Kapitel 3

III

Der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin stand mitten in seinem Arbeitszimmer und betrachtete mit größter Neugier den eintretenden Fürsten; er ging ihm sogar zwei Schritte entgegen. Der Fürst trat zu ihm heran und stellte sich vor.

»Sehr wohl«, antwortete der General, »womit kann ich dienen?«

»Ein dringliches Geschäft habe ich nicht; meine Absicht war einfach, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich möchte nicht stören, da ich weder Ihren Empfangstag noch Ihre Dispositionen kenne … Aber ich komme eben von der Bahn … ich bin aus der Schweiz hergereist.«

Der General war nahe daran zu lächeln, aber er überlegte und hielt inne; dann überlegte er noch ein wenig, kniff die Augen zusammen, musterte seinen Gast noch einmal vom Kopf bis zu den Füßen, bot ihm dann schnell einen Stuhl an, setzte sich selbst schräg gegenüber und wandte sich in ungeduldiger Erwartung zum Fürsten hin. Ganja stand in einer Ecke des Arbeitszimmers am Schreibtisch und blätterte in Papieren.

»Für neue Bekanntschaften habe ich im allgemeinen nur wenig Zeit«, sagte der General, »aber da Sie gewiß dabei Ihre Absicht haben, so …«

»Ich habe es mir vorher gedacht«, unterbrach ihn der Fürst, »daß Sie in meinem Besuch jedenfalls irgendeine besondere Absicht sehen würden. Aber bei Gott, außer dem Vergnügen, mit Ihnen bekannt zu werden, habe ich keinerlei besondere Absicht.«

»Das Vergnügen ist sicherlich auch für mich ein sehr großes, aber man kann sich nicht immer dem Vergnügen widmen; es kommen manchmal auch Geschäfte vor, wie Sie wissen werden … Außerdem vermag ich bis jetzt absolut keine gemeinsame Beziehung zwischen uns zu erkennen … sozusagen einen triftigen Grund…«

»Ein triftiger Grund ist unstreitig nicht vorhanden und gemeinsame Beziehungen gewiß nur wenige. Denn daß ich Fürst Myschkin bin und Ihre Gemahlin aus unserem Geschlecht stammt, ist selbstverständlich kein triftiger Grund. Das sehe ich sehr wohl ein. Aber doch liegt darin der ganze Anlaß meines Besuches. Ich bin ungefähr vier Jahre nicht in Rußland gewesen, mehr als vier Jahre, und als ich wegfuhr, war ich beinah nicht bei Sinnen! Damals kannte ich nichts in der Welt, und jetzt noch weniger. Ich bedarf des Verkehrs mit guten Menschen; und dann habe ich da auch noch eine geschäftliche Angelegenheit, und ich weiß nicht, wohin ich mich hinsichtlich derselben um Rat wenden soll. Schon in Berlin dachte ich: ›Das sind beinah Verwandte von mir; mit denen werde ich den Anfang machen, vielleicht passen wir zueinander, sie zu mir und ich zu ihnen, – wenn sie gute Menschen sind.‹ Und daß Sie gute Menschen sind, hatte ich gehört.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, versetzte der General verwundert. »Gestatten Sie mir die Frage: wo sind Sie abgestiegen?«

»Ich bin noch nirgends abgestiegen.«

»Also sind Sie geradeswegs von der Bahn zu mir gekommen? Und … das Gepäck?«

»Als ganzes Gepäck habe ich ein kleines Bündelchen mit Wäsche bei mir, weiter nichts; das trage ich gewöhnlich in der Hand. Ich werde am Abend noch Zeit haben, mir ein Zimmer zu nehmen.«

»Also beabsichtigen Sie auch jetzt noch, in einen Gasthof zu gehen?«

»Ja, gewiß.«

»Nach Ihren Worten hatte ich beinah geglaubt, daß Sie einfach bei mir Quartier nehmen wollten.«

»Das wäre doch nur möglich, wenn Sie mich einlüden. Ich gestehe indessen, daß ich auch im Fall einer Einladung nicht hierbleiben würde, nicht aus irgendeinem besonderen Grunde, sondern nur, weil das so in meinem Charakter liegt.«

»Nun, da trifft es sich ja gut, daß ich Sie nicht eingeladen habe und nicht einladen werde. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Fürst, um gleich mit einem Male alles klarzulegen: da wir uns soeben darüber ausgesprochen haben, daß von einer Verwandtschaft zwischen uns nicht die Rede sein kann, obwohl eine solche für mich selbstverständlich sehr schmeichelhaft sein würde, so folgt daraus …«

»So folgt daraus, daß ich aufstehen und weggehen soll?« sagte der Fürst sich erhebend und lachte dabei trotz der schwierigen Lage, in der er sich offenbar befand, ganz heiter. »Und bei Gott, General, obwohl ich absolut keine praktische Kenntnis davon habe, was hier Brauch ist und wie hier überhaupt die Menschen leben, so hatte ich mir doch gedacht, daß zwischen uns die Sache genau den Verlauf nehmen werde, den sie jetzt wirklich genommen hat. Nun, vielleicht ist es so auch ganz in der Ordnung … Ich habe ja auch damals auf meinen Brief keine Antwort bekommen … Nun also, leben Sie wohl, und entschuldigen Sie, daß ich gestört habe!«

Die Miene des Fürsten war in diesem Augenblick so freundlich und sein Lächeln so frei von jeder Beimischung irgendeines verborgenen, feindseligen Gefühls, daß der General plötzlich stutzte und seinen Gast in anderer Weise ansah; die ganze Veränderung seiner Ansicht vollzog sich in einem Moment.

»Wissen Sie, Fürst«, sagte er in ganz anderem Ton, »ich kenne Sie ja noch gar nicht, und auch Lisaweta Prokofjewna wird vielleicht den Wunsch haben, ihren Namensvetter zu sehen … Warten Sie doch ein Weilchen, wenn Sie wollen und Ihre Zeit es erlaubt.«

»Oh, meine Zeit erlaubt es schon; meine Zeit steht ganz zu meiner Verfügung.« (Der Fürst legte sogleich seinen weichen, rundkrempigen Hut auf den Tisch.) »Ich muß bekennen, ich hatte auch darauf gerechnet, daß Lisaweta Prokofjewna sich vielleicht an das, was ich ihr geschrieben habe, erinnern werde. Vorhin, als ich dort bei Ihnen wartete, argwöhnte Ihr Diener, daß ich gekommen sei, um Sie um eine Unterstützung zu bitten; ich merkte das, und Sie werden wohl in dieser Hinsicht strenge Instruktionen erteilt haben; aber ich bin wirklich nicht deswegen hergekommen, sondern wirklich nur, um mit Menschen zusammenzukommen. Ich fürchte nur, Ihnen lästig geworden zu sein, und das beunruhigt mich.«

»Hören Sie, Fürst«, sagte der General mit einem heiteren Lächeln, »wenn Sie wirklich ein solcher Mensch sind, wie es den Anschein hat, so wird die Bekanntschaft mit Ihnen vielleicht ganz angenehm sein; nur, sehen Sie, ich bin von Geschäften stark in Anspruch genommen und muß mich gleich wieder hinsetzen und dies und das durchsehen und unterschreiben, und dann begebe ich mich zu Seiner Erlaucht und dann in den Dienst; so kommt es, daß, wenn mir auch der Verkehr mit guten Menschen Freude macht … das heißt … aber … Übrigens bin ich von Ihrer vortrefflichen Erziehung so fest überzeugt, daß … Aber wie alt sind Sie eigentlich, Fürst?«

»Sechsundzwanzig.«

»Oh! Ich hatte Sie weit jünger geschätzt.«

»Ja, man sagt mir, daß ich ein jugendliches Gesicht habe. Aber Sie nicht zu stören, das werde ich schon lernen und bald begreifen, weil es mir selbst sehr zuwider ist, jemanden zu stören … Und schließlich sind wir, wie mir scheint, dem Äußern nach in vielerlei Hinsicht so verschiedene Menschen, daß wir wohl nicht viele Berührungspunkte haben können. Aber wissen Sie, an diese letzte Bemerkung glaube ich selbst nicht recht; denn sehr oft scheint es nur so, daß keine Berührungspunkte vorhanden seien, und sie sind doch in Menge da … Das kommt von der menschlichen Trägheit, indem die Menschen einander nur nach dem äußeren Schein klassifizieren und dabei keine Ähnlichkeiten finden können … Aber ich langweile Sie wohl schon? Es kommt mir vor, als ob Sie …«

»Nur zwei Worte: besitzen Sie wenigstens etwas Vermögen? Oder beabsichtigen Sie vielleicht, irgendeine Beschäftigung anzunehmen? Verzeihen Sie, daß ich so …«

»Aber ich bitte Sie, ich finde Ihre Frage sehr natürlich und begreiflich. Ich besitze zur Zeit gar kein Vermögen und habe vorläufig auch keine Beschäftigung, möchte aber eine solche haben. Ich habe jetzt von fremdem Geld gelebt; mein Professor Schneider, bei dem ich in der Schweiz eine Kur machte und mich wissenschaftlich weiterbildete, hat mir das Reisegeld gegeben, und zwar nur gerade ausreichend, so daß ich jetzt nur einige Kopeken übrig habe. Allerdings habe ich da eine geschäftliche Angelegenheit, in der ich einen guten Rat gebrauchen könnte, aber …«

»Sagen Sie, wovon beabsichtigen Sie denn zunächst zu leben und welches sind Ihre Pläne für die Zukunft?« unterbrach ihn der General.

»Ich wollte irgendwie arbeiten.«

»Och, Sie sind offenbar ein Philosoph; indessen … besitzen Sie nach Ihrem eigenen Urteil irgendwelche Talente oder wenigstens einige Fähigkeiten, das heißt solche, durch die man sich sein tägliches Brot verdienen kann? Verzeihen Sie wieder …«

»Oh, es bedarf keiner Entschuldigung! Nein, ich besitze meiner Meinung nach weder Talente noch besondere Fähigkeiten; im Gegenteil, ich habe sogar, weil ich ein kranker Mensch bin, keinen regulären Unterrichtsgang durchgemacht. Was das tägliche Brot anlangt, so möchte ich meinen …«

Der General unterbrach ihn wieder und begann ihn von neuem zu fragen. Der Fürst erzählte noch einmal alles, was er schon vorher erzählt hatte. Es stellte sich heraus, daß der General von dem verstorbenen Pawlischtschew gehört und ihn sogar persönlich gekannt hatte. Warum Pawlischtschew sich für die Erziehung des Fürsten interessiert hatte, das wußte dieser selbst nicht zu erklären, vielleicht einfach aus alter Freundschaft mit seinem verstorbenen Vater. Der Fürst war noch ein kleines Kind gewesen, als der Tod seiner Eltern ihn zur Waise machte, war auf dem Lande aufgewachsen und hatte dort seine ganze Jugend verlebt, namentlich auch, weil sein Gesundheitszustand Landluft verlangte. Pawlischtschew hatte ihn ein paar alten Gutsbesitzerinnen, die mit ihm verwandt waren, anvertraut; es wurde für ihn zuerst eine Gouvernante, dann ein Hauslehrer angenommen; er erklärte übrigens, daß er sich zwar an alles erinnere, aber nur über weniges in befriedigender Weise zu berichten vermöge, da er sich über vieles seinerzeit nicht habe Rechenschaft geben können. Die häufigen Krankheitsanfälle hätten ihn fast zum Idioten gemacht (der Fürst gebrauchte diesen Ausdruck: zum Idioten). Er erzählte endlich, daß Pawlischtschew eines Tages in Berlin den Schweizer Professor Schneider kennengelernt habe, der sich speziell mit diesen Krankheiten beschäftige, in der Schweiz, im Kanton Wallis, eine Heilanstalt besitze und dort nach seiner eigenen Methode Idiotie und andere Geisteskrankheiten mit kaltem Wasser und gymnastischen Übungen kuriere und dabei seine Patienten auch unterrichte und überhaupt für ihre geistige Entwicklung sorge; zu diesem Professor Schneider habe Pawlischtschew ihn vor etwa vier Jahren nach der Schweiz geschickt, sei aber selbst vor zwei Jahren plötzlich gestorben, ohne weitere Anordnungen getroffen zu haben; Schneider habe ihm noch zwei Jahre Unterhalt gewährt und ihn behandelt; er habe ihn zwar nicht völlig geheilt, aber doch eine erhebliche Besserung seines Zustandes herbeigeführt; schließlich habe er ihn auf eigenen Wunsch und infolge eines besonderen Umstandes jetzt nach Rußland geschickt.

Der General war sehr erstaunt.

»Und Sie kennen bei uns in Rußland niemand, absolut niemand?« fragte er.

»Zur Zeit kenne ich niemand … aber ich hoffe … außerdem habe ich einen Brief erhalten …«

»Aber Sie haben doch wenigstens«, unterbrach ihn der General, ohne auf das, was der Fürst von dem Brief sagte, recht hinzuhören, »irgend etwas gelernt, und Ihre Krankheit hindert Sie nicht, eine nicht gerade mühevolle Stelle irgendwo im Staatsdienst anzunehmen?«

»Oh, daran wird sie mich gewiß nicht hindern. Und was eine Stelle betrifft, so ist es sogar mein lebhafter Wunsch, eine solche zu erhalten, weil ich selbst gern sehen möchte, wozu ich tauglich bin. An meiner geistigen Bildung habe ich die ganzen vier Jahre lang ständig gearbeitet, freilich nicht in regelrechter Form, sondern nach des Professors eigenem System, und es ergab sich, daß ich dabei sehr viele russische Bücher las.«

»Russische Bücher? Also können Sie russisch lesen und ohne orthographische Fehler schreiben?«

»Oh, das kann ich sehr wohl.«

»Vortrefflich! Und die Handschrift?«

»Meine Handschrift ist vorzüglich. Hierin besitze ich vielleicht sogar Talent; ich bin geradezu ein Kalligraph. Gestatten Sie, daß ich Ihnen sofort etwas zur Probe schreibe!« sagte der Fürst eifrig.

»Haben Sie die Freundlichkeit! Es ist das sogar erforderlich … Und diese Ihre Bereitwilligkeit gefällt mir sehr, Fürst; Sie sind wirklich sehr liebenswürdig.«

»Sie haben so prächtige Schreibutensilien, was für eine Menge Bleistifte und Federn, und wie kräftiges, prachtvolles Papier! … Und was Sie für ein wundervolles Arbeitszimmer haben! Diese Landschaft hier kenne ich, es ist eine Ansicht aus der Schweiz. Ich glaube sicher, daß der Maler das Bild nach der Natur gemalt hat, und daß ich diese Örtlichkeit gesehen habe: es ist aus dem Kanton Uri …«

»Das kann leicht sein, obwohl das Bild hier gekauft ist. Ganja, geben Sie dem Fürsten Papier; hier sind Federn und Papier. Bitte, setzen Sie sich an dieses Tischchen! Was ist das?« wandte sich der General zu Ganja, der unterdessen aus seinem Portefeuille eine Photographie in Großformat herausgenommen hatte und ihm nun zeigte. »Ah, Nastasja Filippowna! Hat sie dir das selbst geschickt? Selbst?« fragte er Ganja lebhaft und mit dem größten Interesse.

»Sie hat es mir soeben gegeben, als ich da war, um ihr zu gratulieren. Ich hatte sie schon lange darum gebeten. Ich weiß nicht, ob das nicht etwa von ihrer Seite eine Anspielung sein soll, daß ich selbst mit leeren Händen, ohne Geschenk, an einem solchen Tage zu ihr kam«, fügte Ganja mit einem unangenehmen Lächeln hinzu.

»Aber nein!« unterbrach ihn der General im Tone fester Überzeugung. »Was ist das bei dir für eine seltsame Gedankenverbindung! Sie sollte eine solche Anspielung machen … und dabei ist sie überhaupt ganz und gar nicht eigennützig. Außerdem, was könntest du ihr schenken? Dazu gehören ja doch Tausende! Etwa dein Bild? Hat sie dich übrigens noch nicht um dein Bild gebeten?«

»Nein, das hat sie noch nicht getan, und sie wird es auch vielleicht nie tun. Sie denken doch gewiß an die heutige Abendgesellschaft, Iwan Fjodorowitsch? Sie haben doch gewiß auch eine ausdrückliche Einladung erhalten?«

»Gewiß, ich denke daran, gewiß, und werde hingehen. Selbstverständlich! Ihr Geburtstag, an dem sie fünfundzwanzig Jahre alt wird! Hm … Aber weißt du, Ganja, ich will es dir in Gottes Namen verraten. Bereite dich vor! Sie hat mir und Afanassij Iwanowitsch versprochen, sie werde heute abend bei sich zu Hause das letzte Wort sagen: Sein oder Nichtsein. Also mache dich darauf gefaßt, weißt du!«

Ganja geriet auf einmal in eine solche Bestürzung, daß er sogar ein wenig blaß wurde.

»Hat sie das wirklich gesagt?« fragte er, und es war, als zittere ihm die Stimme.

»Vorgestern hat sie uns ihr Wort gegeben. Wir haben sie beide so in die Enge getrieben, daß sie nicht anders konnte. Nur bat sie uns, dir vorher nichts davon zu verraten.«

Der General blickte Ganja forschend ins Gesicht; Ganjas Bestürzung mißfiel ihm offenbar.

»Halten Sie sich gegenwärtig, Iwan Fjodorowitsch«, sagte Ganja in aufgeregtem, unsicherem Ton, »daß sie mir ja für meine Entschließung volle Freiheit gelassen hat bis zu dem Augenblick, wo sie selbst sich entschieden haben wird, und auch dann habe ich immer noch freie Hand, mein Wort …«

»Also willst du vielleicht … also willst du vielleicht …«, unterbrach ihn der General erschrocken.

»Ich habe nichts gesagt.«

»Aber ich bitte dich, was willst du uns antun?«

»Ich weigere mich ja nicht. Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt …«

»Das fehlte auch noch, daß du dich weigertest!« rief der General unwillig, ohne seinen Ärger verbergen zu wollen. »Lieber Freund, was du jetzt zu tun hast, ist nicht etwa, dich ›nicht zu weigern‹, sondern bereitwillig, mit Vergnügen, mit Freude ihr Jawort zu empfangen … Wie steht es denn bei dir zu Hause?«

»Bei mir zu Hause? Bei mir zu Hause geht alles nach meinem Willen. Nur mein Vater treibt seine Dummheiten wie sonst, er ist jetzt schon ein ganz verkommener Mensch; ich rede mit ihm gar nicht mehr; aber ich halte ihn im Zaum und würde ihm, wenn nicht die Mutter wäre, weiß Gott die Tür weisen. Die Mutter weint natürlich fortwährend, und die Schwester bost sich, aber ich habe ihnen schließlich klipp und klar gesagt, daß ich mein Schicksal selbst zu bestimmen habe und im Hause meine … Anordnungen befolgt zu sehen wünsche. Meiner Schwester wenigstens habe ich das in Gegenwart der Mutter mit aller Deutlichkeit gesagt.«

»Recht klug werde ich aus der Sache immer noch nicht, lieber Freund«, bemerkte der General nachdenklich, wobei er die Schultern etwas in die Höhe zog und die Arme ein wenig ausbreitete. »Nina Alexandrowna hat mir noch neulich, als sie mich besuchen kam (du erinnerst dich wohl?), etwas vorgestöhnt und vorgejammert: ›Was haben Sie denn eigentlich?‹ fragte ich sie. Schließlich kam es heraus, daß sie darin eine Art Entehrung sehen. Nun möchte ich bloß wissen, was darin für eine Entehrung liegen soll! Wer kann Nastasja Filippowna irgendeinen Vorwurf machen oder ihr irgend etwas Schlechtes nachsagen? Etwa, daß sie mit Tozkij ein Verhältnis gehabt hat? Aber das ist ja doch lauter dummes Zeug, namentlich in Anbetracht gewisser Umstände! ›Sie werden sie doch auch nicht mit Ihren Töchtern verkehren lassen‹, sagte sie. Na, so was! Ei, ei, Nina Alexandrowna! Das ist ja doch eine arge Verkennung … eine arge Verkennung …«

»Der eigenen Stellung«, ergänzte Ganja den Satz des Generals, der nach einem Ausdruck suchte. »Aber sie versteht ihre Stellung; seien Sie ihr nicht böse! Ich habe ihnen übrigens damals gehörig den Kopf gewaschen, damit sie sich nicht wieder in fremde Angelegenheiten einmischen. Und doch bleibt bisher bei uns zu Hause alles nur deswegen im Geleise, weil das letzte Wort noch nicht gesprochen ist; aber das Gewitter rückt heran. Wenn heute das letzte Wort gesprochen wird, dann ist damit alles entschieden.«

Der Fürst, der in einer Ecke bei seiner kalligraphischen Probearbeit saß, hörte dieses ganze Gespräch mit an. Nun war er fertig, trat an den Tisch und überreichte dem General sein Blatt.

»Also das ist Nastasja Filippowna?« sagte er, indem er das Porträt aufmerksam und neugierig betrachtete. »Eine wunderbar schöne Frau!« setzte er sogleich lebhaft hinzu.

Das Porträt stellte in der Tat eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit dar. Sie hatte sich in einem schwarzen Seidenkleid von außerordentlich einfachem, elegantem Schnitt photographieren lassen; das anscheinend dunkelblonde Haar zeigte eine schlichte, für das Haus bestimmte Frisur; die Augen waren dunkel und tief, die Stirn nachdenklich; das Gesicht trug einen leidenden und dabei, wie es schien, doch hochmütigen Ausdruck. Sie war im Gesicht etwas mager und vielleicht auch blaß … Ganja und der General sahen den Fürsten erstaunt an …

»Nastasja Filippowna? Kennen Sie Nastasja Filippowna etwa schon?« fragte der General.

»Ja, ich bin erst vierundzwanzig Stunden in Rußland und kenne bereits eine solche Schönheit«, antwortete der Fürst. Und nun berichtete er von seiner Begegnung mit Rogoshin und teilte alles mit, was dieser erzählt hatte.

»Das ist ja eine hübsche Neuigkeit!« rief der General, der wieder in Unruhe geraten war. Er hatte die Erzählung mit großer Aufmerksamkeit angehört und blickte nun Ganja fragend an.

»Wahrscheinlich nur so eine Unschicklichkeit«, murmelte dieser, dem gleichfalls eine gewisse Betroffenheit anzumerken war. »Ein Kaufmannssöhnchen schlägt über die Stränge. Ich hatte schon etwas davon gehört.«

»Auch ich hatte davon gehört, lieber Freund«, erwiderte der General. »Nastasja Filippowna hat mir gleich damals nach der Geschichte mit den Ohrringen den ganzen Hergang erzählt. Aber die Sache gewinnt jetzt ein anderes Gesicht. Hier kommt vielleicht wirklich eine Million ins Spiel und … eine Leidenschaft. Eine verdrehte Leidenschaft allerdings; aber es sieht doch nach Leidenschaft aus, und man weiß ja, wozu diese Herren in solchem Rausche fähig sind! … Hm! … Wenn daraus nur nicht ein Skandal entsteht!« schloß der General nachdenklich.

»Sie haben Furcht vor der Million?« fragte Ganja lächelnd.

»Du wohl nicht?«

»Was hatten Sie für einen Eindruck, Fürst?« wandte sich Ganja plötzlich an ihn. »Ist das ein energischer Mensch oder nur so ein windiger Patron? Wie urteilen Sie über ihn?«

In Ganja ging, als er diese Frage stellte, etwas Besonderes vor. Ein neuer, eigenartiger Gedanke war, wie es schien, in seinem Gehirn aufgeflammt und leuchtete nun ungeduldig aus seinen Augen hervor. Der General, der in wirkliche, ernste Unruhe geraten war, schielte gleichfalls nach dem Fürsten hin, aber mit einem Gesicht, als wenn er von dessen Antwort nicht viel erwarte.

»Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll«, antwortete der Fürst, »aber mir schien, daß er von einer starken Leidenschaft, ja von einer krankhaften Leidenschaft ergriffen sei. Auch körperlich machte er noch durchaus den Eindruck eines Kranken. Sehr möglich, daß er sich gleich in den ersten Tagen seines Aufenthaltes hier in Petersburg wieder ins Bett legen muß, namentlich wenn er zu wild draufloslebt.«

»So! Also diesen Eindruck hatten Sie?« fragte der General, dessen Interesse dieser Gedanke erregte.

»Ja, den Eindruck hatte ich.«

»Und derartige Skandalgeschichten werden sich möglicherweise nicht erst in einigen Tagen ereignen, sondern es kann noch heute, ehe es Abend wird, eine überraschende Wendung eintreten«, sagte Ganja lächelnd zum General.

»Hm! … Gewiß … Sehr möglich; es hängt ganz davon ab, was sie gerade für einen Einfall hat«, versetzte der General.

»Sie wissen ja, wie wunderlich sie manchmal ist.«

»Was meinst du damit?« rief der General, der sehr verstimmt war, heftig. »Hör mal, Ganja, tu mir den Gefallen und widersprich ihr heute nicht zuviel, und gib dir Mühe, so recht, weißt du … mit einem Worte, so recht herzlich zu sein … Hm! … Warum ziehst du den Mund schief? Hör mal, Gawrila Ardalionytsch, ich halte für zweckmäßig, für sehr zweckmäßig, dir zu sagen: wozu geben wir uns all die Mühe? Du siehst wohl ein, daß ich mich hinsichtlich meines eigenen Gewinnanteils, den mir die Sache bringen soll, längst gesichert habe; ich werde die Angelegenheit auf die eine oder die andere Art, aber jedenfalls zu meinem Vorteil erledigen. Tozkij hat seinen Entschluß gefaßt und wird daran unerschütterlich festhalten, so daß ich mich völlig darauf verlassen kann. Wenn ich daher jetzt noch einen Wunsch hege, so habe ich dabei einzig und allein deinen Vorteil im Auge. Das kannst du dir doch selbst sagen; oder traust du mir etwa nicht? Dabei bist du doch ein Mensch … ein Mensch … mit einem Worte, ein Mensch, der Verstand besitzt, und ich habe in dieser Hinsicht auf dich gerechnet … und Verstand ist doch im vorliegenden Falle … im vorliegenden Falle …«

»Die Hauptsache«, beendete Ganja den Satz, indem er wieder dem nach einem Ausdruck suchenden General zu Hilfe kam. Dabei verzog er seine Lippen zu einem boshaften Lächeln, das er nicht mehr zu verbergen suchte. Er sah mit seinem brennenden Blick dem General gerade in die Augen, wie wenn er wünschte, daß jener in diesem Blick all seine Gedanken lesen möchte. Der General wurde dunkelrot und fuhr auf.

»Nun ja, Verstand ist die Hauptsache!« stimmte er bei und blickte Ganja scharf an. »Du bist doch ein komischer Mensch, Gawrila Ardalionytsch! Wie ich merke, freust du dich ordentlich über das Auftreten dieses Kaufmannssohnes, als ob du darin für dich einen Weg sähest, um aus der Sache herauszukommen. Aber gerade hier wäre es nötig, gleich von Anfang an Verstand zu beweisen; gerade hier wäre es nötig, zu begreifen und beiderseits offen und ehrlich zu verfahren, gegebenenfalls aber wenigstens vorher Mitteilung zu machen, um nicht andere Leute zu kompromittieren, um so mehr, als dazu Zeit genug vorhanden war und sogar jetzt noch Zeit genug ist« (der General zog bedeutsam die Augenbrauen in die Höhe),»obwohl wir nur noch ein paar Stunden übrig haben … Hast du verstanden? Ja? Willst du eigentlich, oder willst du nicht? Wenn du nicht willst, so sage es; das soll mir auch recht sein. Niemand wird Sie festhalten, Gawrila Ardalionytsch, niemand Sie mit Gewalt in das Fuchseisen hineinziehen, wenn Sie wirklich hier nur ein Fuchseisen zu sehen glauben.«

»Ich will«, erwiderte Ganja halblaut, aber mit fester Stimme; dann schlug er die Augen nieder und verstummte mit finsterer Miene.

Der General war zufriedengestellt. Er war hitzig geworden, bereute es aber offenbar schon, daß er soweit gegangen war. Plötzlich wandte er sich zum Fürsten, und über sein Gesicht schien der beunruhigende Gedanke hinzugehen, daß der Fürst das alles mit angehört hatte. Aber er beruhigte sich sofort wieder: dazu genügte ein einziger Blick auf diesen.

»Oho!« rief der General, als er das kalligraphische Probestück betrachtete, das ihm der Fürst reichte. »Das ist ja geradezu eine Schönschreibevorschrift! Und noch dazu von seltener Schönheit! Sieh mal, Ganja, was für ein Talent!«

Auf ein dickes Blatt Velinpapier hatte der Fürst in mittelalterlicher russischer Schrift den Satz geschrieben:

»Der demütige Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet.«

»Sehen Sie nur«, erklärte der Fürst mit außerordentlicher Freude und Lebhaftigkeit, »dies ist die eigenhändige Unterschrift des Abtes Pafnutij aus dem vierzehnten Jahrhundert, nach einem Faksimile. Sie bewiesen in ihren Unterschriften eine außerordentliche Kunst, all unsere alten Äbte und Metropoliten, und wie geschmackvoll sehen diese Unterschriften manchmal aus, und welche Sorgfalt lassen sie erkennen! Haben Sie nicht wenigstens die Pogodinsche Ausgabe, General? Dann habe ich Ihnen hier etwas in einer anderen Schrift geschrieben: das ist die runde, derbe französische Schrift des vorigen Jahrhunderts; einige Buchstaben weisen sogar abweichende Formen auf; es ist die Schrift der öffentlichen Schreiber, die auf den Marktplätzen saßen; ich habe sie aus einem ihrer Vorschriftenbücher entnommen (ich besaß eins); Sie werden zugeben müssen, daß sie nicht ohne gewisse Vorzüge ist. Betrachten Sie nur diese runden o und a. Ich habe den französischen Schriftcharakter auf das russische Alphabet übertragen, was eine recht schwere Aufgabe war; aber es ist mir doch gut gelungen. Hier ist noch eine schöne, eigenartige Schrift, hier der Satz: ›Eifer überwindet alles.‹ Das ist eine echt russische Schrift, die Schrift der Schreiber oder, wenn Sie wollen, der Militärschreiber. So schreibt man ein amtliches Schriftstück an eine hochgestellte Persönlichkeit; es ist gleichfalls eine runde Schrift, eine sehr schöne, schlichte Schrift, in schlichter Art, aber mit beachtenswertem Geschmack geschrieben. Ein Kalligraph würde diese Schnörkel oder, richtiger gesagt, diese Versuche zu Schnörkeln, hier diese unvollendeten, halben Schwänzchen – sehen Sie, diese hier! – nicht billigen; aber im ganzen – wollen Sie darauf achten! – tritt doch darin ein bestimmter Charakter zutage, und es guckt ordentlich die ganze Seele des Militärschreibers heraus: sie möchte sich gern frei ergehen, und das Talent bittet um die Möglichkeit, sich zu betätigen; aber der Uniformkragen ist fest zugehakt, die Disziplin kommt auch in der Handschrift zum Ausdruck, es ist zum Entzücken! Erst kürzlich frappierte mich ein solches Muster, welches ich zufällig fand, und wo hatte ich es gefunden? In der Schweiz! Nun weiter! Hier ist die einfache, gewöhnliche, ganz reine englische Schrift, das Äußerste an Eleganz, da ist alles reizend, perlenartig, geradezu vollendet. Aber da ist noch eine Variation, und zwar wieder eine französische; ich habe sie einem französischen Commis voyageur entlehnt: es ist dieselbe englische Schrift, aber die Grundstriche sind um eine Kleinigkeit dicker und kräftiger als bei der englischen, und gleich ist das Verhältnis von Licht und Schatten gestört. Und beachten Sie noch dies: die Gestalt der Ovale ist geändert; sie ist eine Kleinigkeit rundlicher, und außerdem sind Schnörkel zugelassen; der Schnörkel aber, das ist ein höchst gefährliches Ding! Der Schnörkel verlangt ungewöhnlich guten Geschmack; aber wenn er dann gelingt, wenn das richtige Verhältnis getroffen ist, dann ist eine solche Schrift auch mit nichts zu vergleichen; man könnte sich geradezu in sie verlieben.«

»Oho! In was für Subtilitäten geraten Sie da hinein!« rief der General lachend. »Sie sind ja gar kein gewöhnlicher Kalligraph, mein Bester; Sie sind ein Künstler! Nicht wahr, Ganja?«

»Erstaunlich!« sagte Ganja. »Und Sie sind sich auch bewußt, wozu Sie berufen sind«, fügte er spöttisch lachend hinzu.

»Lache du nur, lache du nur!« sagte der General, »aber diese Fähigkeit eröffnet dem Fürsten eine gute Laufbahn. Wissen Sie, Fürst, an was für hohe Persönlichkeiten wir nehmen Sie es mir nicht übel, Fürst, wenn ich Ihnen bemerke, daß Sie am besten tun, auf Taschengeld zu verzichten, und überhaupt kein Geld in der Tasche bei sich führen. Das ist meine Ansicht über Sie, und darum sage ich es Ihnen. Aber da jetzt Ihr Geldbeutel ganz leer ist, so gestatten Sie mir, Ihnen diese fünfundzwanzig Rubel hier anzubieten. Wir werden schon miteinander abrechnen, und wenn Sie wirklich ein so aufrichtiger, treuherziger Mensch sind, wie es nach Ihren Worten scheint, so können sich auch in dieser Hinsicht zwischen uns keinerlei Schwierigkeiten ergeben. Wenn ich mich so für Sie interessiere, so habe ich in bezug auf Sie sogar eine bestimmte Absicht; Sie werden diese später noch kennenlernen. Sie sehen, ich verkehre mit Ihnen ganz zwanglos; ich hoffe, Ganja, du hast nichts dagegen, daß sich der Fürst in eurer Wohnung mit einquartiert?«

»Oh, ganz im Gegenteil! Auch meine Mutter wird sich sehr freuen …«, versicherte Ganja freundlich und zuvorkommend.

»Es ist bei euch, soviel ich weiß, erst ein Zimmer vermietet. An diesen, wie heißt er doch gleich? Ferd … Fer …«

»Ferdyschtschenko.«

»Naja; er gefällt mir nicht, dieser euer Ferdyschtschenko. Ein vulgärer Possenreißer. Ich begreife nicht, warum Nastasja Filippowna sich seiner so annimmt. Ist er denn wirklich mit ihr verwandt?«

»O nein, das ist alles nur Scherz! Von Verwandtschaft keine Spur!«

»Na, hol ihn der Teufel! Na, sind Sie nun zufrieden, Fürst, oder nicht?«

»Ich danke Ihnen, General; Sie haben an mir als ein überaus guter Mensch gehandelt, was um so mehr anzuerkennen ist, als ich Sie gar nicht gebeten hatte. Ich sage das nicht aus Stolz; ich wußte tatsächlich nicht, wohin ich mein Haupt legen sollte. Allerdings hat mich vorhin Rogoshin zu sich eingeladen.«

»Rogoshin? Aber nein; da möchte ich Ihnen doch den väterlichen oder, wenn Sie lieber wollen, den freundschaftlichen Rat geben, diesen Herrn Rogoshin ganz zu vergessen. Und überhaupt würde ich Ihnen raten, sich an die Familie zu halten, in die Sie eintreten werden.«

»Da Sie mir schon soviel Güte erweisen«, begann der Fürst, »so möchte ich Ihnen noch eine Angelegenheit, die mich beschäftigt, vorlegen. Ich habe die Nachricht erhalten …«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der General, »jetzt habe ich wirklich keine Minute Zeit mehr. Ich werde sofort meiner Frau von Ihnen berichten. Wenn sie Sie jetzt gleich zu empfangen wünscht (meinerseits werde ich mich bemühen, sie durch meine Empfehlung dazu zu bewegen), so rate ich Ihnen, die Gelegenheit auszunutzen und sich ihre Gunst zu erwerben, da Lisaweta Prokofjewna Ihnen von großem Nutzen sein kann. Sie sind ja ihr Namensvetter. Und sollte sie es jetzt nicht wünschen, so nehmen Sie ihr das weiter nicht übel, sondern kommen Sie zu anderer Zeit wieder! Und du, Ganja, sieh doch unterdessen diese Rechnung durch, mit der Fedossejew und ich uns vorhin abgequält haben! Vergiß aber nicht, sie nachher wegzuschließen!«

Der General ging hinaus, und so kam der Fürst nicht dazu, seine Angelegenheit vorzubringen, von der er etwa zum viertenmal zu reden angefangen hatte. Ganja begann eine Zigarette zu rauchen und bot auch dem Fürsten eine an; dieser nahm sie, versuchte aber nicht, ein Gespräch in Gang zu bringen, um nicht zu stören, sondern betrachtete das Arbeitszimmer. Ganja aber warf kaum einen Blick auf das mit Zahlen bedeckte Papier, auf das ihn der General hingewiesen hatte. Er war zerstreut; sein Lächeln, sein Blick, sein nachdenkliches Wesen machten nach Ansicht des Fürsten jetzt, wo sie beide allein geblieben waren, einen noch unangenehmeren Eindruck. Plötzlich trat er an den Fürsten heran, der sich gerade über Nastasja Filippownas Porträt gebeugt hatte und es betrachtete.

»Also gefällt Ihnen eine solche Frau, Fürst?« fragte er, indem er ihn durchdringend ansah, als hätte er irgendeine besondere Absicht.

»Ein wunderbar schönes Gesicht!« antwortete der Fürst. »Und ich bin überzeugt, daß sie ein ungewöhnliches Schicksal gehabt hat. Das Gesicht sieht heiter aus, aber sie hat früher wohl furchtbar gelitten, nicht? Davon reden die Augen, dort die beiden Knöchelchen, die beiden Punkte unter den Augen, wo die Wangen anfangen. Es ist ein stolzes Gesicht, schrecklich stolz, und ich weiß nicht, ob sie ein gutes Herz hat. Ach, wenn sie es doch hätte! Dann wäre alles gerettet!«

»Würden Sie denn eine solche Frau heiraten?« fragte Ganja weiter, ohne seinen brennenden Blick abzuwenden.

»Ich kann überhaupt nicht heiraten, ich bin krank«, versetzte der Fürst.

»Aber Rogoshin würde sie heiraten? Was meinen Sie?«

»Gewiß, womöglich gleich morgen, denke ich. Er würde sie heiraten und sie eine Woche darauf vielleicht ermorden.«

Kaum hatte der Fürst dies gesagt, als Ganja plötzlich so zusammenfuhr, daß der Fürst beinah aufschrie.

»Was ist Ihnen?« fragte er, indem er ihn bei der Hand ergriff.

»Durchlaucht, Seine Exzellenz lassen bitten, sich zu Ihrer Exzellenz zu bemühen«, meldete ein Diener, der in der Tür erschien.

Der Fürst ging hinter dem Diener her.

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Kapitel 30

II

Der Fürst trat plötzlich an Jewgenij Pawlowitsch heran.

»Jewgenij Pawlytsch«, sagte er mit auffälliger Wärme, indem er seine Hand ergriff, »seien Sie überzeugt, daß ich Sie trotz allem für den edelsten, besten Menschen halte; das versichere ich Ihnen…«

Jewgenij Pawlowitsch war so erstaunt, daß er sogar einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte er die größte Mühe, einen starken Lachreiz zu unterdrücken; aber bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Fürst kaum seiner selbst mächtig war und sich jedenfalls in einem ganz eigenartigen Zustand befand.

»Ich möchte wetten, Fürst«, rief er, »daß Sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten und vielleicht gar nicht zu mir… Aber was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Möglich, sehr möglich, und Sie haben sehr richtig bemerkt, daß ich mich vielleicht gar nicht an Sie wenden wollte!«

Nach diesen Worten lächelte er ganz seltsam und sogar komisch, aber plötzlich schien er in starke Erregung zu geraten und rief:

»Erinnern Sie mich nicht an mein Benehmen vor drei Tagen! Ich habe mich diese drei Tage sehr geschämt… Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe…«

»Aber… aber was haben Sie denn so Schreckliches getan?«

»Ich sehe, daß Sie sich vielleicht mehr für mich schämen, als es die andern alle tun, Jewgenij Pawlowitsch. Sie erröten, und das ist das Zeichen eines guten Herzens. Ich gehe sogleich weg, glauben Sie mir!«

»Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja.

»Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna, ich bekomme keinen Anfall; ich werde gleich weggehen. Ich weiß, daß ich… von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als die eines Kranken auf. Ich werde gleich weggehen, gleich, seien Sie dessen versichert. Ich erröte deswegen nicht, denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht… Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl… Ich habe in diesen drei Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen… Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus, darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht… Außerdem bin ich mißtrauisch, ich … ich bin überzeugt, daß mich in diesem Hause niemand kränken will und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene, aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal… nicht umhinkönnen, über mich zu lachen… nicht wahr?«

Er blickte um sich und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich berührt durch dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß.

»Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!«

Sie schien im höchsten Grade entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß.

»Hier ist niemand, der solche Worte verdiente!« fuhr Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner Finger und reichen nicht an Ihren Verstand und Ihr Herz heran! Sie sind ehrlicher als sie alle, edler als sie alle, klüger als sie alle! Manche sind hier nicht wert, sich zu bücken und das Taschentuch aufzuheben, das Sie soeben haben hinfallen lassen … Warum setzen Sie sich selbst herab und stellen sich niedriger als alle? Warum karikieren Sie all Ihre guten Eigenschaften? Warum besitzen Sie so gar keinen Stolz?«

»Mein Gott, ist es zu glauben?« rief Lisaweta Prokofjewna und schlug die Hände zusammen.

»Der arme Ritter! Hurra!« schrie Kolja begeistert.

»Schweigen Sie!… Wie kann jemand wagen, mich hier in Ihrem Hause zu beleidigen!« fiel Aglaja plötzlich mit größter Heftigkeit über ihre Mutter her. Sie befand sich bereits in jenem hysterischen Zustand, in dem der Mensch keine Grenzen mehr kennt und über jedes Hindernis hinwegschreitet. »Warum peinigen sie mich alle, alle ohne Ausnahme? Warum haben alle diese Menschen mir diese drei Tage lang um Ihretwillen zugesetzt, Fürst? Ich werde Sie um keinen Preis heiraten! Hören Sie wohl: um keinen Preis und niemals! Das mögen Sie wissen! Wie kann man denn auch einen so lächerlichen Menschen wie Sie heiraten? Betrachten Sie sich jetzt nur einmal im Spiegel, wie Sie dastehen!… Warum, warum ziehen mich alle damit auf, daß ich Sie heiraten werde? Sie, Sie müssen das wissen! Sie sind auch mit in der Verschwörung!«

»Nie hat dich jemand damit aufgezogen!« murmelte Adelaida erschrocken.

»Es ist keinem in den Sinn gekommen, kein Wort von der Art ist gesprochen worden!« rief Alexandra Iwanowna.

»Wer hat sie aufgezogen? Wann ist das geschehen? Wer hat es fertiggebracht, so etwas zu ihr zu sagen? Redet sie irre?« Mit diesen Fragen wandte sich Lisaweta Prokofjewna, zitternd vor Zorn, an alle Anwesenden.

»Alle haben es gesagt, alle ohne Ausnahme, die ganzen drei Tage lang! Aber ich werde ihn niemals heiraten, niemals!«

Nach diesen heftig hervorgestoßenen Worten brach Aglaja in bittere Tränen aus, verbarg ihr Gesicht im Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

»Aber er hat dir ja noch gar keinen Antrag…«

»Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, Aglaja Iwanowna«, entfuhr es dem Fürsten unwillkürlich.

»Wa-as?« rief Lisaweta Prokofjewna erstaunt, entrüstet, erschrocken aus und zog dieses Wort sehr in die Länge. »Was – soll – das – heißen?«

Sie wollte ihren Ohren nicht trauen.

»Ich wollte sagen… ich wollte sagen«, erwiderte der Fürst zitternd, »ich wollte Aglaja Iwanowna nur erklären… die Ehre haben zu erklären, daß ich überhaupt nicht beabsichtigte… die Ehre zu haben, um ihre Hand zu bitten… zu keiner Zeit… Ich bin hierbei ganz unschuldig, bei Gott, ganz unschuldig, Aglaja Iwanowna! Ich habe es nie gewollt, und es ist mir nie in den Sinn gekommen, ich werde es niemals wollen, das werden Sie selbst sehen: davon können Sie überzeugt sein! Irgendein schlechter Mensch muß mich bei Ihnen verleumdet haben! Seien Sie ganz beruhigt!«

Während er das sagte, näherte er sich dem aufgeregten Mädchen. Diese nahm das Taschentuch weg, mit dem sie ihr Gesicht verhüllt hatte, warf einen schnellen Blick auf ihn und seine ganze erschrockene Gestalt, wurde sich über den Sinn seiner Worte klar und lachte ihm auf einmal gerade ins Gesicht, mit einem so lustigen, unbezwingbaren Lachen, einem so komischen, spöttischen Lachen, daß als erste Adelaida sich nicht halten konnte, namentlich nachdem sie ebenfalls den Fürsten angeblickt hatte, zu ihrer Schwester hinstürzte, sie umarmte und in ein ebenso unbezwingbares, schulmädchenhaft lustiges Lachen ausbrach wie diese. Beim Anblick der beiden begann der Fürst plötzlich zu lächeln und sagte mit fröhlicher, glückseliger Miene mehrmals:

»Nun, Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Jetzt konnte sich auch Alexandra nicht mehr beherrschen und begann ebenso herzhaft zu lachen. Es schien, als wollte dieses Gelächter der drei Mädchen gar kein Ende nehmen.

»Na, sie sind verrückt!« murmelte Lisaweta Prokofjewna. »Erst jagen sie einem einen Schreck ein, und dann…«

Aber jetzt lachte auch schon Fürst Schtsch., auch Jewgenij Pawlowitsch lachte, Kolja lachte ohne Aufhören, und beim Anblick des allgemeinen Gelächters lachte auch der Fürst.

»Wir wollen Spazierengehen, wir wollen Spazierengehen!« rief Adelaida. »Alle zusammen wollen wir gehen, und der Fürst muß unbedingt mit uns kommen; Sie dürfen nicht weggehen, Sie lieber Mensch! Was für ein lieber Mensch er ist, Aglaja! Nicht wahr, Mamachen? Ich muß ihn unbedingt, unbedingt umarmen und ihm einen Kuß geben für… für die Erklärung, die er unserer Aglaja soeben gemacht hat. Liebe maman, erlauben Sie mir, ihm einen Kuß zu geben! Aglaja, erlaube mir, deinen Fürsten zu küssen!« rief die Übermütige, sprang wirklich zu dem Fürsten hin und küßte ihn auf die Stirn. Dieser ergriff ihre beiden Hände, drückte sie kräftig, so daß Adelaida beinah aufschrie, sah ihr mit grenzenloser Freude ins Gesicht, führte plötzlich schnell ihre Hand an seine Lippen und küßte sie dreimal.

»Wir wollen gehen!« rief Aglaja. »Fürst, Sie sollen mich führen! Darf das ein junger Mann tun, maman, der mir einen Korb gegeben hat? Ihre Absage an mich gilt ja doch wohl gleich für das ganze Leben, Fürst? Aber doch nicht so! So gibt man einer Dame doch nicht den Arm! Wissen Sie denn nicht, wie man eine Dame am Arm führt? So macht man das! Nun kommen Sie, wir wollen allen vorangehen; wollen Sie mit mir vorangehen, tête-à-tête?«

Sie sprach ohne Pause und wurde dazwischen immer noch wieder von Lachen geschüttelt.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sagte Lisaweta Prokofjewna ein Mal über das andere, ohne selbst zu wissen, worüber sie sich eigentlich freute.

»Ganz sonderbare Menschen!« dachte Fürst Schtsch. vielleicht zum hundertstenmal, seit er sie kennengelernt hatte, aber… diese sonderbaren Menschen gefielen ihm. Was den Fürsten anlangte, so gefiel ihm der vielleicht nicht so besonders; Fürst Schtsch. machte ein sehr ernstes Gesicht und schien nicht frei von Sorgen, als alle den Spaziergang antraten.

Jewgenij Pawlowitsch befand sich anscheinend in heiterster Gemütsstimmung; während des ganzen Weges zum Vauxhall unterhielt er Alexandra und Adelaida mit den lustigsten Reden, und die jungen Damen lachten mit ganz besonderer Bereitwilligkeit über seine Scherze, mit einer solchen Bereitwilligkeit, daß ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, sie hörten auf das, was er sagte, vielleicht überhaupt nicht hin. Infolge dieses Gedankens brach er plötzlich, ohne einen Grund anzugeben, in lautes Gelächter aus, das ihm ganz von Herzen kam (so war nun einmal sein Charakter!). Die beiden Schwestern, die übrigens in einer Art festlicher Stimmung waren, blickten fortwährend nach Aglaja und dem Fürsten hin, die vor ihnen gingen; offenbar hatte die jüngste Schwester ihnen ein schweres Rätsel aufgegeben. Fürst Schtsch. war andauernd bemüht, Lisaweta Prokofjewna mit nebensächlichen Dingen zu unterhalten, vielleicht, um sie zu zerstreuen, und wurde ihr damit sehr lästig. Sie schien ganz verstört zu sein und gab Antworten, die nicht zu den Fragen paßten, mitunter antwortete sie auch überhaupt nicht. Aber die Rätsel, die Aglaja Iwanowna den anderen an diesem Abend aufgab, hatten noch nicht ihr Ende erreicht. Das letzte Rätsel legte sie dem Fürsten allein vor. Als sie sich ungefähr hundert Schritte von dem Landhaus entfernt hatten, sagte Aglaja hastig, halb flüsternd zu ihrem hartnäckig schweigenden Kavalier:

»Blicken Sie einmal nach rechts!«

Der Fürst blickte nach der angegebenen Richtung.

»Blicken Sie recht aufmerksam hin! Sehen Sie da eine Bank im Park, da, wo die drei großen Bäume stehen… eine grüne Bank?«

Der Fürst antwortete, daß er sie sehe.

»Gefällt Ihnen das Plätzchen? Ich gehe manchmal frühmorgens gegen sieben Uhr, wenn alle noch schlafen, allein dorthin und sitze da.«

Der Fürst murmelte, es sei ein sehr schönes Plätzchen.

»Aber jetzt lassen Sie mich los, ich möchte nicht länger mit Ihnen untergefaßt gehen. Oder besser so: lassen Sie mir Ihren Arm, aber reden Sie mit mir kein Wort! Ich möchte still für mich nachdenken…«

Dieses Verbot war jedenfalls überflüssig: der Fürst hätte sicherlich auch ohne solche Weisung auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Sein Herz begann furchtbar zu klopfen, als er die Mitteilung von der Bank hörte. Einen Augenblick darauf hatte er sich wieder gesammelt und wies voller Scham einen absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war.

In dem Vauxhall in Pawlowsk versammelt sich an den Wochentagen, wie allgemein bekannt ist oder wenigstens alle behaupten, ein »feineres« Publikum als an Sonn- und Festtagen, wo »alle möglichen Leute« aus der Stadt kommen. Die Toiletten sind nicht festlich, aber elegant. Es ist Sitte, sich bei der Musik zu treffen. Die Kapelle ist vielleicht tatsächlich die beste unserer Gartenkapellen und spielt moderne Sachen. Man benimmt sich dort außerordentlich steif und korrekt, obwohl das Ganze bis zu einem gewissen Grade einen familiären, ja intimen Anstrich hat. Bekannte, sämtlich Sommerfrischler, finden sich dort zusammen, um sich gegenseitig zu mustern. Viele vollführen das mit wirklichem Vergnügen und gehen nur zu diesem Zwecke hin, aber es gibt auch einige, die lediglich um der Musik willen kommen. Skandalszenen sind äußerst selten, obwohl sie auch an Wochentagen vorkommen. Aber ganz ohne das geht es nun einmal nicht ab.

Es war diesmal ein wundervoller Abend und ziemlich viel Publikum beisammen. Alle Plätze in der Umgebung der musizierenden Kapelle waren besetzt. Unsere Gesellschaft nahm auf Stühlen etwas mehr seitwärts Platz, dicht bei dem linken Vauxhallausgang. Die bunte Menge und die Musik übten auf Lisaweta Prokofjewna bis zu einem gewissen Grade eine belebende Wirkung aus und brachten den jungen Damen etwas Zerstreuung; sie hatten schon Zeit gefunden, mit diesem und jenem ihrer Bekannten einen Blick zu wechseln, dem einen und andern, von weitem freundlich zuzunicken, die Toiletten zu betrachten, einige Sonderbarkeiten daran zu bemerken, darüber ihre Ansichten auszutauschen und spöttisch zu lächeln. Jewgenij Pawlowitsch verneigte sich ebenfalls sehr häufig. Auf Aglaja und den Fürsten, die immer noch zusammen waren, war schon mancher aufmerksam geworden. Bald traten zur Mutter und zu den jungen Damen einzelne junge Männer aus ihrem Bekanntenkreis heran, um sie zu begrüßen; zwei oder drei blieben da und unterhielten sich mit ihnen; alle waren sie mit Jewgenij Pawlowitsch befreundet. Unter ihnen befand sich ein junger, sehr hübscher Offizier, ein sehr munterer, gesprächiger Mensch; er beeilte sich, mit Aglaja ein Gespräch anzuknüpfen, und bemühte sich aus allen Kräften, ihr Interesse zu erregen. Aglaja benahm sich ihm gegenüber sehr gnädig und war sehr lachlustig. Jewgenij Pawlowitsch bat den Fürsten um die Erlaubnis, ihn mit diesem Freund bekannt machen zu dürfen; der Fürst verstand kaum, was man mit ihm vorhatte, aber die Vorstellung kam doch zustande, beide verbeugten sich und reichten einander die Hand. Jewgenij Pawlowitschs Freund stellte eine Frage, aber der Fürst antwortete, wie es schien, gar nicht darauf oder murmelte höchstens in so sonderbarer Weise etwas vor sich hin, daß der Offizier ihn mit einem prüfenden Blick scharf anschaute, dann nach Jewgenij Pawlowitsch hinsah, sogleich begriff, warum dieser den Einfall gehabt hatte, sie einander vorzustellen, leise lächelte und sich wieder zu Aglaja wandte. Nur Jewgenij Pawlowitsch nahm es wahr, daß Aglaja plötzlich darüber errötete.

Der Fürst bemerkte es nicht einmal, daß andere mit Aglaja sprachen und ihr den Hof machten; minutenlang vergaß er sogar, daß er selbst neben ihr saß. Manchmal befiel ihn ein Verlangen fortzugehen, ganz von hier zu verschwinden; es hätte ihm sogar ein düsterer, öder Ort zugesagt, wenn er nur hätte mit seinen Gedanken allein sein können und niemand gewußt hätte, wo er sich befände. Oder wenn er wenigstens hätte bei sich zu Hause sein können, in der Veranda, aber so, daß niemand bei ihm wäre, weder Lebedew noch die Kinder; dann hätte er sich auf sein Sofa geworfen, das Gesicht in das Kissen gedrückt und so einen ganzen Tag und eine Nacht und noch einen Tag dagelegen. In einzelnen Augenblicken sah er auch das Gebirge vor sich und namentlich eine ihm wohlbekannte Stelle in den Bergen, an die er immer gern zurückgedacht hatte; nach dieser Stelle war er gern hingegangen, als er noch dort wohnte, und hatte von da auf das Dorf hinabgeblickt und auf den nur schwach schimmernden weißen Faden des Wasserfalls und nach den weißen Wolken und der alten Burgruine. Oh, wie gern wäre er jetzt wieder dort gewesen und hätte an das eine gedacht – oh! das ganze Leben nur daran – und für tausend Jahre hätte er an diesem einen Gedanken genug gehabt! Und mochten sie ihn hier doch ganz vergessen. Oh, das war sogar notwendig und das beste würde sein, wenn man ihn hier gar nicht gekannt hätte und das alles nur ein Traumbild gewesen wäre. Aber war es denn nicht ganz gleich, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war? Manchmal begann er plötzlich Aglaja zu betrachten und konnte fünf Minuten lang seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen; aber sein Blick war sehr sonderbar: er schien sie so anzusehen, als wäre sie ein etwa zwei Werst von ihm entfernter Gegenstand oder als wäre sie ihr Porträt und nicht sie selbst.

»Warum sehen Sie mich denn so an, Fürst?« fragte sie auf einmal, indem sie das heitere Geplauder und Gelache mit ihrer Umgebung unterbrach. »Ich fürchte mich vor Ihnen; ich habe immer die Vorstellung, Sie wollten die Hand ausstrecken und mein Gesicht mit den Fingern berühren, um es zu befühlen. Nicht wahr, Jewgenij Pawlowitsch, so sieht er mich an?«

Der Fürst hörte, wie es schien, mit Erstaunen, daß sich jemand an ihn wandte, überlegte das Gesagte, obwohl er es vielleicht nicht ganz verstand, gab jedoch keine Antwort, aber als er sah, daß sie und alle andern lachten, öffnete er plötzlich den Mund und begann ebenfalls zu lachen. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; der Offizier, der offenbar ein lachlustiger Mensch war, schüttelte sich nur so vor Lachen. Aglaja flüsterte auf einmal zornig vor sich hin:

»So ein Idiot!«

›O Gott! Kann sie denn wirklich so einen… ist sie denn ganz verrückt geworden?‹ dachte Lisaweta Prokofjewna zähneknirschend.

»Es ist ein Scherz! Es ist derselbe Scherz wie damals mit dem ›armen Ritter‹«, flüsterte ihr Alexandra im Ton fester Überzeugung ins Ohr, »weiter nichts! Sie hat sich auf ihre Weise wieder über ihn lustig gemacht. Nur geht dieser Scherz zu weit, dem muß ein Ende gemacht werden, maman! Vorhin hat sie uns wie eine Komödiantin eine Szene vorgespielt und uns aus Unart einen Schreck eingejagt…«

»Es ist noch ein Glück, daß sie an einen solchen Idioten geraten ist«, flüsterte ihr Lisaweta Prokofjewna als Antwort zu. Die Bemerkung der Tochter hatte ihr doch das Herz etwas leichter gemacht.

Der Fürst hörte, daß er ein Idiot genannt wurde, und fuhr zusammen, aber nicht infolge dieser Benennung. Den »Idioten« vergaß er sofort wieder. Aber in der Menge, nicht weit von der Stelle, wo er saß, irgendwo seitwärts – er hätte die Stelle und den Punkt, wo es gewesen war, schlechterdings nicht bezeichnen können –, war ein Männergesicht aufgetaucht, ein blasses Gesicht, mit lockigem, dunklem Haar, mit einem ihm bekannten, sehr bekannten Blick und Lächeln, es war aufgetaucht und wieder verschwunden. Sehr möglich, daß er es sich nur eingebildet hatte; von der ganzen Vision blieb ihm nur der Eindruck des schiefen Lächelns, der Augen und des hellgrünen, stutzerhaften Halstuches, das der vorüberhuschende Herr getragen hatte, im Gedächtnis haften. Ob dieser Herr in der Menge verschwunden oder in das Vauxhallgebäude hineingeschlüpft war, das hätte der Fürst gleichfalls nicht zu sagen vermocht.

Aber einen Augenblick darauf begann er auf einmal schnell und unruhig um sich zu blicken; diese erste Vision konnte die Vorbotin und Vorläuferin einer zweiten sein. Das war mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er wirklich, als er sich nach dem Vauxhall begab, gar nicht an die Möglichkeit eines Zusammentreffens gedacht? Während er nach dem Vauxhall ging, hatte er allerdings gar nicht gewußt, daß er dorthin ging – in einem solchen Zustand hatte er sich befunden. Wenn er aufmerksamer hätte sein können oder wollen, so hätte er schon vor einer Viertelstunde bemerken können, daß Aglaja ab und zu ebenfalls mit einer gewissen Unruhe eilig um sich blickte, ebenfalls, als ob sie etwas um sich herum suche. Jetzt, als seine Unruhe stark bemerkbar wurde, wuchs auch Aglajas Aufregung und Unruhe, und kaum blickte er rückwärts, so tat auch sie fast im gleichen Augenblick dasselbe. Das Ereignis, dem mit solcher Unruhe entgegengesehen wurde, ließ nicht lange auf sich warten.

Von eben jenem Seitenausgang aus dem Vauxhall, neben dem der Fürst und die ganze Jepantschinsche Gesellschaft Platz genommen hatten, erschien plötzlich ein ganzer Schwarm von mindestens zehn Menschen. An der Spitze dieses Schwarmes gingen drei Frauen; zwei von ihnen waren außerordentlich schön, und es war nicht zu verwundern, daß ihnen so viele Verehrer nachfolgten. Aber sowohl die Verehrer als auch die Frauen, alle hatten etwas Besonderes an sich, etwas, was von dem übrigen um die Musik versammelten Publikum stark abstach. Fast alle Anwesenden bemerkten die Ankömmlinge sofort, bemühten sich aber großenteils, so zu tun, als ob sie sie gar nicht sähen, und nur einige junge Männer lächelten und tauschten miteinander halblaute Bemerkungen aus. Sie zu übersehen war ganz unmöglich: sie machten sich nur zu bemerkbar, redeten laut und lachten. Man konnte annehmen, daß manche unter ihnen einen ziemlichen Rausch hatten, obgleich mehrere äußerlich stutzerhaft und elegant gekleidet waren; aber es waren darunter auch Leute von recht sonderbarem Aussehen, in sonderbarer Kleidung und mit sonderbar geröteten Gesichtern; auch einige Offiziere waren dabei; manche waren bereits älter; etliche waren behäbig gekleidet, in bequemen, elegant gearbeiteten Anzügen, und trugen kostbare Ringe und Manschettenknöpfe, prächtige pechschwarze Perücken und schwarze Backenbärte und gaben ihren Gesichtern einen besonders vornehmen, wenn auch etwas verdrossenen Ausdruck, eine Menschensorte, die man in der Gesellschaft wie die Pest zu meiden pflegt. Unter den Sommerfrischen in unseren Vororten befinden sich natürlich auch solche, die sich durch besonders guten Ton auszeichnen und sich eines vorzüglichen Rufes erfreuen; aber auch der vorsichtigste Mensch kann sich nicht in jedem Augenblick vor einem Ziegelstein hüten, der vom Nachbarhaus herabfällt. Ein solcher Ziegelstein war jetzt im Begriff, auf das wohlanständige Publikum herabzufallen, das sich bei der Musik versammelt hatte.

Um von dem Vauxhall auf den Platz zu gelangen, auf dem sich das Orchester befand, mußte man drei Stufen hinabsteigen. Dicht bei diesen Stufen hatte der Schwarm haltgemacht; sie trauten sich nicht hinabzusteigen, aber eine der Frauen schritt vorwärts; von ihrer Suite wagten nur zwei Männer, ihr zu folgen. Der eine war ein Herr in mittleren Jahren, mit recht bescheidener Miene und einem in jeder Hinsicht anständigen Äußeren, aber er machte den Eindruck eines richtigen Einzelgängers, das heißt eines der Leute, die nie jemand kennen und von niemand gekannt werden. Der andere, der sich von der Dame nicht getrennt hatte, trug eine sehr schäbige Kleidung und sah höchst zweideutig aus. Außer diesen beiden folgte der exzentrischen Dame niemand weiter; aber während des Hinuntersteigens blickte sie gar nicht zurück, als wäre es ihr völlig gleichgültig, ob ihr jemand folgte oder nicht. Sie lachte und redete laut wie vorher; gekleidet war sie mit viel Geschmack und reich, aber etwas luxuriöser, als es schicklich gewesen wäre. Sie ging am Orchester vorbei nach der andern Seite des Platzes, wo neben der Landstraße eine Equipage wartete.

Der Fürst hatte sie schon seit mehr als drei Monaten nicht gesehen. Seit seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich jeden Tag vorgenommen, zu ihr zu gehen, aber vielleicht hatte ihn eine geheime Ahnung immer davon zurückgehalten. Wenigstens vermochte er schlechterdings nicht den Eindruck vorauszusehen, den die bevorstehende Begegnung mit ihr auf ihn machen würde, aber er bemühte sich manchmal angstvoll, ihn sich vorzustellen. Eines war ihm klar: daß die Begegnung peinlich sein würde. Mehrmals hatte er in diesen sechs Monaten an die erste Empfindung zurückgedacht, die das Gesicht dieser Frau schon beim bloßen Anblick ihres Bildes bei ihm hervorgerufen hatte; aber selbst der Eindruck des Bildes war, wie er sich erinnerte, ein sehr peinlicher gewesen. Jeder Monat in der Provinz, da er beinah täglich mit ihr zusammengewesen war, hatte auf ihn eine schreckliche Wirkung ausgeübt, so daß der Fürst manchmal sogar die Erinnerung an diese noch nicht weit zurückliegende Zeit zu verscheuchen suchte. In dem Gesicht dieser Frau lag für ihn stets etwas, was ihm Qualen bereitete: in dem Gespräch mit Rogoshin hatte der Fürst dieses Gefühl als ein Gefühl grenzenlosen Mitleids bezeichnet, und das war die Wahrheit gewesen: dieses Gesicht hatte schon beim Anblick des Bildes in seinem Herzen ein Mitleid erweckt, das zum eigenen Leid geworden war; dieses Gefühl des Mitleids und sogar des eigenen Leids um dieses Wesen hatte ihn nie verlassen und war ihm auch jetzt gegenwärtig. Nein, es war jetzt sogar noch stärker. Aber der Ausdruck, den er Rogoshin gegenüber gebraucht hatte, hatte den Fürsten auf die Dauer nicht befriedigt; erst jetzt, in dem Augenblick, wo sie plötzlich vor seinen Augen erschien, verstand er, vielleicht infolge der unmittelbaren Anschauung, inwiefern das, was er zu Rogoshin gesagt hatte, mangelhaft gewesen war. Er hatte damals nicht die Worte gefunden, um das Entsetzen auszudrücken – jawohl, das Entsetzen! Jetzt, in diesem Augenblick, empfand er es ganz; er war auf Grund all seiner eigenen Beobachtungen mit völliger Sicherheit davon überzeugt, daß diese Frau irrsinnig war. Wenn man eine Frau über alles in der Welt liebt oder einen Vorgeschmack von der Möglichkeit einer solchen Liebe verspürt und nun auf einmal diese Frau an der Kette erblickt, hinter einem Eisengitter, von dem Stock des Aufsehers bedroht, dann mag die Empfindung einigermaßen derjenigen ähnlich sein, die jetzt der Fürst durchmachte.

»Was ist Ihnen?« fragte Aglaja hastig, indem sie sich nach ihm umwandte und naiv seinen Arm berührte.

Er drehte den Kopf nach ihr hin, sah sie an, blickte in ihre schwarzen Augen, die jetzt in einer ihm unverständlichen Weise funkelten, und machte den Versuch, ihr zuzulächeln; aber plötzlich, als hätte er sie sofort wieder vergessen, wandte er die Augen wieder nach rechts und verfolgte die ihn fesselnde Erscheinung weiter. Nastasja Filippowna ging soeben dicht an den Stühlen der jungen Damen vorüber. Jewgenij Pawlowitsch fuhr fort, Alexandra Iwanowna etwas wohl sehr Komisches und Interessantes zu erzählen, und sprach laut und lebhaft. Der Fürst erinnerte sich später, daß Aglaja auf einmal halblaut gesagt hatte: »Was für eine…«

Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts weiter hinzu, aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna, die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war, wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und schien erst jetzt Jewgenij Pawlowitsch zu bemerken.

»Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet… Ich dachte ja, du wärest dort… bei deinem Onkel!«

Jewgenij Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab.

»Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt, aber jetzt weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere sagen fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch eine große Erbschaft hinterlassen würde; aber er hat alles verjubelt. Ja, ja, der alte Mann führte ein ausschweifendes Leben… Nun, leb wohl, bonne chance! Also du fährst wirklich nicht hin? Da hast du ja noch glücklich zur rechten Zeit den Abschied genommen, du Schlaukopf! Ach, Unsinn, du hast es ja gewußt, hast es vorher gewußt: vielleicht wußtest du es schon gestern…«

Obgleich hinter dieser dreisten Zudringlichkeit und der öffentlichen Behauptung einer gar nicht existierenden Bekanntschaft und Intimität unbedingt eine besondere Absicht steckte und daran jetzt kein Zweifel mehr möglich war, so hatte Jewgenij Pawlowitsch doch zunächst noch geglaubt, er könne davonkommen, wenn er die Beleidigerin gar nicht beachte. Aber Nastasja Filippownas Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag; als er von dem Tod seines Onkels hörte, wurde er kreidebleich und wandte sich zu der Überbringerin dieser Nachricht hin. In diesem Augenblick erhob sich Lisaweta Prokofjewna schnell von ihrem Platz, winkte allen, ihr zu folgen, und entfernte sich fast laufend. Nur Fürst Lew Nikolajewitsch blieb noch einen Moment anscheinend unentschlossen auf seinem Platz, und Jewgenij Pawlowitsch stand immer noch wie besinnungslos da. Aber die Familie Jepantschin hatte sich noch nicht zwanzig Schritte entfernt, als sich eine furchtbare Skandalszene abspielte.

Der mit Jewgenij Pawlowitsch gut befreundete Offizier, der sich mit Aglaja unterhalten hatte, war im höchsten Grade empört.

»Da müßte man einfach eine Reitpeitsche nehmen, auf andere Art wird man mit diesem Geschöpf nicht fertig!« sagte er ziemlich laut. (Wie es schien, war er auch früher schon Jewgenij Pawlowitschs Vertrauter gewesen.)

Nastasja Filippowna wandte sich augenblicklich zu ihm um. Ihre Augen funkelten; sie stürzte auf einen ihr ganz unbekannten jungen Mann los, der zwei Schritte von ihr entfernt stand und ein dünnes, geflochtenes Spazierstöckchen in der Hand hatte, entriß es ihm und versetzte ihrem Beleidiger damit aus aller Kraft einen Schlag quer ins Gesicht. All dies vollzog sich in einer Sekunde… Der Offizier, vor Wut außer sich, stürzte sich auf sie; ihr Gefolge hatte Nastasja Filippowna nicht mehr um sich; der anständige Herr in mittleren Jahren hatte sich bereits aus dem Staube gemacht, und der angeheiterte Herr stand ein wenig abseits und lachte aus Leibeskräften. Eine Minute darauf wäre natürlich die Polizei erschienen, aber während dieser Minute wäre es Nastasja Filippowna schlimm ergangen, wenn ihr nicht eine unerwartete Hilfe gekommen wäre: der Fürst, der ebenfalls zwei Schritte entfernt stand, vermochte noch gerade den Offizier von hinten an den Armen zu fassen. Seinen Arm losreißend, versetzte ihm der Offizier einen starken Stoß gegen die Brust; der Fürst flog etwa drei Schritte zurück und fiel auf einen Stuhl. Aber nun erschienen bei Nastasja Filippowna bereits zwei Beschützer. Vor dem heranstürmenden Offizier stand der Boxer, der Verfasser jenes dem Leser bekannten Schmähartikels und aktives Mitglied der früheren Rogoshinschen Bande.

»Keller! Leutnant a. D.«, stellte er sich in affektiert forscher Weise vor. »Wenn Ihnen ein Faustkampf gefällig ist, Hauptmann, so stehe ich als Vertreter des schwachen Geschlechts zu Ihren Diensten; ich verstehe mich vorzüglich auf die englische Boxkunst. Nehmen Sie es nicht übel, Hauptmann; ich bedaure die Ihnen angetane blutige Beleidigung, aber ich kann nicht zugeben, daß jemand gegen eine Frau vor den Augen des Publikums vom Faustrecht Gebrauch macht. Wenn Sie aber, wie es sich für einen anständigen Mann schickt, die Sache in anderer Form zu erledigen wünschen, so … Sie werden mich selbstverständlich verstehen, Hauptmann…«

Aber der Hauptmann war schon zur Besinnung gekommen und hörte nicht mehr auf ihn hin. In diesem Augenblick tauchte Rogoshin aus der Menge auf, reichte Nastasja Filippowna schnell den Arm und zog sie hinter sich her. Rogoshin selbst schien furchtbar aufgeregt zu sein, er war blaß und zitterte. Während er Nastasja Filippowna wegführte, fand er noch Zeit, dem Offizier höhnisch ins Gesicht zu lachen und ihm mit der Miene eines triumphierenden Krämers zuzurufen:

»He! Da hast du’s abbekommen! Die ganze Visage voll Blut! Teufel auch!«

Der Offizier, der seine Fassung wiedererlangt hatte und sich darüber klargeworden war, an wen er sich zu halten hatte, wandte sich, das Gesicht mit dem Taschentuch verdeckend, höflich an den Fürsten, der bereits vom Stuhl wieder aufgestanden war:

»Sie sind Fürst Myschkin, dem ich das Vergnügen hatte vorgestellt zu werden?«

»Sie ist irrsinnig! Geisteskrank! Ich versichere es Ihnen!« antwortete der Fürst mit bebender Stimme und streckte ihm aus irgendeinem Grund seine zitternden Hände entgegen.

»Ich kann mich natürlich solcher Kenntnisse nicht rühmen; aber ich muß Ihren Namen wissen.«

Er nickte ihm zu und ging weg. Die Polizei erschien genau fünf Sekunden, nachdem die letzten beteiligten Personen verschwunden waren. Übrigens hatte der ganze Skandal nicht länger als zwei Minuten gedauert. Einige aus dem Publikum hatten sich von ihren Stühlen erhoben und waren weggegangen; andere hatten sich nur auf einen andern Platz gesetzt; wieder andere freuten sich gewaltig über die Skandalaffäre; andere schließlich begannen eifrig und mit lebhaftem Interesse darüber zu sprechen. Die Musikkapelle fing wieder an zu spielen. Der Fürst folgte den Jepantschins nach. Wenn er darauf verfallen wäre oder Zeit gehabt hätte, nach links zu blicken, als er infolge des Stoßes auf den Stuhl gefallen war, so hätte er zwanzig Schritte entfernt Aglaja erblickt, die stehengeblieben war, um die Skandalszene mit anzusehen, und nicht auf die Rufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern hörte, die schon weitergegangen waren. Fürst Schtsch., der zu ihr gelaufen kam, überredete sie endlich, schneller wegzugehen. Lisaweta Prokofjewna erinnerte sich später, daß Aglaja zu ihnen in einer solchen Aufregung zurückkam, daß sie ihre Rufe wohl kaum gehört haben konnte. Aber zwei Minuten darauf, als sie eben in den Park eingetreten waren, sagte Aglaja in ihrem gewöhnlichen, gleichgültigen, launischen Ton:

»Ich wollte nur sehen, wie die Komödie endete.«

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Kapitel 31

III

Der Vorfall in dem Vauxhall hatte die Mutter und die Töchter arg erschreckt. In ihrer Unruhe und Aufregung legten Lisaweta Prokofjewna und die Töchter den ganzen Weg vom Vauxhall nach ihrem Hause geradezu laufend Aber seine Gattin ging mit drohender Miene an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten und ohne ihn auch nur anzusehen. An den Augen seiner Töchter und des Fürsten Schtsch. erkannte er sogleich, daß es in seiner Familie gewitterte. Aber auch ohne das prägte sich auf seinem eigenen Gesicht eine ungewöhnliche Unruhe aus. Er faßte den Fürsten Schtsch. sogleich unter, hielt ihn am Hauseingang zurück und wechselte fast flüsternd einige Worte mit ihm. An den aufgeregten Mienen beider, als sie dann in die Veranda kamen und sich weiter zu Lisaweta Prokofjewna begaben, konnte man merken, daß sie beide eine ganz ungewöhnliche Nachricht erhalten hatten. Allmählich fanden sich alle oben bei Lisaweta Prokofjewna zusammen, und in der Veranda blieb schließlich nur der Fürst zurück. Er saß in einer Ecke, als wartete er auf etwas, ohne jedoch selbst zu wissen warum; angesichts der im Hause herrschenden Unruhe wegzugehen, das kam ihm gar nicht in den Sinn; es schien, als habe er die ganze Welt vergessen und sei bereit, auch zwei Jahre hintereinander da zu sitzen, wo man ihn hinsetzen würde. Von oben hörte er mitunter einzelne Laute eines aufgeregten Gesprächs. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er da schon so gesessen hatte. Es war spät geworden und schon ganz dunkel. Auf einmal kam Aglaja nach der Veranda heraus; sie war äußerlich ruhig, wenn auch etwas blaß. Als sie den Fürsten erblickte, den sie hier in der Ecke auf einem Stuhl zu treffen anscheinend nicht erwartet hatte, lächelte sie wie erstaunt.

»Was machen Sie denn hier?« fragte sie, an ihn herantretend.

Der Fürst murmelte verlegen eine Antwort und sprang vom Stuhl auf; aber Aglaja setzte sich sogleich neben ihn, und so ließ auch er sich wieder nieder. Sie blickte ihn aufmerksam an, dann sah sie wie gedankenlos durch das Fenster, dann wieder nach ihm hin. ›Vielleicht will sie sich über mich lustig machen‹, dachte der Fürst, ›aber nein, dann hätte sie es ja schon getan.‹

»Vielleicht möchten Sie Tee trinken, dann werde ich welchen bringen lassen«, sagte sie nach einigem Schweigen.

»N-nein … Ich weiß nicht…«

»Aber wie kann man denn so etwas nicht wissen? Ach ja, hören Sie: wenn Sie jemand zum Duell forderte, was würden Sie dann machen? Ich wollte Sie schon vorhin danach fragen.«

»Aber… wer sollte… es fordert mich ja niemand zum Duell.«

»Nun, aber wenn Sie gefordert würden? Würden Sie große Angst haben?«

»Ich glaube, ich würde mich sehr… fürchten.«

»Im Ernst? Also sind Sie feige?«

»N-nein; das vielleicht nicht. Feige ist derjenige, der sich fürchtet und davonläuft, aber wer sich fürchtet und nicht davonläuft, der braucht noch nicht feige zu sein«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lächelnd.

»Und Sie würden nicht weglaufen?«

»Vielleicht würde ich das nicht tun«, antwortete er, schließlich auflachend, auf Aglajas Fragen.

»Ich bin zwar ein Weib, aber ich würde unter keinen Umständen weglaufen«, bemerkte sie empfindlich. »Aber Sie machen sich über mich lustig und reden nach Ihrer Gewohnheit wunderliches Zeug, um sich interessant zu machen. Sagen Sie mal: die Duellanten schießen ja wohl gewöhnlich auf zwölf Schritte, manche auch auf zehn Schritte; also wird man sicher erschossen oder verwundet?«

»Beim Duell fällt wohl selten jemand.«

»Selten? Puschkin ist doch im Duell erschossen.«

»Das war vielleicht ein Zufall.«

»Ganz und gar kein Zufall; es war ein Duell auf Leben und Tod, und da wurde er erschossen.«

»Die Kugel traf ihn so weit unten, daß man annehmen muß, Dantès habe auf eine höhere Körperstelle gezielt, auf die Brust oder auf den Kopf. So weit nach unten zielt niemand, somit hat die Kugel Puschkin aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig getroffen, durch einen Fehlschuß. Das ist mir von kompetenten Leuten gesagt worden.«

»Aber mir hat ein Soldat, mit dem ich einmal sprach, gesagt, sie seien, wenn sie sich in Schützenschwärme auflösten, durch das Reglement ausdrücklich angewiesen, auf die Mitte des Menschen zu zielen; so lautet der Ausdruck bei ihnen: ›auf die Mitte des Menschen‹. Also die werden angewiesen, nicht nach der Brust oder nach dem Kopf, sondern absichtlich nach der Mitte des Körpers zu schießen. Ich fragte später einen Offizier danach, und der sagte mir, daß es sich genau so verhalte.«

»Das ist gewiß so angeordnet, weil da auf weite Entfernung geschossen wird.«

»Können Sie schießen?«

»Ich habe noch nie geschossen.«

»Können Sie wirklich nicht einmal eine Pistole laden?«

»Nein, das kann ich nicht. Das heißt, ich weiß, wie es gemacht wird, aber ich habe noch nie selbst eine geladen.«

»Nun, dann können Sie es auch nicht; denn dazu gehört praktische Erfahrung! Hören Sie mal zu und prägen Sie es sich gut ein: erstens kaufen Sie sich gutes Pistolenpulver, nicht feuchtes (es darf nicht feucht sein, sage ich, es muß ganz trocken sein), recht feines; solches müssen Sie gleich fordern, nicht solches, mit dem man aus Kanonen schießt. Die Kugel gießt man sich irgendwie selbst. Haben Sie Pistolen?«

»Nein, ich brauche auch keine«, versetzte der Fürst lachend.

»Ach, dummes Zeug! Kaufen Sie sich unter allen Umständen eine: eine gute französische oder englische; das sind die besten, sage ich Ihnen. Dann nehmen Sie Pulver, etwa einen Fingerhut voll oder vielleicht zwei, und schütten Sie es hinein! Lieber ein bißchen mehr. Drücken Sie es mit Filz fest (Filz ist unbedingt nötig, sage ich Ihnen); den können Sie sich leicht irgendwoher beschaffen, von einer Matratze; auch die Türen werden manchmal mit Filz beschlagen. Dann, wenn Sie den Filz hineingestopft haben, legen Sie die Kugel darauf; hören Sie wohl: die Kugel nachher, das Pulver zuerst, sonst schießt es nicht. Warum lachen Sie? Ich will, daß Sie täglich ein paarmal schießen und unbedingt ein Ziel treffen lernen. Werden Sie das auch tun?«

Der Fürst lachte; Aglaja stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Ihre ernste Miene bei einem solchen Gespräch setzte den Fürsten einigermaßen in Erstaunen. Er hatte die unklare Empfindung, daß er hier etwas in Erfahrung bringen, nach etwas fragen müsse, und zwar jedenfalls nach etwas Ernsthafterem, als es das Laden einer Pistole war. Aber all das war ihm aus dem Sinn entschwunden, und er fühlte nur das eine, daß sie vor ihm saß und er sie ansah; worüber sie redete, das war ihm in diesem Augenblick so gut wie gleichgültig.

Endlich kam Iwan Fjodorowitsch selbst von oben nach der Veranda herunter; er hatte noch einen Gang vor; seine Miene war finster und sorgenvoll, zeigte aber feste Entschlossenheit.

»Ah, Lew Nikolajitsch, du bist hier… Wo willst du denn jetzt hin?« fragte er, obwohl dieser gar nicht daran dachte, sich von seinem Platz zu rühren. »Komm mit, ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

»Auf Wiedersehen!« sagte Aglaja und reichte dem Fürsten die Hand.

In der Veranda war es schon recht dunkel, und der Fürst konnte jetzt ihren Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen. Gleich darauf, als er bereits mit dem General das Landhaus verließ, errötete er plötzlich stark und preßte seine rechte Hand fest zusammen.

Es stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch mit ihm den gleichen Weg hatte; der General ging trotz der späten Stunde noch eilig fort, um mit jemand etwas zu besprechen. Zunächst aber begann er jetzt mit dem Fürsten zu reden, Hastig, aufgeregt, unzusammenhängend, und erwähnte in dem Gespräch häufig Lisaweta Prokofjewna. Hätte der Fürst in diesem Augenblick aufmerksamer sein können, so würde er vielleicht gemerkt haben, daß Iwan Fjodorowitsch unter anderm auch von ihm etwas herauszubringen oder, richtiger ausgedrückt, ihn offen und geradezu nach etwas zu fragen wünschte, es aber immer nicht fertigbrachte, den Hauptpunkt zu berühren. Zu seiner Schande war aber der Fürst in einem Maße zerstreut, daß er gleich von vornherein nichts hörte und, als der General mit einer eifrigen Frage vor ihm stehenblieb, bekennen mußte, daß er nichts verstanden habe.

Der General zuckte mit den Achseln.

»Was seid ihr alle für sonderbare Menschen geworden«, begann er dann von neuem. »Ich sage dir, ich begreife gar nicht, was Lisaweta Prokofjewna sich für Gedanken macht und warum sie sich so aufregt. Sie ist furchtbar nervös und weint und sagt, wir seien beschimpft und an den Pranger gestellt worden. Wer hätte das getan? Wie? Wodurch? Wann und warum? Ich gestehe, daß ich einen Teil der Schuld trage (das gebe ich zu), einen großen Teil der Schuld, aber den Zudringlichkeiten dieses… dieses unruhigen Weibes (obendrein ist auch ihr Benehmen schlecht) muß schließlich durch die Polizei ein Ende gemacht werden, und ich beabsichtige gleich heute, zu diesem Zweck mit jemand zu sprechen und der Sache einen Riegel vorzuschieben. Man kann all dergleichen im stillen, im guten, sogar in freundlicher Weise, durch gute Bekannte und ohne alles Aufsehen abmachen. Ich gebe auch zu, daß die Zukunft noch manche Überraschungen in ihrem Schoß birgt und daß vieles noch unaufgeklärt ist; es steckt eine Intrige dahinter; aber wenn man hier nichts weiß und dort nichts zu erklären vermag und wenn ich nichts gehört habe und du nichts gehört hast und jener nichts gehört hat und ein vierter ebenfalls nichts gehört hat: wer hat denn schließlich etwas davon gehört, frage ich dich? Wie soll man das deiner Ansicht nach erklären, wenn man nicht sagen will, die Sache sei zur Hälfte eine Luftspiegelung, etwas nicht Existierendes, in der Art wie das Mondlicht… oder andere Visionen?«

»Sie ist geisteskrank«, murmelte der Fürst, der sich plötzlich mit Schmerz an den ganzen Vorfall von vorhin erinnerte.

»Das habe ich auch geglaubt, wenn du damit dieses Weib meinst. Auch mir war dieser Gedanke gekommen, und dann schlief ich ruhig ein. Aber jetzt sehe ich, daß sie doch sehr folgerichtig denkt, und glaube nicht mehr an ihre Geisteskrankheit. Ein launisches Weib, gewiß, dabei aber scharfsinnig und ganz und gar nicht verrückt. Ihre heutigen Ausfälle gegen Kapiton Alexejitsch beweisen das deutlich. Es liegt ihrerseits ein gaunerisches, das heißt mindestens ein jesuitisches Verfahren vor, bei dem sie bestimmte Ziele verfolgt.«

»Was ist das für ein Kapiton Alexejitsch?«

»Ach, mein Gott, Lew Nikolajitsch, du hörst ja gar nicht zu! Ich habe ja damit angefangen, dir von Kapiton Alexejitsch zu erzählen; ich bin so erschüttert, daß mir noch jetzt Arme und Beine zittern. Darum bin ich ja auch heute so lange in der Stadt geblieben. Es handelt sich um Kapiton Alexejitsch Radomskij, den Onkel Jewgenij Pawlowitschs.«

»Nun, was ist mit ihm?« rief der Fürst.

»Er hat sich erschossen, heute morgen um sieben Uhr. Ein allgemein geachteter Greis, siebzigjährig, ein Epikureer. Und ganz wie sie gesagt hat: es fehlen Staatsgelder, eine bedeutende Summe!«

»Woher hat sie denn…«

»Woher sie das erfahren hat? Haha! Es hat sich ja um sie schon ein ganzer Stab gebildet, sobald sie nur hier erschienen ist. Weißt du nicht, was für Leute sie jetzt besuchen und sich um die ›Ehre ihrer Bekanntschaft‹ bemühen? Sie konnte das heute auf die einfachste Weise von Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, erfahren, denn jetzt weiß es schon ganz Petersburg und hier halb Pawlowsk oder auch schon ganz Pawlowsk. Aber wie fein war ihre Bemerkung über die Uniform – sie ist mir wiedererzählt worden –, das heißt in bezug darauf, daß Jewgenij Pawlytsch rechtzeitig den Abschied genommen habe! Das war eine teuflische Anspielung! Nein, das weist nicht auf Geisteskrankheit hin. Ich kann natürlich nicht glauben, daß Jewgenij Pawlytsch von der Katastrophe etwas im voraus wissen konnte, das heißt, daß am Soundsovielten, um sieben Uhr morgens und so weiter. Aber er konnte all das wenigstens ahnen. Und ich und wir alle, auch Fürst Schtsch., rechneten damit, daß der Onkel ihm noch eine hübsche Erbschaft hinterlassen würde! Es ist furchtbar! Geradezu furchtbar! Versteh mich übrigens recht: ich spreche gegen Jewgenij Pawlytsch keinerlei Beschuldigung aus und beeile mich, dir das ausdrücklich zu erklären, aber verdächtig ist die Sache trotz alledem. Fürst Schtsch. ist tief erschüttert. Das alles ist so seltsam über uns hereingebrochen.«

»Aber was ist denn an Jewgenij Pawlytschs Benehmen verdächtig?«

»Gar nichts! Er hat sich durchaus anständig benommen. Ich habe ja auch nichts Derartiges angedeutet. Sein eigenes Vermögen, denke ich, ist unversehrt. Lisaweta Prokofjewna will davon natürlich nichts hören… Aber die Hauptsache sind all diese Familienkatastrophen oder, richtiger gesagt, all diese Zänkereien – man weiß gar nicht, wie man es nennen soll… Du bist ja, das muß man wirklich sagen, ein Freund unseres Hauses, Lew Nikolajitsch; nun denk dir einmal, eben kommt zur Sprache, wenn auch nicht in genauer, zuverlässiger Form, daß Jewgenij Pawlytsch schon vor mehr als einem Monat Aglaja einen Heiratsantrag gemacht und von ihr in aller Form einen Korb erhalten hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief der Fürst lebhaft.

»Aber weißt du denn vielleicht etwas darüber? Siehst du, Teuerster«, sagte der General, indem er erschrocken zusammenfuhr und wie angenagelt auf dem Fleck stehenblieb, »ich habe dir vielleicht unpassenderweise mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen, aber das ist mir so entschlüpft, weil du… weil du… man kann sagen, weil du ein solcher Mensch bist. Vielleicht weißt du irgend etwas Besonderes?«

»Ich weiß nichts… von Jewgenij Pawlytsch«, murmelte der Fürst.

»Auch ich weiß nichts! Mich… mich, mein Lieber, behandeln alle geradezu, als ob ich schon tot und begraben wäre und von nichts mehr zu wissen brauchte, und können dabei gar nicht verstehen, daß das für einen Menschen peinlich ist und daß ich das nicht ertragen kann. Eben habe ich da eine Szene erlebt, es war schrecklich! Ich rede mit dir, als wärst du mein Sohn. Die Hauptsache ist: Aglaja macht sich geradezu über ihre Mutter lustig. Daß sie anscheinend vor einem Monat Jewgenij Pawlytsch einen Korb gegeben und daß zwischen ihnen eine ziemlich formelle Auseinandersetzung stattgefunden hat, haben uns die Schwestern als Vermutung mitgeteilt… übrigens als sichere Vermutung. Aber sie ist ja ein so eigenwilliges, phantastisches Wesen, daß es gar nicht zu sagen ist! Sie besitzt die prächtigsten, glänzendsten Eigenschaften des Geistes und Herzens, gewiß, zugegeben, aber dabei ist sie launisch und spottlustig, kurz, ein reiner Kobold, und hat immer phantastische Einfälle. Über ihre Mutter hat sie sich jetzt eben gerade ins Gesicht lustig gemacht, ebenso über ihre Schwestern und den Fürsten Schtsch. Von mir brauche ich erst gar nicht zu reden; über mich macht sie sich eigentlich fortwährend lustig, aber, weißt du, ich liebe sie doch und habe es sogar gern, daß sie sich über unsereinen lustig macht, – und wie es scheint, liebt mich dieser Kobold deswegen ganz besonders, das heißt mehr, als sie alle andern liebt. Ich möchte darauf wetten, daß sie sich auch über dich schon lustig gemacht hat. Ich fand euch hier eben im Gespräch begriffen, als ich von der erregten Szene oben herunterkam; sie saß da mit dir zusammen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.«

Der Fürst wurde furchtbar rot und preßte seine rechte Hand zusammen, aber er schwieg.

»Mein lieber, guter Lew Nikolajitsch!« sagte der General auf einmal mit warmer Empfindung. »Ich… und sogar Lisaweta Prokofjewna selbst (die übrigens wieder angefangen hat, auf dich zu schimpfen und zugleich in zweiter Linie auch auf mich, ich weiß nicht, weswegen eigentlich), wir lieben dich trotz alledem, wir lieben und achten dich aufrichtig, trotz aller Äußerlichkeiten. Du mußt aber selbst zugeben, lieber Freund, du mußt selbst zugeben: was ist das auf einmal für ein Rätsel und für ein Ärger, wenn man hört, wie dieser kaltblütige Kobold (denn sie stand vor ihrer Mutter mit dem Ausdruck tiefster Verachtung für all unsere Fragen und namentlich für die meinigen, weil ich, hol’s der Teufel, die Dummheit begangen hatte, streng zu sein, wo ich doch das Oberhaupt der Familie bin, – na, das war eben eine Dummheit), wie dieser kaltblütige Kobold auf einmal lächelnd erklärt, daß diese ›Geisteskranke‹ (so drückte sie sich aus, und es kommt mir merkwürdig vor, daß sie sich desselben Wortes bediente wie du: ›Habt ihr denn das noch nicht gemerkt?‹ sagte sie), daß diese Geisteskranke ›es sich in den Kopf gesetzt hat, mich um jeden Preis mit Lew Nikolajitsch zu verheiraten, und zu diesem Zwecke Jewgenij Pawlytsch aus unserm Haus herausschaffen möchte‹… Mehr sagte sie nicht, sie gab keine weiteren Erklärungen, lachte für sich, wir rissen erstaunt den Mund auf, sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Dann erzählten mir die Meinigen von der Szene, die sich vorhin zwischen ihr und dir abgespielt hat… und… und… hör mal, lieber Fürst, du bist ein sehr verständiger Mensch und nicht empfindlich, das habe ich an dir wahrgenommen, aber… werde nicht böse: sie macht sich, weiß Gott, über dich lustig. Wie ein Kind macht sie sich über andere Leute lustig, und darum sei ihr nicht böse, aber es verhält sich bestimmt so. Mach dir darüber weiter keine Gedanken – sie hält dich und uns alle einfach zum Narren, so zum Zeitvertreib. Aber nun leb wohl! Du kennst doch unsere Gesinnung? Unsere herzliche Zuneigung zu dir? Die ist unwandelbar, für alle Zeit und in jeder Hinsicht… aber… ich muß jetzt hier abbiegen, auf Wiedersehn! Selten in meinem Leben habe ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt… O weh, ist das eine Sommerfrische!«

Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gespräches mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers:

»Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht.

PS. Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemand zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, wobei ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete.

PP. SS. Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.«

Der Zettel war eilig geschrieben und ohne Sorgfalt zusammengefaltet, aller Wahrscheinlichkeit nach kurz bevor Aglaja nach der Veranda herausgekommen war. In einer unsagbaren Aufregung, die mit Angst Ähnlichkeit hatte, drückte der Fürst den Zettel wieder in der Hand zusammen und sprang schnell wie ein erschreckter Dieb vom Fenster und vom Licht zurück, aber bei dieser Bewegung stieß er auf einmal heftig mit einem Herrn zusammen, der unmittelbar hinter ihm stand.

»Ich bin Ihnen gefolgt, Fürst«, sagte der Herr.

»Sie sind es, Keller?« rief der Fürst erstaunt.

»Ich möchte mit Ihnen reden, Fürst. Ich habe bei dem Jepantschinschen Landhaus auf Sie gewartet; hineingehen konnte ich natürlich nicht. Ich bin hinter Ihnen hergegangen, während Sie mit dem General gingen. Ich stehe zu Ihren Diensten, Fürst; verfügen Sie über Keller. Ich bin bereit, für Sie jedes Opfer zu bringen und, wenn es sein muß, sogar zu sterben.«

»Aber… weshalb denn?«

»Nun, es wird jetzt jedenfalls eine Herausforderung zum Duell erfolgen. Dieser Leutnant Molowzow, ich kenne ihn, das heißt nicht persönlich… er wird die Beleidigung nicht so hinnehmen. Unsereinen, das heißt mich und Rogoshin, hält er natürlich für Pack, und vielleicht verdientermaßen; auf diese Weise fällt die Verantwortung allein Ihnen zu. Sie werden die Zeche bezahlen müssen, Fürst. Er hat sich, wie ich gehört habe, nach Ihnen erkundigt, und es wird sich gewiß morgen einer seiner Freunde bei Ihnen einfinden, vielleicht wartet er auch jetzt schon auf Sie. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich als Sekundanten zu nehmen, so bin ich bereit, alles auf mich zu nehmen; darum habe ich Sie aufgesucht, Fürst.«

»Also auch Sie reden von einem Duell!« rief der Fürst lachend zu Kellers größtem Erstaunen. Er lachte gewaltig. Keller, der wirklich von Unruhe gepeinigt worden war, bis er es zu seiner Beruhigung fertiggebracht hatte, sich als Sekundanten anzubieten, fühlte sich beinah beleidigt, als er den Fürsten so heiter lachen sah.

»Sie haben ihn aber vorhin bei den Armen gepackt, Fürst. Das kann sich ein anständiger Mensch vor den Augen des Publikums schwerlich gefallen lassen.«

»Und er hat mich vor die Brust gestoßen!« rief der Fürst lachend. »Wir haben keinen Grund, uns zu duellieren! Ich werde ihn um Verzeihung bitten, und damit ist die Sache erledigt. Wenn es aber zum Duell kommen soll, mir ist’s recht! Mag er schießen; ich wünsche es sogar. Haha! Ich verstehe jetzt eine Pistole zu laden! Verstehen Sie eine Pistole zu laden, Keller? Zuerst muß man Pulver kaufen, Pistolenpulver, nicht feuchtes und nicht so grobes wie das, womit man aus Kanonen schießt; dann muß man zuerst das Pulver hineintun, darauf Filz, den man von einer Tür abreißt, und dann schiebt man die Kugel hinein, aber nicht die Kugel vor dem Pulver, weil es sonst nicht schießt. Hören Sie wohl, Keller: weil es sonst nicht schießt. Haha! Ist das nicht eine ausgezeichnete Begründung, Freund Keller? Ach, Keller, wissen Sie, ich werde Sie gleich umarmen und küssen. Hahaha! Wie ging das nur zu, daß Sie vorhin in dem Vauxhall so plötzlich vor ihm standen? Kommen Sie möglichst bald einmal zu mir Champagner trinken! Wir wollen uns alle gehörig bezechen! Wissen Sie, daß ich zwölf Flaschen Champagner in Lebedews Keller liegen habe? Lebedew hat sie mir vorgestern als Gelegenheitskauf angeboten, gleich am andern Tag, nachdem ich zu ihm gezogen war, ich habe sie alle gekauft! Ich werde die ganze Gesellschaft zusammen einladen! Wie ist’s, werden Sie heute nacht schlafen?«

»Wie jede Nacht, Fürst.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume! Haha!«

Der Fürst ging quer über die Straße und verschwand im Park; Keller blieb sehr verwundert und nachdenklich stehen. Er hatte den Fürsten noch nie in einem so sonderbaren Zustand gesehen und ihn sich bisher auch nicht so vorstellen können.

›Vielleicht fiebert er, denn er ist ein nervöser Mensch, und das alles hat eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt, aber feige ist er gewiß nicht. Gerade solche Leute sind nicht feige, weiß Gott!‹ dachte Keller bei sich. ›Hm! Champagner! Das ist doch eine sehr interessante Mitteilung. Zwölf Flaschen, ein Dutzend; das läßt sich hören: eine ordentliche Batterie! Ich möchte wetten, daß Lebedew den Champagner von irgend jemand als Pfand bekommen hat. Hm!… Er ist aber doch recht liebenswürdig, dieser Fürst; wirklich, ich habe solche Menschen gern, aber es ist keine Zeit zu verlieren, und… wenn Champagner da ist, so ist das gerade die richtige Zeit…‹

Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, war natürlich ganz richtig.

Er schweifte lange im dunklen Park umher und kam endlich zu sich, als er in einer Allee auf und ab ging. In seinem Bewußtsein haftete die Erinnerung, daß er in dieser Allee, von einer Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens bei einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein lautes Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen vorhanden, aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können und daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig gewesen war… ›Ah!‹ dachte er und blieb, von einem andern Gedanken überrascht, stehen, ›vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und lachte so … und fing an, vom Teetrinken zu reden, und doch hatte sie in diesem Augenblick schon den Zettel in der Hand; folglich wußte sie unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie dann also so erstaunt? Hahaha!‹

Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken.

»Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein Weilchen darauf beinahe traurig. In Augenblicken einer starken Freude wurde er stets traurig, er wußte selbst nicht warum. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er hierhergeraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik im Vauxhall hatte schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme, helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni, aber in dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand, war es schon fast ganz dunkel.

Wenn ihm jemand in diesem Augenblick gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt, und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen Menschen«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten. Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte, aber er fand diesen Mutwillen ganz natürlich und regte sich darüber nicht auf; etwas ganz anderes war es, was ihn beschäftigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Die Bemerkung, die kurz vorher dem General in seiner Erregung entschlüpft war, daß sie sich über alle und namentlich über ihn, den Fürsten, lustig mache, hielt er für vollkommen richtig. Er fühlte sich dadurch auch nicht im geringsten verletzt, seiner Meinung nach mußte es so sein. Die Hauptsache war für ihn, daß er sie am nächsten Tage frühmorgens wiedersehen, neben ihr auf der grünen Bank sitzen, die Belehrung über das Laden von Pistolen anhören und sie ansehen würde. Weiter hatte er keinen Wunsch. Die Frage, was sie ihm eigentlich sagen wollte und was das für eine wichtige, ihn direkt angehende Angelegenheit war, tauchte ebenfalls ein- oder zweimal in seinem Kopf auf. An der tatsächlichen Existenz dieser »wichtigen Angelegenheit«, um derentwillen er zum Rendezvous bestellt war, zweifelte er übrigens keinen Augenblick, aber er dachte an diese wichtige Angelegenheit jetzt fast gar nicht, so wenig, daß er nicht einmal den geringsten Drang verspürte, daran zu denken.

Das Knirschen leiser Schritte auf dem Sand der Allee veranlaßte ihn, den Kopf zu heben. Ein Mensch, dessen Gesicht in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, näherte sich der Bank und setzte sich neben ihn. Der Fürst rückte schnell nahe an ihn heran und erkannte das bleiche Gesicht Rogoshins.

»Das habe ich doch gewußt, daß du hier irgendwo umherschweifst, ich habe auch nicht lange zu suchen brauchen«, murmelte Rogoshin durch die Zähne.

Es war das erstemal seit ihrer Begegnung auf der Treppe des Gasthauses, daß sie miteinander zusammentrafen. Überrascht durch Rogoshins plötzliches Erscheinen, konnte der Fürst eine Weile nicht seine Gedanken sammeln, und eine qualvolle Empfindung wurde in seinem Herzen wieder wach. Rogoshin hatte offenbar Verständnis für den Eindruck, den er hervorrief; aber obgleich er anfänglich verwirrt zu sein und mit einer Art gekünstelter Ungezwungenheit zu reden schien, schien es dem Fürsten doch bald, daß sein Benehmen ungekünstelt und nicht einmal besonders verlegen war: wenn eine gewisse Ungeschicklichkeit in seinen Gesten und seiner Redeweise zutage trat, so war das nur äußerlich; im Herzen konnte sich dieser Mensch nicht verändern.

»Wie hast du… mich denn hier gefunden?« fragte der Fürst, um etwas zu sagen.

»Ich hatte von Keller gehört (ich war nämlich in deiner Wohnung), du wärest in den Park gegangen; na, dachte ich, dann ist die Sache richtig.«

»Was heißt das: ›die Sache ist richtig‹?« fragte der Fürst, indem er aufgeregt den Ausdruck aufgriff, der dem andern entschlüpft war.

Rogoshin lächelte, gab aber keine Erklärung.

»Ich habe deinen Brief erhalten, Lew Nikolajitsch; du hast dir unnütze Mühe gemacht…, wozu tust du das nur!… Jetzt aber komme ich zu dir in ihrem Auftrag: du sollst unbedingt zu ihr kommen; sie hat dir etwas zu sagen. Sie läßt dich bitten, noch heute hinzukommen.«

»Ich werde morgen kommen. Ich gehe jetzt gleich nach Hause. Willst du nicht… zu mir kommen?«

»Wozu? Ich habe dir alles Nötige gesagt. Leb wohl!«

»Willst du nicht doch mitgehen?« fragte ihn der Fürst leise.

»Du bist ein sonderbarer Mensch, Lew Nikolajitsch; man muß sich über dich wundern.«

Rogoshin lächelte spöttisch.

»Warum? Weshalb hast du jetzt einen solchen Groll gegen mich?« fragte ihn der Fürst traurig und mit leidenschaftlicher Empfindung. »Du weißt ja jetzt selbst, daß alles, was du gedacht hast, unwahr ist. Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß dein Groll gegen mich noch nicht vergangen sein würde, und weißt du weshalb? Weil du mir nach dem Leben getrachtet hast, darum vergeht dein Groll nicht. Ich sage dir, ich erinnere mich nur an jenen Parfen Rogoshin, mit dem ich an jenem Tag das Kreuz gewechselt habe; ich habe dir das in meinem gestrigen Brief geschrieben, damit du diesen ganzen Fieberwahn vergessen und nicht mit mir davon zu reden anfangen möchtest. Warum rückst du von mir weg? Warum versteckst du deine Hand vor mir? Ich sage dir, daß ich alles damals Geschehene nur für einen Fieberwahn halte: ich kenne dich, wie du an jenem ganzen Tage warst, durch und durch, wie mich selbst. Das, was du dir einbildest, hat nicht existiert und konnte nicht existieren. Warum soll unser Groll fortdauern?«

»Was kannst du denn für Groll empfinden?« erwiderte Rogoshin, wieder lachend, auf die warmen Worte des Fürsten. Er stand wirklich etwas von ihm entfernt, da er ein paar Schritte zurückgewichen war, und hielt seine Hände versteckt.

»Es schickt sich jetzt für mich überhaupt nicht, zu dir zu kommen, Lew Nikolajitsch«, fügte er langsam und bedeutsam zum Schluß hinzu.

»So sehr haßt du mich also? Wie?«

»Ich liebe dich nicht, Lew Nikolajitsch, also warum sollte ich zu dir kommen? Ach, Fürst, du bist ganz wie ein kleines Kind: du möchtest ein Spielzeug haben; ›gib her, gib her!‹ heißt es, aber du verstehst von der Sache gar nichts. Was du jetzt sagst, hast du mir alles ganz ebenso in deinem Brief geschrieben; meinst du denn, daß ich dir nicht glaube? Ich glaube jedes Wort, das du sagst, und weiß, daß du mich nie getäuscht hast und nie täuschen wirst; aber ich liebe dich trotzdem nicht. Du schreibst mir, du hättest alles vergessen und erinnerst dich nur an deinen Kreuzbruder Rogoshin, aber nicht an jenen Rogoshin, der damals das Messer gegen dich gezückt habe. Aber woher kennst du denn meine Gefühle?« Rogoshin lächelte wieder.) »Ich habe das vielleicht seitdem noch nie bereut, und du hast mir schon deine brüderliche Verzeihung geschickt. Vielleicht habe ich gleich an jenem selben Abend schon an etwas ganz anderes gedacht und diese Geschichte…«

»Und diese Geschichte vergessen!« fiel der Fürst ein.

»Wie könnte es auch anders sein! Ich möchte wetten, daß jedesmal, wenn sie den Betreffenden ansieht, denkt: Jetzt quäle ich ihn halbtot, aber nachher werde ich durch meine Liebe alles wiedergutmachen›…«

Rogoshin lachte, als er den Fürsten das sagen hörte.

»Hör mal, Fürst, du bist wohl selbst an so eine geraten? Ich habe so etwas über dich gehört, wenn’s wahr ist.«

»Was kannst du gehört haben? Was?« fragte der Fürst, der plötzlich zusammenfuhr und in großer Bestürzung stehenblieb.

Rogoshin fuhr fort zu lachen. Er hatte mit Interesse und vielleicht nicht ohne Vergnügen dem Fürsten zugehört; die freudige, warme Begeisterung des Fürsten imponierte ihm und ermutigte ihn.

»Und ich habe nicht nur etwas gehört, sondern ich sehe jetzt auch selbst, daß es wahr ist«, fügte er hinzu. »Wann hättest du denn jemals so geredet wie jetzt? Deine Reden klingen ja gar nicht, als ob sie von dir kämen. Hätte ich nicht so etwas über dich gehört, so würde ich nicht zu dir gekommen sein, noch dazu in den Park, um Mitternacht.«

»Ich verstehe dich absolut nicht, Parfen Semjonytsch.«

»Sie hat mir das schon vor längerer Zeit von dir gesagt, und vorhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen, als du mit der andern bei der Musik saßest. Sie hat mir geschworen, gestern und heute hat sie mir geschworen, daß du in Aglaja Jepantschina wie ein Kater verliebt seist. Mir ist das ganz gleichgültig, Fürst, das geht mich nichts an: wenn du sie auch nicht mehr liebst, so liebt doch sie dich noch immer. Du weißt ja, daß sie aus dir und jener andern unter allen Umständen ein Paar machen will, das hat sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt, hehe! Sie sagt zu mir: ›Sonst heirate ich dich nicht; wenn die beiden zum Traualtar gehen, dann wollen wir es auch tun.‹ Was das zu bedeuten hat, habe ich nie begriffen und begreife ich auch jetzt nicht: entweder liebt sie dich grenzenlos oder… wenn sie dich liebt, wie kann sie dann wünschen, daß du eine andere heiratest? Sie sagt: ›Ich will ihn glücklich sehen‹, also liebt sie dich.«

»Ich habe dir gesagt und geschrieben, daß sie… nicht bei Sinnen ist«, sagte der Fürst, der Rogoshin mit innerer Qual angehört hatte.

»Gott mag’s wissen! Vielleicht irrst du dich auch… Übrigens hat sie heute, als ich sie von der Musik nach Hause brachte, unsern Hochzeitstag bestimmt: ›In drei Wochen‹, sagt sie, ›vielleicht auch schon früher, wollen wir uns bestimmt trauen lassen.‹ Sie hat es geschworen, hat das Heiligenbild von der Wand genommen und geküßt. Also hängt die Sache jetzt von dir ab, Fürst, hehe!«

»Das ist lauter irres Gerede! Das, was du da von mir sagst, kann nie geschehen! Ich werde morgen zu euch kommen…«

»Wie soll sie denn geisteskrank sein?« bemerkte Rogoshin. »Allen andern scheint sie bei Verstand zu sein, und nur du hältst sie für verrückt. Wie könnte sie denn Briefe dorthin schreiben? Wenn sie geisteskrank wäre, dann würde es doch auch dort an den Briefen gemerkt werden.«

»Was für Briefe?« fragte der Fürst erschrocken.

»Sie schreibt dorthin, an jene, und die liest es. Weißt du das denn nicht? Na, dann wirst du es schon noch erfahren; sie wird dir die Briefe schon selbst zeigen.«

»Das kann ich nicht glauben!« rief der Fürst.

»O weh! Du, Lew Nikolajitsch, hast, wie ich sehe, auf diesem Gebiet noch nicht viel Erfahrung, sondern bist noch ein Anfänger. Warte nur ein bißchen: du wirst dir deine eigene Polizei halten und selbst Tag und Nacht auf dem Posten sein und jeden Schritt von dort in Erfahrung bringen, wenn du nur erst…«

»Laß das und rede nie wieder davon!« rief der Fürst. »Höre, Parfen, ich bin hier soeben, bevor du kamst, umhergegangen und fing auf einmal an zu lachen, worüber, weiß ich selbst nicht, aber der äußere Anlaß war, daß mir einfiel, daß gerade morgen mein Geburtstag ist. Jetzt ist es bald zwölf Uhr. Komm mit, wir wollen den Tag zusammen begrüßen! Ich habe Wein zu Hause, den wollen wir trinken, wünsche du mir das, was ich mir selbst jetzt nicht zu wünschen weiß, ich lege Wert darauf, daß gerade du es mir wünschst, und ich werde dir wünschen, daß du vollkommen glücklich wirst. Sonst mußt du mir das Kreuz zurückgeben! Du hast mir das Kreuz damals doch nicht am nächsten Tag zurückgeschickt! Du trägst es doch noch? Trägst du es auch in diesem Augenblick?«

»Ja, ich trage es«, antwortete Rogoshin.

»Nun, dann wollen wir gehen! Ich will mein neues Leben nicht ohne dich antreten, denn es hat allerdings ein neues Leben für mich begonnen! Weißt du es nicht, Parfen, daß heute für mich ein neues Leben begonnen hat?«

»Jetzt sehe ich selbst und weiß selbst, daß das der Fall ist; ich werde es auch ihr berichten. Du bist ja ganz außer dir, Lew Nikolajitsch!«

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Kapitel 32

IV

Mit großem Vergnügen bemerkte der Fürst, als er sich mit Rogoshin seinem Landhause näherte, daß in seiner hell erleuchteten Veranda eine zahlreiche, lärmende Gesellschaft versammelt war. Es wurde lustig gelacht und geredet, anscheinend sogar unter Geschrei debattiert; man erkannte auf den ersten Blick, daß diese Leute die Zeit höchst heiter verbrachten. Und wirklich sah er, als er zur Veranda hinaufgestiegen war, daß alle tranken, und zwar Champagner tranken und dies, wie es schien, schon ziemlich lange getan hatten, so daß viele der Zechenden sich bereits in einem sehr angenehmen, angeregten Zustand befanden. Die Gäste waren lauter Bekannte des Fürsten, aber es war merkwürdig, daß sie sich alle auf einmal wie auf eine Einladung zusammengefunden hatten, obwohl der Fürst in Wirklichkeit niemand eingeladen und sich an seinen Geburtstag selbst soeben nur zufällig erinnert hatte.

»Du hast gewiß jemand mitgeteilt, daß du Champagner spendierst, und da sind sie zusammengelaufen«, murmelte Rogoshin, als er hinter dem Fürsten die Veranda betrat. »Das kenne ich; solchen Leuten braucht man nur zu pfeifen…«, fügte er ingrimmig hinzu, offenbar in Erinnerung an seine eigene, noch nicht weit zurückliegende Vergangenheit.

Alle begrüßten den Fürsten mit Freudenrufen und Glückwünschen und umringten ihn. Manche machten dabei viel Lärm, andere benahmen sich ruhiger, aber alle beeilten sich, ihm zu gratulieren, da sie von seinem Geburtstag gehört hatten, und jeder wartete auf den Augenblick, wo er an die Reihe kommen würde. Die Anwesenheit mancher Persönlichkeiten, so zum Beispiel Burdowskijs, war dem Fürsten interessant, aber am erstaunlichsten war es ihm, daß sich auch Jewgenij Pawlowitsch in dieser Gesellschaft befand; der Fürst traute kaum seinen Augen und bekam beinah einen Schreck, als er ihn erblickte.

Unterdessen kam auch Lebedew, mit gerötetem Gesicht und sehr enthusiasmiert, herbeigelaufen und erklärte den Hergang; er war schon in hohem Grade fertig. Aus seinem Geschwätz war zu entnehmen, daß alle sich ganz natürlich, ja zufällig zusammengefunden hatten. Am frühesten von allen, noch vor Abend, war Ippolit gekommen und hatte, da er sich weit besser fühlte, den Fürsten in der Veranda zu erwarten gewünscht. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht; dann war Lebedew hinzugekommen, hierauf dessen ganze Familie, das heißt General Iwolgin und die Töchter. Burdowskij war zugleich mit Ippolit angekommen, den er herbegleitet hatte. Ganja und Ptizyn waren erst vor kurzem, als sie gerade vorübergingen, eingetreten ihr Erscheinen fiel mit den Vorgängen im Vauxhall zusammen); darauf war Keller erschienen, hatte von dem Geburtstag Mitteilung gemacht und Champagner verlangt. Jewgenij Pawlowitsch hatte sich erst vor einer halben Stunde eingefunden. Auf das Champagnertrinken und die Veranstaltung eines Festes hatte auch Kolja mit aller Energie gedrungen. Lebedew hatte bereitwillig Wein aufgetragen.

»Aber von meinem eigenen, von meinem eigenen!« beteuerte er dem Fürsten lallend. »Auf meine eigenen Kosten, um Ihren Geburtstag festlich zu begehen und Ihnen zu gratulieren; es wird auch etwas zu essen geben, einen Imbiß; meine Tochter ist schon dabei, das zu besorgen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, über welches Thema wir gerade debattieren! Erinnern Sie sich an die Stelle im Hamlet: ›Sein oder Nichtsein‹? Das ist ein zeitgemäßes Thema, ein sehr zeitgemäßes Thema! Wir werfen Fragen auf und beantworten sie… Auch Herr Terentjew ist im höchsten Grade… er ist gar nicht müde! Von dem Champagner hat er nur genippt, nur genippt; das kann ihm nicht schaden… Treten Sie näher, Fürst, und entscheiden Sie! Alle haben wir nur auf Sie gewartet und auf Ihren glücklichen Verstand …«

Der Blick des Fürsten begegnete dem lieben, freundlichen Blicke Wera Lebedewas, die sich ebenfalls eilig bemühte, durch den Schwarm zu ihm vorzudringen. Unter Übergehung aller andern streckte er ihr zuerst die Hand hin; sie errötete vor Freude und wünschte ihm, daß er von diesem Tage an immer glücklich leben möge. Dann lief sie schleunigst in die Küche, wo sie den Imbiß herrichtete; aber auch vor der Ankunft des Fürsten war sie mehrmals, sowie sie sich nur für ein Weilchen von ihrer Arbeit hatte losmachen können, in der Veranda erschienen und hatte eifrig zugehört, wie die angetrunkenen Gäste unausgesetzt über ganz abstrakte und ihr ganz fernliegende Gegenstände debattierten. Ihre jüngere Schwester war mit offenem Mund im Nebenzimmer auf einem Koffer eingeschlafen, der Knabe aber, Lebedews Sohn, stand neben Kolja und Ippolit, und schon sein begeisterter Gesichtsausdruck zeigte, daß er bereit war, hier noch lange in genußreichem Zuhören auf einem Fleck stehenzubleiben, selbst zehn Stunden hintereinander.

»Ich habe speziell auf Sie gewartet und freue mich außerordentlich, daß Sie in so glücklicher Stimmung gekommen sind«, sagte Ippolit, als der Fürst unmittelbar nach Begrüßung Weras zu ihm trat, um ihm die Hand zu drücken.

»Aber woher wissen Sie, daß ich mich ›in so glücklicher Stimmung‹ befinde?«

»Das sieht man Ihnen am Gesicht an. Begrüßen Sie die Herren, und setzen Sie sich so bald wie möglich hierher zu mir! Ich habe speziell auf Sie gewartet«, fügte er hinzu, indem er einen bedeutsamen Nachdruck darauf legte, daß er gewartet habe. Auf die Bemerkung des Fürsten, ob ihm das lange Aufbleiben auch nicht schädlich sein würde, erwiderte er, er wundere sich selbst darüber, daß er vor drei Tagen habe sterben wollen, er habe sich nie wohler gefühlt als an diesem Abend.

Burdowskij sprang auf und murmelte, er sei »nur so« … er habe Ippolit »herbegleitet« und freue sich ebenfalls; in dem Brief habe er »allerlei Unsinn geschrieben«, aber jetzt empfinde er »einfach« Freude… Er sprach nicht zu Ende, drückte dem Fürsten kräftig die Hand und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Nach Begrüßung aller andern trat der Fürst auch zu Jewgenij Pawlowitsch. Dieser faßte ihn sogleich unter den Arm.

»Ich möchte Ihnen nur ein paar Worte sagen«, flüsterte er ihm zu, »und zwar in einer überaus wichtigen Angelegenheit. Lassen Sie uns einen Augenblick beiseite treten.«

»Nur ein paar Worte!« flüsterte eine andere Stimme dem Fürsten in das andere Ohr, und eine andere Hand faßte ihn von der anderen Seite unter den Arm. Der Fürst erblickte mit Erstaunen eine Gestalt mit gerötetem, blinzelndem, lachendem Gesicht und wirrem Haar und erkannte im gleichen Augenblick Ferdyschtschenko, der sich, Gott weiß woher, hier wieder angefunden hatte.

»Erinnern Sie sich noch an Ferdyschtschenko?« fragte dieser.

»Wo kommen Sie denn her?« rief der Fürst.

»Er bereut!« rief der herbeilaufende Keller. »Er hatte sich versteckt und wollte sich nicht sehen lassen, er hatte sich dahinten in einem Winkel versteckt; er bereut, Fürst, er fühlt sich schuldig.«

»Schuldig? Wieso?«

»Ich habe ihn getroffen, Fürst, ich habe ihn vorhin eben getroffen und mit hergebracht; er ist einer meiner besten Freunde, aber er bereut.«

»Ich freue mich sehr, meine Herren, gehen Sie nur, und setzen Sie sich dort zu den andern; ich komme auch gleich«, sagte der Fürst, indem er sich endlich losmachte und zu Jewgenij Pawlowitsch eilte.

»Es ist ja hier bei Ihnen sehr amüsant«, bemerkte dieser, »und ich habe mit Vergnügen eine halbe Stunde lang auf Sie gewartet. Was ich sagen wollte, liebster Lew Nikolajewitsch: ich habe alles mit Kurmyschew geordnet und kam her, um Sie zu beruhigen; Sie brauchen sich nicht darüber aufzuregen, er hat die Sache sehr, sehr vernünftig aufgefaßt, was auch um so näherlag, als er meiner Ansicht nach selbst die meiste Schuld hatte.«

»Mit was für einem Kurmyschew?«

»Nun, mit dem, den Sie vorhin an den Armen gepackt haben… Er war so wütend, daß er schon beabsichtigte, morgen zu Ihnen zu schicken und Genugtuung zu fordern.«

»Ich bitte Sie, was für ein Unsinn!«

»Natürlich ist es ein Unsinn, und die Sache wäre auch sicher harmlos erledigt worden, aber diese Leute sind bei uns hier…«

»Sie sind vielleicht auch noch zu einem andern Zweck hergekommen, Jewgenij Pawlytsch?«

»Oh, natürlich noch zu einem andern Zweck!« versetzte dieser lachend. »Lieber Fürst, ich fahre morgen bei Tagesanbruch in dieser unglücklichen Angelegenheit (nun ja, ich meine die Sache mit meinem Onkel) nach Petersburg. Denken Sie sich nur: es ist alles wahr, und alle Leute wissen davon mehr als ich. Mich hat die Sache so mitgenommen, daß ich heute nicht mehr dazu gekommen bin, dorthin zu gehen (zu Jepantschins), und morgen werde ich es ebenfalls nicht können, weil ich in Petersburg sein werde, Sie verstehen. Vielleicht werde ich ungefähr drei Tage von hier abwesend sein – kurz gesagt, meine Sache kommt nicht voran. Obwohl es eine Sache von allergrößter Wichtigkeit ist, habe ich es doch für das richtige gehalten, mich Ihnen gegenüber in der offenherzigsten Weise und unverzüglich, das heißt noch vor meiner Abreise, auszusprechen. Ich werde jetzt, wenn es Ihnen recht ist, noch ein Weilchen hier sitzenbleiben und warten, bis die Gesellschaft auseinandergeht; überdies wüßte ich auch nicht, was ich sonst anfangen sollte: ich bin so aufgeregt, daß ich mich gar nicht schlafen legen werde. Endlich möchte ich Ihnen noch eins geradeheraus sagen: obwohl es gewissenlos und unschicklich ist, sich jemandem so geradezu aufzudrängen, so bin ich doch hergekommen, um Ihre Freundschaft zu gewinnen, mein lieber Fürst; Sie sind ein unvergleichlicher Mensch, das heißt, Sie lügen nicht auf Schritt und Tritt und vielleicht überhaupt nicht, und ich bedarf in einer gewissen Angelegenheit eines Freundes und Ratgebers, weil ich jetzt tatsächlich ein unglücklicher Mensch bin…«

Er lachte wieder auf.

»Das Schlimme ist nur«, sagte der Fürst, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, »Sie wollen warten, bis diese Leute auseinandergehen, aber weiß Gott, wann das geschehen wird. Wäre es nicht das beste, wenn wir jetzt in den Park gingen? Gewiß werden sie ein Weilchen warten, ich werde mich entschuldigen.«

»Nein, nein, ich möchte aus bestimmten Gründen nicht den Verdacht aufkommen lassen, als führten wir ein Gespräch mit besonderen Absichten; es sind hier Leute darunter, die sich sehr für unsere Beziehungen interessieren, wissen Sie das nicht, Fürst? Es wird weit besser sein, wenn sie sehen, daß wir auch ohnehin in sehr freundschaftlichen Beziehungen stehen, von allen Sonderfällen abgesehen, verstehen Sie wohl? Sie werden in etwa zwei Stunden auseinandergehen, dann möchte ich Sie zwanzig Minuten in Anspruch nehmen – nun, oder eine halbe Stunde…«

»Aber ich bitte sehr, mit Vergnügen; ich freue mich darüber auch ohne alle Erklärungen, und für Ihre liebenswürdigen Worte über unsere freundschaftlichen Beziehungen danke ich Ihnen herzlich. Sie entschuldigen, daß ich heute zerstreut bin; wissen Sie, ich kann mich augenblicklich gar nicht zur Aufmerksamkeit zwingen.«

»Ich sehe, ich sehe«, murmelte Jewgenij Pawlowitsch mit einem leisen Lächeln! Er war an diesem Abend überhaupt sehr zum Lachen aufgelegt.

»Was sehen Sie denn?« fragte der Fürst erschrocken.

»Hegen Sie denn gar keinen Verdacht, lieber Fürst«, sagte Jewgenij Pawlowitsch, immer noch lächelnd, ohne auf die direkte Frage zu antworten, »hegen Sie denn gar keinen Verdacht, daß ich einfach hergekommen bin, um Sie hinters Licht zu führen und so nebenbei etwas von Ihnen herauszubekommen, wie?«

»Daß Sie hergekommen sind, um etwas von mir herauszubekommen, daran ist kein Zweifel«, antwortete der Fürst lachend, »und vielleicht haben Sie sich auch vorgenommen, mich ein bißchen zu betrügen. Aber nur zu! Ich fürchte mich vor Ihnen nicht, und außerdem ist es mir jetzt ganz gleichgültig, wollen Sie mir das glauben? Und… und… und da ich vor allem überzeugt bin, daß Sie trotzdem ein vortrefflicher Mensch sind, so werden wir möglicherweise wirklich am Ende Freundschaft miteinander schließen. Sie haben mir sehr gefallen, Jewgenij Pawlytsch; Sie… sind meiner Ansicht nach ein sehr anständiger Mensch!«

»Nun, jedenfalls ist es sehr angenehm, mit Ihnen etwas zu tun zu haben, mag es sein, was es will«, schloß Jewgenij Pawlowitsch. »Kommen Sie, ich will ein Glas auf Ihre Gesundheit trinken; ich bin sehr zufrieden, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Ah!« unterbrach er sich plötzlich. »Ist dieser Herr Ippolit vollständig zu Ihnen übergesiedelt?«

»Ja.«

»Ich meine, er wird nicht so bald sterben.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Ich denke es mir so; ich habe hier eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbracht…«

Ippolit wartete diese ganze Zeit auf den Fürsten und blickte ununterbrochen nach ihm und Jewgenij Pawlowitsch hin, während die beiden abseits standen und miteinander redeten. Er zeigte eine krankhafte Lebhaftigkeit, als sie an den Tisch traten. Er war unruhig und aufgeregt; der Schweiß trat ihm auf die Stirn. In seinen funkelnden Augen kam außer einer dauernden unsteten Unruhe auch eine unbestimmte Ungeduld zum Ausdruck, sein Blick irrte ziellos von einem Gegenstand zum andern, von einer Person zur andern. Er hatte sich zwar an dem gemeinsamen lärmenden Gespräch bisher stark beteiligt, aber sein Eifer hatte etwas Fieberhaftes; im Grunde schenkte er dem Gespräch wenig Aufmerksamkeit; was er in der Debatte vorbrachte, war unzusammenhängend und klang spöttisch, geringschätzig warf er paradoxe Bemerkungen hin; er sprach seine Gedanken nicht bis zu Ende aus und ließ ein Thema, über das er eine Minute vorher selbst mit glühendem Eifer zu sprechen begonnen hatte, schnell wieder fallen. Der Fürst erfuhr mit Verwunderung und Bedauern, daß man ihn an diesem Abend ungehindert schon zwei volle Gläser Champagner hatte trinken lassen und daß das vor ihm stehende angefangene Glas schon das dritte war. Aber er erfuhr dies erst später; im Augenblick war er nicht imstande, seine Umgebung genau zu beobachten.

»Wissen Sie, ich freue mich außerordentlich darüber, daß gerade heute Ihr Geburtstag ist!« rief Ippolit.

»Warum denn?«

»Das werden Sie bald sehen; setzen Sie sich nur schnell her! Erstens schon deswegen, weil hier alle unsere Leute zusammengekommen sind. Ich hatte damit gerechnet, daß Leute hier sein würden; zum erstenmal in meinem Leben hat sich eine Rechnung von mir als richtig erwiesen! Aber schade, daß ich von Ihrem Geburtstag nichts gewußt habe, sonst hätte ich ein Geschenk mitgebracht… Haha! Ja, vielleicht habe ich aber wirklich eins mitgebracht! Dauert es noch lange, bis es Tag wird?«

»Bis zum Morgengrauen sind es nicht mehr ganz zwei Stunden«, sagte Ptizyn nach einem Blick auf die Uhr.

»Wozu braucht es jetzt erst noch Tag zu werden, wo man draußen auch ohne das lesen kann?« bemerkte jemand.

»Damit ich ein Stückchen von der Sonne sehen kann. Kann man auf die Gesundheit der Sonne trinken, Fürst? Wie denken Sie darüber?«

Ippolit stellte seine Fragen in scharfem Ton und wendete sich ungeniert, als kommandierte er, an alle, schien sich aber dessen selbst nicht bewußt zu sein.

»Trinken wir darauf, meinetwegen! Nur sollten Sie sich beruhigen, Ippolit, nicht?«

»Sie reden immer von Schlafen, Sie sind meine Kinderfrau, Fürst! Sobald die Sonne erscheint und am Himmel ertönt (wer hat das doch in einem Gedicht gesagt: ›Die Sonne tönt nach alter Weise‹? Es ist sinnlos, aber schön!) dann will ich mich schlafen legen. Lebedew! Die Sonne ist ja wohl die Quelle des Lebens? Was bedeuten die ›Quellen des Lebens‹ in der Apokalypse? Sie haben wohl von dem ›Wermutstern‹ gehört, Fürst?«

»Ich habe gehört, daß Lebedew diesen ›Wermutstern‹ für das Eisenbahnnetz hält, das Europa überzieht.«

»Nein, erlauben Sie, das ist nicht gestattet!« schrie Lebedew, indem er aufsprang und lebhaft mit den Armen gestikulierte, als wollte er das allgemeine Gelächter, das sich erhob, hemmen. »Erlauben Sie! Mit diesen Herren… all diese Herren«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »das ist in mehreren Punkten gegen die Verabredung, hören Sie nur…« Und er schlug sehr ungezwungen zweimal auf den Tisch, wodurch das Gelächter noch stärker wurde.

Lebedew befand sich nicht nur in seinem gewöhnlichen »Abendzustand«, sondern es kam diesmal auch noch hinzu, daß er durch die vorhergehende lange »gelehrte« Debatte besonders aufgeregt und gereizt war; in solchen Fällen benahm er sich gegen seine Opponenten mit grenzenloser und im höchsten Grade offenherziger Geringschätzung.

»Das ist nicht gestattet! Fürst, vor einer halben Stunde haben wir eine Verabredung getroffen: es darf niemand unterbrochen werden, es darf nicht gelacht werden, solange jemand spricht, es soll jeder alles freiheraus sagen dürfen. Nachher können ja auch die Atheisten, wenn sie wollen, ihre Erwiderungen vorbringen. Wir haben den General als Vorsitzenden eingesetzt, jawohl! Denn wie soll es anders gehen? Man könnte jeden, der eine hohe Idee, eine tiefsinnige Idee vorbringt, konfus machen…«

»Reden Sie doch, reden Sie doch! Niemand wird Sie stören!« riefen mehrere.

»Reden Sie, aber reden Sie nicht zuviel Unsinn!«

»Was ist das für ein ›Wermutstern‹?« erkundigte sich jemand.

»Ich habe keine Ahnung!« antwortete General Iwolgin und nahm mit wichtiger Miene den ihm vorhin zuerkannten Platz als Vorsitzender ein.

»Ich liebe all diese gereizten Debatten außerordentlich, Fürst, natürlich nur Debatten über gelehrte Themen«, murmelte unterdessen Keller, der in höchster Begeisterung und Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her rückte, »über gelehrte und politische Themen«, wandte er sich plötzlich und unerwartet an Jewgenij Pawlowitsch, der in seiner Nähe saß. »Wissen Sie, ich lese furchtbar gern in den Zeitungen die Berichte über die Sitzungen des englischen Parlaments, das heißt, mich interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie miteinander reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›der sehr ehrenwerte Vicomte, der mir gegenübersitzt‹, ›der sehr ehrenwerte Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes – das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich, Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das schwöre ich Ihnen, Jewgenij Pawlytsch.«

»Und was ist nun das Resultat von alledem?« ereiferte sich Ganja an einer anderen Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?«

Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah triumphierenden Stimmung. Mit Lebedew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte, aber er wurde dabei bald selbst hitzig.

»Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedew, der außer sich geriet und zugleich einen maßlosen Genuß empfand. »Was die Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen, sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze Tendenz der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.«

»Tatsächlich verflucht oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgenij Pawlowitsch.

»Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedew hitzig.

»Übereilen Sie sich nicht, Lebedew, Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd.

»Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedew, sich mit Lebhaftigkeit zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer; und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft, der Industrie, der Assoziationen, Arbeitslöhne und so weiter? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?«

»Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgenij Pawlowitsch.

»Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!«

»Aber der Kredit bewirkt doch die allgemeine Solidarität und das Gleichgewicht der Interessen«, bemerkte Ptizyn.

»Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendwelcher sittlichen Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der allgemeine Friede, das allgemeine Glück sollte durch die Befriedigung des Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?«

»Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung, daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und ›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt ernstlich erregt wurde.

»Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb…«

»Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit…«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch. »Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig, aber fundamental ist dieses Gesetz nicht mehr als das Gesetz des Vernichtungstriebes und vielleicht auch des Selbstvernichtungstriebes. Besteht denn etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein im Selbsterhaltungstrieb?«

»Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgenij Pawlowitsch hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja an und fragte ihn wieder, wie spät es sei; ja er zog sogar Koljas silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den Zeigern. Dann streckte er sich, als hätte er alles vergessen, auf dem Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke, aber eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und hörte das Geschwätz Lebedews mit an, der im höchsten Grade hitzig geworden war.

»Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedew eifrig auf Jewgenij Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen, – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (obwohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstvernichtung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie nach Voltaires Vorbild über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben, denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!…«

»Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.

»Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht die ›Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Erstarkens…«

»Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.

»Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und geschäftig in der Menschheit, es gibt zuwenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein, aber das Rasseln der Wagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer, der überall geschäftig umherreist, und entfernt sich eitel und selbstgefällig. Aber ich, der schändliche Lebedew, glaube nicht an die Wagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Wagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an der sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist…«

»Die Wagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.

»Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedew, ohne der Frage irgendwelche Beachtung zu schenken. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden, – übrigens, um die Wahrheit zu sagen, genauso wie jeder von uns und auch ich, der Schändlichste von allen, es tun würde, denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz herbeiträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«

»Aber um was handelt es sich denn schließlich?«

»Langweiliges Gerede!«

»Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten, denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben wie ich, denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut dafür zu vergießen…«

»Weiter! Weiter!«

»In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Viertel Jahrhundert, mit anderen Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen, aber es kommt verhältnismäßig selten vor.«

»Im Verhältnis wozu?«

»Im Verhältnis zum zwölften Jahrhundert und den beiderseits anschließenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«

»Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als fühlte er sich persönlich beleidigt. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themen, aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«

»General! Denk an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.«

»Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.

»Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich…«

»Und natürlich?«

»Und natürlich!« wiederholte Lebedew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt, aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.«

»Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst.

Bisher hatte er den Streitenden schweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt, oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend zuging, und sogar darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt, aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.

»Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Geschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer Fallhöhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Anstieg auf den Saumpfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es gab damals von ihnen nur wenige; wahrscheinlich verhungerten sie massenhaft, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiterbestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser gab, und vielleicht sehr viele, darin hat Lebedew ohne Zweifel recht; nur weiß ich nicht, warum er dabei gerade von Mönchen sprach, und was er damit sagen will.«

»Er meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch.

»Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche, das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wert für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf, denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit…«

»Übertreibung, Übertreibung, Lebedew!« lachte man ringsum.

»Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist, aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott gegenüber Lebedew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen, auch über ihn zu lachen, aber er bemerkte das nicht.)

»Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgenij Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zwecke ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.«

»Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen und juristischen Zustand des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin und denunziert sich bei der Geistlichkeit und gibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl Sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, stärker als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, welche den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen… das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen, aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen, denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt, alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, alle, alle sind ausgekocht!… Aber genug davon, darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«

Lebedew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen »geschickten Advokatenkniff«. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter, die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung.

»Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt.

»Ich habe einen echten Erklärer der Apokalypse gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einem Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigorij Semjonowitsch Burmistrow: der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf, na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene, selbst Generale beugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß. Ein ganz tolles Benehmen!«

Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen oder er vergaß sein Vorhaben ständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoshin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoshin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges wartete und vorher nicht weggehen wollte.

Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich sein und Jewgenij Pawlowitschs Blick; er erinnerte sich an die bevorstehende Unterredung und lächelte freundlich. Jewgenij Pawlowitsch nickte ihm zu und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte. Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief.

»Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten, daß er nichts Gutes im Schilde führt!«

»Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als interessierte er Sie heute ganz besonders, Jewgenij Pawlytsch, ist das richtig?«

»Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich mit meinen eigenen Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend nicht von dieser widerwärtigen Visage losreißen kann.«

»Er hat ein hübsches Gesicht…«

»Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgenij Pawlowitsch, indem er den Fürsten am Arm faßte. »Sehen Sie!«

Der Fürst blickte Jewgenij Pawlowitsch noch einmal verwundert an.

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Kapitel 33

V

Ippolit, der gegen Ende des Lebedewschen Vortrages auf dem Sofa eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, als hätte ihm jemand einen Stoß in die Seite versetzt, fuhr zusammen, richtete sich auf, blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich endlich alles ins Gedächtnis zurückgerufen und begriffen hatte.

»Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist die Sonne schon aufgegangen?« fragte er aufgeregt und griff nach der Hand des Fürsten. »Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr? Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?« fügte er mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte, wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge.

»Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch.

Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach.

»Ah … nicht mehr! Also kann ich …«

Er holte tief und begierig Atem, als hätte er eine schwere Last von sich geworfen. Er merkte endlich, daß nichts »zu Ende war«, daß es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch aufgestanden waren und daß lediglich Lebedews Geschwätz aufgehört hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt zweier greller Flecke auf seinen Wangen.

»Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief, Jewgenij Pawlytsch«, sagte er spöttisch. »Sie haben den ganzen Abend über die Augen nicht von mir abgewandt, ich habe es wohl gesehen … Ah, da ist ja Rogoshin! Ich habe soeben von ihm geträumt«, flüsterte er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoshin hindeutete. »Ach ja«, fuhr er, plötzlich zu etwas anderem übergehend, fort, »wo ist denn der Redner? Wo ist denn Lebedew? Lebedew ist also zu Ende? Worüber hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren«, rief er allen laut zu, »der Fürst behauptet, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er jetzt deshalb so leichtsinnige Gedanken hat, weil er verliebt ist. Meine Herren, der Fürst ist verliebt; vorhin, sowie er hereinkam, habe ich mich davon überzeugt. Erröten Sie nicht, Fürst, das würde mir leid tun. Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt erlöst werden wird? Mir hat Kolja das wiedererzählt… Sind Sie ein eifriger Christ? Kolja sagt, Sie bezeichneten sich selbst als Christ.«

Der Fürst sah ihn aufmerksam an, ohne ihm zu antworten.

»Sie antworten mir nicht? Sie glauben vielleicht, daß ich Sie sehr gern habe?« fügte Ippolit plötzlich ganz unvermittelt hinzu.

»Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Wie? Selbst nach dem, was gestern geschehen ist? War ich gestern gegen Sie nicht aufrichtig?«

»Ich wußte auch gestern, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Sie meinen, weil ich Sie beneide? Das haben Sie immer gedacht und denken es auch jetzt, aber… aber warum rede ich mit Ihnen davon? Ich will noch Champagner trinken; gießen Sie mir ein, Keller!«

»Sie dürfen nicht mehr trinken, Ippolit, ich gebe Ihnen keinen mehr…«

Der Fürst schob das Glas von ihm weg.

»Nun gut…«, sagte er, sofort damit einverstanden, und schien in Gedanken zu versinken. »Die Leute werden womöglich noch sagen… aber was schere ich mich um das, was die Leute sagen werden! Nicht wahr? Nicht wahr? Mögen die Leute nachher reden, was sie wollen, nicht wahr, Fürst? Und was kümmert es uns alle, was nachher sein wird! … Ich bin übrigens noch schlaftrunken. Was ich für einen schrecklichen Traum gehabt habe, jetzt fällt es mir wieder ein… Ich wünsche Ihnen solche Träume nicht, Fürst, wenn ich Sie auch vielleicht wirklich nicht leiden kann. Übrigens, wenn man jemand auch nicht leiden kann, warum soll man ihm Böses wünschen, nicht wahr? Warum frage ich nur fortwährend? Fortwährend frage ich! Geben Sie mir Ihre Hand, ich werde sie kräftig drücken, sehen Sie, so!… Sie haben mir also doch die Hand gereicht! Sie wissen also, daß mein Händedruck aufrichtig gemeint ist? … Meinetwegen, ich werde nicht mehr trinken. Was ist die Uhr? Übrigens brauchen Sie es mir nicht zu sagen; ich weiß, was die Uhr ist. Die Stunde ist gekommen! Jetzt ist genau die Zeit. Was? Wird der Imbiß dort in die Ecke gestellt? Also bleibt dieser Tisch frei? Vorzüglich! Meine Herren, ich … aber diese Herren hören ja alle nicht… ich beabsichtige, einen Artikel vorzulesen, Fürst; der Imbiß ist natürlich interessanter, aber…«

Und ganz unerwartet zog er aus seiner oberen Seitentasche ein mit einem großen roten Siegel verschlossenes Kuvert in Kanzleiformat heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch.

Dieser unerwartete Vorgang übte auf die angeheiterte Gesellschaft, die vorbereitet war, aber nicht darauf, eine starke Wirkung aus. Jewgenij Pawlowitsch sprang sogar von seinem Stuhl auf; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoshin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten.

»Was haben Sie denn da?« fragte der Fürst beunruhigt.

»Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst, ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es sehen!« rief Ippolit. »Aber… aber… glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?« fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte.

Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.

»Niemand von uns glaubt das«, antwortete der Fürst für alle. »Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was… was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?«

»Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?« wurde von allen Seiten gefragt.

Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet.

»Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann die ganze Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum …«

»Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern.

»Morgen wird ›keine Zeit mehr sein‹«, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich übrigens nicht, das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern, na – oder eine Stunde… Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie hergekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert verpackt und versiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert aufbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Apokalypse.«

»Es ist das beste, die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch, aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.

»Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.

»Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.

»Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.

»Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.

»Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen. Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.

»Also… soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ, als wollte er sich wieder mit der gleichen, sozusagen anstürmenden Expansivität an alle klammern. »Sie … fürchten sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewandt.

»Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, während sein Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.

»Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?«

»Hier!« sagte Lebedew, ihm schnell eine Münze hinreichend. Ihm huschte der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.

»Wera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler oben liegt, will ich es vorlesen!«

Wera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann warf sie, den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, diese mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen.

»Also vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das… das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!« wiederholte er, wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst, merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung… Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. »Da muß man sich ja geradezu schämen!… Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens… ich zwinge niemand zuzuhören! …«

Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt.

»Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?« murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst, in fast gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen hatte.

»Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen«, schickte Ippolit aus irgendeinem Grunde voraus und begann dann seine Vorlesung: »Eine notwendige Erklärung! Motto: Pfui! Hol’s der Teufel!« rief er, als ob er sich verbrannt hätte. »Habe ich wirklich im Ernst ein solches dummes Motto hinsetzen können?… Hören Sie, meine Herren!… Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir… Wenn Sie glauben, daß das hier… irgend etwas Geheimnisvolles oder… Verbotenes ist… mit einem Wort…«

»Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!« unterbrach ihn Ganja.

»Er kneift!« fügte jemand hinzu.

»Viel unnützes Gerede!« mischte sich Rogoshin ein, der bisher die ganze Zeit geschwiegen hatte.

Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, fletschte Rogoshin bitter und grimmig die Zähne und sprach langsam die seltsamen Worte:

»Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders…«

Was Rogoshin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand, aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke berührte einen jeden von ihnen. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte. Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoshin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung:

»Also Sie… Sie waren es … Sie?«

»Was soll ich gewesen sein? Ich?« antwortete Rogoshin verständnislos. Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme:

»Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tage, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war, Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?«

»In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?«

Der »Junge« schwieg wieder ungefähr eine Minute, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf.

»Das waren Sie!« wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. »Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen … Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht, aber das waren Sie!«

Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf.

»Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren, ich … ich … hören Sie nur zu …«

Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten, er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam.

»Er ist verrückt geworden oder er redet im Fieber!« murmelte Rogoshin kaum hörbar.

Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es dem Verfasser der unerwarteten Abhandlung noch schwer, Luft zu bekommen, und er las unzusammenhängend und ungleichmäßig, aber dann wurde seine Stimme fest und vermochte den Sinn des Gelesenen vollständig zum Ausdruck zu bringen. Nur wurde er manchmal von einem ziemlich starken Husten unterbrochen; von der Mitte des Schriftstücks an war er sehr heiser. Der gewaltige Eifer, der sich seiner, je weiter die Vorlesung fortschritt, immer mehr bemächtigte, erreichte gegen Ende den höchsten Grad, ebenso wie die peinliche Empfindung der Zuhörer. Hier ist diese ganze »Abhandlung«.

»Meine notwendige Erklärung.

Après moi le déluge.

Gestern vormittag war der Fürst bei mir; unter anderm überredete er mich, nach seinem Landhaus überzusiedeln. Ich wußte, daß er unbedingt darauf bestehen würde, und war überzeugt, daß er geradezu mit der Bemerkung herausplatzen werde, es werde mir in dem Landhaus unter den Menschen und Bäumen leichter sein, zu sterben, wie er sich ausdrückt. Heute jedoch sagte er nicht sterben, sondern er sagte: ›Es wird Ihnen leichter sein zu leben‹, was indessen für mich in meiner Lage beinah dasselbe ist. Ich fragte ihn, was er denn mit den Bäumen, von denen er fortwährend redete, eigentlich wolle und warum er mir diese Bäume so aufdränge, – und erfuhr von ihm zu meiner Verwunderung, daß ich selbst an jenem Abend geäußert hätte, ich sei nach Pawlowsk gekommen, um zum letztenmal Bäume zu sehen. Als ich ihm bemerkte, es sei ja doch ganz gleich, ob ich unter Bäumen stürbe oder mit dem Blick durchs Fenster auf meine Backsteinmauer, und daß es um zweier Wochen willen sich nicht lohne, besondere Umstände zu machen, stimmte er mir sogleich bei; aber er meinte, das Grün und die reine Luft würden sicherlich bei mir eine physische Veränderung hervorrufen, und meine Aufregung und meine Träume würden vielleicht einen linderen Charakter annehmen. Ich erwiderte ihm lachend, er rede wie ein Materialist. Er antwortete mir mit seinem Lächeln, er sei immer ein Materialist gewesen. Da er nie lügt, sind diese Worte bedeutungsvoll. Sein Lächeln ist gut und angenehm; ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt gern habe oder nicht; aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich muß aber bemerken, daß mein fünfmonatiger Haß gegen ihn sich im letzten Monat ganz gelegt hat. Wer weiß, vielleicht bin ich nach Pawlowsk hauptsächlich gefahren, um ihn kennenzulernen. Aber… weshalb habe ich damals mein Zimmer verlassen? Wer zum Tode verurteilt ist, muß in seinem Winkel bleiben; und wenn ich jetzt nicht einen definitiven Entschluß gefaßt hätte, sondern entschieden hätte, die letzte Stunde abzuwarten, so würde ich natürlich mein Zimmer um keinen Preis verlassen und seinen Vorschlag, zu ihm überzusiedeln, um in Pawlowsk zu ›sterben‹, nicht annehmen.

Ich muß mich beeilen und diese ganze Erklärung unter allen Umständen bis morgen zu Ende bringen. Somit werde ich keine Zeit haben, sie noch einmal durchzulesen und zu korrigieren; ich werde sie erst morgen wieder durchlesen, wenn ich sie dem Fürsten und zwei oder drei Zeugen, die ich bei ihm vorzufinden hoffe, vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ›die letzte, feierliche Wahrheit‹ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (NB. Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.)

Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben, aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist.

Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer für immer! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu empfinden oder sich irgendwelchen derartigen Gefühlen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben habe.

Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B-n hat nichts zu mir gesagt und mich nie gesehen, aber man hat vor etwa einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; ebendeswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme, möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag: solche Fälle seien vorgekommen, erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in , deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches alles negierendes höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei, für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache, zu sterben. Aber am Ende blieb doch wie eingerahmt die Tatsache: einen Monat und nicht ein bißchen mehr. Daß er sich nicht irrte, davon war ich überzeugt.

Es hat mich sehr gewundert, wieso der Fürst vorhin erraten hat, daß ich ›böse Träume‹ habe; er sagte wörtlich, ›meine Aufregung und meine Träume‹ würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume? Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß er aber im Grunde doch ein ›Idiot‹ ist, daran kann kein Zweifel bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie jetzt zu Hunderten roten Rachen, duckte sich, paßte geschickt die Entfernung ab, faßte einen Entschluß und packte plötzlich das garstige Tier mit den Zähnen. Dieses machte heftige Bewegungen, um zu entschlüpfen, so daß Norma es noch einmal, jetzt im Fluge, griff und es zweimal, immer im Fluge, mit dem ganzen Rachen in sich hineinzog, als wollte sie es hinunterschlucken. Die Schale knackte unter ihren Zähnen; der Schwanz des Tieres und die Pfoten, die aus dem Maul herausragten, bewegten sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Auf einmal begann Norma kläglich zu winseln: das Reptil hatte es doch noch fertiggebracht, sie in die Zunge zu stechen. Vor Schmerz winselnd und heulend, öffnete sie das Maul, und ich sah, daß das zerbissene, quer im Maul liegende Reptil sich noch bewegte und aus seinem halbzerquetschten Körper auf Normas Zunge eine Menge weißen Saftes floß, ähnlich dem Saft einer zerdrückten schwarzen Schabe… In diesem Augenblicke wachte ich auf, und der Fürst trat herein.

Meine Herren«, sagte Ippolit, indem er seine Vorlesung plötzlich unterbrach und ein beschämtes Gesicht machte, »ich habe es nicht noch einmal durchgelesen, aber ich habe, wie es scheint, tatsächlich viel Überflüssiges hingeschrieben. Dieser Traum …«

»Ja, das ist richtig«, beeilte sich Ganja zu bemerken.

»Ich muß zugeben, es ist zuviel Persönliches dabei, das heißt Dinge, die eigentlich nur auf mich Bezug haben…«

Als Ippolit das sagte, sah er müde und erschöpft aus und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Ja, Sie interessieren sich zu sehr für sich selbst«, zischte Lebedew.

»Meine Herren, noch einmal: ich nötige niemand; wer nicht zuhören will, kann sich entfernen.«

»Er jagt uns weg … aus einem fremden Haus«, brummte Rogoshin kaum vernehmbar.

»Aber wie können wir denn alle auf einmal aufstehen und uns entfernen?« sagte plötzlich Ferdyschtschenko, der bis dahin nicht gewagt hatte, laut zu reden.

Ippolit schlug die Augen nieder und griff nach seinem Manuskript; aber in derselben Sekunde hob er den Kopf wieder und sagte mit funkelnden Augen und zwei roten Flecken auf den Backen, indem er Ferdyschtschenko gerade ins Gesicht blickte: »Sie können mich gar nicht leiden!«

Man hörte Lachen; indes war es nicht die Mehrzahl, die lachte. Ippolit wurde dunkelrot.

»Ippolit«, sagte der Fürst, »machen Sie Ihr Manuskript zu und geben Sie es mir und legen Sie selbst sich hier in meinem Zimmer schlafen. Wir wollen, bevor Sie einschlafen, noch ein bißchen mit Ihnen reden und das Gespräch dann morgen fortsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Blätter nie wieder aufschlagen. Wollen Sie das tun?«

»Ist das denn möglich?« rief Ippolit, indem er ihn mit wirklicher Verwunderung anblickte. »Meine Herren«, fuhr er, wieder in fieberhafter Lebhaftigkeit, fort, »das war ein dummer Zwischenakt, in dem ich mich nicht richtig zu benehmen verstand. Ich werde in der Vorlesung keine Unterbrechung mehr eintreten lassen. Wer zuhören will, mag zuhören…«

Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber…

»Der Gedanke«, fuhr er fort zu lesen, »daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte, aber meiner völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskijs, ›meines Nächsten‹, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese ›Überzeugung‹ habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich angefangen zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.

Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser schmutzigen Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.

Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben jener zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja, wenn ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu ein Klatschmaul wurde. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperiale und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift?

Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig, jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern, aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und biß tatsächlich nachts vor Wut in mein Kopfkissen und zerriß meine Bettdecke. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich gezeigt…

Was hätte ich gezeigt?

Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.

Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem denn? Ich habe mich damals mit ihnen belustigt, als ich klar einsehen mußte, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; mir fiel zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax gelangt bin, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe Matrjona verboten, es aufzuheben.

es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und ewig darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben. Indessen, ich fahre fort.«

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Kapitel 20

IV

Sie gingen durch dieselben Zimmer, die der Fürst schon vorher passiert hatte. Rogoshin ging ein wenig voraus, der Fürst hinter ihm her. Sie kamen in den großen Salon. Hier befanden sich an den Wänden einige Gemälde, lauter Porträts von Bischöfen und Landschaften, von denen nichts zu erkennen war. Über der Tür nach dem nächsten Zimmer hing ein Bild von recht auffälligem Format: Zweieinhalb lang und nicht mehr als sechs Werschok hoch. Es stellte den soeben vom Kreuze abgenommenen Heiland dar. Der Fürst blickte es flüchtig an, als käme ihm eine Erinnerung, wollte aber, ohne stehenzubleiben, durch die Tür hindurchgehen. Er fühlte sich sehr bedrückt, und es verlangte ihn, möglichst schnell aus diesem Haus herauszukommen. Aber Rogoshin blieb plötzlich vor dem Bild stehen.

»All diese Bilder hier«, sagte er, »hat mein verstorbener Vater auf Auktionen gekauft, das Stück zu einem oder zwei Rubel, er liebte so etwas. Ein Sachverständiger hat sie alle hier besichtigt, er sagte, es sei Schund; aber dieses hier, das Bild über der Tür, das ebenfalls für zwei Rubel gekauft ist, von dem sagte er, es sei kein Schund. Noch zu Lebzeiten meines Vaters fand sich jemand, der ihm dafür dreihundertundfünfzig Rubel bot, und Iwan Dmitrijewitsch Saweljew, ein Kaufmann, der ein großer Liebhaber solcher Dinge ist, der ist bis auf vierhundert hinaufgegangen und hat in der vorigen Woche meinem Bruder Semjon Semjonytsch schon fünfhundert geboten. Aber ich habe es für mich behalten.«

»Das ist ja… das ist ja eine Kopie nach Hans Holbein«, sagte der Fürst, der nun Zeit gehabt hatte, das Bild genauer zu betrachten, »und obwohl ich kein großer Kenner bin, scheint es mir doch eine vorzügliche Kopie zu sein. Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen. Aber… was hast du denn? …«

Rogoshin kümmerte sich auf einmal nicht weiter um das Bild, sondern ging auf dem bisherigen Wege weiter. Allerdings ließ sich dieses sprunghafte Wesen durch seine Zerstreutheit und durch die besondere, seltsam reizbare Stimmung, die bei ihm so plötzlich hervorgetreten war, vielleicht erklären; aber trotzdem erschien es dem Fürsten wunderlich, daß Rogoshin ein von ihm selbst begonnenes Gespräch so plötzlich abbrach und ihm nicht einmal antwortete.

»Hör mal, Lew Nikolajewitsch«, fing Rogoshin wieder an, nachdem er einige Schritte gemacht hatte, »ich wollte dich schon längst fragen: glaubst du an Gott oder nicht?«

»Wie sonderbar du fragst, und… was du für ein sonderbares Gesicht machst!« äußerte der Fürst unwillkürlich.

»Dieses Bild betrachte ich immer gern«, murmelte Rogoshin nach kurzem Stillschweigen, als hätte er seine Frage wieder vergessen.

»Dieses Bild betrachtest du gern?« rief der Fürst, von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Dieses Bild? Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren!«

»Ich verliere ihn auch«, war Rogoshins überraschende, bestätigende Antwort.

Sie waren bereits zur Ausgangstür gelangt.

»Wie?« sagte der Fürst, stehenbleibend. »Was redest du da? Ich habe eigentlich nur im Scherz gesprochen, und du sagst das so ernst! Und warum hast du mich gefragt, ob ich an Gott glaube?«

»Einen besonderen Grund hatte ich nicht dazu. Ich wollte dich schon früher danach fragen. Heutzutage glauben ja viele nicht an ihn. Ob das wohl wahr ist (du hast ja im Ausland gelebt), mir hat einmal so ein Trunkenbold gesagt, bei uns in Rußland gebe es mehr Leute, die nicht an Gott glauben, als in allen andern Ländern? ›Uns‹, sagte er, ›wird es leichter, zum Unglauben zu gelangen, als ihnen, weil wir weiter fortgeschritten sind‹…«

Rogoshin lächelte spöttisch; als er seine Frage ausgesprochen hatte, öffnete er die Tür und wartete mit der Klinke in der Hand darauf, daß der Fürst hinausging. Der Fürst wunderte sich, trat aber hinaus. Der andere folgte ihm in den Treppenflur und machte die Tür hinter sich zu. Sie standen einander mit solchen Gesichtern gegenüber, daß es schien, als hätten sie beide vergessen, wo sie waren und was sie nun zu tun hatten.

»Leb wohl!« sagte der Fürst und reichte Rogoshin die Hand.

»Leb wohl!« erwiderte dieser und drückte fest, aber ganz mechanisch die ihm hingestreckte Hand.

Der Fürst stieg eine Stufe hinab und drehte sich um. umgedreht hatte, vorsichtig von hinten an ihn heran, faßte die richtige Stelle ins Auge, richtete den Blick gen Himmel, bekreuzigte sich, und nachdem er im stillen inbrünstig gebetet hatte: ›O Gott, verzeih mir um Christi willen!‹, schnitt er seinem Freund mit einem einzigen Schnitt wie einem Hammel die Kehle durch und nahm ihm die Uhr weg.«

Rogoshin schüttelte sich vor Lachen. Er lachte so heftig, als hätte er einen Anfall bekommen. Es machte einen ganz seltsamen Eindruck, dieses Lachen zu sehen, nachdem er sich noch kurz vorher in so düsterer Stimmung befunden hatte.

»Das gefällt mir! Nein, das ist ja ganz vorzüglich!« schrie er krampfhaft und fast außer Atem. »Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere glaubt so sehr an ihn, daß er sogar bei der Ermordung eines Menschen betet… Nein, Bruder, das ist ja gar nicht auszudenken! Hahaha! Nein, das ist köstlich!«

»Am andern Morgen schlenderte ich durch die Stadt«, fuhr der Fürst fort, sobald Rogoshin sich einigermaßen beruhigt hatte, obwohl das Lachen immer noch nach Art eines Krampfanfalles auf seinen Lippen zuckte, »da sah ich, wie ein betrunkener Soldat in ganz wüstem Zustand auf dem hölzernen Gehsteig umherschwankte. Er kam auf mich zu und sagte: ›Herr, kauf mir dieses silberne Kreuz ab, ich lasse es dir für zwanzig Kopeken; es ist von Silber!‹ Ich sah, daß er in der Hand ein Kreuz hielt, das er sich jedenfalls eben erst abgenommen hatte; es saß an einem himmelblauen, stark abgenutzten Band, war aber, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, nur von Zinn, von großem Format, mit acht Enden, nach einem echt byzantinischen Muster. Ich nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der Tasche und gab es ihm, das Kreuz aber band ich mir sogleich um; dem Soldaten konnte man am Gesicht ansehen, wie er sich freute, den dummen Herrn geprellt zu haben; er ging schleunigst davon, um den Erlös für sein Kreuz zu vertrinken. Auf mich, Bruder, machte damals all das, was in Rußland massenhaft auf mich eindrang, einen sehr starken Eindruck; ich hatte in meinem Heimatland vorher für nichts Verständnis gehabt, war wie ein Blinder aufgewachsen, und meine Erinnerungen an Rußland während der fünf Jahre meines Aufenthaltes im Ausland waren höchst phantastischer Und ich hatte gar nicht vorgehabt, jetzt hierher zurückzukehren! Ich hatte mir die Wiederbegegnung mit dir ganz, ganz anders ausgemalt! Na, was hilft’s… Leb wohl, auf Wiedersehen! Gott behüte dich!«

Er wendete sich um und stieg die Treppe hinunter.

»Lew Nikolajewitsch!« rief Parfen dem Fürsten von oben nach, als dieser zum ersten Treppenabsatz gelangt war, »hast du das Kreuz, das du von dem Soldaten gekauft hast, bei dir?«

»Ja.«

Der Fürst blieb wieder stehen.

»Zeig es doch einmal her!«

Wieder eine neue Absonderlichkeit! Der Fürst überlegte einen Augenblick, stieg dann wieder hinauf, zog das Kreuz heraus und zeigte es ihm, ohne es vom Hals abzunehmen.

»Gib es mir!« sagte Rogoshin.

»Wozu? Hast du denn…«

Der Fürst wollte sich nicht gern von dem Kreuz trennen.

»Ich will es tragen, und meines will ich dir geben, das trage du dann!«

»Du willst, daß wir die Kreuze tauschen? Schön, Parfen, wenn du es so meinst, dann freue ich mich; wir werden jetzt Brüder sein!«

Der Fürst nahm sein Zinnkreuz ab, Parfen sein goldenes, und sie tauschten miteinander. Parfen schwieg. Erstaunt und betrübt bemerkte der Fürst, daß das frühere Mißtrauen und das bittere, spöttische Lächeln immer noch nicht von dem Gesicht seines Kreuzbruders geschwunden waren, sondern zumindest in einzelnen Augenblicken wieder stark sichtbar wurden. Schweigend ergriff Rogoshin endlich die Hand des Fürsten und stand eine Weile da, als ob er sich zu etwas nicht entschließen könnte; endlich zog er ihn auf einmal hinter sich her, indem er kaum hörbar sagte: »Komm!« Sie gingen quer über den Treppenflur und klingelten an einer Tür, die derjenigen, aus welcher sie herausgekommen waren, gerade gegenüberlag. Es wurde ihnen bald geöffnet. Eine alte, ganz zusammengekrümmte Frau in schwarzem Kleid, mit einem Tuch um den Kopf, verbeugte sich schweigend tief vor Rogoshin; dieser sagte schnell ein paar Worte zu ihr und führte, ohne stehenzubleiben und eine Antwort abzuwarten, den Fürsten in die Wohnung hinein. Wieder durchschritten sie dunkle Zimmer von einer außerordentlichen, sozusagen kalten Sauberkeit; auch die altertümlichen Möbel in ihren weißen, reinen Überzügen machten einen kalten, trüben Eindruck. Ohne Anmeldung führte Rogoshin den Fürsten geradewegs in ein kleines, salonartiges Zimmer; eine Hälfte desselben war durch eine niedrige Zwischenwand von glänzendem Mahagoniholz mit zwei Türen an den Enden abgeteilt; der dahinter liegende Raum diente wahrscheinlich als Schlafzimmer. In einer Ecke des Salons, am Ofen, saß in einem Lehnstuhl eine kleine ältere Frau, dem Anschein nach noch nicht allzu bejahrt, sogar mit einem recht gesunden, angenehmen runden Gesicht, aber schon vollständig ergraut und (was man schon beim ersten Blick erkennen konnte) ganz kindisch geworden. Sie trug ein schwarzwollenes Kleid, ein großes schwarzes Tuch um den Hals und eine reine, weiße Haube mit schwarzen Bändern. Die Füße ruhten auf einem Fußbänkchen. Neben ihr saß eine andere sauber gekleidete alte Frau, älter als sie, gleichfalls in Trauer und gleichfalls mit einer weißen Haube, wahrscheinlich eine arme Person, die aus Gnade in das Haus aufgenommen war, und strickte schweigend einen Strumpf. Sie schienen beide die ganze Zeit geschwiegen zu haben. Als die erste Alte Rogoshin und den Fürsten erblickte, lächelte sie ihnen zu und nickte zum Zeichen ihres Vergnügens mehrmals freundlich mit dem Kopfe.

»Mütterchen«, sagte Rogoshin, ihr die Hand küssend, »hier ist ein guter Freund von mir, Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin; er und ich haben miteinander die Kreuze getauscht; er ist eine Zeitlang in Moskau wie ein Bruder zu mir gewesen und hat viel für mich getan. Segne ihn, Mütterchen, wie du deinen eigenen Sohn segnen würdest! Warte, liebe Alte! So! Laß mich dir die Hand zurechtlegen…«

Aber noch ehe Parfen Zeit hatte, dies auszuführen, hob die alte Frau ihre rechte Hand in die Höhe, legte drei Finger derselben zusammen und bekreuzigte den Fürsten dreimal andächtig, Darauf nickte sie ihm noch einmal freundlich und zärtlich mit dem Kopfe zu.

»Nun wollen wir wieder gehen, Lew Nikolajewitsch!« sagte Parfen. »Ich hatte dich nur zu diesem Zweck hergeführt…«

Als sie wieder auf die Treppe hinaustraten, fügte er hinzu:

»Sie versteht ja nichts, was man zu ihr sagt, und hat auch von meinen Worten nichts verstanden; aber sie hat dich doch gesegnet, da muß es ihr eigener Wunsch gewesen sein… Nun aber leb wohl, wir haben beide keine Zeit mehr.«

Damit öffnete er die Wohnungstür.

»So laß dich doch wenigstens zum Abschied umarmen, du wunderlicher Mensch!« rief der Fürst, indem er ihn mit zärtlichem Vorwurf anblickte, und wollte ihn umarmen. Aber Parfen hatte kaum die Arme erhoben, als er sie auch sogleich wieder sinken ließ. Er konnte sich nicht dazu entschließen; er wandte sich ab, um den Fürsten nicht anzusehen. Er wollte ihn nicht umarmen.

»Hab keine Angst! Ich habe dir zwar dein Kreuz weggenommen, werde dich aber nicht um einer Uhr willen ermorden!« murmelte er undeutlich und lachte auf einmal seltsam auf. Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Gesicht: er wurde schrecklich blaß, seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen flammten auf. Er hob die Arme in die Höhe, umarmte den Fürsten mit festem Druck und sagte keuchend:

»So nimm sie, wenn das Schicksal es einmal so will! Sie sei dein! Ich trete zurück!… Vergiß Rogoshin nicht!«

Und er wandte sich von dem Fürsten ab, ging, ohne noch einmal nach ihm hinzublicken, in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

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Kapitel 21

V

Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und entschied sich dafür, nach dem Gasthaus »Zur Waage« zu gehen und dort nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort war, ihm ein Briefchen zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage, solle man sagen, daß er gegen drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk gefahren, nach dem Landhause der Generalin Jepantschina, und werde dort auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu warten, und benutzte die Zeit, um sich Mittagessen geben zu lassen.

Um halb vier und sogar um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen. Der Fürst ging hinaus und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße trugen. Zu Anfang des Sommers gibt es in Petersburg manchmal wunderschöne Tage, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt. Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf Plätzen und Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem Interesse die Passanten zu betrachten, aber meist achtete er weder auf die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an all dem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.

Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskoje Selo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immerzu das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er eben im Zug Platz nehmen wollte, warf er plötzlich das gerade gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.

Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrschte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Gehsteig vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen, ob er wirklich soeben, vor vielleicht nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden hatte und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen war und er irgend etwas verwechselt hatte. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befand, fast in demselben Zustand, der sich damals zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besonders gespannte Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er vorhin vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand mit einem Wort bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblicke des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: ›Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!‹, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie als deutliche Folge jener höchsten Augenblicke standen ihm nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler, aber die Realität des Gefühls verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch, er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glückes willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne. »In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoshin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll. Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoshin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. ›Rogoshin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt‹, dachte der Fürst bei sich.

Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer, ein dunkles Gewölk umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob von ferne ein Gewitter aufzöge. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und seinem Denken an jeden äußeren Gegenstand, und dies gefiel ihm, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte, aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er sich so sehr loszumachen wünschte. Er versuchte sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.

Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug wie eine dämonische Versuchung auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in Richtung der Petersburger Seite. Er hatte vorhin am Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Petersburger Seite zu zeigen; das hatte dieser auch getan, aber der Fürst war vorhin nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen, das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. ›Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren, sonst hätte Kolja verabredungsgemäß etwas in der »Waage« hinterlassen.‹ Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen …

Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf den Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wenn auch nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül…

Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus einem nicht recht verständlichen Grund fortwährend an Lebedews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Shemarin lebhaftes Interesse bekundet. Der Kellner war mit ihm gleicher Meinung gewesen, daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner, es war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen. ›Aber‹, sagte sich der Fürst, ›Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.‹ An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh, viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen sechs Monaten kennengelernt. Aber eine fremde Seele ist ein dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoshin verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt, aber kannte er Rogoshin etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal in einer Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger, selbstzufriedener Patron war dieser Lebedewsche Neffe von vorhin! ›Aber was mache ich denn?‹ fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort. ›Ist er es etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat? Ich scheine da etwas zu verwechseln… wie sonderbar! Der Kopf ist mir etwas schwindlig… Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat Lebedews älteste Tochter, die, welche mit dem Kind auf dem Arm dastand, was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein kindliches Lachen!‹ Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedew, der die Seinigen durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher, wie zweimal zwei vier ist, liebt Lebedew auch seinen Neffen von Herzen!

Wie kam er übrigens dazu, über diese Leute so endgültig zu urteilen, er, der doch erst heute angekommen war? Wie konnte er solche Urteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedew so ein Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedew einen solchen Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedew früher von dieser Seite gekannt? Lebedew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens Rogoshin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in so widerwärtiger Weise tun. Ein solches seelisches Chaos wird es da nicht geben. Ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen! Besitzt etwa Rogoshin ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument?… ›Aber… ist es denn bereits ausgemachte Sache, daß Rogoshin einen Mord begehen wird?‹ dachte der Fürst und zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief er, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz bestürzt und blieb wie angewurzelt auf dem Weg stehen. Er erinnerte sich an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof und am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er Rogoshin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an Rogoshins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoshins Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen Verzicht Rogoshins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte, und dann dieser Laden und dieser Gegenstand… was für eine Gemeinheit! Und nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und schlug diese Richtung ein, aber nach einer Minute blieb er wieder stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort.

Und jetzt befand er sich schon auf der Petersburger Seite und war nahe bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder, das war unzweifelhaft; vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr, in seinem Herzen herrschte Freude! Und… er hatte sie so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen, und… ja, jetzt würde er wünschen, Rogoshin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen … Sein Herz war rein, war er denn etwa Rogoshins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoshin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoshin vorhin gesagt hat, nur, um sie zu sehen, hierhergeeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!

Ja, das alles muß jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vorhin Rogoshins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und im Hellen vollziehen. War denn Rogoshin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagt, er liebe sie in anderer Weise, er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«, aber damit verleumdet er sich selbst. Hm!… Rogoshin über einem Buch… ist das nicht schon Mitleid, nicht ein Anfang von Mitleid? Beweist nicht schon das Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz, es ergreift die ganze Seele, es… und eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen.

Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er an ihr zum erstenmal Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoshin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber… hat denn Rogoshin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm!… Rogoshin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Vermutung sagen? (Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)

Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoshin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoshin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese geistig gestörte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoshin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmer, herzlicher Worte in Moskau nennt ihn Rogoshin schon seinen Bruder, und er… Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen!… Wie finster hat Rogoshin vorhin gesagt, daß er »seinen Glauben verliert«! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, daß er »dieses Bild gern betrachtet«; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoshin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur, er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll… Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild ist… Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja, es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin Filissowa«. Hier! Der Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna.

Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm, Nastasja Filippowna sei schon am Morgen nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna gefahren, und es könne sogar sein, daß sie einige Tage dort bleibe. Frau Filissowa war eine kleine Person mit scharfen Augen und spitzem Gesicht, etwa vierzig Jahre alt; sie blickte ihn schlau und prüfend an. Auf ihre Frage nach seinem Namen, die sie absichtlich in geheimnisvollem Ton stellte, wollte ihr der Fürst zuerst keine Antwort geben; aber er drehte sich dann doch sofort wieder um und bat sie eindringlich um Mitteilung seines Namens an Nastasja Filippowna. Frau Filissowa nahm dieses dringende Verlangen mit gesteigerter Aufmerksamkeit und außerordentlich diskreter Miene entgegen, wodurch sie offenbar zum Ausdruck bringen wollte: ›Seien Sie unbesorgt, ich weiß Bescheid!‹ Der Name des Fürsten machte auf sie augenscheinlich einen sehr starken Eindruck. Der Fürst blickte sie zerstreut an, wendete sich um und machte sich auf den Rückweg nach seinem Gasthaus. Aber er bot beim Hinausgehen nicht mehr dasselbe Bild wie in dem Augenblick, als er bei Frau Filissowa geklingelt hatte. Es war mit ihm wieder, und zwar ganz plötzlich, eine sehr große Veränderung vorgegangen: er war wieder blaß und schwach geworden, befand sich in starker Aufregung und schritt wie ein schwer Leidender einher; die Knie zitterten ihm, und ein mattes, verlorenes Lächeln spielte um seine bläulich gewordenen Lippen: sein »plötzlicher Gedanke« hatte seine Bestätigung gefunden und sich als richtig erwiesen, und – er glaubte wieder an seinen Dämon!

Aber hatte er seine Bestätigung gefunden? Hatte er sich als richtig erwiesen? Wodurch kam wieder dieses Zittern, dieser kalte Schweiß, diese seelische Finsternis und Kälte? Dadurch, daß er soeben wieder diese Augen gesehen hatte? Aber er war ja aus dem Sommergarten einzig und allein in der Absicht dorthin gegangen, sie wiederzusehen! Darin hatte ja sein »plötzlicher Gedanke« bestanden. Er hatte ein dringendes Verlangen verspürt, diese »Augen von vorhin« wiederzusehen und festzustellen, ob er ihnen dort, bei diesem Hause, wiederbegegnen werde. Das war ein krampfhaftes Verlangen bei ihm gewesen; warum war er also jetzt so bestürzt und niedergeschlagen darüber, daß er sie wirklich soeben gesehen hatte? Als ob er es nicht erwartet hätte! Ja, das waren dieselben Augen (und daran, daß es dieselben waren, konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen), die ihn am Morgen aus der Menschenmenge angefunkelt hatten, als er aus dem Wagen der Nikolai-Bahn ausgestiegen war; dieselben (ganz dieselben!), deren von hinten auf ihn gerichteten Blick er nachher aufgefangen hatte, als er sich in Rogoshins Wohnung auf einen Stuhl setzte. Rogoshin hatte es vorhin abgestritten. »Wessen Augen waren denn das?« hatte er mit einem verzerrten, eisigen Lächeln gefragt. Und noch vorhin auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof, als er in den Wagen stieg, um zu Aglaja zu fahren, und auf einmal wieder, schon zum drittenmal an diesem Tage, diese Augen erblickte, hatte der Fürst die größte Lust gehabt, zu Rogoshin heranzutreten und ihm zu sagen, »wessen Augen« es gewesen seien! Aber er war aus dem Bahnhof weggelaufen und erst vor dem Laden eines Messerschmiedes wieder zur Besinnung gekommen, in dem Augenblick, als er dort stand und einen Gegenstand mit einem Hirschhorngriff auf sechzig Kopeken taxierte. Ein seltsamer, schrecklicher Dämon hatte ihn endgültig gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Dieser Dämon hatte ihm im Sommergarten, als er selbstvergessen unter einer Linde saß, zugeflüstert, wenn Rogoshin es für so nötig halte, ihn vom frühen Morgen an zu verfolgen und auf Schritt und Tritt zu beobachten, so werde er, nun er gesehen habe, daß der Fürst nicht nach Pawlowsk fahre (was natürlich für Rogoshin eine Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung war), jedenfalls dorthin gehen, zu jenem Hause auf der Petersburger Seite, und ihm, dem Fürsten, auflauern, der ihm noch am Morgen sein Ehrenwort darauf gegeben habe, daß er sie nicht aufsuchen wolle und daß er nicht zu diesem Zwecke nach Petersburg gekommen sei. Und nun hatte es den Fürsten krampfhaft nach jenem Hause hingezogen; was war schon Auffälliges dabei, daß er tatsächlich dort Rogoshin getroffen hatte? Er hatte nur einen unglücklichen Menschen gesehen, dessen Seelenstimmung düster, aber sehr begreiflich war. Dieser unglückliche Mensch suchte sich jetzt auch gar nicht mehr zu verbergen. Ja, Rogoshin hatte es vorhin in seiner Wohnung aus irgendeinem Grund abgestritten und geleugnet; aber auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof hatte er, fast ohne sich zu verstecken, dagestanden. Derjenige, der sich verbarg, hatte dort eher der Fürst zu sein geschienen als Rogoshin. Aber jetzt bei dem Haus hatte er auf der andern Seite der Straße schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten mit verschränkten Armen auf dem Gehsteig gestanden und gewartet. Hier war er schon vollständig sichtbar gewesen und hatte dies anscheinend auch absichtlich gewollt. Er hatte dagestanden wie ein Ankläger und ein Richter, und nicht wie… ja, nicht wie wer?

Aber warum war denn er, der Fürst, jetzt nicht selbst an ihn herangegangen, sondern hatte sich von ihm abgewandt, als hätte er nichts bemerkt, obwohl doch ihre Blicke einander begegnet waren? (Ja, ihre Blicke waren einander begegnet, und sie hatten sich angesehen.) Er hatte ja selbst vorhin beabsichtigt, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zusammen dorthin zu gehen. Er hatte ja selbst morgen zu ihm gehen und ihm sagen wollen, daß er bei ihr gewesen sei. Er hatte sich ja, während er noch dorthin ging, auf halbem Weg, als auf einmal die Freude seine Seele erfüllte, selbst von seinem Dämon losgemacht. Oder lag in Rogoshin, das heißt in der ganzen heutigen Erscheinung dieses Menschen, in der Gesamtheit seiner Worte, Bewegungen, Handlungen und Blicke, wirklich etwas, was die schrecklichen Ahnungen des Fürsten und die aufregenden Einflüsterungen seines Dämons rechtfertigen konnte? Etwas, was sich von selbst dem Auge aufdrängt, aber schwer zu definieren und darzulegen und unmöglich mit hinreichenden Gründen zu beweisen ist, aber doch trotz all dieser Schwierigkeit und Unmöglichkeit einen starken, unwiderstehlichen Eindruck macht, der unwillkürlich in volle Überzeugung übergeht?…

Eine Überzeugung wovon? (Oh, wie quälte den Fürsten das Ungeheuerliche, »das Unwürdige« dieser Überzeugung, »dieser unwürdigen Ahnung«, und wie klagte er sich selbst an!) ›Sage doch, wenn du es wagst, wovon du überzeugt bist‹, sagte er fortwährend vorwurfsvoll und herausfordernd zu sich selbst. ›Formuliere es; wage es, deinen Gedanken vollständig auszusprechen, deutlich, genau, ohne Schwanken! Oh, ich bin ein Ehrloser!‹ so schalt er sich immer wieder voll Unwillen und mit Schamröte im Gesicht. ›Mit welchen Augen werde ich jetzt mein ganzes Leben lang diesen Menschen ansehen! Oh, was ist das für ein Tag! O Gott, welch ein beklemmendes Gefühl.‹

Am Ende dieses langen, qualvollen Weges von der Petersburger Seite gab es einen Augenblick, wo den Fürsten auf einmal ein unbezwingliches Verlangen ergriff, sofort nach Rogoshins Wohnung zu gehen, ihn dort zu erwarten, ihn voller Scham mit Tränen zu umarmen, ihm alles zu sagen und die ganze Sache mit einemmal zu Ende zu bringen. Aber er stand schon vor seinem Gasthof… Wie sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, sein eigenes Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse… ›Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein krankes Weib an jede Ahnung!‹ dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz direkt am Eingang in den Torweg festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, zwingen die Menschen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. ›Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!‹ sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen, aber… er blieb von neuem stehen.

In dem ohnehin sehr dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die herauf gezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, da der Fürst sich dem Hause näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst sich nach kurzem Stehenbleiben ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, dort, wo es die Treppe hinaufging, einen Mann. Dieser Mann schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt hatte und daß dieser Mensch bestimmt Rogoshin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. ›Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!‹ sagte er bei sich selbst mit seltsamer Sicherheit.

Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng, und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in der Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch wach, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um.

Die zwei Augen von vorhin, dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen.

Rogoshins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte:

»Parfen, ich kann es nicht glauben!…«

Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreies, der sich von selbst seiner Brust entrang und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein.

Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich die eigentliche Fallsucht, ganz plötzlich ein. In diesem Augenblicke verzerrt sich auf einmal das Gesicht außerordentlich, und besonders der Blick wird entstellt. Krämpfe und Zuckungen ergreifen den ganzen Körper und alle Gesichtsmuskeln. Ein furchtbarer, unbeschreiblicher und mit nichts zu vergleichender Schrei ringt sich aus der Brust; in diesem Schrei verschwindet sozusagen alles Menschliche, und es ist für einen Beobachter unmöglich oder wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zu glauben, daß derjenige, der da schreit, wirklich noch der gleiche Mensch ist. Man kann sich dabei sogar einbilden, daß ein anderer schreie, der sich im Innern dieses Menschen befinde. Wenigstens haben viele den empfangenen Eindruck so geschildert; bei vielen ruft der Anblick eines Menschen, der einen epileptischen Anfall durchmacht, unerträgliches Entsetzen hervor, das sogar etwas Mystisches an sich hat. Man muß annehmen, daß ein solches Gefühl plötzlichen Entsetzens, im Verein mit allen andern schrecklichen Empfindungen dieses Augenblicks, Rogoshin plötzlich auf der Stelle erstarren ließ und dadurch den Fürsten vor dem sonst unvermeidlichen Stoß des bereits auf ihn herabfahrenden Messers rettete. Als dann Rogoshin sah, daß der Fürst zurücktaumelte und plötzlich hintenüberfiel, gerade die Treppe hinunter, wobei er mit voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen eine Steinstufe schlug, da stürzte er, ehe er noch Zeit gefunden hatte, über den Anfall Klarheit zu gewinnen, nach unten, lief um den Daliegenden herum und rannte fast ohne Besinnung aus dem Gasthaus hinaus.

Infolge der Krämpfe, Zuckungen und des Umsichschlagens rutschte der Körper des Kranken die Stufen hinab, deren nicht mehr als fünfzehn waren, bis ganz zum Fuß der Treppe. Sehr bald, kaum fünf Minuten nachher, wurde der Daliegende bemerkt, und es sammelte sich um ihn eine Menge Menschen. Die große Blutlache, die sich um den Kopf gebildet hatte, erweckte Zweifel, ob dieser Mensch sich selbst verletzt habe oder »etwas Schlimmes geschehen« sei. Bald jedoch durchschauten einige, daß es ein Fall von Epilepsie war, und einer der Kellner erkannte in dem Fürsten den kürzlich eingetroffenen Gast. Die Aufregung kam endlich infolge eines sehr glücklichen Umstandes zur Ruhe.

Kolja Iwolgin, der in der »Waage« hinterlassen hatte, er werde um vier Uhr zurück sein, und statt dessen nach Pawlowsk gefahren war, hatte es infolge einer Überlegung, die ihm plötzlich gekommen war, abgelehnt, bei der Generalin Jepantschina zu speisen, war nach Petersburg zurückgefahren und nach der »Waage« geeilt, wo er gegen sieben Uhr abends eintraf. Nachdem er aus dem für ihn hinterlassenen Billett ersehen hatte, daß der Fürst sich in der Stadt befand, eilte er zu der ihm in dem Billett mitgeteilten Adresse. Als er in dem Gasthaus erfuhr, daß der Fürst ausgegangen war, ging er nach unten in die Restaurationsräume, um dort zu warten, ließ sich Tee geben und hörte dem Spiel des Orchestrions zu. Zufällig hörte er ein Gespräch über einen Anfall, den soeben jemand bekommen habe, stürzte, von einer richtigen Ahnung erfüllt, nach der Stelle hin und erkannte den Fürsten. Sogleich wurden alle erforderlichen Maßregeln ergriffen. Der Fürst wurde in sein Zimmer getragen; obgleich er wieder zu sich gekommen war, dauerte es doch sehr lange, bis er das volle Bewußtsein zurückerlangte. Ein Arzt, der herbeigerufen war, um den zerschlagenen Kopf zu untersuchen, verordnete ein Wundwasser und erklärte, daß die Verletzungen in keiner Weise gefährlich seien. Als der Fürst nach einer Stunde endlich anfing, seine Umgebung ordentlich zu erkennen, schaffte Kolja ihn in einem Wagen aus dem Gasthaus zu Lebedew. Dieser nahm den Kranken mit großer Freundlichkeit und vielen Verbeugungen auf. Es wurde um seinetwillen auch der Umzug nach dem Landhaus beschleunigt, und am dritten Tag befanden sich alle schon in Pawlowsk.

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Kapitel 22

VI

Lebedews Landhaus war nicht groß, aber bequem und sogar hübsch. Der zum Vermieten bestimmte Teil war besonders schön ausgestattet. Auf der ziemlich geräumigen Veranda beim Eingang von der Straße in die Wohnung waren mehrere Orangen- und Zitronenbäume und Jasminsträucher in großen grünen Holzkübeln aufgestellt, was nach Lebedews Ansicht einen überaus reizvollen Anblick bot. Einige dieser Gewächse hatte er zugleich mit dem Landhaus erworben und war von dem Effekt, den sie in der Veranda hervorbrachten, so entzückt gewesen, daß er unter Benutzung einer sich bietenden Gelegenheit beschloß, zur Vervollständigung noch eine Anzahl ebensolcher Gewächse in Kübeln auf einer Auktion zu erstehen. Als endlich alle diese Gewächse nach dem Landhaus geschafft und aufgestellt waren, lief Lebedew mehrmals am Tage die Stufen der Veranda hinab auf die Straße und bewunderte von dort aus sein Besitztum, wobei er jedesmal im stillen die Summe erhöhte, die er dem künftigen Mieter seines Landhauses abzuverlangen gedachte. Dem Fürsten, der infolge der seelischen Leiden und der physischen Abgespanntheit sehr schwach war, gefiel das Landhaus ausnehmend. Übrigens sah der Fürst am Tage des Umzuges nach Pawlowsk, das heißt am dritten Tage nach dem Anfall, äußerlich bereits fast wieder wie ein gesunder Mensch aus, obwohl er sich innerlich immer noch nicht genesen fühlte. Er freute sich über jeden, den er in diesen drei Tagen um sich sah: über Kolja, der fast nicht von seiner Seite wich, über die ganze Familie Lebedew (ohne den Neffen, der verschwunden war, man wußte nicht wohin), über Lebedew selbst; sogar den General Iwolgin, der ihn noch in der Stadt besuchte, empfing er mit Vergnügen. Am Tag des Umzuges selbst, der erst gegen Abend sein Ende erreicht hatte, war um ihn in der Veranda ziemlich viel Besuch versammelt: zuerst war Ganja gekommen, den der Fürst kaum wiedererkannte, so hatte er sich in dieser ganzen Zeit verändert und war abgemagert. Darauf waren Warja und Ptizyn erschienen, die ebenfalls in Pawlowsk zur Sommerfrische wohnten. Der General Iwolgin, der sich bei Lebedew fast für immer einquartiert hatte, schien sogar mit ihm zusammen umgezogen zu sein. Lebedew bemühte sich, ihm den Zutritt zu dem Fürsten zu verwehren und ihn bei sich festzuhalten; er verkehrte mit ihm freundschaftlich: sie waren anscheinend schon lange miteinander bekannt. Der Fürst bemerkte, daß sie an diesen ganzen drei Tagen manchmal miteinander lange Gespräche führten, nicht selten schrien und stritten, sogar, wie es schien, über wissenschaftliche Gegenstände, was offenbar Lebedew großes Vergnügen machte. Man konnte meinen, daß ihm der General für diese Disputationen unentbehrlich war. Aber Lebedew dehnte die Vorsichtsmaßregeln, die er auf den General anwandte, seit der Übersiedlung nach dem Landhaus auch auf seine Familie aus; mit der Begründung, der Fürst dürfe nicht gestört werden, ließ er niemand zu ihm; sobald er nur im entferntesten Verdacht schöpfte, daß seine Töchter, Wera mit dem Kind nicht ausgenommen, nach der Veranda gehen wollten, wo sich der Fürst befand, stürzte er sofort auf sie los, trampelte mit den Füßen und jagte sie fort, trotz aller Bitten des Fürsten, jedermann zu ihm zu lassen.

»Erstens hört sonst aller Respekt auf, wenn man ihnen dergleichen gestattet, und zweitens schickt es sich auch nicht für sie…«, erklärte er schließlich auf eine direkte Frage des Fürsten.

»Aber warum denn?« erwiderte der Fürst. »Wirklich, Sie quälen mich mit all dieser Beaufsichtigung und Bewachung. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß es mir langweilig ist, allein zu sein, und Sie selbst machen mich durch Ihr beständiges Gestikulieren und Umhergehen auf den Zehen noch schwermütiger.«

Der Fürst spielte darauf an, daß Lebedew, obwohl er alle seine Angehörigen wegen der angeblichen Ruhebedürftigkeit des Kranken wegtrieb, doch selbst während dieser ganzen drei Tage alle Augenblicke zum Fürsten hereinkam und jedesmal zunächst die Tür öffnete, den Kopf hereinsteckte, sich im Zimmer umsah, als ob er feststellen wollte, ob der Fürst auch noch da sei und nicht davongelaufen wäre, und dann auf den Zehen, langsam, mit schleichenden Schritten, sich dessen Lehnstuhl näherte, so daß er seinen Mieter manchmal unversehens erschreckte. Fortwährend erkundigte er sich, ob der Fürst etwas brauche, und wenn der Fürst ihm endlich bemerkte, er möge ihn in Ruhe lassen, so machte er gehorsam, und ohne ein Wort zu erwidern, kehrt, ging wieder auf den Zehen zur Tür zurück und gestikulierte, während er ging, die ganze Zeit, als wollte er zu verstehen geben, er sei nur so ohne besondere Absicht hereingekommen, werde kein Wort weiter reden, gehe ja schon wieder hinaus und werde nicht mehr wiederkommen; aber nichtsdestoweniger erschien er nach zehn Minuten oder höchstens einer Viertelstunde von neuem. Kolja, der freien Zutritt zum Fürsten hatte, erregte dadurch Lebedews höchstes Mißfallen, ja dieser fühlte sich sogar schwer gekränkt. Kolja merkte, daß Lebedew manchmal eine halbe Stunde lang an der Tür stand und horchte, was er mit dem Fürsten sprach, und teilte diese seine Beobachtung natürlich dem Fürsten mit.

»Aber Sie halten mich ja hinter Schloß und Riegel, wie wenn Sie mich als Ihr Eigentum erworben hätten«, protestierte der Fürst. »Wenigstens auf dem Lande möchte ich es anders haben; lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich empfangen werde, wen ich will, und gehen werde, wohin es mir beliebt.«

»Ohne den allergeringsten Zweifel«, versetzte Lebedew, lebhaft gestikulierend.

Der Fürst betrachtete ihn aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen.

»Wie ist das, Lukjan Timofejewitsch? Haben Sie Ihr Schränkchen, das in Ihrer Wohnung über dem Kopfende Ihres Bettes an der Wand befestigt war, hierher mitgebracht?«

»Nein, das habe ich nicht getan.«

»Haben Sie es wirklich dort gelassen?«

»Es war nicht möglich, es mitzunehmen; ich hätte es aus der Wand herausbrechen müssen… Es sitzt ganz fest.«

»Aber vielleicht haben Sie hier ein ebensolches?«

»Sogar ein besseres, sogar ein besseres; ich habe es mit dem Landhaus gekauft.«

»Ach so! Wem haben Sie denn vorhin den Zutritt zu mir verwehrt? So etwa vor einer Stunde?«

»Das… das war der General. Ich habe ihn allerdings nicht hereingelassen, und er paßt auch wirklich nicht zu Ihnen. Ich schätze diesen Mann sehr hoch, Fürst; er… er ist ein bedeutender Mensch, glauben Sie es etwa nicht? Na, sehen Sie, aber trotzdem… trotzdem wäre es das beste, durchlauchtigster Fürst, wenn Sie ihn nicht empfangen wollten.«

»Aber warum denn nicht, möchte ich doch fragen. Und warum stehen Sie denn jetzt auf den Zehen, Lebedew, und kommen immer zu mir, als wollten Sie mir ein Geheimnis ins Ohr sagen?«

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch, das fühle ich«, antwortete Lebedew ziemlich unmotiviert und schlug sich affektvoll auf die Brust. »Aber wird der General für Sie nicht gar zu gastfreundlich sein?«

»Wieso gar zu gastfreundlich?«

»Er ist sehr für Gastfreundschaft. Erstens richtet er sich bei mir schon ganz häuslich ein; nun, das mag noch angehen; aber er ist unternehmend und dringt gleich in die Verwandtschaft ein. Er und ich, wir haben schon mehrmals unsere Familienverhältnisse untersucht, und es hat sich herausgestellt, daß wir miteinander verwandt sind. Und noch gestern hat er mir auseinandergesetzt, es lasse sich auch beweisen, daß Sie mütterlicherseits ein entfernter Neffe von ihm seien. Wenn also Sie sein Neffe sind, dann sind auch wir beide, Sie und ich, miteinander verwandt, durchlauchtigster Fürst. Das ist ja nun noch nichts Schlimmes, eine kleine Schwäche; aber soeben hat er mir versichert, daß er sein ganzes Leben lang, von der Zeit an, wo er noch Fähnrich war, bis zum elften Juni vorigen Jahres, täglich nicht weniger als zweihundert Personen an seinem Tisch sitzen gehabt habe. Es sei schließlich so weit gekommen, daß sie gar nicht mehr aufgestanden seien, sondern täglich fünfzehn Stunden lang zu Mittag und zu Abend gespeist und Tee getrunken hätten, und das alles dreißig Jahre lang ohne die geringste Unterbrechung, es sei kaum Zeit gewesen, das Tischtuch zu wechseln. Der eine sei aufgestanden und weggegangen und ein anderer gekommen, und an den patriotischen Festtagen sei die Zahl seiner Gäste auf dreihundert gestiegen. Und bei der tausendjährigen Jubiläumsfeier Rußlands habe er siebenhundert gezählt. Das ist ja schrecklich, solche Erzählungen sind ein sehr übles Symptom; so gastfreundliche Herren auch nur zu empfangen, ist bedenklich, und da habe ich mir gedacht, ob er nicht für Sie und für mich doch gar zu gastfreundlich ist.«

»Aber Sie stehen, wie es scheint, mit ihm auf sehr gutem Fuß?«

»Wir verkehren miteinander wie Brüder, und ich fasse alles als Scherz auf. Mögen wir miteinander verwandt sein, was schadet es mir? Das kann mir nur zur Ehre gereichen. Ich halte ihn für einen höchst interessanten Menschen, trotz der zweihundert Tischgäste und der noch größeren Zahl bei der Tausendjahrfeier Rußlands. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig. Sie sprachen soeben von Geheimnissen, Fürst, und sagten, ich träte immer zu Ihnen heran, als wollte ich Ihnen ein Geheimnis mitteilen; nun, es trifft sich, daß wirklich ein Geheimnis vorliegt: eine gewisse Person hat mir soeben mitgeteilt, daß sie sehr wünsche, mit Ihnen eine geheime Zusammenkunft zu haben.«

»Warum denn eine geheime? Der Heimlichkeit bedarf es nicht. Ich werde selbst zu ihr hingehen, womöglich gleich heute.«

»Gewiß, der Heimlichkeit bedarf es gar nicht«, versetzte Lebedew gestikulierend. »Auch fürchtet sie gar nicht das, was Sie vermuten. Übrigens, der Unmensch kommt jeden Tag her, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen; ist Ihnen das bekannt?«

»Sie nennen ihn so oft einen Unmenschen; das ist mir sehr verdächtig.«

»Sie brauchen gar keinen Verdacht zu haben, nicht den geringsten Verdacht«, wehrte Lebedew eilig ab. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß die betreffende Person sich nicht vor ihm, sondern vor einem ganz andern fürchtet.«

»Aber vor wem denn? Sagen Sie es doch schnell!« rief der Fürst ungeduldig angesichts der geheimnisvollen Grimassen Lebedews.

»Das ist eben das Geheimnis.«

Dabei lächelte Lebedew.

»Wessen Geheimnis?«

»Das ist Ihr Geheimnis. Sie selbst haben mir verboten, durchlauchtigster Fürst, in Ihrer Gegenwart davon zu sprechen…«, murmelte Lebedew, und nachdem er sich genug daran geweidet hatte, daß es ihm gelungen war, die Neugier seines Zuhörers bis zu peinlicher Ungeduld zu steigern, schloß er plötzlich: »Sie fürchtet sich vor Aglaja Iwanowna.«

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht und schwieg einen Augenblick.

»Bei Gott, Lebedew, ich werde Ihr Landhaus verlassen«, sagte er plötzlich. »Wo sind Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyns? Bei Ihnen? Auch die haben Sie in Ihre eigenen Zimmer herübergelockt.«

»Sie werden kommen, sie werden kommen! Sogar der General wird mitkommen. Alle Türen werde ich aufmachen, auch meine Töchter werde ich herrufen, alle, alle, sofort, sofort«, flüsterte Lebedew erschrocken unter lebhaften Handbewegungen und rannte dabei von einer Tür zur andern.

In diesem Augenblick erschien Kolja, von der Straße kommend, in der Veranda und meldete, daß hinter ihm Besuch folge: Lisaweta Prokofjewna mit ihren drei Töchtern.

»Soll ich Ptizyns und Gawrila Ardalionowitsch hereinlassen oder nicht? Soll ich den General hereinlassen oder nicht?« fragte Lebedew hastig, durch diese Nachricht aufs höchste überrascht.

»Warum denn nicht? Lassen Sie jeden ein, der zu mir will! Ich kann Ihnen sagen, Lebedew, daß Sie mein Verhältnis zu den Menschen gleich von Anfang an falsch beurteilt haben; Sie sind da fortwährend in einem Irrtum befangen. Ich habe nicht den geringsten Grund, mich vor irgend jemand zu verstecken und zu verbergen«, bemerkte der Fürst lachend.

Als Lebedew ihn lachen sah, hielt er es für seine Pflicht, dies ebenfalls zu tun. Trotz seiner großen Aufregung war er offenbar sehr zufrieden.

Die von Kolja gebrachte Nachricht erwies sich als zutreffend; er war den Jepantschins nur ein paar Schritte vorausgelaufen, um sie anzumelden, und die Besucher erschienen nun plötzlich von beiden Seiten: von der Straße her Jepantschins und aus den Zimmern das Ptizynsche Ehepaar, Ganja und General Iwolgin.

Jepantschins hatten von der Krankheit des Fürsten und seiner Anwesenheit in Pawlowsk erst soeben durch Kolja erfahren; bis dahin hatte die Generalin schwere Zweifel gehegt. Schon vor drei Tagen hatte der General seiner Familie die Visitenkarte des Fürsten gezeigt; diese Karte rief bei Lisaweta Prokofjewna die bestimmte Überzeugung hervor, daß der Fürst selbst unmittelbar nach dieser Karte nach Pawlowsk kommen werde, um ihnen einen Besuch zu machen. Vergebens hielten ihr die Töchter entgegen, daß jemand, der ein halbes Jahr lang nicht geschrieben habe, es auch jetzt vielleicht gar nicht so eilig haben werde und daß er vielleicht, auch abgesehen von den Beziehungen zu ihrer Familie, in Petersburg viel zu tun haben möge; woher könnten sie denn von seinen Geschäften Kenntnis haben? Die Generalin wurde über diese Bemerkungen geradezu böse und bot eine Wette darauf an, daß der Fürst spätestens am folgenden Tag erscheinen werde, wiewohl auch das schon sehr spät sei. Am folgenden Tag wartete sie den ganzen Vormittag; dann erwartete sie ihn zum Mittagessen, zum Abend, und als es schon ganz dunkel geworden war, ärgerte sich Lisaweta Prokofjewna über alles und jedes und zankte sich mit allen, selbstverständlich ohne unter den Gründen des Streites den Fürsten auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Auch am dritten Tag wurde seiner keinerlei Erwähnung getan. Als Aglaja sich beim Mittagessen unversehens die Bemerkung entschlüpfen ließ, maman sei ärgerlich, weil der Fürst nicht komme, worauf der General sofort einschaltete, er für seine Person könne nichts dafür, stand Lisaweta Prokofjewna auf und ging zornig hinaus. Endlich, am Abend, erschien Kolja mit einer Menge von Nachrichten und erzählte ihnen alle Erlebnisse des Fürsten, soweit sie ihm bekannt waren. Das Resultat war, daß Lisaweta Prokofjewna triumphierte; Kolja wurde aber gehörig ausgescholten: »Sonst hockt er hier tagelang bei uns und ist nicht loszuwerden, und jetzt hat er uns nicht einmal eine Mitteilung zugehen lassen, wenn er schon selbst nicht herkommen mochte.« Kolja wollte eigentlich sofort wegen des Ausdrucks »nicht loszuwerden« aufbegehren, verschob dies aber doch auf ein anderes Mal, und wenn der Ausdruck nicht gar zu beleidigend gewesen wäre, hätte er ihn vielleicht ganz entschuldigt, soviel Vergnügen machte ihm Lisaweta Prokofjewnas Aufregung und Unruhe bei der Nachricht von der Krankheit des Fürsten. Sie bestand eine ganze Weile darauf, man müsse unverzüglich einen expressen Boten nach Petersburg schicken, um eine ärztliche Kapazität ersten Ranges aufzusuchen und mit dem ersten Zug herbeizuschaffen. Aber die Töchter redeten ihr das aus; indes wollten sie hinter ihrer Mama nicht zurückstehen, als diese sich sofort anschickte, den Kranken zu besuchen.

»Er liegt auf dem Sterbebett«, sagte sie, sich eilig zurechtmachend, »wie werden wir uns da um Vorschriften der Etikette kümmern! Ist er ein Freund unseres Hauses oder nicht?«

»Andererseits ist es auch nicht passend, sich jemandem so ohne weiteres aufzudrängen«, wollte Aglaja einwenden.

»Na, dann komm nicht mit! Das wird sogar ganz gut sein; sonst ist niemand hier, um Jewgenij Pawlytsch zu empfangen, wenn er kommen sollte.«

Nach diesen Worten schloß sich Aglaja natürlich sofort den andern an, was sie übrigens ohnehin beabsichtigt hatte. Fürst Schtsch., der sich mit Adelaida unterhielt, erklärte sich auf deren Bitte unverzüglich bereit, die Damen zu begleiten. Er hatte schon früher, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit Jepantschins, großes Interesse bekundet, als er von ihnen etwas über den Fürsten gehört hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß er mit diesem bereits bekannt war, und zwar hatten sie einander vor nicht allzu langer Zeit irgendwo kennengelernt und dann ungefähr vierzehn Tage lang zusammen in irgendeinem kleinen Städtchen gelebt. Das war vor drei Monaten gewesen. Fürst Schtsch. hatte ihnen sogar viel von dem Fürsten erzählt und sich überhaupt sehr sympathisch über ihn ausgesprochen, so daß er jetzt mit aufrichtigem Vergnügen hinging, um einen alten Bekannten zu besuchen. Der General Iwan Fjodorowitsch war diesmal nicht zu Hause. Jewgenij Pawlowitsch war ebenfalls noch nicht gekommen.

Von dem Jepantschinschen Landhause bis zu dem Lebedewschen waren es nur dreihundert Schritte. Der erste unangenehme Eindruck, den Lisaweta Prokofjewna beim Fürsten empfing, wurde dadurch hervorgerufen, daß sie eine ganze Gesellschaft um ihn versammelt fand, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß ihr in dieser Gesellschaft zwei oder drei Personen entschieden zuwider waren; und zweitens war sie unangenehm berührt, als ihnen statt eines Verscheidenden auf dem Sterbebett, den sie zu finden erwartet hatte, ein anscheinend völlig gesunder, elegant gekleideter junger Mann mit lächelnder Miene entgegentrat. Sie blieb ganz verwundert stehen, zum größten Vergnügen Koljas, der ihr natürlich, noch ehe sie von ihrem Landhaus aufbrach, sehr wohl hätte mitteilen können, daß niemand im Sterben liege und von einem Totenbett nicht die Rede sei, dies aber absichtlich unterlassen hatte in schlauer Voraussicht des komischen Zornes der Generalin, die nach seiner Spekulation sich jedenfalls darüber ärgern würde, wenn sie den Fürsten, dem sie herzlich zugetan war, gesund anträfe. Kolja war sogar so taktlos, seine Vermutung laut auszusprechen, um Lisaweta Prokofjewna noch mehr zu reizen, mit der er trotz der zwischen ihnen angeknüpften Freundschaft ständig und manchmal in recht scharfer Form stichelte.

»Wart nur, mein Lieber, kräh nicht zu früh!« antwortete Lisaweta Prokofjewna und setzte sich auf den Lehnstuhl, den ihr der Fürst zurechtrückte.

Lebedew, Ptizyn und General Iwolgin beeilten sich, den jungen Damen Stühle zu bringen. Aglaja wurde vom General ein Stuhl angeboten. Lebedew stellte auch dem Fürsten Schtsch. einen Stuhl hin, wobei er es fertigbrachte, durch die Krümmung seines Rückens eine außerordentliche Ehrerbietung auszudrücken. Warja begrüßte die jungen Damen mit dem gewöhnlichen Entzücken im Flüsterton.

»Ich hatte allerdings geglaubt, dich im Bett zu finden, Fürst, so schwarzseherisch hatte mich die Angst gemacht, und ich leugne keineswegs, daß ich mich soeben furchtbar über dein glückliches Gesicht ärgerte; aber ich schwöre dir, das dauerte nur einen Augenblick, nur so lange, als ich noch nicht nachgedacht hatte. Sobald ich nachgedacht habe, handle und rede ich immer verständiger; ich denke, es wird dir ebenso gehen. In Wirklichkeit aber könnte ich mich über die Genesung meines eigenen Sohnes, wenn ich einen hätte, kaum mehr freuen als über die deinige; und wenn du es mir nicht glaubst, so ist das eine Schande für dich, nicht für mich. Dieser unartige Junge aber erlaubt sich mit mir ganz ungehörige Spaße. Du bist ja wohl sein Gönner; darum möchte ich dir ankündigen, daß ich eines schönen Tages auf die Ehre und das Vergnügen seiner weiteren Bekanntschaft verzichten werde, das kannst du mir glauben.«

»Was kann ich denn dafür?« rief Kolja. »Wenn ich Ihnen auch hoch und heilig beteuert hätte, daß der Fürst schon beinah gesund sei, so hätten Sie mir doch nicht geglaubt, weil es viel interessanter war, ihn sich auf dem Sterbebette vorzustellen.«

»Bleibst du lange hier bei uns in Pawlowsk?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an den Fürsten.

»Den ganzen Sommer und vielleicht noch länger.«

»Du bist ja allein hier. Bist du denn nicht verheiratet?«

»Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte der Fürst, der über die Naivität dieser gegen ihn gerichteten Stichelei lächeln mußte.

»Zum Lächeln ist kein Anlaß, so etwas kommt doch vor. Ich sagte es wegen des Landhauses; warum bist du nicht zu uns gezogen? Wir haben ein ganzes Nebengebäude leer stehen. Übrigens, ganz wie du willst. Wohnst du denn hier als Untermieter? Bei dem da?« fügte sie halblaut hinzu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf Lebedew hindeutete. »Warum schneidet er eigentlich fortwährend Gesichter?«

In diesem Augenblick kam Wera, wie gewöhnlich mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Innern des Hauses auf die Veranda. Lebedew, der sich bei den Stühlen umherwand und nicht wußte, wo er bleiben sollte, aber durchaus nicht weggehen wollte, stürzte plötzlich auf Wera los und wollte sie mit heftigen Armbewegungen aus der Veranda hinausjagen; er vergaß sich sogar so weit, daß er mit den Füßen trampelte.

»Ist er verrückt?« fügte die Generalin hinzu.

»Nein, er…«

»Vielleicht ist er betrunken? Deine Gesellschaft hier ist nicht schön«, sagte sie in entschiedenem Ton, indem sie auch die übrigen Gäste mit ihrem Blick maß. »Ah, was für ein nettes Mädchen! Wer ist das?«

»Das ist Wera Lukjanowna, die Tochter dieses Herrn Lebedew.«

»Ah!… Ein sehr nettes Mädchen. Ich möchte ihre Bekanntschaft machen.«

Lebedew aber, der Lisaweta Prokofjewnas lobendes Urteil gehört hatte, zog bereits selbst seine Tochter herbei, um sie vorzustellen.

»Meine Kinder sind mutterlos, mutterlos!« jammerte er, während er näher trat. »Auch dieses Kind, das sie auf dem Arm hat, ist mutterlos; es ist ihre Schwester, meine Tochter Ljubow, in rechtmäßiger Ehe von meiner Frau Jelena geboren, die vor sechs Wochen nach Gottes Willen im Wochenbett gestorben ist…ja… Sie vertritt an ihr Mutterstelle, obgleich sie nur ihre Schwester ist, nichts weiter als ihre Schwester… nichts weiter, nichts weiter…«

»Und du, Väterchen, bist nichts weiter als ein Dummkopf, nimm mir’s nicht übel. Na, nun genug, jetzt wirst du es wohl selbst wissen, denke ich«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna sehr ungehalten.

»Vollkommen richtig!« erwiderte Lebedew sehr respektvoll mit einer tiefen Verbeugung.

»Hören Sie mal, Herr Lebedew, ist das wahr, was man von Ihnen sagt: Sie legen die Apokalypse aus?« fragte Aglaja.

»Vollkommen wahr… Seit fünfzehn Jahren.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Es hat ja wohl auch in den Zeitungen etwas über Sie gestanden?«

»Nein, das bezog sich auf einen andern Erklärer, einen andern; der ist gestorben, und ich bin jetzt sein Nachfolger«, versetzte Lebedew, ganz außer sich vor Freude.

»Tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie sie mir einmal in diesen Tagen als guter Nachbar. Ich verstehe in der Apokalypse kein Wort.«

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Aglaja Iwanowna, daß das von ihm nur Scharlatanerie ist; glauben Sie mir!« mischte sich eilig General Iwolgin in das Gespräch ein, der schon wie auf Kohlen gesessen und auf das lebhafteste gewünscht hatte, irgendwie eine Unterhaltung anzuknüpfen; er setzte sich bei diesen Worten neben Aglaja Iwanowna. »Gewiß«, fuhr er fort, »der Aufenthalt auf dem Lande hat ja seine besonderen Reize und seine besonderen Vergnügungen, und der Verkehr mit jemandem, der es so keck unternimmt, die Apokalypse zu erklären, ist ein Zeitvertreib wie jeder andere und sogar ein solcher, der in interessanter Weise den Verstand in Anspruch nimmt, aber ich… Sie scheinen mich erstaunt anzusehen? Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: General Iwolgin. Ich habe Sie auf den Armen getragen, Aglaja Iwanowna.«

»Sehr erfreut. Ich bin mit Warwara Ardalionowna und Nina Alexandrowna bekannt«, murmelte Aglaja, die sich die größte Mühe gab, nicht loszulachen.

Lisaweta Prokofjewna wurde dunkelrot. Der Ärger, der sich schon lange in ihrer Seele angesammelt hatte, verlangte auf einmal nach einem Ausweg. Sie konnte den General Iwolgin, mit dem sie früher einmal, vor sehr langer Zeit, bekannt gewesen war, nicht ausstehen.

»Du lügst, Väterchen, wie das deine Gewohnheit ist; du hast sie nie auf den Armen getragen«, sagte sie scharf und unwillig zu ihm.

»Sie haben es vergessen, maman, er hat mich wirklich auf den Armen getragen«, bestätigte Aglaja plötzlich die Angabe des Generals. »Wir wohnten damals in Twer. Ich war sechs Jahre alt; ich erinnere mich an alles. Er machte mir einen Bogen und einen Pfeil und lehrte mich damit schießen, und ich schoß eine Taube tot. Erinnern Sie sich, daß wir beide zusammen eine Taube totgeschossen haben?«

»Und mir brachte er damals einen Helm aus Pappe und einen hölzernen Degen, ich entsinne mich auch!« rief Adelaida.

»Auch ich erinnere mich daran«, fügte Alexandra bekräftigend hinzu. »Ihr zanktet euch damals noch wegen der verwundeten Taube und wurdet in die Ecken gestellt; Adelaida stand so da: mit dem Helm und dem Degen.«

Der General, der zu Aglaja gesagt hatte, er habe sie auf den Armen getragen, hatte das nur so hingeredet, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und einzig und allein, weil er fast immer eine Unterhaltung mit jungen Leuten in dieser Weise begann, wenn er mit ihnen bekannt zu werden wünschte. Diesmal aber hatte es sich ganz zufällig getroffen, daß er die Wahrheit gesagt hatte, und ebenso war es ein Zufall gewesen, daß er selbst dieses wahre Faktum vergessen hatte. Als nun Aglaja unerwarteterweise zur Bestätigung erzählte, daß sie mit ihm zusammen eine Taube totgeschossen habe, erhellte sich sein Gedächtnis auf einmal, und er erinnerte sich selbst an diesen Vorfall bis in die kleinsten Einzelheiten, wie man sich in höheren Jahren nicht selten an etwas aus der fernen Vergangenheit erinnert. Es ist schwer zu sagen, was eigentlich an dieser Erinnerung so stark auf den armen und wie gewöhnlich etwas angetrunkenen General wirken konnte, aber er wurde auf einmal ganz gerührt.

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich an alles!« rief er. »Ich war damals Hauptmann. Sie waren so ein kleines, allerliebstes Ding. Nina Alexandrowna … Ganja … Ich verkehrte in Ihrem Hause. Iwan Fjodorowitsch …«

»Und nun sieh mal, wie weit du jetzt heruntergekommen bist!« fiel die Generalin ein. »Na, wenigstens hast du noch nicht alle anständigen Gefühle in dir durch den Trunk erstickt, wenn das so auf dich hat wirken können! Aber deine Frau hast du halb zu Tode gequält. Statt deinen Kindern den Weg durchs Leben zu zeigen, sitzt du im Schuldgefängnis. Mach, daß du von hier wegkommst, Väterchen; geh woandershin, stell dich hinter einer Tür in die Ecke und weine; denk an deine früheren unschuldigen Tage; vielleicht verzeiht dir dann Gott. Geh nur, geh; ich rede ganz im Ernst. Nichts ist zur Besserung nützlicher, als reuig der Vergangenheit zu gedenken.«

Aber es bedurfte keiner wiederholten Versicherung, daß sie ganz im Ernst rede: der General war wie alle Trinker sehr gefühlvoll und konnte wie alle heruntergekommenen Trinker die Erinnerung an die glückliche Vergangenheit nicht ertragen. Er stand auf und begab sich gehorsam nach der Tür, so daß Lisaweta Prokofjewna sogleich wieder Mitleid mit ihm empfand.

»Ardalion Alexandrytsch! Väterchen!« rief sie ihm nach. »Bleib noch einen Augenblick hier! Wir sind allzumal Sünder. Wenn du fühlen wirst, daß dein Gewissen dir nicht mehr soviel Vorwürfe macht, dann komm zu mir; dann wollen wir uns zusammensetzen und von alten Zeiten plaudern. Ich bin ja vielleicht noch fünfzigmal sündhafter als du. Aber jetzt leb wohl, geh, du hast hier nichts zu suchen!« fügte sie hinzu, in Angst, daß er wieder umkehren könnte.

»Sie täten gut, wenn Sie ihm vorläufig nicht nachgingen«, sagte der Fürst, um Kolja aufzuhalten, der seinem Vater schnell folgen wollte. »Sonst wird er nach einer Minute ärgerlich werden, und der ganze segensreiche Augenblick ist dann verdorben.«

»Das ist richtig, laß ihn jetzt in Ruhe, geh erst in einer halben Stunde hin!« sagte Lisaweta Prokofjewna befehlend.

»Da sieht man, was es zu bedeuten hat, wenn man wenigstens einmal im Leben die Wahrheit sagt. Zum Weinen hat es ihn gebracht!« wagte Lebedew hinterdrein zu bemerken.

»Na, und du mußt auch ein netter Patron sein, Väterchen, wenn das wahr ist, was ich über dich gehört habe«, kanzelte ihn Lisaweta Prokofjewna sogleich ab.

Das gegenseitige Verhältnis aller bei dem Fürsten versammelten Besucher klärte sich allmählich. Der Fürst wußte die ihm von der Generalin und ihren Töchtern bewiesene Teilnahme selbstverständlich in ihrem ganzen Wert zu würdigen und sagte ihnen aufrichtig, er habe gerade heute, noch vor ihrem Besuche, die bestimmte Absicht gehabt, zu ihnen zu kommen, trotz seiner Krankheit und trotz der späten Stunde. Lisaweta Prokofjewna erwiderte ihm mit einem Blick auf seine Gäste, das könne er auch jetzt noch sogleich zur Ausführung bringen. Ptizyn, ein höflicher und sehr friedfertiger Mensch, stand sehr bald auf und zog sich nach dem Nebengebäude in Lebedews Wohnung zurück; sehr gern hätte er dabei auch Lebedew selbst mitgenommen. Dieser versprach ihm, bald nachzukommen; unterdessen war Warja mit den jungen Mädchen in ein lebhaftes Gespräch hineingekommen und blieb infolgedessen. Sie und Ganja waren sehr froh über die Abwesenheit des Generals; Ganja selbst folgte bald Ptizyn nach. Während der kurzen Zeit, die er in der Veranda in Gegenwart der Jepantschinschen Damen zugebracht hatte, hatte er sich bescheiden und würdig benommen und unter Lisaweta Prokofjewnas strengem Blicke, die ihn zweimal vom Kopf bis zu den Füßen musterte, nicht die Fassung verloren. Wer ihn früher gekannt hatte, mußte in der Tat finden, daß er sich sehr verändert habe. Auf Aglaja machte dies einen guten Eindruck.

»War das nicht Gawrila Ardalionowitsch, der eben wegging?« fragte sie auf einmal in ihrer beliebten Art: laut, in scharfem Ton, ohne Rücksicht auf das Gespräch der andern, das sie mit ihrer Frage unterbrach, und ohne sich an irgendeinen einzelnen zu wenden.

»Jawohl«, antwortete der Fürst.

»Ich hatte ihn kaum erkannt. Er hat sich sehr verändert, und… sehr zu seinem Vorteil.«

»Das ist mir sehr lieb zu hören«, erwiderte der Fürst.

»Er war sehr krank«, fügte Warja, zugleich erfreut und bedauernd, hinzu.

»Inwiefern soll er sich denn zu seinem Vorteil verändert haben?« fragte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich und erstaunt und beinah erschrocken. »Wie kommst du darauf? Ich bemerke an ihm nichts, was besser geworden wäre. Was scheint dir denn eigentlich besser?«

»Etwas Besseres als den ›armen Ritter‹ kann es überhaupt nicht geben!« rief plötzlich Kolja, der die ganze Zeit über neben Lisaweta Prokofjewnas Stuhl gestanden hatte.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Fürst Schtsch. lachend.

»Ich bin ganz derselben Ansicht«, erklärte Adelaida ernst.

»Was ist denn das für ein ›armer Ritter‹?« fragte die Generalin, indem sie alle Redenden verständnislos und ärgerlich anblickte. Aber als sie sah, daß Aglaja rot geworden war, fügte sie zornig hinzu: »Gewiß wieder irgendein Unsinn! Was für ein ›armer Ritter‹?«

»Als ob es das erstemal wäre, daß dieser freche Junge, Ihr Liebling, anderer Leute Worte verdreht!« antwortete Aglaja hochmütig und unwillig.

Fast jedesmal, wenn Aglaja zornig wurde (und das geschah ziemlich oft), blickte aus ihrer anscheinend ernsten, unerbittlichen Miene doch so viel von dem schlecht verhehlten, ungeduldigen Wesen eines Schulkindes hervor, daß es manchmal unmöglich war, bei ihrem Anblick das Lachen zu unterdrücken, worüber sich Aglaja übrigens gewaltig ärgerte, da sie nicht begriff, worüber die Leute lachten, und »wie jemand da überhaupt lachen könne und zu lachen wage«. Auch jetzt lachten die Schwestern und Fürst Schtsch.; sogar Fürst Lew Nikolajewitsch, der aus irgendeinem Grund ebenfalls errötet war, lächelte. Kolja jubelte und triumphierte. Aglaja wurde nun ernstlich böse und dadurch noch einmal so schön. Ihre Verlegenheit stand ihr außerordentlich gut, und nicht minder gleichzeitig ihr Ärger über sich selbst wegen dieser Verlegenheit.

»Auch Ihre eigenen Worte hat er oft genug verdreht!« fügte sie hinzu.

»Ich wiederhole nur Ihren eigenen Ausspruch!« rief Kolja. »Vor einem Monat blätterten Sie im Don Quijote und riefen dabei aus, es gebe doch nichts Besseres als den ›armen Ritter‹. Ich weiß nicht, auf wen sich das damals beziehen sollte: ob auf Don Quijote oder auf Jewgenij Pawlowitsch oder auf noch jemand anders, aber jedenfalls meinten Sie damit irgend jemand, und es entspann sich darüber ein langes Gespräch…«

»Ich sehe, daß du dir mit deinen Vermutungen doch gar zu viel herausnimmst, mein Lieber!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Aber bin ich denn der einzige, der davon spricht?« versetzte Kolja, der sich nicht den Mund verbieten ließ. »Alle haben damals davon gesprochen und sprechen auch jetzt noch davon. Hier Fürst Schtsch. und Adelaida Iwanowna und überhaupt alle haben erklärt, daß sie auf seiten des ›armen Ritters‹ stehen; also muß doch der ›arme Ritter‹ existieren und existiert jedenfalls, und wenn nur Adelaida Iwanowna wollte, so würden wir meiner Ansicht nach alle schon längst wissen, wer der ›arme Ritter‹ ist.«

»Inwiefern soll ich denn daran schuld sein?« fragte Adelaida lachend.

»Sie wollten sein Porträt nicht zeichnen, insofern sind Sie daran schuld! Aglaja Iwanowna bat Sie damals, das Porträt des ›armen Ritters‹ zu zeichnen, und setzte Ihnen den ganzen Vorwurf zu dem Bild auseinander, den sie sich selbst ausgedacht hatte; erinnern Sie sich noch an diesen Vorwurf? Aber Sie wollten es nicht…«

»Wie hätte ich den Betreffenden denn zeichnen sollen? In der Beschreibung wird doch von diesem ›armen Ritter‹ gesagt:

›Niemals in die Höhe schlug er
Vorm Gesichte das Visier.‹

Was konnte dabei also für ein Gesicht herauskommen? Was sollte ich zeichnen? Ein Visier? Einen Anonymus?«

»Ich verstehe von alledem nichts; was ist das nun wieder für ein Visier?« ereiferte sich die Generalin, die im stillen sehr wohl zu begreifen anfing, wer mit der wahrscheinlich schon lange geläufigen Benennung »der arme Ritter« gemeint war.

Aber ganz besonders ärgerte sie sich darüber, daß Fürst Lew Nikolajewitsch ebenfalls verlegen geworden war und schließlich eine Befangenheit bekundete wie ein zehnjähriger Junge.

»Nun also, wird diese Dummheit endlich ein Ende nehmen? Wird mir nun erläutert werden, was dieser ›arme Ritter‹ bedeutet? Ist das etwa ein so furchtbares Geheimnis, daß man gar nicht daran rühren darf?«

Aber alle lachten nur weiter.

»Es ist ganz einfach ein merkwürdiges russisches Gedicht«, ergriff endlich Fürst Schtsch. das Wort, offenbar in dem Wunsch, die Sache möglichst schnell zu erledigen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ein Gedicht über einen ›armen Ritter‹, ein Fragment ohne Anfang und Schluß. Vor einem Monat scherzten wir einmal alle nach Tisch und suchten wie gewöhnlich nach einem Vorwurf für ein künftiges Bild Adelaida Iwanownas. Sie wissen, daß es bereits zu einer Art von Familiensport geworden ist, Vorwürfe für Adelaida Iwanownas Bilder ausfindig zu machen. Da verfielen wir auch auf den ›armen Ritter‹; wer zuerst auf diesen Einfall kam, weiß ich nicht mehr …«

»Aglaja Iwanowna war es!« rief Kolja.

»Mag sein; ich will es nicht bestreiten, obwohl ich mich nicht erinnere«, fuhr Fürst Schtsch. fort. »Die einen spotteten über dieses Sujet, die anderen dagegen meinten, man könne sich gar nichts Höheres ausdenken. Aber um den ›armen Ritter‹ darzustellen, dazu war unter allen Umständen ein Gesicht als Modell erforderlich; so musterten wir denn die Gesichter aller unserer Bekannten, aber kein einziges taugte dazu; daran scheiterte die Sache. Das ist alles. Es ist mir unverständlich, warum Nikolai Ardalionowitsch es hier hat erwähnen und erörtern können. Was früher und bei bestimmtem Anlaß komisch war, hat jetzt alles Interesse verloren.«

»Er hat es eben getan, weil da wieder irgendeine neue Dummheit dahintersteckt, eine boshafte, verletzende Dummheit«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna scharf.

»Es steckt gar keine Dummheit dahinter, sondern vielmehr die größte Hochachtung«, sagte Aglaja mit ganz unerwartetem Ernst und Nachdruck. Es war ihr inzwischen gelungen, sich wieder vollständig in die Gewalt zu bekommen und ihre frühere Verlegenheit zu unterdrücken.

Ja, auf Grund gewisser Anzeichen konnte man, wenn man sie ansah, meinen, daß sie sich jetzt selbst darüber freute, daß der Spaß sich immer länger und länger ausdehnte, und diese ganze Umwandlung ging bei ihr gerade in dem Augenblick vor, als die immer zunehmende und schon sehr hoch gestiegene Verlegenheit des Fürsten ganz deutlich wurde.

»Erst lachen sie wie die Unsinnigen, und dann wird auf einmal von der größten Hochachtung gesprochen! Verrücktes Volk! Was soll hier die Hochachtung? Sag mal sofort, warum du so mir nichts dir nichts auf einmal von der größten Hochachtung redest!«

»Von der größten Hochachtung«, erwiderte Aglaja ebenso ernst und nachdrücklich auf die ärgerliche Frage der Mutter, »von der größten Hochachtung rede ich deshalb, weil in diesen Versen ein Mensch geschildert wird, der fähig ist, erstens ein Ideal zu haben und zweitens, nachdem er sich einmal ein solches Ideal geschaffen hat, an dasselbe zu glauben und ihm blind sein ganzes Leben zu weihen. So etwas kommt in unserer Zeit nicht alle Tage vor. Dort, in diesen Versen, ist nicht gesagt, worin eigentlich das Ideal des ›armen Ritters‹ bestand; aber man sieht, daß es eben ein leuchtendes Ideal war, ›das Ideal der reinen Schönheit‹, und daß der verliebte Ritter sich sogar statt der Schärpe einen Rosenkranz um den Hals band. Allerdings ist da noch von einer dunklen, nur andeutenden Devise die Rede, den Buchstaben A. N. B., die er auf seinen Schild geschrieben hatte…«

»A. M. D.«, verbesserte Kolja.

»Ich sage aber A. N. B. und will dabei bleiben«, unterbrach ihn Aglaja ärgerlich. »Wie es sich damit auch verhalten mag, so viel ist klar, daß es diesem ›armen Ritter‹ nun ganz gleichgültig war, wer seine Dame war und was sie tat. Ihm genügte es, sie sich ausgewählt zu haben und an ihre ›reine Schönheit‹ zu glauben, und nun verehrt er sie sein ganzes Leben lang; gerade darin besteht sein Verdienst, daß er, selbst wenn sie später zur Diebin würde, doch an sie glauben und für ihre reine Schönheit eine Lanze brechen müßte. Der Dichter scheint beabsichtigt zu haben, in der auffallenden Gestalt eines reinen, hochgesinnten Ritters den ganzen gewaltigen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen, platonischen Liebe zur zusammenfassenden Darstellung zu bringen; selbstverständlich ist das alles ein Ideal. In dem ›armen Ritter‹ hat dieses Gefühl schon die höchste Stufe erreicht, die Askese; man muß gestehen, daß die Fähigkeit zu einem solchen Gefühl einen hohen Wert hat und daß solche Gefühle einen bedeutsamen und unter Umständen sehr löblichen Charakterzug bilden, wobei ich nicht gerade Don Quijote meine. Der ›arme Ritter‹ ist eine Art Don Quijote, aber ein ernster, nicht ein komischer. Ich habe ihn am Anfang nicht verstanden und über ihn gelacht, aber jetzt liebe ich den ›armen Ritter‹, und vor allen Dingen schätze ich seine Taten hoch.«

Damit schloß Aglaja, und wenn man sie ansah, konnte man schwer daraus klug werden, ob sie im Ernst sprach oder scherzte.

»Na, ein Dummkopf ist er, er und seine Taten!« urteilte die Generalin kurz. »Aber du, liebes Kind, bist ganz ins Schwatzen hineingekommen, das war ja eine ordentliche Vorlesung; aber meiner Ansicht nach steht dir das gar nicht gut, jedenfalls ist es unpassend. Was sind das für Verse? Sag sie mal auf, du kannst sie doch sicher auswendig! Ich will diese Verse unbedingt kennenlernen. Mein ganzes Leben habe ich Verse nicht leiden können, als hätte ich eine Ahnung gehabt, daß ich mich bloß darüber ärgern würde. Um Gottes willen, Fürst, werd nicht böse! Wir beide, du und ich, müssen, wie es scheint, es zusammen ertragen«, sagte sie, zu dem Fürsten Lew Nikolajewitsch gewendet.

Sie war sehr aufgebracht.

Fürst Lew Nikolajewitsch wollte schon etwas sagen, konnte aber wegen seiner immer noch andauernden Verlegenheit nichts herausbringen. Aglaja hingegen, die sich in ihrer »Vorlesung« soviel herausgenommen hatte, zeigte keine Spur von Verlegenheit mehr, sondern schien sich im Gegenteil zu freuen. Sie stand sofort auf, mit derselben ernsten, bedeutsamen Miene wie vorhin; es machte den Eindruck, als hätte sie sich vorher darauf vorbereitet und nur auf eine Aufforderung gewartet. In die Mitte der Veranda tretend, stellte sie sich gerade vor den Fürsten hin, der auf seinem Lehnstuhl sitzen blieb. Alle blickten sie einigermaßen erstaunt an, und fast alle, Fürst Schtsch., die Schwestern und die Mutter, sahen mit einem unangenehmen Gefühl dem neuen, in Vorbereitung befindlichen Schelmenstreich entgegen, der jedenfalls etwas weit zu gehen drohte. Aber Aglaja fand offenbar ihr Vergnügen an dem affektierten Benehmen, mit dem sie sich zu der Deklamation der Verse anschickte. Lisaweta Prokofjewna war schon nahe daran, sie mit energischen Worten von dort wegzurufen und auf ihren Platz zurückzuschicken; aber gerade in dem Augenblick, als Aglaja die bekannte Ballade Zu deklamieren begann, traten zwei neue Gäste, die in lautem Gespräch begriffen waren, von der Straße in die Veranda. Dies waren der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin und hinter ihm ein junger Mann. Ihr Erscheinen rief bei den bereits Anwesenden eine kleine Aufregung hervor.

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Kapitel 23

VII

Der junge Mann, der den General begleitete, war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, mit einem schönen, verständigen Gesicht und großen schwarzen, klug und spöttisch blickenden Augen. Aglaja sah sich gar nicht nach ihm um und deklamierte ruhig das Gedicht weiter, indem sie fortfuhr, nur den Fürsten anzusehen, und sich nur an ihn allein wandte. Dem Fürsten war klar, daß sie dies alles mit irgendeiner besonderen Absicht tat. Aber wenigstens trugen die neuen Gäste einigermaßen zur Verbesserung seiner unbehaglichen Situation bei. Als er sie erblickte, erhob er sich, nickte dem General von weitem freundlich zu und machte ein Zeichen, daß sie die Deklamation nicht unterbrechen möchten; er selbst aber retirierte hinter seinen Lehnstuhl, wo er, mit dem linken Arm auf die Lehne gestützt, die Ballade weiter mit anhörte, sozusagen in gesicherter und nicht so komischer Stellung wie vorher, als er auf dem Lehnstuhl saß. Lisaweta Prokofjewna winkte ihrerseits den Ankömmlingen gebieterisch zu, sie möchten stehenbleiben. Der Fürst interessierte sich übrigens sehr für seinen neuen Gast, der mit dem General gekommen war; er vermutete mit Bestimmtheit in ihm Jewgenij Pawlowitsch Radomskij, von dem er bereits viel gehört und an den er schon oft gedacht hatte. Nur machte ihn dessen Zivilanzug stutzig, da er gehört hatte, daß Jewgenij Pawlowitsch Offizier sei. Ein spöttisches Lächeln spielte während der ganzen Dauer der Deklamation um die Lippen des neuen Gastes, als hätte er bereits etwas von dem »armen Ritter« gehört.

›Vielleicht rührt der ganze Gedanke von ihm her‹, dachte der Fürst im stillen.

Aber mit Aglaja war eine große Veränderung vorgegangen. Statt der ursprünglichen Affektiertheit und Wichtigtuerei, mit der sie zum Deklamieren vorgetreten war, zeigte sie einen solchen Ernst und ein so tiefes Eindringen in den Geist und Sinn des dichterischen Werkes, sie sprach jedes Wort des Gedichtes mit solchem Verständnis, sie trug die Verse mit so vollendeter Schlichtheit vor, daß sie, als die Deklamation beendet war, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, sondern auch durch die Wiedergabe des hohen geistigen Gehaltes der Ballade jene besondere, affektierte Feierlichkeit, mit der sie so triumphierend in die Mitte der Veranda getreten war, nachträglich gewissermaßen zum Teil gerechtfertigt hatte. In diesem feierlichen Benehmen konnte man jetzt nur ihre grenzenlose und vielleicht naive Hochachtung vor demjenigen sehen, was sie wiederzugeben unternommen hatte. Ihre Augen leuchteten, und ein leiser, kaum bemerkbarer Schauer der Begeisterung und des Entzückens lief einigemal über ihr schönes Gesicht. Sie deklamierte:

»Einstmals lebt‘ ein armer Ritter,
Schweigsam, herzensgut und schlicht;
Kühn mit jedem Feinde stritt er,
Ernst und blaß war sein Gesicht.

In Verzückung war erschienen
Ihm ein himmlisch Frauenbild,
Nie vergaß er dessen Mienen,
Hehr und edel, hold und mild.

Ganz der Heiligen ergeben,
Mied er alle Frau’n hinfort,
Gönnt‘ in seinem ganzen Leben
Keinem ird’schen Weib ein Wort.

Und ein Paternoster trug er
Um den Hals als sondre Zier;
Niemals in die Höhe schlug er
Vorm Gesichte das Visier.

Dieser Rittersmann, getrieben
Von des Herzens reiner Glut,
Hatt‘ auf seinen Schild geschrieben
N. F. B. mit seinem Blut.

Als ins heil’ge Land sie kamen,
Rief ein jeder Christenheld
Seiner edlen Dame Namen
In der Schlacht auf blut’gem Feld.

›‹
Rief jedoch mit wildem Blick
Unser Ritter, und sein Droh’n sah
Scheu der Feind und wich zurück.

Heimgekehrt zur Burg der Väter,
Lebt‘ er fort, ein trüber Tropf,
Immer einsam, bis er später
Starb, nicht ganz normal im Kopf.«

Wenn der Fürst später sich an diesen ganzen Vorgang erinnerte, so quälte er sich lange ratlos mit einer für ihn unlösbaren Frage ab: wie es möglich war, eine so echte, schöne Empfindung mit so offenbarem, boshaftem Spott zu vereinigen. Denn daß wirklich Spott dahintersteckte, daran zweifelte er nicht; das fühlte er deutlich, und er hatte zu seiner Auffassung seine guten Gründe: beim Deklamieren hatte sich Aglaja erlaubt, die Buchstaben mit den Buchstaben N. F. B. zu vertauschen. Daß hier kein Irrtum und kein Verhören seinerseits vorlag, daran konnte er nicht zweifeln (die Folgezeit lieferte den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht). Jedenfalls war Aglajas Ausschreitung (die sicherlich nur als Scherz gemeint, aber doch gar zu keck und leichtsinnig war) vorher überlegt gewesen. Von dem »armen Ritter« hatten alle gesprochen und sich darüber amüsiert, schon vor einem Monat. Und trotzdem mußte der Fürst, wie sehr er auch später sein Gedächtnis anstrengte, zugeben, daß Aglaja jene Buchstaben nicht nur ohne jeden scherzhaften oder spöttischen Beiklang, nicht nur ohne eine besondere Betonung, die ihren geheimen Sinn stärker hervorgehoben hätte, sondern im Gegenteil mit so unverändertem Ernst, mit einer solchen unschuldigen, naiven Einfachheit gesprochen hatte, daß man hätte denken können, eben jene Buchstaben hätten in dem Gedicht gestanden und es wäre so in dem Buch gedruckt gewesen. Es lag in ihrem Verhalten etwas, was den Fürsten peinlich verletzte. Lisaweta Prokofjewna hatte es natürlich nicht verstanden und weder die Vertauschung der Buchstaben noch die Anspielung bemerkt. General Iwan Fjodorowitsch begriff weiter nichts, als daß da eine Gedicht deklamiert wurde. Von den übrigen Zuhörern hatten sehr viele die Ausschreitung gemerkt und sich über deren Kühnheit und Tendenz gewundert, aber sie schwiegen und bemühten sich, harmlose Gesichter zu machen. Jewgenij Pawlowitsch jedoch hatte (darauf hätte der Fürst wetten mögen) nicht nur verstanden, sondern war auch bestrebt, dies durch seine Miene zu zeigen: er lächelte überaus spöttisch.

»Ein reizendes Gedicht«, rief die Generalin in aufrichtigem Entzücken, sobald die Deklamation zu Ende war.

»Von wem ist es denn?«

»Von Puschkin, maman. Machen Sie uns doch nicht solche Schande, man muß sich ja schämen!« rief Adelaida.

»Ihr stellt einen aber auch immer als Dummkopf hin!« erwiderte Lisaweta Prokofjewna gekränkt. »Schämt euch! Sowie wir nach Hause kommen, müßt ihr mir dieses Puschkinsche Gedicht geben.«

»Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.«

»Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu.

»Dann schickt sofort jemanden in die Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß, du hast sehr schön deklamiert; aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid, und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.«

Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgenij Pawlowitsch Radomskij vorgestellt.

»Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierherginge und daß auch alle meine Angehörigen…«

»Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgenij Pawlowitsch, »und da ich mir schon längst vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft, sondern auch Ihre Freundschaft zu suchen, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört…«

»Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Lew Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte.

Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort eine allgemeine Unterhaltung. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgenij Pawlowitschs Zivilanzug allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, wodurch sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als messe man diesem Kostümwechsel besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert, was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte Jewgenij Pawlowitsch einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär- oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich dann aber gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigt war. Es schien dem Fürsten, daß Jewgenij Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand.

»Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt«, erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein Rätsel. Er selbst proklamiert es als seinen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.«

Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgenij Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte.

»Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr, ausgetreten«, sagte Radomskij lachend.

»Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, war es doch gar nicht notwendig«, ereiferte sich der General immer noch.

»Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen…«

Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu, aber die eigenartige und immer noch fortdauernde Unruhe überschritt doch nach Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte wohl etwas Besonderes dahinterstecken.

»Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgenij Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat.

Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, als wollte sie ihm zu verstehen geben, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe.

»Aber es ist zu spät, viel zu spät, jetzt noch in die Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja hitzig mit Lisaweta Prokofjewna. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!«

»Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch in die Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgenij Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein, es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend.

»Sind wir so lange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida.

»Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgenij Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben mit roten Rädern.«

»Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida.

»Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgenij Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen, aber diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buche zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.«

Der Fürst hörte das, was Radomskij sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß er mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach.

»Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wera, die Tochter Lebedews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format, waren vorzüglich gebunden und fast neu.

»Puschkin«, antwortete Wera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.«

»Wie ist das gemeint? Wie ist das möglich?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt.

»Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« kam Lebedew hinter der Schulter seiner Tochter hervorgesprungen. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zum Selbstkostenpreis. Dies ist unser Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist, – zum Selbstkostenpreis. Ich bringe ihn Ihnen mit Ehrerbietung dar, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.«

»Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen, hab keine Bange; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört, du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist’s? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?«

»Mit Ehrerbietung und… größtem Respekt!« versetzte Lebedew höchst zufrieden unter starkem Gesichterschneiden und nahm seiner Tochter die Bücher ab.

»Na, verliere sie nur nicht, wenn du sie hinbringst; Ehrerbietung ist dabei nicht vonnöten. Aber ich sage dir vorher«, fügte sie, ihn fest anblickend, hinzu, »über die Schwelle lasse ich dich nicht; dich heute zu empfangen, das liegt nicht in meiner Absicht. Deine Tochter Wera kannst du mir aber gleich hinschicken, die hat mir sehr gefallen.«

»Warum sagen Sie denn nichts von jenen Leuten?« wandte sich Wera ungeduldig an ihren Vater. »Sonst werden sie noch unaufgefordert hereinkommen, sie haben schon angefangen, Lärm zu machen. Lew Nikolajewitsch«, wandte sie sich an den Fürsten, der bereits nach seinem Hut gegriffen hatte, »da sind schon vor längerer Zeit vier Menschen gekommen, die zu Ihnen wollen. Sie warten in unserer Wohnung und schimpfen, aber Papa will sie nicht zu Ihnen hereinlassen.«

»Was sind das für Besucher?« fragte der Fürst.

»Sie sagen, sie kämen in einer geschäftlichen Angelegenheit«, erwiderte Wera. »Aber es sind Menschen von solcher Art, daß sie, wenn sie jetzt nicht vorgelassen werden, sich nicht scheuen werden, Sie einmal auf der Straße anzuhalten. Es wird das beste sein, wenn Sie sie vorlassen, Lew Nikolajewitsch, und sie dann ein für allemal abschütteln. Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyn reden dort auf sie ein, aber sie hören nicht darauf.«

»Es ist Pawlischtschews Sohn, es ist Pawlischtschews Sohn! Er ist es nicht wert, er ist es nicht wert!« rief Lebedew mit lebhaftem Armschwenken. »Die Leute sind nicht wert, daß man sie anhört, und es schickt sich gar nicht, daß Sie, durchlauchtigster Fürst, sich ihretwegen stören lassen. So ist es. Die Menschen verdienen es nicht…«

»Pawlischtschews Sohn! Mein Gott!« rief der Fürst in größter Verlegenheit. »Ich weiß… aber ich hatte ja… ich hatte ja Gawrila Ardalionowitsch mit der Erledigung dieser Sache beauftragt. Eben hat mir noch Gawrila Ardalionowitsch gesagt…«

Aber Gawrila Ardalionowitsch kam bereits aus den Zimmern auf die Veranda heraus; ihm folgte Ptizyn. In dem nächsten Zimmer hörte man Lärm und die laute Stimme des Generals Iwolgin, der, wie es schien, einige andere Stimmen zu überschreien suchte. Kolja lief sogleich dahin, wo der Lärm war.

»Das ist sehr interessant«, bemerkte Jewgenij Pawlowitsch laut.

›Also ist er orientiert!‹ dachte der Fürst.

»Was für ein Sohn Pawlischtschews? Und… was kann das für ein Sohn Pawlischtschews sein?« fragte der General Iwan Fjodorowitsch erstaunt, der neugierig seinen Blick über alle Gesichter schweifen ließ und mit Verwunderung bemerkte, daß diese neue Geschichte nur ihm allein unbekannt war.

In der Tat, die Aufregung und Spannung war allgemein. Der Fürst war höchst verwundert, daß diese seine rein persönliche Angelegenheit bereits das Interesse aller Anwesenden in so hohem Grad erregt hatte.

»Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernster Miene zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie bitte erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst, sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.«

»Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst, schone sie nicht! Ich habe schon soviel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch.

»Gewiß, ich habe davon gehört, und zwar bei Ihnen. Aber es reizt mich ganz besonders, mir diese jungen Leute anzusehen«, erwiderte Fürst Schtsch.

»Es sind wohl Nihilisten, nicht wahr?«

»Nein, Nihilisten sind sie eigentlich nicht«, sagte Lebedew vortretend; auch er zitterte vor Aufregung, »es ist eine andere, besondere Sorte. Mein Neffe hat mir gesagt, sie gingen weiter als die Nihilisten. Wenn Euer Exzellenz etwa meinen, diese Leute durch Ihre Gegenwart verlegen zu machen, so würde das ein Irrtum sein; die werden nicht verlegen. Die Nihilisten sind doch manchmal kenntnisreiche Leute, sogar gelehrte Leute; aber diese hier gehen weiter, weil sie vor allem materielle Interessen im Auge haben. Es ist das eigentlich eine Folgeerscheinung des Nihilismus, wenn auch keine unmittelbare, sondern nur eine indirekte: sie kennen den Nihilismus nur vom Hörensagen. Diese Leute sprechen sich nicht in einem Zeitungsartikel aus, sondern schreiten sofort zur Tat; es ist zum Beispiel nicht davon die Rede, ob Puschkin sinnlos ist oder ob Rußland in seine Teile zerfallen muß; nein, diese Menschen betrachten es jetzt geradezu als ihr Recht, wenn sie nach etwas Verlangen tragen, vor keinem Hindernis haltzumachen, und wenn sie acht Personen dabei abmurksen müßten. Aber ich würde Ihnen doch nicht raten, Fürst…«

Aber der Fürst ging schon zur Tür, um sie den Besuchern zu öffnen.

»Sie verleumden die Leute, Lebedew«, sagte er lächelnd, »Sie haben sich zu sehr über Ihren Neffen geärgert. Glauben Sie ihm nicht, Lisaweta Prokofjewna! Ich versichere Ihnen: Leute wie Gorskij und Danilow sind nur seltene Ausnahmen; diese Leute hier sind nur… in einem Irrtum befangen. Aber es wäre mir nicht lieb, wenn die Sache hier in Gegenwart aller verhandelt würde. Verzeihen Sie also, Lisaweta Prokofjewna; sie werden hereinkommen, ich werde sie Ihnen zeigen und dann wegführen. Treten Sie näher, meine Herren!«

Was ihn beunruhigte, war mehr ein anderer, ihm peinlicher Gedanke. In seinem Kopf war die Frage aufgetaucht: war nicht vielleicht diese ganze Sache von jemandem künstlich im voraus arrangiert, gerade zu dieser Zeit und Stunde, wo diese Zeugen zugegen waren, und zwar vielleicht arrangiert in der Erwartung, daß sie nicht mit seinem Triumph, sondern mit seiner Beschämung enden werde? Aber er war ganz betrübt über diesen »ungeheuerlichen, schändlichen Argwohn«. Er müßte ja, meinte er, vor Scham in die Erde sinken, wenn jemand erführe, daß er so etwas denke, und in dem Augenblick, als die neuen Besucher eintraten, war er aufrichtig bereit, zu glauben, daß er sittlich auf einem weit niedrigeren Standpunkte stehe als irgendeiner der übrigen Anwesenden.

Es traten fünf Personen ein; vier davon waren die neuen Gäste, und als fünfter folgte ihnen General Iwolgin, ganz ereifert, in Aufregung und in einem starken Anfall von Redelust. ›Der wenigstens ist auf meiner Seite!‹ dachte der Fürst lächelnd. Kolja schlüpfte mit den andern zusammen herein. Er sprach eifrig mit Ippolit, der zu den Ankömmlingen gehörte; Ippolit hörte ihn an und lächelte.

Der Fürst bat die Besucher, Platz zu nehmen. Es waren fast alle noch so jugendliche und sogar minderjährige Leute, daß man sich über den ganzen Vorfall und die dadurch hervorgerufene Aufregung wundern konnte. Namentlich war Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, der von dieser »neuen Affäre« nichts wußte und nichts verstand, geradezu empört, als er diese junge Gesellschaft erblickte, und hätte sicherlich irgendwie Einspruch erhoben, wenn ihn nicht der ihm merkwürdig erscheinende Umstand davon zurückgehalten hätte, daß seine Gattin an den Privatangelegenheiten des Fürsten so warmen Anteil nahm. Er blieb übrigens teils aus Neugier, teils aus Gutherzigkeit, sogar in der Hoffnung, helfen und jedenfalls durch seine Autorität von Nutzen sein zu können; aber die Verbeugung, die ihm der eintretende General Iwolgin machte, verstimmte ihn von neuem; er runzelte die Stirn und nahm sich vor, hartnäckig zu schweigen.

Unter den vier Besuchern war übrigens einer der dreißigjährige »Leutnant a. D., der Boxer aus der Rogoshinschen Rotte, der früher selbst jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben hatte«. Es lag die Vermutung nahe, daß er die übrigen in der Eigenschaft eines aufrichtigen Freundes begleitete, um ihnen Mut zu machen und nötigenfalls zu unterstützen. Unter den übrigen nahm jener die erste Stelle ein und spielte ganz die erste Rolle, der als »Pawlischtschews Sohn« bezeichnet wurde, obwohl er sich mit dem Namen Antip Burdowskij vorstellte. Es war dies ein junger Mann, ärmlich und schlampig gekleidet, in einem Oberrock, dessen Ärmel so fettig waren, daß sie spiegelten, mit einer unsauberen, bis oben zugeknöpften Weste, ohne alle sichtbare Wäsche, mit einem schwarzseidenen, unglaublich speckigen, zu einem Strick zusammengedrehten Halstuch, ungewaschenen Händen, einem Gesicht, das ganz mit Pickeln besät war, blondem Haar und, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frechem Blick. Er war von kleiner Statur, mager und ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Ironie oder überhaupt von Denktätigkeit ausgeprägt, sondern nur eine vollständige stumpfe Berauschtheit von dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, und gleichzeitig ein sonderbarerweise zum steten Bedürfnis gewordenes Gefühl, als sei er beleidigt worden. Er sprach in erregtem Ton, heftig und stockend, einzelne Worte nicht ganz zu Ende bringend, als wäre er ein Stotterer oder gar ein Ausländer, obgleich er übrigens rein russischer Abkunft war.

Es begleiteten ihn erstens der den Lesern bereits bekannte Neffe Lebedews und zweitens Ippolit. Ippolit war ein sehr junger Mensch, etwa siebzehn, vielleicht auch achtzehn Jahre alt, mit einem klugen Gesicht, das aber beständig den Ausdruck der Gereiztheit trug und die schrecklichen Spuren seiner Krankheit zeigte. Er war mager wie ein Skelett, mit blaßgelber Haut; seine Augen funkelten, und auf seinen Backen brannten zwei rote Flecken. Er hustete beständig; jedes Wort, fast jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Er befand sich offenbar im höchsten Stadium der Schwindsucht. Es schien, daß er nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Er war sehr müde und ließ sich früher als alle andern auf einem Stuhl nieder. Die übrigen genierten sich beim Eintritt ein wenig und waren sogar verlegen; sie blickten jedoch wichtigtuerisch drein und fürchteten offenbar, sich etwas von ihrer Würde zu vergeben. Das stand in seltsamem Widerstreit zu ihrem Ruf als Gegner aller nutzlosen gesellschaftlichen Konventionen, Vorurteile und überhaupt fast aller Dinge auf der Welt mit Ausnahme ihrer eigenen Interessen.

»Antip Burdowskij«, sagte der »Sohn Pawlischtschews« hastig und stockend.

»Wladimir Doktorenko«, stellte sich mit klarer, deutlicher Aussprache Lebedews Neffe vor; es klang, als brüste er sich mit seinem Namen.

»Keller«, murmelte der Leutnant a. D.

»Ippolit Terentjew«, sagte der letzte mit einer Stimme, deren kreischender Ton etwas Überraschendes hatte. Alle hatten endlich in einer Reihe auf Stühlen dem Fürsten gegenüber Platz genommen, zeigten, nachdem sie sich vorgestellt hatten, sofort finstere Gesichter und schoben, um sich Mut zu machen, ihre Mützen von einer Hand in die andere; alle bereiteten sich darauf vor, zu reden, schwiegen aber trotzdem sämtlich; sie schienen auf etwas mit herausfordernder Miene zu warten, in der gleichsam zu lesen war: ›Nein, Bruder, da irrst du dich; du wirst mich nicht übers Ohr hauen!‹ Man hatte das Gefühl, daß jemand zu Anfang nur das erste Wort, nur ein einziges Wort zu sagen brauche, dann würden sie sofort alle zusammen, sich gegenseitig unterbrechend und einander zuvorkommend, zu reden beginnen.

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Kapitel 24

VIII

»Meine Herren, ich habe niemand von Ihnen erwartet«, begann der Fürst, »ich selbst bin bis heute krank gewesen; Ihre Angelegenheit aber« (er wandte sich an Antip Burdowskij) »hatte ich schon vor einem Monat Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin zur Erledigung übergeben, wovon ich Sie gleich damals benachrichtigt habe. Übrigens will ich einer persönlichen Aussprache nicht ausweichen; nur werden Sie selbst zugeben, daß es dazu schon etwas spät am Tage ist… Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir in ein Zimmer zu gehen, wenn es nicht zu lange dauert… Hier sind jetzt meine Freunde, und seien Sie überzeugt…«

»Freunde… können dabeisein, soviel Sie wollen; aber erlauben Sie«, unterbrach ihn plötzlich in sehr anmaßendem Ton, freilich ohne noch die Stimme besonders zu erheben, Lebedews Neffe, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie uns hätten höflicher behandeln können und uns nicht zwei Stunden lang in Ihrer Gesindestube hätten warten zu lassen brauchen…«

»Gewiß… auch ich… Das ist so recht fürstenmäßig! Sie freilich… spielen sich als General auf, aber ich bin nicht Ihr Lakai! Und ich… ich…«, murmelte Antip Burdowskij in großer Aufregung, mit bebenden Lippen; Speicheltröpfchen flogen ihm aus dem Munde; es war, als wenn er jeden Augenblick bersten und platzen wollte. Aber er überhastete sich so, daß nach einem Dutzend Worte nichts mehr zu verstehen war.

»Das war so recht fürstenmäßig!« schrie Ippolit mit seiner kreischenden, rissigen Stimme.

»Wenn mir das passiert wäre«, brummte der Boxer, »das heißt, wenn sich dieses Benehmen direkt gegen mich als anständigen Menschen richtete, dann hätte ich an Burdowskijs Stelle… ja, dann hätte ich…«

»Meine Herren, ich habe erst diesen Augenblick erfahren, daß Sie hier sind, bei Gott!« erwiderte der Fürst.

»Wir fürchten uns nicht vor Ihren Freunden, Fürst, wer es auch immer sein mag, weil wir in unserm Recht sind«, erklärte wieder Lebedews Neffe.

»Gestatten Sie indessen die Frage«, kreischte wieder Ippolit, der aber jetzt schon sehr hitzig geworden war, »welches Recht haben Sie, Burdowskijs Angelegenheit dem Urteil Ihrer Freunde zu unterbreiten? Wir wünschen vielleicht gar nicht, daß Ihre Freunde darüber urteilen; es ist nur zu klar, was das Urteil ihrer Freunde für einen Wert hat!…«

»Aber wenn Sie, Herr Burdowskij, hier nicht zu sprechen wünschen«, sagte der Fürst, als es ihm endlich gelang, zu Worte zu kommen – er war über diesen Anfang des Gespräches außerordentlich erstaunt –, »so lassen Sie uns, wie schon gesagt, gleich in ein Zimmer gehen. Davon aber, daß Sie alle hier sind, habe ich, wie ich Ihnen nochmals bemerke, erst in diesem Augenblick gehört…«

»Aber Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht!… Ihre Freunde… Da!…« stotterte Burdowskij von neuem. Er sah scheu und ängstlich um sich und ereiferte sich immer mehr, je mehr sein Selbstvertrauen sank und seine Furcht wuchs. »Sie haben kein Recht.« Nachdem er das gesagt hatte, brach er ganz plötzlich ab, als ob er nichts weiter wüßte, und stumm seine kurzsichtigen, stark hervorstehenden, mit dicken, roten Äderchen durchzogenen Augen aufreißend, starrte er, mit dem ganzen Oberkörper vornübergebeugt, den Fürsten an. Diesmal war der Fürst so verwundert, daß auch er verstummte und ihn gleichfalls mit weitgeöffneten Augen, ohne ein Wort zu sagen, ansah.

»Lew Nikolajewitsch!« rief auf einmal Lisaweta Prokofjewna. »Lies doch dies hier gleich einmal vor, augenblicklich! Das hat auf deine Angelegenheit unmittelbaren Bezug!«

Sie hielt ihm eilig eine humoristische Wochenschrift hin und wies mit dem Finger auf einen Artikel. Lebedew war in dem Augenblick, als die neuen Gäste noch im Hereinkommen begriffen waren, von der Seite zu Lisaweta Prokofjewna herangesprungen, um deren Gunst er sich sehr bemühte, hatte, ohne ein Wort zu sagen, aus der Seitentasche seines Rockes diese Zeitschrift herausgezogen, sie ihr gerade vor die Augen gehalten und auf eine angestrichene Spalte hingezeigt. Durch das, was Lisaweta Prokofjewna bereits davon gelesen hatte, war sie in gewaltige Verwunderung und Entrüstung versetzt worden.

»Wäre es aber nicht besser, es nicht laut zu lesen«, stammelte der Fürst sehr verlegen, »ich würde es lieber für mich allein lesen … später…«

»Dann lies du es lieber vor, sofort, laut! Laut!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Kolja und riß dem Fürsten die Zeitschrift, die er noch kaum berührt hatte, ungeduldig aus den Händen. »Lies es allen laut vor, damit es jeder hört!«

Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame, so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr. Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten, was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der hinzuspringende Lebedew zeigte:

»Proletarier und Nachfahren. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!

Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, im Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, im Zeitalter der Förderung der Industrie und der Lähmung der Arbeiterhände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte zugetragen mit einem der Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!), einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, deren Väter sich daher genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben und deren Kinder dann wie der Held unserer Erzählung entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminaläffären hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, alleinstehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen, unanfechtbar, abgerundet, alles in bar, die (ja, das wäre etwas für mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unserem jungen Adelssprößling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten, von einem andern ausgehaltenen Schönheit den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen!…«

»Das… das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.

»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Tone. Von allen Seiten erschollen verschiedene Ausrufe.

»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«

Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter.

»Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoße des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtschaffener Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörend, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er folgendes gesagt hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen, für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen, und da besitze ich nun Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt ist, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden müssen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohne P.s Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich – die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinne ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; da ich aber vor allen Dingen ein berechnender Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, werde ich ihm die Hälfte meiner Millionen nicht geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‘ (der Adelssprößling vergaß, daß es auch nicht vorteilhaft sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹

Aber nein, meine Herren! Unsere Adelssprößlinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, fast gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstands und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts, aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, das verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne, und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der ihm durch seine Millionen zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Adelssprößling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber er hat es getan, trotz alledem! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache geregelt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht, es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdiene:

In ’nem Mäntelchen von
Spielte fünf Jahr herum;
Unterdessen wurde leider
Nichts aus seinem Studium.
Heimgekehrt drauf in Gamaschen,
Erbt‘ er glücklich ’ne Million
Und bestahl trotz voller Taschen
Einen armen Musensohn.

Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift eiligst dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, verkroch sich ganz tief hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich unsäglich, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt. Es schien ihm, als sei etwas ganz Ungewöhnliches vorgegangen, als sei alles Bestehende dadurch auf einmal niedergerissen und als sei er selbst beinah mit daran schuld, schon allein dadurch, daß er es laut vorgelesen hatte.

Aber auch alle übrigen schienen ähnliches zu empfinden.

Die jungen Mädchen fühlten sich sehr unbehaglich und schämten sich. Lisaweta Prokofjewna hielt ihren heftigen Zorn gewaltsam zurück und bereute es wohl bitter, sich in die Sache eingelassen zu haben; jetzt schwieg sie. Mit dem Fürsten ging das vor, was allzu schüchternen Menschen in solchen Fällen zu begegnen pflegt: er schämte sich dermaßen über das Benehmen anderer, nämlich seiner Gäste, daß er sich im ersten Augenblick fürchtete, sie auch nur anzusehen. Ptizyn, Warja, Ganja, sogar Lebedew, alle machten etwas verlegene Gesichter. Das sonderbarste war, daß Ippolit und »Pawlischtschews Sohn« ebenfalls erstaunt zu sein schienen; auch Lebedews Neffe war offenbar unzufrieden. Nur der Boxer saß ganz ruhig da und drehte mit würdevoller Miene seinen Schnurrbart; die Augen hielt er niedergeschlagen, aber nicht aus Verlegenheit; im Gegenteil, es schien, als tue er es aus edler Bescheidenheit und um sein Triumphgefühl nicht allzu sichtbar werden zu lassen. An allem konnte man merken, daß der Artikel ihm sehr gut gefiel.

»Weiß der Teufel, was das bedeuten soll«, brummte Iwan Fjodorowitsch halblaut. »Das ist ja, als hätten fünfzig Lakaien sich zusammengetan und das abgefaßt.«

»Gestatten Sie die Frage, mein Herr, wie Sie es wagen können, uns durch solche Vermutungen zu beleidigen?« fragte Ippolit, am ganzen Leibe zitternd.

»Das, das, das ist für einen anständigen Menschen… sagen Sie selbst, General, wenn ein anständiger Mensch… so ist das doch verletzend!« brummte der Boxer, der gleichfalls auf einmal zusammenfuhr, seinen Schnurrbart drehte und mit den Schultern und dem ganzen Oberkörper zuckte.

»Erstens bin ich für Sie nicht ›mein Herr‹, und zweitens beabsichtige ich Ihnen keinerlei Erklärungen zu geben«, erwiderte der höchst ergrimmte Iwan Fjodorowitsch in scharfem Ton, stand auf, ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Ausgang der Veranda und stellte sich dort auf die oberste Stufe hin, den Anwesenden den Rücken zuwendend. Er war höchst empört über Lisaweta Prokofjewna, die auch jetzt noch nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren.

»Meine Herren, meine Herren, gestatten Sie mir doch endlich, etwas zu sagen, meine Herren!« rief der Fürst bekümmert und aufgeregt, »und tun Sie mir den Gefallen, lassen Sie uns so miteinander reden, daß wir uns gegenseitig verstehen! Auf den Artikel will ich nicht weiter eingehen, meine Herren, nur ist ja alles, was in dem Artikel gedruckt ist, unwahr, meine Herren! Ich darf Ihnen das sagen, weil Sie es selbst wissen; man muß sich geradezu schämen. Ich würde daher sehr verwundert sein, wenn einer von Ihnen das geschrieben haben sollte.«

»Ich habe von dem Artikel bis auf diesen Augenblick nichts gewußt«, erklärte Ippolit. »Ich billige ihn nicht.«

»Ich habe zwar gewußt, daß er geschrieben war, aber … ich hätte ebenfalls nicht dazu geraten, ihn zu drucken, weil es noch zu früh ist«, fügte Lebedews Neffe hinzu.

»Ich habe es gewußt, aber ich habe ein Recht… ich…«, murmelte »Pawlischtschews Sohn«.

»Wie! Sie selbst haben das alles verfaßt?« fragte der Fürst, indem er Burdowskij gespannt anblickte. »Aber das ist doch ganz unmöglich!«

»Man kann Ihnen das Recht zu solchen Fragen absprechen«, mischte sich Lebedews Neffe hinein.

»Ich habe mich ja nur gewundert, daß Herr Burdowskij das fertiggebracht hat… aber… ich möchte doch eines bemerken: wenn Sie diese Sache schon der Öffentlichkeit übergeben haben, warum fühlten Sie sich denn dann vorhin so beleidigt, als ich in Gegenwart meiner Freunde von eben dieser Sache zu reden anfing?«

»Endlich!« murmelte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Und Sie haben sogar noch vergessen, Fürst«, bemerkte, plötzlich zwischen den Stühlen hervorschlüpfend, Lebedew, der sich nicht länger beherrschen konnte und beinah fieberte, »Sie haben noch vergessen, daß nur Ihr guter Wille und Ihre beispiellose Herzensgüte Sie veranlaßt haben, diese Herren da zu empfangen und anzuhören, und daß sie keinerlei Recht haben, solche Forderungen zu stellen, um so weniger, als Sie jene Angelegenheit schon an Gawrila Ardalionowitsch zur Erledigung abgegeben haben, ebenfalls infolge Ihrer außerordentlichen Güte. Jetzt aber, durchlauchtigster Fürst, wo Sie sich inmitten Ihrer auserlesenen Freunde befinden, dürfen Sie auf diese Gesellschaft nicht um dieser Herren willen verzichten; Sie könnten allen diesen Herren ohne weiteres die Tür weisen, worüber ich als Besitzer dieses Hauses mich sogar außerordentlich freuen würde…«

»Vollkommen richtig!« erscholl auf einmal aus dem Hintergrund General Iwolgins dröhnende Stimme.

»Genug, Lebedew, genug, genug…«, begann der Fürst, aber ein ganzer Sturm unwilliger Ausrufe übertönte seine Worte.

»Nein, entschuldigen Sie, Fürst, entschuldigen Sie, jetzt darf es nicht damit genug sein!« überschrie Lebedews Neffe alle übrigen. »Jetzt muß die Sache klar und bestimmt festgestellt werden, da sie offenbar nicht richtig verstanden wird. Es sind hier juristische Finten hineingebracht worden, und auf Grund dieser Finten droht man, uns zur Tür hinauszuwerfen! Meinen Sie denn wirklich, Fürst, daß wir so dumm wären, nicht selbst zu verstehen, daß unsere Sache sich nicht gerichtlich verfolgen läßt, und daß wir vom juristischen Standpunkt aus nicht berechtigt sind, auch nur einen Rubel von Ihnen zu verlangen? Aber wir sagen uns, daß, wenn hier auch kein juristisches Recht vorliegt, dafür doch ein menschliches, natürliches Recht vorhanden ist, ein Recht des gesunden Menschenverstandes und der Stimme des Gewissens, und daß, wenn auch dieses unser Recht in keinem vermoderten menschlichen Kodex geschrieben steht, doch ein anständiger, ehrenhafter Mensch, was ganz dasselbe ist wie ein vernünftig denkender Mensch, verpflichtet ist, auch in denjenigen Fällen anständig und ehrenhaft zu bleiben, die im Kodex nicht verzeichnet stehen. Darum sind wir hierhergekommen, ohne zu fürchten, daß man (womit Sie soeben gedroht haben) uns aus der Tür werfen werde, weil wir nicht bitten, sondern fordern und weil unser Besuch zu so wagen! Sie können das tun, Sie haben die Macht dazu. Aber vergessen Sie nicht, daß wir trotzdem fordern und nicht bitten! Wir fordern, wir bitten nicht.«

Lebedews Neffe, der sehr hitzig geworden war, hielt inne.

»Wir fordern, wir fordern, wir fordern, wir bitten nicht!…«, stammelte Burdowskij und wurde rot wie ein Krebs.

Den Worten von Lebedews Neffen folgte eine gewisse allgemeine Bewegung, und es wurde sogar ein Gemurr hörbar, obwohl alle Mitglieder der Gesellschaft es offenbar vermieden, sich in die Sache einzumischen, ausgenommen vielleicht nur Lebedew, der sich wie im Fieber befand. (Es war merkwürdig: Lebedew, der doch augenscheinlich auf seiten des Fürsten stand, empfand jetzt nach der Rede seines Neffen doch eine Art befriedigten Familienstolzes; wenigstens ließ er mit einer Miene besonderer Genugtuung seinen Blick rings über die Anwesenden schweifen.)

»Meiner Ansicht nach«, begann der Fürst mit ziemlich leiser Stimme, »meiner Ansicht nach haben Sie, Herr Doktorenko, in allem, was Sie soeben gesagt haben, zur Hälfte vollkommen recht; ich will sogar zugeben, daß es die bei weitem größere Hälfte ist, und ich würde mit Ihnen vollkommen einverstanden sein, wenn Sie nicht in Ihrer Äußerung etwas weggelassen hätten. Was Sie da eigentlich weggelassen haben, das Ihnen genau anzugeben, bin ich nicht in der Lage; aber es fehlt natürlich etwas, damit Ihre Worte in vollem Umfang als gerecht gelten könnten. Aber wenden wir uns lieber zur Sache, meine Herren; sagen Sie doch: warum haben Sie diesen Artikel drucken lassen? Jedes Wort darin ist ja eine Verleumdung, so daß Sie, meine Herren, meiner Ansicht nach eine Gemeinheit begangen haben.«

»Erlauben Sie!…«

»Mein Herr!…«

»Das… das… das…«, tönte es gleichzeitig aus dem Munde der erregten Besucher.

»Was den Artikel anlangt«, erwiderte Ippolit mit seiner kreischenden Stimme, »was diesen Artikel anlangt, so habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich und die andern ihn nicht billigen! Geschrieben hat ihn der hier.« (Er wies auf den neben ihm sitzenden Boxer.) »Ich gebe zu, daß der Artikel in unschicklicher Form, mit mangelhafter Beherrschung der Sprache und in einem Stil geschrieben ist, wie ihn eben ehemalige Militärs von seiner Art gebrauchen. Er ist ein dummer Mensch und geht obendrein immer auf Gelderwerb aus, das gebe ich zu, das sage ich ihm alle Tage gerade ins Gesicht; aber trotzdem war er zur Hälfte im Recht: die Öffentlichkeit ist das gesetzliche Recht eines jeden, folglich auch Burdowskijs. Seine Abgeschmacktheiten aber mag er selbst verantworten. Was aber das anbetrifft, daß ich vorhin in unser aller Namen gegen die Anwesenheit Ihrer Freunde Protest einlegte, so erachte ich es für nötig, Ihnen, meine Herrschaften, zu bemerken, daß dieser Protest lediglich bezweckte, unser Recht zu wahren, daß uns aber im Grunde die Anwesenheit von Zeugen sogar erwünscht ist und daß wir vorhin, noch ehe wir hereinkamen, alle vier darin einer Meinung waren. Mögen diese Zeugen sein, wer sie wollen, sogar ihre Freunde; aber da sie nicht umhinkönnen werden, Burdowskijs Recht anzuerkennen (denn es ist so sicher wie ein mathematischer Lehrsatz), so ist es sogar am besten, wenn diese Zeugen Ihre Freunde sind; um so deutlicher wird die Wahrheit ans Licht treten.«

»Das ist richtig, wir sind damit einverstanden gewesen«, bestätigte Lebedews Neffe.

»Warum machten Sie denn dann vorhin gleich bei den ersten Worten ein solches Geschrei und einen solchen Lärm, wenn Ihnen das selbst erwünscht war?« fragte der Fürst erstaunt.

»Was diesen Artikel betrifft, Fürst«, griff nun der Boxer in die Debatte ein, der den dringenden Wunsch hatte, zu Wort zu kommen, und sich in einer angenehmen Erregung befand (man konnte vermuten, daß die Anwesenheit der Damen stark auf ihn wirkte), »was diesen Artikel betrifft, so bekenne ich, daß ich tatsächlich der Verfasser bin, obwohl mein kränklicher Freund, dem ich in Anbetracht seines Schwächezustandes vieles zugute zu halten pflege, ihn soeben scharf kritisiert hat. Aber ich habe ihn verfaßt und ihn in dem Journal eines guten Freundes in Form einer Zuschrift drucken lassen. Nur die Verse sind nicht von mir, sondern stammen tatsächlich aus der Feder eines bekannten Humoristen. Meinem Freund Burdowskij habe ich den Artikel nur vorgelesen, und zwar nicht vollständig, und habe sogleich von ihm seine Einwilligung zum Druck erhalten; indes werden Sie selbst zugeben müssen, daß ich ihn auch ohne seine Einwilligung hätte drucken lassen können. Die Öffentlichkeit ist ein allgemeines, edles, wohltätiges Recht. Ich hoffe, daß Sie selbst, Fürst, fortschrittlich genug denken, um dies nicht in Abrede zu stellen…«

»Ich werde das nicht in Abrede stellen, aber Sie müssen selbst sagen, daß in Ihrem Artikel…«

»Sie wollen sagen: er ist etwas scharf gehalten? Aber es handelt sich hier, wie Sie werden zugeben müssen, sozusagen um das Gemeinwohl, und kann man denn schließlich eine so ausgezeichnete Gelegenheit ungenutzt lassen? Schlimm für die Schuldigen, aber das Gemeinwohl geht über alles. Was einige Ungenauigkeiten, sozusagen Hyperbeln anlangt, so werden Sie auch hier zugeben müssen, daß das wichtigste der leitende Gedanke ist, der Zweck und die Absicht. Wichtig ist, daß ein Einzelfall als wohltätig wirkendes Beispiel benutzt wird; um Privatinteressen können wir uns erst in zweiter Linie kümmern. Und schließlich handelt es sich hier um den Stil; es ist dies sozusagen eine humoristische Aufgabe. Und schließlich… schreiben doch alle so, wie Sie selbst werden zugeben müssen! Haha!«

»Aber ich muß sagen: Sie haben da doch einen ganz wahrheitswidrigen Weg eingeschlagen, meine Herren!« rief der Fürst. »Sie haben den Artikel in der Voraussetzung drucken lassen, ich würde mich um keinen Preis dazu bereit finden, Herrn Burdowskij zufriedenzustellen, und Sie müßten mir darum einen Schreck einjagen und an mir Ihr Mütchen kühlen. Aber woher wußten Sie denn das? Ich habe mich vielleicht dafür entschieden, Herrn Burdowskij zufriedenzustellen. Ich sage Ihnen jetzt geradeheraus und vor all diesen Zeugen, daß ich ihn zufriedenstellen werde…«

»Nun, das ist endlich ein verständiges, edles Wort eines verständigen, edlen Menschen!« erklärte der Boxer.

»O Gott!« rief Lisaweta Prokofjewna unwillkürlich.

»Das ist nicht mehr zu ertragen«, murmelte der General.

»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie, ich werde Ihnen die Sache auseinandersetzen«, bat der Fürst. »Vor fünf Wochen erschien bei mir in S. ein Herr Tschebarow, Ihr Bevollmächtigter und Vertreter, Herr Burdowskij. Sie haben in Ihrem Artikel eine sehr schmeichelhafte Schilderung von ihm gegeben, Herr Keller«, wandte sich der Fürst, auf einmal auflachend, an den Boxer, »aber mir gefiel er ganz und gar nicht. Mir war gleich bei der ersten Begegnung klar, daß dieser Tschebarow die Haupttriebfeder bei der ganzen Angelegenheit und wohl derjenige ist, der Sie, Herr Burdowskij, unter Ausnutzung Ihrer Naivität zu diesem ganzen Vorgehen angestiftet hat, wenn ich offen reden soll.«

»Sie haben kein Recht… ich… bin nicht naiv… das…«, stotterte Burdowskij aufgeregt.

»Sie haben keinerlei Berechtigung, solche Vermutungen auszusprechen«, fügte, für ihn eintretend, Lebedews Neffe hinzu.

»Das ist im höchsten Grade beleidigend!« kreischte Ippolit. »Eine beleidigende, lügenhafte Vermutung, die gar nicht zur Sache gehört.«

»Verzeihung, meine Herren, Verzeihung!« entschuldigte sich der Fürst eilig. »Bitte, verzeihen Sie! Ich habe es nur deswegen gesagt, weil ich meinte, es würde wohl das beste sein, wenn wir gegeneinander völlig aufrichtig wären; aber wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen! Ich sagte zu Herrn Tschebarow, da ich nicht in Petersburg sei, so würde ich unverzüglich einem Freund zur Erledigung der Angelegenheit Vollmacht erteilen und Sie, Herr Burdowskij, davon benachrichtigen. Ich sage Ihnen geradeheraus, meine Herren, daß mir diese Sache als eine arge Gaunerei erschien, eben deshalb, weil dieser Tschebarow dabei beteiligt war… Oh, fühlen Sie sich nicht beleidigt, meine Herren! Um Gottes willen, fühlen Sie sich nicht beleidigt!« rief der Fürst erschrocken, da er sah, daß Burdowskij wieder eine gekränkte, empörte Miene machte und seine Freunde sich anschickten, aufgeregt zu protestieren. »Es kann sich doch nicht auf Sie persönlich beziehen, wenn ich sage, daß ich die Sache für eine Gaunerei hielt! Ich kannte ja damals niemand von Ihnen persönlich, nicht einmal Ihre Namen, ich urteilte nur nach dem Eindruck, den mir Tschebarow machte; ich sage das überhaupt, weil… wenn Sie wüßten, wie schrecklich ich betrogen worden bin, seitdem ich die Erbschaft gemacht habe!«

»Fürst, Sie sind furchtbar naiv«, bemerkte Lebedews Neffe spöttisch.

»Und dabei ein Fürst und ein Millionär! Trotz Ihres vielleicht wirklich guten, schlichten Herzens können Sie dem allgemeinen Gesetz natürlich doch nicht entgehen«, äußerte Ippolit.

»Möglich, sehr möglich, meine Herren«, erwiderte der Fürst rasch, »obwohl ich nicht verstehe, von welchem allgemeinen Gesetz Sie reden. Aber ich fahre fort; fühlen Sie sich nur nicht so ganz ohne Grund beleidigt; ich schwöre Ihnen, die Absicht, Sie zu kränken, liegt mir absolut fern. Und in der Tat, was soll denn das bedeuten, meine Herren: man kann ja kein einziges offenes Wort sagen, gleich fühlen Sie sich beleidigt! Erstens also war ich höchst erstaunt, daß ein ›Sohn Pawlischtschews‹ existierte, und zwar in so schrecklicher Lage, wie sie mir Tschebarow schilderte. Pawlischtschew ist mein Wohltäter gewesen und der Freund meines Vaters. (Ach, warum haben Sie in Ihrem Artikel eine solche Unwahrheit über meinen Vater geschrieben, Herr Keller? Er hat sich keine Veruntreuung von Kompaniegeldern und keine ungerechte Behandlung Untergebener zuschulden kommen lassen, davon bin ich fest überzeugt; wie vermochte Ihre Hand eine solche Verleumdung niederzuschreiben?) Und das, was Sie über Pawlischtschew geschrieben haben, ist doch geradezu unerhört: Sie nennen diesen edelsten aller Menschen einen Lüstling, einen Leichtsinnigen und tun das mit einer Kühnheit und Sicherheit, als ob Sie wirklich die Wahrheit sagten, und dabei war er der sittenreinste Mensch, der je auf der Welt gelebt hat! Er war sogar ein sehr achtbarer Gelehrter, stand mit vielen in der Wissenschaft hochangesehenen Männern in Briefwechsel und gab viel Geld zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke aus. Was aber sein Herz und seine guten Taten anlangt, oh, da haben Sie allerdings ganz richtig geschrieben, daß ich damals beinah ein Idiot war und nichts richtig verstehen konnte (obwohl ich doch Russisch zu sprechen und zu verstehen imstande war); aber alles, woran ich mich jetzt erinnere, vermag ich doch ganz gut in seinem Wert zu beurteilen…«

»Erlauben Sie«, kreischte Ippolit, »wird das nicht allzu gefühlvoll werden? Wir sind keine Kinder. Sie wollten direkt zur Sache kommen; es ist bald zehn Uhr, vergessen Sie das nicht!«

»Schön, schön, meine Herren!« stimmte ihm der Fürst sogleich bei. »Nach der ersten Regung von Mißtrauen sagte ich mir, daß ich mich doch irren könne und daß Pawlischtschew vielleicht wirklich einen Sohn habe. Aber in großes Erstaunen versetzte mich der Umstand, daß dieser Sohn das Geheimnis seiner Geburt so leichtfertig, das heißt, ich will sagen, so öffentlich preisgibt, und vor allem, daß er seine Mutter verunglimpft. Schon damals nämlich suchte mich Tschebarow durch den Hinweis auf eine Veröffentlichung einzuschüchtern…«

»Was für eine Dummheit!« rief Lebedews Neffe.

»Sie haben kein Recht… Sie haben kein Recht!« schrie Burdowskij.

»Der Sohn ist für die Liederlichkeit seines Vaters nicht verantwortlich, und die Mutter trägt keine Schuld«, kreischte Ippolit sehr erregt.

»Um so mehr verdiente sie geschont zu werden, möchte man meinen«, erwiderte der Fürst schüchtern.

»Sie sind nicht nur naiv, Fürst, sondern vielleicht noch etwas mehr«, bemerkte Lebedews Neffe mit boshaftem Lächeln.

»Und welches Recht hatten Sie…«, kreischte Ippolit mit ganz unnatürlicher Stimme.

»Keines, keines!« unterbrach ihn der Fürst eilig. »Darin haben Sie recht, das erkenne ich an; aber jener Gedanke war mir damals ganz unwillkürlich gekommen, und ich sagte mir darauf sogleich selbst, daß meine persönlichen Gefühle keinen Einfluß auf die Behandlung der Sache haben dürften, denn wenn ich aus Dankbarkeit gegen Pawlischtschew die Verpflichtung anerkennen wolle, Herrn Burdowskijs Forderungen zu befriedigen, so müsse ich sie eben in jedem Falle befriedigen, das heißt ohne Rücksicht darauf, ob ich gegen Herrn Burdowskij von Hochachtung erfüllt sei oder nicht. Ich habe hiervon nur deswegen zu reden begonnen, meine Herren, weil es mir doch unnatürlich schien, daß ein Sohn das Geheimnis seiner Mutter so vor aller Öffentlichkeit kundgibt… Mit einem Wort: dies war der Hauptgrund, weswegen ich zu der Überzeugung gelangte, dieser Tschebarow müsse eine Kanaille sein und habe Herrn Burdowskij durch Betrug zu dieser Gaunerei aufgehetzt.«

»Aber das ist ja nicht mehr zum Aushalten!« wurde von Seiten der Gäste gerufen, von denen einige sogar von ihren Stühlen aufsprangen.

»Meine Herren! Ich sagte mir daher, der unglückliche Herr Burdowskij müsse ein einfältiger, schutzloser Mensch sein, der sich leicht einem beliebigen Gauner fügt, und ich sei mithin um so mehr verpflichtet, ihm als dem ›Sohn Pawlischtschews‹ zu helfen, und zwar erstens dadurch, daß ich Herrn Tschebarow entgegentrat, zweitens durch meine Ergebenheit und Freundschaft, indem ich ihn zu leiten suchte, und drittens durch Auszahlung von zehntausend Rubeln, das heißt der ganzen Summe, die nach meiner Berechnung Pawlischtschew für mich aufgewendet haben dürfte.«

»Wie? Nur zehntausend Rubel?« schrie Ippolit.

»Na, im Rechnen sind Sie nicht sehr stark, Fürst, oder vielleicht auch sehr stark, obwohl Sie sich so naiv und harmlos stellen!« rief Lebedews Neffe.

»Ich gehe auf zehntausend nicht ein«, sagte Burdowskij.

»Antip, nimm es an!« riet ihm der Boxer schnell, zwar flüsternd, aber doch für alle vernehmlich, indem er sich über Ippolits Stuhllehne hinweg von hinten zu ihm hinbeugte. »Nimm es an, nachher werden wir weiter sehen!«

»Hören Sie mal, Herr Myschkin«, kreischte Ippolit, »begreifen Sie doch endlich, daß wir keine Dummköpfe sind, keine gemeinen Dummköpfe, wie es wahrscheinlich alle Ihre Gäste von uns glauben, auch diese Damen, die so entrüstet über uns lächeln, und besonders dieser noble Herr« (er wies auf Jewgenij Pawlowitsch), »den ich natürlich nicht die Ehre habe zu kennen, von dem ich aber wohl schon etwas gehört habe…«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, meine Herren, Sie haben mich wieder nicht recht verstanden!« wandte sich der Fürst erregt an sie. »Erstens haben Sie, Herr Keller, in Ihrem Artikel mein Vermögen ganz ungenau angegeben: ich habe keine Millionen erhalten, ich besitze vielleicht nur ein Achtel oder ein Zehntel dessen, was Sie bei mir voraussetzen; zweitens sind in der Schweiz gar nicht so enorme Summen für mich ausgegeben worden: Schneider erhielt sechshundert Rubel jährlich und auch das nur in den ersten drei Jahren; auch hat Pawlischtschew niemals hübsche Gouvernanten aus Paris geholt, das ist wieder Verleumdung. Meines Erachtens beträgt der für mich gemachte Aufwand erheblich weniger als zehntausend Rubel. Aber doch habe ich diese Summe angesetzt, und Sie müssen selbst zugeben: da ich eine Schuld zurückzahle, kann ich Herrn Burdowskij schlechterdings nicht mehr anbieten, selbst wenn ich ihn außerordentlich liebhätte; ich kann es schon aus Taktgefühl nicht, da ich ihm eben eine Schuld zurückzahle und ihm nicht etwa ein Almosen zuwende. Ich begreife nicht, meine Herren, wie Ihnen das unverständlich sein kann! Aber ich wollte das nachher alles durch meine Freundschaft und meine tätige Teilnahme an dem Ergehen des unglücklichen Herrn Burdowskij ausgleichen, der ohne Zweifel betrogen worden ist, da er sonst unmöglich einer solchen Gemeinheit zugestimmt hätte, wie sie Herrn Kellers heutige Äußerungen über seine Mutter in diesem Artikel darstellen… Aber warum geraten Sie denn wieder außer sich, meine Herren? Auf die Art werden wir einander schließlich überhaupt nicht mehr verstehen! Was ich gedacht hatte, hat sich ja doch als zutreffend herausgestellt! Ich habe mich jetzt mit eigenen Augen überzeugt, daß meine Vermutung richtig war«, sagte in bittendem Ton der ganz in Eifer gekommene Fürst, der die Erregung zu besänftigen wünschte und nicht merkte, daß er sie nur steigerte.

»Was? Wovon haben Sie sich überzeugt?« schrien die Gegner wütend auf ihn los.

»Aber ich bitte Sie, erstens habe ich selbst Gelegenheit gehabt, Herrn Burdowskij genau kennenzulernen, und sehe jetzt selbst, wes Geistes Kind er ist… Er ist ein unschuldiger Mensch, der von allen betrogen wird! Und er ist ein schutzloser Mensch, und darum ist es meine Pflicht, schonend mit ihm zu verfahren. Und zweitens hat Gawrila Ardalionowitsch, in dessen Hände ich diese Sache gelegt habe und von dem mir lange keine Nachricht zugegangen war, da er sich unterwegs befand und dann drei Tage lang in Petersburg krank lag, der hat plötzlich jetzt, erst vor einer Stunde, bei unserm ersten Wiedersehen, mir mitgeteilt, er habe Tschebarows Absichten sämtlich durchschaut und besitze die erforderlichen Beweise; Tschebarow sei genau der Mensch, als den ich ihn eingeschätzt hätte. Ich weiß ja, meine Herren, daß viele mich für einen Idioten halten, und da ich in dem Ruf stand, leicht Geld hinzugeben, so hielt Tschebarow es für eine sehr leichte Aufgabe, mich zu betrügen, und rechnete dabei besonders auf meine dankbaren Empfindungen gegenüber Pawlischtschew. Aber die Hauptsache ist – hören Sie zu, meine Herren, hören Sie zu! –, die Hauptsache ist, daß sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowskij gar nicht Pawlischtschews Sohn ist! Soeben hat mir Gawrila Ardalionowitsch dies mitgeteilt, und er versichert, er habe positive Beweise dafür erlangt. Nun, was meinen Sie jetzt? Das ist ja nach allem, was Sie schon angerichtet haben, gar nicht zu glauben! Und wohlgemerkt: positive Beweise! Ich glaube es noch nicht, ich selbst glaube es noch nicht, versichere ich Ihnen; ich zweifle noch, da Gawrila Ardalionowitsch noch keine Zeit dazu gefunden hat, mir alle Einzelheiten mitzuteilen; aber daß Tschebarow eine Kanaille ist, daran kann jetzt kein Zweifel mehr bestehen! Er hat den unglücklichen Herrn Burdowskij und Sie alle, meine Herren, die Sie Ihren Freund edelmütig unterstützen wollten (denn er bedarf augenscheinlich eines Beistandes, ich habe ja dafür Verständnis!), er hat Sie alle hinters Licht geführt und Sie alle in eine Gaunerei verwickelt, denn die ganze Sache ist in Wirklichkeit nichts anderes als Gaunerei und Betrug!«

»Wieso Gaunerei?… Wieso soll er nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ sein? Wie ist das möglich? …«, ertönte es von allen Seiten. Burdowskijs ganzes Gefolge befand sich in unsagbarer Verwirrung und Aufregung.

»Ja, gewiß, Gaunerei! Wenn sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowskij nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ ist, so erweist sich ja damit Herrn Burdowskijs Forderung geradezu als Gaunerei (das heißt selbstverständlich, wenn er die Wahrheit wüßte), aber das ist es ja eben, daß er getäuscht worden ist, und darum bemühe ich mich so energisch, ihn zu verteidigen; darum sage ich auch, daß er wegen seiner Naivität bemitleidet zu werden verdient; sonst erschiene er in dieser Sache selbst als ein Gauner. Aber ich für meine Person bin bereits überzeugt, daß er nichts davon weiß. Ich selbst habe mich vor meiner Abreise nach der Schweiz in derselben Lage befunden, habe ebenfalls unzusammenhängende Worte gestammelt – man will sich ausdrücken und ist nicht dazu imstande… Ich habe dafür Verständnis, ich kann es ihm sehr nachempfinden, weil ich selbst fast ein ebensolcher Mensch war; ich darf darüber reden! Und endlich will ich dennoch, obwohl er jetzt nicht mehr ›Pawlischtschews Sohn‹ ist und alles sich als Mystifikation erweist, ich will dennoch meinen Entschluß nicht ändern und bin bereit, ihm die zehntausend Rubel auszuzahlen, zum Andenken an Pawlischtschew. Eigentlich wollte ich ja vor Herrn Burdowskijs Auftreten diese zehntausend Rubel zum Andenken an Pawlischtschew für eine Schule verwenden; aber es ist ja jetzt ganz gleich, ob ich sie für eine Schule verwende oder sie Herrn Burdowskij gebe, weil Herr Burdowskij, wenn er auch nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ ist, doch beinah an Stelle eines solchen steht, da man ihn selbst darüber so boshaft getäuscht hat und er selbst sich aufrichtig für Pawlischtschews Sohn gehalten hat! Hören Sie nun mit an, meine Herren, was Gawrila Ardalionowitsch uns sagen wird; bringen wir die Sache zu Ende, seien Sie nicht zornig, regen Sie sich nicht auf, setzen Sie sich hin! Gawrila Ardalionowitsch wird uns sogleich alles erklären, und ich gestehe, daß ich selbst außerordentlich begierig bin, alle Einzelheiten zu erfahren. Er sagte, er sei sogar nach Pskow zu Ihrer Mutter gefahren, Herr Budowskij, die keineswegs gestorben ist, wie man Sie in dem Artikel hat schreiben lassen… Setzen Sie sich doch, meine Herren, setzen Sie sich doch!«

Der Fürst setzte sich, und es gelang ihm, auch Herrn Burdowskijs Begleiter, die von ihren Plätzen aufgesprungen waren, wieder zum Hinsetzen zu bewegen. In den letzten zehn oder zwanzig Minuten hatte er hitzig, laut, in ungeduldiger Hast gesprochen, sich hinreißen lassen und alle andern zu überschreien gesucht; jetzt, gleich darauf, bereute er natürlich bitter einige ihm entschlüpfte Ausdrücke und die Äußerung gewisser Vermutungen. Hätte man ihn nicht so gereizt und ganz außer sich gebracht, so würde er es sich nicht gestattet haben, manche Vermutungen so unverhüllt und hastig mit unnötiger Offenherzigkeit auszusprechen. Aber kaum hatte er sich wieder auf seinen Platz gesetzt, als ein schmerzhaft brennendes Gefühl der Reue sein Herz durchdrang: er hatte Burdowskij nicht nur dadurch »beleidigt«, daß er so laut und öffentlich bei ihm dieselbe Krankheit voraussetzte, gegen die er selbst in der Schweiz eine Kur gebraucht hatte, sondern er hatte ihm auch das Angebot der eigentlich für eine Schule bestimmten zehntausend Rubel seiner Meinung nach in einer plumpen, unvorsichtigen Weise gemacht, namentlich insofern, als er es vor allen Leuten mit lauten Worten getan hatte. ›Ich hätte warten und es ihm morgen unter vier Augen anbieten müssen‹, dachte der Fürst sogleich, ›aber das ist jetzt wohl nicht mehr gutzumachen! Ja, ich bin ein Idiot, ein richtiger Idiot!‹ sagte er sich in einem Anfall von Scham und aufrichtiger Betrübnis.

Inzwischen war Gawrila Ardalionowitsch, der sich bis dahin abseits gehalten und beharrlich geschwiegen hatte, auf des Fürsten Aufforderung vorgetreten, hatte sich neben ihn gestellt und begann nun ruhig und klar über die Ausführung des ihm vom Fürsten erteilten Auftrages Bericht zu erstatten. Alle Gespräche waren augenblicklich verstummt. Alle hörten höchst gespannt zu, namentlich Burdowskijs ganzes Gefolge.

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