XXXIII.


XXXIII.

Vom 18. bis 20. December. – Heute hat das Wetter sich geändert und der Wind aufgefrischt. Wir klagen nicht darüber, denn er ist uns günstig. Nur wird der Mast aus Vorsorge noch mehr verstärkt, um in Folge des Segeldrucks ein Brechen desselben zu verhindern. Nachdem das geschehen, bewegt sich unsere schwerfällige Maschine mit größerer Schnelligkeit fort und läßt eine Art langen Kielwassers hinter sich.

Nachmittags haben einige Wolken den Himmel bedeckt, und ist die Hitze weniger stark gewesen. Der Seegang hat das Floß mehr umhergeworfen, und zwei- oder dreimal schlug eine Welle auf dasselbe hinauf. Zum Glück hat der Zimmermann aus früheren Schiffsplanken eine Art Schanzkleidung errichten können, die uns bei einer Höhe von zwei Fuß besser gegen das Meer schützt.

Auch die Fässer mit den Lebensmitteln und die Wassertonnen werden mit doppelten Tauen noch sicherer befestigt. Wenn eine Sturzsee diese uns entführte, würden wir in die ärgste Noth gerathen, und Niemand vermag an einen solchen Unfall ohne Schaudern zu denken!

Am 18. haben die Matrosen einige, auch mit dem Namen Sargasso bezeichnete Seepflanzen aufgefischt, welche denen auf unserer Fahrt von den Bermuden bis nach Ham-Rock angetroffenen sehr ähnlich sind. Sie bestehen aus langen Schlinggewächsen mit einem zuckerhaltigen Safte, und ich berede meine Gefährten zu einem Versuche, die Stengel zu kauen. Sie thun es und bekennen mir, das Gefühl von wohlthuender Erfrischung des Gaumens und der Lippen davon zu haben.

Sonst ereignet sich an diesem Tage nichts Neues; nur fällt es mir auf, daß einige Matrosen, vorzüglich Owen, Burke, Flaypol, Wilson und der Neger Jynxtrop, immer unter einander zu zischeln haben, ohne daß mir der Gegenstand, um den es sich handelt, klar wird. Ich bemerke auch, daß sie sofort schweigen, wenn sich ihnen einer der Officiere oder der Passagiere nähert. Robert Kurtis hat schon vor mir dieselbe Beobachtung gemacht. Diese heimlich geführten Gespräche mißfallen ihm, und nimmt er sich vor, auf jene Leute ein wachsames Auge zu haben. Der Neger Jynxtrop und der Matrose Owen sind bekanntermaßen zwei Spitzbuben, denen man nicht viel trauen darf, da sie die Anderen gern zu verführen suchen.

Am 19. wird die Hitze ganz unerträglich, und zeigt sich kein Wölkchen am Himmel. Der schwache Luftzug schwellt die Segel nicht mehr, das Floß bleibt auf einer Stelle. Einige Matrosen sind in’s Meer gegangen, und dieses Bad hat ihnen eine thatsächliche Erleichterung verschafft, indem es ihren Durst einigermaßen verminderte. Doch ist es nicht ungefährlich, sich in die von Haifischen unsicher gemachten Wellen zu wagen, und Keiner von uns hat Lust verspürt, es jenen Leichtsinnigen nachzuthun. Wer weiß, ob sich das in Zukunft nicht ändert? Wenn man das unbewegte Floß sieht, die langen ungefurchten Wellen des Oceans, das schlaffe Segel am Maste, liegt da nicht die Befürchtung nahe, daß diese Verhältnisse lange Zeit so fortdauern könnten?

Die Gesundheit des Lieutenant Walter flößt uns von Tag zu Tag mehr Sorge ein. Der junge Mann wird von einem schleichenden Fieber verzehrt, das ihm in regellosen Anfällen zusetzt. Vielleicht vermöchte schwefelsaures Chinin dasselbe zu unterdrücken. Doch, ich wiederhole es, das Oberdeck ist so rasch verschlungen worden, daß der Arzneikasten dabei mit verloren ging. Uebrigens leidet der junge Mann offenbar an der Verzehrung, und hat diese unheilbare Krankheit seit einiger Zeit in ihm reißende Fortschritte gemacht. Schon die äußerlichen Symptome setzen das außer Zweifel. Walter quält sich jetzt mit einem trockenen Husten, sein Athem ist kurz, und vorzüglich gegen Morgen befällt ihn ein reichliches Schwitzen; er magert sichtlich ab, seine Nase wird spitzer, die hervorstehenden Backenknochen stechen durch ihre umschriebene Röthe von dem bleichen Gesicht auffallend ab; seine Wangen sind hohl, die Lippen etwas verzogen, die Bindehaut des Auges leuchtend und schwach bläulich gefärbt. Doch selbst wenn der Lieutenant jetzt noch in besseren Zuständen wäre, dürfte sich die Heilkunst ohnmächtig erweisen gegenüber einem Leiden, das kein Erbarmen kennt.

Am 20. – Derselbe Zustand der Atmosphäre, dieselbe Unbeweglichkeit des Flosses. Die Sonnenstrahlen durchdringen auch unser Zelt, und wir schmachten und seufzen bei der unbändigen Gluth. Mit welcher Ungeduld erwarten wir den Augenblick, in dem der Bootsmann die schmale Wasserration vertheilt, und mit welcher Gier verschlingen wir dann die wenigen Tropfen der lauwarmen Flüssigkeit! Wer niemals vor Durst am Verschmachten war, vermag sich diese Höllenqual gar nicht vorzustellen.

Der Lieutenant Walter ist sehr verdurstet und leidet schwerer von diesem Wassermangel, als irgend ein Anderer. Ich hab‘ es gesehen, daß Miß Herbey ihm fast die ganze empfangene Ration überließ. Das gefühlvolle und mitleidige junge Mädchen thut alles Mögliche, um die Leiden unseres unglücklichen Genossen wenn nicht zu stillen, so doch zu lindern.

Heute sprach mich Miß Herbey auch selbst an.

»Dieser Unglückliche wird tagtäglich schwächer, begann sie.

– Ja, Miß, habe ich ihr geantwortet, und wir können Nichts für ihn thun, gar Nichts!

– Vorsichtig, bittet Miß Herbey, er könnte uns hören!«

Dann setzt sie sich ganz an das Ende des Flosses und ergiebt sich, den Kopf in den Händen, ihren Gedanken.

Auch noch etwas recht Bedauerliches ist heute vorgekommen, was ich nicht übergehen darf.

Eine Stunde lang standen die Matrosen Owen, Flaypol, Burke und der Neger Jynxtrop in eifrigem, aber heimlich geführtem Gespräche zusammen, wobei sich ihre Erregtheit durch die lebhaftesten Gesticulationen verrieth. Nach Beendigung desselben begiebt sich Owen ganz ohne Umstände nach dem für die Passagiere reservirten Hintertheile des Flosses.

»Wohin willst Du, Owen? fragt ihn der Hochbootsmann.

– Dahin, wo ich etwas zu thun habe«, antwortet frech der Matrose.

Bei dieser unverschämten Antwort verläßt der Hochbootsmann seinen Platz, doch schon vor ihm steht Robert Kurtis Owen Auge in Auge gegenüber.

Der Matrose erträgt den zornflammenden Blick seines Vorgesetzten und beginnt mit frechem Tone:

»Kapitän, ich habe mit Ihnen im Namen meiner Kameraden zu sprechen.

– Rede, erwidert Robert Kurtis kurz und bündig.

– Es handelt sich um den Branntwein, fährt Owen fort. Sie wissen, das kleine Fäßchen … Wird das für die Meerschweine oder für die Officiere aufgehoben?

– Nun …? sagt Robert Kurtis.

– Wir verlangen jeden Morgen wie sonst gewöhnlich unseren Schluck.

– Nein, antwortet der Kapitän.

– Sie sagen …? ruft Owen.

– Nochmals: Nein!«

Der Matrose blickt Robert Kurtis scharf an und ein boshaftes Lächeln umspielt seine Lippen. Er zaudert einen Augenblick, ob er seine Forderung wiederholen soll, doch zieht er sich, ohne ein Wort hinzuzufügen, zurück und mischt sich unter seine Kameraden, mit denen er heimlich spricht.

Hat Robert Kurtis wohl recht daran gethan, jenes Verlangen so rundweg abzuschlagen? Das wird die Zukunft noch lehren.

Als ich ihn über die Sache sprach, antwortet er mir:

»Diesen Leuten noch Branntwein? Lieber werfe ich das Fäßchen in’s Meer!«

XXXIV.


XXXIV.

Am 21. December. – Jener Zwischenfall hat, wenigstens bis heute, weitere Folgen noch nicht gehabt.

Während einiger Stunden zeigen sich die Seebrassen wieder längs des Flosses, und wieder erlangt man eine große Anzahl derselben. Man schichtet sie in ein leeres Faß ein, und dieser Zuwachs an Nahrungsmitteln läßt uns hoffen, daß wir wenigstens vom Hunger verschont bleiben werden.

Der Abend ist gekommen, doch ohne die gewöhnliche Frische. Gewöhnlich sind nämlich die Nächte in den Tropen kühl, die heutige droht aber erstickend zu werden, und schwere Dunstmassen steigen langsam aus den Fluthen. Um ein Uhr dreißig Minuten früh wird Neumond sein. Tief dunkel bleibt es auch bis zu dem Augenblicke, da ein fernes Wetterleuchten anfängt, den Horizont zu erhellen.

Es treten lang und breit hinschießende elektrische Entladungen auf, welche ungeheure Strecken in Flammen setzen. Von Donner ist aber keine Spur, und die ganze Luft erscheint vielmehr erschreckend ruhig.

Zwei Stunden lang, während der wir immer nach einem minder glühenden Lüftchen schmachten, betrachten Miß Herbey, André Letourneur und ich jene Vorläufer eines Ungewitters, gewissermaßen die Vorversuche der Natur, und vergessen ganz unsere augenblickliche Lage über der Bewunderung des großartigen Schauspiels eines Kampfes zwischen den mit Elektricität geschwängerten Wolken. Man hätte hohe, mit Feuer bekrönte Zinnen zu sehen vermeint. Auch der roheste Mensch ist für diese furchtbaren Scenen empfänglich, und so wie wir, sehe ich auch die Matrosen nach der unaufhörlichen Feuererscheinung in den Wolken aufschauen. Ohne Zweifel betrachten sie diese »Streiflichter«, wie sie wegen ihrer fortwährenden Ortsveränderung nicht selten genannt werden, als Vorboten eines elementaren Kampfes nicht ohne eine gewisse Unruhe. Was wird auch aus dem Flosse werden, mitten zwischen der Wuth des Himmels und des Wassers?

Bis Mitternacht bleiben wir so am Hintertheile sitzen. Die leuchtenden Ausströmungen, deren Helligkeit die dunkle Nacht verdoppelt, übergießen uns mit einem lividen Scheine, ähnlich der Farbe, welche die Gegenstände annehmen, wenn die Flamme von Alkohol, in dem Kochsalz gelöst war, sie beleuchtet.

»Fürchten Sie sich vor dem Gewitter, Miß Herbey? fragt André Letourneur das junge Mädchen.

– Nein, mein Herr, antwortet Miß Herbey, das Gefühl in meinem Inneren möchte ich lieber das der Ehrfurcht nennen. Ist jenes nicht eine der prachtvollsten Erscheinungen, die wir nur je bewundern können?

– Nichts wahrer als das, Miß Herbey, antwortet ihr André, und vorzüglich, wenn der Donner grollt. Kann das Ohr ein majestätischeres Geräusch hören, und was ist dagegen die trockene, kurze Stimme unserer Geschütze? Der Donner ergreift die ganze Seele; er ist weniger ein Geräusch, als ein Ton, der an- und abschwillt, wie die getragene Note eines Sängers, und wenn ich offen sein soll, Miß, so hat mich niemals eines Künstlers Stimme so ergriffen, als diese große, unvergleichliche Stimme der Natur.

– Ja, ein tiefer Baß! sage ich lächelnd.

– Wirklich, antwortet André, möchten wir ihn bald zu hören bekommen, denn diese stummen Blitze sind effectloser.

– Meinen Sie das, mein lieber André? Hab‘ ich ihm erwidert. Ertragen Sie das Unwetter muthig, wenn es da ist, doch wünschen Sie es nicht herbei.

– Nun, aber das Gewitter ist uns gleichbedeutend mit Wind!

– Und mit Wasser, fügt Miß Herbey hinzu, mit Wasser, an dem es uns gebricht!«

Den jungen Leuten wäre wohl noch Manches zu erwidern gewesen, ich mag aber meine nüchterne Prosa nicht in die Poesie ihrer Stimmung hineinmischen. Sie betrachten das Gewitter von einem ganz eigenen Gesichtspunkte, und eine volle Stunde höre ich sie davon schwärmen und es herbei wünschen.

Inzwischen hat sich das Firmament allmälig hinter schweren Wolken versteckt, und die Sterne im Zenith erlöschen einer nach dem anderen, kurze Zeit nachdem die Sternbilder des Thierkreises verschwunden sind. Die dichten schwarzen Dunstmassen ballen sich über unserem Haupte, und verschleiern auch die letzten Lichter des Himmels. Jeden Augenblick erglänzt die Masse droben in fahlem Lichtscheine, von dem sich kleine graue Wolken abheben.

Bis jetzt hat sich die ganze in den Lüften angesammelte Elektricität geräuschlos entladen. Da die Luft aber sehr trocken, und in Folge dessen ein sehr schlechter Leiter ist, so kann sie zuletzt doch nur in furchtbaren Schlägen zur Ausgleichung kommen, und es scheint mir unmöglich, daß das Gewitter nicht in kürzester Zeit mit voller Wuth ausbrechen sollte.

Robert Kurtis und der Hochbootsmann sind der nämlichen Ansicht. Letzteren leitet nur sein unfehlbarer seemännischer Instinct; der Kapitän dagegen verbindet mit diesem Instincte des »weather-wise« auch noch die Kenntnisse des gebildeten Meteorologen. Es scheint mir, als bilde sich über uns eine dicke Wolkenschicht, die die Wetterkundigen »cloud-ring« nennen, und welche sich fast allein in der heißen Zone bildet, die mit all‘ dem Wasserdampfe überladen ist, den die Passatwinde ihr von allen Theilen des Oceans aus zuführen.

»Ja, Herr Kazallon, sagt Robert Kurtis zu mir, wir befinden uns in der Region der Gewitterstürme, denn der Wind hat unser Floß bis nach der Zone verschlagen, in der ein sehr feinhöriger Beobachter eigentlich unausgesetzt ein Rollen des Donners hören müßte.

– Mir scheint, antworte ich aufmerksam lauschend, als hörte ich jenes fortwährende Rollen, von dem Sie sprechen.

– Ich auch, sagt Robert Kurtis, jetzt ist das aber das erste Grollen des Gewitters, das binnen zwei Stunden in größter Heftigkeit wüthen wird. Nun, wir sind bereit, es zu empfangen.«

Keiner von uns denkt nur entfernt daran, zu schlafen; Niemand würde es auch im Stande sein, denn die schwüle Luft ist zum Ersticken. Die Blitze werden deutlicher, durchzucken den Horizont in einer Ausdehnung von hundert bis hundertundfünfzig Graden und setzen den ganzen Umkreis des Himmels in Flammen, während eine Art phosphorescirende Helligkeit sich in der Atmosphäre entwickelt.

Endlich wird das Rollen des Donners deutlicher und stärker; doch besteht es, wenn man so sagen darf, noch aus einem abgerundeten Tone, ohne scharfe Accente, aus einem Grollen, das noch kein Echo weckt. Das Himmelsgewölbe erscheint wie gepolstert mit diesen Wolken, deren Elasticität den Schall der elektrischen Entladungen erstickt.

Noch ist das Meer ruhig, schwer, fast stagnirend geblieben. Bei den langen Wellenbergen, welche sich zu erheben anfangen, können sich die Seeleute aber nicht mehr täuschen. Für sie ist das Meer »dabei, sich zu machen«, und in der Ferne wird jetzt schon ein Sturm ausgebrochen sein, dessen Rückwirkung es empfindet. Der entsetzliche Wind kann nicht mehr fern sein, und ein Schiff würde man aus Vorsicht schon jetzt ihm gerade entgegenstellen; aber mit dem Flosse ist nicht zu manoeuvriren, ihm bleibt nichts übrig, als vor dem Unwetter her zu fliehen.

Um ein Uhr Morgens zeigt uns ein greller Blitz, dem nach wenigen Secunden ein prasselnder Donnerschlag folgt, daß das Gewitter nun über uns ist. Der Horizont verschwindet plötzlich vor einem dichten Dunste, der sich massenhaft auf das Floß niederzusenken scheint.

Da läßt sich die Stimme eines Matrosen vernehmen:

»Da wälzt er sich heran! Der Sturm! Der Sturm!«

XXXV.


XXXV.

Die Nacht vom 21. zum 22. December. – Der Bootsmann stürzt nach dem Jöllseile, welches das Segel hält, und sofort wird die Stenge herabgelassen. Es war hohe Zeit, denn der Sturmwind braust furchtbar über uns hin. Ohne den warnenden Zuruf des Matrosen wären wir wohl halb umgeworfen worden. Das Zelt am Hintertheile reißt ein Windstoß weg.

Wenn das Floß nun auch vom Winde nicht mehr viel zu fürchten hat, da es zu flach ist, um ihm viel Angriffsfläche zu bieten, so ist das desto mehr bezüglich der ungeheuren Wellen der Fall, die der Orkan aufthürmt. Wenige Minuten hindurch schienen die Wogen wie niedergehalten und abgeplattet durch den Druck der Luftschichten; desto wüthender aber schwellen sie jetzt mehr als vorher in die Höhe.

Das Floß folgt den regellosen Bewegungen des empörten Wassers, und wenn es auch ebenso wenig von seiner Stelle weicht, so erzittert es doch unter einem fortwährenden Hin- und Herschwanken.

»Anbinden! Anbinden!« ruft der Hochbootsmann und wirft uns Seile zu.

Robert Kurtis ist uns zu Hilfe gesprungen, und bald sind die Herren Letourneur, Falsten und ich fest an das Gestell des Flosses geknüpft und können so lange bestimmt nicht fortgerissen werden, als jenes noch selbst zusammenhält. Miß Herbey hat sich an einen jener starken Pfähle gebunden, die ehedem unser Zeltdach trugen, und beim Scheine der Blitze sehe ich ihr immer heiteres Antlitz.

Ununterbrochen blendet jetzt das Feuer des Himmels und krachen die Donnerschläge. Dabei steht das ganze Dunstgewölbe um und über uns in Flammen. Auch vom Oceane möchte man wohl dasselbe sagen, und ich habe mehrere von den Wellen aufschlagende Blitze gesehen, welche gabelartig gespalten nach dem Firmamente züngelten. In der ganzen Atmosphäre verbreitet sich ein widerwärtiger Geruch nach Schwefel, bis jetzt ist aber das Floß von den Blitzstrahlen, welche nur die Wogen trafen, verschont geblieben.

Um zwei Uhr Morgens rast das Unwetter in voller Wuth. Der Wind ist zum Orkan geworden, und der entsetzliche Seegang droht unser Floß zu zerreißen. Der Zimmermann Daoulas, Robert Kurtis und mehrere Matrosen sind bemüht, es durch Taue noch mehr zu sichern. Ungeheure Sturzseen ergießen sich über das flache Bauwerk, und ein lauwarmer Wasserschwall durchnäßt uns bis auf die Knochen. Mr. Letourneur bietet dem wüthenden Anprall die Brust, als könne er seinen Sohn dadurch schützen.

Miß Herbey bleibt unbeweglich; man könnte sie für eine Bildsäule der Ergebenheit ansehen.

Bei dem nie verlöschenden Scheine der Blitze bemerke ich da sehr große und wahrscheinlich tiefgehende Wolken, die eine auffallend röthliche Farbe zeigen, und ein Knattern, wie von Kleingewehrfeuer, erfüllt die Lüfte. Es rührt das von dem eigenthümlichen Geräusche elektrischer Entladungen her, zu denen Hagelkörner als Mittelglieder zwischen einander eingesetzt geladenen Wolken dienen. Wirklich hat sich durch Aufeinandertreffen von Gewitterwolken und einem kalten Luftstrome Hagel gebildet, der jetzt mit unerhörter Gewalt niederfällt. Wir werden von den nußgroßen Körnern kartätscht, deren Aufschlagen auf die Plateform fast einen metallischen Ton erzeugt.

Eine halbe Stunde hält dieses Meteor an, welches den Wind einstweilen zu mäßigen scheint; nachdem dieser aber durch alle Compaßrichtungen gegangen, erhebt er sich wieder mit einer Gewalt ohne Gleichen. Der Mast des Flosses, dessen Strickleitern gerissen sind, wird quer gebogen, und man beeilt sich, ihn aus der Oeffnung zu heben, um das Abbrechen desselben zu verhüten. Unser Steuerruder wird durch einen Wellenschlag zerstört, und der Bootsriemen treibt fort, ohne daß es möglich wurde, ihn wieder zu erlangen. Gleichzeitig werden auch die Schutzwände des Backbords eingedrückt, und wüthend drängen sich die Wellen durch diese Bresche.

Der Zimmermann und die Matrosen wollen versuchen, dem Schaden beizukommen; bei den fortwährenden Stößen ist das aber unmöglich, und sie rollen fallend Einer über den Andern, als das Floß, durch eine ungeheure Woge emporgehoben, sich um einen Winkel von mehr als fünfundvierzig Graden neigt. Sind die Männer nicht mit weggerissen worden? Müssen die Stricke, welche uns halten, nicht zerreißen? Welches Wunder hat uns Alle bewahrt, daß wir nicht in’s Meer geschleudert wurden? … Ich weiß es nicht zu erklären. Mir scheint es fast unglaublich, daß das Floß bei den ungeordneten wilden Bewegungen nicht vollkommen umgestürzt wurde und wir, an seine Planken festgebunden, einem schrecklichen Tode entgingen!

In der That kommt das Floß gegen drei Uhr Morgens, als das Unwetter zügelloser als je vorher tobte, von dem Rücken einer bergeshohen Woge empor gehoben, fast auf die schmale Seite zu stehen. Ein Aufschrei des Schreckens erschallt! … Wir kentern! … Nein! … Das Floß hat sich auf dem Wogenkamme in unbestimmbarer Höhe erhalten, und wir vermochten bei dem intensiven Lichte der Blitze, die sich nach allen Richtungen hin kreuzen, vor Entsetzen erstarrt, das Meer zu überblicken, welches ringsum aufschäumt, als brandete es über Klippen hinweg.

Das Floß nimmt sofort seine horizontale Lage wieder an, aber in dem Augenblicke, da es schief stand, sind die Taue der Wassertonnen gerissen. Eine derselben habe ich über Bord gehen sehen, während der Inhalt der anderen zum Theil ausfloß.

Einige Matrosen springen hinzu, um das Faß, welches das conservirte Fleisch enthält, zu erhalten. Da klemmt sich der Fuß des Einen zwischen die etwas auseinander gewichenen Planken der Plateform und stößt der Unglückliche ein herzzerreißendes Geschrei aus.

Ich will ihm zu Hilfe eilen, und es gelingt mir auch, die Stricke um meinen Leib zu lösen … Zu spät! Bei einem blendenden Blitze erkenne ich noch, wie der Unglückliche, dessen Fuß wieder frei geworden ist, durch einen Wogenschwall, der sich donnernd über uns stürzt, hinweggerissen wird. Sein Kamerad ist mit ihm verschwunden, ohne daß es möglich wurde, Beiden zu Hilfe zu kommen.

Mich hat die Sturzsee auf die Plateform niedergeworfen, und ich habe durch Anschlagen des Kopfes auf einen vorspringenden Balken eine Zeit lang das Bewußtsein verloren.

XXXVI.


XXXVI.

Am 22. December. – Endlich ist der Tag angebrochen, und die Sonne kommt zwischen den letzten übrig gebliebenen Gewitterwolken wieder zum Vorschein. Dieser Kampf der Elemente hat nur wenige Stunden gewährt, doch er war entsetzlich, und Luft und Wasser wütheten mit einer unvergleichlichen Erbitterung.

Ich habe hier nur die Hauptvorgänge beschrieben, denn ich war in Folge der Bewußtlosigkeit nach meinem Sturze nicht im Stande, das Ende der Empörung der Natur zu beobachten. Ich weiß nur allein, daß der Orkan, kurze Zeit nach jener Sturzsee, sich durch Gegenwinde ermäßigt und die elektrische Spannung der Atmosphäre nachgelassen hat. Der Sturm hielt also über die Nacht hinaus nicht an. Doch welchen Schaden hat er auch in dieser kurzen Zeit uns verursacht, welche unersetzliche Verluste, und welches Elend droht nun über uns hereinzubrechen! Von dem Wasser, das er in Strömen herabgoß, haben wir nicht einen Tropfen auffangen können!

In Folge der Bemühungen der Herren Letourneur und der Miß Herbey bin ich bald wieder zu mir gekommen, aber Robert Kurtis‘ heldenmüthiger Hilfe verdanke ich es, daß ich durch eine zweite Sturzsee nicht mit hinweggespült wurde.

Der eine von den beiden durch das Unwetter umgekommenen Matrosen ist Austin, ein junger, gutmüthiger, thätiger und beherzter Mann von achtundzwanzig Jahren. Der andere ist der alte Ire O’Ready, der Ueberlebende so vieler Schiffbrüche!

Jetzt sind wir nur noch sechzehn Personen auf dem Floß, d. h. fast die Hälfte derer, welche sich an Bord des Chancellor eingeschifft haben, ist schon umgekommen.

Und nun, was verbleibt uns noch an Lebensmitteln?

Robert Kurtis suchte sich bald darüber Aufklärung zu schaffen. Worin bestehen jene, und wie lange Zeit werden sie reichen? Noch wird uns das Wasser nicht ganz fehlen, denn auf dem Boden der einen Tonne finden sich etwa noch vierzehn Gallonen, und die andere ist unversehrt. Aber das Faß mit dem conservirten Fleisch, und das, in welchem wir die gefangenen Fische aufbewahrten, sind uns Beide entführt worden, und von diesen Vorräthen besitzen wir nun absolut nichts mehr. Von dem Schiffszwieback sind nach Robert Kurtis‘ Abschätzung nicht mehr als sechzig Pfund gerettet worden.

Sechzig Pfund Schiffszwieback für Sechzehn, das ergiebt für eine Woche Nahrung, auf die Person täglich ein halbes Pfund gerechnet.

Robert Kurtis hat uns Alles bekannt gegeben. Schweigend haben wir ihm zugehört. Still ist auch der ganze Tag, der 22. December, vorübergegangen; Jeder war mit sich selbst beschäftigt, doch offenbar wurden Alle von demselben Gedanken bewegt. Mir scheint es, als betrachte man sich gegenseitig mit ganz eigenthümlichen Augen, und zeige sich das Gespenst des Hungers schon von Weitem. Bis hierher hatte uns Speise und Trank noch nicht ganz und gar gefehlt. Jetzt indeß muß die Wasserration noch weiter verringert werden und noch mehr die an Zwieback!

Einmal näherte ich mich einer Gruppe auf dem Vordertheil lang hingestreckter Matrosen und hörte aus Flaypol’s Munde in ironischem Tone noch die Worte:

»Was einmal sterben soll, das thut schnell ab!«

– Ja, antwortet ihm Owen, sie lassen dann wenigstens ihren Theil den Anderen übrig!«

Der Tag schlich unter allgemeiner Niedergeschlagenheit dahin. Jeder empfing sein vorschriftsmäßiges halbes Pfund Schiffszwieback. Die Einen haben es voller Gier sofort verschlungen, Andere theilten es sorglich ein. Der Ingenieur Falsten scheint mir seine Ration in so viele Theile zerlegt zu haben, als er Mahlzeiten zu machen gewöhnt ist.

Wenn nur Einer uns überlebt, – Falsten wird dieser Eine sein!

XXVIII.


XXVIII.

Fortsetzung vom 6. December. – Der Chancellor wird jetzt im Wasser nicht mehr ganz im Gleichgewicht gehalten, und er droht allmälig unterzugehen.

Glücklicherweise soll das Floß noch diesen Abend fertig werden, und man wird sich auf demselben einrichten können, wenn Robert Kurtis es nicht vorzieht, damit bis zum Anbruch des Tages zu warten. Der Unterbau ist sehr fest ausgeführt. Die Balken desselben sind mit starken Tauen verbunden, und da sie kreuzweise übereinander liegen, so erhebt sich das Ganze etwa um zwei Fuß über das Wasser.

Die Plattform ist aus Planken der Schanzkleidung hergestellt, welche die Wellen abgerissen haben und die man geschickt verwendet hat. Schon im Laufe des Nachmittags beginnt man, es mit Allem, was an Lebensmitteln, Segelwerk, Instrumenten und Werkzeugen gerettet worden ist, zu beladen. Eile thut noth, denn der Mastkorb des Mittelmastes ragt nur noch zehn Fuß über das Meer empor, und vom Bugspriet ist nur die äußerste schief aufsteigende Spitze noch sichtbar. Ich würde mich sehr wundern, wenn der morgende Tag nicht der letzte des Chancellor wäre!

Und in welchem moralischen Zustande befinden wir uns nun? Ich suche mir klar zu werden über mein eigenes Innere, und es scheint mir, daß ich mehr zu einer unbewußten Theilnahmlosigkeit hinneige, als zu dem Gefühl der Ergebung. Mr. Letourneur lebt ganz in seinem Sohne, der seinerseits wieder nur an den Vater denkt. André zeigt übrigens eine muthige, würdige, christliche Resignation, die ich nicht besser als mit derjenigen Miß Herbey’s zu vergleichen vermag. Falsten ist stets der Alte, und, Gott verzeihe mir, der Ingenieur rechnet noch immer in seinem Notizbuche! Mrs. Kear geht trotz der Sorgfalt des jungen Mädchens und der meinigen der Auflösung mehr und mehr entgegen.

Von den Matrosen sind zwei oder drei ganz ruhig, die andern aber nahe daran, den Kopf zu verlieren, einige scheint ihr rohes Naturell zu Excessen zu verführen. Die Leute, welche dem verderblichen Einflüsse Owen’s und Jynxtrop’s unterliegen, werden schwer im Zaume zu halten sein, wenn wir mit ihnen auf dem beschränkten Flosse zusammen leben müssen!

Der Lieutenant Walter ist ganz entkräftet; trotz seines Muthes hat er darauf verzichten müssen, länger Dienst zu thun. Robert Kurtis und der Bootsmann sind energische, unerschütterliche Männer, welche die Natur »in ihrem besten Feuer geschmiedet hat«.

Gegen fünf Uhr Abends hat eine unserer Unglücksgefährtinnen aufgehört zu leiden. Mrs. Kear ist nach schmerzlichem Todeskampfe, doch wahrscheinlich ohne Bewußtsein unserer Lage, verschieden. Sie stieß nur einige Seufzer aus, und Alles war vorüber. Bis zum letzten Augenblicke hat Miß Herbey mit einer uns Alle tief ergreifenden Ergebenheit der Herrin alle ihre Sorgfalt gewidmet!

Die Nacht verging ohne allen weiteren Zufall. Am Morgen, beim ersten Tagesgrauen, habe ich die Hand der Todten ergriffen, welche schon ganz erkaltet und starr war. Den Körper konnten wir nicht länger im Mastkorbe behalten. Miß Herbey und ich, wir wickeln sie in ihre Kleider, sprechen ein stilles Gebet für die Seele der unglücklichen Frau und – das erste Opfer so vielen Elends stürzt in die Fluthen.

Da ruft Einer der Leute, die sich in den Strickleitern befinden, uns die entsetzlichen Worte zu:

»Da, um diese Leiche wird es uns noch leid thun!«

Ich drehe mich um. Owen war es, der also sprach.

Dann beschleicht mich aber der Gedanke, daß die Lebensmittel uns wirklich mit der Zeit ausgehen könnten!

XXIX.


XXIX.

Am 7. December. – Das Schiff sinkt weiter; das Meer ist nun bis zu den Spinnenköpfen des Besanmastes gestiegen. Oberdeck und Vorderkastell sind vollständig überfluthet; die Spitze des Bugspriets ist verschwunden, und nur die drei Masten erheben sich noch über den Ocean.

Doch das Floß liegt bereit und ist mit Allem beladen, was zu retten war. Am Vordertheile desselben ist eine Oeffnung ausgespart, welche einen Mast aufnehmen soll, den Strickleitern von den Seiten der Plateform halten werden. Das große Topsegel ist für denselben bestimmt und treibt uns vielleicht nach der Küste.

Wer weiß, ob dieser gebrechliche Bretterhaufen, der nicht wohl untersinken kann, nicht zu Stande bringen wird, was dem Chancellor nicht gelingen sollte? Die Hoffnung wurzelt doch so fest im Menschenherzen, daß ich sie auch jetzt noch sich in mir regen fühle!

Es ist sieben Uhr Morgens, und wir sind eben im Begriff, uns einzuschiffen, als das Schiff plötzlich so schnell versinkt, daß der Zimmermann und die auf dem Flosse beschäftigten Leute gezwungen sind, die Taue zu kappen, um nicht mit in den Wirbel hinabgezogen zu werden.

Unser bemächtigt sich eine unbeschreibliche Angst, denn in dem Augenblick, da das Schiff in den Abgrund versinkt, treibt unsere einzige rettende Planke mit der Strömung fort.

Zwei Seeleute und ein Schiffsjunge verlieren den Kopf, stürzen sich in das Meer, aber sie kämpfen vergebens gegen den Seegang. Es liegt auf der Hand, daß sie das Floß nicht erreichen, noch an Bord zurückgelangen werden, denn Wind und Wellen haben sie gegen sich. Robert Kurtis schlingt sich einen Strick um den Leib und versucht ihnen zu Hilfe zu eilen. Vergeblich! Noch bevor er sie erreicht hat, sehe ich die drei Unglücklichen, welche mit aller Macht sich zu halten suchen, langsam verschwinden, nachdem sie vergeblich die Arme nach uns ausgestreckt haben.

Man zieht Robert Kurtis wieder heran, der selbst bei dem wildbewegten Wasser nicht ohne Verletzung an Bord gelangt.

Inzwischen mühen sich Daoulas und seine Leute mittels Balken, die sie als Ruder gebrauchen, ab, dem Schiffe wieder nahe zu kommen, doch erst nach einer Stunde – eine Stunde, die uns eine Ewigkeit scheint und während der das Wasser bis zu den Mastkörben steigt, – gelingt es, das Floß, welches sich auf zwei Kabellängen von uns entfernt hatte, neben den Chancellor zu legen. Der Bootsmann wirft Daoulas eine Leine zu, und das Floß wird noch einmal an die Mastseile des Großmastes angebunden.

Jetzt ist kein Augenblick zu verlieren, denn ein furchtbarer Wirbel entsteht rings um den gesunkenen Schiffsrumpf, aus dem starke Luftblasen in großer Menge aufsteigen.

»Einschiffen! Einschiffen!« rief Robert Kurtis.

Wir stürzen auf das Floß. André Letourneur beobachtet erst, daß auch Miß Herbey auf dasselbe gelangt, und erreicht dann selbst glücklich die Plateform, wohin sein Vater ihm unmittelbar folgt. In kürzester Zeit sind wir Alle eingeschifft, – Alle, bis auf den Kapitän Robert Kurtis und den alten Matrosen O’Ready.

Robert Kurtis steht noch auf dem Mastkorbe des Großmastes und will sein Schiff nicht eher verlassen, als bis es in den Abgrund versinkt; das ist seine Pflicht und sein Recht. Man fühlt es mit, daß ihm fast das Herz bricht, da er den Chancellor, den er liebt und befehligt, aufzugeben gezwungen ist!

Der Ire ist im Mastkorbe des Besanmastes geblieben.

»Schiffe Dich ein, Alter! ruft ihm der Kapitän zu.

– Geht das Schiff schon unter? fragt der Starrkopf mit der größten Gleichgiltigkeit.

– Es sinkt geraden Wegs hinab.

– Er schifft sich schon ein«, antwortet O’Ready, als ihm das Wasser bis an den Gürtel gestiegen ist.

Kopfschüttelnd begiebt er sich nach dem Flosse.

Noch einen Augenblick verweilt Robert Kurtis auf dem Mastkorbe, wirft einen Blick ringsum und verläßt als der Letzte sein Fahrzeug.

Es ist die höchste Zeit. Die Taue werden gekappt, und langsam treibt das Floß ab.

Unser Aller Augen sind nach der Stelle gerichtet, an der das Schiff untergeht. Erst verschwindet die Spitze des Besanmastes, dann die des Großmastes, und nun ist – Nichts mehr sichtbar von dem schönen Schiffe, das vorher der Chancellor hieß.

XXX.


XXX.

Fortsetzung vom 7. December. – Jetzt trägt uns also ein anderer schwimmender Apparat; versinken kann er zwar nicht, denn die Balken, aus denen er besteht, müssen unter allen Verhältnissen auf der Oberfläche bleiben. Doch wird ihn das Meer nicht zertrümmern?

Wird es nicht die Taue zerreißen, die ihn verbinden?

Von achtundzwanzig Personen, die der Chancellor bei seiner Abfahrt von Charleston trug, sind schon zehn umgekommen.

Wir sind noch achtzehn, – achtzehn auf einem Flosse, das auf vierzig Fuß Länge eine Breite von etwa zwanzig Fuß bietet.

Hier folgen die Namen der Ueberlebenden: Die Herren Letourneur, der Ingenieur Falsten, Miß Herbey und ich, als Passagiere; Kapitän Kurtis, Lieutenant Walter, der Hochbootsmann, der Steward Hobbart, der Koch Jynxtrop, der Zimmermann Daoulas; – endlich die sieben Matrosen Austin, Owen, Wilson, O’Ready, Burke, Sandon und Flaypol.

Hat uns der Himmel in den zweiundsiebenzig Tagen seit unserer Abfahrt von der amerikanischen Küste nun hinreichend geprüft, und seine Hand schwer genug auf uns gelegen? Auch der Vertrauensvollste würde das nicht zu hoffen wagen.

Doch, lassen wir die Zukunft, denken nur an die Gegenwart, und fahren wir fort die Scenen dieses Dramas in der Reihenfolge, wie sie sich entwickeln, zu registriren.

Die Passagiere des Flosses sind bekannt. Welches sind aber ihre Hilfsmittel?

Robert Kurtis hat nichts Anderes einschiffen lassen können, als was von den schon aus der Kombüse entnommenen Provisionen übrig war, deren größter Theil damals, als das Verdeck des Chancellor überfluthet wurde, verdorben ist. Nur wenig verbleibt uns, wenn man bedenkt, daß achtzehn Personen zu ernähren sind, und wie lange es dauern kann, bis uns ein Schiff begegnet oder wir Land in Sicht bekommen. Ein Faß Schiffszwieback, ein Faß getrocknetes Fleisch, ein kleines Tönnchen Branntwein, zwei Behälter mit Wasser, das ist Alles, was zusammengerafft werden konnte, so daß wir uns vom ersten Tage an mit zugemessenen Rationen begnügen müssen.

An Kleidungsstücken zum Wechseln besitzen wir ganz und gar nichts. Einige Segel dienen uns als Decken und Schutzdächer. Die Werkzeuge des Zimmermanns Daoulas, der Sextant, die Bussole, eine Karte, unsere Taschenmesser, ein metallener Siedekessel und eine Weißblechtasse, welche den alten Irländer O’Ready noch niemals verlassen hat, das sind die Instrumente und Geräthe, die noch übrig sind, denn alle die auf dem Verdeck schon nieder gelegten und für das erste Floß bestimmten Kästen sind schon bei dem theilweisen Versinken des Schiffes verloren gegangen, und seit dieser Zeit hat Niemand mehr in den Kielraum dringen können. So ist also unsere Lage. Sie ist schwierig, doch nicht verzweifelt. Leider liegt die Befürchtung nahe, daß mehr als Einem mit der physischen Kraft auch die Seelenstärke schwinden wird, und es befinden sich Einige unter uns, welche nur schwer im Zaume zu halten sein werden.

IV.


IV.

Vom 30. September bis 6. October. – Der Chancellor ist ein schneller Segler, der viele Schiffe von gleicher Größe leicht überholen würde, und seitdem die Brise aufgefrischt hat, läßt er einen langen, kaum übersehbaren Streifen wirbelnden Kielwassers hinter sich, so daß man ein langes weißes Spitzengewebe, das auf dem Meere wie auf blauem Untergrunde hingebreitet läge, zu sehen vermeint.

Der Ocean ist vom Winde nur wenig bewegt. So viel ich weiß, wird Niemand an Bord von dem Schwanken und Stampfen des Schiffes besonders belästigt. Uebrigens befindet sich keiner der Passagiere auf der ersten Ueberfahrt und sind Alle mehr oder weniger mit dem Meere vertraut. Zur Zeit des Essens bleibt jetzt kein Platz am Tische leer.

Zwischen den Passagieren knüpfen sich allmälig Verbindungen an und das Leben an Bord gestaltet sich minder einförmig. Der Franzose, Mr. Letourneur, und ich, wir plaudern häufiger mit einander.

Mr. Letourneur ist ein Mann von fünfzig Jahren, hohem Wuchse, weißem Haar und ergrauendem Barte. Er erscheint noch älter, als er wirklich ist, – eine Folge langjährigen Kummers, der an ihm nagte und ihn auch heute noch verzehrt. Offenbar trägt dieser Mann eine nie versiegende Quelle der Traurigkeit mit sich herum, was man an seinem herabgekommenen Körper und dem häufig auf die Brust niedersinkenden Kopfe leicht erkennt.

Nie lacht er, nur selten lächelt er, und dann nur seinem Sohne gegenüber. Seine Augen sind sanft, blicken aber stets nur wie durch einen feuchten Schleier. Sein Gesicht verräth eine ganz charakteristische Mischung von Kümmerniß und Liebe, und seine ganze Erscheinung athmet eine gewisse wohlwollende Güte.

Man kommt auf den Gedanken, daß Mr. Letourneur über irgend ein unverschuldetes Unglück traure.

So ist es auch; doch wer sollte kein schmerzliches Mitgefühl empfinden, wenn er die wirklich übertriebenen Vorwürfe hört, die er sich als »Vater« selbst macht!

Mr. Letourneur ist nämlich mit seinem etwa zwanzigjährigen Sohne André, einem sanften, einnehmenden jungen Manne, an Bord. Dieser hat zwar im Gesicht einige Aehnlichkeit mit seinem Vater, aber – und das ist eben die Ursache des nie gestillten Schmerzes des Letzteren, – André ist gebrechlich. Sein linkes, stark nach außen verrenktes Bein zwingt ihn zu hinken, so daß er ohne Stock, auf den er sich stützt, gar nicht gehen kann.

Der Vater betet sein Kind an, und man sieht, daß dessen ganzes Leben jenem unglücklichen Wesen gewidmet ist. Er leidet durch das angeborene Gebrechen des Sohnes weit mehr, als sein Sohn selbst, und erbittet von diesem wohl dann und wann Verzeihung! Seine Hingebung gegen André äußert sich jeden Augenblick von Neuem. Er verläßt ihn nicht, belauscht seine geheimsten Wünsche, achtet auf Alles, was Jener thut. Seine Arme gehören mehr dem Sohne, als ihm selbst, sie umschlingen ihn und unterstützen ihn, wenn sich der junge Mann auf dem Verdeck des Chancellor ergeht.

Mr. Letourneur hat sich mir enger angeschlossen, und spricht unausgesetzt von seinem Kinde. Heute sprach ich ihn folgendermaßen an: »Eben komme ich von Mr. André. Sie haben einen guten Sohn, M. Letourneur, er ist ein begabter und unterrichteter junger Mann.

– Ja wohl, Mr. Kazallon, antwortet mir Mr. Letourneur, dessen Lippen ein schwaches Lächeln versuchen, eine schöne Seele in einem elenden Körper, – die Seele seiner armen Mutter, welche starb, als sie ihm das Leben gab.

– Er liebt Sie sehr.

– Das gute Kind! flüstert den Kopf senkend Mr. Letourneur. O, fährt er dann fort, Sie können es nicht mit fühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines gebrechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!

– Mr. Letourneur, erwiderte ich ihm, bei dem Unglück, welches Ihren Sohn betroffen hat, theilen Sie die Last nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu beklagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich leichter, als ein Seelenleiden, und das Letztere trifft Sie doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerksam Ihren Sohn, und wenn ihm irgend Etwas nahe geht, so glaube ich behaupten zu können, daß das nur Ihre persönliche Bekümmerniß ist …

– Die ich ihm gegenüber stets verberge! fällt mir Mr. Letourneur schnell in’s Wort. Ich habe nur einen Lebenszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu verschaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße, nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jahren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Europa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung André’s habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anvertrauen wollte, selbst geleitet und jetzt vollende ich sie durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manchmal bilde ich mir ein, daß er vergessen könne, wenn ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschauspiele sehe.

– Ja, mein Herr, … gewiß …, sage ich.

– Aber wenn er auch vergäße, nimmt Mr. Letourneur wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräftigenden Händedrucke, so vergesse ich nicht und werde nie vergessen können. Glauben Sie wohl, mein Herr, daß mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«

Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Unglücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur läuft auf diesen zu und hilft ihm die etwas steile Treppe nach dem Oberdeck hinauf.

Dort setzt sich André Letourneur auf eine der Bänke, welche unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern, und ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die Fahrt des Chancellor, die Aussichten der Ueberfahrt an Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän Huntly einen mittelmäßigen Eindruck bekommen. Die Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläfrige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dagegen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urtheil über den zweiten Officier, Robert Kurtis, einen wohlgebauten Mann von dreißig Jahren mit großer Muskelkraft, der immer in Thätigkeit ist und dessen lebhafte Willenskraft sich fortwährend in Handlungen auszusprechen sucht.

Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse ihn schärfer in’s Auge und erstaune, daß er mir vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem Blicke und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist ein energischer Mann, der den kalten Muth wohl besitzen mag, welcher den wahren Seemann auszeichnen muß. Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er interessirt sich für den jungen Letourneur und sucht ihm bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.

Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Officier und nimmt an der Unterhaltung theil.

Ich sehe, daß der junge Letourneur gern mit ihm spricht. Robert Kurtis theilt uns einiges über die Passagiere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung getreten sind.

Mr. und Mrs. Klear sind beide Amerikaner aus dem Norden, die ihre Reichthümer der Ausbeutung der Petroleumquellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt die Ursache manches großen Vermögens in den Vereinigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dem man den »Parvenu« ansieht, ist ein trauriger Tischgenosse, der Nichts als sein persönliches Vergnügen im Auge hat. Fortwährend klappert das Metall in seinen Taschen, in welchen die Hände unausgesetzt herum wühlen. Stolz, aufgeblasen, ein Anbeter seiner selbst und Verächter aller Anderen, trägt er eine affectirte Theilnahmlosigkeit für Alles, was ihn nicht direct angeht, zur Schau. Er brüstet sich wie ein Pfau, »er riecht sich, er schmeckt sich und kostet sich«, um mit den Worten des berühmten Physiognomikers Gratiolet zu reden. Er ist ein Dummkopf und ein Egoist dazu. Ich begreife nicht, warum er an Bord des Chancellor gegangen ist, da das einfache Kauffahrtei-Schiff ihm den Comfort der transatlantischen Dampfer ja doch nicht gewähren kann.

Mrs. Kear ist eine nichtssagende, nachlässig auftretende Frau, der man die vierzig Jahre an den Schläfen schon ansieht, geistlos, unbelesen und ohne Unterhaltungsgabe. Sie schaut wohl hinaus, aber sieht Nichts; sie hört wohl, aber versteht Nichts. Ob sie wohl denken mag? Ich möchte es nicht behaupten.

Die einzige Beschäftigung dieser Frau besteht darin, sich jeden Augenblick von ihrer Gesellschaftsdame, der Miß Herbey, einer zwanzigjährigen Engländerin von sanftem und einnehmendem Wesen, bedienen zu lassen, einem jungen Mädchen, welches die wenigen Pfunde, die ihr der Oelbaron zuwirft, wohl nicht ohne Kränkung annimmt.

Diese Dame ist sehr hübsch; eine Blondine mit tiefblauen Augen, zeigt sie nicht jenes nichtssagende Gesicht, dem man bei so vielen Engländerinnen begegnet. Gewiß wäre ihr Mund reizend, wenn sie einmal Zeit oder Gelegenheit hätte, zu lächeln. Worüber sollte das arme Mädchen aber lächeln können, da sie jeden Augenblick den sinnlosen Nörgeleien und lächerlichen Launen ihrer Herrin ausgesetzt ist? Doch, wenn Miß Herbey im Inneren gewiß tief leidet, so verbirgt sie das doch und erscheint in ihr Schicksal völlig ergeben.

William Falsten, ein Ingenieur aus Manchester, vertritt den vollkommen englischen Typus. Er leitet ein großes Wasserwerk in Süd-Carolina und geht jetzt nach Europa, um neue vervollkommnetere Maschinen kennen zu lernen, unter Anderem die Centrifugen der Firma Cail. Ein Mann von fünfundvierzig Jahren, steckt etwas von einem Gelehrten in ihm, der aber nur an seine Maschinen denkt, den Mechanik und Rechnungen von Kopf bis zum Fuß erfüllen und der darüber hinaus für Nichts mehr Sinn hat. Wen er in seine Unterhaltung verwickelt, der kann unmöglich wieder davon loskommen und bleibt wie von einem endlosen Zahnrade darin gefesselt.

Mr. Ruby endlich repräsentirt den ganz gewöhnlichen Kaufmann ohne Erhabenheit und Originalität. Seit zwanzig Jahren hat dieser Mann nichts gethan, als zu kaufen und zu verkaufen, und da er im Allgemeinen theurer verkaufte, als er eingekauft hat, so hat er sich ein Vermögen erworben. Was er damit anfangen soll, weiß er selbst noch nicht. Dieser Ruby, dessen ganze Existenz in seinem Kramhandel aufging, denkt nicht und reflectirt nicht. Sein Gehirn ist für jeden Eindruck unzugänglich, und er rechtfertigt in keiner Weise das Wort Pascal’s: »Der Mensch ist offenbar zum Denken erschaffen, nur das macht seine Würde aus, und bildet sein Verdienst.«

XXXI.


XXXI.

Fortsetzung vom 7. December. – Der erste Tag hat sich durch kein besonderes Ereigniß ausgezeichnet.

Heute hat der Kapitän Robert Kurtis uns Alle, Passagiere und Matrosen, versammelt.

»Meine Freunde, sprach er uns an, achten Sie wohl auf meine Worte. Ich commandire auf diesem Flosse ebenso wie an Bord des Chancellor, und ich rechne ohne Ausnahme auf unbedingten Gehorsam. Denken wir nur an das allgemeine Wohl, seien wir einig, und möge der Himmel uns gnädig sein!«

Alle nahmen diese Worte mit Befriedigung auf.

Die schwache Brise, welche jetzt weht und deren Richtung der Kapitän mittels des Compasses bestimmt, nimmt etwas zu und bläst mehr aus Norden. Diesen günstigen Umstand darf man sich nicht entgehen lassen, um sich der Küste Amerikas so weit als möglich zu nähern. Sofort geht der Zimmermann Daoulas daran, den Mast in der Oeffnung des Vordertheils aufzurichten, den er durch zwei Spieren sorgsam stützt. Währenddem befestigen der Hochbootsmann und die Matrosen das kleine Topsegel an der Stenge, welche zu diesem Zwecke aufbewahrt worden ist.

Um neuneinhalb Uhr wird der Mast aufgerichtet, dem zwei von den Seiten der Plattform aufsteigende Strickleitern noch mehr Stabilität verleihen. Das Segel wird gehißt, und unser Floß bewegt sich mit dem Winde im Rücken merkbar fort.

Nach Beendigung dieser Arbeit versucht der Zimmermann auch ein Steuerruder herzustellen, um mit dessen Hilfe das Floß in der gewünschten Richtung zu erhalten. Robert Kurtis und der Ingenieur Falsten gehen ihm dabei mit Rath und That zur Hand, und nach zwei Stunden Arbeit ist an dem Hintertheile eine Art Bootsriemen angebracht, ähnlich denen, wie sie an den malayischen Dschonken gebräuchlich sind.

Inzwischen hat Kapitän Robert Kurtis die nothwendige Beobachtung zur Bestimmung der geographischen Länge unternommen, und zu Mittag gelingt es ihm, die Sonnenhöhe mit großer Genauigkeit zu messen.

Der Punkt unserer Lage ist nach seiner Beobachtung:

15° 7′ nördlicher Breite, 49° 35′ westlicher Länge von Greenwich.

Durch Eintragung auf die Courskarte ergiebt es sich, daß wir uns gegen 650 Meilen nordöstlich von Paramaibo, d. h. dem nächsten Theile des amerikanischen Continents, der wie erwähnt zum Gebiete von Holländisch-Guyana gehört, befinden.

Wenn wir nur mittelmäßiges Glück haben, dürfen wir doch nicht, selbst bei constanter Hilfe der Passatwinde, darauf rechnen, mehr als zehn bis zwölf Meilen täglich zurückzulegen, da ein so unvollkommener Apparat, wie ein Floß, den Wind nicht vortheilhaft auszunutzen vermag. Darnach hätten wir auf eine Fahrt von zwei Monaten zu rechnen, selbst unter den günstigsten Umständen, abgesehen von dem wenig wahrscheinlichen Falle der Begegnung eines Schiffes. Der Atlantische Ocean ist aber gerade in diesem Theile weit weniger besucht als weiter nördlich oder südlich. Wir sind zum Unglück zwischen die Schiffswege nach den Antillen und die nach Brasilien mitten hinein geworfen worden, welche die transatlantischen englischen oder französischen Steamer einhalten, und es ist besser, wir verlassen uns nicht auf den Zufall einer Begegnung. Wenn wir noch überdies in die Regionen der Calmen kämen oder der umschlagende Wind uns nach Osten treiben sollte, so werden aus den zwei Monaten vier, ja sechs werden, und vor Ablauf des dritten dürften unsere Lebensmittel wohl schon zur Neige gehen!

Die Klugheit erfordert also, daß wir nur das dringend nothwendige Quantum verzehren. Kapitän Kurtis hat uns das Alles vorgestellt, und wir haben die Lebensvorschriften strengstens festgesetzt. Für Alle ohne Unterschied werden die Rationen so bemessen, daß Hunger und Durst wenigstens halb gestillt werden. Die Leitung des Flosses erfordert keinen großen Aufwand physischer Kräfte, und uns kann wohl eine schmälere Kost genügen. Der Branntwein, von dem das Fäßchen nur fünf Gallonen (etwa 23 Liter) enthält, soll nur mit größter Sparsamkeit vertheilt werden, und Niemand ohne ausdrückliche Erlaubniß des Kapitäns das Recht haben, ihn anzurühren.

Das Leben an Bord ist in folgender Weise geregelt: fünf Unzen Fleisch und fünf Unzen Schiffszwieback täglich für den Mann! Das ist zwar wenig, doch kann die Ration nicht verstärkt werden, denn fünfzehn Magen verzehren bei diesen Verhältnissen des Consums fünf Pfund täglich, oder in vier Monaten 600 Pfund. Alles in Allem besitzen wir aber nur 600 Pfund Fleisch und Zwieback. Man muß also bei diesem Maße stehen bleiben. Die vorräthige Menge Wasser kann etwa auf 130 Gallonen (d. s. gegen 600 Liter) geschätzt werden, und man ist dahin übereingekommen, Jedem täglich eine Pinte (d. i. 56 Centiliter) zu verabreichen, wobei wir auch drei Monate ausreichen werden.

Jeden Morgen um 10 Uhr findet durch den Bootsmann die Vertheilung der Lebensmittel statt. Jeder empfängt dann die ihm auf den Tag zukommende Ration, die er verzehren kann, wann es ihm beliebt. Das Wasser, für welches es uns an geeigneten Gefäßen fehlt, um es zu schöpfen, soll zweimal des Tages, Morgens um zehn Uhr und Abends um sechs Uhr, ausgetheilt werden, und muß es Jeder sofort trinken.

Es ist nicht zu vergessen, daß es noch zwei Möglichkeiten giebt, die unsere Portionen vermehren könnten: den Regen, der uns Wasser liefern würde, und den Fischfang, der uns mit Fischen versorgen könnte. Zum Fangen des Regens werden zwei leere Behälter aufgestellt, und nach der anderen Seite beeilen sich die Matrosen, geeignete Angelgeräthschaften herzustellen.

Das sind die Maßregeln, welche wir verabredet haben und strengstens einzuhalten überein gekommen sind. Nur dadurch dürfen wir hoffen, einer Hungersnoth vorzubeugen. Wir kennen Alle genug Beispiele, welche uns die peinlichste Vorsicht gerathen erscheinen lassen, und wenn wir wirklich den Becher des Unglücks bis zum letzten Tropfen leeren sollen, so wird es uns beruhigen, gethan zu haben, was in unseren Kräften stand.

XXXII.


XXXII.

Vom 8. bis 17. December. – Der Abend ist herangekommen, wir haben uns unter die Segelstücken verkrochen, und da ich von dem Aufenthalt im Mastkorbe furchtbar ermüdet war, habe ich einige Stunden schlafen können. Das verhältnißmäßig gering belastete Floß hebt und senkt sich leicht, und da das Meer nicht schäumt, bleiben wir auch von den Wellen verschont. Zum Unglück kann aber der Seegang nur dadurch schwächer werden, daß der Wind sich ermäßigt, und gegen Morgen bin ich in der Lage, in mein Journal eintragen zu müssen: Ruhig Wetter.

Bis zum Anbruch des Tages hat sich nichts Neues ereignet. Auch die Herren Letourneur haben einen Theil der Nacht geschlafen, und noch einmal haben wir uns die Hand gedrückt. Miß Herbey hat ebenfalls geschlummert, und ihre jetzt weniger angegriffenen Züge haben ihre gewohnte Ruhe wieder angenommen.

Wir befinden uns unterhalb des fünfzehnten Breitengrades. Die Hitze am Tage ist sehr stark, und die Sonne glänzt ungewöhnlich hell. Ein heißer Dunst schwebt in der Atmosphäre. Da der Wind nur stoßweise auftritt, so hängt das Segel während der Ruhepausen, die immer länger werden, schlaff am Maste. Robert Kurtis und der Bootsmann wollen aus gewissen nur den Seeleuten verständlichen Zeichen erkennen, daß eine Strömung von zwei bis drei Meilen in der Stunde uns nach Westen zu weiter trägt. Das wäre ein sehr günstiger Umstand der unsere Ueberfahrt merklich abkürzen könnte. Möchten der Kapitän und der Hochbootsmann sich nicht getäuscht haben, denn bei der hohen Lufttemperatur dieser Tage will die Wasserration kaum hinreichen, nur unsern quälendsten Durst zu löschen.

Und doch, seitdem wir den Chancellor oder vielmehr die Mastkörbe des Schiffes verlassen und uns auf dem Flosse eingeschifft haben, hat sich unsere Lage wesentlich verbessert, denn der Chancellor konnte jede Minute untergehen, und die Plattform, welche uns trägt, ist wenigstens fest und solid. Alle, ich wiederhole es, erkennen auch die jetzige günstige Lage unverhohlen an. Man lebt fast ganz nach seinem Vergnügen und kann hin und her gehen. Am Tage tritt man wohl zusammen, plaudert, bespricht dieses und jenes, oder betrachtet das Meer. In der Nacht schläft man unter der Segeldecke. Die Beobachtung des Himmels, die nöthige Aufmerksamkeit auf die Logleinen, welche zur Bestimmung der Geschwindigkeit der Fahrt ausgelegt sind, alles erweckt unser Interesse.

»Mr. Kazallon, sagt da André Letourneur einige Tage nach unserer Einschiffung auf dem neuen Apparat zu mir, es scheint, als sollten wir hier die Tage der Ruhe wiederfinden, welche unseren Aufenthalt auf dem Ham-Rock-Eilande so angenehm machten.

– Gewiß, so scheint es, mein lieber André, habe ich geantwortet.

– Doch möchte ich auch hinzufügen, daß das Floß vor dem Eilande einen großen Vorzug hat, – es trägt uns weiter!

– So lange wir günstigen Wind behalten, André, ist der Vorzug offenbar auf der Seite des Flosses, wenn dieser aber umschlägt…

– Sie haben recht, Mr. Kazallon, antwortet mir der junge Mann. Doch wir wollen nicht niedergeschlagen sein, sondern frohe Hoffnung haben!«

Ja wohl, diese Hoffnung hegen jetzt auch alle Anderen! Es gewinnt den Anschein, daß wir die fürchterlichsten Prüfungen für immer überstanden haben! Alle Verhältnisse sind uns günstig geworden, und es ist Keiner unter uns, der sich jetzt nicht beruhigt fühlte!

Was in der Seele Robert Kurtis‘ vorgeht, weiß ich nicht; ebenso wenig, ob er unsere Gedanken theilt, denn er hält sich etwas abseits. Gewiß ist seine große Verantwortlichkeit daran schuld! Er ist der Chef, der nicht nur für sein eigenes Leben, sondern auch für das aller Uebrigen zu sorgen hat! Ich weiß, daß er seine Pflicht in diesem Sinne auffaßt. Oft sehen wir ihn in Gedanken versunken, und Jeder vermeidet es dann, ihn zu stören.

Die langen Stunden ohne Beschäftigung bringt der größte Theil der Mannschaft auf dem Vordertheile schlafend zu. Auf Anordnung des Kapitäns ist der Hintertheil für die Passagiere reservirt worden, wo man auf Stangen eine Art Zelt errichtet hat, das uns einigen Schutz gewährt. Wir erfreuen uns Alle eines befriedigenden Wohlseins. Nur der Lieutenant Walter kann nicht wieder zu Kräften kommen. Alle ihm zugewendete Sorgfalt ist vergebens, und er wird von Tag zu Tag schwächer.

André Letourneur habe ich niemals mehr schätzen gelernt, als unter unseren jetzigen Verhältnissen. Dieser liebenswürdige junge Mann ist die Seele unserer kleinen Welt. Bei seinem originellen Geiste überrascht er häufig durch seine neuen Ideen und unerwarteten Anschauungen der Sachen, die ihm so eigen sind. Seine Unterhaltung zerstreut immer und belehrt nicht selten. Wenn André spricht, belebt sich seine kränkelnde Physiognomie. Sein Vater scheint die Worte Jenes aufzusaugen, und manchmal erfaßt er die Hand des Sohnes, die er lange Zeit betrachtet.

Dann und wann mischt sich auch, obwohl mit sorglichster Zurückhaltung, Miß Herbey in unser Gespräch; Jeder von uns bestrebt sich nach Kräften, sie durch alle möglichen Zuvorkommenheiten vergessen zu lassen, daß sie Diejenigen verloren, die naturgemäß ihre Beschützer sein sollten. In Mr. Letourneur hat das junge Mädchen einen verläßlichen Freund gefunden, wie nur ein Vater einer sein könnte, und zu ihm spricht sie mit der hingebenden Offenheit, welche ihr das Alter desselben gestattet. Auf sein Ersuchen hat sie ihm ihre Lebensgeschichte mitgetheilt, – die Geschichte eines Lebens voll Muth und Selbstverleugnung, das so häufige Loos der meisten armen Waisen. Seit zwei Jahren war sie im Hause des Mr. Kear, und jetzt ohne alle Mittel, ohne Aussichten auf die Zukunft, doch immer voller Vertrauen, da sie sich gegen jede Prüfung des Schicksals gewappnet fühlt. Miß Herbey erzwingt sich durch ihren Charakter, ihre moralische Energie die ungetheilteste Hochachtung, und auch gewisse ungebildetere Leute an Bord hüten sich vor jedem Worte und jeder Geste, die sie unangenehm berühren könnten.

Vom 12. bis 14. December ist keine Aenderung in der Situation eingetreten, in wechselnder Stärke hat der Wind fortwährend aus Osten geweht. Eigentliche Schiffsmanoeuvre sind auf dem Flosse überflüssig; selbst das Steuer, oder vielmehr der Bootsriemen braucht in seiner Stellung nicht geändert zu werden. Unser Apparat läuft mit dem Winde im Rücken, und seine Gestalt verhindert das Schwanken nach der oder jener Seite. Im Vordertheile bleiben stets einige Matrosen auf Wache, welche beauftragt sind, das Meer mit peinlichster Sorgfalt zu beobachten.

Sieben Tage sind nun verflossen, seit wir den Chancellor verlassen, und gestehe ich, daß wir uns an die Rationen schon gewöhnt haben – wenigstens bezüglich der festen Nahrung. Freilich sind unsere Kräfte auch nach keiner Seite hin in Anspruch genommen. Wir »nutzen uns nicht ab«, – um den volksthümlichen Ausdruck zu gebrauchen, der meine Gedanken recht treffend bezeichnet, – und unter derartigen Verhältnissen braucht der Mensch nur wenig zu seiner Erhaltung. Am meisten empfinden wir die Beschränkung des Wassergenusses, und bei der großen Hitze ist die uns zugetheilte Quantität notorisch unzureichend.

Am 15. December wimmelt es plötzlich rund um das Floß von einer großen Menge Fische, sogenannter Seebrassen. Obwohl unser Angelgeräthe nur aus langen Schnuren besteht, an denen ein umgebogener Nagel mit einem Stückchen gedörrten Fleisches als Lockspeise befestigt ist, so gelingt es uns doch, eine nicht unbeträchtliche Menge dieser Brassen zu fangen.

Der Tag bescheerte uns einen wahrhaft wunderbaren Fischzug und veranlaßte ein wirkliches Fest an Bord. Ein Theil jener Fische wurde geröstet, ein anderer in Meerwasser über einem auf dem Vordertheile angezündeten Holzfeuer gekocht. O, das gab eine Mahlzeit! Und dabei sparten wir an unseren Vorräthen. Diese Brassen erscheinen in solcher Unzahl, daß wir binnen zwei Tagen über zweihundert Pfund derselben einfangen. Wenn jetzt noch Regen fallen sollte, müßte sich Alles für uns zum Besten wenden.

Leider hielt sich jener Schwarm von Fischen nicht lange in unserer Nähe auf. Am 17. sind einige große Haifische, von der vier bis fünf Meter langen Art der sogenannten getigerten Haie, an der Oberfläche des Meeres erschienen. Ihre Kiefern und der untere Theil des Körpers sind schwarz mit weißen Flecken und Querlinien. Die Gegenwart solcher gefährlichen Quermäuler hat immer etwas Beunruhigendes, denn wir befinden uns bei dem geringen Emporragen des Flosses fast in einem Niveau mit ihnen, und schon mehrmals haben sie mit dem Schwanze heftig gegen unseren Bau geschlagen. Zwar ist es den Matrosen gelungen, sie durch Schläge mit Pfählen zu vertreiben, doch sollte es mich sehr wundern, wenn sie uns nicht, wie eine Beute, die ihnen nicht entgehen kann, hartnäckig nachfolgten. Geschöpfe »mit solchem Ahnungsvermögen« liebe ich aber keineswegs.