Einundzwanzigstes Kapitel

Die Nachtstunden nahten ihrem Ende. Melodische Töne unterbrachen wieder die gewöhnliche Stille der Stadt, aufs neue sah man alle Kanäle von den Fahrzeugen der Großen wimmeln. Aus den Fenstern der kleinen finstern Bootspavillons winkten wohl einige im Vorbeifahren einander zu, doch nur wenige wagten es, zum Austausch der Begrüßung anzuhalten, so sehr fürchtete jeder den in allen Ecken lauernden Verrat. Selbst die Abendluft schöpfte niemand ohne Ängstlichkeit, so sehr war diese zur zweiten Natur der Bürger geworden.

Mitten durch die leichteren und geschmückteren Barken der Patrizier kam eine gemeine Gondel von mehr als gewöhnlicher Größe den Canale Grande gemächlich dahergefahren; die Gondolieri hatten das Ansehen von Leuten, die ermüdet oder eben nicht sonderlich eilig sind. Der am Ruder, ein Virtuose in seinem Fach, leitete das Boot nur mit einer Hand, während seine drei Gehilfen ihre Ruder müßig das Wasser obenhin bestreichen ließen, nur dann und wann mit einem Schlage nachhelfend. So ungefähr nahm sich ein Fahrzeug aus, wenn es auf seinem Rückwege von einem Ausflug auf eine der etwas entfernter gelegenen Inseln war.

Aber plötzlich schwenkte die mehr schwimmende als geruderte Gondel aus der Mitte des Fahrwegs, und im Nu war sie in einem der am wenigsten belebten Kanäle. Schneller und regelmäßiger ging es jetzt vorwärts nach einem Stadtteile zu, den nur Leute der untersten Klasse bewohnten. An der Seite eines Magazins ward angehalten, und einer von der Mannschaft erstieg die Brücke, während sich die übrigen wie zum Ausruhen auf ihre Ruderbänke hinwarfen. Der ans Land Gestiegene wand sich durch einige kleine Durchgänge, wie sie in Venedig so zahlreich sind, und klopfte endlich an einem Fenster an. Bald ward aufgemacht, und eine weibliche Stimme fragte, wer draußen sei.

»Ich bin’s, Annina«, erwiderte Gino, der ohnehin kein seltener Supplikant an dieser Hintertür war. »Mach nur auf, Mädchen, mein Geschäft hat große Eile.«

Annina versicherte sich erst, ob ihr Bewerber auch allein sei, und tat dann, was er verlangte.

»Du kommst aber recht ungelegen, Gino«, hob die Weinhändlerstochter an, »eben wollte ich nach dem Markusplatze, um die Abendluft zu genießen. Vater und Brüder sind schon fort, ich wollte nur noch die Türen verschließen.«

»Konnte ihre Gondel nicht noch eine vierte Person fassen?«

»Sie haben den Fußweg genommen.«

»Und du getraust dich zu dieser Stunde allein auf den Straßen zu gehen, Annina?«

»Was hast denn du danach zu fragen?« erwiderte sie schnippisch. »Dank sei dem heiligen Teodoro, daß ich noch nicht die Sklavin des Bedienten eines Neapolitaners bin.«

»Der Neapolitaner ist ein mächtiger Herr, Annina, der den Willen und die Gewalt hat, seinen Dienern Achtung zu sichern.«

»Es wird sich zeigen, was er mit seiner Gewalt auszurichten vermag. Doch was willst du von mir in dieser unzeitigen Stunde? Wisse, Gino, daß ich mir aus deinen Besuchen überhaupt nicht viel mache, wenn sie mich aber vollends in meinen Geschäften stören, so sind sie mir geradezu unangenehm.«

Wäre die Leidenschaft des Gondoliere ernstlicher Art gewesen, so würde ihn solche unumwundene Sprache gekränkt haben, allein, er empfing die Zurückweisung mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie gegeben wurde.

»An deine Launen, Ninchen, bin ich schon gewöhnt«, sagte er und warf sich auf eine Bank, entschlossen, nicht zu weichen. »Gewiß hat dir ein junger Patrizier einen Handkuß zugeworfen, oder dein Vater hat heute ein gutes Geschäftchen gemacht, seine Börse und dein Stolz halten ja immer gleichen Schritt.«

»Ei, hör einer den Burschen! Sollte man nicht glauben, ich hätte ihm schon mein Jawort gegeben, und es fehlte weiter nichts, als die Kerzen in der Sakristei anzuzünden, um die Trauung zu vollziehen! Was hab ich nach dir zu fragen, Gino Monaldini, daß du dir mit einem Male dergleichen rausnimmst?«

»Und was hab ich nach dir zu fragen, Annina, daß du den Vertrauten des Don Camillo mit diesen abgenutzten Kunststückchen hinhalten willst?«

»Fort, Unverschämter! Ich mag meine Zeit nicht an dich verschwenden.«

»Bist diesen Abend gewaltig eilig, Annina.«

»Ja, um dich loszuwerden. Merk dir wohl, was ich dir jetzt sage, Gino, denn es sind die letzten Worte, die du von mir zu hören bekommst. Mit deinem Herrn ist’s bald zu Ende; nicht lange, so wird er mit Schande die Stadt räumen müssen, und seine sämtlichen Diener mit ihm. Ich aber ziehe es vor, in der Stadt zu bleiben, wo ich geboren bin.«

Der Gondoliere lachte hell auf, denn ihn rührte ihre angenommene Verachtung in der Tat sehr wenig. Doch schnell erinnerte er sich seines Auftrags wieder, gewann den vorigen Ernst und versuchte nun durch ein angelegentlicheres Benehmen des Unwillens seiner wankelmütigen Gebieterin Meister zu werden.

»Behüt mich der heilige Markus, Annina! Warum sollten wir nicht ein Geschäft in Wein abmachen können, wenn wir auch nicht bestimmt sind, zusammen vor dem guten Prior hinzuknien? Ich winde mich durch die dunkeln Kanäle bis Steinwurfweite vor deine Tür und führe dir eine Gondel voll alten Lacrimae Christi zu, wie ihn der ehrliche Tommaso, dein Vater, selten noch zu kaufen bekommen hat, und du behandelst mich wie einen Hund.«

»Ich habe diesen Abend weder für dich noch deine Weine Zeit übrig. Ohne dein Geschwätz wär ich nun schon fort und guter Dinge.«

»Schließ du nur die Tür zu, Mädchen, brauchst mit einem alten Freund keine Umstände zu machen.« Dabei bot er ihr dienstfertig seine Hilfe beim Verschließen an, was sie denn auch bereitwillig zugab, so daß das Haus bald in Sicherheit und die Eigensinnige mit ihrem Bewerber im Freien war. Ihr Weg führte über die schon erwähnte Brücke, Gino wies auf die Gondel hin mit den Worten: »So fühlst du denn gar keine Versuchung, Annina?«

»Deine Unvorsichtigkeit, die Schmuggler bis vor meines Vaters Haustür zu bringen, stürzt uns noch ins Unglück, alberner Junge.«

»Du irrst, gerade diese Kühnheit schläfert allen Verdacht ein.«

»Von welchem Weinberg ist das Getränk?«

»Vom Fuße des Vesuv, die Beeren hat die Hitze des Vulkans gereift. Wenn die Leute das Weinchen deinem Feinde, dem alten Beppo, zuschlagen, wird dein Vater untröstlich drüber sein.«

Annina, die zu keiner Zeit ihren Vorteil aus dem Auge verlor, blickte jetzt das Boot lange an. Das Zelt war zu, allein, ihre einmal in Gang gesetzte Einbildungskraft füllte ohne Mühe den ganzen Raum mit neapolitanischen Schläuchen an.

»Kommst du aber auch nicht wieder vor unsere Haustür, Gino?« »Das soll von dir abhängen. Jetzt komm nur mit hinab und koste.«

Sie zauderte und – tat, was die Frauen stets tun, wenn sie zaudern – sie willigte ein. Schnell war das Boot erreicht, die Leute lungerten noch auf ihren Ruderbänken, aber Annina glitt, ohne sie anzusehen, an ihnen vorbei in das Zelt. Jedoch statt Schläuchen und Gepäcks, wie in einem dem Schmuggelhandel gewidmeten Fahrzeuge, fand sie hier die gewöhnliche Einrichtung einer Kanalbarke, Polster und darauf einen fünften Gondoliere ausgestreckt.

»Hier seh ich nichts, was mich anginge!« rief die Getäuschte. – »Wollen Sie was von mir, Signore?«

»Willkommen. Diesmal trennen wir uns so bald nicht wieder.«

Der Fremde war beim Sprechen aufgestanden und legte mit dem letzten Worte die Hand auf die Schulter des Mädchens, die sich keinem andern gegenüber sah als dem Don Camillo Monforte.

Annina war in Verstellungskünsten zu geübt, um ein Zeichen wirklichen oder geheuchelten Schreckens zu verraten. Ihre Glieder bebten zwar, aber mit voller Gewalt über ihre Züge und mit erkünstelter Heiterkeit sagte sie: »Viel Ehre für den Schleichhandel, den edeln Herzog von Sant‘ Agata in seinen Diensten zu haben!«

»Ich bin zum Scherz nicht aufgelegt, Dirne, wie du sehen sollst. Wähle: offenherziges Bekenntnis oder meinen gerechten Zorn.«

Diese Worte wurden mit Ruhe gesprochen, doch so, daß Annina ohne Mühe merken konnte, sie habe es mit einem entschlossenen Manne zu tun.

»Was für Bekenntnis verlangen Ew. Herrlichkeit von der Tochter eines armen Weinhändlers?« fragte sie, unwillkürlich erzitternd.

»Die Wahrheit! Und bedenke, daß du diesmal nicht entkommst, bis ich zufriedengestellt bin. Zwischen der venezianischen Polizei und mir ist es nun einmal zum offenen Bruch gekommen.«

»Signore Herzog, solches Verfahren mitten in Venedig ist sehr kühn.«

»Dich wird dein eigener Vorteil lehren zu bekennen.«

»Da es Ihr Wille ist, das wenige, was ich weiß, zu erfahren, so soll es mir Vergnügen machen, es Ihnen mitteilen zu dürfen.«

»So sprich, die Zeit ist kurz.«

»Signore, leugnen will ich’s nicht, es ist Ihnen schlimm mitgespielt worden. Capperi! Welches Verfahren von dem Rate! Einen edeln Kavalier aus fremdem Lande, mit den gerechtesten Ansprüchen auf die Ehre, im Senat zu sitzen, so zu behandeln macht der Republik Schande! Kein Wunder, daß Ew. Herrlichkeit nicht gut auf sie zu sprechen sind.«

»Nichts davon, Dirne, heraus mit der Sache.«

Annina tat einen Blick seitwärts aufs Wasser und bemerkte, daß das Boot den Kanal schon hinter sich hatte und sich den Lagunen näherte. Völlig in der Gewalt Don Camillos, fühlte sie wohl, daß ihr längeres Ausweichen nichts helfen würde.

»Daß der Rat in Erfahrung zu bringen gewußt, daß Sie mit Donna Violetta aus der Stadt entfliehen wollten, das haben Ew. Herrlichkeit sich wohl schon selbst gedacht.«

»Versteht sich.«

»Mir ist’s unerklärlich, zu erraten, warum man gerade mich zur Dienerin der edlen Donna ausersah. Heilige Maria von Loretto! Ich bin nicht die Person, an die sich der Staat zu wenden hat, wenn er zwei Liebende auseinanderbringen will!«

»Jetzt ist die Gondel außerhalb der Stadt, Annina, und nun ist’s aus mit meiner Geduld. Wo hast du meine Frau gelassen?«

»Gebenedeiter San Teodoro! Signore, die Handlanger der Republik bedurften meiner Hilfe nicht; bei der ersten Brücke, durch die wir kamen, setzten sie mich aus.«

»Dein Streben, mich zu täuschen, ist vergeblich. Du warst noch in später Stunde auf den Lagunen, und als du von dem Boote der Donna Violetta zurückkamst, gegen Sonnenuntergang, warst du im St.-Markus-Gefängnisse zu Besuch, das weiß ich.«

Annina erstaunte nun wirklich. »Santissima Maria! Sie sind besser bedient, Signore, als sich der Rat einbildet!«

»Wie du zu deinem Schaden finden sollst, wenn du nicht die ganze Wahrheit gestehst. Aus welchem Kloster kamst du?«

»Signore, aus keinem. Wenn Ew. Herrlichkeit herausgebracht haben, daß der Senat die Signora Tiepolo im Gefängnis des heiligen Markus eingeschlossen hat, so bin ich daran nicht schuld.«

»Fruchtlose List, Annina«, erwiderte Don Camillo mit Ruhe. »Was du im Gefängnis zu tun hattest, ist mir wohl bekannt; du holtest gewisse Schmuggelwaren dort ab, die deine Base Gelsomina, des Wärters Tochter, für dich hatte aufheben müssen, ohne zu wissen, was es war.«

»Heilige Mutter Gottes!« rief sie voller Erstaunen.

»Du siehst, mich kannst du nicht betrügen. In der Regel pflegtest du deine Base nicht zu besuchen, doch diesen Abend, als du in den Kanal kamst –«

Ein tosender Lärm vom Wasser unterbrach Don Camillos Worte. Er schaute hinaus und erblickte einen gedrängten Schwarm von Booten, sämtlich wie mit einem Ruderschlage der Stadt entgegentreibend. Tausend Stimmen schwirrten durcheinander, von Zeit zu Zeit ein gemeinschaftliches Trauergeschrei erhebend, was schließen ließ, daß die rudernde Menge von einem und demselben Gefühl beseelt war. Der eigentümliche Auftritt und der Umstand, daß die Hunderte von Booten geradewegs auf seine Gondel lossteuerten, nahmen den Edelmann so in Anspruch, daß er für den Augenblick das eben vorgenommene Verhör seiner Gefangenen ganz vergaß.

»Was ist das, Jacopo?« fragte er leise den Gondoliere, der am Steuer stand.

»Fischerleute, Signore, und schwerlich auf einer friedlichen Fahrt begriffen, wenn ich mich auf ihre Art, sich der Stadt zu nähern, gut verstehe. Schon seit der Zeit, da sich der Doge geweigert hat, den Knaben ihres Kameraden von den Galeeren zu befreien, herrscht Unzufriedenheit unter ihnen.«

Einen Augenblick zauderten Don Camillos Leute, neugierig das Schauspiel anstaunend, dann aber überzeugten sie sich von der Notwendigkeit, Platz zu machen, denn die Masse von Booten kam wie ein wütender Strom herangeflutet. Allein, jetzt erscholl der drohende Befehl zu halten, und Don Camillo sah ein, daß keine Wahl übrigblieb.

»Wer bist du?« fragte einer, der die Rolle eines Anführers übernommen hatte. »Seid ihr Lagunenleute und Christen, so stoßt zu euren Freunden, und vorwärts nach St. Markus, Gerechtigkeit zu fordern!«

»Was bedeutet dieser Aufruhr?« fragte Don Camillo, dessen Kleidung seinen Rang verbarg und der des venezianischen Dialekts mächtig genug war, um sich durch die Sprache nicht zu verraten. »Warum seid ihr in solcher Anzahl versammelt, Freunde?«

»Schau her!«

Don Camillo wandte sich hin und erblickte die blassen Züge und offenen Augen des alten Antonio, starr vom Tode. Hundert Stimmen zugleich erzählten ihm den Hergang, aber so verwirrt und mit so vielen bitteren Verwünschungen vermischt, daß er nichts daraus hätte entnehmen können, wenn er nicht schon durch Jacopo vom Ganzen unterrichtet gewesen wäre.

Antonios Leiche hatten die Leute beim Fischen gefunden, die nächste Folge war eine Beratung über die mutmaßliche Art, wie er zu seinem Tode gekommen sein möchte, dann rotteten sie sich in immer größerer Anzahl zusammen, was den eben beschriebenen Auftritt herbeiführte.

»Gerechtigkeit!« schrie es aus hundert Kehlen.

»Tragt eure Forderung dem Senate vor!« erwiderte Jacopo, ohne sich zu bemühen, das Ironische in seinem Tone zu verbergen.

»Glaubst du, daß unser Kamerad wegen der Kühnheit, die er gestern bewies, bestraft worden ist?«

»Das wäre nicht das Seltsamste, was sich schon in Venedig zugetragen hätte.«

»Ha, sie verbieten uns, im Kanal Orfano, wo die geheimen Hinrichtungen sind, das Netz auszuwerfen, damit die Geheimnisse der Justiz nicht herauskommen, und doch nehmen sie sich nun schon heraus, einen unserer Leute mitten unter unseren Gondeln zu ersäufen!« »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit!« schrien zahllose Stimmen bis zum Heiserwerden.

»Fort nach St. Markus! Legt die Leiche dem Dogen zu Füßen! Fort, Brüder! Sie haben Antonios Blut auf ihren Seelen!«

Ohne geordneten Plan, nur von dem erlittenen Unrecht erfüllt, begaben sie sich nun wieder ans Ruder, und die ganze Flotte fuhr dahin, als bestände sie aus einer einzigen zusammenhängenden Masse.

Nur wenige Minuten hatten sie angehalten, doch fehlte es inzwischen nicht an allen jenen Zeichen der Wut, die einen Volkstumult zu begleiten pflegen. Nicht ohne sichtbare Wirkung blieb dies auf die Nerven Anninas, und Don Camillo benutzte ihre Angst, um ihr die Wahrheit abzutrotzen, denn zum Zaudern war nun keine Zeit mehr.

Durch ihre Aussagen bestimmt, ließ Don Camillo, während die tobende Menge in die Mündung des großen Kanals einfuhr, seine Gondel quer über die weite ruhige Fläche der Lagunen gleiten.