hier sind, fuhr Jasper Hobson fort, nur wenig Schritte vom Cap Michael, und hergekommen sind, um Umschau zu halten, so wollen wir es auch thun. Sergeant Long, ich habe eine Ahnung, daß wir nicht mehr weit vom festen Lande sind, freilich ist das nur eine Ahnung.«

Von der Stelle, wo sie sich befanden, hätten ihre Blicke zwei Drittel des südlichen Horizontes umfassen können, wenn dieser nur sichtbar gewesen wäre. Eben jetzt herrschte aber vollkommene Finsterniß und mußten sie, sobald kein Feuer aufleuchtete, wohl den folgenden Morgen abwarten, um sich von dem Vorhandensein einer Küste zu überzeugen, vorausgesetzt, daß der Wind sie weit genug nach Süden getrieben hatte. Fischerei-Anstalten sind nämlich, – wie Lieutenant Hobson schon der Mrs. Barnett versicherte – in dieser Gegend des nördlichen Amerika, welches zu Neu-Georgia gehört, nicht gerade selten. Auch trifft man hier auf zahlreiche Etablissements, wo die Eingeborenen nach Mammuth-Zähnen suchen, denn diese Seegegenden bergen eine große Anzahl versteinerter Skelette jener vorweltlichen Kolosse. Einige Grade tiefer erhebt sich Neu-Archangel, die Verwaltungsstation des ganzen Archipels der Aleuten und Hauptort des russischen Amerika. Die Jäger besuchen aber fleißiger die Küste des Eismeeres, vorzüglich seitdem die Hudsons-Bai-Compagnie die Jagdgebiete, welche früher Rußland ausbeutete, erpachtet hat. Ohne das Land selbst zu kennen, war Jasper Hobson doch mit den Gewohnheiten der Agenten vertraut, welche es zu dieser Jahreszeit besuchten, und hatte alle Gründe zu der Annahme, dort Landsleute, vielleicht Collegen anzutreffen, und wenn nicht diese, dann doch nomadisirende Indianer, welche längs der Küste hinzuziehen pflegen.

Hatte denn Jasper Hobson aber ein Recht, zu glauben, daß die Insel Victoria nach der Küste zu getrieben sei?

»Ja, und hundertmal ja! wiederholte er dem Sergeanten. Viele Tage wehte dieser Nordostwind mit der Kraft eines Orkans. Wohl weiß ich, daß unsere sehr flache Insel ihm nur wenig Angriffspunkte bietet, dennoch müssen ihre Hügel, ihre Wälder, welche die Stelle der Segel vertreten, der Wirkung eines solchen Luftstromes unterliegen. Selbst das Meer, welches uns trägt, entgeht nicht ganz diesem Einflusse, und sicher verlaufen jene großen Wogen nach der Küste. Mir scheint es demnach unmöglich, daß wir aus der Strömung, die uns nach Westen führte, nicht heraus gekommen, unmöglich, daß wir nicht nach Süden getrieben worden wären. Bei unserer letzten Aufnahme waren wir nur zweihundert Meilen vom Lande entfernt, und seit sieben Tagen …

– Ihre Schlüsse sind gewiß ganz richtig, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long; haben wir die Hilfe des Windes, so haben wir auch die Hilfe Gottes, der es nicht wollen kann, daß so viele Unglückliche verderben; darauf setze ich alle meine Hoffnung!«

So sprachen Jasper Hobson und der Sergeant in Sätzen, die das Toben des Sturmes oft unterbrach. Ihre Blicke suchten die dichte Finsterniß zu durchdringen, welche die durch den Orkan umhergetriebenen Nebelmassen noch undurchsichtiger machten.

Gegen ein Uhr Morgens legte sich der Sturm auf wenig Minuten. Nur das Donnern des furchtbar aufgeregten Meeres schwieg nicht. Die Wogen stürzten mit entsetzlicher Gewalt über einander.

Plötzlich ergriff Jasper Hobson den Arm seines Begleiters und rief:

»Sergeant, hören Sie?

– Was?

– Das Geräusch des Meeres?

– Ja, Herr Lieutenant, antwortete Sergeant Long, der gespannter aufhorchte, und seit einigen Augenblicken scheint mir das Tosen der Wellen …

– Nicht mehr dasselbe zu sein … nicht wahr, Sergeant? Hören Sie … hören Sie… das klingt wie Brandung … man sollte meinen, daß das Wasser sich an Felsen breche!« …

Jasper Hobson und der Sergeant lauschten mit gespanntester Aufmerksamkeit. Gewiß war das nicht mehr das eintönige und dumpfe Geräusch der Wellen, die in offener See einander treffen, sondern es klang, wie das Rollen flüssiger Massen, welche gegen einen harten Körper geworfen werden, wenn es das Echo der Felsen wieder giebt. Am ganzen Ufer der Insel fand sich aber nicht ein einziger Felsen, und pflanzte diese mit ihrem Boden aus Sand und Erde den Schall nicht so kräftig fort.

Hatten sich die beiden Lauscher getäuscht? Der Sergeant suchte sich zu erheben, um besser hören zu können, wurde aber von dem Sturmwinde, der sich auf’s Neue erhob, sofort wieder umgeworfen. Die kurze Pause war vorüber, und ununterscheidbar brauste der Lärmen wieder durch einander. Aber wer stellt sich nicht die Angst der beiden Beobachter vor, wenn er bedenkt, daß sie, zurückgezogen in ihre Vertiefung, den Sand unter ihren Füßen sinken, und die Tannen bis in ihre Wurzeln erzittern fühlten! Und trotzdem blieb ihr Blick auf den Süden geheftet. Ihr ganzes Leben concentrirte sich jetzt in diesem Blicke, und ihre Augen stierten in die Finsterniß, welche kaum die ersten Strahlen der Morgenröthe färbten.

Plötzlich, etwas vor zwei ein halb Uhr Morgens, rief der Sergeant:

»Ich habe Etwas gesehen!

– Was?

– Ein Feuer!

– Ein Feuer?

– Ja! … Dort, in dieser Richtung!«

Der Sergeant wies mit der Hand nach Südwesten. Sollte er sich getäuscht haben? Nein, denn Jasper Hobson gewahrte auch einen unbestimmten Lichtschein in der angegebenen Richtung.

»Ja! rief er freudig, ja, Sergeant! Ein Feuer! Das ist das Land!

– Wenn dieses Licht nicht von einem Schiffe herrührt! entgegnete Sergeant Long.

– Bei einem solchen Unwetter ein Schiff auf offener See! Das ist unmöglich. Nein, nein! Das Land ist dort, sage ich Ihnen, und nur einige Meilen von unserer Insel entfernt!«

Jetzt fehlte es aber an einer Fackel, um diese zu entzünden; nur die Tannen standen über ihnen, welche der Sturm beugte.

»Ihr Feuerzeug, Sergeant«, sagte Jasper Hobson.

Der Sergeant zündete etwas Schwamm an und kroch auf der Erde bis zu der Baumgruppe. Der Lieutenant folgte ihm. Dürres Holz fehlte nicht. Sie häuften es um die Wurzeln eines Baumes, setzten es in Brand, und mit Hilfe des Windes ergriff die Flamme die ganze Baumgruppe.

»O, rief Jasper Hobson, da wir jenes Feuer sehen konnten, wird man auch uns bemerken!«

Die Tannen brannten mit hellem Scheine und erzeugten eine lange, rauchende Flamme, wie etwa eine riesige Fackel. Das Harz knisterte in den alten Stämmen, welche schnell verzehrt wurden. Bald ward das Feuer stiller und stiller und – Alles verlosch.

Jasper Hobson und der Sergeant warteten, ob ein neues Feuer dem ihrigen antworten werde …

Zehn Minuten beobachteten sie vergeblich, und suchten den Punkt wieder aufzufinden, woher der erste Lichtschein gekommen war; schon verzweifelten sie irgend welches Signal zu erhalten, als sich plötzlich ein Schrei vernehmen ließ, ein deutlicher, verzweifelter Schrei aus dem Meere.

Jasper Hobson und der Sergeant glitten bis zu dem Ufer hinab … kein Laut war mehr zu hören.

Seit einigen Minuten flammte aber das Morgenroth weiter und weiter auf. Auch der Sturm schien mit dem Wiedererscheinen der Sonne an Heftigkeit zu verlieren. Bald wurde es hell genug, um den Horizont übersehen zu können.

Da war aber kein Land in Sicht, und Himmel und Meer verschwammen noch immer in derselben Linie am Horizonte.

Achtes Capitel.


Achtes Capitel.

Den ganzen Morgen verbrachten Jasper Hobson und Sergeant Long noch in dieser Gegend der Küste. Das Wetter hatte sich wesentlich geändert. Es regnete fast gar nicht mehr, dagegen war der Wind außergewöhnlich schnell nach Südosten umgesprungen, ohne dabei an Heftigkeit einzubüßen. Dieser sehr unangenehme Umstand vergrößerte nur Lieutenant Hobson’s Unruhe, da er nun jede Hoffnung, auf das Festland zu treffen, aufgeben mußte.

In der That konnte dieser Südostwind die umherirrende Insel nur mehr und mehr von jenem entfernen, und sie den so gefürchteten Strömungen, welche nach dem Norden des Arktischen Oceans verlaufen, zuführen.

Hatte man denn aber überhaupt eine Gewißheit darüber, daß die Insel in jener Schreckensnacht der Küste nahe gewesen, oder beruhte diese Annahme nur auf einer nicht in Erfüllung gegangenen Ahnung Jasper Hobson’s? Die Luft war ja jetzt ziemlich klar und auf mehrere Weilen hin durchsichtig, dennoch aber keine Spur eines Landes zu sehen. Mußte man nicht auf die Ansicht des Sergeanten zurück kommen, daß während der Nacht ein Fahrzeug der Insel in Sicht vorbei gekommen, eine Schiffslaterne einen Augenblick sichtbar gewesen sei, und der gehörte Schrei von einem verunglückten Seemann hergerührt habe? Und würde dieses Schiff nicht wahrscheinlich selbst bei dem furchtbaren Sturme untergegangen sein?

Auf jeden Fall traf man indeß auf keine Schiffstrümmer.

Der Ocean, über den der Landwind jetzt in entgegengesetzter Richtung brauste, thürmte bergehohe Wellen auf, denen ein Fahrzeug nur sehr schwer mochte widerstehen können.

»Nun, Herr Lieutenant, sagte der Sergeant, zu einem Entschlüsse werden wir kommen müssen.

– Ja freilich, Sergeant, antwortete Jasper Hobson und strich mit der Hand über die Stirn, und zwar müssen wir auf unserer Insel ausharren, um den Winter zu erwarten. Er allein vermag uns zu retten.«

Der Mittag war herangekommen. Da Jasper Hobson jedenfalls vor dem Abend in Fort-Esperance zurück sein wollte, schlug man nun den Weg nach Cap Bathurst ein, wobei die Wanderer wiederum vom Winde im Rücken unterstützt wurden.

Nicht unberechtigt erfüllte sie die Frage mit großer Unruhe, ob sich die Insel bei diesem Kampfe der Elemente nicht in zwei Theile getrennt, ob sich also der in vergangener Nacht beobachtete Riß durch ihre ganze Breite fortgesetzt habe. Waren sie vielleicht jetzt schon von ihren Freunden geschieden? Der Lage der Dinge nach mußten sie auf Alles gefaßt sein.

Bald kamen sie an den die Nacht vorher durchschrittenen Hochwald. In großer Menge lagen da die Bäume auf der Erde, die einen mit geknicktem Stamme, die anderen sammt den Wurzeln aus dem Boden, dessen dünne Erdschicht ihnen keinen genügenden Widerhalt bot, herausgerissen. Blätterlos starrten ihnen die übrigen wie grinsende Silhouetten entgegen, und klapperten lärmend im Winde.

Zwei Meilen über diesen verwüsteten Wald hinaus trafen Lieutenant Hobson und der Sergeant auf den erwähnten Spalt, dessen Größenverhältnisse sie in der Dunkelheit nicht hatten wahrnehmen können. Er stellte einen gegen fünfzig Fuß breiten Bruch dar, der das Ufer halbwegs zwischen Cap Michael und dem ehemaligen Barnett-Hafen theilte, und eine Art Bucht bildete, die etwa anderthalb Meilen in das Land einschnitt. Wenn ein neuer Sturm das Meer aufwühlte, war zu erwarten, daß der Riß sich vergrößern und erweitern werde.

Bei Annäherung an die Küste sah Jasper Hobson eben einen gewaltigen Eisblock sich von der Insel loslösen und in die Weite treiben.

»Ja wohl, murmelte der Sergeant Long, darin liegt die Gefahr!«

Mit raschem Schritte wandten sich Beide nach Westen um den großen Einschnitt herum, und von dessen Ende aus direct auf Fort-Esperance zu.

Auf dem Wege kam ihnen keine weitere Veränderung zu Gesicht. Um vier Uhr erreichten sie das Palisadenthor, und trafen ihre Genossen bei den gewohnten Beschäftigungen an.

Gegen seine Leute sprach sich Jasper Hobson dahin aus, daß er zum letzten Male vor Eintritt des Winters nach Spuren der von Kapitän Craventy versprochenen Sendung habe suchen wollen, das aber auch diesmal fruchtlos gewesen sei.

»Ich glaube wohl, Herr Lieutenant, ließ sich Marbre vernehmen, daß wir für dieses Jahr unbedingt darauf verzichten müssen, unsere Kameraden aus Fort-Reliance zu sehen.

– Ganz meine Meinung, Marbre«, antwortete ihm Jasper Hobson, und zog sich in den allgemeinen Saal zurück.

Mrs. Paulina Barnett und Madge wurden von den beiden merkwürdigsten Ereignissen der kleinen Reise des Lieutenants, jenem Aufblitzen eines Lichtes und der Wahrnehmung eines Schreies, unterrichtet. Jasper Hobson und der Sergeant bekräftigten noch ganz besonders, daß ihnen in Bezug auf Beides nicht etwa die erhitzte Einbildung nur einen Streich gespielt habe. Das Feuer war wirklich gesehen, der Schrei unzweifelhaft vernommen worden. Nach reiflichster Ueberlegung einigte man sich dahin, daß gewiß ein nothleidendes Schiff an der Insel vorüber gekommen, diese aber nicht, nach der früheren Voraussetzung, nahe dem amerikanischen Festlande gewesen sei.

Mit dem Südostwinde heiterte sich indeß der Himmel vollkommen auf und befreite sich die Atmosphäre von den Dünsten, welche sie bis dahin trübten. Jasper Hobson konnte darauf rechnen, am nächsten Tage eine Lagenbestimmung auszuführen.

Wirklich wurde die Nacht ziemlich kalt und fiel ein feinflockiger Schnee, welcher die ganze Insel leicht bedeckte. Beim Erwachen am anderen Morgen begrüßte der Lieutenant dieses erste Vorzeichen des ersehnten Winters.

Jetzt war der 2. September. Als der Himmel sich nach und nach ganz entwölkte, brach die Sonne wieder hindurch. Zu Mittag wurde eine gelungene Beobachtung bezüglich der Breite, und gegen zwei Uhr eine Berechnung der Stundenwinkel vorgenommen.

Diese Beobachtungen ergaben: Für die Breite 70º 57′; für die Länge 170º 30′.

Trotz der Macht des Orkanes hatte sich die Insel also nahezu in derselben Parallele gehalten und ihre Lage nur in Folge der Strömung gegen Westen hin verschoben. Nun befand sie sich gegenüber der Behrings-Straße, jedoch mindestens vierhundert Meilen nördlich vom Ostcap und dem Cap Prince-de-Gallas, welche die engste Stelle der Straße bezeichnen.

Diese neue Lage gab sehr ernsthaft zu denken. Mit jedem Tage näherte sich die Insel jenem großen Kamtschatka-Strome, der, wenn er sie einmal ergriff, sie weit nach Norden verschlagen mußte. Binnen Kurzem stand die Entscheidung ihres Schicksals bevor: entweder verharrte sie zwischen den beiden gegnerischen Strömen unbewegt bis zum Festwerden des umgebenden Meeres, oder – sie verlor sich in den Einöden der hyperboräischen Regionen.

Jasper Hobson, der sehr peinlich erregt seine Unruhe doch vor Anderer Blicken verbergen wollte, zog sich in sein Zimmer zurück und erschien den ganzen Tag nicht wieder. Die Karten vor den Augen setzte er seine ganze Erfindungsgabe, seinen ganzen praktischen Verstand daran, eine Lösung zu finden.

Die Temperatur sank weiter um einige Grade, und die abendlichen Nebel des südöstlichen Horizontes schlugen sich während der Nacht als Schnee nieder. Am anderen Tage maß die weiße Decke schon zwei Zoll – endlich kam der Winter.

An diesem Tage, den 3. September, beschloß Mrs. Paulina Barnett, den Küstenstrich zwischen Cap Bathurst und dem Cap Eskimo auf einige Meilen hin zu durchstreifen. Sie wollte die Veränderungen in Augenschein nehmen, die der Sturm der eben vergangenen Tage dort veranlaßt haben könnte. Jasper Hobson hätte, wenn sie diesem von ihrer Absicht Kunde gab, sich gewiß zu ihrer Begleitung angeschlossen. Da sie ihn aber bei seinen Ansichten über jene Veränderungen belassen wollte, entschied sie sich, nur in Gesellschaft Madge’s aufzubrechen.

Eine Gefahr schien ja nicht zu besorgen. Die einzigen wirklich zu fürchtenden Thiere, die Bären, hatten die Insel seit dem Erdbeben verlassen. Zwei Frauen konnten sich demnach, ohne den Vorwurf der Unklugheit zu verdienen, wohl auf einen nur für wenige Stunden berechneten Ausflug in die Umgebungen des Forts hinaus wagen.

Madge ging ohne Widerrede auf Mrs. Paulina Barnett’s Vorschlag ein, und Beide stahlen sich, ohne Jemand davon Kenntniß zu geben, mit dem einfachen Schneemesser, einer Kürbisflasche und einer Reisetasche ausgerüstet, schon um acht Uhr Morgens davon, stiegen den Abhang des Caps hinab und lenkten ihre Schritte nach Westen.

Schon glitt die Sonne langsam über den Horizont hin, denn selbst bei ihrer Culmination erhob sie sich nur auf wenige Grade. Ihre schrägen Strahlen waren aber hell, eindringend und schmolzen an Stellen, die sie unmittelbar beschienen, noch den leichten Schneeteppich weg.

Zahlreiche Vögel aller Art flatterten in Schwärmen umher und belebten die Küste. Die Luft hallte von ihrem Geschrei wieder, wenn sie, je nachdem das süße oder salzige Wasser sie anlockte, unaufhörlich zwischen der Lagune und dem Meere hin- und herflogen.

Mrs. Paulina Barnett machte auch die Bemerkung, wie zahlreich die verschiedensten Pelzthiere sich in der nächsten Nachbarschaft von Fort-Esperance aufhielten. Ohne Mühe konnte die Factorei wohl ihre Magazine füllen; aber zu welchem Zwecke wäre das jetzt geschehen?

Diese unschuldigen Thiere, welche zu wissen schienen, daß ihnen kein Jäger nachstelle, gingen und kamen mit zunehmender Vertraulichkeit bis an die Palissaden heran. Ihr Instinct mochte ihnen verrathen haben, daß sie auf dieser Insel gefangen seien, gefangen wie deren Bewohner, und daß Alle ein gemeinschaftliches Schicksal theilten. Höchst eigenthümlich erschien es aber, und war übrigens Mrs. Paulina von Anfang an nicht entgangen, daß Marbre und Sabine, zwei so leidenschaftliche Jäger, dem Befehle des Lieutenants, die Pelzthiere jetzt ausnahmslos zu schonen, so ohne jede Uebertretung nachkamen und nicht die geringste Lust zeigten, das kostbare Wild mit einem Büchsenschusse zu begrüßen. Füchse und Andere entbehrten freilich noch ihres Winterpelzes, was ihren Werth sehr beträchtlich herabsetzte, aber doch genügte dieser Grund wohl kaum, die auffallende Lustlosigkeit der beiden Nimrods zu erklären.

Im wackeren Zuschreiten faßten Mrs. Paulina Barnett und Madge bei der Unterhaltung über ihre ganz fremdartige Lage den sandigen Saum der Küste immer aufmerksam in’s Auge. Die Verwüstungen, welche das Meer in jüngster Zeit verursacht hatte, waren sehr merkbar. Da und dort bewiesen frische Schollen das Vorhandensein neuer Brüche. Das an manchen Stellen abgenagte und flachere Ufer zeigte eine beunruhigende Neigung zum Versinken, und schon rollten da lange Wellen darüber hin, wo jenen sonst ein steiler Uferrand ein Halt geboten hatte. Offenbar waren einige Theile der Insel gesunken und schwebten jetzt mit der Wasserfläche nur noch in gleicher Höhe.

»Meine liebe Madge, sprach da Mrs. Paulina Barnett unter Hinweisung auf die ausgedehnten Bodenstrecken, über welche hin die Wellen jetzt plätschernd ausliefen, unsere Lage ist seit jenem verderblichen Sturme weit übler geworden! Gewiß erniedrigt sich das allgemeine Niveau der Insel nach und nach. Unsere Rettung bildet nun blos noch eine Zeitfrage. Wird sich der Winter frühzeitig genug einstellen? Hierauf beruht Alles.

– Der Winter wird kommen, meine Tochter, erwiderte Madge mit ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen. Schon fiel zwei Nächte über Schnee. Da oben am Himmel wird jetzt die Kälte geboren, und ich glaube es bestimmt, daß Gott sie uns zu Hilfe sendet.

– Du hast recht, Madge, antwortete die Reisende, wir müssen den Glauben haben. Wir Frauen, die wir dem natürlichen Grunde und Laufe der Dinge nicht nachgehen, dürfen da nicht verzweifeln, wo es die bestunterrichteten Männer thun, und darin liegt eine Gnade für uns! Leider ist unser Lieutenant dieser nicht theilhaftig. Er kennt das Warum der Dinge, er überlegt und rechnet, er mißt die Zeit, welche uns noch bleibt, und schon sehe ich ihn nahe daran, jede Hoffnung aufzugeben!

– Doch ist er aber ein thatkräftiger Mann, in dem ein muthiges Herz klopft, entgegnete Madge.

– Gewiß, fügte Mrs. Paulina Barnett hinzu; und wenn unser Heil noch von Menschenhand zu erhoffen ist, so wird er uns retten!«

Um neun Uhr hatten die beiden Frauen eine Entfernung von vier Meilen zurück gelegt. Oft mußten sie von dem Wege am Ufer nach dem Innern der Insel zu abweichen, um die schon überschwemmten niedrigen Theile des Erdbodens zu umwandern. An gewissen Stellen waren die Spuren des Meeres wohl eine halbe Meile landeinwärts noch zu erkennen, wo die Dicke des Eisfeldes also ganz besonders vermindert sein mochte. Es stand demnach zu befürchten, daß es an mehreren Punkten ganz nachgeben und deshalb neue Buchten und Baien an diesem Küstenstriche bilden würde.

Je weiter sie sich von Fort-Esperance entfernten, desto mehr bemerkte Mrs. Paulina Barnett auch eine Abnahme in der Zahl der Pelzthiere. Diese armen Geschöpfe fühlten sich offenbar in der Nähe der Menschen, welche sie doch bis dahin flohen, sicher, und aus diesem Grunde drängten sie sich in der Umgebung der Factorei zusammen. Eigentliche wilde Thiere, die ihr Instinct nicht zur rechten Zeit von dieser gefährlichen Insel vertrieben hatte, mußten sehr selten sein. Doch beobachteten Mrs. Paulina und Madge einzelne, fern in der Ebene umherschweifende Wölfe. Diese kamen übrigens nicht heran, sondern verschwanden bald hinter den kleinen Hügeln im Süden der Lagune.

»Was wird zuletzt, fragte Madge, aus diesen Thieren, welche auf der Insel zugleich mit uns gefangen sind, werden, und was mögen sie beginnen, wenn ihnen einst das Futter mangelt, und der Winter sie aushungert?

– Aushungert! Meine gute Madge, beruhigte Mrs. Barnett, o glaube mir, daß wir von diesen Nichts zu fürchten haben. Ihnen wird es nicht an Nahrung fehlen, ihnen fallen alle jene Marder, Polarhasen und Hermeline, deren Leben wir jetzt schonen, zur sicheren Beute. Vor einem Angriffe durch Jene brauchen wir nicht zu zittern. Nein! Hierin liegt keine Gefahr für uns! Der zerbrechliche Boden birgt sie, der einst bersten wird, und jeden Augenblick schon unter unseren Füßen in Stücke gehen kann. Da sieh, wie sich hier das gierige Meer in das Innere des Landes einfrißt. Schon bedeckt es einen Theil der Ebene, den sein verhältnißmäßig wärmeres Wasser nun von oben und von unten abnagt. Wenn der Frost ihm nicht entgegen tritt, wird es sich bald mit der Lagune vereinigen, und wir verlieren unseren See, wie wir Fluß und Hafen schon eingebüßt haben.

– Dieser Umstand, sagte Madge, dürfte für uns aber zum unheilbaren Unglück sein.

– Und warum das, Madge? fragte Mrs. Paulina Barnett, und sah ihre Begleiterin erwartungsvoll an.

– Nun, weil wir damit alles süßen Wassers beraubt würden.

– O, meine brave Madge, Süßwasser wird uns niemals ausgehen. Regen, Schnee, Eis, Eisberge des Oceans, ja, selbst der Boden der Insel, die uns trägt, – Alles besteht aus süßem, genießbarem Wasser. Nein, ich wiederhole Dir’s, auch hierin beruht für uns nicht die Gefahr.«

Gegen zehn Uhr befanden sich Mrs. Paulina Barnett und Madge in der Höhe des Cap Eskimo, aber mindestens zwei Meilen im Innern der Insel, da sie dem Ufer nicht nahe zu folgen im Stande waren. Die von einem so weiten und durch die unvermeidlichen Umwege noch verlängerten Marsche etwas ermüdeten Frauen beschlossen vor der Rückkehr nach Fort-Esperance ein wenig auszuruhen. An diesem Punkte erhob sich ein kleines Gehölz von Birken und Strauchwerk, das einen niedrigen Hügel krönte. Eine von gelblichem Moose überwachsene, und durch die Sonnenstrahlen vom Schnee befreite Stelle bot sich ihnen bei ihrem frugalen Mahle als geeigneter Ruheplatz.

Eine halbe Stunde später schlug Mrs. Paulina Barnett vor, erst den jetzigen Zustand des Cap Eskimo zu überschauen, bevor sie sich östlich, nach der Factorei zurück wendeten. Es drängte sie, zu wissen, ob dieser Landvorsprung den Angriffen des Seesturmes widerstanden habe oder nicht. Madge erklärte sich bereit, ihrer »Tochter« überallhin zu folgen, wohin es dieser zu gehen beliebte, und erinnerte sie nur, daß zwischen ihnen und Cap Bathurst eine Entfernung von acht bis neun Meilen läge, sowie, daß man Lieutenant Hobson nicht durch eine zu lange Abwesenheit beunruhigen dürfe.

Dennoch bestand Mrs. Paulina Barnett, so als ob eine Ahnung sie dahin zöge, auf ihrem Gedanken, und wie man bald sehen wird, zum größten Glücke. Dieser Umweg konnte übrigens die ganze Dauer des Ausflugs nur um eine halbe Stunde verlängern.

Die beiden Frauen erhoben sich also und gingen aus das Cap Eskimo zu.

Noch hatten sie jedoch keine Viertelmeile zurück gelegt, als die Reisende plötzlich stehen blieb, und Madge sehr regelmäßige Fußspuren zeigte, welche scharf im Schnee abgedrückt waren. Dieselben mußten ganz neuerdings hinterlassen und höchstens neun bis zehn Stunden alt sein, denn im anderen Falle hätte sie der zuletzt gefallene Schnee unzweifelhaft wieder überdeckt.

»Was für ein Thier ist hier vorbei gekommen? fragte Madge.

– Das ist kein Thier gewesen, verbesserte Mrs. Paulina Barnett und beugte sich nieder, um die Eindrücke besser zu sehen, denn ein solches hinterläßt ganz anders gestaltete Spuren. Sieh, Madge, diese hier stimmen alle mit einander überein, und man ist versucht, sie einem menschlichen Fuße zuzuschreiben.

– Wer könnte aber hierher gekommen sein? antwortete Madge. Weder ein Soldat, noch eine der Frauen hat das Fort verlassen, und da wir uns auf einer Insel befinden … Nein, Du mußt Dich täuschen, meine Tochter. Zum Ueberfluß laß uns diesen Spuren nachgehen und sehen, wohin sie führen.«

Die beiden Frauen setzten ihren Weg fort, und achteten aufmerksam auf die Fußtapfen im Schnee.

»Halt … sieh hier, Madge, begann die Reisende, indem sie ihre Begleiterin zurückhielt, und sage selbst, ob ich mich irrte.«

Neben den Fußspuren sah man an einer Stelle, wo der Schnee durch einen schweren Körper zusammengedrückt war, sehr deutlich den Abdruck einer Menschenhand.

»Die Hand einer Frau oder eines Kindes! rief Madge aus.

– Ja, bestätigte Mrs. Barnett, hier ist ein Kind oder eine Frau erschöpft, leidend und kraftlos umgesunken … Dann hat sich das arme Wesen wieder aufgerafft und seinen Weg fortgesetzt… Sieh, dort führt die Spur weiter … Dort ist es auch wiederholt hingefallen! …

– Aber wer? Wer? forschte Madge.

– Weiß ich’s? erwiderte Mrs. Paulina Barnett. Vielleicht irgend ein Unglücklicher, der so wie wir seit drei bis vier Monaten auf dieser Insel abgesperrt ist. Vielleicht ein Schiffbrüchiger, den der Sturm an diese Küste warf … Denk‘ an das Licht und den Schrei, von denen Lieutenant Hobson und Sergeant Long uns berichteten! … Komm, komm, meine Madge, vielleicht gilt es, einen Unglücklichen zu retten! …«

Mrs. Paulina Barnett zog ihre Gefährtin mit sich fort und folgte eilend dem im Schnee vorgezeichneten Schmerzenspfade, auf welchem sich bald Blutstropfen fanden.

»Einen Unglücklichen zu retten!« hatte die theilnehmende, muthige Frau gesagt. Vergaß sie wohl in diesem Augenblicke gänzlich, daß auf dieser vom Wasser halb zersetzten Insel, deren Untergang im Oceane früher oder später bevorstand, weder für einen Anderen, noch für sie selbst das Heil zu suchen war?

Die Eindrücke im Fußboden wiesen nach dem Cap Eskimo hin. Gespannt folgten ihnen die beiden Frauen, doch bald wurden die Blutspuren umfänglicher, und verschwanden die einzelnen Fußtapfen. Jetzt zeigte sich nur eine Art unregelmäßigen, über den Schnee hingezogenen Pfades. Von hier aus hatten dem Unglücklichen die Kräfte versagt, sich aufrecht zu erhalten. Kriechend und schleppend hatte er sich noch mit Hilfe der Hände und Füße fortbewegt. Da und dort lagen abgerissene Fetzen seiner Bekleidung, die aus Robbenfell und Pelzwerk bestehen mußte.

»Vorwärts! Vorwärts!« trieb Mrs. Paulina Barnett, deren Herz dem Zerspringen nahe war.

Madge folgte ihr. Das Cap Eskimo war nur noch fünfhundert Schritte entfernt. Schon sah man es, wie es sich über der Meeresfläche von dem Hintergrunde des Himmels abhob. Es war verlassen!

Die von den beiden Frauen verfolgten Spuren wandten sich nach rechts. Mrs. Paulina Barnett und Madge durchsuchten den kleinen Hügel, welcher das Cap bildete, um vielleicht von einer Stelle desselben Etwas wahrnehmen zu können. Vergeblich. Auf’s Neue verfolgten sie nun die Spuren, die einen Pfad längs des Meeres darstellten.

Mrs. Paulina Barnett lief schnell nach rechts weiter; sobald sie aber an das Ufer hinabkam, hielt sie Madge, welche ihr folgte und immer sorgsam den Blick umherschweifen ließ, mit der Hand zurück.

»Halt‘ ein! rief sie ihr zu.

– Nein, Madge, nein! antwortete Mrs. Barnett, von einem gewissen Instinct fast wider Willen fortgetrieben.

– Halt‘ ein, meine Tochter, und sieh‘ erst!« erwiderte Madge, welche Jene jetzt kräftiger zurück hielt.

Fünfzig Schritte vom Cap Eskimo trottete an dem nämlichen Ufer unter dumpfem Brummen eine weiße Masse daher.

Es war ein Polarbär von riesiger Größe. Vor Schreck an den Boden gefesselt, sahen ihn die beiden Frauen. Das gewaltige Thier lief um ein auf dem Schnee liegendes Bündel Pelzwerk herum; dann hob er es auf und ließ es wieder fallen, um dasselbe zu beschnüffeln. Das Bündel hätte man wohl für ein todtes Walroß ansehen können.

Mrs. Paulina Barnett wußte weder, was sie davon denken, noch ob sie vorwärts gehen sollte, als durch eine dem Körper ertheilte Bewegung sich eine Art Capuchon von dem Kopfe zurückschlug und lange, braune Haare darunter hervorquollen.

»Ein Weib! rief Mrs. Paulina Barnett, welche schon auf die Verunglückte zustürzen wollte, um zu sehen, ob sie noch am Leben oder schon todt sei.

– Halt, halt! mein Kind, mahnte aber Madge, bezwinge Dich; er wird ihr kein Leid zufügen.«

Wirklich glotzte der Bär den Körper aufmerksam an, und begnügte sich, ihn um und um zu wenden, ohne daran zu denken, ihn mit seinen furchtbaren Krallen zu zerfleischen. Dann entfernte er sich davon und kehrte wieder zurück, scheinbar unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Die beiden Frauen, welche ihm mit entsetzlicher Angst zusahen, hatte er nicht bemerkt.

Plötzlich – ein lautes Krachen – der Boden erzitterte – man hätte glauben können, daß jetzt das ganze Cap Eskimo im Meere versinke. –

Doch es löste sich nur ein großes Stück vom Ufer los, eine ungeheure Scholle, deren Schwerpunkt sich durch die Veränderung ihres specifischen Gewichtes verschoben hatte, und welche jetzt mit dem Bären und dem weiblichen Körper hinaus zu treiben begann.

Mrs. Paulina Barnett stieß einen verzweifelnden Schrei aus, und wollte nach der Scholle eilen, bevor diese das Ufer ganz verließ.

»Halt‘ ein, halte noch ein, meine Tochter!« wiederholte kaltblütig Madge, deren Hand sie krampfhaft fesselte.

Bei dem Krachen des Bruches war auch der Bär plötzlich zurück gewichen; er brummte gewaltig, verließ dann den Körper und trollte nach der Seite der Insel zu, von der er schon gegen vierzig Fuß weggetrieben war. So als wäre er ganz außer sich, lief er um das Eiland herum, bearbeitete den Boden mit den Tatzen, scharrte, daß Schnee und Sand um ihn herum flogen, und kehrte endlich zu dem leblosen Körper zurück.

Dann packte das Thier, zum größten Entsetzen der beiden Frauen, jenen an der Kleidung, hob ihn mit der Schnauze auf, ging an den Rand der Scholle und stürzte sich in das Meer.

Nach kurzer Zeit hatte der Bär, ein rüstiger Schwimmer, wie alle seine Verwandten in den Arktischen Ländern, das Gestade der Insel erreicht. Mit kräftiger Anstrengung schwang er sich vollends hinauf, und legte da den mitgebrachten Körper nieder.

Jetzt konnte sich Mrs. Paulina Barnett nicht mehr zurück halten. Ohne an die Gefahr zu denken, wenn sie sich dem fürchterlichen Raubthiere gegenüber befand, entwand sie sich Madge’s Händen und eilte nach dem Ufer.

Als der Bär sie gewahr wurde, hob er sich auf den Hintertatzen in die Höhe und kam geraden Weges auf sie zu. Zehn Schritte vor ihr blieb er stehen, senkte den ungeheuren Kopf und kehrte um, als habe er unter dem Einflüsse des Schreckens, der die ganze Thierwelt der Insel umzuwandeln schien, seine ganze natürliche Wildheit verloren. Mit grollendem Brummen trottete er nach dem Innern der Insel von dannen, ohne sich nur einmal umzusehen.

Sofort war Mrs. Paulina Barnett nach dem auf dem Schnee hingestreckten Körper geeilt.

Ein Schrei entrang sich ihrer Brust.

»Madge, Madge!« rief sie.

Madge kam herzu und betrachtete den leblosen Körper.

Es war der – Kalumah’s, des jungen Eskimomädchens!

Neuntes Capitel.


Neuntes Capitel.

Kalumah auf der schwimmenden Insel, zweihundert Meilen von dem Festlande Amerikas! Das war doch kaum möglich!

Doch zunächst, athmete denn die Unglückliche noch? Würde man sie zum Leben zurückrufen können? Mrs. Paulina Barnett hatte die Kleidung des Eskimomädchens aufgerissen und horchte nach dessen Herzschlage. Noch war er, wenn auch nur schwach, hörbar. Das Blut, das die Arme verloren, entstammte nur einer minder bedeutenden Handwunde. Madge verband die Stelle mit ihrem Taschentuche und stillte dadurch die Hämorrhagie.

Mittlerweile kniete Mrs. Paulina Barnett neben Kalumah nieder, unterstützte den Kopf der jungen Eingeborenen und träufelte durch ihre geöffneten Lippen einige Tropfen Branntwein; dann rieb sie ihre Stirn und Schläfe mit etwas kaltem Wasser.

So verflossen einige Minuten. Weder Mrs. Barnett noch Madge sprachen ein Wort. Beide lauschten in größter Angst, denn das wenige Leben, das in der Geretteten noch vorhanden war, konnte jeden Augenblick verlöschen.

Da rang sich ein schwacher Seufzer aus der Brust Kalumah’s, leise regte sich ihre Hand, und noch bevor sie die Augen öffnete und Diejenigen erkennen konnte, welche sie jetzt pflegten, lispelte sie die Worte:

»Madame Paulina! Madame Paulina!«

Die Reisende war nicht wenig erstaunt, ihren Namen unter diesen Umständen aussprechen zu hören. War denn Kalumah freiwillig auf die schwimmende Insel gekommen, und wußte sie, daß sie der Europäerin, deren Güte sie nicht vergessen hatte, begegnen würde?

Wie konnte sie aber von der Insel Victoria Kenntniß haben, und auf welche Weise diese, zweihundert Meilen von der Küste, erreichen? Wie hatte sie überhaupt vermuthen können, daß dieses Eisfeld Mrs. Paulina Barnett und alle ihre Genossen von Fort-Esperance barg? Alles das blieb völlig unerklärbar.

»Sie lebt und wird leben bleiben! rief Madge, die unter ihrer Hand die Wärme und die Bewegung in dem halberstarrten Körper wiederkehren fühlte.

– Das unglückliche Kind! sagte Mrs. Paulina Barnett mit bewegtem Herzen, und meinen Namen hatte sie noch auf den Lippen, als sie dem Tode so nahe war.«

Jetzt schlug Kalumah die Augen wieder auf; mit wirrem unbestimmten Blicke schaute sie umher. Plötzlich belebte sie sich und stützte sich auf die Reisende. Ein Augenblick, nur ein Augenblick, doch er war ihr hinreichend, Mrs. Paulina Barnett, ihre »gute Dame«, wieder zu erkennen, deren Namen nochmals ihren Lippen entschlüpfte, während ihre Hand, die sie ein wenig erhoben hatte, in die Mrs. Barnett’s zurücksank.

Die Pflege der beiden Frauen rief die junge Eskimodin indessen bald ganz in’s Leben zurück, die Arme, welche nicht nur von der Anstrengung, sondern auch durch Hunger bis auf das Aeußerste erschöpft war. Mrs. Paulina Barnett vernahm von ihr, daß sie seit achtundvierzig Stunden nichts genossen hatte. Einige Stück frisches Wild und ein Schluck Branntwein gaben ihr bald ihre Kräfte wieder, und eine Stunde später war Kalumah im Stande, mit ihren Freunden den Weg zum Fort einzuschlagen.

Doch in dieser Stunde, während der sie zwischen Mrs. Paulina Barnett und Madge auf dem Sande saß, fand Kalumah Zeit, ihren Dank auszusprechen, ihre Anhänglichkeit zu beweisen und ihre Geschichte zu erzählen. Die junge Eingeborene hatte die Europäerin von Fort-Esperance nicht vergessen, immer war ihr das Bild der Mrs. Barnett im Gedächtniß geblieben, und, wie man sogleich erfahren wird, es war kein Zufall, der sie halb todt an das Ufer der Insel Victoria geworfen hatte.

Es folge hier in wenig Worten die Erzählung Kalumah’s.

Man erinnert sich, daß die junge Eingeborene bei ihrem ersten Besuche das Versprechen gegeben hatte, im folgenden Jahre, während der guten Jahreszeit, zu ihren Freunden von Fort-Esperance zurückzukehren. Als die lange Polarnacht vorüber war und der Mai heran kam, machte Kalumah sich auf, ihr Versprechen zu erfüllen. Sie verließ demnach Neu-Georgia, wo sie den Winter zugebracht hatte, und wandte sich in Begleitung eines ihrer Schwäger nach Osten.

Sechs Wochen später, gegen Mitte Juni, kam sie auf dem Gebiete Neu Britanniens, welches an Cap Bathurst grenzt, an. Sie erkannte leicht die vulkanischen Berge wieder, deren Höhe die Bai Liverpool beherrschen und gelangte zwanzig Meilen weiter nach der Walroß-Bai, welche sie mit den Ihrigen bei der Jagd nach jenen Amphibien so häufig besucht hatte.

Aber jenseits dieser Bai nach Norden war Nichts mehr zu sehen! In gerader Linie verlief die Küste nach Süden; es gab kein Cap Bathurst, kein Cap Eskimo mehr!

Kalumah begriff, was vorgegangen war, wußte aber nicht, ob dieses ganze Gebiet, das seitdem zur Insel Victoria geworden war, untergegangen sei oder noch im Meere umherirre. Kalumah brach in Thränen ans, da sie Diejenigen nicht angetroffen hatte, welche sie von so weiter Ferne her aufgesucht. Ihr Schwager zeigte sich über die stattgefundene Katastrophe viel weniger erstaunt.

Nach einer Art Legende, einer sich unter den nomadisirenden Stämmen forterbenden Tradition, war Cap Bathurst vor tausend Jahren an den Continent angeschwommen, ohne je einen Theil desselben zu bilden, und sollte auch eines Tages durch Naturkräfte wieder davon losgerissen werden. Daher rührte die Verwunderung der Eskimos, als sie die von Lieutenant Hobson am Fuße des Cap Bathurst errichtete Factorei erblickten. Bei der bedauerlichen, ihrer Race eigentümlichen Zurückhaltung aber, vielleicht auch in der Voreingenommenheit, welche jeder Eingeborene gegen den Fremdling hat, der sein Vaterland in Besitz nimmt, sprachen sich die Eskimos nicht gegen Lieutenant Hobson aus. Kalumah kannte jene Ueberlieferung nicht, welche übrigens eines genügenden Nachweises entbehrte und nur den zahlreichen Legenden der hyperboräischen Kosmogenie beizuzählen war; deshalb erfuhren die Bewohner von Fort-Esperance nichts von der Gefahr, welche ihnen hier drohte.

Gewiß hatte Jasper Hobson, wenn die Aussagen der Eskimos über diesen Boden seinen Verdacht gegen denselben verstärkten, ein neues und sicher unerschütterliches Gebiet zur dauernden Begründung der Factorei aufgesucht.

Als nun das Verschwinden des Cap Bathurst festgestellt war, setzte Kalumah ihre Nachforschungen noch bis zur Washburn-Bai fort, ohne jedoch eine weitere Spur zu finden, und nun blieb ihr nichts Anderes übrig, als nach Westen, nach den Fischereien des russischen Amerika zurückzukehren.

Mit dem letzten Tage des Juni verließ sie also mit ihrem Schwager die Walroß-Bai. Sie zogen am Ufer hin und kamen Ende Juli nach einer vergeblichen Reise wieder bei den Etablissements in Neu-Georgia an.

Niemals hoffte Kalumah jetzt Mrs. Paulina Barnett und ihre Genossen von Fort-Esperance wieder zu sehen, welche sie vom Eismeere verschlungen wähnte.

Bei diesen Worten wandte die Erzählerin die feuchten Augen nach Mrs. Barnett und drückte ihr zärtlich die Hand, dann sprach sie ein leises Gebet und dankte Gott für ihre Rettung durch die eigene Hand der Freundin.

Nach der Rückkehr in den Schooß ihrer Familie ab sie sich wieder den gewohnten Beschäftigungen hin. Mit den Ihrigen war sie bei der Fischerei in der Nähe des Eiscaps thätig, welches letztere fast genau im siebenzigsten Breitengrade, aber über sechshundert Meilen vom Cap Bathurst entfernt liegt.

In der ersten Hälfte des August ereignete sich nichts Besonderes. Gegen Ende aber erhob sich jener furchtbare Sturm, welcher Jasper Hobson so große Unruhe einflößte und der sich über das ganze Polarmeer, ja bis über die Behrings-Straße hinaus erstreckte. Am Eiscap wüthete er mit derselben Gewalt, wie auf der Insel Victoria. Zu jener Zeit befand sich diese, wie es Jasper Hobson auch berechnet hatte, nicht über zweihundert Meilen von der Küste.

Während sie Kalumah’s Worten lauschte, begann es in Mrs. Barnett’s Geiste langsam zu tagen, da diese ja über die Sachlage hinlänglich unterrichtet war, und endlich fand sie in jenen Worten auch den Schlüssel für manche sonderbare Erscheinungen und für die Ankunft der jungen Eingeborenen auf der Insel.

Die ersten Tage des Sturmes hindurch blieben die Eskimos am Eiscap auf ihre Hütten beschränkt; sie konnten diese nicht verlassen, noch viel weniger den Fischfang betreiben. In der Nacht vom 31. August bis 1. September trieb Kalumah eine gewisse Ahnung jedoch nach dem Ufer. Trotz des um sie tobenden Sturmes und Regens wagte sie sich hinaus und prüfte mit sorgenvollem Blicke das bewegte Meer, dessen Wellen in der Dunkelheit sich wie eine Bergkette aufthürmten.

Da glaubte sie kurze Zeit nach Mitternacht eine weiße Masse zu sehen, welche vom Orkan getrieben, längs der Küste hinglitt. Ihre sehr scharfen Augen, gleich denen aller Eingeborenen an die Finsterniß der langen Polarnacht gewöhnt, konnten sie nicht getäuscht haben.

Ein ungeheuer großer Gegenstand passirte gegen zwei Meilen entfernt das Ufer, und dieser Gegenstand konnte weder ein Wallfisch, noch ein Schiff, in dieser Jahreszeit auch kein gewöhnlicher Eisberg sein.

Kalumah überdachte das zwar gar nicht, ihr Geist sah Alles klar, wie durch eine Offenbarung. Vor ihrem überreizten Gehirn stieg das Bild ihrer Freunde auf. Sie sah sie Alle vor sich, Mrs. Paulina Barnett, Madge, Lieutenant Hobson und auch das kleine Kind, dem sie in Fort-Esperance ihre Zärtlichkeiten zugewendet hatte. Ja, sie mußten es sein, die dort auf einem schwimmenden Eisfelde vom Sturm verschlagen vorüber fuhren.

Kalumah zweifelte und zögerte keinen Augenblick. Sie sagte sich nur, daß sie die Schiffbrüchigen von der Nahe des Landes, welche sie gewiß nicht ahnten, unterrichten müsse. Nach ihrer Hütte zurück eilend ergriff sie eine der aus Werg und Harz hergestellten Fackeln, wie sie die Eskimos bei dem nächtlicher Fischfang gebrauchen, entzündete diese und bewegte sie auf dem Gipfel des Eiscaps hin und her.

Das war das Feuer gewesen, welches Jasper Hobson und Sergeant Long, die damals auf dem Cap Michael lagen, in der Nacht des 31. August mitten durch die Dunkelheit wahrgenommen hatten.

Wie groß war die Freude, die Erregung der jungen Eskimodin, als sie eine Antwort auf ihr Signal aufleuchten sah, jene von Jasper Hobson angezündete Tannengruppe, die ihr fahles Licht bis an das Ufer Amerikas, dem sich Jasper Hobson nicht so nahe glaubte, hinüberwarf. Doch bald war es wieder ganz finster. Die Pause im Sturme währte nur wenige Minuten, und nach Südosten umspringend erhob sich der Orkan mit erneuter Wuth.

Kalumah sah ein, daß »ihre Beute«, – so drückte sie sich aus – ihr entgehen, und daß die Insel nicht an’s Land stoßen werde. Sie sah sie vor sich, diese Insel, sie fühlte, wie jene durch Nacht und Dunkel wieder davon und in das offene Meer hinaus trieb.

Das war ein furchtbarer Augenblick für die junge Eingeborene. Um jeden Preis, sagte sie sich, mußten ihre Freunde Nachricht über die dermalige Lage erhalten, da jetzt doch vielleicht irgend etwas zu thun wäre, während jede Stunde sie weiter vom Festlande entführte …

Sie zögerte nicht. Ihr Kayack lag in der Nähe, das zerbrechliche Fahrzeug, in dem sie mehr als einmal den Stürmen des Eismeeres Trotz geboten hatte. Sie stieß den Kayak in’s Wasser, band um den Gürtel und um die Oeffnung desselben die Robbenfelljacke fest, und das Doppelruder in den Händen wagte sie sich in die Finsterniß hinaus.

Hier drückte Mrs. Paulina Barnett die junge Kalumah, das muthige Kind, inbrünstig an ihr Herz.

Kalumah wurde auf den bewegten Wogen von dem umgesprungenen Sturme, der nach der offenen See hinaus wehte, fortgetrieben. Sie strebte der großen Masse zu, welche sie unklar in der Dunkelheit erkannte.

Oft fluthete das Meer über ihren Kayack hinweg, vermochte aber Nichts gegen das unversenkbare Fahrzeug, das wie ein Strohhalm auf den Kämmen der Wellen tanzte. Mehrmals kenterte es zwar, doch immer richtete es ein Ruderschlag leicht wieder auf.

Nach einstündiger Anstrengung konnte Kalumah endlich die irrende Insel deutlich erkennen. Sie zweifelte gar nicht an der Erreichung ihres Zieles, denn nur eine Viertelmeile lag noch zwischen ihr und jener.

Da stieß sie jenen Schrei aus, den Jasper Hobson und Sergeant Long beide hörten.

Von hier an aber fühlte Kalumah, wie eine unwiderstehliche Strömung, der sie mehr unterlag, als die Insel Victoria, sie nach Westen verschlug. Vergeblich kämpfte sie mit ihrem Ruder dagegen an, ihr leichtes Boot flog wie ein Pfeil dahin. Von Neuem schrie sie auf, wurde aber der großen Entfernung wegen nicht mehr gehört, und als die Morgenröthe anbrach, bildeten die Küste Neu-Georgias, die sie verlassen hatte, und die schwimmende Insel, welche sie verfolgte, nur zwei unerkennbare Massen am Horizonte.

Verzweifelte die junge Eingeborene nun etwa? Nein. Nach dem Festlande zurückzukehren war ihr zunächst unmöglich geworden, denn sie hatte den Wind, jenen schrecklichen Wind gegen sich, der die Insel binnen sechsunddreißig Stunden zweihundert Meilen weit in die offene See hinaustrieb.

Kalumah blieb nur ein Ausweg übrig, sie mußte die Insel, während sie sich in derselben Strömung hielt, einzuholen suchen.

Aber ach, jetzt unterstützten die Kräfte nicht mehr den Muth des armen Kindes. Wenigstens peinigte sie der Hunger, und Anstrengung und Erschöpfung lähmten ihre Ruderschläge.

Mehrere Stunden lang kämpfte sie und glaubte sich der Insel zu nähern, von welcher aus man sie, einen Punkt im ungeheuren Meere, unmöglich gewahr werden konnte. Sie kämpfte noch, als ihr die Arme halb gebrochen waren und die blutende Hand den Dienst versagen wollte! Sie kämpfte bis zum Ende ihrer Kräfte und verlor endlich das Bewußtsein, während ihr Kayack zum Spiel des Windes und der Wellen wurde.

Was weiter mit ihr geschehen war, vermochte sie nicht zu sagen. Wie lange sie umher geworfen wurde, sie wußte es nicht, und war erst wieder zu sich gekommen, als ihr Kayack heftig anstieß und unter ihr in Stücke ging.

Sie sank in das kalte Wasser, das ihre Lebensgeister von Neuem wach rief, und einige Augenblicke später warf sie eine Welle halbtodt auf den Ufersand. Das geschah in der vergangenen Nacht, etwa zur Zeit der Morgenröthe, also zwischen zwei und drei Uhr früh.

Seit der Zeit, da Kalumah den Kayack bestiegen, bis zu der, da dieser unterging, waren demnach siebenzig Stunden verflossen!

Als sie sich aus den Fluthen gerettet sah, konnte sie nicht sagen, an welches Ufer der Sturm sie geworfen habe. War sie an das Festland zurückgekommen?

Hatte er sie im Gegentheil der Insel zugeführt, welche sie mit so kühner Ausdauer verfolgte? Sie hoffte es gewiß! Wind und Strömung mußten sie ja in’s freie Meer hinaus und nicht an die Küste zurückgetrieben haben.

Dieser Gedanke verlieh ihr neue Kräfte. Sie erhob sich und folgte dem Ufer.

Ohne Zweifel war die junge Eingeborene auf den Theil der Insel Victoria geworfen worden, welcher ehemals den oberen Winkel der Walroß-Bai bildete. Jetzt konnte sie aber den Küstenstrich, den die Wellen seit dem Bruche des Isthmus benagt hatten, nicht wieder erkennen.

Kalumah ging vorwärts und hielt, als sie nicht mehr weiter konnte, an, um später mit neuem Muthe ihren Weg fortzusetzen, der sich vor ihren Schritten dehnte. Bei jeder Meile mußte sie um Uferstrecken herumgehen, die das Meer schon in Besitz genommen hatte. So gelangte sie, sich hinschleppend, fallend und wieder aufstehend, nach dem kleinen Hügel, an dem Mrs. Paulina Barnett und Madge denselben Morgen rasteten. Die beiden Frauen hatten, wie erwähnt, auf ihrem Wege nach dem Cap Eskimo ihre Fußspuren und Eindrücke in dem Schnee gefunden. Dann war die arme Kalumah eine Strecke davon zum letzten Male zusammengebrochen.

Von dieser Stelle aus kam sie erschöpft von Hunger und Anstrengung nur noch kriechend vorwärts.

Einige Schritte vom Ufer hatte sie auch das Cap Eskimo wieder erkannt, an dem sie im vergangenen Jahre mit den Ihrigen gelagert hatte. Jetzt wußte sie, daß sie nur noch acht Meilen von der Factorei entfernt war, und den Weg einschlagen müsse, der ihr von den häufigen Besuchen bei ihren Freunden her so gut bekannt war.

Noch hielt sie dieser Gedanke aufrecht, doch brach sie, am Ufer angekommen, kraftlos zusammen und verlor das Bewußtsein. Ohne Mrs. Paulina Barnett hätte sie hier ihren Tod gefunden.

»Aber, meine gute Dame,« sagte sie, »ich wußte, daß Sie mir zu Hilfe kommen würden, und daß mich Gott durch Ihre Hand retten werde.«

Das Weitere ist bekannt. Man weiß, welches Vorgefühl an diesem Tage Mrs. Barnett und Madge trieb, diesen Theil des Ufers zu besuchen, und wie sie dazu kamen, noch das Cap Eskimo zu betreten, bevor sie sich auf den Rückweg nach der Factorei begaben. Es ist auch bekannt, – Mrs. Paulina Barnett theilte es der jungen Eingeborenen mit – daß sich eine große Eisscholle ablöste, und was der Bär dabei that.

Lächelnd fügte die Reisende noch hinzu:

»Ich habe Dich nicht gerettet, mein Kind, das hat eigentlich jener brave Bär gethan! Ohne ihn wärest Du verloren gewesen, und wenn er je zu uns zurückkommt, so soll er als Dein Retter geehrt werden.«

Kalumah hatte durch Ruhe und stärkende Speise indessen ihre Kräfte wieder gewonnen. Mrs. Barnett wollte nun ohne Aufschub zum Fort zurückkehren, um ihre Abwesenheit nicht allzu lange auszudehnen. Die junge Eingeborene erhob sich sofort und war zum Mitgehen bereit.

Mrs. Paulina Barnett drängte es, Jasper Hobson die Erlebnisse dieses Morgens mitzutheilen und ihm zu erklären, was sich während der Sturmnacht, als die Insel dem Ufer Amerikas so nahe gewesen war, zugetragen hatte.

Vor Allem empfahl die Reisende Kalumah aber, von ihren Erlebnissen unbedingt zu schweigen und auch die Lage der Insel Niemand zu verrathen. Es sollte angenommen werden, daß sie auf ganz natürlichem Wege gekommen sei, um ihr Versprechen vom Jahre vorher einzulösen und ihre Freunde während der schönen Jahreszeit zu besuchen. Gerade ihr Erscheinen mußte die Bewohner der Factorei in dem Glauben bestärken, daß mit dem Gebiete des Cap Bathurst keine Veränderung eingetreten sei, wenn ja der Eine oder der Andere einen Verdacht hätte.

Gegen drei Uhr Nachmittags schlugen Mrs. Barnett, die junge Eingeborene, die sich auf ihren Arm stützte, und Madge den Weg nach Westen wieder ein, und vor fünf Uhr Abends gelangten alle Drei glücklich an das äußere Thor von Fort- Esperance.

Zehntes Capitel.


Zehntes Capitel.

Den Empfang, welcher der jungen Kalumah seitens der Insassen des Forts zu Theil wurde, kann man sich wohl leicht vorstellen. Ihnen schien das Band, welches sie sonst mit der übrigen Erde in Verbindung setzte, wieder angeknüpft zu sein. Mrs. Mac Nap, Mrs. Raë und Mrs. Joliffe überhäuften Jene mit Zärtlichkeiten. Kalumah lief, sobald sie des kleinen Kindes ansichtig ward, auf dieses zu und bedeckte es mit ihren Küssen.

Die junge Eskimodin war von der Gastfreundschaft ihrer europäischen Freunde vollkommen gerührt. Alle thaten ihr die größte Ehre an. Man freute sich zu hören, daß sie den ganzen Winter in der Factorei zubringen werde, da die Jahreszeit schon zu weit vorgeschritten war, um ihr die Rückkehr nach den Etablissements von Neu-Georgia zu gestatten.

Wenn die Bewohner von Fort-Esperance aber von der Ankunft der jungen Eingeborenen so freudig überrascht waren, was mußte Jasper Hobson darüber denken, als er Kalumah am Arme der Mrs. Paulina Barnett erscheinen sah? Er wollte kaum seinen Augen trauen. Ein plötzlicher Gedanke schoß mit Blitzesschnelle durch sein Gehirn, – der Gedanke, daß die Insel Victoria unbemerkt und trotz der täglichen Ortsaufnahme bei irgend einem Punkte Amerikas einmal an’s Land gelaufen sei.

Mrs. Paulina Barnett las diese unwahrscheinliche Hypothese aus den Augen des Lieutenants und schüttelte verneinend mit dem Kopfe.

Jasper Hobson verstand daraus, daß die Lage sich in keiner Weise geändert habe, und erwartete von Mrs. Paulina Barnett Aufklärung über dieses fast wunderbare Erscheinen Kalumah’s.

Kurze Zeit darauf lustwandelten Jasper Hobson und die Reisende am Fuße des Cap Bathurst, und aufmerksam lauschte der Lieutenant dem Berichte von den Abenteuern Kalumah’s.

Alle seine Annahmen waren also begründet gewesen!

Während des Sturmes aus Nordosten hatte die Insel die Strömung, die sie entführte, verlassen! In der schrecklichen Nacht vom 30. zum 31. August war das Eisfeld dem amerikanischen Festlande auf weniger als eine Meile nahe gewesen. Nicht das Leuchtfeuer eines Schiffes, nicht der Schrei eines Verunglückten erreichte ihre Augen und Ohren! Das Land lag vor ihnen, das rettende Land, und blies der Wind damals nur noch eine Stunde lang in der früheren Richtung, so hätte die Insel Victoria die Küste des russischen Amerika berührt!

Und gerade damals mußte der unselige, verderbliche Wind umspringen und die Insel wieder nach der offenen See hinaustreiben. Die unwiderstehliche Strömung hatte sie auf’s Neue erfaßt, und seitdem war sie mit unerhörter Schnelligkeit, unter der Peitsche eines Südweststurmes bis zu jener gefährlichen Stelle hin abgewichen, von der sie aus ihrer Lage zwischen zwei entgegengesetzten Strömungen, welche beide ihr selbst und den Bewohnern derselben den gleichen Untergang drohten, offenbar einer von jenen zuletzt verfallen mußte.

Wohl zum hundertsten Male unterhielten sich der Lieutenant und Mrs. Paulina Barnett über dieses Thema. Dann erkundigte sich Jasper Hobson nach den etwaigen Veränderungen des Gebietes zwischen dem Cap Bathurst und der Walroß-Bai.

Mrs. Paulina Barnett belehrte ihn, daß sich das Küstengebiet an manchen Stellen gesenkt zu haben scheine, und daß solche Strecken, welche früher davon frei blieben, jetzt überfluthet würden. Sie erwähnte auch des Vorfalls bei dem Cap Eskimo, und beschrieb den umfänglichen Eisbruch an jenem Theile der Küste.

Gewiß erschien das sehr beunruhigend. Offenbar löste sich das Eisfeld, die Grundlage der Insel, weiter auf, je nachdem das verhältnißmäßig wärmere Wasser die untere Fläche abnagte. Was beim Cap Eskimo geschehen war, konnte sich beim Cap Bathurst jeden Augenblick wiederholen. Die Gebäude der Factorei konnten zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht im bodenlosen Abgrunde versinken – immer stellte der Winter das einzige Hilfsmittel in dieser Lage dar, der Winter mit all‘ seiner Strenge, der Winter, dessen Eintritt sich doch so sehr verzögerte.

Eine Tags darauf, am 4. September, angestellte Beobachtung Jasper Hobson’s zeigte, daß die Ortslage der Insel Victoria sich noch nicht nachweisbar verändert hatte. Unbewegt verweilte sie zwischen den beiden Strömungen, was den gegebenen Verhältnissen nach als das Beste betrachtet werden konnte.

»Möchte der Frost uns hier ereilen und das Packeis uns hier aufhalten! sagte Jasper Hobson. Wenn das Meer jetzt um uns erstarrte, würde ich unsere Rettung für gesichert ansehen! Nur zweihundert Meilen trennen uns von der Küste, und über das feste Eisfeld könnten wir entweder das russische Amerika oder auch die Küste Asiens recht wohl erreichen. Aber nur der Winter komme, der Winter um jeden Preis, und so schnell als möglich!«

Inzwischen wurden auf des Lieutenants Anordnung die letzten Zurüstungen für den Winter vollendet. Man versorgte die Hausthiere für die ganze Dauer der langen Polarnacht mit hinreichendem Futter. Die Hunde waren wohlauf und wurden bei ihrer Unthätigkeit fett, doch durfte man sich darüber nicht zu viel Sorge machen, denn den armen Thieren sollte es an Arbeit nicht mangeln, wenn man erst Fort-Esperance verließ, um quer über das Eis das Festland zu erreichen. Vielmehr erschien es demnach von Belang, jene bei vollen, frischen Kräften zu erhalten. So schonte man das frische Fleisch und vorzüglich das der Rennthiere, die in der Nachbarschaft der Factorei erlegt wurden, für sie nicht.

Die zahmen Rennthiere gediehen vortrefflich. In ihrem entsprechend den Bedürfnissen eingerichteten Stalle häufte man ebenso, wie in den Magazinen des Forts, einen großen Vorrath von Heu und Moosen an. Mrs. Joliffe bezog von den Weibchen ausreichend Milch, welche in der Küche täglich Verwendung fand.

Der Corporal und seine kleine Frau hatten auch ihre Aussaaten wiederholt, die in der vergangenen warmen Jahreszeit ja so sichtlich gediehen waren. Das Land war zu dem Zwecke für Löffelkraut, Sauerampfer und Labradorthee schon vor dem ersten Schneefalle in Stand gesetzt worden. Diese köstlichen Antiscorbutica durften ja der Colonie nicht fehlen.

Holzvorräthe erfüllten die Schuppen bis zu den Dachsparren. Nun konnte der rauhe und eisige Winter herankommen, das Quecksilber in der Kugel des Thermometers gefrieren, ohne zum Verbrennen des Hausrathes, wie im letzten Winter der Fall eintrat, zu zwingen. Der Zimmermann Mac Nap hatte seine Maßnahmen entsprechend getroffen, und auch der Abfall beim Bau des Schiffes lieferte einen beträchtlichen Zuwachs zum Heizmateriale.

Zu dieser Zeit fing man auch schon einige mit dem neuen Winterfell versehene Pelzthiere, wie Marder, Wiesel, Blaufüchse und Hermeline, da der Lieutenant Marbre und Sabine ermächtigt hatte, nahe der Umplankung einige Fallen herzustellen. Jasper Hobson glaubte aus Besorgniß, den Verdacht seiner Leute wachzurufen, diese Erlaubniß nicht verweigern zu sollen, denn er hatte keinen stichhaltigen Vorwand, das Einsammeln von Pelzfellen einzustellen. Wohl wußte er, daß es unnütze Arbeit war und daß aus dieser Vertilgung kostbarer und unschuldiger Thiere Niemand Vortheil ziehen werde. Jedenfalls diente das Fleisch jener Nager als Futter für die Hunde, und ersparte man dadurch wesentlich an dem der Rennthiere.

Alles rüstete sich also zur Durchwinterung, so als wäre Fort-Esperance auf unerschütterlichem Boden errichtet, und die Soldaten arbeiteten mit einem Eifer, den sie bei Kenntniß ihrer tatsächlichen Lage wohl kaum entwickelt hätten.

Auch in den folgenden Tagen ergaben die sorgfältigsten Beobachtungen keine merkbare Lagenveränderung der Insel Victoria. Schon fing Jasper Hobson mit Rücksicht auf diese Unbewegtheit an, neue Hoffnung zu schöpfen. Hatten sich die Vorzeichen des Winters auch in der anorganischen Natur noch nicht gezeigt, so verriethen sie sich doch schon durch Züge wilder Schwäne, die nach milderen Klimaten steuerten. Auch andere Zugvögel, welche ein weiter Flug über die Meere nicht abschreckte, verließen nach und nach die Insel. Diese wußten recht gut, daß der amerikanische oder der asiatische Kontinent mit ihrer minder rauhen Temperatur, ihren gastlichen Gebieten und ihren Hilfsquellen aller Art nicht allzu fern lagen und daß die Kraft ihrer Flügel ausreichte, sie dorthin zu tragen. Eine Anzahl solcher Vögel ward eingefangen und befestigte der Lieutenant nach Mrs. Paulina Barnett’s früherem Vorschlage an deren Halse ein Billet aus gummirter Leinwand, auf dem die dermalige Lage der Insel und die Namen ihrer Bewohner verzeichnet standen. Dann ließ man sie stiegen, und sah dieselben nicht ohne Befriedigung nach Süden ziehen.

Es bedarf nicht der Erwähnung, daß diese Botensendung heimlich geschah, und keine anderen Zeugen hatte, als Mrs. Paulina Barnett, Madge, Kalumah, Lieutenant Hobson und Sergeant Long.

Die auf der Insel eingeschlossenen Vierfüßler waren natürlich verhindert, in südlicheren Gegenden ihre gewohnten Winterquartiere aufzusuchen. Rennthiere, Polarhasen, selbst Wölfe verließen ja zu dieser Jahreszeit gewöhnlich schon Gegenden, wie Cap Bathurst, und zogen sich nach dem See des Großen Bären oder dem Sklaven-See, jedenfalls weit unter den Polarkreis zurück. Dieses Jahr bildete das Meer für sie ein unüberwindliches Hinderniß, dessen Uebereisung sie abwarten mußten, um nach wohnlicheren Gegenden zu entfliehen. Gewiß hatte ihr Instinct jene schon zu einem Versuche getrieben und nach dem Fehlschlagen desselben in die Nachbarschaft der Factorei zurückgeführt, in die Nähe der Menschen, Gefangenen, wie sie selbst, in die Nähe der sonst so gefürchteten Jäger.

In der Zeit vom 5. bis zum 9. September ergaben die Beobachtungen noch immer keine Lagenveränderung der Insel Victoria.

Der ungeheure Wasserwirbel zwischen den beiden Strömungen, dessen Gebiet sie noch nicht verlassen hatte, hielt sie auf ein und derselben Stelle fest. Noch vierzehn Tage bis höchstens drei Wochen dieses Status quo, und Lieutenant Hobson konnte sich für gerettet halten.

Doch war das Maaß der Leiden noch nicht gefüllt, und standen den Bewohnern von Fort-Esperance noch wahrhaft übermenschliche Prüfungen bevor.

Am 10. September nahm man zuerst wieder eine Ortsveränderung der Insel Victoria wahr, die sich zunächst nur langsam in nördlicher Richtung vollzog.

Jasper Hobson war wie vom Donner gerührt! Definitiv hatte der Kamtschatka-Strom die Insel erfaßt, und diese entwich nun in jene unbekannten Meeresgebiete, in denen sich das Packeis bildet; in jene dem Fuße des Menschen verbotenen Einöden des Polarmeeres, aus denen man nicht zurückkehrt!

Den Mitwissern seines Geheimnisses verhehlte Jasper Hobson auch diese neue Gefahr nicht. Alle empfingen den niederschmetternden Schlag mit ruhiger Ergebung.

»Vielleicht, sagte die Reisende, kommt die Insel doch noch zum Stehen, oder bleibt ihre Bewegung eine sehr langsame. Laßt uns die Hoffnung nicht verlieren! Der Winter kann nicht mehr fern sein, und überdies fahren wir ihm entgegen. Doch – des Herrn Wille geschehe!

– Meine Freunde, fragte Jasper Hobson, glauben Sie, daß es nun an der Zeit wäre, unsere Gefährten aufzuklären? Sie wissen, in welcher Lage wir uns befinden, und was uns noch widerfahren kann. Heißt es nicht, eine zu große Verantwortlichkeit auf sich nehmen, wenn man ihnen die drohende Gefahr verbirgt?

– Ich würde jetzt noch damit warten, entgegnete schnell die Reisende. So lange nicht jede Aussicht erschöpft ist, dürfen wir unsere Begleiter nicht der Verzweiflung preisgeben.

– Das ist ganz meine Ansicht«, fügte Sergeant Long einfach hinzu.

Jasper Hobson dachte ebenso und war erfreut darüber, seine Anschauungen getheilt zu sehen.

Am 11. und 12. September ward die Lageveränderung nach Norden zu bemerkbarer. Die Insel schwamm mit einer Schnelligkeit von zwölf bis dreizehn Meilen den Tag dahin. Um ebenso viel entfernte sie sich dabei von dem Lande, wahrend sie dem Kamtschatka-Strome nach Norden folgte. Aus dem siebenzigsten Parallelkreis, der die Spitze des Cap Bathurst durchschnitt, mußte sie wohl bald heraustreten; darüber hinaus existirt aber in der Fortsetzung des Längengrades, unter dem man sich eben befand, kein bekanntes Ländergebiet.

Jeden Tag trug Jasper Hobson die Lage auf seiner Karte ein, und ersah daraus, welch grenzenlosen Weiten die Insel entgegen trieb. Die einzige, verhältnißmäßig günstigste Aussicht lag darin, daß man, nach Mrs. Paulina Barnett’s Bezeichnung, dem Winter entgegen fuhr. So begegnete man der Kälte früher, die das Eisfeld vergrößern und befestigen mußte. Konnten die Bewohner desselben dann auch darauf hoffen, nicht in das Meer zu versinken, welchen ungeheuren, vielleicht ungangbaren Weg hatten sie dafür zurückzulegen, um aus jenen Tiefen des höchsten Nordens zu entkommen? Wäre das Schiff jetzt, wenn auch in halbfertigem Zustande, brauchbar gewesen, Lieutenant Hobson hätte gewiß nicht gezögert, sich ihm mit der ganzen Bevölkerung der kleinen Colonie anzuvertrauen; trotz alles Fleißes des Zimmermanns war es aber bis jetzt weder so weit fertig, noch vor langer Zeit darauf zu rechnen, da seine Construction, wenn sich zwanzig Personen, und noch dazu in diesen gefährlichen Meeren, darauf einschiffen sollten, die größte Sorgsamkeit Mac Nap’s erforderte.

Am 16. September befand sich die Insel Victoria fünfundsiebenzig bis achtzig Meilen nördlicher, als der Punkt, auf dem sie kurze Zeit verweilt hatte. Schon vermehrten sich aber die Vorzeichen des nahenden Winters, und die Quecksilbersäule sank allmälig. Zwar hielt sich die Mitteltemperatur des Tages noch auf 6 bis 7° über Null, sank aber während der Nacht auf den Gefrierpunkt herab. Nur in sehr flachem Bogen zog die Sonne über den Horizont, erhob sich zu Mittag nur wenige Grade, und blieb schon elf Stunden von vierundzwanzig verschwunden.

In der Nacht vom 16. zum 17. September traten endlich die ersten Spuren von Eis auf dem Meere hervor. Kleine isolirte, dem Schnee ähnliche Krystalle schossen zu Flecken auf der Oberfläche zusammen. Dabei machte man die schon von dem berühmten Seefahrer Scoresby mitgetheilte Beobachtung, daß dieser Schnee das Meer sofort beruhigte, wie es von dem Oele bekannt ist, welches Seefahrer wohl zur vorübergehenden Beruhigung der Wellen ausgießen. Jene kleinen Eistheilchen zeigten das Bestreben, sich an einander zu schließen, und hätten das bei ruhigem Wasser unzweifelhaft gethan; jetzt zerbrachen und trennten sie aber die Bewegungen der Wellen, bevor sie eine umfänglichere Fläche bilden konnten.

Mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtete Jasper Hobson das erste Erscheinen des jungen Eises. Er wußte, daß vierundzwanzig Stunden hinreichen würden, um der an der Unterfläche nachwachsenden Eiskruste eine Stärke von zwei bis drei Zollen zu ertheilen, wobei sie schon das Gewicht eines Menschen trägt. Er zählte also darauf, daß die Insel Victoria binnen Kurzem in ihrem Laufe aufgehalten sein werde.

Bis jetzt zerstörte der Tag freilich stets die Arbeit der Nacht, und die Abweichung nach Norden nahm zu, ohne daß man etwas gegen dieselbe zu thun im Stande war.

Am 21. September, zur Zeit des Herbstäquinoctiums, währten Tag und Nacht vollkommen gleich lang, und von da ab verlängerte sich die Nacht stets auf Unkosten der Tagesstunden. Sichtbar trat nun der Winter ein, aber weder anhaltend noch streng. Jetzt hatte die Insel Victoria schon nahezu einen Grad über die siebenzigste Parallele zurück gelegt, und zum ersten Male unterlag sie einer Drehbewegung, welche Jasper Hobson auf etwa 90° schätzte.

Man begreift, welche Sorgen das dem Lieutenant machte! Die Sachlage, die er bis jetzt zu verbergen gesucht hatte, drohte die Natur selbst nun auch dem blödesten Auge zu enthüllen, da durch diese Drehung die Cardinalpunkte der Insel verschoben waren. Cap Bathurst lief nicht mehr nach Norden zu, sondern nach Westen aus. Sonne, Mond und Sterne gingen nicht mehr an den gewohnten Stellen des Horizontes auf und unter, und unmöglich konnte Leuten mit einiger Beobachtungsgabe, wie Mac Nap, Raë, Marbre und Anderen, eine solche auffällige Veränderung, die Alles verrathen mußte, entgehen.

Zur großen Befriedigung Jasper Hobson’s schienen die wackeren Soldaten aber nicht das Mindeste zu bemerken. Die Atmosphäre war glücklicher Weise immer etwas dunstig und verhinderte die Beobachtung des Aus- oder Unterganges der Himmelskörper.

Leider fiel jene Drehung auch mit einer schnelleren Fortbewegung zusammen. Von diesem Tage an wich die Insel Victoria mit der Schnelligkeit von einer Meile die Stunde nach Norden ab. Noch immer überließ sich Jasper Hobson der Verzweiflung, welche seinem Charakter fern lag, nicht, doch hielt er sich nun für verloren, und wünschte den Winter aus Herzensgrunde herbei.

Die Temperatur erniedrigte sich noch weiter. Am 23. und 24. September fiel reichlicher Schnee, der die Dicke der kleinen Eisschollen, die sich schon zu verlöthen begannen, noch mehr verstärkte. Nach und nach wurde die ungeheure Ebene von Eis geboren. Noch durchbrach sie die dagegen anschwimmende Insel, doch nahm die Widerstandskraft jener von Stunde zu Stunde zu. Das Meer gefror rings um sie und über Sehweite hinaus.

Endlich, am 27. September, ergab die Beobachtung, daß die von dem grenzenlosen Eisfelde eingeschlossene Insel Victoria seit dem Tage vorher ihre Lage nicht geändert hatte! Unbeweglich stand sie unter 177° 22′ der Länge und 77° 57′ der Breite, – mehr als sechshundert Meilen vom Continente entfernt.

Vierundzwanzigstes Capitel.


Vierundzwanzigstes Capitel.

An dem äußersten Ende des Behrings-Meeres, auf der letzten der Aleuten, der Insel Blejinic, stieß das ganze Personal von Fort-Esperance, nachdem es seit Eintritt des Thauwetters 1800 Meilen weit getrieben worden war, wieder an’s Land. Aleutische Fischer, die den Geretteten zu Hilfe kamen, nahmen sie gastfreundlich auf. Bald waren die englischen Agenten am Festlande, welche im Dienste der Hudsons-Bai-Compagnie standen, über Jasper Hobson und seine Leute in Kenntniß gesetzt. –

Erscheint es nach dieser eingehenden Erzählung noch besonders nöthig, den Muth der wackeren Leute, die ihres Chefs würdig waren, und ihre entschlossene Thatkraft bei so vielerlei Prüfungen hervorzuheben? Nie hatte jener ihnen gefehlt, weder den Männern, noch den Frauen, denen die beherzte Paulina Barnett immer als Beispiel der Willenskraft im Mißgeschick und der Ergebung in den Rathschluß der Vorsehung voranging. Alle hatten treulich gekämpft bis zum Ende und der Verzweiflung keine Macht über sich gegönnt, selbst als sie das Festland, auf dem Fort- Esperance gegründet worden war, sich in eine umherirrende Insel, diese Insel in ein Eiland, dieses Eiland sich in eine Scholle verwandeln sahen, und auch zuletzt noch nicht, als selbst diese unter dem doppelten Einfluß der Sonne und des wärmeren Wassers zu schmelzen begann! Wenn der Versuch der Compagnie wieder von vorn angefangen werden mußte, wenn das neue Fort seinen Untergang gefunden hatte, – den Lieutenant Hobson und seine Genossen, die der Spielball so vieler unvorhergesehener Unfälle gewesen waren, konnte kein Vorwurf treffen. Jedenfalls fehlte von den neunzehn, Lieutenant Hobson’s Fürsorge anvertrauten Personen keine einzige, ja, die kleine Colonie war sogar um zwei Mitglieder, die junge Eskimodin Kalumah und das Kind des Zimmermanns Mac Nap, das Pathchen der Mrs. Paulina Barnett, gewachsen.

Sechs Tage nach ihrer Rettung kamen die Schiffbrüchigen in Neu-Archangel, der Hauptstadt des russischen Amerika, an.

Dort sollten sich Alle, welche die allgemeine Gefahr zu so nahen Freunden gemacht hatte, vielleicht für immer trennen!

Jasper Hobson und seine Leute wollten Fort- Reliance auf dem Ueberlandwege wieder erreichen, wahrend Mrs. Paulina Barnett, Kalumah, die sich von Ersterer nicht mehr trennen konnte, Madge und Thomas Black über San-Francisko und die Vereinigten Staaten nach Europa zurückzukehren beabsichtigten.

Bevor sie aber von einander schieden, sprach der Lieutenant in Gegenwart aller seiner Leute mit bewegter Stimme diese Worte zu der Reisenden:

»Madame, segne Sie Gott für das Gute, das wir Alle Ihnen verdanken! Sie waren unser Glaube, unser Trost, die Seele unserer kleinen Welt! Ich danke Ihnen in Aller Namen aus tiefstem Herzensgrunde!«

Ein dreimaliges Hurrah erschallte zu Ehren Mrs. Paulina Barnett’s; dann wollte jeder der Soldaten die Hand der muthigen Reisenden drücken, jede der Frauen sie tiefgerührt umarmen.

Jasper Hobson, der eine so innige Zuneigung zu Mrs. Paulina Barnett gewonnen hatte, wurde das Herz recht schwer, als er ihr zum letzten Male die Hand bot.

»Wäre es möglich, daß wir uns nie und nimmer wiedersehen sollten? sagte er.

– Nein, Jasper Hobson, antwortete die Reisende, nein, das kann nicht sein! Und wenn Sie nicht nach Europa kommen, ich werde Sie wieder zu finden wissen, hier oder in der neuen Factorei, die Ihre Hand doch einst noch gründet …«

In diesem Augenblick trat Thomas Black, der, seit er festes Land unter den Füßen spürte, die Sprache wieder erlangt hatte, vor und sagte mit bestimmtester Miene:

»Ja, wir werden uns wiedersehen … in sechsundzwanzig Jahren. Meine Freunde, die Sonnenfinsterniß des Jahres 1860 ist mir entgangen, aber die nächste werde ich nicht verfehlen, die im Jahre 1886 unter denselben Verhältnissen und unter denselben Breiten stattfinden wird. In sechsundzwanzig Jahren also, werthe Frau, finde ich Sie, und auch Sie, mein wackerer Lieutenant, an den Grenzen des Polarmeeres wieder.«

Ende.

 

Inhalt.

Erstes Capitel. Ein schwimmendes Fort ….. 1 Zweites Capitel. Wo man sich befand ….. 14 Drittes Capitel. Ein Gang um die Insel ….. 27 Viertes Capitel. Ein Nachtlager ….. 41 Fünftes Capitel. Vom 25. Juli bis zum 20. August ….. 53 Sechstes Capitel. Zehn Tage Sturm ….. 67 Siebentes Capitel. Ein Feuer und ein Schrei ….. 78 Achtes Capitel. Ein Ausflug der Mrs. Paulina Barnett ….. 92 Neuntes Capitel. Kalumah’s Abenteuer ….. 108 Zehntes Capitel. Der Kamtschatka-Strom ….. 120 Elftes Capitel. Eine Mittheilung Jasper Hobson’s ….. 132 Zwölftes Capitel. Rettungsversuche ….. 144 Dreizehntes Capitel. Quer über das Eisfeld ….. 156 Vierzehntes Capitel. Die Wintermonate ….. 166 Fünfzehntes Capitel. Ein letzter Ausflug ….. 177 Sechzehntes Capitel. Thauwetter ….. 192 Siebenzehntes Capitel. Der Eissturz ….. 204 Achtzehntes Capitel. Alle Hände beschäftigt ….. 212 Neunzehntes Capitel. Das Behrings-Meer ….. 225 Zwanzigstes Capitel. In’s offene Meer ….. 236 Einundzwanzigstes Capitel. Die Insel wird zum Eiland ….. 244 Zweiundzwanzigstes Capitel. Die vier folgenden Tage ….. 252 Dreiundzwanzigstes Capitel. Auf einer Scholle ….. 256 Vierundzwanzigstes Capitel. Schluß ….. 273