VII.


VII.

Am 14. October. – Endlich hat der Chancellor das Vegetabilienmeer verlassen und die Gewalt des Windes sich vermindert, und wir kommen mit zwei gerefften Marssegeln rasch vorwärts.

Heute wurde die Sonne wieder sichtbar und leuchtet jetzt mit hohem Glanze. Es fängt allmälig an sehr warm zu werden. Die Aufnahmen betreffs der Ortsbestimmung ergeben 21° 33′ nördlicher Breite und 50° 17′ westlicher Länge. Der Chancellor ist also um mehr als zehn Breitengrade nach Süden gesegelt.

Noch immer hält er den südöstlichen Cours!

Ich habe mir über dieses unbegreifliche Verfahren des Kapitän Huntly Aufschluß zu verschaffen gesucht und mehrere Male mit dem Befehlshaber gesprochen. Hat er seinen klaren Verstand oder hat er ihn nicht? Ich weiß es noch nicht. Im Allgemeinen spricht er vernünftig. Steht er unter dem Einflusse einer partiellen Verrücktheit, einer Geistesabwesenheit, welche sich gerade bezüglich seines Geschäftes äußert? Derartige Fälle wurden schon wiederholt beobachtet. Robert Kurtis, mit dem ich davon spreche, hört mir nur sehr kühl zu. Der zweite Officier wiederholt seine frühere Aussage, daß er nicht das Recht habe, seinen Kapitän abzusetzen, so lange nicht durch einen wohl constatirten Act des Wahnsinns der Verlust des Schiffes drohe. Die Verantwortlichkeit für jenen angedeuteten Schritt ist eine sehr ernste.

Gegen acht Uhr Abends bin ich in meine Cabine zurückgekehrt, habe bei dem Lichte meiner Schwebelampe noch eine Stunde gelesen und meinen Gedanken nachgehangen, dann aber mich niedergelegt und bin bald eingeschlafen.

Einige Stunden später durch ein ungewohntes Geräusch erweckt, höre ich schwere Tritte und lautes Gespräch auf dem Verdeck. Die Mannschaft scheint eiligst hin und her zu laufen. Was mag der Grund dieser außergewöhnlichen Bewegung sein? Wahrscheinlich eine Veränderung der Segelstellung behufs Aenderung des Schiffscourses … Doch nein, das ist’s wahrscheinlich nicht, denn noch immer neigt sich das Schiff nach der Steuerbordseite und folglich ist seine Richtung nicht verändert worden. Die Bewegungen des Chancellor sind jetzt keine heftigeren, es stürmt also nicht.

Am folgenden Morgen des 14. begebe ich mich schon um sechs Uhr auf Deck und betrachte das Fahrzeug. An Bord ist scheinbar nichts geändert. Wir segeln unter Backbordhalsen mit den unteren Mars- und Focksegeln. Der Chancellor hält sich prächtig auf dem von der frischen Brise etwas bewegten Meere. Seine Schnelligkeit ist beträchtlich und kann jetzt nicht unter elf Meilen (Seemeilen, 4 = 1 geographische Meile) betragen.

Bald erscheinen auch die beiden Herren Letourneur auf dem Verdeck, ich helfe dem jungen Manne heraufsteigen. Mit großem Wohlbehagen schlürft André die belebende Morgenluft.

Ich frage die Herren, ob sie diese Nacht nicht durch ein Geräusch erweckt worden seien, das eine gewisse Bewegung an Bord verrathen habe.

»Ich für meinen Theil nicht, antwortet André Letourneur, ich habe in einem fort geschlafen.«

– Du schliefst ganz ruhig, liebes Kind, sagte Herr Letourneur, ich bin jedoch auch durch das Geräusch, von dem Mr. Kazallon spricht, munter gemacht worden. Ich glaubte die Worte zu vernehmen: »Schnell! Schnell! Nach den Luken! Nach den Luken!«

– Um wieviel Uhr war das wohl? fragte ich.

– Etwa um drei Uhr Morgens.

– Und die Ursache dieses Geräusches ist Ihnen unbekannt geblieben?

– Vollkommen, Mr. Kazallon, sie kann aber nur unbedeutend gewesen sein, da Niemand von uns nach dem Verdeck gerufen worden ist.«

Ich fasse die Luken, welche vor und hinter dem großen Maste angebracht sind und nach dem Kielraume hinabführen, in’s Auge, Wie gewöhnlich sind sie geschlossen, doch fällt es mir auf, daß sie sorgsam mit Pfortsegeln überdeckt erscheinen, als habe man sie möglichst hermetisch verschließen wollen. Warum ist das geschehen? Hier liegt Etwas zu Grunde, das ich mir nicht zu erklären vermag. Robert Kurtis wird mir ohne Zweifel darüber Aufschluß geben. Ich warte also, bis der zweite Officier an die Wache kommt und halte meine eigenen Gedanken zunächst zurück, da es mir besser scheint, sie den Herren Letourneur jetzt nicht mitzutheilen.

Der Tag verspricht schön zu werden, die Sonne ist prächtig und fast ganz dunstfrei aufgegangen. Ein gutes Vorzeichen. Noch sieht man über dem westlichen Horizonte die Sichel des Mondes, der vor zehn Uhr siebenundfünfzig Minuten nicht untergehen wird. In drei Tagen werden wir letztes Viertel und am 24. Neumond haben. Ich schlage in meinem Kalender nach und sehe, daß an demselben Tage eine starke Springfluth sein muß. Bei unserer Fahrt auf dem offenen Meere können wir freilich nichts davon wahrnehmen, an den Küsten aller Continente und Inseln aber wird das Phänomen merkwürdig zu beobachten sein, denn der Neumond muß die Wassermassen zu außergewöhnlicher Höhe emporheben.

Ich bin jetzt auf dem Oberdeck allein. Die Herren Letourneur sind zum Thee wieder hinab gegangen, und ich erwarte den zweiten Officier.

Um acht Uhr beginnt die Wache Robert Kurtis‘, der den Lieutenant Walter ablöst, und ich gehe diesem mit einem Händedrucke entgegen.

Noch ehe er mir guten Tag sagt, läßt Robert Kurtis seinen Blick über das Verdeck schweifen, und seine Augenbrauen ziehen sich leicht zusammen. Dann beobachtet er den Zustand des Himmels und die Takelage, um sich hierauf dem Lieutenant Walter zu nähern.

»Der Kapitän? fragte er.

– Ich sah ihn heute noch nicht.

– Nichts Neues?

– Nichts.«

Dann unterhalten sich Robert Kurtis und Lieutenant Walter einige Augenblicke mit leiser Stimme. Auf eine an ihn gerichtete Frage antwortet Walter mit einem verneinenden Zeichen.

»Schicken Sie mir den Hochbootsmann herauf. Walter«, ruft der zweite Officier dem abgelösten Lieutenant nach.

Bald erscheint der Gerufene und Robert Kurtis stellt einige Fragen an ihn, auf welche dieser mit leiser Stimme, aber mit Achselzucken antwortet. Auf den Wink des zweiten Officiers läßt der Hochbootsmann durch die Deckwache die Pfortsegel über der großen Luke neu begießen.

Einige Augenblicke später nähere ich mich Robert Kurtis, und unser Gespräch dreht sich zunächst um unwichtige Dinge. Da es mir scheint, als wolle der zweite Officier nicht selbst auf den Gegenstand meines lebhaften Interesses eingehen, sage ich zu ihm:

»Ich bitte, Mr. Kurtis, was ist denn diese Nacht an Bord vorgekommen?«

Robert Kurtis betrachtet mich aufmerksam, giebt aber keine Antwort.

»Ja, fahre ich fort, ich wurde durch in ungewöhnliches Geräusch erweckt, ebenso Mr. Letourneur; was ist geschehen?

– Nichts Besonderes, Mr. Kazallon, erwidert Robert Kurtis, eine falsche Steuerbewegung des Untersteuermannes machte es plötzlich nöthig, zu brassen, was eine gewisse Bewegung auf dem Verdeck veranlaßt haben mag. Bald war der Fehler wieder gut gemacht und der Chancellor lief in seinem gewohnten Course weiter.«

Mir scheint, daß der sonst so offene Robert Kurtis diesmal nicht die Wahrheit gesagt hat.

VIII.


VIII.

Vom 15. bis 18. October. – Die Fahrt geht ganz in derselben Weise weiter, der Wind hält sich aus Nordosten, und für Jeden nicht tiefer Blickenden hat es den Anschein, als ob an Bord Alles in bester Ordnung sei.

Indeß, »es liegt etwas in der Luft«. Die Matrosen stecken die Köpfe zusammen und murmeln unter einander, schweigen aber bei unserer Annäherung. Wiederholt habe ich das Wort »Luke« gehört, das schon Mr. Letourneur aufgefallen war. Was befindet sich nur im Kielraum des Chancellor, das so besondere Vorsicht nöthig machen kann? Warum sind die Luken so luftdicht verwahrt? Wahrlich, wenn eine empörte Schiffsmannschaft im Zwischendeck gefangen gehalten würde, könnte man strengere Maßregeln zu ihrer Bewachung nicht wohl ergreifen.

Am 15., als ich mich auf dem Vordercastell erging, hörte ich den Matrosen Owen zu seinen Kameraden sagen:

»Ihr Anderen wißt es also, ich warte nicht, bis es zu spät ist. Jeder ist sich selbst der Nächste.

– Was willst Du aber thun, Owen? fragte ihn Jynxtrop, der Koch.

– Ei nun! hat der Matrose geantwortet, die Schaluppen sind doch nicht für Meerschweinchen erfunden!«

Das Gespräch wurde plötzlich unterbrochen, und ich konnte nicht mehr vernehmen. Ist etwa eine Verschwörung gegen die Schiffsoberleitung im Entstehen? Hat Robert Kurtis Vorzeichen einer Empörung bemerkt? Den bösen Willen mancher Matrosen hat man stets zu fürchten, und muß Jenen eine eiserne Disciplin entgegen setzen.

Drei Tage sind verflossen, ohne daß mir etwas Bemerkenswerthes aufgefallen wäre. An Robert Kurtis erkenne ich jedoch Zeichen von Ungeduld, was mich bei einem Manne, der seiner so sehr Herr ist, wie er, desto mehr verwundert; dennoch scheint mir Kapitän Huntly in Folge wiederholter Einsprache seiner Officiere nur noch hartnäckiger auf seinem Willen zu beharren. Uebrigens muß er an einer Ueberreizung leiden, deren Ursache mir noch dunkel ist.

Während der Mahlzeiten haben wir, Mr. Letourneur und ich, die Schweigsamkeit des Kapitäns und die Unruhe des zweiten Officiers wiederholt beobachtet. Dann und wann versucht Robert Kurtis eine Conversation zu unterhalten, doch schweigt sie meist sofort wieder, und weder der Ingenieur Falsten noch Mr. Kear sind die Leute dazu, eine solche zu führen.

Ruby natürlich ebenso wenig. Inzwischen fangen die Passagiere, und das nicht ohne Grund, an, sich über die lange Dauer der Fahrt zu beklagen. Mr. Kear, ein Mann, vor dem sich selbst die Elemente beugen müssen, scheint Kapitän Huntly für diese Verzögerung verantwortlich machen zu wollen und sagt ihm das in’s Gesicht.

Im Verlaufe des 17. und von da ab auch später wird das Verdeck auf Anordnung des zweiten Officiers wiederholt begossen. Gewöhnlich geschieht das nur am Morgen, jetzt mag die öftere Wiederholung dieses Verfahrens durch die hohe Temperatur veranlaßt sein, in der wir uns befinden, da wir so weit nach Süden herab getrieben sind. Die Pfortsegel über den Luken werden sogar stets ganz naß erhalten, und ihr dadurch eingelaufenes Gewebe bildet eine ganz undurchdringliche Decke. Der Chancellor besitzt Pumpen, welche das Ueberfluthen mit Wasser sehr bequem ausführen lassen. Ich glaube kaum, daß das Verdeck der luxuriösesten Goëletten peinlicher rein gehalten wird. Die Mannschaft des Schiffes hätte eigentlich Ursache, sich über die ihr mehr aufgebürdete Arbeit zu beklagen, aber »sie beklagt sich nicht«.

Während der Nacht vom 23. zum 24. erscheint mir die Temperatur in den Cabinen wahrhaft erstickend. Trotz des starken Meerganges habe ich die kleine Lichtpforte meiner Cabine in der Steuerbordwand des Schiffes offen lassen müssen.

Man kann nicht im Zweifel sein, daß wir uns in den Tropen befinden.

Mit Tagesgrauen bin ich nach dem Verdeck gegangen. In meiner Verwunderung habe ich die Lufttemperatur nicht entsprechend der im Inneren des Fahrzeuges gefunden. Der Morgen ist sogar recht kühl, denn die Sonne ist kaum über dem Horizont herauf, und doch habe ich mich nicht getäuscht, es war gewiß sehr warm im Schiffe.

Eben sind die Matrosen mit dem unvermeidlichen Abwaschen des Verdecks beschäftigt; die Pumpen speien Wasser, das je nach der Lage des Schiffes durch die Schanzenkleidung der Backbord- oder Steuerbordseite abläuft.

Die Seeleute laufen in dem Wasser mit bloßen Füßen umher. Ich weiß nicht, warum mich die Lust anwandelt, es ihnen nachzuthun. Ich entledige mich also der Stiefeln und der Strümpfe und pläntschere in dem frischen Seewasser herum.

Zu meinem größten Erstaunen fühle ich, daß das Verdeck des Chancellor sehr warm ist, und kann einen Ausruf darüber nicht zurückhalten.

Robert Kurtis hört mich, wendet sich um, kommt auf mich zu und beantwortet mir eine Frage, die ich noch gar nicht an ihn gestellt habe:

»Nun ja, sagt er, es ist Feuer an Bord!«

LII.


LII.

Am 25. Januar. – Die Nacht vom 24. zum 25. war dunstig, ich weiß nicht aus welchem Grunde eine der schwülsten, und der Nebel wahrhaft erstickend. Man sollte meinen, daß ein Funke hinreichen müßte, die Luft wie einen explosiven Körper zu entzünden und den ganzen Weltraum in Brand zu setzen. Das Floß bewegt sich nicht nur nicht fort, sondern unterliegt sogar überhaupt keinerlei Bewegung, so daß ich mich manchmal frage, ob es denn noch schwimme.

Wahrend dieser Nacht versuchte ich zu zählen, wie viel wir noch sind. Es scheint mir, als ob wir noch elf Personen wären, aber ich habe Mühe, die nöthigen Gedanken zu dieser Zählung zu sammeln. Einmal finde ich zehn, das andere Mal zwölf. Wir müssen wohl unserer elf sein, da der Neger Jynxtrop umgekommen ist. Morgen können es nur noch zehn sein, denn bis dahin bin ich gestorben.

Ich fühle es recht wohl, daß ich mich dem Ende meiner Qualen nähere, denn mein ganzes vergangenes Leben zieht durch meine Erinnerung, und es ist mir vergönnt, mein Vaterland, meine Freunde, meine Familie zum letzten Male im Traume zu sehen!

Gegen Morgen bin ich erwacht, wenn man die krankhafte Betäubung, in der ich lag, noch Schlaf nennen darf. Gott verzeihe mir, doch ich denke nun ernstlich daran, diesem Zustande ein Ende zu machen! Diese Idee setzt sich in meinem Gehirn immer fester, und es gewährt mir eine Art Freude, mir zu sagen, daß meine Leiden ein Ende haben werden, so bald ich es will.

Ich habe Robert Kurtis von meinem Entschlusse in Kenntniß gesetzt und ihm davon mit einer ganz auffallenden Ruhe des Geistes gesprochen. Der Kapitän begnügt sich, mir durch ein zustimmendes Zeichen zu antworten. Dann aber sagt er:

»Was mich betrifft, so werde ich mich nicht selbst tödten, das hieße meinen Posten verlassen, und das darf ich nicht. Wenn der Tod mich nicht vor den Anderen ereilt, so werde ich bis zuletzt auf dem Flosse ausharren!«

Der Nebel dauert fort, wir schwimmen mitten in einer weißgrauen Atmosphäre; man sieht fast die Wasserfläche gar nicht mehr. Wie eine dichte Wolke erhebt sich der Dunst aus dem Ocean, aber man fühlt es recht gut, daß über ihm die Sonne brennt, die in kurzer Zeit all‘ diesen Wasserdampf aufgesaugt haben wird.

Gegen sieben Uhr glaube ich Vogelgeschrei über meinem Kopfe zu vernehmen. Robert Kurtis, welcher aufmerksam lauscht, hört die Töne, welche sich dreimal wiederholen, ebenfalls.

Beim dritten Male nähere ich mich ihm und höre, wie der Kapitän mit dumpfer Stimme murmelt:

»Vögel! … Aber dann … dann müßte ja das Land nahe sein! …«

Robert Kurtis glaubt also überhaupt noch an das Land? Ich nicht mehr! Nein, es giebt keine Continente, keine Inseln mehr, und der ganze Erdball ist wiederum nur jene flüssige Kugel, wie zur Zeit der zweiten Schöpfungsperiode!

Dennoch erwarte ich das Aufsteigen des Nebels mit erklärlicher Spannung, nicht deshalb, weil ich mir schmeichelte, dann vielleicht Land zu erblicken, sondern weil es mich drängt, den absurden Gedanken, den eine unerfüllbare Hoffnung mir vorspiegeln wollte, schnell los zu werden.

Erst gegen elf Uhr beginnt der Dunst sich zu zerstreuen, und während seine dichten Wolken über die Oberfläche des Wassers gleiten, sehe ich an manchen Stellen durch dieselben den Himmel hindurchschimmern. Glänzende Strahlen dringen bis zu uns nieder und treffen uns wie weißglühende, metallene Pfeile. Doch die Condensation der Dünste vollzieht sich in den oberen Schichten, und noch kann ich den Horizont nicht wahrnehmen.

Eine halbe Stunde lang umhüllen diese Nebel das Floß und zertheilen sich bei der absoluten Windstille nur sehr schwierig.

Robert Kurtis, der sich auf die Schanzkleidung der Plateform stützt, sucht diesen dicken Nebelvorhang mit den Augen zu durchdringen.

Endlich glänzt die Sonne mit ihrer vollen Pracht über die Oberfläche des Oceans; der Nebel weicht zurück, ein großer Kreis um uns wird sichtbar und der Horizont erscheint…

Doch, es ist derselbe Horizont, wie seit sechs vollen Wochen… Eine ununterbrochene runde Linie, in der Himmel und Wasser in einander übergehen!

Nachdem Robert Kurtis sich überall umgesehen hat, verharrt er in tiefem Schweigen. Ach, ich bedaure ihn wirklich, denn von uns Allen ist er der Einzige, der nicht das Recht hat, zu endigen, wann es ihm beliebt. Ich, ich werde morgen sterben, und wenn der Tod nicht kommt, mich abzulösen, so werde ich ihm entgegengehen. Was meine Gefährten betrifft so weiß ich gar nicht, ob sie noch am Leben sind, und es scheint mir, als wären viele, viele Tage verflossen, seit ich sie zum letzten Male gesehen habe.

Die Nacht ist gekommen, doch habe ich keinen Augenblick schlafen können. Gegen zwei Uhr quälte mich der Durst so furchtbar, daß ich laut aufschreien mußte. Wie? Vor dem Tode sollte ich nicht noch einmal die Wollust genießen, das Feuer zu löschen, das meine Brust verzehrt?

Und doch! Ich werde mein eigenes Blut trinken, wenn ich das der Anderen nicht habe. Das wird mir zwar nichts nützen, ich weiß es, doch ich werde mein Leiden betrügen!

Kaum ist dieser Gedanke in mir aufgestiegen, so schreite ich auch schon zu seiner Ausführung. Es gelingt mir, mein Messer zu öffnen. Mein Arm ist entblößt, und mit raschem Stoße zerschneide ich eine Vene. Nur tropfenweise quillt das Blut heraus, und so stille ich meinen Durst an der eigenen Quelle alles Lebens! Dieses Blut kehrt ja wieder in mich zurück, und ich besänftige einen Augenblick meine wilden Schmerzen. Dann stockt es ganz; ihm fehlt die Kraft, zu fließen!

Wie lange dauert es doch, bis jenes morgen kommen will!

Wiederum hat sich am Horizont ein dicker Nebel angehäuft, der den Gesichtskreis, dessen Mittelpunkt das Floß einnimmt, beschränkt; aber dieser Nebel ist glühend, wie die Wolken, die aus einem Schmelzofen ausströmen.

Das ist heute der letzte Tag meines Lebens.

Bevor ich sterbe, würde ich glücklich sein, die Hand meines Freundes zu drücken. Robert Kurtis ist da, nicht weit von mir. Ich schleppe mich zu ihm hin und ergreife seine Hand. Er versteht mich, er weiß, daß das ein Abschied ist, doch es hat den Anschein, als wolle er mich durch einen letzten Gedanken an Hoffnung zurückzuhalten suchen! Das ist vergebens.

Ich hätte auch die Herren Letourneur, Miß Hervey gern noch einmal gesehen … Ich wage es nicht! Das junge Mädchen würde meinen Entschluß mir aus den Augen lesen! Sie würde mir von Gott sprechen, und von dem anderen Leben, das man ergeben erwarten solle! Erwarten! Gott sei mir gnädig, aber ich habe den Muth dazu nicht mehr.

Ich krieche auf dem Flosse hin, und mit der letzten Kraftanstrengung gelingt es mir, mich am Maste aufzurichten. Zum letzten Male lasse ich meine Augen über dieses unerbittliche Meer hinweg schweifen und über den Horizont, der sich nie und nimmer verändert. Wenn mir jetzt ein Land erschiene, oder ein Segel sich über den Wellen erhöbe, so würde ich glauben, der Spielball einer Illusion zu sein … doch das Meer ist öde und verlassen!

Es ist jetzt zehn Uhr Morgens. Der Augenblick, meinen Qualen ein Ende zu machen, ist gekommen. Das Zerren des Hungers und das Stacheln des Durstes zerreißt mich mit erneuter Heftigkeit und der Trieb der Selbsterhaltung erlischt in mir. In einem Augenblicke habe ich aufgehört zu leiden! Gott erbarme sich meiner!

In diesem Moment erhebt sich eine Stimme, ich erkenne die des Zimmermanns.

Daoulas steht neben Robert Kurtis.

»Kapitän, sagt er, wir wollen nun loosen.«

Im Begriffe mich in’s Wasser zu stürzen, halte ich doch ein. Warum? Ich weiß es selbst nicht, doch ich schleppe mich nach dem Hintertheile des Flosses zurück.

XLVII.


XLVII.

Am 18. Januar. – Ich erwarte den Tag mit einer ganz eigenthümlichen Angst! Was wird Hobbart sagen? Mir scheint, er habe ein Recht dazu, mich zu denunciren! Doch nein! Das ist absurd. Wenn ich das Vorgefallene erzählen wollte, wenn ich sagte, wie gut Hobbart lebte, während uns der Hungertod angrinste, wie er sich so lange Tage ohne unser Wissen genährt hat, seine Gefährten würden ihn ohne Erbarmen zerfleischen.

Und doch… ich wünschte, es wäre erst heller Tag.

Augenblicklich ist mein hungriger Magen befriedigt worden, trotzdem, daß das Stückchen Speck nur klein, nur »ein Bissen«, der letzte war, wie der Unglückliche sagte. Indessen, ich leide jetzt nicht mehr, und doch, ich gestehe es offen, mache ich mir fast Vorwürfe, den erbärmlichen Rest nicht mit meinen Unglücksgefährten getheilt zu haben. Ich hätte an Miß Herbey, an André, an seinen Vater denken sollen… und ich habe nur an mich gedacht!

Der Mond steigt langsam nieder, und bald folgt ihm das erste Morgenlicht. Schnell wird es Tag werden, denn wir befinden uns unter jenen niedrigen Breiten, die weder Morgen- noch Abenddämmerung kennen.

Ich habe kein Auge zuthun können; sobald es einigermaßen hell wird, scheint es mir, als schwanke eine unförmliche Masse in halber Höhe am Maste.

Was mag das sein? Noch vermag ich es nicht zu erkennen und verbleibe ausgestreckt auf meinem Segelbündel.

Doch endlich streifen die ersten Sonnenstrahlen über das Meer, und bald sehe ich einen Körper, der an einem Stricke hängt und den Bewegungen des Flosses folgt.

Eine schreckliche Ahnung überschleicht mich fröstelnd und ich nähere mich dem Maste…

Es ist ein Erhängter; und dieser Erhängte ist – der Steward Hobbart, dieser Unglückliche, und ich, ja ich, habe ihn zum Selbstmorde getrieben!

Ich stoße einen Schreckensschrei aus. Meine Gefährten erheben sich, sehen einen Körper und stürzen auf ihn zu. Ob noch ein Fünkchen Leben in ihm schlummere, darnach fragt Niemand!… Uebrigens, Hobbart ist wirklich todt und sein Körper schon erkaltet.

In einem Augenblicke wird der Strick zerschnitten. Der Hochbootsmann, Daoulas, Jynxtrop, Falsten, noch Andere sind bei der Hand, fallen über den Leichnam her…

Nein! Ich habe nichts gesehen! Ich habe nichts sehen wollen – ich nehme keinen Antheil an dieser entsetzlichen Mahlzeit! Weder Miß Herbey, noch André Letourneur oder sein Vater haben eine Erleichterung ihrer Leiden mit diesem Preise bezahlen wollen!

Robert Kurtis? – Das weiß ich nicht… ich habe nicht gewagt, ihn darüber zu fragen.

Die Anderen aber… o, der Mensch verwandelt sich so leicht in ein Raubthier… es ist schrecklich!

Die Herren Letourneur, Miß Herbey und ich, wir haben uns unter das Zelt verkrochen, um nichts mit ansehen zu müssen! Es war schon mehr als zu viel, was wir hörten!

André Letourneur wollte sich auf die Kannibalen stürzen und ihnen die grauenvollen Ueberreste entreißen, so daß ich Noth hatte, ihn davon zurückzuhalten.

Und übrigens, es war ja ihr Recht, das Recht der Unglücklichen! Hobbart ist ja todt; sie haben ihn nicht gemordet! Und wie eines Tages der Hochbootsmann sagte, »es ist besser, von einem Todten zu essen, als von einem Lebendigen«!

Wer weiß aber, ob dieser Auftritt nicht die Einleitung zu noch schrecklicheren sein wird, welche das Floß mit Blut besudeln könnten!

Ich theile André Letourneur meine Gedanken mit, aber ich vermochte das Entsetzen nicht zu unterdrücken, das bei ihm seinen Höhepunkt erreicht und alle seine Qualen verstummen läßt.

Indeß, man bedenke, wir sterben vor Hunger, und acht unserer Gefährten können nun diesem grausamen Tode vielleicht entgehen!

Hobbart war, Dank seinen versteckten Vorräthen, der Wohlgenährteste von uns. Keine organische Krankheit hat sein Körpergewebe verändert, in voller Gesundheit ist er durch einen Gewaltstreich aus dem Leben geschieden! …

Doch zu welcher entsetzlichen Schlußfolgerung läßt sich mein Geist hinreißen? Wohin gerathe ich? Flößen mir jene Kannibalen jetzt mehr Vergnügen oder mehr Abscheu ein?

In diesem Augenblicke erhebt einer derselben seine Stimme. Es ist Daoulas, der Zimmermann.

Er spricht davon, Meerwasser zu verdampfen, um Salz zu gewinnen.

»Und das Übrigbleibende salzen wir ein, sagt er.

– Ja«, antwortet der Hochbootsmann.

Dann wird es still. Der Vorschlag des Zimmermanns ist ohne Zweifel angenommen worden, denn ich höre nichts mehr. Ein tiefes Schweigen herrscht wieder an Bord des Flosses, und ich schließe daraus, daß meine Gefährten schlafen.

Sie haben jetzt keinen Hunger mehr.

XLVIII.


XLVIII.

Am 19. Januar. – Während dieses Tages derselbe Himmel, dieselbe Temperatur, und auch die Nacht kommt heran, ohne eine Aenderung in diesem Zustande herbei zu führen. Nicht einige Stunden habe ich schlafen können.

Gegen Morgen höre ich Zornesrufe an Bord.

Die Herren Letourneur und Miß Herbey, die mit mir unter demselben Zeltdache verweilen, erheben sich. Ich schlage die Leinwand zurück und sehe nach, was vorgeht.

Der Hochbootsmann, Daoulas und die anderen Matrosen sind in furchtbarer Aufregung. Robert Kurtis, der im Hintertheile sitzt, springt auf und sucht Jene, nachdem er sich nach der Ursache ihres Zornes erkundigt hat, zu beruhigen.

»Nein! Nein! Wir müssen wissen, wer uns das angethan hat, ruft Daoulas und schleudert wilde Blicke um sich herum.

– Ja, fällt der Hochbootsmann ein, es ist ein Dieb hier, da unsere Ueberbleibsel verschwunden sind.

– Ich war es nicht! – Ich auch nicht!« antworten die Matrosen Einer nach dem Anderen.

Ich sehe die Unglücklichen alle Ecken durchsuchen, die Segel aufheben, die Planken der Plateform verschieben. Ihre Wuth wächst nur, je länger sie vergeblich suchen.

Der Hochbootsmann kommt auf mich zu.

»Sie müssen den Dieb kennen, sagt er.

– Den Dieb von was? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen,« habe ich ihm geantwortet.

Daoulas und einige andere Matrosen nähern sich.

»Wir haben das ganze Floß durchwühlt, sagt Daoulas, jetzt ist nur noch dieses Zelt zu untersuchen…

– Niemand von uns hat dieses Zelt verlassen, Daoulas.

– Wir müssen nachsehen.

– Nein, laßt die in Ruhe, welche nahe daran sind, vor Hunger zu sterben!

– Mr. Kazallon, sagt der Hochbootsmann in ruhigem Tone zu mir, wir beschuldigen Sie nicht… wenn Einer von Ihnen sich seinen Theil genommen hätte, den er gestern verschmähte, so wäre das ja sein Recht. Aber Alles ist abhanden gekommen, Alles, Sie verstehen mich!

– Untersuchen wir das Zelt!« ruft Sandon.

Die Matrosen dringen vor, und ich vermag den Unglücklichen, die der Zorn verblendet, nicht zu wehren. Eine schreckliche Furcht erfaßt mich… sollte Mr. Letourneur nicht für sich, doch für seinen Sohn das vielleicht gethan haben?… Wenn es der Fall ist, werden diese Furien ihn zerreißen.

Ich sehe Robert Kurtis an, wie um von ihm Schutz zu erbitten, und der Kapitän stellt sich an meine Seite. Er hält beide Hände in den Taschen, doch vermuthe ich, daß er darin eine Waffe habe.

Inzwischen haben Miß Herbey und die Herren Letourneur auf Anordnung des Hochbootsmannes das Zelt verlassen müssen, das man bis in die geheimsten Winkel durchsucht – doch zum Glück vergebens.

Offenbar sind die Reste Hobbart’s, da man sie nirgends findet, in’s Meer geworfen worden.

Der Hochbootsmann, der Zimmermann und die Matrosen überlassen sich der wüthendsten Verzweiflung.

Doch wer hat das gethan? Ich sehe Miß Herbey an, Mr. Letourneur, und ihre Blicke antworten mir, daß sie es nicht sind.

Meine Augen schweifen zu André, der einen Moment den Kopf wegwendet.

Der unglückliche junge Mann! Sollte er es gewesen sein? Und wenn dem so ist, hat er sich die Folgen seiner That vergegenwärtigt?

XLIX.


XLIX.

Vom 20. bis 22. Januar. – Während der folgenden Tage haben Diejenigen, welche an der schauderhaften Mahlzeit am 18. Januar Theil nahmen, nur wenig gelitten, da sie ihren Hunger und Durst gestillt hatten.

Doch was Miß Herbey, Andre Letourneur, sein Vater und ich leiden, kann das eine Feder schildern? Sind wir nicht zu bedauern, daß jene Reste verschwunden sind, und wenn Einer von uns mit Tode abgeht, werden wir dann auch noch zu widerstehen vermögen? …

Der Hochbootsmann, Daoulas und die Anderen haben nun auch wieder Hunger bekommen und sehen uns mit verwirrten Blicken an. Betrachten sie uns als sichere Beute?

In der That, wovon wir am meisten leiden, das ist nicht der Hunger, sondern der Durst. Gewiß, hätten wir zwischen einigen Tropfen Wasser und einem Stück Zwieback zu wählen, wir würden nicht im Zweifel sein. Von Schiffbrüchigen in denselben Verhältnissen wie wir ist das wiederholt ausgesprochen worden und verhält sich auch wirklich so. Man leidet vom Durst noch empfindlicher, als vom Hunger, und stirbt an jenem schneller.

Und, o abscheulicher Spott, rings um sich hat man das Wasser des Meeres, das dem Trinkwasser ja so ähnlich sieht! Wiederholt habe ich versucht, einige Tropfen davon zu genießen, aber es erzeugt mir einen unüberwindlichen Ekel und nur noch heftigeren Durst.

O, das ist zu viel! Seit zweiundvierzig Tagen haben wir nun das Schiff verlassen! Wer von uns kann sich noch einer Illusion für die Zukunft hingeben? Sind wir nicht verdammt Einer nach dem Andern langsam hinzusterben, und das durch eine der schrecklichsten Todesarten?

Ich fühle, wie sich mein Gehirn allmälig umnebelt. Wie ein Wahnsinn erfaßt es mich, und ich habe Mühe, mich bei Verstand zu erhalten. Dieser Zustand erschreckt mich! Wohin wird er mich noch führen? Werde ich stark genug sein, meine Vernunft zu bewahren? …

Ich bin wieder zu mir gekommen, nach wie viel Stunden, vermag ich nicht zu sagen. Meine Stirn fand ich mit Compressen bedeckt, die Miß Herbey sorgfältig mit Seewasser tränkte, doch ich fühle, daß ich nur noch kurze Zeit zu leben habe.

Heute, am 22., spielt eine entsetzliche Scene. Der Neger Jynxtrop, der plötzlich toll geworden ist, läuft heulend auf dem Floß umher. Robert Kurtis versucht ihn aufzuhalten, doch vergeblich. Er wirft sich auf uns, um uns zu zerfleischen, so daß wir Mühe haben, uns gegen die Angriffe dieses wilden Thieres zu wehren. Jynxtrop hat einen Hebebaum ergriffen, und wir können seinen Schlägen nur schwer ausweichen.

Plötzlich wendet er sich, als flackere der Wahnsinn auf’s Neue auf, gegen sich selbst und zerreißt sich mit den eigenen Zähnen, zerkratzt sich mit den Nägeln und spritzt uns sein Blut in’s Gesicht mit dem Rufe:

»Da trinkt! Trinkt doch!«

Dann stürzt er sich über die Brüstung, und ich höre seinen Körper in’s Meer fallen.

Der Hoochbotsmann, Falsten und Daoulas eilen nach vorn, um den Körper womöglich zu erhaschen, aber sie sehen nur noch einen blutigen Kreis, in dessen Mitte sich die Haifische herumtreiben.

L.


L.

Am 22. und 23. Januar. – Nur elf sind wir noch an Bord, und mir erscheint es unmöglich, daß nicht jeden Tag ein neues Opfer hinzu käme. Das Ende des Dramas, es sei wie es will, kommt nun heran. Vor Ablauf einer Woche müssen wir entweder an’s Land gestoßen oder von einem begegnenden Schiffe aufgenommen worden sein, oder aber der letzte Ueberlebende des Chancellor hat aufgehört, zu athmen.

Am 23. hat sich das Aussehen des Himmels auffallend verändert und die Brise ist merklich stärker geworden. Der Wind ging im Laufe der Nacht nach Nordosten. Das Segel des Flosses hat sich wieder aufgebläht, und ein langes Kielwasser beweist uns, daß wir nicht unerheblich vorwärts treiben. Der Kapitän schätzt unsere Bewegung auf drei Meilen in der Stunde.

Robert Kurtis und der Ingenieur Falsten befinden sich offenbar noch am besten unter uns, und obwohl auch sie im höchsten Grade abgemagert erscheinen, so ertragen sie doch alle Entbehrungen mit erstaunlicher Ausdauer. Wie sehr die arme Miß Herbey angegriffen ist, vermag ich gar nicht zu schildern. Sie ist nur noch ein Geist, aber ein wachsamer Geist, der ganz und gar in ihren Augen zu wohnen scheint, welche ganz außerordentlich leuchten. Sie lebt mehr im Himmel, als auf der Erde!

Auch der Hochbootsmann, der sonst eine so große Energie zeigte, ist doch jetzt vollkommen erschlafft. Man erkennt ihn nicht mehr. Sein Kopf sinkt ihm auf die Brust, seine langen, knochigen Arme hängen schlotternd herab, und spitzig treten die Knieschneiben unter seinen abgenutzten Beinkleidern hervor, – so sitzt er unbeweglich in einem Winkel des Flosses und erhebt kaum seine Augen. Wie unähnlich ist er der Miß Herbey, er, der nur in und mit dem Körper lebt, und dessen Bewegungslosigkeit eine so vollkommene ist, daß ich manchmal auf den Gedanken komme, er sei schon gestorben.

Kein Wort, keinen Seufzer mehr hört man auf dem Flosse. Rings herrscht Grabesruhe. Nicht zehn Sylben werden den Tag über gewechselt, und die wenigen Worte, die unsere vertrockneten und verhärteten Lippen hätten aussprechen können, wären nicht einmal zu verstehen gewesen. Das Floß trägt nur noch blasse, blutlose Gespenster, die nichts Menschliches mehr an sich haben!

VI.


VI.

Vom 8. bis 13. Oktober. – Der Wind weht mit einer gewissen Heftigkeit aus Nordosten, und der Chancellor hat mit gerefften Marssegeln und den Focksegeln beilegen müssen.

Die See geht hoch, und das Schiff arbeitet schwer. Die Zwischenwände der Cabinen seufzen mit einem nervenerschütternden Geräusche. Die Passagiere halten sich in der Hauptsache unter dem Deck auf.

Ich allein ziehe es vor, auf dem Verdeck zu bleiben. Aus der »frischen Brise« ist die Bewegung der Luftschichten in die der »scharfen Windstöße« übergegangen. Die Bramstangen sind herabgelassen. Der Wind legt jetzt in der Stunde fünfzig bis sechzig Meilen (d. h. gegen dreißig Meter in der Secunde) zurück. Seit zwei Tagen fahren wir so dicht als möglich am Winde. Trotz der guten Eigenschaften des Chancellor weicht das Schiff merklich ab und treiben wir mehr nach Süden. Der durch Wolken verdunkelte Himmel gestattet keine Aufnahme der Sonnenhöhe, und da man die Lage des Schiffes demnach nicht zu bestimmen vermag, so muß man sich mit einer Schätzung derselben begnügen.

Meinen Reisegefährten, gegen die sich der zweite Officier nicht ausgesprochen hat, ist es völlig unbekannt, daß wir einen ganz unerklärlichen Weg verfolgen. England liegt im Nordosten und wir segeln nach Südosten!

Robert Kurtis vermag sich die Hartnäckigkeit des Kapitäns nicht zu deuten, der doch mindestens versuchen sollte, nordwestlich zu steuern, um günstige Strömungen zu erreichen! Seitdem der Wind nach Nordosten gegangen ist, treibt der Chancellor mehr und mehr nach Süden.

Heute, als ich mich mit Robert Kurtis allein auf dem Oberdeck befand, sprach ich ihn darum an.

»Ist Ihr Kapitän von Sinnen? fragte ich.

– Das möchte ich Sie fragen, Herr Kazallon, antwortete mir Robert Kurtis, da Sie ihn aufmerksam beobachtet haben.

– Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen darauf antworten soll, Herr Kurtis, doch gestehe ich, daß seine ganz eigenthümliche Physiognomie, seine verstörten Augen … fahren Sie zum ersten Male mit ihm?

– Ja, er war mir früher unbekannt.

– Und Sie haben ihm Ihre Bemerkungen über den von uns eingeschlagenen Weg nicht vorenthalten?

– Gewiß nicht, doch er entgegnete mir, daß das der richtige sei.

– Herr Kurtis, fuhr ich fort, was denken aber Lieutenant Walter und der Hochbootsmann darüber?

– Sie denken wie ich.

– Und wenn Kapitän Huntly das Schiff nach China führte?

– So würden sie gehorchen wie ich.

– Der Gehorsam hat aber seine Grenzen?

– Nein, so lange die Führung des Kapitäns das Schiff nicht in Gefahr bringt.

– Wenn er aber geisteskrank wäre?

– Ja, wenn er das ist, Herr Kazallon, dann werde ich sehen, was zu thun ist!«

An solche Verhältnisse hatte ich freilich nicht gedacht, als ich mich auf dem Chancellor einschiffte.

Inzwischen ist das Wetter immer schlechter geworden; über den Atlantischen Ocean braust ein vollkommener Sturm. Das Schiff war gezwungen, mit dem großen Bramsegel und dem kleinen Focksegel beizulegen, d. h. es bietet dem Winde seine Breitseite. Trotzdem weicht es mehr und mehr ab, und immer weiter gelangen wir nach Süden.

Darüber kann kein Zweifel mehr sein, nachdem der Chancellor in der Nacht vom 11. zum 12. in die große Sargasso-See gelangt ist.

Diese Sargasso-See, welche der warme Golfstrom angehäuft hat, ist eine weite Wasserstrecke, bedeckt mit Varecpflanzen, welche die Spanier »Sargasso« nennen, und über welche die Schiffe des Columbus bei ihrer ersten Fahrt über den Ocean nur sehr schwer hinwegkamen.

Bei anbrechendem Tage bietet uns das Meer einen ganz eigenthümlichen Anblick, der auch die Herren Letourneur veranlaßt, trotz des brausenden Windes, der auf den metallenen Strickleitern spielt, als wären es Harfensaiten, auf Deck zu kommen. Unsere Kleider sind fest und eng an den Körper gebunden, und würden zerrissen werden, wenn sie der Wind irgendwo erfassen könnte. Das Schiff schwankt auf diesem durch die fruchtbaren Fucus-Familien verdeckten Wasser, einer weiten Fläche von niederen Gewächsen, durch welche sich der Kiel wie eine Pflugschaar hindurch arbeitet, furchtbar hin und her. Manchmal treibt der Wind lange Faserschlingen hoch empor, die sich um die Takelage wickeln und gleich grünen Guirlanden von einem Maste zum anderen hängen. Einige dieser oft mehrere hundert Fuß langen Algen umschlingen die Maste bis zu den Spitzen. Mehrere Stunden lang hat man gegen diesen wahrhaften Sturmangriff der Varecs anzukämpfen, und nachmals muß der Chancellor mit seinem von Hydrophyten und sonderbaren Lianen bedeckten Strickwerk mehr einem wandelnden Bosquet in einer ungeheuren Wiese ähnlich gesehen haben.

LI.


LI.

Am 24. Januar. – Wo sind wir? Nach welchem Theile Amerikas zu wurden wir verschlagen? Zweimal habe ich Robert Kurtis darüber gefragt, doch vermochte er mir keine bestimmte Antwort darauf zu geben. Da er jedoch die Richtung der Strömungen und der Winde immer aufgezeichnet hat, so glaubt er, daß wir im Ganzen weiter nach Westen, also nach dem Lande zu, getrieben seien.

Heute zeigt die Luft gar keine Bewegung, und dennoch verräth die hohlgehende See, daß im Osten das Wasser aufgeregt worden ist. Jedenfalls wird ein Sturm über jene Theile des Atlantischen Oceans hinweg gebraust sein. Das Floß arbeitet schwer, und Robert Kurtis, Falsten und der Zimmermann setzen ihre letzten Kräfte daran, seine Theile, die sich zu lockern drohen, sicherer zu befestigen.

Warum bemühen sie sich noch damit? Möchten diese Planken doch endlich auseinander weichen und der Ocean uns verschlingen! Es ist zu viel, ihm unser elendes Leben noch abringen zu wollen.

In Wahrheit haben unsere Qualen den höchsten Grad erreicht, den Menschen wohl zu ertragen vermögen, und unmöglich können sie noch über diesen hinausgehen! Die Hitze ist ganz unausstehlich, der Himmel gießt geschmolzenes Blei über uns aus. Der Schweiß läuft durch unsere Lumpen, und diese Transpiration erhöht noch unseren Durst. Nein, ich kann es nicht wiedergeben, was ich empfinde. Die Worte gehen aus, wenn es gilt, übermenschliche Qualen zu schildern.

Die einzige Möglichkeit, durch welche wir uns früher einige Erquickung zu verschaffen vermochten, ist uns jetzt ebenfalls abgeschnitten. Niemand kann mehr daran denken, sich zu baden, denn seit Jynxtrop’s Tode umringen uns die Haifische in ganzen Schaaren.

Heute habe ich versucht, mir etwas trinkbares Wasser zu verschaffen, indem ich Meerwasser verdunstete. Doch trotz der größten Geduld gelang es mir kaum, ein Stück Leinenzeug anzufeuchten. Außerdem widerstand der sehr abgenutzte Siedekessel dem Feuer nicht mehr, schmolz zusammen, und ich war genöthigt, die Operation einzustellen.

Der Ingenieur Falsten ist jetzt ebenfalls ganz gebrochen und wird uns höchstens um einige Tage überleben. Wenn ich die Augen einmal aufschlage, sehe ich ihn kaum mehr. Liegt er irgendwo unter Segeln, oder ist er todt? Nur der energische Kapitän Kurtis steht auf dem Vordertheile und lugt in’s Weite. Wenn man sich vorstellt, daß dieser Mann … noch Hoffnung hat!

Ich selbst strecke mich auf dem Boden aus und erwarte den Tod. Je eher er kommt, desto willkommener soll er mir sein!

Wie viele Stunden mir in dieser Weise verflossen sind … ich weiß es nicht, doch ich höre ein gellendes Gelächter, einer von uns muß wahnsinnig geworden sein!

Das Lachen verdoppelt sich. Ich erhebe den Kopf gar nicht. Wozu auch? Einige unzusammenhängende Worte erreichen dennoch mein Ohr.

»Eine Wiese! Eine Wiese! Grüne Bäume! Eine Schenke unter den Bäumen! Schnell, schnell! Branntwein her! Gin! Wasser! Eine Guinee für den Tropfen! Ich bezahl‘ es! Ich habe Gold, viel Gold!«

Armer Verblendeter! Für alle Reichthümer Alt-Englands könntest Du jetzt keinen Tropfen Wasser erkaufen.

Der Matrose Flaypol ist es, der von Delirien erfaßt, ausruft:

»Land! Da ist das Land!«

Dieses Wort hätte bei uns auch Todte erweckt. Ich mache eine schmerzliche Anstrengung und erhebe mich. Kein Land ist sichtbar. Flaypol läuft auf der Plateform umher, er lacht, singt und giebt Zeichen nach der eingebildeten Küste hin! Unleugbar sind die directen Sinnesthätigkeiten des Gehörs, des Gesichts und Geschmacks bei ihm gänzlich erloschen, doch ist er von einer rein cerebralen Erscheinung vollkommen erfüllt. Er spricht auch mit abwesenden Freunden. Er führt sie nach der Schenke in Cardiff, dort bietet er ihnen Gin, Whisky, Wasser an, – Wasser vorzüglich; Wasser, das ihn trunken macht! Da geht er über alle die daliegenden Körper weg, stolpert bei jedem Schritte, fällt hin und erhebt sich wieder, singt mit weinseliger Stimme und hat das Aussehen, als befände er sich im stärksten Grade der Trunkenheit. Unter der Herrschaft seines Wahnsinns leidet er nicht, und sein Durst ist gestillt! O, ich möchte seine Sinnestäuschungen auch haben!

Wird der Unglückliche ebenso enden, wie der Neger Jynxtrop, und sich zuletzt in die Fluthen stürzen?

Daoulas, Falsten und der Hochbootsmann müssen das erwartet haben, denn wenn er sich umbringen sollte, wollen sie es »nicht ohne Vortheil für sich« geschehen lassen! Sie erheben sich, sie folgen ihm, sie belauern ihn, und wenn Flaypol sich in’s Meer stürzte, dieses Mal würden sie ihn den Haifischen aus den Zähnen reißen!

Doch, es sollte so nicht kommen. Im Verlaufe seiner Hallucinationen ist Flaypol im letzten Stadium der Trunkenheit angelangt, so, als ob er sich durch die geistigen Getränke wirklich berauscht hätte, die er freigebig ausbot, und wie eine todte Masse stürzt er in einem Winkel zusammen, um einem bleiernen Schlafe zu verfallen.

XL.


XL.

Am 7. Januar. – >Seit einigen Tagen spült das Meer fast unaufhörlich über die Plattform des Flosses hinweg, und hat nach und nach die Füße einiger Matrosen wund gemacht. Owen, den der Bootsmann seit der Revolte im Vordertheil gefesselt hält, ist in bejammernswerthem Zustande, und seine Bande werden auf unsere Bitten hin gelöst. Auch Sandon und Burke haben durch das ätzende Salzwasser mehr oder weniger gelitten, und sind wir Andern nur deshalb davon verschont geblieben, weil das Hintertheil des Flosses den Wellen weniger ausgesetzt ist.

Heute hat sich der Hochbootsmann in wüthendem Hunger auf das Segelzeug, so wie auf Holzstücke gestürzt, und noch immer höre ich seine Zähne diese Stoffe zermalmen. Der Unglückliche sucht nur seinen Magen zu füllen, um die Schleimhäute desselben wieder einmal auszudehnen. Zuletzt findet er an einem der Maststücke, welche die Plattform tragen, ein Stück Leder. Dieses Leder ist ja eine thierische Materie, deren er sich bemächtigt, sie verzehrt, und mit welcher er sich doch einige Erleichterung zu verschaffen scheint. Alle thun es ihm nach. Ein Hut von gummirtem Leder, die Sturmriemen der Mützen, jede animalische Substanz wird angenagt. Uns treibt ein bestialischer Instinct, dem Niemand zu widerstehen vermag. Einen Augenblick scheint es, als ob wir aller menschlichen Eigenschaften beraubt wären, und niemals werde ich diese Scenen vergessen!

Wenn auch der Hunger nicht eigentlich zu stillen war, so ist doch sein Drängen eine Zeit lang unterdrückt. Einige unter uns konnten diese Art Nahrung freilich nicht einmal vertragen und fingen darauf an, an Uebelkeiten zu leiden.

Man verzeihe mir diese Einzelheiten! Ich mag Nichts verhehlen, was die Schiffbrüchigen des Chancellor zu leiden hatten! Man wird aus diesen Berichten erfahren, welches moralische und physische Elend menschliche Wesen zu ertragen im Stande sind! Das verleihe diesem Tagebuche seinen Werth! Ich werde nichts verschweigen, und leider ahnet mir, daß wir unsere Leiden noch nicht erschöpft haben!

Eine Beobachtung, die ich während der oben erwähnten Scene zu machen Gelegenheit hatte, bestärkt mich in meinem Verdacht gegen den Steward. Trotzdem daß Hobbart sein Jammern nicht unterbrach, ja es wo möglich noch übertrieb, hat er sich bei jener Scene nicht betheiligt. Wenn man ihn hört, sollte man glauben, daß er schon Hungers sterbe, und wenn man ihn sieht, scheint er allein von den allgemeinen Qualen verschont zu sein. Besitzt dieser Heuchler noch einen geheimen Vorrath? Ich habe ihn schon überwacht, aber noch nichts entdecken können.

Die Hitze ist immer bedeutend und sogar unerträglich, wenn die Brise sie nicht mäßigt. Unser Wasservorrath ist gewiß unzureichend, aber der Hunger ertödtet in uns den Durst. Und wenn ich mir nun gar noch sage, daß die Entbehrung des Wassers uns noch mehr foltern wird, als die der festen Nahrung, so kann ich es kaum glauben, oder mir wenigstens nicht augenblicklich vergegenwärtigen. Doch steht diese Thatsache unzweifelhaft fest, und Gott wolle es verhüten, daß wir auch das noch auskosten sollen!

Zum Glück enthält die halb zerbrochene Wassertonne noch immer einige Pinten Wasser, und die andere ist ja noch unversehrt. Trotzdem sich unsere Anzahl vermindert hat, so hat der Kapitän dennoch, entgegen dem Widerspruche von manchen Seiten, die täglichen Rationen auf eine halbe Pinte herabgesetzt. Ich stimme ihm hierin vollständig bei.

Vom Branntwein haben wir nur noch eine Viertel-Gallone übrig, die auf dem Hintertheile des Flosses an sicherer Stelle untergebracht ist.

Heute, am 7., gegen ein halb acht Uhr Abends, hat wieder Einer von uns aufgehört zu leiden. Wir sind nur noch vierzehn! Der Lieutenant Walter hat sein Leben in meinen Armen ausgehaucht, und weder die Sorgfalt Miß Herbey’s, noch die meinige hat ihm nützen können … er hat überstanden!

Wenige Minuten vor seinem Tode hat der Lieutenant Miß Herbey und mir mit einer kaum noch zu verstehenden Stimme seinen Dank ausgesprochen.

»Mr. Kazallon, flüsterte er und ließ einen zerknitterten Brief aus seiner zitternden Hand gleiten, dieser Brief … von meiner Mutter …, ich habe keine Kräfte mehr … der letzte, den ich erhielt … sie schreibt mir: »Ich erwarte Dich, mein Kind, ich will Dich wiedersehen!« Nein, Mutter, Du wirst mich nicht mehr wiedersehen! Mr. … diesen Brief … legen sie ihn dahin, auf meine Lippen, da … dahin, ihn küssend will ich sterben … meine Mutter … mein Gott! …«

Ich habe den Brief aus Lieutenant Walter’s schon erkalteter Hand genommen und ihn auf seine Lippen gelegt. Noch einen Augenblick schien sein Auge aufzuleuchten, und wir hörten ein schwaches Geräusch, wie von einem Kusse!

Er ist todt, der Lieutenant Walter! Gott sei seiner Seele gnädig!