Kapitel 13

XIII

Der Fürst befand sich, als er die Treppe hinaufstieg, in großer Unruhe und suchte sich mit aller Kraft Mut zu machen.›Das Schlimmste‹, dachte er, ›kann doch nur sein, daß sie mich nicht empfängt und irgend etwas Schlechtes von mir denkt, oder auch vielleicht, daß sie mich empfängt und mir ins Gesicht lacht… Ach was! Daraus will ich mir nichts machen!‹ Und in der Tat ängstigte ihn dies nicht so besonders, aber die Frage, warum er eigentlich dorthin ging und was er dort wollte, auf diese Frage fand er schlechterdings keine befriedigende Antwort. Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, eine günstige Gelegenheit abzupassen und zu Nastasja Filippowna zu sagen: ›Heiraten Sie diesen Menschen nicht, und richten Sie sich nicht zugrunde; er liebt Sie nicht, er liebt nur Ihr Geld, das hat er mir selbst gesagt, und auch Aglaja Jepantschina hat es mir gesagt, und ich bin hergekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen‹, so würde, sagte er sich, auch das nicht in jeder Beziehung korrekt sein. Und noch eine andere ungelöste Frage trat ihm vor die Seele, eine so wichtige Frage, daß der Fürst sich sogar fürchtete, an sie auch nur zu denken, daß er gar nicht wagte, sie als zulässig zu betrachten und zu formulieren, sondern bei dem bloßen Gedanken an sie errötete und zu zittern begann. Aber das Ende war doch, daß er trotz all dieser Befürchtungen und Zweifel eintrat und nach Nastasja Filippowna fragte.

Nastasja Filippowna hatte eine nicht sehr große, aber wirklich prachtvoll ausgestattete Wohnung. In den fünf Jahren ihres Petersburger Aufenthalts hatte es zuerst eine Zeit gegeben, wo Afanassij Iwanowitsch ganz besonders viel Geld für sie aufwandte; er rechnete damals noch auf ihre Liebe und hoffte, sie namentlich durch Komfort und Luxus zu betören, denn er wußte, wie leicht man sich an den Luxus gewöhnt und wie schwer es einem nachher fällt, auf ihn zu verzichten, wenn er allmählich zum Bedürfnis geworden ist. In dieser Hinsicht blieb Tozkij den alten, guten Traditionen treu und änderte nichts an ihnen, da er die unüberwindliche Macht der sinnlichen Eindrücke außerordentlich hoch anschlug. Nastasja Filippowna verhielt sich gegen den Luxus nicht ablehnend, sie liebte ihn sogar, aber – und dies erschien sehr merkwürdig – sie ließ sich von ihm nicht unterjochen, sondern machte den Eindruck, als könne sie ihn auch jederzeit entbehren; sie sprach das sogar mehrmals absichtlich aus, wodurch Tozkij sich unangenehm berührt fühlte. Übrigens hatte Nastasja Filippowna gar manches an sich, wovon Afanassij Iwanowitsch nicht sonderlich erbaut war, ein Gefühl, das sich in der Folgezeit sogar bis zur Verachtung steigerte. Ganz abgesehen davon, daß sie manchmal, und offenbar aus persönlicher Neigung, Leute an sich heranzog, die das Gegenteil von elegant waren, traten bei ihr auch noch einige andere ganz seltsame Neigungen hervor: es zeigte sich eine barbarische Vermischung zweier verschiedener Geschmacksrichtungen, ferner eine Fähigkeit, auf gewisse Genüsse zu verzichten und sich statt dessen mit andern zu begnügen, die ein anständiger, feingebildeter Mensch als gar nicht vorhanden betrachtet. In der Tat, hätte – um ein Beispiel anzuführen – Nastasja Filippowna irgendeine liebenswürdige, vornehme Unwissenheit bekundet, etwa eine Unkenntnis der Tatsache, daß Bäuerinnen nicht weißen Batist tragen können, wie sie ihn trug, so wäre Afanassij Iwanowitsch damit wohl ganz zufrieden gewesen. Auf solche Resultate zielte ursprünglich nach Tozkijs Programm, der auf diesem Gebiet ein großer Sachverständiger war, Nastasja Filippownas ganze Erziehung ab, aber leider kamen statt dessen ganz sonderbare Resultate zutage. Trotzdem jedoch lagen in Nastasja Filippownas Wesen noch manche Eigenschaften, die mitunter sogar Afanassij Iwanowitsch selbst durch ihre ungewöhnliche, reizvolle Originalität und ihre urwüchsige Kraft anzogen und ihn bisweilen auch jetzt noch entzückten, wo schon all seine früheren Spekulationen auf Nastasja Filippowna zusammengestürzt waren.

Dem Fürsten öffnete ein Mädchen (Nastasja Filippowna hielt sich stets nur weibliche Dienerschaft) und hörte zu seiner Verwunderung seine Bitte, ihn zu melden, ohne jedes Erstaunen an. Weder seine schmutzigen Stiefel noch sein breitkrempiger Hut, noch sein ärmelloser Mantel, noch seine verlegene Miene machten sie auch nur im geringsten stutzig. Sie nahm ihm den Mantel ab, forderte ihn auf, im Empfangszimmer zu warten, und ging sogleich, um ihn zu melden.

Die Gesellschaft, die sich bei Nastasja Filippowna versammelt hatte, bestand aus ihren ständigen Bekannten, die immer bei ihr verkehrten. Es waren sogar nur ziemlich wenige Gäste anwesend im Vergleich mit den Veranstaltungen, die in früheren Jahren an demselben Tage stattgefunden hatten. Erschienen waren erstens und als Hauptpersonen Afanassij Iwanowitsch Tozkij und Iwan Fjodorowitsch Jepantschin; beide benahmen sich sehr liebenswürdig, aber beide befanden sich in einer gewissen geheimen Unruhe durch die nur schlecht verhehlte Spannung auf die versprochene Entscheidung über Ganja. Außer ihnen war selbstverständlich auch Ganja da – sehr düster, nachdenklich und höchst »unliebenswürdig«; er stand meist in einiger Entfernung abseits und schwieg. Was Warja anlangt, so hatte er sich dafür entschieden, sie lieber nicht mitzubringen, aber Nastasja Filippowna tat ihrer gar nicht Erwähnung; dagegen fing sie unmittelbar nach Ganjas Begrüßung an, von der Szene zu sprechen, die er vorher mit dem Fürsten gehabt hatte. Der General, der noch nichts davon gehört hatte, interessierte sich sehr dafür. Ganja erzählte in trockenem, ruhigem Ton, aber vollkommen wahrheitsgemäß alles, was sich vor kurzem begeben hatte, und daß er bereits zum Fürsten hingegangen sei, um ihn um Verzeihung zu bitten. Dabei sprach er mit großer Lebhaftigkeit seine Meinung dahin aus, wenn man den Fürsten einen Idioten nenne, so sei das sehr sonderbar und ein Grund dafür unerfindlich; er sei vollständig entgegengesetzter Ansicht und halte ihn für einen sehr selbständig denkenden Menschen. Nastasja Filippowna hörte diese Äußerung mit großer Aufmerksamkeit an und verfolgte neugierig Ganjas Mienenspiel, aber das Gespräch ging sogleich auf Rogoshin über, der bei den Vorgängen des Vormittags so stark beteiligt gewesen war und für den Afanassij Iwanowitsch und Iwan Fjodorowitsch sich gleichfalls äußerst lebhaft zu interessieren begannen. Besondere Mitteilungen über Rogoshin zu machen, war, wie sich herausstellte, Ptizyn in der Lage, der sich in dessen geschäftlichen Angelegenheiten mit ihm fast bis neun Uhr abends abgemüht hatte. Rogoshin hatte mit aller Energie darauf bestanden, noch heute hunderttausend Rubel zu bekommen. »Er war allerdings betrunken«, bemerkte Ptizyn dabei, »aber trotz aller Schwierigkeiten werden die hunderttausend Rubel wohl für ihn beschafft werden, nur weiß ich nicht, ob heute noch ganz, aber es arbeiten viele daran, Trepalow, Kinder, Biskup; Prozente gibt er, soviel einer verlangt, natürlich alles in seiner Trunkenheit und in der ersten Freude…«, schloß Ptizyn.

Alle diese Mitteilungen wurden mit Interesse entgegengenommen, zum Teil allerdings mit düsterem Interesse; Nastasja Filippowna schwieg und wünschte offenbar nicht, sich zu äußern; auch Ganja redete nicht. General Jepantschin beunruhigte sich im stillen nicht weniger als die andern; der Perlenschmuck, den er schon am Vormittag überreicht hatte, war mit sehr kühler Freundlichkeit und sogar mit einem eigentümlichen Lächeln in Empfang genommen worden. Ferdyschtschenko war von allen Gästen der einzige, der sich in heiterer, festtäglicher Stimmung befand; er lachte manchmal laut ohne sichtbaren Grund, lediglich weil er die Rolle des Spaßmachers übernommen hatte. Afanassij Iwanowitsch selbst, der für einen geistreichen, eleganten Plauderer galt und in früherer Zeit bei diesen Abendgesellschaften gewöhnlich das Gespräch geleitet hatte, befand sich offenbar nicht in der rechten Stimmung und sogar in einer ihm sonst fremden Verwirrung. Die andern Gäste, die übrigens wenig zahlreich waren (ein jämmerlicher, alter Lehrer, der Gott weiß weshalb eingeladen war, ein unbekannter, sehr jugendlicher Mensch, der furchtbar schüchtern war und die ganze Zeit über schwieg, eine gewandte, etwa vierzigjährige Dame, Schauspielerin, und eine außerordentlich hübsche, sehr schön und luxuriös gekleidete und überaus stille junge Frau), vermochten das Gespräch nicht sonderlich zu beleben, ja, sie wußten manchmal gar nicht, wovon sie sprechen sollten.

Unter diesen Umständen kam das Erscheinen des Fürsten sogar sehr gelegen. Die Meldung von seiner Ankunft rief einige Verwunderung und ein eigentümliches Lächeln hervor, namentlich als die Gäste an Nastasja Filippownas erstauntem Gesicht merkten, daß es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, ihn einzuladen. Aber nach diesem ersten Erstaunen bekundete Nastasja Filippowna auf einmal eine solche Freude, daß die Mehrzahl der Anwesenden sich sogleich anschickte, den unerwarteten Gast mit Lachen und Heiterkeit zu empfangen.

»Er tut das allerdings aus Naivität«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, »und es ist jedenfalls nicht ungefährlich, solche Neigungen zu ermutigen; aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wirklich nicht übel, daß er auf den Einfall gekommen ist, hier zu erscheinen, wenn auch in so origineller Manier. Er wird vielleicht zu unserer Erheiterung beitragen, soweit ich wenigstens über ihn urteilen kann.«

»Das muß er um so mehr, als er sich eingedrängt hat!« fügte Ferdyschtschenko rasch hinzu.

»Was soll das heißen?« fragte trocken der General, der Ferdyschtschenko nicht leiden konnte.

»Er muß eben Eintrittsgeld bezahlen«, erwiderte dieser erläuternd.

»Nun, Fürst Myschkin ist denn doch: kein Ferdyschtschenko«, konnte sich der General nicht enthalten zu entgegnen. Er konnte sich immer noch nicht darein finden, daß er sich mit Ferdyschtschenko in ein und derselben Gesellschaft befinden und mit ihm auf gleichem Fuße verkehren sollte.

»Ei, ei, General, vergreifen Sie sich nicht an Ferdyschtschenko«, antwortete dieser schmunzelnd. »Ich habe hier meine besonderen Privilegien.«

»Was für Privilegien?«

»Ich hatte das vorige Mal die Ehre, es der Gesellschaft ausführlich auseinanderzusetzen, und will es jetzt für Euer Exzellenz noch einmal wiederholen. Wollen Euer Exzellenz folgendes erwägen: alle Menschen sind geistreich, nur ich besitze diese Eigenschaft nicht. Zum Ausgleich habe ich mir die Erlaubnis erwirkt, die Wahrheit sagen zu dürfen, da allen bekannt ist, daß die Wahrheit nur Leute sagen, denen es an Geist mangelt. Außerdem bin ich ein sehr rachsüchtiger Mensch, und zwar wieder eben deswegen, weil ich nicht geistreich bin. Ich ertrage demütig jede Beleidigung, aber nur so lange, bis es meinem Beleidiger einmal schiefgeht; sowie das eintritt, erinnere ich mich sofort an die Beleidigung und räche mich irgendwie, ich schlage aus, wie Iwan Petrowitsch Ptizyn einmal von mir sagte, der natürlich für seine Person nie gegen jemand ausschlägt. Kennen Euer Exzellenz die Krylowsche Fabel ›Der Löwe und der Esel‹? Na, die paßt auf uns beide, auf Sie und mich, die ist auf uns zugeschnitten.«

»Sie sind wohl wieder einmal ins Faseln gekommen, Ferdyschtschenko!« brauste der General auf.

»Aber was haben Sie denn, Exzellenz?« erwiderte Ferdyschtschenko, der darauf gerechnet hatte, ein Wortgefecht herbeizuführen und weiterzusalbadern. »Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz, ich kenne meinen Platz: wenn ich sagte, daß Sie und ich der Löwe und der Esel aus der Krylowschen Fabel seien, so übernehme ich natürlich die Rolle des Esels und Euer Exzellenz die des Löwen, wie es ja auch in der Krylowschen Fabel heißt:

›Der mächt’ge Leu, der einst die Wälder
Erschreckte, war nun altersschwach.‹

Ich aber, Exzellenz, bin der Esel.«

»Mit letzterem bin ich einverstanden«, platzte der General heraus.

Alles, was Ferdyschtschenko da sagte, war ja plump, absichtlich plump, aber es war nun einmal üblich geworden, daß man Ferdyschtschenko die Rolle eines Clowns spielen ließ.

»Nur deshalb verstattet man mir ja hier den Zutritt und duldet mich«, hatte Ferdyschtschenko einmal erklärt, »damit ich in diesem Ton rede. In der Tat, könnte man sonst einen Menschen meiner Art empfangen? Ich begreife ja das alles. Na, kann man etwa mich, den armseligen Ferdyschtschenko, neben einen so feinen Gentleman wie Afanassij Iwanowitsch setzen? Wenn man es doch tut, so gibt es dafür nur eine Erklärung: man tut es eben deshalb, weil es undenkbar ist.«

Aber wenn er auch gewöhnlich plump war, so war er doch auch oft bissig, und manchmal sogar in hohem Grade, und das war es, woran Nastasja Filippowna Gefallen zu finden schien. Wer bei ihr zu verkehren wünschte, dem blieb nichts anderes übrig, als diesen Ferdyschtschenko zu ertragen. Er hatte vielleicht wirklich die volle Wahrheit erraten, als er die Vermutung aussprach, daß sie ihn deswegen empfange, weil er gleich bei seiner ersten Anwesenheit auf Tozkij einen unerträglichen Eindruck gemacht hatte. Ganja seinerseits mußte sich von ihm ein endlose Reihe von Martern gefallen lassen, und in dieser Hinsicht wußte sich Ferdyschtschenko seiner Gönnerin sehr nützlich zu machen.

»Zuerst werde ich vom Fürsten verlangen, daß er uns ein modernes Lied vorsingt«, bemerkte Ferdyschtschenko und paßte auf, was Nastasja Filippowna dazu sagen würde.

»Ich glaube nicht, daß er das tun wird, Ferdyschtschenko, und möchte Sie bitten, sich nicht zu sehr ins Zeug zu legen.«

»Ah, ah! Nun, wenn er unter Ihrem besonderen Schutz steht, dann werde auch ich mich erweichen lassen…«

Aber Nastasja Filippowna stand, ohne hinzuhören, auf und ging selbst dem Fürsten entgegen.

»Ich habe bedauert«, sagte sie, plötzlich vor ihn hintretend, »daß ich vorhin in der Eile vergessen habe, Sie einzuladen, und ich freue mich sehr, daß Sie mir jetzt selbst die Gelegenheit geben, Ihr entschlossenes Verhalten zu loben und Ihnen zu danken.«

Während sie das sagte, blickte sie den Fürsten forschend an, bemüht, über den Grund seines Kommens Klarheit zu erlangen.

Der Fürst hätte auf ihre freundlichen Worte vielleicht etwas erwidert, aber er war dermaßen von ihrer Erscheinung überrascht und geblendet, daß er kein Wort herausbringen konnte. Nastasja Filippowna bemerkte dies mit Vergnügen. Sie war an diesem Abend in großer Toilette und machte einen außerordentlich starken Eindruck. Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu den Gästen. Unmittelbar vor dem Eingang in den Salon blieb der Fürst plötzlich stehen und flüsterte ihr in großer Erregung hastig zu:

»An Ihnen ist alles vollkommen… sogar Ihre Abgezehrtheit und Blässe… man möchte Sie sich gar nicht anders vorstellen… Ich hatte ein so starkes Verlangen, zu Ihnen zu gehen… ich … verzeihen Sie mir…«

»Bitten Sie nicht um Verzeihung«, erwiderte lachend Nastasja Filippowna, »dadurch wird Ihre ganze Sonderbarkeit und Originalität zerstört. Und es wird doch mit Recht über Sie gesagt, daß Sie ein sonderbarer Mensch seien. Also Sie halten mich für vollkommen, ja?«

»Ja.«

»Sie sind zwar sonst ein Meister im Erraten, aber hier haben Sie sich geirrt. Ich werde Sie noch heute daran erinnern.«

Sie stellte den Fürsten den Gästen vor, von denen er der größeren Hälfte bereits bekannt war. Tozkij sagte ihm sogleich eine Liebenswürdigkeit. Alle schienen etwas lebendiger zu werden, alle begannen auf einmal zu reden und zu lachen. Nastasja Filippowna wies dem Fürsten einen Platz an ihrer Seite zu.

»Aber was ist denn eigentlich an dem Erscheinen des Fürsten so Verwunderliches?« überschrie Ferdyschtschenko alle. »Die Sache ist doch klar, die Sache spricht für sich selbst!«

»Die Sache ist nur zu klar und spricht nur zu sehr für sich selbst!« sagte auf einmal Ganja, der bisher geschwiegen hatte. »Ich habe den Fürsten bis heute fast ununterbrochen beobachtet, von dem Augenblick an, als er in Iwan Fjodorowitschs Wohnung zum erstenmal Nastasja Filippownas Bild auf dem Tische liegen sah. Ich erinnere mich sehr genau, daß mir gleich damals ein Gedanke an das kam, was mir jetzt zur vollen Überzeugung geworden ist, und was mir, beiläufig gesagt, der Fürst selbst gestanden hat!«

Ganja hatte das alles sehr ernst, ohne die geringste Spur von Scherzhaftigkeit, ja mit finsterer Miene gesagt, was einen ziemlich seltsamen Eindruck machte.

»Ich habe Ihnen keine Geständnisse gemacht«, antwortete der Fürst errötend, »ich habe nur eine Frage beantwortet, die Sie an mich richteten.«

»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. »Das ist wenigstens aufrichtig gesprochen, aufrichtig und zugleich schlau!«

Alle lachten laut.

»Schreien Sie doch nicht so, Ferdyschtschenko«, sagte Ptizyn mit gedämpfter Stimme unwillig zu ihm.

»Solche Bravourstücke hätte ich wahrhaftig nicht von Ihnen erwartet, Fürst«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch. »Zu welcher Menschenklasse muß man Sie danach rechnen? Und ich hatte Sie für einen Philosophen gehalten! Ja, ja, die stillen Wässerchen!«

»Und daraus, daß der Fürst bei einem harmlosen Scherz rot wird wie ein unschuldiges junges Mädchen, schließe ich, daß er als ein ehrenwerter Jüngling in seinem Herzen die löblichsten Absichten hegt«, sagte, oder richtiger lispelte auf einmal ganz unerwartet der zahnlose siebzigjährige Lehrer, der bis dahin vollständig stumm gewesen war und von dem niemand hatte erwarten können, daß er im Laufe des Abends überhaupt ein Wort reden würde.

Alle lachten nur noch mehr. Der Alte, der wahrscheinlich glaubte, man lache über seine geistreiche Bemerkung, begann, alle ansehend, noch stärker als sie zu lachen, wobei er in ein heftiges Husten hineingeriet, so daß Nastasja Filippowna, die wunderlicherweise für all solche originellen Greise, Greisinnen und selbst Narren eine besondere Schwäche hatte, sogleich anfing, ihn zu liebkosen und zu küssen, und ihm noch Tee reichen ließ. Von der eintretenden Dienerin ließ sie sich eine Mantille bringen, in die sie sich einhüllte; auch gab sie Befehl, noch Holz im Kamin nachzulegen. Auf die Frage, wie spät es sei, antwortete die Dienerin, es sei schon halb elf.

»Meine Herren, wollen Sie nicht Champagner trinken?« schlug Nastasja Filippowna plötzlich vor. »Ich habe alles vorbereiten lassen. Vielleicht wird Sie das lustiger machen. Bitte, ohne sich zu genieren!«

Die Einladung zu trinken, und namentlich in so naiven Ausdrücken, machte sich von Nastasja Filippownas Seite recht sonderbar. Alle kannten die strenge Etikette, die auf ihren früheren Abendgesellschaften geherrscht hatte. Überhaupt gestaltete sich dieser Abend lustiger, aber in ungewöhnlicher Weise. Die Aufforderung zum Champagnertrinken lehnten die Gäste nicht ab; zuerst nahm sie der General an, dann die gewandte Dame, der alte Lehrer, Ferdyschtschenko, danach alle andern. Auch Tozkij griff nach einem Glase, in der Hoffnung, dem neuen Ton, der jetzt angeschlagen war, eine gewisse harmonische Färbung zu verleihen, indem er ihm nach Möglichkeit den Charakter eines liebenswürdigen Scherzes gab. Ganja war der einzige, der nichts trank. Aus den sonderbaren, mitunter sehr scharfen und hastigen Ausfällen Nastasja Filippownas, die sich ebenfalls Wein geben ließ und erklärte, sie werde an diesem Abend drei große Gläser voll trinken, und aus ihrem hysterischen, grundlosen Lachen, das dann plötzlich mit Schweigsamkeit und sogar mit düsterer Nachdenklichkeit wechselte, aus alledem war schwer klug zu werden. Manche vermuteten, sie hätte Fieber; schließlich merkte man, daß sie anscheinend auf etwas wartete, oft nach der Uhr sah und ungeduldig und zerstreut wurde.

»Sie scheinen ein bißchen zu fiebern?« fragte die gewandte Dame.

»Nicht ein bißchen, sondern recht stark; darum habe ich mich auch in die Mantille gewickelt«, antwortete Nastasja Filippowna, die tatsächlich blasser geworden war und ab und zu ein heftiges Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken schien.

Alle Gäste gerieten in Unruhe und Bewegung.

»Sollten wir nicht unserer Wirtin Ruhe gönnen?« sagte Tozkij, indem er Iwan Fjodorowitsch ansah.

»Durchaus nicht, meine Herrschaften! Ich bitte Sie dringend, sitzenzubleiben. Ihre Anwesenheit ist besonders heute für mich notwendig«, erklärte Nastasja Filippowna nachdrücklich und bedeutsam. Und da fast alle Gäste schon wußten, daß an diesem Abend eine sehr bedeutsame Entscheidung fallen sollte, so erschienen diese Worte besonders schwerwiegend. Der General und Tozkij wechselten wieder einen Blick miteinander. Ganja machte krampfhafte Bewegungen.

»Es wäre ganz nett, wenn wir ein Gesellschaftsspiel spielten«, sagte die gewandte Dame.

»Ich kenne ein prachtvolles, neues Gesellschaftsspiel«, erklärte Ferdyschtschenko. »Ich weiß nur von einem Fall, wo es auf der Welt gespielt wurde, und auch da gelang es nicht.«

»Was ist das für ein Spiel?« fragte die gewandte Dame.

»Wir waren einmal in einer Gesellschaft zusammen, nun, und wir hatten ein bißchen getrunken, das ist richtig, und da machte einer den Vorschlag, es sollte jeder von uns, ohne vom Tisch aufzustehen, laut etwas von sich erzählen, aber etwas, was er selbst nach bestem Wissen und Gewissen für die schlechteste Handlung von allen schlechten Handlungen halte, die er im Laufe seines ganzen Lebens begangen habe; aber Vorschrift solle dabei sein, daß wahrheitsgemäß erzählt werden müsse, das war die Hauptsache, jeder sollte wahrheitsgemäß erzählen und nicht lügen.«

»Eine sonderbare Idee«, sagte der General.

»Sehr sonderbar allerdings, Exzellenz, aber eben darum gut.«

»Ein komischer Gedanke«, meinte Tozkij, »der übrigens begreiflich ist: es steckt eine eigenartige Prahlsucht dahinter.«

»Vielleicht war gerade das die Absicht, Afanassij Iwanowitsch.«

»Aber bei einem solchen Gesellschaftsspiel muß man ja weinen und nicht lachen«, bemerkte die gewandte Dame.

»Eine ganz unmögliche, absurde Sache!« rief Ptizyn.

»Und ist es gelungen?« fragte Nastasja Filippowna.

»Das ist es ja eben, daß es nicht gelang; die Geschichte wurde schließlich widerwärtig. Jeder erzählte wirklich etwas, viele die Wahrheit, und denken Sie sich: manche erzählten sogar mit Vergnügen. Aber dann fing ein jeder an, sich zu schämen, und das Spiel konnte nicht weiter durchgeführt werden! Im ganzen war es übrigens recht vergnüglich, das heißt in seiner Art.«

»Nein, wirklich, das wäre schön!« bemerkte Nastasja Filippowna, die auf einmal ganz lebendig wurde. »Das sollten wir wirklich probieren, meine Herrschaften! Wir scheinen in der Tat nicht in besonders heiterer Stimmung zu sein. Wenn jeder von uns damit einverstanden wäre, etwas zu erzählen … etwas in dieser Art … selbstverständlich nur, wenn er einverstanden ist… jeder muß freie Hand haben, nicht wahr? Vielleicht können wir es durchführen. Wenigstens ist es sehr originell.«

»Ja, es ist ein genialer Gedanke!« fügte Ferdyschtschenko bekräftigend hinzu. »Die Damen sind übrigens dispensiert, die Herren machen den Anfang; die Ordnung wird durch das Los bestimmt, wie wir es auch damals machten! Wir wollen es unbedingt tun, unbedingt! Wer absolut nicht will, braucht natürlich nicht zu erzählen, aber dazu müßte schon einer besonders unliebenswürdig sein! Geben Sie Ihre Lose her, meine Herren, hierher, mir; legen Sie sie in meinen Hut, der Fürst wird sie ziehen. Es ist eine ganz leichte Aufgabe, die schlechteste Handlung aus seinem ganzen Leben zu erzählen – das ist sehr leicht, meine Herren! Nun, Sie werden selbst sehen! Wenn aber jemand etwas vergessen sollte, so werde ich sogleich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen.«

Die Idee war höchst sonderbar und gefiel fast niemandem. Die einen machten finstere Gesichter, die anderen lächelten schlau. Manche erhoben Einwendungen, wenn auch nicht sehr energisch, so zum Beispiel Iwan Fjodorowitsch, der Nastasja Filippowna nicht hinderlich sein mochte und bemerkte, wie sehr dieser sonderbare Einfall, vielleicht eben deswegen, weil er sonderbar und beinah undurchführbar war, sie reizte. Wenn Nastasja Filippowna sich einmal entschlossen hatte, ihre Wünsche auszusprechen, so ließ sie sich auch nicht mehr zurückhalten und kannte keine Rücksichten, mochten auch diese Wünsche noch so kapriziös und für sie selbst ganz nutzlos sein. Und jetzt befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand, sie entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit und lachte krampfhaft und in einzelnen Anfällen, namentlich bei den Einwendungen des beunruhigten Tozkij. Ihre dunklen Augen blitzten, auf ihren blassen Wangen traten zwei rote Flecken hervor. Der bedrückte, mürrische Gesichtsausdruck mancher ihrer Gäste steigerte ihren spottlustigen Wunsch vielleicht noch mehr; vielleicht gefiel ihr gerade der Zynismus und die Grausamkeit, die in dieser Idee lagen. Manche waren sogar überzeugt, daß sie da einen besonderen Zweck verfolge. Indessen begannen die Gäste sich einverstanden zu erklären: jedenfalls war die Sache interessant und für viele sogar sehr verlockend. Am eifrigsten von allen zeigte sich Ferdyschtschenko.

»Aber wenn nun etwas von der Art ist, daß man es in Damengesellschaft unmöglich erzählen kann?« bemerkte der schweigsame Jüngling schüchtern.

»Dann erzählen Sie es nicht! Als ob es nicht auch ohne das genug schlechte Handlungen gäbe!« erwiderte Ferdyschtschenko. »Ei, ei, Sie junger Mann!«

»Aber ich weiß gar nicht, welche meiner Handlungen ich für die schlechteste halten soll«, warf die gewandte Dame ein.

»Die Damen sind von der Pflicht zu erzählen dispensiert«, wiederholte Ferdyschtschenko, »aber eben nur dispensiert: wenn sie sich aus freien Stücken dazu bereit finden, so wird das mit dankbarer Anerkennung aufgenommen. Die Herren aber werden nur dispensiert, wenn sie durchaus nicht wollen.«

»Aber wie soll ich da beweisen, daß ich nicht lüge?« fragte Ganja. »Wenn ich aber lüge, so verliert das ganze Spiel seinen Sinn. Und wer wird denn nicht lügen? Jeder wird es unfehlbar tun.«

»Aber auch das ist schon reizvoll, zu sehen, wie jemand dann lügt. Und was dich betrifft, Ganja, so brauchst du dich vor dem Lügen nicht besonders zu fürchten, da deine schlechteste Handlung sowieso schon allen bekannt ist. Und denken Sie nur, meine Herrschaften«, rief Ferdyschtschenko ganz enthusiastisch, »denken Sie nur, mit was für Augen wir nachher einander ansehen werden, zum Beispiel morgen, nach diesen Erzählungen!«

»Aber ist’s möglich? Soll denn das wirklich Ernst sein, Nastasja Filippowna?« fragte Tozkij würdevoll.

»Wer sich vor dem Wolf fürchtet, soll nicht in den Wald gehen!« versetzte Nastasja Filippowna lächelnd.

»Aber erlauben Sie, Herr Ferdyschtschenko, wie kann man denn daraus ein Gesellschaftsspiel machen?« fuhr Tozkij, der immer unruhiger wurde, fort. »Ich versichere Ihnen, daß solche Dinge nie gelingen; Sie sagen ja selbst, daß es schon einmal mißglückt ist.«

»Wieso mißglückt? Ich habe das vorige Mal erzählt, wie ich drei Rubel gestohlen habe, das habe ich ganz einfach und ohne weiteres erzählt!«

»Wenn auch. Aber Sie konnten es doch unmöglich so erzählen, daß es wahrscheinlich klang und man es Ihnen glaubte. Und Gawrila Ardalionowitsch hat ganz richtig bemerkt, daß das Spiel jeden Sinn verliert, sobald man der Erzählung anzumerken glaubt, daß sie nicht wahr ist. Die Wahrheit wird dabei nur dann gesagt werden, wenn sich jemand zufällig in einer eigenartigen, unfeinen, prahlerischen Stimmung befindet, einer Stimmung, die hier undenkbar ist und durchaus unpassend sein würde.«

»Aber was sind Sie für ein feinfühliger Mensch, Afanassij Iwanowitsch! Sie setzen mich geradezu in Erstaunen!« rief Ferdyschtschenko. »Denken Sie nur, meine Herrschaften, durch seine Bemerkung, ich hätte von meinem Diebstahl nicht so erzählen können, daß es glaubhaft geklungen habe, deutet Afanassij Iwanowitsch auf die feinste Weise an, daß ich auch tatsächlich nicht imstande gewesen sei, den Diebstahl auszuführen (denn das so geradeheraus zu sagen, wäre unpassend), obwohl er vielleicht im stillen ganz davon überzeugt ist, daß Ferdyschtschenko es sehr wohl habe fertigbringen können zu stehlen! Aber zur Sache, meine Herren, zur Sache, die Lose sind eingesammelt, und auch Sie, Afanassij Iwanowitsch, haben das Ihrige hineingelegt, also schließt sich niemand aus. Nun nehmen Sie die Ziehung vor, Fürst!«

Der Fürst fuhr schweigend mit der Hand in den Hut und zog die Lose heraus, als erstes das Ferdyschtschenkos, als zweites das Ptizyns, als drittes das des Generals, als viertes das Afanassij Iwanowitschs, als fünftes das seinige, als sechstes das Ganjas und so weiter. Die Damen hatten keine Lose hineingelegt.

»O Gott, welches Unglück!« rief Ferdyschtschenko. »Und ich hatte gedacht, zuerst würde der Fürst drankommen und dann der General! Aber Gott sei Dank, wenigstens kommt Iwan Petrowitsch nach mir, da werde ich für meine Offenherzigkeit entschädigt werden. Nun, meine Herren, ich bin natürlich verpflichtet, ein gutes Beispiel zu geben, aber am meisten bedaure ich in diesem Augenblick, daß ich ein so unbedeutender Mensch bin und nichts Bemerkenswertes an mir habe; selbst meine dienstliche Rangstellung ist eine ganz niedrige; was für ein Interesse kann es denn erwecken, daß Ferdyschtschenko eine häßliche Handlung begangen hat? Und welches ist denn meine schlechteste Handlung? Da liegt ein vor. Soll ich etwa wieder von demselben Diebstahl erzählen, um Afanassij Iwanowitsch davon zu überzeugen, daß man stehlen kann, ohne eigentlich ein Dieb zu sein?…«

»Sie überzeugen mich auch davon, Herr Ferdyschtschenko, daß man tatsächlich ein bis zur Berauschtheit gehendes Vergnügen empfinden kann, wenn man von seinen unsauberen Handlungen erzählt, obwohl man nicht danach gefragt ist… Übrigens aber… Verzeihen Sie, Herr Ferdyschtschenko!«

»Fangen Sie an, Ferdyschtschenko! Sie schwatzen schrecklich viel unnützes Zeug und werden nie zu Ende kommen!« befahl Nastasja Filippowna gereizt und ungeduldig.

Alle bemerkten, daß sie nach ihrem anfallartigen Lachen von vorhin plötzlich geradezu düster, mürrisch und reizbar geworden war, aber nichtsdestoweniger bestand sie hartnäckig und despotisch darauf, daß ihrer absurden Laune gehorcht werde. Afanassij Iwanowitsch litt furchtbare Qualen. Er war auch auf Iwan Fjodorowitsch wütend, der, als wäre nichts geschehen, beim Champagner saß und vielleicht sogar etwas zu erzählen beabsichtigte, wenn er an die Reihe kam.

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Kapitel 14

XIV

»Ich bin eben nicht geistreich, Nastasja Filippowna, daher schwatze ich unnützes Zeug!« rief Ferdyschtschenko und schickte sich an zu erzählen. »Wäre ich so geistreich wie Afanassij Iwanowitsch oder Iwan Petrowitsch, so würde ich heute wie diese beiden Herren schweigend dasitzen. Gestatten Sie eine Frage, Fürst: wie denken Sie darüber? Ich bin der Meinung, daß es auf der Welt weit mehr Diebe gibt als Leute, die keine Diebe sind, und daß es keinen so ehrenhaften Menschen gibt, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben etwas gestohlen hätte. Das ist meine Anschauung, aus der ich übrigens keineswegs den Schluß ziehe, daß alle ohne Ausnahme Diebe sind, obwohl ich wirklich manchmal die größte Lust hätte, das daraus zu folgern. Wie denken Sie darüber?«

»Pfui, wie dumm Sie reden«, rief Darja Alexejewna, »und was ist das für Unsinn! Es ist undenkbar, daß alle Menschen etwas gestohlen haben sollten; ich habe nie etwas gestohlen.«

»Sie haben nie etwas gestohlen, Darja Alexejewna, aber was wird der Fürst sagen, der auf einmal ganz rot geworden ist?«

»Es scheint mir, daß Sie recht haben, aber stark übertreiben«, versetzte der Fürst, der tatsächlich aus nicht recht ersichtlichem Grunde errötet war.

»Und Sie selbst, Fürst, haben nichts gestohlen?«

»Pfui, wie lächerlich das alles ist! Bedenken Sie, Herr Ferdyschtschenko, was Sie da reden!« mischte sich der General ein.

»Die Sache ist einfach die: nun es soweit ist, schämen Sie sich zu erzählen, und darum wollen Sie den Fürsten mit sich zusammenkuppeln, um so mehr, als er so dienstfertig ist«, schalt Darja Alexejewna.

»Ferdyschtschenko, entweder erzählen Sie, oder schweigen Sie, und beschränken Sie Ihre Menschenkenntnis auf Ihre eigene Person! Sie erschöpfen die größte Geduld«, sagte Nastasja Filippowna in scharfem, ärgerlichem Ton.

»Sofort, Nastasja Filippowna! Wenn sogar der Fürst es eingestanden hat (denn ich bleibe dabei: der Fürst hat es so noch später verspürt. Ein zweites Mal würde ich das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wieder tun; Sie können mir das glauben oder nicht, ganz wie Sie wollen, ich habe kein Interesse daran. Na, das ist die ganze Geschichte.«

»Aber das ist gewiß noch nicht Ihre schlechteste Handlung«, sagte Darja Alexejewna voll Abscheu.

»Das ist eine seelische Verirrung, keine Handlung«, bemerkte Afanassij Iwanowitsch.

»Und was geschah mit dem Dienstmädchen?« fragte Nastasja Filippowna, ohne ihren hochgradigen Ekel zu verbergen.

»Das Dienstmädchen wurde natürlich gleich am andern Tag weggejagt. In jenem Hause wurde streng auf Ordnung gehalten.«

»Und Sie haben das zugelassen?«

»Na, das ist nett! Ich hätte wohl hingehen und mich angeben sollen?« kicherte Ferdyschtschenko, der übrigens durch den sehr unangenehmen Eindruck, den seine Erzählung bei allen hervorgerufen hatte, einigermaßen überrascht war.

»Wie schmutzig das ist!« rief Nastasja Filippowna.

»Pah, Sie wollen von jemand seine häßlichste Handlung hören und verlangen dabei, daß sie rein und sauber sein soll! Die häßlichen Handlungen sind immer sehr schmutzig, Nastasja Filippowna, das werden wir sofort von Iwan Petrowitsch hören. Viele solcher Handlungen glänzen ja freilich nach außen und möchten als Tugend erscheinen, weil der Betreffende eine eigene Equipage hat. Gar mancher hat eine eigene Equipage, aber mit welchen Mitteln …«

Kurz gesagt, Ferdyschtschenko vermochte sich nicht zu beherrschen und wurde plötzlich boshaft, so daß er sich vergaß und das Maß überschritt; sogar sein Gesicht verzerrte sich ganz. Wie seltsam es auch scheinen mag, so mochte er doch eine ganz andere Wirkung von seiner Erzählung erwartet haben. Solche »Verstöße« gegen den guten Ton und solche »eigenartige Prahlsucht«, wie Tozkij das genannt hatte, kamen bei ihm recht oft vor und lagen durchaus in seinem Charakter.

Nastasja Filippowna bebte ordentlich vor Zorn und blickte Ferdyschtschenko unverwandt an; dieser wurde sofort ängstlich und verstummte, ja es überlief ihn geradezu ein kalter Schauer; er merkte, daß er zu weit gegangen war.

»Wollen wir nicht lieber ganz damit aufhören?« fragte Afanassij Iwanowitsch schlau.

»Ich bin an der Reihe, aber ich mache von dem Recht auf Dispensation Gebrauch und werde nicht erzählen«, erklärte Ptizyn in entschiedenem Ton.

»Sie wollen nicht?«

»Ich kann nicht, Nastasja Filippowna, und ich halte überhaupt ein solches Gesellschaftsspiel für ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Dann kommen ja wohl Sie dran, General«, wandte sich Nastasja Filippowna an diesen. »Sollten auch Sie sich weigern, dann wird auch aus unserem ganzen weiteren Spiel nichts werden, und das würde mir leid tun, da ich beabsichtige, zum Schluß etwas aus meinem eigenen Leben mitzuteilen, es aber erst nach Ihnen und Afanassij Iwanowitsch tun will, weil sie beide mir Mut machen müssen«, schloß sie lachend.

»Oh, wenn Sie versprechen, sich ebenfalls zu beteiligen«, rief der General eifrig, »dann bin ich bereit, Ihnen meinetwegen meine ganze Lebensgeschichte vorzutragen, aber ich muß bekennen, ich habe in der Erwartung, daß ich an die Reihe kommen würde, mir bereits ein Geschichtchen zurechtgelegt…«

»Schon allein aus der Miene Seiner Exzellenz kann man entnehmen, mit welcher Autorenfreude er sein Geschichtchen ausgearbeitet hat«, erlaubte sich der immer noch etwas verlegene Ferdyschtschenko mit boshaftem Lächeln zu bemerken.

Nastasja Filippowna warf dem General einen flüchtigen Blick zu und lächelte ebenfalls vor sich hin. Aber es war deutlich, daß ihre Verstimmung und Gereiztheit immer mehr wuchs. Afanassij Iwanowitsch bekam einen gewaltigen Schreck, als er sie eine Erzählung in Aussicht stellen hörte.

»Meine Herrschaften, wie jedem Menschen, ist es auch mir in meinem Leben vorgekommen, daß ich nicht sehr löbliche Handlungen begangen habe«, begann der General, »seltsamerweise aber halte ich selbst das kurze Geschichtchen, aber doch konnte ich mich nicht eher beruhigen, als bis ich vor etwa fünfzehn Jahren die Einrichtung traf, daß ständig zwei kranke alte Frauen auf meine Kosten im Armenhaus unterhalten und ihnen so durch anständige Verpflegung ihre letzten Tage auf dieser Erde freundlicher gestaltet werden sollten. Und ich gedenke diese Einrichtung durch Stiftung eines Kapitals zu einer dauernden zu machen. Nun also, das ist alles. Ich wiederhole, daß ich vielleicht sonst noch viel Übles in meinem Leben begangen habe, aber diese Handlung halte ich, wie ich auf mein Gewissen versichere, für die häßlichste meines ganzen Lebens.«

»Und statt der häßlichsten haben Euer Exzellenz eine der besten Handlungen Ihres Lebens erzählt; Sie haben Ferdyschtschenko geprellt!« bemerkte Ferdyschtschenko.

»Wirklich, General, ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein so gutes Herz hätten, es ist ordentlich schade!« sagte Nastasja Filippowna in lässigem Ton.

»Schade? Wieso?« fragte der General mit freundlichem Lachen und trank nicht ohne Selbstgefälligkeit von seinem Champagner.

Aber nun war die Reihe an Afanassij Iwanowitsch, der sich ebenfalls vorbereitet hatte. Alle sahen voraus, daß er sich nicht wie Iwan Petrowitsch weigern würde, erwarteten aus gewissen Gründen seine Erzählung mit besonderer Neugier und blickten zugleich Nastasja Filippowna forschend an. In einer sehr würdevollen Weise, die durchaus zu seinem stattlichen Äußern paßte, begann Afanassij Iwanowitsch mit leiser, freundlicher Stimme eines seiner »netten Geschichtchen«. (Beiläufig sei folgendes bemerkt: er war eine ansehnliche Erscheinung, stattlich, hochgewachsen, etwas kahlköpfig, mit leicht angegrautem Haar, ziemlich wohlbeleibt, mit weichen, roten, etwas herabhängenden Backen und falschen Zähnen. Er trug bequeme, elegante Kleider und wundervolle Wäsche. Seine fleischigen, weißen Hände anzusehen, war ein Genuß. Am Zeigefinger der rechten Hand steckte ein kostbarer Brillantring.) Nastasja Filippowna betrachtete während seiner ganzen Erzählung unverwandt den Spitzenbesatz an ihrem Ärmel und zupfte daran mit zwei Fingern der linken Hand, so daß sie den Erzähler auch nicht einen Augenblick anblickte.

entbrannt. Ich weiß wirklich nicht, ob zwischen den beiden irgendein Verhältnis bestand, ich meine, ob er irgendwelche ernstlichen Hoffnungen hegen durfte. Der arme Mensch verlor fast den Verstand, um zum Ballabend für Anfissa Alexejewna Kamelien zu beschaffen. Die Gräfin Sozkaja aus Petersburg, die bei der Frau des Gouverneurs zu Besuch war, und Sofja Bespalowa wollten, wie bekannt geworden war, mit Sträußen aus weißen Kamelien kommen. Anfissa Alexejewna wünschte sich, um einen besonderen Effekt hervorzubringen, rote. Der arme Platon wurde beinah zu Tode gehetzt, wie das den Ehemännern bekanntlich so geht; er hatte ihr hoch und heilig geschworen, ihr einen Strauß zu verschaffen; aber was geschah? Am Tage vor dem Ball schnappte die Mytischtschewa, Katerina Alexandrowna, die in allen Dingen Anfissa Alexejewnas furchtbare Rivalin war und mit ihr auf höchst gespanntem Fuß lebte, ihr die Blumen weg. Natürlich folgten Weinkrämpfe, Ohnmacht. Platon war ganz zu Boden geschmettert. Man begreift: wenn Petja es auf irgendeine Weise fertigbekommen hätte, in diesem kritischen Augenblick einen Strauß zu beschaffen, so wären seine Belange dadurch natürlich sehr wesentlich gefördert worden; die Dankbarkeit einer Frau kennt in solchen Fällen keine Grenzen. Er läuft umher wie ein Besessener, aber es war eben ein Ding der Unmöglichkeit, absolut nichts zu machen! Auf einmal treffe ich ihn am Tage vor dem Geburtstag und Ball um elf Uhr abends bei Marja Petrowna Subkowa, einer Gutsnachbarin Ordynzews. Er strahlt. ›Was ist mit dir?‹ – ›Ich habe welche gefunden! Heureka!‹ – ›Na, Bruder, das setzt mich in Erstaunen! Wo denn? Wie denn?‹ – ›In Jekschaisk‹ (das war ein kleines Städtchen, zwanzig Werst entfernt, es lag nicht in unserm Kreis), ›da ist so ein bärtiger, reicher Kaufmann, namens Trepalow, der wohnt da mit seiner alten Frau, und statt der Kinder haben sie lauter Kanarienvögel. Die beiden sind große Blumenfreunde; der hat Kamelien.‹– ›Aber ich bitte dich, das ist doch eine sehr unsichere Sache; wenn er sie nun nicht hergibt?‹ – ›Ich werde auf die Knie fallen und mich vor seinen Füßen so lange umherwälzen, bis er sie mir gibt, ohne die Blumen weiche ich nicht vom Platze!‹ – ›Wann fährst du denn?‹ – ›Morgen ganz früh, um fünf

212 ihre Dankbarkeit, ihre Tränen der Dankbarkeit vorstellen! Platon, der tags zuvor noch tiefunglücklich und halbtot gewesen war, Platon schluchzte nun an meiner Brust. So geht es ja leider allen Ehemännern seit der Erschaffung… der legitimen Ehe! Ich habe nichts weiter hinzuzufügen, als daß die Aussichten des armen Petja durch diesen Vorfall völlig zerstört waren. Ich dachte anfangs, er würde mich umbringen, sowie er den Hergang erführe, und traf für die Begegnung mit ihm schon alle Vorkehrungen, aber die Sache entwickelte sich in einer Weise, die ich nicht erwartet hatte: er fällt in Ohnmacht, am Abend phantasiert er, am nächsten Morgen hohes Fieber, er heult wie ein kleines Kind, bekommt Krämpfe. Als er einen Monat darauf wiederhergestellt war, ließ er sich nach dem Kaukasus versetzen; es wurde ein richtiger Roman! Schließlich fiel er auf der Krim. Damals war noch sein Bruder Stepan Worchowskoi Kommandeur des Regiments und zeichnete sich als solcher aus. Ich muß gestehen, ich habe noch viele Jahre nachher Gewissensbisse verspürt: warum, zu welchem Zweck habe ich so schlecht an ihm gehandelt? Wenn ich damals selbst verliebt gewesen wäre! Aber so; war es einfach ein dummer Streich, um einer Dame ein bißchen den Hof zu machen, weiter nichts. Und hätte ich ihm diesen Strauß nicht weggefischt, wer weiß, der Mensch lebte vielleicht heute noch und wäre glücklich und hätte es zu etwas gebracht und wäre nie auf den Gedanken gekommen, gegen die Türken zu ziehen.«

Afanassij Iwanowitsch hörte jetzt mit derselben ruhigen Würde auf zu sprechen, mit der er seine Erzählung begonnen hatte.

Man bemerkte, daß, als Afanassij Iwanowitsch schwieg, Nastasja Filippownas Augen in einer ganz besonderen Weise zu funkeln und sogar ihre Lippen zu zittern anfingen. Alle blickten die beiden gespannt an.

»Sie haben Ferdyschtschenko geprellt! Nein, wie haben Sie mich geprellt! Das ist zu arg!« rief Ferdyschtschenko weinerlich, da er sich sagte, daß er jetzt eine Bemerkung machen könne und müsse.

»Warum verstehen Sie Ihre Sache nicht besser? Lernen Sie jetzt von klugen Leuten!« versetzte ihm Darja Alexejewna in triumphierendem Ton. Sie war eine alte, treue Freundin Tozkijs und stand immer auf seiner Seite.

»Sie haben recht, Afanassij Iwanowitsch, dieses Gesellschaftsspiel ist sehr langweilig, und wir müssen es so schnell wie möglich abbrechen«, sagte Nastasja Filippowna wegwerfend. »Ich werde nun noch selbst erzählen, was ich versprochen habe, und dann wollen wir Karten spielen.«

»Aber vorher noch vor allen Dingen die versprochene Geschichte!« stimmte ihr der General eifrig bei.

»Fürst«, wandte Nastasja Filippowna sich plötzlich in scharfem Ton an Myschkin, »meine alten Freunde hier, der General und Afanassij Iwanowitsch, wollen mich immer verheiraten. Sagen Sie mir, wie Sie darüber denken: soll ich heiraten oder nicht? Was Sie sagen, werde ich tun.«

Afanassij Iwanowitsch wurde blaß, der General erstarrte, alle rissen die Augen auf und streckten die Köpfe vor. Ganja stand wie angewurzelt auf seinem Platz.

»Mit … mit wem?« fragte der Fürst mit fast versagender Stimme.

»Mit Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin«, fuhr Nastasja Filippowna scharf, bestimmt und deutlich wie vorher fort.

Es vergingen einige Sekunden des Schweigens; es schien, daß der Fürst mit aller Anstrengung zu reden versuchte, aber kein Wort herausbekam, als lastete ein furchtbarer Druck auf seiner Brust.

»N-nein … heiraten Sie ihn nicht!« flüsterte er endlich, er konnte nur mühsam atmen.

»So soll es auch sein! Gawrila Ardalionowitsch!« wandte sie sich herrisch und gleichsam triumphierend an diesen, »haben Sie gehört, welche Entscheidung der Fürst gefällt hat? Nun, darin liegt zugleich auch meine Antwort; so soll denn diese Sache ein für allemal erledigt sein!«

»Nastasja Filippowna!« sagte Afanassij Iwanowitsch mit zitternder Stimme.

»Nastasja Filippowna!« rief auch der General in bittendem, aber erregtem Ton.

Alle waren in Bewegung und Unruhe geraten.

»Aber meine Herrschaften«, fuhr sie fort, indem sie ihre Gäste anscheinend sehr erstaunt ansah, »warum regen Sie sich denn so auf? Und was machen Sie alle für Gesichter?«

»Aber … erinnern Sie sich doch, Nastasja Filippowna«, murmelte Tozkij stotternd, »Sie haben uns doch das Versprechen gegeben … ganz freiwillig … und hätten doch auch etwas rücksichtsvoller verfahren können … Es fällt mir schwer und … gewiß, ich bin verwirrt, aber … Mit einem Worte, jetzt in diesem Augenblick und in Gegenwart … in Gegenwart so vieler Leute, und alles das so … eine so ernste Sache durch ein Gesellschaftsspiel zu entscheiden, eine Sache, bei der es um die Ehre und das Herz geht … von der so viel abhängt …«

»Ich verstehe Sie nicht, Afanassij Iwanowitsch, Sie sind wirklich ganz verwirrt. Erstens, was soll das heißen: ›in Gegenwart so vieler Leute‹? Befinden wir uns etwa nicht in einem schönen, vertrauten Kreise? Und warum sagen Sie: ›durch ein Gesellschaftsspiel‹? Ich beabsichtigte allerdings, auch meinerseits einen Beitrag zu liefern; das habe ich getan, war er etwa nicht hübsch? Und warum meinen Sie, daß es mir nicht ernst sei? Ist denn das nicht ernst? Sie haben gehört, daß ich zum Fürsten sagte: ›Was Sie sagen werden, das werde ich tun.‹ Hätte er nun ja gesagt, so hätte ich sofort meine Einwilligung gegeben, aber er hat nein gesagt, und daher habe ich mich geweigert; ist denn das etwa nicht ernst? Mein ganzes Leben hing hier an einem Haar; was kann es Ernsteres geben?«

»Aber der Fürst! Was hat der Fürst damit zu tun? Was ist denn schließlich überhaupt dieser Fürst?« murmelte der General, der kaum mehr imstande war, seinen Unwillen darüber zu verbergen, daß dem Fürsten in einer sogar kränkenden Weise eine solche Autorität zuerkannt wurde.

»Der Fürst ist für mich insofern von Wert, als er in meinem ganzen Leben der erste Mensch ist, dem ich wegen seiner aufrichtigen Ergebenheit habe Vertrauen schenken können. Er hat auf den ersten Blick an mich geglaubt, und ich glaube ihm.«

»Es bleibt mir nur übrig, Nastasja Filippowna für das außerordentliche Zartgefühl zu danken, mit dem sie mich behandelt hat«, sagte Ganja endlich; er war ganz blaß, seine Stimme zitterte, seine Lippen verzogen sich krampfhaft. »Sie hat natürlich durchaus richtig gehandelt … Aber … der Fürst … der Fürst wird dabei wohl …«

»Er wird dabei wohl nach den fünfundsiebzigtausend Rubeln trachten, nicht wahr?« unterbrach ihn Nastasja Filippowna. »Das wollten Sie doch sagen? Bestreiten Sie es nicht, das wollten Sie sicherlich sagen! Afanassij Iwanowitsch, ich vergaß hinzuzufügen: behalten Sie die fünfundsiebzigtausend Rubel, und erfahren Sie, daß ich Sie umsonst freilasse! Lassen wir es jetzt genug sein! Sie müssen doch auch endlich wieder frei atmen! Neun Jahre und drei Monate! Morgen beginnt für mich ein neues Leben, aber heute bin ich Geburtstagskind und meine eigene Herrin, zum erstenmal in meinem ganzen Leben! General, nehmen auch Sie Ihren Perlenschmuck zurück; schenken Sie ihn Ihrer Gemahlin, da ist er. Und morgen verlasse ich diese Wohnung für immer. Ich werde hier keine Abendgesellschaften mehr geben, meine Herren!«

Nach diesen Worten erhob sie sich plötzlich, wie wenn sie weggehen wollte.

»Nastasja Filippowna! Nastasja Filippowna!« ertönte es von allen Seiten. Alle waren in größter Aufregung und sprangen von ihren Plätzen auf, alle umringten sie, alle horchten mit Unruhe auf die abgerissenen, fieberhaften, leidenschaftlichen Sätze, die sie hervorstieß, alle hatten das Gefühl, daß da etwas nicht in Ordnung war, niemand vermochte daraus klug zu werden, niemand konnte die Sache begreifen. In diesem Augenblick ertönte plötzlich ein starkes, lautes Klingeln, genau wie einige Stunden vorher in Ganjas Wohnung.

»A-a-ah! Da kommt die Entscheidung! Endlich! Um halb zwölf!« rief Nastasja Filippowna. »Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, meine Herren, das ist die Entscheidung!«

Nachdem sie das gesagt hatte, setzte sie sich selbst hin. Ein seltsames Lächeln zitterte auf ihren Lippen. Sie saß schweigend da, in fieberhafter Erwartung, und blickte nach der Tür.

»Es ist Rogoshin mit den hunderttausend Rubeln, kein Zweifel!« murmelte Ptizyn vor sich hin.

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Kapitel 1

Erster Teil

I

Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn in voller Fahrt Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; man konnte rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Wagen nur auf zehn Schritte mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die aus nicht sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel.

In einem Wagen dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Wagen dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt, die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen dies alles genau, zum Teil weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch das manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt:

»Ist Ihnen kalt?«

Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern.

»Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit, »und sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.«

»Sie kommen wohl aus dem Ausland?«

»Ja, aus der Schweiz.«

»Füt! Nun sehen Sie einmal an!«

Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte.

Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes in dem Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male, namentlich lachte er auf, als auf die Frage: »Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte: »Nein, geheilt bin ich nicht.«

»Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt, und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch.

»Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich ein danebensitzender schlecht gekleideter Herr in das Gespräch, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!«

»Oh, wie Sie sich in meinem Fall irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe, aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.«

»Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige.

»Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.«

»Wo gedenken Sie denn zu bleiben?«

»Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde?… Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht… es ist noch ungewiß…«

»Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?«

Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus.

»Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige.

»Ich möchte wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Obwohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.«

Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein.

»Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). »Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen, aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Fall, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren… was einem außerordentlich leicht passieren kann… sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.«

»Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt sie ist kaum meine Verwandte; ja ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.«

»Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegeben. Hm!… Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm!… Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist, und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt, denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch auf der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann, hatte gute Verbindungen und besaß seinerzeit viertausend Seelen…«

»Ganz richtig, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.« Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte.

Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was für eine Frau er genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist und so weiter und so weiter, und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse haben, und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein ausgesprochenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar ausgesprochen nur hierdurch Karriere machten.

Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte.

»Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?« wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen.

»Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin«, antwortete dieser, ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit.

»Fürst Myschkin? Lew Nikolajewitsch? Kenne ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen«, antwortete der Beamte nachdenkend. »Das heißt, ich meine nicht den Namen; der Name ist ja historisch und in Karamsins Geschichte Rußlands zu finden; ich meine Ihre Person, und überhaupt begegnen Fürsten Myschkin einem nirgends mehr; man hört von ihnen nicht einmal reden.«

»Wie könnte es auch anders sein!« versetzte der Fürst sogleich. »Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar keine mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist ebenfalls die Letzte in ihrer Art…«

»Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!« kicherte der Beamte.

Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen.

»Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt«, erklärte er schließlich einigermaßen befangen.

»Sehr begreiflich, sehr begreiflich!« stimmte ihm der Beamte heiter bei.

»Haben Sie denn dort auch Wissenschaften betrieben, Fürst, bei Ihrem Professor?« fragte unvermittelt der Schwarzhaarige.

»Ja… allerdings…«

»Ich für meine Person habe nie etwas studiert.«

»Auch ich nur ein klein wenig«, fügte der Fürst in einem Tone hinzu, der beinah wie eine Bitte um Entschuldigung klang. »Mir einen regulären Unterricht zu erteilen, hielt man in Anbetracht meiner Krankheit nicht für möglich.«

»Kennen Sie die Familie Rogoshin?« fragte der schwarzhaarige junge Mensch schnell.

»Nein, ich kenne sie nicht, gar nicht. Ich kenne in Rußland überhaupt nur wenige Menschen. Ist Ihr Name Rogoshin?«

»Ja, ich heiße Rogoshin, Parfen Rogoshin.«

»Parfen? Sind Sie da nicht vielleicht ein Mitglied eben jener Familie Rogoshin…«, begann der Beamte mit noch gesteigerter Wichtigtuerei.

»Jawohl, eben jener, eben jener«, unterbrach ihn schnell und mit unhöflicher Ungeduld der Schwarzhaarige, der überhaupt dem Beamten mit dem Gesicht voller Pickel nie Beachtung geschenkt, sondern gleich von Anfang an immer nur zu dem Fürsten gesprochen hatte.

»Ja … ist es möglich?« rief der Beamte starr vor Staunen, die Augen traten ihm beinah aus den Höhlen, und sein ganzes Gesicht nahm sogleich einen ehrerbietigen, knechtischen, ja erschrockenen Ausdruck an. »Sind Sie ein Sohn eben jenes erblichen Ehrenbürgers Semjon Parfenowitsch Rogoshin, der vor einem Monat starb und ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterließ?«

»Woher haben Sie denn erfahren, daß er ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterlassen hat?« unterbrach ihn der Schwarzhaarige, der sich auch diesmal nicht dazu herabließ, den Beamten anzusehen. »Nun sehe mal einer den Kerl an!« (Er zwinkerte dem Fürsten zu.) »Und was haben die Leute nur davon, daß sie sich sofort mit Schmeicheleien an einen heranmachen? Aber wahr ist, daß mein Vater gestorben ist und ich jetzt einen Monat nachher beinah ohne Stiefel von Pskow nach Hause fahre. Weder mein niederträchtiger Bruder noch meine Mutter haben mir Geld oder eine Benachrichtigung geschickt nichts haben sie mir geschickt! Als ob ich ein Hund wäre! Einen ganzen Monat lang habe ich in Pskow im Fieber gelegen!«

»Aber jetzt werden Sie mehr als ein Milliönchen mit einemmal bekommen, mindestens soviel, o mein Herrgott!« rief der Beamte und schlug die Hände zusammen.

»Na, was geht ihn das an? Sagen Sie bitte selbst!« sagte Rogoshin, wieder mit dem Kopfe auf ihn hindeutend, in gereiztem und ärgerlichem Ton. »Ich werde Ihnen ja doch nicht eine einzige Kopeke geben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stellen und auf den Händen gehen.«

»Das werde ich tun, das werde ich tun!«

»Da haben wir’s! Aber ich werde Ihnen nichts geben, gar nichts, und wenn Sie eine ganze Woche lang tanzen!«

»Sie brauchen mir nichts zu geben! Das verlange ich auch gar nicht! Sie brauchen mir nichts zu geben! Aber ich werde doch tanzen. Meine Frau und meine kleinen Kinder werde ich im Stich lassen und vor Ihnen tanzen. Aus reiner Liebenswürdigkeit!«

»Pfui über Sie!« sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. »Vor fünf Wochen befand ich mich in demselben Zustand wie Sie jetzt«, wandte er sich an den Fürsten. »Mit einem einzigen Bündelchen entfloh ich vor meinem Vater nach Pskow zu einer Tante, und dort habe ich am Fieber krank gelegen, und er ist in meiner Abwesenheit gestorben. Ein Schlagfluß hat ihm den Garaus gemacht. Ich wünsche dem Verstorbenen die ewige Ruhe; aber er hat mich damals fast zu Tode geprügelt. Sie können es mir glauben, Fürst, bei Gott! Wäre ich damals nicht davongelaufen, so hätte er mich auf dem Fleck totgeschlagen.«

»Hatten Sie ihn durch irgend etwas gereizt?« fragte der Fürst und betrachtete mit einem gewissen besonderen Interesse den Millionär im Schafpelz.

Aber obgleich schon in dem Begriff einer zu erbenden Million möglicherweise etwas Merkwürdiges lag, so war da doch noch etwas anderes, was den Fürsten in Verwunderung versetzte und sein Interesse weckte; und auch Rogoshin selbst unterhielt sich aus irgendeinem Grund gern mit dem Fürsten, wiewohl er anscheinend mehr ein mechanisches als seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung hatte, sozusagen mehr aus Zerstreutheit als aus Gutherzigkeit, aus Unruhe und Aufregung, um nur jemanden anzusehen und über irgendeinen Gegenstand die Zunge in Bewegung zu setzen. Es schien, daß er auch jetzt noch Fieber hatte, wenigstens in einem gewissen Grade. Was den Beamten anlangt, so hing dieser ordentlich an Rogoshins Mund, wagte kaum zu atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, als hielte er es für einen Brillanten.

»Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund«, antwortete Rogoshin, »aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm, das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka anordnet, das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich lag damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend mit Gottesnarren zusammen. Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl noch liegen. Erst Konew, Wassilij Wassiljewitsch Konew, hat sich meiner angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarge des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten abgeschnitten und gesagt: ›Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.‹ Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will, denn das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!« wandte er sich an den Beamten. »Wie steht es im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?«

»Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!« stimmte ihm der Beamte sogleich bei.

»Und kommt einer dafür nach Sibirien?«

»Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!«

»Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei«, fuhr Rogoshin, zu dem Fürsten gewendet, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder Semjon Semjonowitsch! Er hat mich bei meinem verstorbenen Vater verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der Unbedachtsamkeit getan.«

»Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?« sagte dir Beamte in kriecherischem Tone, wie wenn er etwas überlegte.

»Die Dame kennen Sie nicht!« schrie ihn Rogoshin ungeduldig an.

»Und ich kenne sie doch!« erwiderte der Beamte triumphierend.

»Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen wird!« fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort.

»Aber vielleicht kenne ich sie doch!« versetzte der Beamte beharrlich. »Da müßte ich nicht Lebedew sein, wenn ich sie nicht kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen; aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere? Also es ist dieselbe Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein Verhältnis mit einem gewissen Tozkij, mit Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht…«

»Na, nun sieh mal an!« rief Rogoshin, wirklich erstaunt, aus. »Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid.«

»Er weiß alles! Lebedew weiß alles! Auch Alexaschka Lidiatschows Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar ebenfalls nach dem Tode seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Coralie und die Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch vieles, vieles zu erfahren, hatte ich Gelegenheit.«

»Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow…«, rief Rogoshin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren blaß geworden und zitterten.

»N-ein! N-ein! Entschieden nein!« beeilte sich der Beamte, schnell gefaßt, zu erwidern. »Bei der konnte Lichatschow durch kein Geld zum Ziele gelangen! Nein, die ist von anderer Art als Fräulein Armance. Da ist Tozkij der einzige. Abends sitzt sie im Großen Theater oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Die Offiziere reden ja da unter sich allerlei; aber auch die können nichts beweisen. ›Da ist die berühmte Nastasja Filippowna‹, sagen sie, aber das ist auch alles; sonst ist da nichts zu sagen! Weil eben nichts vorliegt.«

»Ja, so verhält sich das alles«, bestätigte Rogoshin mit trüber, finsterer Miene. »Auch Saljoshew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newskij Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freunde Saljoshew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns mit fastenmäßiger Kohlsuppe amüsieren. ›Die ist nichts für dich‹, sagte er; ›das ist‹, sagte er, ›eine Fürstin, sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozkij; Tozkij aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig alt) und eine der ersten Schönheiten von Petersburg heiraten will.‹ Dann teilte er mir noch mit, daß ich Nastasja Filippowna an demselben Tage im Großen Theater wiedersehen könne, im Ballett; sie werde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns zu Hause, bei unserm Vater, da hätte es mal einer probieren sollen und sagen, er wolle ins Ballett gehen; der Vater hätte kurzen Prozeß gemacht und ihn halbtot geprügelt! Ich schlich mich indessen still für ein Stündchen weg und sah Nastasja Filippowna wieder. Die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Am andern Morgen gab mir der Vater zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine, jeden zu fünftausend Rubel, und sagte: ›Geh hin und verkaufe sie; dann trage siebentausendfünfhundert Rubel zu Andrejew aufs Kontor und bezahle sie dort; und was du von den zehntausend noch übrig hast, das bring geradeswegs hierher und liefere es mir ab; ich werde auf dich warten.‹ Die Staatsschuldscheine verkaufte ich und empfing das Geld dafür; aber zu Andrejew aufs Kontor begab ich mich nicht, sondern ich ging, ohne mich umzusehen, nach dem Englischen Magazin und suchte dort für das ganze Geld ein Paar Ohrgehänge aus, jedes mit einem Brillanten fast von Nußgröße; vierhundert Rubel blieb ich noch schuldig; ich nannte meinen Namen, und man gab mir Kredit. Mit den Ohrgehängen ging ich gleich zu Saljoshew: ›So und so, Bruder‹, sagte ich, ›wir wollen zu Nastasja Filippowna gehen.‹ Wir gingen hin. Was ich damals unter den Füßen und vor mir und rechts und links hatte, weiß ich nicht; daran habe ich keine Erinnerung. Wir traten bei ihr gleich in den Salon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich ließ übrigens damals nicht bekannt werden, daß ich selbst der Geber sei, sondern Saljoshew sagte: ›Von Parfen Rogoshin, der Sie gestern gesehen hat, ein kleines Andenken; haben Sie die Gewogenheit, es anzunehmen!‹ Sie öffnete das Etui, betrachtete den Schmuck und lächelte. ›Sagen Sie Ihrem Freund Herrn Rogoshin meinen Dank‹, sagte sie, ›für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit!‹ Dann verneigte sie sich und ging hinaus. Na, warum bin ich damals nicht dort auf dem Fleck gestorben! Aber wenn ich fortging, so tat ich es mit dem Gedanken: ›Lebendig komme ich doch nie wieder her!‹ Was ich aber am schwersten als Kränkung empfand, das war, daß diese Kanaille, der Saljoshew, sich angemaßt hatte, alles allein zu reden und zu tun. Ich bin von kleiner Statur und war wie ein Plebejer gekleidet und hatte dagestanden, sie angestarrt und geschwiegen, weil ich mich schämte; er aber in modischem Anzug, mit pomadisiertem und gekräuseltem Haar, mit seinem frischen Teint und seiner karierten Krawatte hatte den Liebenswürdigen gespielt und ein Mal über das andere gedienert, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ihn für mich genommen! ›Na‹ sagte ich, als wir hinausgegangen waren, ›du wage nicht, dich wieder bei mir blicken zu lassen, verstehst du?‹ Er lachte: ›Aber wie wirst du jetzt vor deinem Vater Semjon Parfenytsch Rechenschaft ablegen?‹ Die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals schon vor, ohne erst nach Hause zu gehen, mich ins Wasser zu stürzen; aber ich dachte: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehrte wie ein armer Sünder nach Hause zurück.«

»O weh, o weh!« sagte der Beamte und schnitt dabei eine Grimasse; ja er schüttelte sich sogar mit dem ganzen Leibe. »Und der Selige war imstande, nicht nur wegen zehntausend, sondern schon wegen zehn Rubel einen ins Jenseits zu spedieren.« Er nickte dem Fürsten zu. Der Fürst sah Rogoshin mit lebhaftem Interesse an; es schien, als sei der in diesem Augenblick noch blasser.

»Dazu war er imstande!« wiederholte Rogoshin. »Aber was wissen Sie davon?« Dann erzählte er dem Fürsten weiter: »Er erfuhr sogleich alles; Saljoshew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. ›Und das ist nur eine Vorbereitung für dich‹, sagte er. ›Heute abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.‹ Sollte man’s glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: ›Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonytsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!‹ Na, ich hatte unterdessen mich von meiner Mutter segnen lassen und mir von Sergej Protuschin zwanzig Rubel geborgt; damit setzte ich mich auf die Bahn und fuhr nach Pskow, wo ich fiebernd ankam. Dort langweilten mich die alten Frauen durch das Vorlesen von Gebeten aus dem Kirchenkalender rein zu Tode, und ich saß betrunken dabei; als ich mein letztes Geld in den Kneipen vertrunken hatte, lag ich die ganze Nacht bewußtlos auf der Straße, und am Morgen hatte ich dann das Fieber; und außerdem hatten mich in der Nacht auch noch die Hunde angefressen. Nur mit Mühe habe ich mich erholt.«

»Nun, nun, jetzt wird aber Nastasja Filippowna in einer andern Tonart zu uns reden!« kicherte der Beamte und rieb sich dabei die Hände. »Was ist jetzt an jenem Ohrgehänge gelegen, mein Herr! Jetzt werden wir ihr solche Ohrgehänge zum Ersatz schenken, daß …«

»Hören Sie mal, wenn Sie nur noch ein einziges Mal ein Wort über Nastasja Filippowna sagen, dann gnade Ihnen Gott! Ich werde Sie durchprügeln, wenn Sie auch mit Lichatschow verkehrt haben!« schrie Rogoshin und packte ihn kräftig am Kragen.

»Aber wenn Sie mich durchprügeln, so bedeutet das, daß Sie mich nicht von sich stoßen! Prügeln Sie mich! Gerade dadurch gewinnen Sie mich zum Freunde! Wenn Sie mich durchgehauen haben, so haben Sie gerade dadurch unsere Freundschaft besiegelt… Aber da sind wir angelangt!«

Sie fuhren tatsächlich in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoshin gesagt hatte, daß er ganz in der Stille abgereist sei, erwarteten ihn doch schon mehrere Menschen. Sie riefen und winkten ihm mit den Mützen.

»Nun sieh mal, Saljoshew ist auch da!« murmelte Rogoshin, indem er mit einem triumphierenden, sogar etwas boshaften Lächeln nach ihnen hinblickte; dann wandte er sich auf einmal zum Fürsten. »Fürst, ich weiß nicht, weswegen ich dich liebgewonnen habe. Vielleicht, weil ich dich in einem solchen Augenblick getroffen habe; aber den hier habe ich doch auch getroffen« (er wies auf Lebedew), »und den habe ich nicht liebgewonnen. Komm zu mir, Fürst! Wir werden dir diese Gamaschen ausziehen; ich werde dir den besten Marderpelz kaufen, dir den schönsten Frack machen lassen, eine weiße Weste oder was für eine du sonst wünschst; ich werde dir die Taschen voll Geld stopfen, und…dann wollen wir zu Nastasja Filippowna fahren! Wirst du kommen oder nicht?«

»Gehen Sie darauf ein, Fürst Lew Nikolajewitsch!« fügte Lebedew in eindringlichem, feierlichem Tone hinzu. »Lassen Sie sich das ja nicht entgehen! Lassen Sie sich das ja nicht entgehen!«

Fürst Myschkin stand auf, streckte Rogoshin höflich die Hand hin und sagte freundlich zu ihm:

»Ich werde mit dem größten Vergnügen kommen und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Ich werde sogar vielleicht heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn ich sage Ihnen aufrichtig: auch Sie haben mir sehr gefallen, und besonders als Sie von den Brillantohrgehängen erzählten. Aber auch schon vor den Ohrgehängen haben Sie mir gefallen, obwohl Sie eine so düstere Miene haben. Ich danke Ihnen auch für die versprochenen Kleider und den Pelz; denn ich werde wirklich Kleider und einen Pelz bald nötig haben. An Geld besitze ich in diesem Augenblick kaum eine Kopeke.«

»Geld wird dasein, zum Abend wird Geld dasein; komm nur!«

»Es wird dasein, wird dasein«, echote der Beamte. »Zum Abend, noch vor Sonnenuntergang, wird welches dasein!«

»Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!«

»Ich? N-n-nein! Ich bin ja … Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht.«

»Nun, wenn’s so ist«, rief Rogoshin, »so bist du ja ein richtiger Gottesnarr, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott.«

»Und solche Menschen liebt Gott der Herr«, wiederholte der Beamte.

»Und Sie können mir folgen, Sie Schmeißfliege!« sagte Rogoshin zu Lebedew, und alle verließen den Bahnwagen.

Lebedew hatte also schließlich doch sein Ziel erreicht. Bald entfernte sich der lärmende Haufe in Richtung des Wosnessenskij Prospekts. Der Fürst mußte sich nach der Litejnaja wenden. Es war feucht und naß; der Fürst erkundigte sich bei Vorübergehenden: er hörte, daß es bis zum Ende seines Weges etwa drei Werst seien, und entschied sich dafür, eine Droschke zu nehmen.

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Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Auf der »Promenade«, wie man das hier nennt, das heißt in der Kastanienallee, traf ich meinen Engländer.

»Oh, oh!« begann er, als er mich erblickte, »ich wollte zu Ihnen, und Sie zu mir. Also Sie haben sich von den Ihrigen schon getrennt?«

»Sagen Sie mir zuerst, woher Sie das alles wissen«, fragte ich erstaunt. »Ist das denn schon so allgemein bekannt?«

»O nein, allgemein bekannt ist es nicht. Es hat ja auch keiner ein Interesse daran, daß es bekannt würde; und daher redet niemand davon.«

»Also woher wissen Sie es denn?«

»Ich habe es so zufällig erfahren. Wo werden Sie denn nun von hier hinfahren? Ich meine es gut mit Ihnen und wollte deshalb zu Ihnen gehen.«

»Sie sind ein prächtiger Mensch, Mister Astlcy«, sagte ich (ich war übrigens ganz verblüfft: woher wußte er es?), »und da ich noch nicht Kaffee getrunken habe und Sie wahrscheinlich nur schlechten, so kommen Sie mit in das Café im Kurhaus; da wollen wir uns hinsetzen und rauchen, und ich werde Ihnen alles erzählen … und Sie mir auch …«

Das Café war nur hundert Schritt entfernt. Wir setzten uns; es wurde uns Kaffee gebracht, und ich zündete mir eine Zigarette an. Mister Astley rauchte nicht; mich unverwandt ansehend, machte er sich bereit zuzuhören.

»Ich fahre nirgend hin; ich bleibe hier«, begann ich.

»Ich war davon überzeugt, daß Sie hierbleiben würden«, äußerte Mister Astley beifällig.

Als ich mich auf den Weg zu Mister Astley machte, hatte ich nicht die Absicht gehabt, ihm etwas von meiner Liebe zu Polina zu sagen; ja, ich wollte es sogar absichtlich vermeiden. All diese Tage her hatte ich mit ihm kein Wort darüber gesprochen. Überdies war er sehr zartfühlend; ich hatte gleich von Anfang an bemerkt, daß Polina auf ihn außerordentlichen Eindruck gemacht hatte; aber er hatte nie ihren Namen ausgesprochen. Jedoch es ging mir seltsam: jetzt, sowie er sich nur hingesetzt und seine starren, zinnernen Augen auf mich gerichtet hatte, jetzt bekam ich (ich weiß nicht warum) plötzlich die größte Lust, ihm alles zu erzählen, die ganze Geschichte meiner Liebe mit all ihren Einzelheiten und Schattierungen. Ich erzählte eine ganze halbe Stunde lang und hatte dabei eine höchst angenehme Empfindung; es war das erstemal, daß ich jemandem davon erzählte! Da ich bemerkte, daß er bei einigen besonders feurigen Stellen unruhig wurde, steigerte ich die Glut meiner Erzählung noch geflissentlich. Nur eines bereue ich: daß ich über den Franzosen vielleicht etwas mehr gesagt habe, als gut war …

Während Mister Astley zuhörte, saß er mir gegenüber, ohne sich zu regen und ohne ein Wort zu sprechen oder einen Laut von sich zu geben, und blickte mir in die Augen; aber als ich von dem Franzosen zu sprechen anfing, fiel er mir plötzlich ins Wort und fragte in strengem Ton, ob ich ein Recht hätte, diesen nicht zur Sache gehörigen Umstand zu erwähnen. Mister Astley stellte seine Fragen immer in so sonderbarer Weise.

»Sie haben recht; ich fürchte, nein«, antwortete ich.

»Sie können über diesen Marquis und über Miß Polina nur bloße Vermutungen vorbringen, nichts Zuverlässiges?«

Wieder wunderte ich mich über eine so energische Frage von seiten eines so schüchternen Menschen wie Mister Astley.

»Nein, Zuverlässiges nicht«, erwiderte ich, »das freilich nicht.«

»Wenn dem so ist, so haben Sie schlecht gehandelt, nicht nur insofern, als Sie mit mir davon zu sprechen anfingen, sondern sogar schon insofern, als Sie bei sich dergleichen gedacht haben.«

»Nun ja, nun ja, ich will es zugeben; aber darum handelt es sich jetzt nicht«, unterbrach ich ihn, im stillen sehr verwundert. Hierauf erzählte ich ihm den ganzen gestrigen Vorfall mit allen Einzelheiten: Polinas tollen Einfall, meine Affäre mit dem Baron, meine Entlassung, die auffallende Ängstlichkeit des Generals, und endlich berichtete ich ihm eingehend von de Grieux‘ heutigem Besuch in allen seinen Phasen; zum Schluß zeigte ich ihm das Briefchen.

»Was schließen Sie nun daraus?« fragte ich. »Ich ging eben deswegen zu Ihnen, um Ihre Meinung zu hören. Was mich betrifft, so möchte ich diesen nichtswürdigen Franzosen am liebsten totschlagen, und vielleicht tue ich es auch noch.«

»Ich auch«, erwiderte Mister Astley. »Was Miß Polina betrifft, so … Sie wissen, wir treten mitunter auch zu Leuten, die uns verhaßt sind, in Beziehung, wenn uns die Notwendigkeit dazu zwingt. Hier können Beziehungen vorliegen, die Ihnen unbekannt sind, Beziehungen, die von andersartigen Umständen abhängen. Ich glaube, daß Sie sich beruhigen dürfen, wenigstens zum Teil, selbstverständlich. Was ihr gestriges Benehmen anlangt, so ist es allerdings sonderbar, nicht deswegen, weil sie Sie lozuwerden wünschte und Sie der Gefahr aussetzte, mit dem Stock des Barons Bekanntschaft zu machen (ich begreife übrigens nicht, warum er von seinem Stock keinen Gebrauch machte, da er ihn doch in der Hand hatte), sondern weil ein derartiger toller Streich für eine so … für eine so vortreffliche junge Dame sich nicht schickt. Natürlich konnte sie nicht voraussehen, daß Sie ihren komischen Wunsch buchstäblich ausführen würden …«

»Wissen Sie was?« rief ich plötzlich und sah dabei Mister Astley unverwandt an. »Mir scheint, Sie haben das alles bereits gehört, wissen Sie von wem? Von Miß Polina selbst!«

Mister Astley blickte mich verwundert an.

»Ihre Augen funkeln ja nur so, und ich lese in ihnen einen Argwohn«, sagte er, seine Ruhe sofort wiedergewinnend. »Aber Sie haben nicht das geringste Recht, Ihren Argwohn zu äußern. Ich kann ein solches Recht nicht anerkennen und lehne es durchaus ab, Ihre Frage zu beantworten.«

»Nun, lassen Sie es gut sein! Es ist ja auch nicht nötig!« rief ich in starker Aufregung; ich begriff nicht, woher mir das hatte in den Sinn kommen können! Wann, wo und auf welche Weise hätte Mister Astley von Polina zum Vertrauten erwählt sein können? In der letzten Zeit hatte ich allerdings Mister Astley zum Teil aus den Augen verloren gehabt, und Polina war immer für mich ein Rätsel gewesen, dergestalt ein Rätsel, daß ich zum Beispiel jetzt, wo ich es unternommen hatte, Mister Astley die ganze Geschichte meiner Liebe zu erzählen, während des Erzählens davon überrascht war, daß ich über meine Beziehungen zu ihr fast nichts Bestimmtes und Positives sagen konnte. Im Gegenteil, alles war phantastisch, sonderbar, haltlos und geradezu unerhört.

»Nun gut, gut«, antwortete ich; ich konnte vor Erregung kaum Luft bekommen. »Ich bin ganz in Verwirrung geraten und kann mir jetzt vieles noch nicht zurechtlegen. Aber Sie sind ein guter Mensch. Jetzt handelt es sich um etwas andres, und ich bitte Sie nicht um Ihren Rat, sondern um Ihre Ansicht.«

Ich schwieg einen Augenblick und begann dann:

»Wie denken Sie darüber: warum wurde der General so ängstlich? Warum haben sie aus meinem törichten Narrenstreich alle eine so große Geschichte gemacht? Eine so große Geschichte, daß sogar de Grieux selbst für nötig fand sich einzumischen (und er mischt sich nur bei den wichtigsten Angelegenheiten ein), mich besuchte (was noch nie dagewesen ist!), mich bat, anflehte, er, de Grieux, mich! Beachten Sie endlich auch dies: er kam, ehe es noch neun Uhr war, und doch befand sich Miß Polinas Brief bereits in seinen Händen. Wann, frage ich, war er denn geschrieben worden? Vielleicht ist Miß Polina dazu erst aufgeweckt worden? Ich ersehe daraus, daß Miß Polina seine Sklavin ist, da sie sogar mich um Verzeihung bittet; aber außerdem: was geht diese ganze Sache denn sie, sie persönlich an? Warum interessiert sie sich so dafür? Weshalb haben sie vor so einem beliebigen Baron Angst bekommen? Und was ist das für eine Geschichte, daß der General Mademoiselle Blanche de Cominges heiraten wird? Sie sagen, infolge dieses Umstandes müßten sie ganz besonders darauf achten, ihre Stellung zu wahren; aber das ist doch gar zu eigentümlich, sagen Sie selbst! Wie denken Sie darüber? Ich sehe es Ihnen an den Augen an, daß Sie auch hiervon mehr wissen als ich!« Mister Astley lächelte und nickte mit dem Kopf.

»In der Tat weiß ich, wie es scheint, auch hiervon wesentlich mehr als Sie«, erwiderte er. »Bei dieser ganzen Geschichte handelt es sich einzig und allein um Mademoiselle Blanche; daß das die volle Wahrheit ist, davon bin ich überzeugt.«

»Nun, was ist denn mit Mademoiselle Blanche?« rief ich ungeduldig; es erwachte auf einmal in meinem Herzen die Hoffnung, ich würde jetzt eine Enthüllung über Mademoiselle Polina zu hören bekommen.

»Es scheint mir, daß Mademoiselle Blanche im gegenwärtigen Augenblick ein besonderes Interesse daran hat, unter allen Umständen eine Begegnung mit dem Baron und der Baronin zu vermeiden, und namentlich eine unangenehme Begegnung und nun gar eine, die mit häßlichem Aufsehen verbunden wäre.«

»So, so!«

»Mademoiselle Blanche war schon einmal, vor zwei Jahren während der Saison, hier in Roulettenburg. Ich befand mich zu jener Zeit gleichfalls hier. Mademoiselle Blanche nannte sich damals nicht Mademoiselle de Cominges; auch existierte ihre Mutter, Madame veuve Cominges, damals nicht; wenigstens wurde nie von ihr gesprochen. Einen de Grieux, de Grieux gab es hier gleichfalls nicht. Ich hege die feste Überzeugung, daß die beiden miteinander gar nicht verwandt sind, ja sich sogar erst seit kurzer Zeit kennen. Marquis ist dieser de Grieux auch erst ganz kürzlich geworden; davon bin ich überzeugt, aus einem triftigen Grunde. Man kann sogar vermuten, daß er erst neuerdings angefangen hat, sich de Grieux zu nennen. Ich kenne hier jemand, der ihm früher unter einem andern Namen begegnet ist.«

»Aber er besitzt doch tatsächlich einen soliden Bekanntenkreis.«

»Oh, das kann schon sein. Selbst Mademoiselle Blanche besitzt möglicherweise einen solchen. Aber vor zwei Jahren erhielt Mademoiselle Blanche infolge einer Beschwerde eben dieser Baronin von der hiesigen Polizei die Aufforderung, die Stadt zu verlassen, und verließ sie denn auch.«

»Wie kam das?«

»Sie erschien damals hier zuerst mit einem Italiener, irgendeinem Fürsten mit einem historischen Namen, so etwas wie Barberini oder so ähnlich. Dieser Mensch trug eine Unmenge von Ringen und Brillanten an seinem Leibe, und sie waren nicht einmal falsch. Sie fuhren immer in einer wundervollen Equipage. Mademoiselle Blanche spielte beim Trente-et-quarante anfangs mit gutem Erfolg; dann aber trat bei ihr ein starker Glückswechsel ein; ich erinnere mich dessen recht wohl. Ich weiß noch, eines Abends verspielte sie eine außerordentlich hohe Summe. Aber noch schlimmer war es, daß un beau matin ihr Fürst verschwunden war, ohne daß man gewußt hätte, wo er geblieben war, und auch die Pferde waren verschwunden und die Equipage, mit einem Wort, alles. Die Schuld im Hotel war erschreckend hoch. Mademoiselle Selma (aus einer Barberini hatte sie sich plötzlich in eine Mademoiselle Selma verwandelt) befand sich in größter Verzweiflung. Sie heulte und kreischte, daß man es durch das ganze Hotel hörte, und zerriß in einem Anfall von Raserei ihr Kleid. In demselben Hotel logierte ein polnischer Graf (alle reisenden Polen sind Grafen), und Mademoiselle Selma, die sich ihre Kleider zerrissen und sich ihr Gesicht mit ihren schönen, in Parfüm gewaschenen Händen wie eine Katze zerkratzt hatte, machte auf ihn einen starken Eindruck. Sie verhandelten miteinander, und beim Diner hatte sie sich bereits getröstet. Am Abend erschien er mit ihr Arm in Arm im Kurhaus. Mademoiselle Selma lachte nach ihrer Gewohnheit sehr laut und benahm sich noch ungenierter als sonst. Sie trat nun geradezu in die Klasse jener roulettspielenden Damen ein, die, wenn sie an den Spieltisch treten, durch einen kräftigen Stoß mit der Schulter einen Spieler beiseite drängen, um sich einen Platz frei zu machen. Das ist bei ihnen ein besonderer Kunstgriff. Sie haben diese Damen gewiß auch schon bemerkt?«

»O ja.«

»Sie sind nicht wert, daß man sie beachtet. Zum Ärger des anständigen Publikums lassen sie sich hier nicht vertreiben, wenigstens nicht diejenigen von ihnen, die täglich am Spieltisch Tausendfrancnoten wechseln. Allerdings, sobald sie aufhören, solche Banknoten zu wechseln, ersucht man sie sogleich, sich zu entfernen. Mademoiselle Selma wechselte noch immer Banknoten; aber sie hatte im Spiel immer mehr Unglück. Sie können die Beobachtung machen, daß diese Damen sehr oft mit Glück spielen; denn sie besitzen eine erstaunliche Selbstbeherrschung. Übrigens nähert sich meine Geschichte damit dem Ende. Ebenso, wie vorher der Fürst, verschwand nun auch der Graf. Mademoiselle Selma erschien an diesem Abend bereits ohne Begleitung beim Spiel; diesmal war niemand da, der ihr den Arm geboten hätte. In zwei Tagen hatte sie alles verloren, was sie besaß. Nachdem sie den letzten Louisdor gesetzt und verloren hatte, sah sie sich rings um und erblickte neben sich den Baron Wurmerhelm, der sie sehr aufmerksam und mit starkem Mißfallen betrachtete. Aber Mademoiselle Selma bemerkte dieses Mißfallen nicht, wandte sich mit ihrem bekannten Lächeln an den Baron und bat ihn, für sie auf Rot zehn Louisdor zu setzen. Infolgedessen erhielt sie auf eine Beschwerde der Baronin hin am Abend die Weisung, nicht mehr im Kurhaus zu erscheinen. Wenn Sie sich darüber wundern, daß mir all diese kleinen, wenig anständigen Einzelheiten bekannt sind, so erklärt sich das daher, daß ich sie als sicher von Mister Feader, einem Verwandten von mir, gehört habe, der an demselben Abend Mademoiselle Selma in seinem Wagen von Roulettenburg nach Spaa mitnahm. Nun werden Sie verstehen: Mademoiselle Blanche möchte Frau Generalin werden, wahrscheinlich um in Zukunft nicht wieder von der Polizei eines Kurortes solche Weisungen zu erhalten wie vor zwei Jahren. Jetzt beteiligt sie sich nicht mehr am Spiel; aber das hat seinen Grund darin, daß sie jetzt, nach allen Anzeichen zu urteilen, ein Kapital besitzt, das sie hiesigen Spielern gegen Prozente vorstreckt. Das ist ein weit vorsichtigeres finanzielles Verfahren. Ich vermute sogar, daß sich auch der unglückliche General unter ihren Schuldnern befindet. Vielleicht ist auch de Grieux ihr Schuldner. Es kann aber auch sein, daß de Grieux mit ihr ein Kompaniegeschäft hat. Da werden Sie sich selbst sagen können, daß sie wenigstens bis zur Hochzeit nicht wünschen kann, die Aufmerksamkeit der Baronin und des Barons auf irgendwelche Weise auf sich zu lenken. Kurz, in ihrer Lage müßte ihr ein öffentlicher Skandal äußerst nachteilig sein. Sie aber stehen in enger Beziehung zu der Familie des Generals, und Ihre Handlungen können einen solchen Skandal für sie hervorrufen, um so mehr, da sie täglich Arm in Arm mit dem General oder mit Miß Polina in der Öffentlichkeit erscheint. Verstehen Sie jetzt?«

»Nein, ich verstehe es nicht!« rief ich und schlug dabei mit aller Kraft auf den Tisch, so daß der Kellner erschrocken herbeigelaufen kam.

»Sagen Sie, Mister Astley«, fuhr ich wütend fort, »wenn Ihnen diese ganze Geschichte schon bekannt war und Sie somit genau wußten, wes Geistes Kind diese Mademoiselle Blanche de Cominges ist, warum haben Sie dann nicht wenigstens mir davon Mitteilung gemacht, oder dem General selbst, oder endlich, was das Wichtigste, das Allerwichtigste gewesen wäre, Miß Polina, die sich hier im Kurhaus in aller Öffentlichkeit Arm in Arm mit Mademoiselle Blanche zeigt? Wie konnten Sie denn da schweigen?«

»Ihnen etwas davon mitzuteilen hatte keinen Zweck, weil Sie doch nichts bei der Sache tun konnten«, antwortete Mister Astley ruhig. »Und dann: wovon hätte ich denn Mitteilung machen sollen? Der General weiß über Mademoiselle Blanche vielleicht noch mehr als ich und geht trotzdem mit ihr und mit Miß Polina spazieren. Der General ist ein unglücklicher Mensch. Ich sah gestern, wie Mademoiselle Blanche auf einem schönen Pferd mit Monsieur de Grieux und diesem kleinen russischen Fürsten dahingaloppierte, und hinter ihnen her jagte auf einem Fuchs der General. Er hatte am Morgen gesagt, er habe Schmerzen in den Beinen; aber sein Sitz war gut. Und sehen Sie, in diesem Augenblick schoß mir auf einmal der Gedanke durch den Kopf, daß er ein vollständig verlorener Mensch ist. Außerdem geht mich das alles eigentlich nichts an, und daß ich die Ehre hatte, Miß Polina kennenzulernen, ist noch nicht lange her. Übrigens«, unterbrach sich Mister Astley plötzlich, »habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich Ihnen keine Berechtigung zuerkennen kann, mir irgendwelche Fragen zu stellen, obwohl ich Sie von Herzen gern habe …«

»Genug«, sagte ich, indem ich aufstand. »Jetzt ist es mir sonnenklar, daß auch Miß Polina über Mademoiselle Blanche vollkommen Bescheid weiß, sich aber von ihrem Franzosen nicht trennen kann und sich deshalb dazu versteht, mit Mademoiselle Blanche spazierenzugehen. Sie können sicher sein, daß sie sich durch keinen andern Einfluß dazu bringen lassen würde, dies zu tun und noch außerdem mich in ihrem Schreiben flehentlich zu bitten, ich möchte dem Baron nur ja nichts zuleide tun. Hier muß entschieden jene Einwirkung vorliegen, der sich hier alles fügt! Und dennoch ist sie es ja gerade gewesen, die mich auf den Baron gehetzt hat! Hol’s der Teufel, klug wird man aus der Sache nicht!«

»Sie vergessen erstens, daß diese Mademoiselle de Cominges die Braut des Generals ist, und zweitens, daß Miß Polina, die Stieftochter des Generals, noch einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester hat, die leiblichen Kinder des Generals, um die dieser Wahnsinnige sich schon gar nicht mehr kümmert, und an deren Eigentum er, wie es scheint, sich bereits vergriffen hat.«

»Ja, ja! So ist es! Wenn sie wegginge, so hieße das, die Kinder völlig dem Verderben preisgeben; wenn sie dagegen hierbleibt, kann sie sich ihrer annehmen und vielleicht noch Reste des Vermögens für sie retten. Ja, ja, das ist alles richtig. Aber trotzdem, trotzdem! Oh, ich verstehe, warum sie sich jetzt alle so für die alte Tante interessieren!«

»Für wen?« fragte Mister Astley.

»Für jene alte Hexe in Moskau, die nicht sterben will, und über deren Tod sie ein Telegramm erwarten.«

»Nun ja, natürlich konzentriert sich jetzt auf die das allgemeine Interesse. Alles kommt jetzt auf die Erbschaft an! Sobald der General die Erbschaft hat, heiratet er; Miß Polina wird dann gleichfalls Herrin ihrer selbst, und de Grieux …«

»Nun, und de Grieux?«

»De Grieux bekommt sein Geld zurückbezahlt; darauf wartet er hier doch nur.«

»Nur darauf? Meinen Sie wirklich, daß er nur darauf wartet?«

»Weiter weiß ich nichts«, erwiderte Mister Astley; er schien entschlossen, hartnäckig zu schweigen.

»Aber ich weiß mehr, ich weiß mehr!« rief ich wütend. »Er wartet ebenfalls auf die Erbschaft, weil Polina dann eine Mitgift erhält und, sobald sie Geld hat, sich ihm sofort an den Hals werfen wird. Alle Weiber sind von der Art! Und gerade die stolzesten unter ihnen, das werden die niedrigsten Sklavinnen! Polina ist keiner andern als einer leidenschaftlichen Liebe fähig! Das ist mein Urteil über sie! Betrachten Sie sie nur einmal aufmerksam, namentlich wenn sie allein sitzt und ihren Gedanken nachhängt: es ist, als ob sie zu einem bestimmten Schicksal prädestiniert, verurteilt, verdammt wäre! Sie ist fähig, alle Glut der Leidenschaft zu empfinden und allen Schrecken des Lebens zu trotzen, … sie … sie … Aber wer ruft mich da?« unterbrach ich mich plötzlich. »Wer mag das sein? Ich hörte jemanden auf russisch rufen: ›Alexej Iwanowitsch!‹ Es war eine weibliche Stimme. Hören Sie nur, hören Sie nur!«

Wir näherten uns in diesem Augenblick schon unserm Hotel. Wir hatten schon längst, fast ohne uns selbst dessen bewußt zu werden, das Café verlassen.

»Ich hörte, daß eine Frauenstimme rief; aber ich weiß nicht, wer gerufen wurde; russisch war es. Jetzt sehe ich, von wo gerufen wird«, sagte Mister Astley und wies mit der Hand hin; »die Dame dort ruft, die auf einem großen Lehnstuhl sitzt und gerade von vielen Dienern die Stufen vor dem Portal hinangetragen wird. Hinter ihr werden Koffer gebracht; es ist offenbar soeben ein Zug angekommen.«

»Aber warum ruft sie mich? Sie ruft wieder; sehen Sie, sie winkt uns.«

»Ja, ich sehe, daß sie winkt«, erwiderte Mister Astley. »Alexej Iwanowitsch! Alexej Iwanowitsch! Nein, was ist das hier doch für ein Tölpel!« hörte ich vom Hoteleingang her heftig rufen.

Wir eilten im schnellsten Schritt zum Portal. Ich stieg vor demselben die Stufen zur Plattform hinan, und … die Arme sanken mir vor Erstaunen am Leib hinunter, und meine Füße schienen am Boden festgewachsen zu sein.

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Neuntes Kapitel

Neuntes Kapitel

Oben auf der breiten Plattform vor dem Portal des Hotels saß in einem Lehnstuhl, auf dem sie die Stufen hinangetragen war, umgeben von ihrer Dienerschaft und dem zahlreichen, diensteifrigen Hotelpersonal mit Einschluß des Oberkellners selbst, der herausgekommen war, um die hohe Besucherin zu begrüßen, die mit so viel Lärm und Geräusch, mit eigener Dienerschaft und mit einer solchen Unmenge von Koffern und Schachteln angereist kam – ja, wer saß da? Die alte Tante!

Ja, sie war es selbst, die gebieterische, reiche, fünfundsiebzigjährige Antonida Wassiljewna Tarassewitschewa, Gutsbesitzerin und Moskauer Hausbesitzerin, die Tante, um derentwillen so viele Telegramme abgeschickt und eingelaufen waren, die Tante, die immer im Sterben gelegen hatte und doch nicht gestorben war, und die nun auf einmal selbst in höchsteigener Person wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei uns erschien. Sie war erschienen, obgleich sie nicht gehen konnte; sie ließ sich eben, wie stets während der letzten fünf Jahre, im Sessel tragen; aber sie war wie immer: energisch, kampflustig, selbstzufrieden, saß gerade, redete laut und herrisch, schimpfte auf alle Menschen, kurz, sie war genau ebenso, wie ich sie bei zwei, drei Gelegenheiten zu sehen die Ehre gehabt hatte, seit ich in das Haus des Generals als Hauslehrer eingetreten war. Sehr natürlich, daß ich vor ihr ganz starr vor Verwunderung dastand. Sie hatte mich mit ihren Luchsaugen schon auf hundert Schritt Entfernung erblickt, als sie auf ihrem Stuhl ins Hotel getragen wurde, hatte mich erkannt und bei meinem Vornamen und Vatersnamen gerufen, wie sie denn solche Namen, wenn sie sie einmal gehört hatte, für immer im Gedächtnis zu behalten pflegte. »Und von einer solchen Frau haben sie gehofft, sie würden sie im Sarg und beerdigt sehen und ihre Erbschaft antreten!« Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoß. »Die wird uns alle und die ganze Bewohnerschaft des Hotels überleben! Aber, um Gottes willen, was wird nun aus den Unsrigen, was wird aus dem General! Sie wird nun das ganze Hotel auf den Kopf stellen!«

»Nun, lieber Freund, warum stehst du denn so vor mir da und reißt die Augen auf?« schrie mich die alte Dame an. »Eine Verbeugung zu machen und guten Tag zu sagen, das verstehst du wohl nicht, he? Oder bist du stolz geworden und willst es nicht tun? Oder hast du mich vielleicht nicht wiedererkannt? Hörst du wohl, Potapytsch«, wandte sie sich an einen grauhaarigen Alten in Frack und weißer Krawatte und mit einer rosenfarbenen Glatze, ihren Haushofmeister, der sie auf der Reise begleitete, »hörst du wohl, er erkennt mich nicht wieder! Sie haben mich schon begraben! Ein Telegramm schickten sie über das andere: ›Ist sie gestorben oder nicht?‹ Ja, ja, ich weiß alles! Aber siehst du wohl, ich bin noch fuchsmunter.«

»Aber ich bitte Sie, Antonida Wassiljewna, wie sollte es mir in den Sinn kommen, Ihnen Übles zu wünschen?« erwiderte ich in heiterem Ton, sobald ich meine Gedanken wieder gesammelt hatte. »Ich war nur zu erstaunt … Und wie sollte man sich auch da nicht wundern, wenn Sie so unerwartet …«

»Was ist dir dabei verwunderlich? Ich habe mich auf die Bahn gesetzt und bin hergefahren. Im Waggon fährt es sich ruhig; der stößt nicht wie ein Wagen. Du bist wohl spazierengegangen, wie?«

»Ja, ich war nach dem Kurhaus gegangen.«

»Hier ist es hübsch«, sagte die Tante, sich umschauend. »Es ist warm, und da sind herrliche Bäume. Das habe ich gern! Sind unsere Leute zu Hause? Auch der General?«

»Oh, gewiß werden sie zu Hause sein; zu dieser Stunde sind sie sicher alle zu Hause.«

»Haben sie etwa auch hier Empfangsstunden eingeführt und alle möglichen andern Zeremonien? Sie geben ja wohl den Ton in der Gesellschaft an. Ich habe gehört, sie halten sich Equipage, les seigneurs russes! Wenn sie sich in Rußland durch ihre Verschwendung ruiniert haben, dann heißt’s: nun ins Ausland! Ist auch Praskowja[R1] bei ihnen?«

»Ja, Polina Alexandrowna ist auch hier.«

»Auch der kleine Franzose? Na, ich werde sie ja bald alle selbst sehen. Alexej Iwanowitsch, zeige mir den Weg direkt zu ihm. Geht es dir hier gut?«

»Es macht sich ja, Antonida Wassiljewna.«

»Und du, Potapytsch, sage diesem Tölpel von Kellner, er solle mir ein bequemes Logis anweisen, ein hübsches Logis, nicht zu hoch gelegen; und dahin laß auch gleich die Sachen bringen! Aber warum drängen sich denn alle dazu, mich zu tragen? Warum sind sie so aufdringlich? So ein Sklavenpack! Wen hast du da bei dir?« wandte sie sich wieder zu mir.

»Das ist Mister Astley«, erwiderte ich.

[F1: Ein vulgärer Name, wohl Polinas Taufname, der in der Familie des Generals durch den ausländischen Polina ersetzt worden war. (A. d. Ü.)] »Was für ein Mister Astley?«

»Ein vielgereister Marnn und ein guter Bekannter von mir; er ist auch mit dem General bekannt.«

»Ein Engländer. Na ja, darum glotzt er mich auch so an und bringt die Zähne nicht auseinander. Übrigens mag ich die Engländer gern. Na also, dann tragt mich nach oben, geradeswegs zu ihnen in ihre Wohnung; wo wohnen sie denn hier?«

Die Tante wurde weitergetragen; ich ging auf der breiten Hoteltreppe voran. Unser Zug machte einen großartigen Effekt. Alle, auf die wir trafen, blieben stehen und betrachteten uns mit weit geöffneten Augen. Unser Hotel gilt als das beste, teuerste und aristokratischste dieses Badeortes. Auf der Treppe und den Korridoren begegnet man stets sehr elegant gekleideten Damen und vornehmen Engländern. Viele erkundigten sich unten beim Oberkellner, der seinerseits einen außerordentlichen tiefen Eindruck empfangen hatte. Er antwortete selbstverständlich allen Fragern, es sei eine sehr vornehme Ausländerin, une russe, une comtesse, grande dame, und sie nehme dasselbe Quartier, das eine Woche vorher la grande-duchessc de N. innegehabt habe. Den Haupteffekt machte das herrische und gebieterische äußere Wesen, das die Tante zeigte, während sie auf ihrem Stuhl nach oben getragen wurde. Bei der Begegnung mit jeder neuen Person maß sie diese sofort mit einem neugierigen Blick und befragte mich laut nach allen. Die Tante war aus einer Familie von stämmigem Körperbau, und obgleich sie von ihrem Stuhl nicht aufstand, so merkte man doch, wenn man sie ansah, daß sie sehr hochgewachsen war. Den Rücken hielt sie gerade wie ein Brett und lehnte sich nicht im Stuhl hinten an. Den grauhaarigen, großen Kopf mit den derben, scharfen Gesichtszügen trug sie hoch aufgerichtet; ihre Miene hatte dabei sogar etwas Hochmütiges und Herausforderndes. Es war deutlich, daß ihr Blick und ihre Bewegungen vollkommen natürlich waren. Trotz ihrer fünfundsiebzig Jahre sah ihr Gesicht noch ziemlich frisch aus, und selbst die Zähne hatten nicht allzuviel gelitten. Ihr Anzug bestand aus einem schwarzen Seidenkleid und einer weißen Haube.

»Sie interessiert mich außerordentlich«, flüsterte mir Mister Astley zu, der neben mir die Treppe hinaufstieg.

»Von den Telegrammen weiß sie«, dachte ich bei mir; »de Grieux ist ihr ebenfalls bekannt; aber von Mademoiselle Blanche weiß sie anscheinend noch wenig.« Ich teilte dies sogleich Mister Astley mit.

Ich bin doch ein recht schändlicher Mensch! Kaum hatte sich mein erstes Erstaunen gelegt, da freute ich mich furchtbar über den Donnerschlag, der unser Erscheinen im nächsten Augenblick für den General sein mußte. Ich hatte ein Gefühl, als ob mich innerlich etwas aufstachelte, und ging in sehr heiterer Stimmung voran.

Die Unsrigen wohnten in der dritten Etage; ich ließ uns nicht anmelden und klopfte nicht einmal an der Tür an, sondern schlug einfach die Flügel weit zurück, und die Tante wurde im Triumph hereingetragen. Alle befanden sich, wie durch eine besondere Fügung, im Zimmer des Generals beisammen. Es war zwölf Uhr, und sie besprachen, wie es schien, gerade einen geplanten Ausflug teils zu Wagen, teils zu Pferde; es sollte daran die ganze Gesellschaft teilnehmen, und es waren außerdem noch einige Bekannte aufgefordert. Außer dem General, Polina, den Kindern und ihrer Kinderfrau waren im Zimmer anwesend: de Grieux, Mademoiselle Blanche, wieder im Reitkleid, ihre Mutter, Madame veuve Cominges, der kleine Fürst und endlich ein gelehrter Reisender, ein Deutscher, den ich bei ihnen zum erstenmal sah.

Die Träger setzten den Stuhl mit der Tante gerade in der Mitte des Zimmers, drei Schritte vom General entfernt, nieder. Gott im Himmel, nie werde ich den Eindruck vergessen, den das hervorbrachte! Vor unserm Eintritt hatte der General etwas erzählt und de Grieux es berichtigt. Es muß bemerkt werden, daß Mademoiselle Blanche und de Grieux schon seit zwei, drei Tagen aus irgendwelchem Grunde dem kleinen Fürsten stark den Hof machten, worüber sich der arme General ärgerte. Die ganze Gesellschaft befand sich, wenn das auch vielleicht nur gekünstelt war, in der heitersten Stimmung, und das Gespräch wurde in munterem, familiärem Ton geführt. Beim Anblick der Tante wurde der General plötzlich starr, riß den Mund auf und verstummte mitten in einem Wort. Die Augen traten ihm ordentlich aus dem Kopf, und er schaute sie an, als wäre er durch den Blick eines Basilisken bezaubert. Die Tante schaute ihn ebenfalls schweigend und ohne sich zu rühren an; aber was war das für ein triumphierender, herausfordernder, spöttischer Blick! So sahen sie einander wohl zehn volle Sekunden lang an, unter tiefem Schweigen aller Anwesenden. De Grieux war zunächst wie versteinert gewesen; aber sehr bald kam auf seinem Gesicht eine heftige Unruhe zum Ausbruch. Mademoiselle Blanche zog die Augenbrauen in die Höhe, machte den Mund auf und richtete ihre verstörten Blicke auf die Tante. Der Fürst und der Gelehrte betrachteten mit verständnislosem Staunen dieses ganze Bild, das sich ihnen darbot. In Polinas Blick drückte sich eine grenzenlose Verwunderung aus; aber auf einmal wurde sie bleich wie Leinwand; einen Augenblick darauf schlug ihr das Blut schnell ins Gesicht zurück, so daß ihre Wangen dunkelrot wurden. Ja, das war für sie alle eine Katastrophe! Ich ließ meine Augen fortwährend zwischen der Tante und der ganzen Gesellschaft hin und her wandern. Mister Astley stand etwas beiseite, wie gewöhnlich in ruhiger, wohlanständiger Haltung.

»Na, da bin ich also: Persönlich, statt eines Telegramms!« Mit diesen Worten unterbrach die Tante endlich das Schweigen. »Nicht wahr, das hattet ihr wohl nicht erwartet?«

»Antonida Wassiljewna … Liebe Tante … Aber wie geht es nur zu …«, murmelte der unglückliche General.

Hätte die Tante noch ein paar Sekunden länger geschwiegen, so würde ihn vielleicht der Schlag gerührt haben.

»Wie es zugeht? Ich habe mich auf die Eisenbahn gesetzt und bin hergefahren. Wozu wäre denn die Eisenbahn sonst da? Und ihr habt alle gedacht, ich hätte schon die Augen für immer zugemacht und euch meine Erbschaft hinterlassen? Siehst du, ich weiß, daß du von hier eine Menge Telegramme abgeschickt hast. Du wirst einen tüchtigen Batzen Geld dafür bezahlt haben, denke ich mir. Von so weit her ist das nicht billig. Aber ich habe mich aufgemacht und bin hierhergefahren. Ist das der Franzose von früher? Monsieur de Grieux, wenn mir recht ist?«

»Oui, madame«, erwiderte de Grieux, »et croyez, je suis si enchanté … votre santé … c’est un miracle … vous voir ici … une surprise charmante …«

»So, so, charmante; ich kenne dich, du Heuchler; ich glaube dir auch nicht so viel!« Dabei zeigte sie es ihm an ihrem kleinen Finger. »Was ist denn das für eine?« fragte sie, indem sie sich umwandte und auf Mademoiselle Blanche wies. Die hübsche Französin, im Reitkleid, die Reitpeitsche in der Hand, erregte offenbar ihr lebhaftes Interesse. »Wohl eine von hier, wie?«

»Das ist Mademoiselle Blanche de Cominges, und dort ist auch ihre Mutter, Madame de Cominges; sie wohnen ebenfalls hier im Hotel«, berichtete ich.

»Ist die Tochter verheiratet?« erkundigte sich die Tante ganz ungeniert.

»Mademoiselle de Cominges ist ledig«, antwortete ich möglichst respektvoll und absichtlich nur halblaut.

»Ist sie eine lustige Person?«

Der Sinn dieser Frage war mir nicht sofort klar.

»Ist sie im Umgang amüsant? Kann sie Russisch? Dieser de Grieux hat ja bei uns in Moskau auch ein paar Brocken Russisch aufgeschnappt.«

Ich bemerkte ihr, Mademoiselle de Cominges sei nie in Rußland gewesen.

»Bonjour«, sagte die Tante, sich plötzlich mit scharfer Drehung des Körpers zu Mademoiselle Blanche hinwendend.

»Bonjour, madame«, erwiderte Mademoiselle Blanche mit einem zeremoniellen, eleganten Knicks; sie bemühte sich, unter dem Schleier besonderer Bescheidenheit und Höflichkeit durch den gesamten Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Gestalt ihr großes Befremden über die seltsamen Fragen und die eigentümliche Anrede zum Ausdruck zu bringen.

»Oh, sie hat die Augen niedergeschlagen, benimmt sich förmlich und ziert sich; da sieht man gleich, was das für ein Vogel ist; gewiß eine Schauspielerin? Ich habe hier im Hotel weiter unten Wohnung genommen«, wandte sie sich auf einmal wieder an den General. »Ich werde also deine Hausgenossin sein; freust du dich darüber oder nicht?«

»Oh, liebe Tante, Sie können überzeugt sein, daß ich mich aufrichtig … aufrichtig darüber freue«, erwiderte der General eilig. Es war ihm bereits gelungen, seine Gedanken einigermaßen zu sammeln, und da er es verstand, bei gegebener Gelegenheit gewandt, würdig und bis zu einem gewissen Grade effektvoll zu reden, so schickte er sich auch jetzt an, sich etwas ausführlicher zu äußern. »Wir waren infolge der Nachrichten über Ihre Krankheit in solcher Unruhe und Aufregung … Die Telegramme, die wir erhielten, klangen so hoffnungslos, und nun auf einmal …«

»Du schwindelst, du schwindelst«, unterbrach ihn die Tante sofort.

»Aber wie in aller Welt«, unterbrach sie nun seinerseits der General möglichst schnell und sprach dabei absichtlich lauter, um den Schein zu erwecken, als habe er ihre Zwischenbemerkung ›du schwindelst‹ überhört, »wie in aller Welt haben Sie sich nur zu einer solchen Reise entschließen können? Sie werden zugeben, bei Ihren Jahren und bei Ihrem Gesundheitszustand ist dies alles mindestens so unerwartet, daß unser Erstaunen begreiflich ist. Aber ich freue mich so sehr … und wir alle« (hier wurde auf seinem Gesicht ein Lächeln der Rührung und des Entzückens sichtbar) »werden uns aus allen Kräften bemühen, Ihnen Ihren hiesigen Aufenthalt zu einer Zeit schönsten, angenehmsten Genusses zu machen …«

»Na, hör nur auf; es ist ja doch alles nur leeres Geschwätz; du plapperst nach deiner Gewohnheit allerlei Unsinn zusammen; ich weiß schon allein, wie ich mein Leben einzurichten habe. Übrigens habe ich auch nichts dagegen, mit euch zu verkehren; ich trage euch nichts nach. Wie ich mich dazu habe entschließen können, fragst du? Aber was ist da zu verwundern? Das ist auf die allereinfachste Weise zugegangen. Warum sind nur alle Leute darüber so erstaunt? Guten Tag, Praskowja. Was machst du denn hier?«

»Guten Tag, liebes Großmütterchen«, begrüßte Polina sie freundlich und trat zu ihr hin. »Sind Sie lange unterwegs gewesen?«

»Na, seht mal, diese Frage von ihr war gescheiter als euer maßloses Erstaunen: ›Oh!‹ und ›Ach!‹ Also, siehst du wohl: ich lag immerzu zu Bette, und die Ärzte kurierten an mir herum; da jagte ich sie davon und ließ mir einen Kirchendiener von der Nikolauskirche kommen. Der hatte schon früher einmal eine alte Frau von derselben Krankheit mit Tee von Heustaub geheilt. Na also, der hat auch mir geholfen; am dritten Tag fing ich am ganzen Leibe stark zu schwitzen an, und dann stand ich auf. Nun traten meine deutschen Ärzte wieder zur Beratung zusammen, setzten sich ihre Brillen auf und kamen zu dem Resultat: ›Wenn Sie jetzt im Ausland eine Badekur durchmachen könnten, dann würden die Blutstockungen ganz behoben werden.‹ ›Na, warum nicht?‹ dachte ich. Da schlugen die Hansnarren die Hände über dem Kopf zusammen: ›Wie können Sie nur daran denken, eine so große Reise zu unternehmend!‹ Aber hast du gesehen: an einem Tag packte ich, und am Freitag der vorigen Woche nahm ich mein Mädchen und Potapytsch und den Diener Fjodor mit; diesen Fjodor habe ich aber von Berlin aus wieder zurückgeschickt, weil ich sah, daß ich ihn gar nicht nötig hatte; ich hätte sogar vollständig allein reisen können. Auf der Bahn nehme ich mir ein besonderes Abteil; und Gepäckträger sind auf allen Stationen vorhanden; die tragen einen für ein Zwanzigkopekenstück, wohin man will … Nun seht mal an, was ihr hier für ein schönes Logis habt!« schloß sie, indem sie sich rings umsah. »Aus was für Mitteln leistest du dir denn das, Freundchen? Dein ganzer Grundbesitz ist doch verpfändet. Und was bist du schon allein diesem Franzosen hier für eine Summe schuldig! Ja, ja, ich weiß alles, weiß alles!«

»Liebe Tante …«, begann der General äußerst verlegen, »ich wundere mich, liebe Tante … ich kann doch, möchte ich meinen, auch ohne Kontrolle von seiten eines andern … Überdies übersteigen meine Ausgaben durchaus nicht meine Mittel, und wir leben hier …«

»Übersteigen nicht? Übersteigen nicht? Was du sagst! Und deinen Kindern wirst du wohl schon das letzte, was sie hatten, geraubt haben. Ein netter Vormund!«

»Wenn Sie so denken und mir dergleichen sagen …«, fing der General unwillig an, »so weiß ich wirklich nicht …«

»Ja, ja, du weißt nicht, du weißt nicht! Vom Roulett kommst du hier wohl gar nicht mehr weg? Bist wohl ganz ausgebeutelt?«

Der General war so perplex, daß er vor Aufregung beinah erstickte.

»Vom Roulett! Ich? Bei meinem Stande … Ich? Kommen Sie zur Besinnung, liebe Tante; Sie sind gewiß noch krank …«

»Na, du schwindelst, du schwindelst; bist gewiß vom Spieltisch gar nicht wegzukriegen; immer schwindelst du! Aber ich werde mir einmal ansehen, was es mit diesem Roulett für eine Bewandtnis hat, heute noch. Du, Praskowja, erzähle mir mal, was hier alles zu sehen ist, und auch Alexej Iwanowitsch da kann mich instruieren; und du, Potapytsch, notiere alle Orte, wo wir hinfahren sollen. Was ist hier zu sehen?« wandte sie sich plötzlich wieder an Polina.

»Hier in der Nähe ist eine Burgruine, und dann der Schlangenberg.«

»Was ist das, der Schlangenberg? Wohl ein Park, nicht wahr?«

»Nein, es ist nicht ein Park, sondern ein Berg. Da ist ein Aussichtspunkt, der höchste Punkt auf dem Berge, ein mit einem Geländer umgebener Platz. Von da hat man eine herrliche Aussicht.«

»Also soll ich meinen Stuhl auf den Berg tragen lassen? Werden sie ihn hinaufkriegen oder nicht?«

»Oh, Träger werden sich schon finden lassen«, erwiderte ich.

In diesem Augenblick näherte sich der alten Dame die Kinderfrau Fedosja, um sie zu begrüßen, und führte ihr auch die Kinder des Generals zu.

»Na, das Küssen laßt nur beiseite! Ich mag Kinder nicht küssen; alle Kinder haben Schmutznasen. Nun, wie geht es dir hier, Fedosja?«

»Hier ist es sehr, sehr schön, Mütterchen Antonida Wassiljewna«, antwortete Fedosja. »Wie ist es Ihnen denn gegangen, Mütterchen? Wir haben Sie so bedauert.«

»Ich weiß, du bist eine gute Seele. Was sind denn das hier für Leute bei euch, wohl alles Besuch, nicht wahr?« wandte sie sich wieder an Polina. »Wer ist denn der widerliche Mensch da mit der Brille?«

»Fürst Nilski, Großmütterchen«, flüsterte ihr Polina zu.

»Ach so, es ist ein Russe? Ich hatte gedacht, er verstände nicht, was ich sagte! Na, vielleicht hat er es nicht gehört. Mister Astley habe ich schon gesehen. Da ist er ja wieder«, fuhr sie fort, da sie seiner in diesem Augenblick ansichtig wurde. »Guten Tag!« wandte sie sich an ihn.

Mister Astley machte ihr schweigend eine Verbeugung.

»Nun, was werden Sie mir Gutes sagen? Sagen Sie doch etwas! Übersetze es ihm, Praskowja.«

Polina übersetzte es.

»Ich möchte also sagen: es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen, und ich freue mich, daß Sie sich in guter Gesundheit befinden«, antwortete Mister Astley ernsthaft und mit größter Bereitwilligkeit. Seine Worte wurden der Alten übersetzt und gefielen ihr offenbar sehr.

»Was doch die Engländer immer für nette Antworten geben«, bemerkte sie. »Ich habe die Engländer immer sehr gern gehabt; gar kein Vergleich mit dem Franzosenvolk! Besuchen Sie mich!« wandte sie sich wieder an Mister Astley. »Ich werde mich bemühen, Ihnen nicht allzu lästig zu fallen. Übersetze ihm das und sage ihm, daß ich hier unten wohne, hier unten, hören Sie wohl, unten, unten«, wiederholte sie für Mister Astley und zeigte dabei mit dem Finger nach unten.

Mister Astley war über die Einladung sehr erfreut.

Nun betrachtete die Tante mit einem aufmerksamen, zufriedenen Blick Polina vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ich würde dich sehr lieb haben«, sagte sie dann ohne weiteres, »du bist ein prächtiges Mädchen, besser als sie alle; aber einen eigentümlichen Charakter hast du, o weh, o weh! Na, ich habe ja auch meinen besonderen Charakter. Dreh dich mal um; hast du da auch nicht eine falsche Einlage im Haar?«

»Nein, Großmütterchen, es ist alles mein eigenes.«

»Na ja, die jetzige dumme Mode kann ich nicht leiden. Hübsch bist du. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in dich verlieben. Warum verheiratest du dich nicht? Na, aber nun habe ich keine Zeit mehr. Ich möchte eine Spaziertetour machen; dieses ewige Im-Waggon-Sitzen! … Nun, und du? Bist du immer noch böse?« wandte sie sich an den General.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sprechen wir nicht davon!« fiel der erfreute General schnell ein. »Ich verstehe vollkommen, daß, wer in Ihren Jahren steht …«

»Cette vieille est tombée en enfance«, flüsterte nur de Grieux zu.

»Ich will mir hier alles ansehen«, erklärte die Tante. Und zu dem General gewendet fügte sie hinzu: »Willst du mir Alexej Iwanowitsch abtreten?«

»Oh, so lange Sie wünschen. Aber ich könnte ja auch selbst … und Polina und Monsieur de Grieux … uns allen wird es ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten.«

»Mais, madame, cela sera un plaisir…«, beeilte sich de Grieux mit einem bezaubernden Lächeln hinzuzufügen.

»So, so, plaisir. Du kommst mir sehr komisch vor, Freundchen. Geld werde ich dir übrigens nicht geben«, fuhr sie, sich an den General wendend, unvermittelt fort. »Na, jetzt also nach meinem Logis; ich muß es doch in Augenschein nehmen; und dann wollen wir überallhin, wo es etwas zu sehen gibt. Na, nun hebt mich auf!«

Die Träger hoben sie wieder in die Höhe, und fast alle Anwesenden zogen in dichtem Haufen hinter dem Stuhl her die Treppe hinunter. Der General ging, als wäre er von einem Knittelschlag über den Kopf betäubt. De Grieux schien etwas zu überlegen. Mademoiselle Blanche hatte eigentlich zurückbleiben wollen, änderte dann aber ihre Absicht und schloß sich den andern an. Sofort folgte ihr auch der Fürst, und oben, in der Wohnung des Generals, blieben nur der Deutsche und Madame veuve Cominges zurück.

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Drittes Kapitel

Drittes Kapitel

Gestern aber sprach sie den ganzen Tag über mit mir nicht ein einziges Wort vom Spiel. Und überhaupt vermied sie es gestern, mit mir zu reden. Ihr früheres Benehmen gegen mich hatte keine Veränderung erfahren. Dieselbe völlige Gleichgültigkeit im Verkehr und bei Begegnungen und sogar eine gewisse Geringschätzung und eine Art von Haß. Überhaupt gibt sie sich keine Mühe, ihre Abneigung gegen mich zu verbergen; das sehe ich deutlich. Trotzdem verbirgt sie mir andrerseits auch nicht, daß sie mich zu irgendwelchem Zweck nötig hat und mich dazu aufspart. Es hat sich zwischen uns ein sonderbares Verhältnis herausgebildet, das mir in vieler Hinsicht unverständlich ist, wenn ich ihren Stolz und Hochmut allen gegenüber in Betracht ziehe. Sie weiß zum Beispiel, daß ich sie bis zur Raserei liebe, gestattet mir sogar, von meiner Leidenschaft zu sprechen, und sicherlich könnte sie mir ihre Geringschätzung durch nichts deutlicher ausdrücken, als eben durch diese Erlaubnis, frei und unbehindert zu ihr von meiner Liebe zu reden. Sie sagt damit gewissermaßen zu mir: »Ich schätze deine Gefühle so gering, daß es mir völlig gleichgültig ist, worüber du mit mir redest, und was du für mich empfindest.« Von ihren eigenen Angelegenheiten hat sie auch früher viel mit mir gesprochen, ist aber nie ganz offenherzig gewesen. Und nicht genug damit, in ihrer Geringschätzung gegen mich liegen auch noch gewisse Feinheiten: weiß sie zum Beispiel, daß mir irgendein Umstand ihres Lebens oder etwas von ihren Gemütsbewegungen bekannt ist, so erzählt sie mir unaufgefordert etwas von sich, wenn sie meiner irgendwie für ihre Zwecke zu Sklaven- oder Laufburschendiensten bedarf; aber sie erzählt mir immer nur gerade so viel, als jemand zu wissen nötig hat, der zu solchen Diensten benutzt wird, so daß mir der ganze Zusammenhang der Dinge noch unbekannt bleibt. Aber obgleich sie dann selbst sieht, welche Pein und Aufregung ich meinerseits über ihre Pein und Aufregung empfinde, so läßt sie sich doch nie dazu herab, mich durch freundschaftliche Offenherzigkeit zu beruhigen. Und doch wäre sie meiner Ansicht nach dazu verpflichtet, offenherzig gegen mich zu sein, da sie mich nicht selten zu recht mühevollen, ja gefährlichen Aufträgen benutzt. Ist es denn der Mühe wert, sich um meine Gefühle zu kümmern, sich darum zu kümmern, daß ich mich gleichfalls aufrege und mich vielleicht über ihre Sorgen und Nöte dreimal so sehr ängstige und quäle als sie selbst?

Ich wußte schon seit ungefähr drei Wochen von ihrer Absicht, am Roulett zu spielen. Sie hatte mir sogar angekündigt, ich müsse mit ihr zusammen spielen, weil es für sie selbst nicht schicklich sei zu spielen. An dem Ton, in dem sie sprach, hatte ich schon damals gemerkt, daß sie irgendeine ernste Sorge hatte und nicht etwa nur so einfach den Wunsch hegte, Geld zu gewinnen. Was liegt ihr denn an dem Geld an und für sich! Da muß eine bestimmte Absicht dahinterstecken, irgendwelche Umstände, die ich vielleicht erraten kann, bis jetzt aber nicht kenne. Natürlich könnte der Zustand der Erniedrigung und Sklaverei, in dem sie mich hält, mir die Möglichkeit geben (und er gibt sie mir wirklich sehr oft), sie dreist und geradezu selbst zu fragen. Da ich für sie ein Sklave bin und in ihren Augen nicht die geringste Bedeutung habe, so hat sie keinen Anlaß, sich durch meine dreiste Neugier beleidigt zu fühlen. Aber die Sache ist die, daß sie mir zwar erlaubt, Fragen zu stellen, sie aber nicht beantwortet. Manchmal beachtet sie sie überhaupt nicht. So stehen wir zueinander.

Gestern wurde bei uns viel von einem Telegramm gesprochen, das schon vor vier Tagen nach Petersburg abgeschickt, auf das aber noch keine Antwort eingegangen war. Der General ist sichtlich aufgeregt und mit seinen Gedanken beschäftigt. Es handelt sich natürlich um die alte Tante. Auch der Franzose ist in Aufregung. So sprachen sie gestern nach dem Mittagessen lange und ernst miteinander. Der Ton des Franzosen ist uns allen gegenüber sehr hochmütig und geringschätzig. Es geht hier genau nach dem Sprichwort: »Wenn man ihn an den Tisch nimmt, so legt er gleich die Füße darauf.« Sogar gegen Polina benimmt er sich geringschätzig bis zur Ungezogenheit; jedoch nimmt er mit Vergnügen an den gemeinsamen Spaziergängen im Kurpark und an den Ausflügen zu Pferde und zu Wagen in die Umgegend teil. Mir ist schon längst etwas von den Beziehungen bekannt, die zwischen dem Franzosen und dem General bestehen: in Rußland wollten sie zusammen eine Fabrik errichten; ich weiß nicht, ob das Projekt aufgegeben ist, oder ob sie noch immer davon sprechen. Außerdem ist mir zufällig ein Teil eines Familiengeheimnisses bekanntgeworden: der Franzose hat im vorigen Jahr dem General wirklich aus einer bösen Klemme geholfen, indem er ihm dreißigtausend Rubel gab zur Deckung eines Defizits bei den Staatsgeldern, das sich herausstellte, als der General sein Amt abgab. Und nun hat er natürlich den General im Schraubstock; jetzt aber, gerade jetzt spielt in allen diesen Dingen doch Mademoiselle Blanche die Hauptrolle, und ich bin überzeugt, daß ich auch hierin mich nicht irre.

Was ist diese Mademoiselle Blanche für eine Person? Hier bei uns wird gesagt, sie sei eine vornehme Französin, die mit ihrer Mutter zusammen lebe und ein kolossales Vermögen besitze. Es ist auch bekannt, daß sie eine Verwandte unseres Marquis ist, aber eine sehr entfernte Verwandte, eine weitläufige Cousine. Man sagt, vor meiner Abreise nach Paris hätten der Franzose und Mademoiselle Blanche sich gegeneinander weit förmlicher benommen und ihr Verkehr hätte sich in viel feinerer, gewählterer Form vollzogen; jetzt sähen ihre Bekanntschaft, Freundschaft und Verwandtschaft ungenierter und intimer aus. Vielleicht erscheint ihnen unsere Lage schon als dermaßen schlecht, daß sie es nicht für nötig erachten, vor uns erst noch viele Umstände zu machen und sich zu verstellen. Ich bemerkte schon vorgestern, daß Mister Astley Mademoiselle Blanche und ihre Mutter aufmerksam betrachtete. Es machte mir den Eindruck, als kenne er sie beide schon. Es schien mir auch, daß unser Franzose bereits früher mit Mister Astley zusammengetroffen sei. Indes ist Mister Astley so schüchtern, schwach und schweigsam, daß man sicher sein kann, er wird keine Indiskretion begehen. Wenigstens grüßt ihn der Franzose kaum und sieht ihn beinah nicht an, wonach anzunehmen ist, daß er sich nicht vor ihm fürchtet. Das kann man noch verstehen; aber warum sieht Mademoiselle Blanche ihn gleichfalls nicht an? Sie tat es nicht einmal, als der Marquis sich gestern verplapperte: bei einem Gespräch, an dem sich alle beteiligten, sagte er auf einmal, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß, Mister Astley sei kolossal reich, das wisse er; da jedenfalls hätte doch Mademoiselle Blanche Mister Astley ansehen müssen! Der General befindet sich fast immer in Unruhe. Es ist begreiflich, welche Bedeutung jetzt für ihn ein Telegramm über den Tod der Tante haben würde!

Es schien mir zwar, als ob Polina ein Gespräch mit mir absichtlich vermied; aber nun nahm auch ich meinerseits eine kühle, gleichgültige Miene an; ich meinte, sie werde sich mir allmählich doch wieder nähern. Dafür wandte ich gestern und heute meine Aufmerksamkeit vorzugsweise Mademoiselle Blanche zu. Der arme General, er ist ganz hin! Mit fünfundfünfzig Jahren sich so leidenschaftlich zu verlieben, das ist gewiß ein Unglück. Wenn man dazu noch seinen Witwerstand bedenkt und seine Kinder und seine total ruinierten Vermögensverhältnisse und seine Schulden und schließlich die Frauensperson, in die er sich verliebt hat! Mademoiselle Blanche ist eine schöne Erscheinung. Aber ich weiß nicht, ob man mich versteht, wenn ich sage: sie hat eines von den Gesichtern, vor denen man erschrecken kann. Ich wenigstens habe mich vor solchen Weibern immer gefürchtet. Sie ist wahrscheinlich ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Sie ist hochgewachsen und breitschultrig; ihre Schultern zeigen eine schöne Rundung, Hals und Brust sind prachtvoll, die Hautfarbe zwischen gelblich und bräunlich, das Haar dunkelschwarz und so reich und üppig, daß es für zwei Köpfe ausreichen würde. Die Augen sind schwarz, das Weiße darin gelblich, der Blick dreist, die Zähne sehr weiß, die Lippen immer pomadisiert; sie riecht nach Moschus. Sie kleidet sich auffallend, reich, eigenartig, aber mit viel Geschmack. Ihre Füße und Hände sind wundervoll. Ihre Stimme ist ein heiserer Alt. Mitunter lacht sie laut auf und zeigt dabei all ihre Zähne; aber gewöhnlich verhält sie sich schweigsam und blickt nur dreist um sich, wenigstens in Polinas und Marja Filippownas Gegenwart. (Ein sonderbares Gerücht: es heißt, Marja Filippowna werde wieder nach Rußland zurückfahren.) Wie mir scheint, ist Mademoiselle Blanche ohne alle Bildung, vielleicht sogar nicht einmal klug, aber dafür mißtrauisch und schlau. Ich vermute, daß ihr Leben nicht ohne Abenteuer gewesen ist. Wenn ich alles sagen soll, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß der Marquis vielleicht überhaupt nicht ihr Verwandter und ihre Mutter gar nicht ihre Mutter ist. Aber man glaubt zu wissen, daß sie und ihre Mutter in Berlin, wo wir mit ihnen zusammentrafen, einige anständige Bekanntschaften hatten. Was den Marquis selbst betrifft, so zweifle ich bis auf diesen Augenblick, daß er ein Marquis ist; aber daß er zur anständigen Gesellschaft gerechnet wird, sowohl bei uns, zum Beispiel in Moskau, als auch an manchen Orten Deutschlands, unterliegt, wie es scheint, keinem Zweifel. Ich weiß nicht, was er eigentlich in Frankreich vorstellt; es heißt, er besitze dort ein Château. Ich hatte vor meiner Abreise geglaubt, es werde in diesen vierzehn Tagen sich mancherlei zutragen, weiß aber immer noch nicht sicher, ob zwischen Mademoiselle Blanche und dem General ein entscheidendes Wort gesprochen ist. Alles hängt jetzt von unserer Lage ab, das heißt davon, ob der General ihnen viel Geld zeigen kann. Wenn zum Beispiel die Nachricht käme, daß die alte Tante nicht gestorben sei, so würde (davon bin ich überzeugt) Mademoiselle Blanche sofort verschwinden. Es ist mir selbst erstaunlich und lächerlich, was ich für eine Klatschschwester geworden bin. Oh, wie ekelhaft mir das alles ist! Mit welchem Vergnügen würde ich mich von all diesen Menschen und von all diesen Verhältnissen losmachen! Aber kann ich denn von Polina weggehen? Kann ich es denn unterlassen, um sie herum zu spionieren? Gewiß, das Spionieren ist etwas Gemeines; aber was kümmert mich das?

Interessant war mir gestern und heute auch Mister Astley. Ja, ich bin überzeugt, daß er in Polina verliebt ist! Es ist merkwürdig und lächerlich, wieviel manchmal der Blick eines schüchternen, reinen und keuschen Menschen, den die Liebe ergriffen hat, ausdrücken kann, namentlich in Augenblicken, wo der Betreffende lieber in die Erde versinken als durch ein Wort oder einen Blick etwas verraten möchte. Mister Astley begegnet uns sehr oft bei Spaziergängen. Er nimmt den Hut ab und geht vorbei, obgleich er natürlich von dem sehnsüchtigen Wunsch, sich uns anzuschließen, gequält wird. Wenn er dazu aufgefordert wird, lehnt er sofort ab. An Erholungsorten, im Kurhaus, bei der Musik oder bei der Fontäne, steht er mit Sicherheit irgendwo in der Nähe unserer Bank, und wo wir auch immer sind, im Park oder im Wald oder auf dem Schlangenberg, brauchen wir nur die Augen aufzumachen und uns umzuschauen, um unfehlbar irgendwo, entweder auf dem nächsten Steig oder hinter einem Gebüsch, ein Stückchen von Mister Astley zu erblicken. Es kommt mir vor, als suche er eine Gelegenheit, mit mir allein zu reden. Heute früh begegneten wir einander und wechselten einige Worte. Er spricht mitunter ganz ohne Zusammenhang. Kaum hatte er guten Tag gesagt, da fuhr er fort:

»Ah, Mademoiselle Blanche!… Ich habe schon viele solche Damen kennengelernt wie Mademoiselle Blanche!« Dann schwieg er und sah mich bedeutsam an. Was er damit sagen wollte, weiß ich nicht; denn auf meine Frage, was das heißen solle, nickte er nur schlau lächelnd mit dem Kopf und fügte hinzu: »Ja, ja, so ist das… Hat Mademoiselle Polina Freude an Blumen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich kann es schlechterdings nicht sagen.«

»Wie? Das wissen Sie nicht einmal?« rief er mit dem größten Erstaunen.

»Ich weiß es nicht, ich habe gar nicht darauf geachtet«, wiederholte ich lachend.

»Hm, das bringt mich auf einen besonderen Gedanken.«

Nach diesen Worten nickte er mit dem Kopf und ging weiter. Übrigens machte er ein zufriedenes Gesicht. Unser Gespräch war in einem schrecklichen Französisch geführt worden.

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Viertes Kapitel

Viertes Kapitel

Heute war ein komischer, sinnloser, verrückter Tag. Jetzt ist es elf Uhr nachts. Ich sitze in meinem Zimmerchen und überdenke das Geschehene. Es fing damit an, daß ich mich am Morgen genötigt sah, zum Roulett zu gehen, um für Polina Alexandrowna zu spielen. Ich nahm zu diesem Zwecke ihre ganzen hundertsechzig Friedrichsdor von ihr in Empfang, aber unter zwei Bedingungen: erstens, ich wolle mit ihr nicht auf Halbpart spielen, das heißt, im Falle des Gewinnens wolle ich nichts für mich nehmen, und zweitens, Polina solle mir am Abend Aufklärung darüber geben, wozu sie es eigentlich so nötig habe, Geld zu gewinnen, und wieviel Geld sie haben müsse. Ich konnte mir doch gar nicht vorstellen, daß dabei das Geld ihr letzter Zweck sein sollte. Offenbar war da irgendein besonderer Zweck, zudem sie das Geld nötig hatte, und zwar mit solcher Eile. Sie versprach, mir die verlangte Aufklärung zu geben, und ich ging hin.

In den Spielsälen herrschte ein furchtbares Gedränge. Wie unverschämt und gierig all diese Leute aussahen! Ich drängte mich nach der Mitte hindurch und kam dicht neben einen Croupier zu stehen. Dann probierte ich das Spielen schüchtern, indem ich jedesmal zwei oder drei Goldstücke setzte. Währenddessen stellte ich meine Beobachtungen an und bemerkte dies und das; es schien mir, daß die Berechnungen eigentlich herzlich wenig zu bedeuten haben und ganz und gar nicht die Wichtigkeit besitzen, die ihnen viele Spieler beimessen. Sie sitzen mit liniierten Papierblättern da, notieren die einzelnen Resultate, zählen, folgern daraus Chancen, rechnen, setzen endlich und – verlieren gerade ebenso wie wir gewöhnlichen Sterblichen, die wir ohne Berechnung spielen.

Dafür aber abstrahierte ich mir eine Regel, die ich für richtig halte: im Laufe der zufälligen Einzelresullate ergibt sich tatsächlich wenn auch nicht ein bestimmtes System, so doch eine gewisse Ordnung – was doch gewiß sehr seltsam ist. Es kommt zum Beispiel vor, daß nach den zwölf mittleren Zahlen die zwölf letzten herankommen; es trifft, sagen wir, zweimal diese letzten zwölf und geht dann auf die zwölf ersten über. Nachdem die zwölf ersten daran gewesen sind, geht es wieder auf die zwölf mittleren über, trifft drei-, viermal hintereinander auf die mittleren und geht wieder auf die zwölf letzten über, von wo es, wieder nach zwei Malen, zu den ersten übergeht; es trifft wieder einmal auf die ersten und geht wieder für drei Treffer zu den mittleren über, und so setzt sich das anderthalb oder zwei Stunden lang fort. Eins, drei, zwei; eins, drei, zwei. Das ist sehr interessant. An manchem Tag oder an manchem Morgen geht es so, daß Rot und Schwarz fast ohne jede Ordnung alle Augenblicke miteinander abwechseln, so daß nie mehr als zwei oder drei Treffer hintereinander auf Rot oder auf Schwarz fallen. An einem andern Tag oder an einem andern Abend kommt oftmals hintereinander, vielleicht bis zu zweiundzwanzig Malen, nur eine der beiden Farben, und dann erst wieder die andere, und so geht das unweigerlich längere Zeit hindurch, etwa einen ganzen Tag über. Vieles auf diesem Gebiet erklärte mir Mister Astley, der den ganzen Vormittag über bei den Spieltischen stand, aber selbst nicht ein einziges Mal setzte. Was mich betrifft, so verlor ich alles, alles, und zwar sehr schnell. Ich setzte ohne weiteres mit einemmal zwanzig Friedrichsdor auf Paar und gewann; ich setzte wieder und gewann wieder, und so noch zwei- oder dreimal. Ich glaube, es hatten sich in etwa fünf Minuten gegen vierhundert Friedrichsdor in meinen Händen angesammelt. Nun hätte ich weggehen sollen; aber es war in mir eine seltsame Empfindung rege geworden, der Wunsch, gewissermaßen das Schicksal herauszufordern, ein Verlangen, ihm sozusagen einen Nasenstüber zu geben und die Zunge herauszustrecken. Ich setzte den höchsten erlaubten Satz von viertausend Gulden und verlor. Hitzig geworden, zog ich alles heraus, was mir geblieben war, setzte es auf dieselbe Stelle und verlor wieder, worauf ich wie betäubt vom Tisch zurücktrat. Ich konnte gar nicht fassen, was mir widerfahren war, und machte Polina Alexandrowna von meinem Verlust erst kurz vor dem Mittagessen Mitteilung. Bis dahin war ich im Park umhergeirrt. Bei Tisch befand ich mich wieder in erregter Stimmung, ebenso wie zwei Tage vorher. Der Franzose und Mademoiselle Blanche speisten wieder mit uns. Es kam zur Sprache, daß Mademoiselle Blanche am Vormittag in den Spielsälen gewesen war und mein kühnes Spiel mitangesehen hatte. Sie erwies mir diesmal im Gespräch etwas mehr Aufmerksamkeit. Der Franzose schlug ein kürzeres Verfahren ein und fragte mich geradezu, ob das mein eigenes Geld gewesen sei, das ich verloren hätte. Mir scheint, er hat Polina im Verdacht. Kurz, da steckt etwas dahinter. Ich log ohne Zaudern und sagte, es sei das meinige gewesen. Der General wunderte sich sehr, woher ich so viel Geld gehabt hätte. Ich sagte zur Erklärung, ich hätte mit zehn Friedrichsdor angefangen; sechs oder sieben glückliche Treffer nacheinander, bei jedesmaliger Verdoppelung des Einsatzes, hätten mich bis auf fünf- oder sechstausend Gulden gebracht, und dann hätte ich alles auf zwei Einsätze wieder eingebüßt. All dies klang ja wahrscheinlich. Während ich diese Erklärung vortrug, warf ich einen Blick nach Polina, konnte aber aus ihrem Gesicht keinen besonderen Ausdruck erkennen. Aber sie ließ mich doch lügen, ohne mich zu korrigieren; daraus schloß ich, daß ich in ihrem Sinne gehandelt hatte, wenn ich log und es verheimlichte, daß ich für sie gespielt hatte. In jedem Fall, dachte ich bei mir, ist sie verpflichtet, mir Aufklärung zu geben; sie hat mir ja vor kurzem versprochen, mir einiges zu enthüllen.

Ich dachte, der General würde mir irgendeine Bemerkung machen; indes er sehwieg. Wohl aber bemerkte ich auf seinem Gesicht eine gewisse Erregung und Unruhe. Vielleicht war es ihm in seinen bedrängten Verhältnissen lediglich eine schmerzliche Empfindung, zu hören, daß ein so erklecklicher Haufe Gold innerhalb einer Viertelstunde einem so unpraktischen Dummkopf wie mir zugefallen und dann wieder entglitten war.

Ich vermute, daß er gestern abend mit dem Franzosen ein scharfes Renkontre gehabt hat. Sie sprachen hinter verschlossenen Türen lange und hitzig miteinander über irgend etwas. Der Franzose ging anscheinend in gereizter Stimmung weg, kam aber heute frühmorgens wieder zum General, wahrscheinlich um das gestrige Gespräch fortzusetzen.

Als der Franzose von meinem Spielverlust hörte, bemerkte er, zu mir gewendet, in scharfem und geradezu boshaftem Ton, ich hätte verständiger sein sollen. Ich weiß nicht, weshalb er noch hinzufügte, es spielten zwar viele Russen, nach seiner Meinung verständen die Russen aber gar nicht zu spielen.

»Aber nach meiner Meinung«, sagte ich, »ist das Roulett geradezu für die Russen erfunden.«

Und als der Franzose über meine Antwort geringschätzig lächelte, bemerkte ich ihm, die Wahrheit sei entschieden auf meiner Seite; denn wenn ich von der Neigung der Russen zum Spiel spräche, so sei das weit mehr ein Tadel als ein Lob, und deshalb könne man es mir glauben.

»Worauf gründen Sie denn Ihre Meinung?« fragte der Franzose.

»Meine Begründung ist folgende. In den Katechismus der Tugenden und Vorzüge, der im zivilisierten westlichen Europa gilt, hat infolge der historischen Entwicklung auch die Fähigkeit, Kapitalien zu erwerben, Aufnahme gefunden, ja sie bildet darin beinahe das wichtigste Hauptstück. Aber der Russe ist nicht nur unfähig, Kapitalien zu erwerben, sondern er vergeudet sie auch, wenn er sie besitzt, in ganz sinnloser und unverständiger Weise. Dennoch«, fuhr ich fort, »brauchen auch wir Russen Geld, und infolgedessen greifen wir mit freudiger Gier nach solchen Mitteln wie das Roulett, wo man in der Zeit von zwei Stunden, ohne sich anzustrengen, reich werden kann. Das hat für uns einen großen Reiz; und da wir nun unbedachtsam und ohne rechte Bemühung spielen, so ruinieren wir uns durch das Spiel völlig.«

»Daran ist etwas Wahres«, bemerkte der Franzose selbstzufrieden.

»Nein, das ist nicht wahr, und Sie sollten sich schämen, so über Ihr Vaterland zu reden«, sagte der General in strengem, nachdrücklichem Ton.

»Aber ich bitte Sie«, antwortete ich ihm, »es ist ja noch nicht ausgemacht, was garstiger ist: das russische wüste Wesen oder die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzu- bringen.«

»Was für ein sinnloser Gedanke!« rief der General.

»Ein echt russischer Gedanke!« rief der Franzose.

Ich lachte; ich hatte die größte Lust, sie beide ein bißchen zu reizen.

»Ich meinerseits«, sagte ich, »möchte lieber mein ganzes Leben lang mit den Kirgisen als Nomade umherziehen und mein Zelt mit mir führen, als das deutsche Idol anbeten.«

»Was für ein Idol?« fragte der General, der schon anfing, ernstlich böse zu werden.

»Die deutsche Art, Reichtümer zusammenzuscharren. Ich bin noch nicht lange hier; aber was ich bemerkt und beobachtet habe, erregt mein tatarisches Blut. Bei Gott, solche Tugenden wünsche ich mir nicht! Ich bin hier gestern zehn Werst weil umhergegangen: es ist ganz ebenso wie in den moralischen deutschen Bilderbüchern. Überall, in jedem Hause, gibt es hier einen Hausvater, der furchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihm näherzutreten. Ich kann solche redlichen Leute nicht ausstehen, denen näherzutreten man sich fürchten muß. Jeder derartige Hausvater hat eine Familie, und abends lesen alle einander laut belehrende Bücher vor. Über dem Häuschen rauschen Ulmen und Kastanien. Sonnenuntergang, auf dem Dach ein Storch, alles höchst rührend und poetisch… Werden Sie nur nicht böse, General; lassen Sie mich nur von solchen rührsamen Dingen reden! Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit, wie mein seliger Vater ebenfalls unter den Lindenbäumen im Vorgärtchen abends mir und meiner Mutter solche Büchelchen vorlas; ich habe daher über dergleichen selbst ein richtiges Urteil. Nun also, so lebt hier jede solche Familie beim Hausvater in vollständiger Knechtschaft und Untertänigkeit. Alle arbeiten wie die Ochsen, und alle scharren Geld zusammen wie die Juden. Gesetzt, ein Vater hat schon eine bestimmte Menge Gulden zusammengebracht und beabsichtigt, dem ältesten Sohn sein Geschäft oder sein Stückchen Land zu übergeben; dann erhält aus diesem Grunde die Tochter keine Mitgift und muß eine alte Jungfer werden, und den jüngeren Sohn verkaufen sie als Knecht oder als Soldaten und schlagen den Erlös zum Familienkapital. Wirklich, so geht das hier zu; ich habe mich erkundigt. All das geschieht nur aus Redlichkeit, aus übertriebener Redlichkeit, dergestalt, daß auch der jüngere, verkaufte Sohn glaubt, man habe ihn nur aus Redlichkeit verkauft; und das ist doch ein idealer Zustand, wenn das Opfer selbst sich darüber freut, daß es zum Schlachten geführt wird. Und nun weiter. Auch der ältere Sohn hat es nicht leicht: da hat er so eine Amalia, mit der er herzenseins ist; aber heiraten kann er sie nicht, weil noch nicht genug Gulden zusammengescharrt sind. Nun warten sie gleichfalls treu und sittsam und gehen mit einem Lächeln zur Schlachtbank. Amalias Wangen fallen schon ein, und sie trocknet zusammen. Endlich, nach etwa zwanzig Jahren, hat das Vermögen die gewünschte Höhe erreicht; die richtige Anzahl von Gulden ist auf redliche, tugendhafte Weise erworben. Der Vater segnet seinen vierzigjährigen ältesten Sohn und die fünfunddreißigjährige Amalia mit der eingetrockneten Brust und der roten Nase. Dabei weint er, hält eine moralische Ansprache und stirbt. Der Älteste verwandelt sich nun selbst in einen tugendhaften Vater, und es beginnt wieder dieselbe Geschichte von vorn. Nach etwa fünfzig oder siebzig Jahren besitzt der Enkel des ersten Vaters wirklich schon ein ansehnliches Kapital und übergibt es seinem Sohn, dieser dem seinigen, der wieder dem seinigen, und nach fünf oder sechs Generationen ist das Resultat so ein Baron Rothschild oder Hoppe & Co. oder etwas Ähnliches. Nun, ist das nicht ein erhebendes Schauspiel: hundert- oder zweihundertjährige sich vererbende Arbeit, Geduld, Klugheit, Redlichkeit, Charakterfestigkeit, Ausdauer, Sparsamkeit, der Storch auf dem Dach! Was wollen Sie noch weiter? Etwas Höheres als dies gibt es ja nicht, und in dieser Überzeugung sitzen die Deutschen selbst über die ganze Welt zu Gericht, und wer da schuldig befunden wird, das heißt ihnen irgendwie unähnlich ist, über den fällen sie sofort ein Verdammungsurteil. Also, wovon wir sprachen: ich ziehe es vor, auf russische Manier ein ausschweifendes Leben zu führen oder meine Vermögensverhältnisse beim Roulett aufzubessern; ich will nicht nach fünf Generationen Hoppe & Co. sein. Geld brauche ich für mich selbst; ich bin mir Selbstzweck und nicht nur ein zur Kapitalbeschaffung notwendiger Apparat. Ich weiß, daß ich viel törichtes Zeug zusammengeredet habe; aber wenn auch, das ist nun einmal meine Überzeugung.«

»Ich weiß nicht, ob von dem, was Sie gesagt haben, viel richtig ist«, bemerkte der General nachdenklich. »Aber das weiß ich sicher, daß Sie sich sofort in einer unerträglichen Weise aufspielen, wenn man Ihnen auch nur im geringsten …«

Nach seiner Gewohnheit brachte er den Satz nicht zu Ende. Wenn unser General von etwas zu sprechen anfängt, das einen auch nur ein klein wenig tieferen Inhalt hat als die gewöhnlichen, alltäglichen Gespräche, so redet er nie zu Ende. Der Franzose hatte, die Augen etwas aufreißend, nachlässig zugehört und von dem, was ich gesagt hatte, fast nichts verstanden. Polina blickte mit einer Art von hochmütiger Gleichgültigkeit vor sich hin. Es schien, als seien nicht nur meine Auseinandersetzungen, sondern überhaupt alles, was diesmal bei Tisch gesprochen war, ungehört an ihrem Ohr vorbeigegangen.

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Fünftes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sie war ungewöhnlich nachdenklich; aber unmittelbar nachdem wir vom Tisch aufgestanden waren, forderte sie mich auf, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Wir nahmen die Kinder mit und begaben uns in den Park zur Fontäne.

Da ich mich in besonders erregter Stimmung befand, so platzte ich dumm und plump mit der Frage heraus, warum denn unser Marquis des Grieux, der kleine Franzose, sie jetzt auf ihren Ausgängen gar nicht mehr begleite, ja ganze Tage lang nicht mir ihr spreche.

»Weil er ein Lump ist«, war ihre sonderbare Antwort.

Ich hätte noch nie von ihr eine solche Äußerung über de Grieux gehört und schwieg dazu, weil ich mich davor fürchtete, den Grund dieser Gereiztheit zu erfahren.

»Haben Sie wohl bemerkt«, fragte ich, »daß er sich heute mit dem General nicht in gutem Einvernehmen befand?«

»Sie möchten gern wissen, was vorliegt«, erwiderte sie in trockenem, gereiztem Ton. »Sie wissen, daß der General bei ihm tief in Schulden steckt; das ganze Gut ist ihm verpfändet, und wenn die alte Tante nicht stirbt, so gelangt der Franzose in kürzester Zeit in den Besitz alles dessen, was ihm verpfändet ist.«

»Also ist das wirklich wahr, daß alles verpfändet ist? Ich hatte so etwas gehört, wußte aber nicht, daß es sich dabei um das ganze Besitztum handelt.«

»Allerdings.«

»Unter diesen Umständen ist es dann wohl mit Mademoiselle Blanche nichts«, bemerkte ich. »Dann wird sie nicht Generalin werden. Wissen Sie, ich glaube, der General ist so verliebt, daß er sich am Ende gar erschießt, wenn Mademoiselle Blanche ihm den Laufpaß gibt. In seinen Jahren ist es gefährlich, sich so zu verlieben.«

»Ich fürchte selbst, daß mit ihm noch etwas passiert«, erwiderte Polina Alexandrowna nachdenklich.

»Und eigentlich«, rief ich, »ist es doch prachtvoll: einen handgreiflicheren Beweis dafür kann es ja gar nicht geben, daß sie nur das Geld heiraten wollte! Nicht einmal der Anstand ist hier gewahrt worden; alles ist ganz ungeniert vorgegangen. Erstaunlich! Aber was die Tante betrifft, was kann komischer und gemeiner sein als ein Telegramm nach dem anderen abzusenden und sich zu erkundigen: ›Ist sie gestorben, ist sie gestorben?‹ Wie gelallt Ihnen das, Polina Alexandrowna?«

»Das ist ja alles dummes Zeug«, unterbrach sie mich verdrossen. »Ich wundere mich im Gegenteil darüber, daß Sie in so heiterer Stimmung sind. Worüber freuen Sie sich denn so? Etwa darüber, daß Sie mein Geld verspielt haben?«

»Warum haben Sie es mir zum Verspielen gegeben? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich für andere nicht spielen kann, und am allerwenigsten für Sie. Ich gehorche jedem Befehl, den Sie mir erteilen; aber das Resultat hängt nicht von mir ab. Ich habe Sie ja gewarnt und darauf hingewiesen, daß dabei nichts Gutes herauskommen werde. Sagen Sie, sind Sie sehr niedergeschlagen, weil Sie soviel Geld verloren haben? Wozu brauchen Sie denn so viel?«

»Wozu diese Fragen?«

»Aber Sie haben mir doch selbst versprochen, mir Aufklärung zu geben… Wissen Sie was: ich bin fest überzeugt, wenn ich für mich selbst zu spielen anfange (und ich habe zwölf Friedrichsdor), so werde ich gewinnen. Dann, bitte, nehmen Sie von mir an, soviel Sie brauchen!«

Sie machte eine verächtliche Miene.

»Nehmen Sie mir diesen Vorschlag nicht übel!« fuhr ich fort. »Ich bin völlig durchdrungen von dem Bewußtsein, daß ich in Ihren Augen eine Null bin; daher können Sie ruhig von mir Geld annehmen. Ein Geschenk von mir kann Sie nicht beleidigen. Überdies habe ich Ihnen ja Ihr Geld ver- spielt.«

Sie richtete einen schnellen Blick auf mich, und da sie meinen gereizten, sarkastischen Gesichtsausdruck bemerkte, brach sie das Gespräch über diesen Punkt wieder ab.

»An meinen Umständen kann Sie nichts interessieren. Wenn Sie es wissen wollen: ich habe einfach Schulden. Ich habe mir Geld geliehen und möchte es gern zurückgeben. Da kam ich auf den seltsamen, sinnlosen Gedanken, ich würde hier am Spieltisch sicher gewinnen. Woher ich das dachte, das begreife ich selbst nicht; aber ich glaubte es fest. Wer weiß, vielleicht glaubte ich es deshalb, weil mir keine andere Chance blieb.«

»Oder weil bei Ihnen das Bedürfnis zu gewinnen schon zu groß war. Es ist dieselbe Geschichte wie mit dem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift. Sie werden zugeben: wenn er nicht nahe am Ertrinken wäre, würde er den Strohhalm nicht für einen Baumast halten.«

Polina war erstaunt.

»Aber sie selbst setzen doch auch Ihre Hoffnung darauf?« fragte sie. »Vor vierzehn Tagen haben Sie mir doch selbst lang und breit auseinandergesetzt, Sie seien vollständig davon überzeugt, hier am Roulett zu gewinnen, und haben mich inständig gebeten, ich möchte Sie nicht für einen Irrsinnigen ansehen. Oder haben Sie damals nur gescherzt? Aber ich erinnere mich, Sie sprachen so ernsthaft, daß es ganz unmöglich war, es für Scherz zu halten.«

»Das ist wahr«, antwortete ich nachdenklich. »Ich bin bis auf diesen Augenblick völlig davon überzeugt, daß ich gewinnen werde. Ich will Ihnen sogar gestehen, Sie haben mich soeben veranlaßt, mir die Frage vorzulegen: wie geht es zu, daß mein heutiger sinnloser, häßlicher Verlust in mir keinen Zweifel hat rege werden lassen? Denn trotz alledem bin ich vollständig überzeugt, daß, sowie ich anfange für mich selbst zu spielen, ich unfehlbar gewinnen werde.«

»Warum sind Sie denn davon so fest überzeugt?«

»Die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich gewinnen muß, daß dies auch für mich die einzige Rettung ist. Vielleicht ist das für mich der Grund zu glauben, daß mir ein guter Erfolg sicher ist.«

»Also ist auch bei Ihnen die Notlage sehr arg, wenn Sie eine so fanatische Überzeugung hegen?«

»Ich möchte wetten, Sie zweifeln daran, daß ich für eine ernstliche Notlage ein Empfindungsvermögen habe?«

»Das ist mir ganz gleich«, antwortete Polina ruhig und in gleichgültigem Ton. »Wenn Sie es hören wollen: ja, ich zweifle, daß sie jemals eine ernsthafte Not gequält hat. Auch Sie mögen dies und das haben, was Sie quält, aber nicht ernsthaft. Sie sind ein unordentlicher, haltloser Mensch. Wozu haben Sie Geld nötig? Unter all den Gründen, die Sie mir damals anführten, habe ich keinen einzigen ernsthaften gefunden.«

»Apropos«, unterbrach ich sie, »Sie sagten, Sie müßten eine Schuld zurückzahlen. Nun gut, also eine Schuld. Wem sind Sie denn schuldig? Dem Franzosen?«

»Was sind das für Fragen? Sie sind heute besonders dreist. Sie sind doch wohl nicht betrunken?«

»Sie wissen, daß ich mir erlaube, alles zu sagen, was mir in den Sinn kommt, und mitunter sehr offenherzig frage. Ich wiederhole es Ihnen, ich bin Ihr Sklave, und vor einem Sklaven schämt man sich nicht, und ein Sklave kann einen nicht beleidigen.«

»Das ist lauter dummes Zeug! Ihr Gerede vom Sklaven ist mir zuwider.«

»Beachten Sie, daß ich von meiner Sklaverei nicht deshalb spreche, weil ich den Wunsch hätte, Ihr Sklave zu sein; sondern ich spreche ganz einfach von einer Tatsache, die gar nicht von meinem Willen abhängt.«

»Sagen Sie doch geradezu: wozu brauchen Sie Geld?«

»Wozu möchten Sie das wissen?« fragte ich zurück.

»Wie Sie wollen«, antwortete sie mit einer stolzen Kopfbewegung.

»Das Gerede vom Sklaven ist Ihnen zuwider; aber die Sklaverei verlangen Sie: ›Antworten, ohne zu räsonieren!‹ Nun gut, meinetwegen! Wozu ich Geld brauche, fragen Sie? Wozu? Nun, für Geld ist doch alles zu haben.«

»Das weiß ich recht wohl; aber wenn jemand es sich nur so ganz im allgemeinen wünscht, so wird er nicht in solchen Wahnsinn hineingeraten! Sie sind ja ebenfalls schon bis zur Raserei gekommen, bis zum Fatalismus. Da steckt etwas dahinter, irgendein besonderer Zweck. Sprechen Sie ohne Ausflüchte; ich verlange das von Ihnen!«

Sie schien zornig zu werden, und ich war sehr zufrieden damit, daß sie mich in so erregter Art ausfragte.

»Natürlich habe ich dabei einen Zweck«, sagte ich, »aber ich weiß nicht näher zu erklären, worin er besteht. Ich kann weiter nichts sagen, als daß ich mit Geld auch in Ihren Augen ein anderer Mensch werde und kein Sklave mehr bleibe.«

»Wie können Sie das erreichen?«

»Wie ich das erreichen kann? Sie können sich nicht einmal vorstellen, daß ich das erreichen kann, von Ihnen für etwas anderes als für einen Sklaven angesehen zu werden? Sehen Sie, eben das kann ich nicht leiden, diese Verwunderung und Verständnislosigkeit!«

»Sie sagten, diese Sklaverei sei für Sie ein Genuß. Und das habe ich auch selbst geglaubt.«

»Sie haben das geglaubt!« rief ich mit einem eigenartigen Wonnegefühl. »Ach, wie hübsch ist diese Naivität von Ihrer Seite! Ja, ja, Ihr Sklave zu sein, das ist mir ein Genuß. Es liegt wirklich ein Genuß darin, auf der untersten Stufe der Erniedrigung und Herabwürdigung zu stehen!« fuhr ich in meiner aufgeregten Rederei fort. »Wer weiß, vielleicht gewährt auch die Knute einen Genuß, wenn sie auf den Rücken niedersaust und das Fleisch in Fetzen reißt … Aber möglicherweise beabsichtige ich auch andere Genüsse kennenzulernen. Eben erst hat mir der General für die siebenhundert Rubel jährlich, die ich vielleicht gar nicht von ihm bekommen werde, in Ihrer Gegenwart bei Tisch Vorhaltungen gemacht. Der Marquis de Grieux starrt mich mit emporgezogenen Augenbrauen an und bemerkt mich gleichzeitig nicht einmal. Vielleicht hege ich meinerseits den leidenschaftlichen Wunsch, den Marquis de Grieux in Ihrer Gegenwart bei der Nase zu nehmen!«

»Das sind Reden eines unreifen jungen Menschen. In jeder Lebenslage kann man sich eine würdige Stellung schaffen. Wenn das einen Kampf kostet, so erniedrigt ein solcher Kampf den Menschen nicht, sondern er dient sogar dazu, ihn zu erhöhen.«

»Ganz wie die Vorschriften im Schreibheft! Sie nehmen an. ich verstände vielleicht nur nicht, mir eine würdige Stellung zu schaffen, das heißt, es möge ja immerhin sein, daß ich ein Mensch sei, der eine gewisse Würde besitze; aber mir eine würdige Stellung zu schaffen, das verstände ich nicht. Sie sehen ein, daß es so sein kann? Aber alle Russen sind von dieser Art, und wissen Sie, warum? Weil die Russen zu reich und vielseitig begabt sind, um für ihr Benehmen schnell die anständige Form zu finden. Hier kommt alles auf die Form an. Wir Russen sind größtenteils so reich begabt, daß wir, um die anständige Form zu treffen, Genialität nötig hätten. Aber an Genialität fehlt es bei uns freilich sehr oft, weil die überhaupt nur selten vorkommt. Nur bei den Franzosen und vielleicht auch bei einigen anderen europäischen Völkern hat sich die Form so bestimmt herausgebildet, daß man höchst würdig aussehen und dabei der unwürdigste Mensch sein kann. Deshalb wird bei ihnen auf die Form auch so viel Wert gelegt. Der Franzose erträgt eine Beleidigung, eine wirkliche, ernste Beleidigung, ohne die Stirn kraus zu ziehen; aber einen Nasenstüber läßt er sich um keinen Preis gefallen, weil das eine Verletzung der konventionellen, für alle Zeit festgesetzten Form des Auslands ist. Daher sind auch unsere Damen in die Franzosen so vernarrt, weil diese so gute Formen haben. Oder richtiger: zu haben scheinen; denn meiner Ansicht nach besitzt der Franzose eigentlich gar keine Form, sondern ist lediglich ein Hahn, le coq gaulois. Indessen verstehe ich davon nichts; ich bin kein Frauenzimmer. Vielleicht sind die Hähne wirklich schön. Aber ich bin da in ein törichtes Schwatzen hineingeraten, und Sie unterbrechen mich auch nicht. Unterbrechen Sie mich nur öfter, wenn ich mit Ihnen rede; denn ich neige dazu, alles herauszusagen, alles, alles. Es kommt mir dabei all und jede Form abhanden. Ich gebe sogar zu, daß ich nicht nur keine Form besitze, sondern auch keinerlei wertvolle Eigenschaften. Das spreche ich Ihnen gegenüber offen aus. Es ist mir an derartigen Eigenschaften auch gar nichts gelegen. Jetzt ist in meinem Innern alles ins Stocken geraten. Sie wissen selbst, woher. Ich habe keinen einzigen verständigen Gedanken im Kopf. Ich weiß schon seit langer Zeit nicht mehr, was in der Welt passiert, in Rußland oder hier. Ich bin durch Dresden hindurchgefahren und kann mich nicht erinnern, wie diese Stadt aussieht. Sie wissen selbst, was mich so vollständig absorbiert hat. Da ich gar keine Hoffnung habe und in Ihren Augen eine Null bin, so rede ich offen: ich sehe überall nur Sie, und alles übrige ist mir gleichgültig. Warum ich Sie liebe, und wie das so gekommen ist – ich weiß es nicht. Wissen Sie wohl, daß Sie vielleicht überhaupt nicht gut sind? Denken Sie nur an: ich weiß gar nicht, so Sie gut sind oder nicht, nicht einmal, ob Sie schön von Gesicht sind. Ihr Herz ist wahrscheinlich nicht gut und Ihre Denkweise nicht edel; das ist gut möglich.«

»Vielleicht spekulieren Sie eben deswegen darauf, mich mit Geld zu erkaufen«, sagte sie, »weil Sie bei mir keine edle Gesinnung voraussetzen.«

»Wann habe ich darauf spekuliert, Sie mit Geld zu erkaufen?« rief ich.

»Sie sind aus dem Konzept gefallen und haben mehr gesagt, als Sie eigentlich sagen wollten. Wenn Sie nicht mich selbst zu erkaufen hofften, so dachten Sie doch, meine Achtung sich durch Geld zu erwerben.«

»Nicht doch, es ist ganz und gar nicht so. Ich habe Ihnen gesagt, daß es mir schwerfällt, mich klar auszudrücken. Ihre Anwesenheit nimmt mir die Denkkraft. Seien Sie über mein Geschwätz nicht böse! Sie sehen ja wohl, warum man mir nicht zürnen kann: ich bin eben ein Wahnsinniger. Übrigens ist mir alles gleich; meinetwegen mögen Sie mir auch zürnen. Wenn ich bei mir oben m meinem Zimmerchen bin und mich nur an das Rascheln Ihres Kleides erinnere und mir das vorstelle, dann möchte ich mir die Hände zerbeißen. Und warum wollen Sie mir böse sein? Weil ich mich als Ihren Sklaven bezeichne? Nutzen Sie meine Dienste aus; ja, tun Sie das! Wissen Sie auch, daß ich Sie später einmal töten werde? Ich werde Sie töten, nicht etwa weil meine Liebe zu Ihnen ein Ende genommen hätte oder ich eifersüchtig wäre, sondern ohne solchen Grund, einfach weil ich manchmal einen Drang verspüre, Sie aufzufressen. Sie lachen …«

»Ich lache durchaus nicht«, sagte sie zornig. »Ich befehle Ihnen zu schweigen.«

Sie hielt inne, da sie vor Zorn kaum Atem holen konnte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, ob sie schön von Gestalt war; aber ich sah sie zu gern, wenn sie so vor mir stand und ihr die Sprache versagte, und darum machte ich mir auch oft die Freude, sie zum Zorn zu reizen. Vielleicht hatte sie das bemerkt und stellte sich absichtlich zornig. Ich sprach ihr diese Vermutung aus.

»Was für ein garstiges Gerede!« rief sie mit dem Ausdruck des Widerwillens.

»Mir ist alles gleich«, fuhr ich fort. »Aber noch eins: wissen Sie, daß es gefährlich ist, wenn wir beide allein zusammen gehen? Es ist in mir oft ein unwiderstehliches Verlangen aufgestiegen, Sie zu prügeln, zu verstümmeln, zu erwürgen.

Und was glauben Sie, wird es nicht dahin kommen? Sie versetzen mich in eine fieberhafte Raserei. Meinen Sie, daß ich mich vor einem öffentlichen Skandal fürchte? Oder vor Ihrem Zorn? Was kümmert mich Ihr Zorn? Ich liebe Sie ohne Hoffnung und weiß, daß ich Sie nach einer solchen Tat noch tausendmal mehr lieben werde. Wenn ich Sie einmal töte, so werde ich ja auch mich selbst töten müssen; aber ich werde den Selbstmord möglichst lange hinausschieben, um den unerträglichen Schmerz, daß Sie nicht mehr da sind, auszukosten. Ich will Ihnen etwas sagen, was kaum zu glauben ist: ich liebe Sie mit jedem Tag mehr, und doch ist das beinah unmöglich. Und bei alledem soll ich nicht Fatalist sein? Erinnern Sie sich doch, vorgestern auf dem Schlangenberg flüsterte ich, von Ihnen herausgefordert, Ihnen zu: >Sagen Sie ein Wort, und ich springe in diesen Abgrund!< Hätten Sie dieses Wort gesprochen, so wäre ich damals hinuntergesprungen. Glauben Sie etwa nicht, daß ich hinuntergesprungen wäre?«

»Was für ein törichtes Geschwätz!« rief sie.

»Ob es töricht oder klug ist, das ist mir ganz gleich!« rief ich.

»Ich weiß, daß ich in Ihrer Gegenwart reden muß, immer reden und reden, und so rede ich denn. In Ihrer Gegenwart verliere ich allen Ehrgeiz, und alles wird mir gleichgültig.«

»Weshalb hätte ich Sie veranlassen sollen, vom Schlangenberg hinunterzuspringen?« fragte sie in einem trockenen Ton, der besonders beleidigend klang. »Davon hätte ich doch nicht den geringsten Nutzen gehabt.«

»Vorzüglich!« rief ich. »Sie bedienen sich absichtlich dieses vorzüglichen Ausdrucks ›nicht den geringsten Nutzen‹, um mich zu demütigen. Ich durchschaue Sie vollständig. ›Nicht den geringsten Nutzen‹, sagen Sie? Aber ein Vergnügen hat immer einen Nutzen, und die Ausübung einer wilden, unbegrenzten Gewalt (und wär’s auch nur über eine Fliege), das ist in seiner Art doch auch ein Genuß. Der Mensch ist von Natur ein Despot und liebt es, andere Wesen zu quälen. Sie lieben es im höchsten Grade.«

Ich erinnere mich, sie sah mich lange und unverwandt an. Wahrscheinlich drückte mein Gesicht in diesem Augenblick alle meine törichten, unsinnigen Gedanken aus. Mein Gedächtnis sagt mir jetzt, daß unser Gespräch damals tatsächlich fast Wort für Wort so stattfand, wie ich es hier aufgezeichnet habe. Meine Augen waren mit Blut unterlaufen. An den Rändern meiner Lippen hatte sich Schaum gebildet. Was den Schlangenberg betrifft, so schwöre ich auf meine Ehre, auch jetzt noch: wenn sie mir damals befohlen hätte, mich hinabzustürzen, so hätte ich es getan! Auch wenn sie es nur im Scherz gesagt hätte oder aus Geringschätzung und Verachtung, auch dann wäre ich hinuntergesprungen!

»Nein, was hätte es für Zweck gehabt? Daß Sie es getan hätten, glaube ich Ihnen«, sagte sie, aber in einer Art, wie nur sie manchmal zu sprechen versteht, mit solcher Verachtung und Bosheit und mit solchem Hochmut, daß ich, bei Gott, sie in diesem Augenblick hätte totschlagen können.

Sie schwebte in Gefahr. Auch hierin hatte ich sie nicht belogen, als ich es ihr sagte.

»Sie sind kein Feigling?« fragte sie mich plötzlich.

»Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich einer. Ich weiß es nicht … ich habe lange nicht darüber nachgedacht.«

»Wenn ich zu Ihnen sagte: ›Töten Sie diesen Menschen!‹ – würden Sie ihn töten?«

»Wen?«

»Denjenigen, den ich getötet sehen möchte.«

»Den Franzosen?«

»Fragen Sie nicht, sondern antworten Sie! Denjenigen, den ich Ihnen bezeichnen werde. Ich will wissen, ob Sie soeben im Ernst gesprochen haben.«

Sie wartete mit solchem Ernst und mit solcher Ungeduld auf meine Antwort, daß mir ganz sonderbar zumute wurde.

»Aber werden Sie mir nun endlich sagen, was hier eigentlich vorgeht?« rief ich. »Fürchten Sie sich etwa vor mir? Daß hier ganz tolle Zustände sind, sehe ich schon allein. Sie sind die Stieftochter eines ruinierten, verrückten Menschen, der von einer Leidenschaft für diese Teufelin, diese Mademoiselle Blanche, befallen ist; dann ist da noch dieser Franzose mit seiner geheimnisvollen Macht über Sie; und nun legen Sie mir mit solchem Ernst eine solche Frage vor! Ich muß doch wenigstens wissen, wie das zusammenhängt; sonst werde ich hier verrückt und richte irgend etwas an. Schämen Sie sich etwa, mich Ihres Vertrauens zu würdigen? Können Sie sich denn vor mir schämen?«

»Ich rede mit Ihnen von etwas ganz anderem. Ich habe Sie etwas gefragt und warte auf die Antwort.«

»Natürlich werde ich ihn töten!« rief ich. »Jeden, den Sie mich töten heißen! Aber können Sie denn … werden Sie mir denn das befehlen?«

»Denken Sie etwa, Sie werden mir leid tun? Ich werde es befehlen und selbst im Hintergrund bleiben. Werden Sie das ertragen? Nein, wie sollten Sie! Sie werden vielleicht auf meinen Befehl den Menschen töten; aber dann werden Sie darangehen, auch mich zu töten, dafür, daß ich gewagt habe, Ihnen einen solchen Auftrag zu geben.«

Bei diesen Worten hatte ich eine Empfindung, als erhielte ich einen heftigen Schlag gegen den Kopf. Allerdings hielt ich auch damals ihre Frage halb und halb für einen Scherz, für ein Auf-die-Probe-Stellen; aber sie hatte doch gar zu ernsthaft gesprochen. Es frappierte mich doch, daß sie sich in dieser Weise aussprach, daß sie ein solches Recht über mich in Anspruch nahm, daß sie sieh eine solche Gewalt über mich anmaßte und so geradezu sagte: »Geh ins Verderben, und ich bleibe im Hintergrund!« In diesen Worten lag eine zynische Offenheit, die nach meiner Empfindung denn doch zu weit ging. Wofür mußte sie mich ansehen, wenn sie so zu mir redete? Das war ja schlimmer als die unwürdigste Sklaverei. Und wie sinnlos und absurd auch unser ganzes Gespräch war, so zitterte mir doch das Herz im Leibe.

Auf einmal ling sie an zu lachen. Wir satten in diesem Augenblick auf einer Bank dicht bei dem Platz, wo die Equipagen hielten und die Leute ausstiegen, um die Allee vor dem Kurhaus entlang zu gehen; die Kinder spielten vor unseren Augen.

»Sehen Sie diese dicke Baronin?« rief sie. »Das ist die Baronin Wurmerhelm. Sie ist erst seit drei Tagen hier. Und sehen Sie da ihren Mann? Der lange, hagere Preuße mit dem Stock in der Hand. Erinnern Sie sich noch, wie er uns vorgestern von unten bis oben musterte? Gehen Sie sogleich hin, treten Sie zu der Baronin heran, nehmen Sie den Hut ab, und sagen Sie zu ihr etwas auf französisch!«

»Wozu?«

»Sie haben neulich geschworen, vom Schlangenberg hinunterzuspringen, und jetzt haben Sie geschworen, Sie seien bereit, einen Menschen zu töten, wenn ich es befehle. Statt all solcher Mordtaten und Trauerspiele will ich nur ein Amüsement haben. Machen Sie keine Ausflüchte, und gehen Sie hin! Ich möchte gern sehen, wie der Baron Sie mit seinem Stock durchprügelt.«

»Sie wollen mich auf die Probe stellen; Sie meinen, ich werde es nicht tun?«

»Ja, ich will Sie auf die Probe stellen. Gehen Sie hin; ich will es so!«

»Wenn Sie es wollen, werde ich hingehen, wiewohl es eine tolle Kaprice ist. Nur eins: wird nicht der General Unannehmlichkeiten davon haben, und durch ihn auch Sie? Weiß Gott, ich denke dabei nicht an mich, sondern nur an Sie, nun und auch an den General. Und was ist das für ein Einfall, daß ich hingehen soll und eine Dame beleidigen!«

»Nein, Sie sind nur ein Schwätzer, wie ich sehe«, erwiderte sie verächtlich. »Ihre Augen sehen ja seit einer Weile so blutunterlaufen aus; aber das kommt vielleicht nur daher, daß Sie bei Tisch viel Wein getrunken haben. Als ob ich nicht selbst wüßte, daß eine solche Handlung dumm und gemein ist, und daß der General sich ärgern wird. Aber ich will einfach etwas zum Lachen haben. Ich will, und damit basta! Und wozu brauchen Sie die Dame erst noch zu beleidigen? Sie werden schon vorher Ihre Prügel bekommen.«

Ich drehte mich um und ging schweigend hin, um ihren Auftrag zu erfüllen. Allerdings tat ich es aus Dummheit und weil ich mir nicht herauszuhelfen wußte; aber (das ist mir noch deutlich in der Erinnerung) als ich mich der Baronin näherte, da fühlte ich, wie mich etwas aufstachelte, eine Art von schülerhaftem Mutwillen. Auch war ich in sehr gereizter Stimmung, wie betrunken.

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Sechstes Kapitel

Sechstes Kapitel

Nun sind schon zwei Tage nach jenem dummen Streich vergangen. Und wieviel Geschrei und Lärm und Gerede und Skandal ist die Folge davon gewesen! Und wie häßlich war auch die ganze Geschichte, wie konfus, wie dumm und wie gemein; und ich bin an allem schuld. Manchmal kommt einem übrigens die Sache lächerlich vor, mir wenigstens. Ich weiß mir nicht Rechenschaft darüber zu geben, was mit mir eigentlich vorgegangen ist: ob ich mich wirklich in einem Zustand der Raserei befinde, oder ob ich nur aus dem Geleise geraten bin und Tollheiten treibe, bis man mir das Handwerk legt und mich bindet. Manchmal scheint es mir, daß ich irrsinnig bin; zu andern Zeiten habe ich die Vorstellung, ich sei dem Kindesalter und der Schulbank noch nicht lange entwachsen und beginge nur Schülerungezogenheiten.

Und das bewirkt alles Polina, alles sie! Wenn sie nicht wäre, würde ich mich wohl nicht so schülerhaft benehmen. Wer weiß, vielleicht habe ich das alles aus Verzweiflung getan (mag auch diese Anschauung noch so dumm sein). Und ich begreife nicht, begreife schlechterdings nicht, was an ihr Gutes ist! Schön ist sie übrigens, schön ist sie; schön muß sie wohl sein. Sie bringt ja auch andere Leute als mich um den Verstand. Sie ist hochgewachsen und wohlgebaut. Nur sehr schlank. Es kommt mir vor, als könnte man ihre ganze Gestalt zusammcnknoten oder doppelt zusammenlegen. Ihre Fußspur ist schmal und lang und hat für mich etwas Peinigendes. Ihr Haar hat einen rötlichen Schimmer. Ihre Augen sind richtige Katzenaugen; aber wie stolz und hochmütig versteht sie mit ihnen zu blicken! Vor vier Monaten, als ich eben meine Stelle angetreten hatte, führte sie einmal abends im Saal mit de Grieux ein langes, hitzig werdendes Gespräch. Und dabei sah sie ihn mit einem solchen Blick an, mit einem solchen Blick, daß ich nachher, als ich auf mein Zimmer gegangen war, um mich schlafen zu legen, mir einbildete, sie hätte ihm eine Ohrfeige gegeben und stände nun vor ihm und sähe ihn an. Von diesem Abend an bin ich in sie verliebt gewesen.

Aber zur Sache!

Ich ging auf einem schmalen Sieig nach der Allee, stellte mich mitten in der Allee hin und erwartete die Baronin und den Baron. Als sie noch fünf Schritte von mir entfernt waren, nahm ich den Hut ab und verbeugte mich.

Die Baronin trug, wie ich mich erinnere, ein seidenes Kleid von gewaltigem Umfang und hellgrauer Farbe, mit Falbeln, Krinoline und Schleppe. Sie war klein von Gestalt, aber außerordentlich dick und hatte ein furchtbar dickes, herabhängendes Kinn, so daß der Hals gar nicht zu sehen war. Ihr Gesicht war dunkelrot, die Augen klein, mit einem boshaften, impertinenten Ausdruck. Sie ging einher, als ob sie allen damit eine Ehre antäte. Der Baron war ein hagerer, hochgewachsener Mensch. Sein Gesicht war schief, wie das bei den Deutschen oft der Fall ist, und mit tausend kleinen Runzeln bedeckt; er trug eine Brille und mochte fünfundvierzig Jahre alt sein. Die Beine fingen bei ihm fast unmittelbar an der Brust an; das liegt in der Rasse. Er ging stolz wie ein Pfau, aber etwas schwerfällig. Der hammelartige Ausdruck seines Gesichtes vertrat in seiner Weise den Ausdruck ernster Denkarbeit.

All diese Wahrnehmungen drängten sich für mich in einen Zeitraum von drei Sekunden zusammen.

Meine Verbeugung und der Hut, den ich in der Hand hielt, zogen anfangs kaum ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nur zog der Baron die Augenbrauen ein wenig zusammen. Die Baronin segelte gerade auf mich zu.

»Madame la baronne«, sagte ich absichtlich sehr laut, indem ich jedes Wort besonders deutlich aussprach, »j’ai l’honneur d’être votre esclave.«

Darauf verbeugte ich mich, setzte den Hut wieder auf und ging an dem Baron vorüber, wobei ich höflich das Gesicht zu ihm hinwandte und lächelte.

Den Hut abzunehmen hatte sie mir befohlen; aber mich zu verbeugen und mich schülermäßig zu benehmen, das war mein eigener Einfall. Weiß der Himmel, was mich dazu trieb. Mir war, als flöge ich von einem Berg hinab.

»Nanu!« rief oder, richtiger gesagt, krächzte der Baron, indem er sich mit zorniger Verwunderung nach mir umdrehte.

Ich wandte mich ebenfalls um und blieb in respektvoll wartender Haltung stehen, indem ich ihn fortwährend anblickte und lächelte. Er war offenbar völlig perplex und zog die Augenbrauen so hoch hinauf, wie es nur irgend ging. Sein Gesicht wurde immer grimmiger. Auch die Baronin drehte sich nach mir um und musterte mich ebenfalls mit zornigem Erstaunen. Manche Passanten blickten nach uns hin; einige blieben sogar stehen.

»Nanu!« krächzte der Baron noch einmal mit verdoppelter Energie und verdoppeltem Zorn.

»Jawohl!« sagte ich auf deutsch. Ich sprach die beiden Silben sehr gedehnt und blickte ihm dabei gerade in die Augen.

»Sind Sie rasend?« rief er. Er schwang seinen Stock, schien jedoch gleichzeitig ein wenig den Mut zu verlieren. Vielleicht verwirrte ihn mein Kostüm. Ich war sehr anständig, sogar elegant gekleidet, wie jemand, der durchaus zur besten Gesellschaft gehört.

»Jawo-o-ohl!« schrie ich plötzlich aus voller Kehle, indem ich das o langzog, wie es die Berliner tun, die im Gespräch alle Augenblicke den Ausdruck »jawohl« gebrauchen und dabei den Vokal o zum Ausdruck verschiedener Nuancen der Gedanken und Empfindungen mehr oder weniger in die Länge, ziehen.

Der Baron und die Baronin wandten sich schnell um und entfernten sich, vor Schreck beinahe laufend, von mir. Einige aus dem Publikum sprachen miteinander über den Vorfall; andere sahen mich erstaunt an. Aber ich erinnere mich nicht genau daran.

Ich machte kehrt und ging in meinem gewöhnlichen Schritt auf Polina Alexandrowna zu. Aber als ich noch ungefähr hundert Schritte von ihrer Bank entfernt war, sah ich, daß sie aufstand und mit den Kindern die Richtung nach dem Hotel einschlug.

Ich holte sie an den Stufen beim Portal ein. »Ich habe es getan… ich habe die Dummheit begangen«, sagte ich, sobald ich mich neben ihr befand.

»Nun schön! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie aus der Geschichte herauskommen!« antwortete sie, ohne mich auch nur anzusehen, ging hinein und die Treppe hinauf.

Diesen ganzen Abend wanderte ich im Park umher. Den Park und dann einen Wald durchschreitend, gelangte ich sogar in ein anderes Fürstentum. In einem Bauernhaus aß ich einen Eierkuchen und trank Wein dazu; für dieses idyllische Mahl nahm man mir ganze anderthalb Taler ab.

Erst um elf Uhr kehrte ich nach Hause zurück. Ich wurde sogleich zum General gerufen.

Die Unsrigen haben im Hotel vier Zimmer belegt. Das erste, große, dient als Salon, und es steht ein Flügel darin. Daneben liegt ein gleichfalls großes Zimmer, das Wohnzimmer des Generals. Hier erwartete er mich; er stand in sehr großartiger Pose mitten im Zimmer. De Grieux saß, halb liegend, auf dem Sofa.

»Mein Herr, gestatten Sie die Frage, was Sie da angerichtet haben«, begann der General, zu mir gewendet.

»Es wäre mir lieb, General, wenn Sie gleich zur Sache kämen«, antwortete ich. »Sie wollen wahrscheinlich von meinem heutigen Renkontre mit einem Deutsehen sprechen?«

»Mit einem Deutschen?! Dieser Deutsche ist der Baron Wurmerhelm und eine hochangesehene Persönlichkeit! Sie haben sich gegen ihn und die Baronin ungezogen benommen.«

»Ganz und gar nicht.«

»Sie haben die Herrschaften brüskiert, mein Herr!« rief der General.

»Keineswegs. Schon in Berlin ärgerte mich der Ausdruck ›Jawohl‹, den die Leute dort unaufhörlich einem jeden gegenüber wiederholen und in einer widerwärtigen Weise in die Länge ziehen. Als ich dem Baron und der Baronin in der Allee begegnete, kam mir (ich weiß nicht, woher) auf einmal dieses ›Jawohl‹ ins Gedächtnis und wirkte auf mich aufreizend … Und außerdem hat die Baronin (das ist schon dreimal vorgekommen), wenn sie mir begegnet, die Gewohnheit, gerade auf mich lozugehen, als wäre ich ein Wurm, den sie mit dem Fuß zertreten könnte. Auch ich darf mein Selbstgefühl haben, das werden Sie selbst zugeben müssen. Ich nahm den Hut ab und sagte höflich (ich versichere Sie, daß ich es ganz höflich sagte): ›Madame, j’ai l’honneur d’être votre esclave‹. Als der Baron sich umwandte und ›Nanu!‹ sagte, spürte ich einen unwiderstehlichen Drang, ihm ›Jawohl‹ zu erwidern. Und so sagte ich das zweimal, das erstemal in gewöhnlicher Weise, das zweitemal sehr laut und langgezogen. Das ist die ganze Geschichte.«

Ich muß gestehen, daß mir diese meine knabenhafte Darstellung das größte Vergnügen bereitete. Es reizte mich außerordentlich, den ganzen Hergang in möglichst absurder Weise auszumalen.

Und je länger ich sprach, um so mehr kam ich auf den Geschmack.

»Sie wollen sich wohl über mich lustig machen?« rief der General. Er wandte sich zu dem Franzosen und teilte ihm auf französisch mit, ich hätte es entschieden auf einen Skandal angelegt gehabt. De Grieux lächelte geringschätzig und zuckte die Achseln.

»Denken Sie das nicht; das ist durchaus nicht richtig!« rief ich dem General zu. »Mein Benehmen war allerdings nicht schön; das gebe ich Ihnen mit größter Offenherzigkeit zu. Man kann das, was ich getan habe, sogar einen dummen, unpassenden Schülerstreich nennen, mehr aber auch nicht. Und wissen Sie, General, ich bereue das Getane tief. Aber es ist da noch ein Umstand, der mich in meinen Augen beinah sogar der Verpflichtung zu bereuen enthebt. In der letzten Zeit, in den letzten zwei, drei Wochen, fühle ich mich nicht wohl: ich bin krank, nervös, reizbar, phantastisch und verliere manchmal vollständig die Gewalt über mich. Wirklich, es überkam mich mehrmals plötzlich ein heftiges Verlangen, mich zu dem Marquis de Grieux zu wenden und … Aber ich will den Satz nicht zu Ende sprechen; es könnte für ihn beleidigend sein. Mit einem Wort, das sind Krankheitssymptome. Ich weiß nicht, ob die Baronin Wurmerhelm diesen Umstand mit in Betracht ziehen wird, wenn ich sie um Entschuldigung bitte; denn das beabsichtige ich zu tun. Ich fürchte, daß sie es nicht tun wird, namentlich auch da, soweit mir bekannt, man in letzter Zeit in juristischen Kreisen angefangen hat, mit der Verwertung dieses Umstandes Mißbrauch zu treiben: die Advokaten verteidigen jetzt in Kriminalprozessen sehr oft ihre Klienten, die Verbrecher, mit der Behauptung, diese hätten im Augenblick des Verbrechens keine Besinnung gehabt, und das sei gewissermaßen eine Krankheit. ›Er hat zugeschlagen‹ sagen sie, ›und hat keine Erinnerung dafür.‹ Und denken Sie sich, General: die medizinische Wissenschaft stimmt ihnen bei, sie behauptet tatsächlich, es gebe eine solche Krankheit, eine solche zeitweilige Geistesstörung, wo der Mensch beinah keine Erinnerung hat oder nur eine halbe oder viertel Erinnerung. Aber der Baron und die Baronin sind Leute alten Schlages und gehören überdies noch zum preußischen Junker- und Gutsbesitzerstande. Ihnen ist dieser Fortschritt in der gerichtlichen Medizin wahrscheinlich noch unbekannt, und daher werden sie meine entschuldigende Erklärung nicht annehmen. Was meinen Sie darüber, General?«

»Genug, mein Herr!« sagte der General in scharfem Ton, mühsam seinen Grimm unterdrückend, »genug! Ich werde bemüht sein, mich ein für allemal von jeder Beziehung zu Ihren törichten Streichen freizumachen. Bei der Baronin und dem Baron werden Sie sich nicht entschuldigen. Jeder Verkehr mit Ihnen, auch wenn dieser nur in Ihrer Bitte um Verzeihung bestände, würde unter ihrer Würde sein. Der Baron, der erfahren hatte, daß Sie zu meinem Haus gehören, hat sich bereits mit mir im Kurhaus ausgesprochen, und ich muß Ihnen bekennen, es fehlte nicht viel daran, daß er von mir Genugtuung verlangt hätte. Begreifen Sie wohl, mein Herr, in was für eine unangenehme Situation Sie mich gebracht haben? Ich, ich sah mich genötigt, den Baron um Entschuldigung zu bitten, und gab ihm mein Wort, daß Sie unverzüglich, noch heute, aus meinem Haus ausscheiden würden.«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, General, er hat also selbst entschieden verlangt, daß ich, wie Sie sich auszudrücken belieben, aus Ihrem Haus ausscheiden solle?«

»Nein, aber ich erachtete mich selbst für verpflichtet, ihm diese Genugtuung zu geben, und der Baron erklärte sich natürlich dadurch für befriedigt. Wir scheiden also hiermit voneinander, mein Herr. Sie haben von mir diese vier Friedrichsdor hier und drei Gulden nach hiesigem Geld zu erhalten. Hier ist das Geld, und hier ist auch ein Zettel mit der Berechnung; Sie können sie nachprüfen. Leben Sie wohl! Von jetzt an kennen wir einander nicht mehr. Ich habe von Ihnen nichts gehabt als Mühe und Unannehmlichkeiten. Ich werde sogleich den Kellner rufen und ihm mitteilen, daß ich vom morgigen Tage an für Ihre Ausgaben im Hotel nicht mehr aufkomme. Ergebenster Diener!«

Ich nahm das Geld und den Zettel, auf dem mit Bleistift eine Berechnung geschrieben stand, machte dem General eine Verbeugung und sagte zu ihm in durchaus ernstem Ton: »General, die Sache kann damit nicht erledigt sein. Es tut mir sehr leid, daß Sie von seiten des Barons Unannehmlichkeiten gehabt haben; aber (nehmen Sie es mir nicht übel!) daran sind Sie selbst schuld. Warum übernahmen Sie es, dem Baron gegenüber für meine Handlungsweise einzustehen? Was bedeutet der Ausdruck, daß ich zu Ihrem Haus gehöre? Ich bin einfach bei Ihnen Hauslehrer, nichts weiter. Ich bin nicht Ihr leiblicher Sohn, stehe auch nicht unter Ihrer Vormundschaft; für das, was ich tue, tragen Sie keine Verantwortung. Ich bin im juristischen Sinne eine selbständige Persönlichkeit. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, habe die Universität besucht und als Kandidat verlassen, gehöre zum Adelsstande und stehe Ihnen ganz fremd gegenüber. Nur meine unbegrenzte Hochachtung vor Ihren vortrefflichen Eigenschaften hält mich davon ab, von Ihnen jetzt Genugtuung zu verlangen, sowie auch weitere Rechenschaft darüber, daß Sie sich das Recht beigelegt haben, an meiner Statt zu antworten.«

Der General war dermaßen erstaunt, daß er die Arme auseinanderbreitete; dann wandte er sich plötzlich zu dem Franzosen und erzählte ihm eilig, ich hätte ihn soeben beinahe zum Duell gefordert. Der Franzose schlug ein lautes Gelächter auf.

»Aber den Baron beabsichtige ich das nicht so leicht hingehen zu lassen«, fuhr ich höchst kaltblütig fort, ohne mich im geringsten durch das Lachen dieses Monsieur de Grieux beirren zu lassen, »und da Sie, General, sich heute dazu verstanden haben, die Beschwerde des Barons anzuhören, auf seine Seite getreten sind und sich dadurch gewissermaßen zum Mitgenossen bei dieser ganzen Angelegenheit gemacht haben, so habe ich die Ehre, Ihnen zu vermelden, daß ich gleich morgen früh in meinem eigenen Namen von dem Baron eine förmliche Angabe der Gründe verlangen werde, aus denen er, obwohl er es mit mir zu tun hatte, sich über meinen Kopf hinweg an eine andere Person gewandt hat, als ob ich nicht imstande oder nicht würdig wäre, mich ihm gegen- über selbst zu verantworten.«

Was ich vorhergesehen hatte, trat ein. Als der General diese neue Dummheit hörte, bekam er es heftig mit der Angst. »Was? Haben Sie wirklich vor, diese verfluchte Geschichte noch weiter fortzusetzen?« schrie er. »Was schüren Sie mir da an, gerechter Gott! Wagen Sie es nicht, wagen Sie es nicht, mein Herr, oder ich schwöre Ihnen … Auch hier gibt es eine Obrigkeit, und ich … ich … mit einem Wort, bei meinem Rang … und der Baron gleichfalls … mit einem Wort, Sie werden arretiert und unter polizeilicher Bewachung von hier entfernt werden, damit Sie hier keine Gewalttätigkeiten verüben. Das lassen Sie sich gesagt sein!« Er war so zornig, daß er kaum Luft bekam; aber trotzdem hatte er schreckliche Angst.

»General«, erwiderte ich mit einer Ruhe, die er gar nicht ertragen konnte, »für Gewalttätigkeiten kann man nicht eher arretiert werden, ehe man sie nicht verübt hat. Ich habe meine Aussprache mit dem Baron noch nicht begonnen, und es ist Ihnen noch vollständig unbekannt, in welchem Sinne und mit welcher Begründung ich in dieser Angelegenheit vorzugehen beabsichtige. Ich wünsche nur die für mich beleidigende Annahme richtigzustellen, daß ich mich unter der Vormundschaft einer andern Person befände, die gewissermaßen Gewalt über meinen freien Willen hätte. Sie erregen und beunruhigen sich ohne jeden Grund.«

»Um Gottes willen, um Gottes willen, Alexej Iwanowitsch, stehen Sie von diesem unsinnigen Vorhaben ab!« murmelte der General, indem er seinen zornigen Ton plötzlich mit einem flehenden vertauschte und mich sogar bei den Händen ergriff. »Überlegen Sie doch nur, was die Folge davon sein wird! Eine neue Unannehmlichkeit! Sie müssen doch selbst einsehen, daß ich hier ganz besonders darauf bedacht sein muß, meine Stellung zu wahren, namentlich jetzt! Namentlich jetzt! … Ach, Sie kennen meine ganze Lage nicht; Sie kennen sie nicht! … Wenn wir von hier wegreisen, bin ich gern bereit, Ihnen Ihre bisherige Stellung wieder zu übertragen. Ich muß nur jetzt so … nun, mit einem Wort, Sie verstehen ja doch meine Gründe!« rief er ganz verzweifelt. »Alexej Iwanowitsch, Alexej Iwanowitsch!«

Mich zur Tür zurückziehend, bat ich ihn nochmals dringend, sich nicht zu beunruhigen; ich versprach, es solle alles einen guten, anständigen Verlauf nehmen, und beeilte mich hinauszukommen.

Mitunter sind die Russen im Ausland gar zu feige und haben eine schreckliche Angst davor, was die Leute von ihnen sagen könnten, und wofür man sie ansehen werde, und ob auch dies und das anständig sei. Mit einem Wort, sie benehmen sich, als ob sie ein Korsett trügen, namentlich diejenigen, die den Anspruch erheben, etwas vorzustellen. Am liebsten befolgen sie sklavisch irgendein vorgeschriebenes, ein für allemal festgesetztes Schema: in den Hotels, auf den Spaziergängen, in den Gesellschaften, auf der Reise … Aber der General hatte sich verplappert, wenn er sagte, es lägen für ihn noch außerdem besondere Umstände vor, und er habe besondern Anlaß, seine Stellung zu wahren. Das also war der Grund gewesen, weshalb er auf einmal so kleinmütig und ängstlich geworden war und mir gegenüber den Ton gewechselt hatte. Ich nahm das zur Kenntnis und merkte es mir. Denn da es nicht ausgeschlossen war, daß er sich morgen aus Dummheit an irgendeine Behörde wandte, so hatte ich wirklich allen Grund, vorsichtig zu sein.

Übrigens war mir gar nichts daran gelegen, gerade den General zornig zu machen; wohl aber hatte ich jetzt die größte Lust, Polina zu ärgern. Polina hatte mich äußerst grausam behandelt und mich absichtlich auf diesen dummen Weg gedrängt; daher wünschte ich lebhaft, sie so weit zu bringen, daß sie mich selbst bäte einzuhalten. Wenn ich knabenhafte Streiche beging, so konnte das schließlich auch sie kompromittieren. Außerdem wurden in mir auch noch andere Gefühle und Wünsche rege; wenn ich auch vor ihr freiwillig zu einem Nichts werde, so bedeutet das noch keineswegs, daß ich auch vor den Leuten als begossener Pudel dazustehen Lust hätte; und jedenfalls stand es dem Baron nicht zu, mich mit dem Stock zu schlagen. Ich wünschte, sie alle auszulachen und selbst als ein forscher junger Mann zu erscheinen. Da mochten sie mich dann anstaunen. Sie hat gewiß Angst vor einem Skandal und wird mich wieder zu sich rufen. Und auch wenn sie das nicht tut, soll sie doch sehen, daß ich kein begossener Pudel bin.

Eine wunderbare Nachricht: soeben höre ich von unserer Kinderfrau, die ich auf der Treppe traf, daß Marja Filippowna heute ganz allein mit dem Abendzug nach Karlsbad zu ihrer Cousine gefahren ist. Was steckt dahinter? Die Kinderfrau sagt, sie habe das schon längst vorgehabt; aber wie geht es dann zu, daß niemand etwas davon gewußt hat? Möglicherweise bin ich übrigens der einzige, der es nicht wußte. Die Kinderfrau teilte mir mit, Marja Filippowna habe noch vorgestern mit dem General einen heftigen Wortwechsel gehabt. Ich merke: es handelt sich wahrscheinlich um Mademoiselle Blanche. Ja, bei uns steht ein entscheidendes Ereignis bevor.

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Siebentes Kapitel

Siebentes Kapitel

Am Morgen rief ich den Kellner und teilte ihm mit, meine Rechnung solle von nun an gesondert geschrieben werden. Mein Zimmer war nicht so teuer, daß der Preis mich erschreckt und veranlaßt hätte, ganz aus dem Hotel auszuziehen. Ich besaß sechzehn Friedrichsdor, und dort … dort fielen mir vielleicht Reichtümer zu! Sonderbar: ich habe noch nicht gewonnen; aber ich benehme mich in meinen Gefühlen und Gedanken wie ein reicher Mann und kann mir gar nicht vorstellen, daß ich das nicht wäre.

Ich gedachte, trotz der frühen Stunde mich sogleich zu Mister Astley in das Hotel d’Angleterre zu begeben, das ganz in der Nähe des unsrigen liegt, als plötzlich de Grieux bei mir eintrat. Das war noch nie vorgekommen, und überdies hatte ich mit diesem Herrn in der ganzen letzten Zeit in einem sehr kühlen und gespannten Verhältnis gestanden. Er hatte aus seiner Geringschätzung gegen mich in keiner Weise ein Hehl gemacht, sondern im Gegenteil sie offen an den Tag zu legen gesucht; und ich meinerseits hatte meine besonderen Gründe, weshalb ich ihm nicht gewogen war. Kurz, ich haßte diesen Menschen. Sein Kommen setzte mich in großes Erstaunen. Ich sagte mir sofort, da müsse etwas Besonderes im Gange sein.

Er benahm sich bei seinem Eintritt sehr liebenswürdig und sagte mir ein Kompliment über mein Zimmer. Da er sah, daß ich den Hut in der Hand hatte, so erkundigte er sich, ob ich denn schon so früh spazierengehen wolle. Als er hörte, ich wolle zu Mister Astley gehen, um mit ihm zu reden, dachte er einen Augenblick nach und legte sich das zurecht; dabei nahm sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an.

De Grieux war wie alle Franzosen, das heißt heiter und liebenswürdig, wenn dies nötig und vorteilhaft war, aber unerträglich langweilig, wenn die Nötigung, heiter und liebenswürdig zu sein, wegfiel. Der Franzose ist selten aus eigener Natur liebenswürdig, sondern immer wie auf Befehl, aus Berechnung. Erkennt er es etwa als notwendig, sich phantasievoll und originell zu zeigen, so sind die Produkte seiner Phantasie von der dümmsten und unnatürlichsten Art und setzen sich aus altkonventionellen, längst schon vulgär gewordenen Formen zusammen. Der Franzose, wie er wirklich von Natur ist, besteht aus durchaus kleinbürgerlichem, geringwertigem, gewöhnlichem Stoff; kurz gesagt, er ist das langweiligste Wesen von der Welt. Nach meiner Meinung können nur Neulinge und namentlich junge russische Damen sich von den Franzosen blenden lassen. Jeder vernünftige Mensch wird diese ein für allemal festgesetzten Formen der salonmäßigen Liebenswürdigkeit, Gewandtheit und Heiterkeit, eine Art von Nationaleigentum, sofort erkennen und unerträglich finden.

»Ich komme aus besonderem Anlaß zu Ihnen«, begann er sehr ungezwungen, wiewohl durchaus höflich, »und ich verberge Ihnen nicht, daß ich in der Eigenschaft eines Abgesandten oder, richtiger ausgedrückt, eines Vermittlers vom General zu Ihnen komme. Da ich nur sehr schlecht Russisch kann, so habe ich gestern so gut wie nichts verstanden; aber der General hat mir nachher eingehende Mitteilungen gemacht, und ich muß gestehen …«

»Aber hören Sie einmal, Monsieur de Grieux«, unterbrach ich ihn, »Sie haben also auch in dieser Angelegenheit die Rolle eines Vermittlers übernommen. Ich bin ja allerdings nur ein Hauslehrer und habe auf die Ehre, ein naher Freund dieses Hauses zu sein, und auf irgendwelche intimeren Beziehungen zu demselben niemals Anspruch erhoben und bin daher auch nicht mit allen Verhältnissen vertraut; aber erklären Sie mir doch eines: Gehören Sie denn jetzt vollständig zu den Mitgliedern dieser Familie? Weil Sie doch an allem solchen Anteil nehmen und bei allem sofort unfehlbar als Vermittler auftreten …«

Meine Frage gefiel ihm nicht. Sie war ihm zu unverfroren, und er hatte keine Lust, mir zuviel mitzuteilen.

»Es verbinden mich mit dem General sowohl geschäftliche Beziehungen als auch gewisse besondere Umstände«, erwiderte er trocken. »Der General hat mich hergeschickt, um Sie zu bitten, Sie möchten die gestern von Ihnen ausgesprochene Absicht unausgeführt lassen. Alles, was Sie vortrugen, ist ohne Zweifel sehr scharfsinnig; aber er ersuchte mich namentlich, Ihnen vorzustellen, daß Ihnen die Ausführung Ihrer Absicht schlechterdings nicht gelingen wird; ja, der Baron wird Sie gar nicht empfangen, und schließlich stehen ihm ja jedenfalls alle erforderlichen Mittel zur Verfügung, um weiterer Unannehmlichkeiten von Ihrer Seite überhoben zu sein. Das müssen Sie doch selbst einsehen. Ich bitte Sie, was für einen Zweck hat es, der Sache noch eine Fortsetzung zu geben? Der General gibt Ihnen das bestimmte Versprechen, Sie wieder in sein Haus zu nehmen, sobald die Verhältnisse es nur irgend gestatten, und Ihr Gehalt, vos appointements, bis dahin weiterlaufen zu lassen. Das ist doch für Sie ein recht vorteilhaftes Anerbieten, nicht wahr?«

Ich erwiderte ihm sehr ruhig, daß er sich da doch einigermaßen irre und der Baron mich vielleicht doch nicht werde fortjagen lassen, sondern mich anhören werde, und bat ihn einzugestehen, daß er (was ich für wahrscheinlich hielte) gekommen sei, um in Erfahrung zu bringen, wie ich eigentlich in der ganzen Sache zu verfahren vorhätte.

»Aber, mein Gott, da der General bei der Angelegenheit so interessiert ist, so wird es ihm selbstverständlich angenehm sein zu erfahren, was Sie tun wollen, und wie. Das ist ja so natürlich!«

Ich begann meine Auseinandersetzung, und er hörte zu; er hatte sich sehr bequem hingesetzt und beugte den Kopf ein wenig zur Seite nach mir hin; auf seinem Gesicht lag offen und unverhohlen ein leiser Ausdruck von Ironie. Überhaupt benahm er sich sehr von oben herab. Ich suchte mir aus allen Kräften den Anschein zu geben, als sähe ich die Sache im allerernstesten Licht. Ich erklärte ihm, indem der Baron sich mit einer Beschwerde über mich an den General gewandt habe, als ob ich ein Diener des Generals wäre, habe er mich erstens um meine Stelle gebracht und mich zweitens wie jemanden behandelt, der nicht imstande sei, für sich selbst einzustehen, und mit dem zu reden nicht der Mühe verlohne. Insofern hätte ich allerdings ein Recht, mich für beleidigt zu erachten; indes in Anbetracht des Unterschiedes der Jahre und der gesellschaftlichen Stellung usw. usw. (an dieser Stelle konnte ich kaum das Lachen zurückhalten) wolle ich nicht noch eine neue Unbesonnenheit begehen, das heißt vom Baron geradezu Genugtuung verlangen oder ihm diesen Weg auch nur vorschlagen. Nichtsdestoweniger hielte ich mich für völlig berechtigt, ihm und besonders der Baronin meine Bitte um Entschuldigung anzubieten, um so mehr, da ich mich tatsächlich in der letzten Zeit unwohl gefühlt und Spuren geistiger Zerrüttung sowie eine Neigung zu Exzentrizitäten an mir wahrgenommen hätte usw. usw. Jedoch habe der Baron selbst durch seine gestrige für mich beleidigende Beschwerde beim General und durch die Forderung, daß der General mich aus meiner Stelle wegschicken solle, mich in eine solche Lage gebracht, daß ich jetzt ihm und der Baronin meine Bitte um Entschuldigung nicht mehr aussprechen könne, da er und die Baronin und alle Leute dann sicher denken würden, es bewege mich zu der Abbitte nur der Wunsch, meine Stelle wiederzubekommen. Das Resultat all dieser Erwägungen sei dieses: ich hielte mich jetzt für genötigt, den Baron zu bitten, er möge sich vor allen Dingen selbst bei mir entschuldigen; dabei würden mir die maßvollsten Ausdrücke genügen; er brauche zum Beispiel nur zu sagen, daß er keineswegs die Absicht gehabt habe, mich zu beleidigen. Wenn der Baron das ausspreche, dann würden mir dadurch die Hände frei gemacht sein, und ich würde offen und ehrlich ihm auch meinerseits meine Bitte um Entschuldigung vorlegen. »Kurz«, schloß ich, »um was ich bitte, ist nur dies, daß der Baron mir die Hände frei macht.«

»Ach, was für Pedanterie und was für Spitzfindigkeiten! Und wozu brauchen Sie sich zu entschuldigen? Nun, geben Sie es nur zu, Monsieur … Monsieur …, daß Sie diese ganze Geschichte absichtlich ins Werk gesetzt haben, um den General zu ärgern … aber vielleicht hatten Sie noch irgendwelche besonderen Absichten … mon cher monsieur … pardon, j’ai oublié votre nom, monsieur Alexis?… N’est-ce pas?«

»Aber erlauben Sie, mon cher marquis, was geht Sie das an?«

»Mais le général…«

»Und was geht es den General an? Er redete gestern so etwas, er müsse seine Stellung wahren … und dabei war er so ängstlich … aber ich habe nichts davon begriffen.«

»Es ist da … es liegt da gerade ein besonderer Umstand vor«, fiel de Grieux in bittendem Ton ein, dem aber immer mehr der Ärger anzuhören war. »Sie kennen Mademoiselle de Cominges?…«

»Sie meinen Mademoiselle Blanche?«

»Nun ja, Mademoiselle Blanche de Cominges … et madame sa mère … Sie müssen selbst zugeben, der General … mit einem Wort, der General ist verliebt, und es wird hier vielleicht sogar … sogar zur Eheschließung kommen. Und nun stellen Sie sich vor, wenn dabei allerlei Skandalgeschichten und häßliche Vorfälle …«

»Ich weiß von keinen Skandalgeschichten und häßlichen Vorfällen, die mit dieser Eheschließung etwas zu tun hätten«

»Aber le baron est si irascible, un caractère prussien, vous savez, enfin il fera une querelle d’Allemand.«

»Das wird sich dann doch gegen mich richten und nicht gegen Sie, da ich nicht mehr zum Hause gehöre …« (Ich bemühte mich absichtlich, möglichst sinnlos zu reden.) »Aber erlauben Sie, ist denn das schon entschieden, daß Mademoiselle Blanche den General heiraten wird? Warum warten sie denn noch damit? Ich meine, warum halten Sie die Sache geheim und machen nicht wenigstens uns, den Angehörigen des Hauses, Mitteilung davon?«

»Ich kann Ihnen nicht … übrigens ist das noch nicht ganz … indessen … Sie wissen wohl, der General erwartet Nachrichten aus Rußland; er muß seine Angelegenheiten ordnen …«

»Ach so, die liebe, alte Tante!«

De Grieux warf mir einen haßerfüllten Blick zu.

»Kurz«, unterbrach er mich, »ich verlasse mich vollständig auf Ihre angeborene Liebenswürdigkeit, auf Ihre Klugheit, auf Ihr Taktgefühl … Sie werden das gewiß für eine Familie tun, in der Sie wie ein Sohn aufgenommen und geliebt und geehrt wurden …«

»Aber ich bitte Sie! Weggejagt hat man mich! Sie versichern jetzt freilich, das sei nur so zum Schein geschehen; aber sagen Sie selbst, wenn einer zu Ihnen sagt: ›Ich will dich nicht an den Ohren ziehen; aber erlaube, daß ich es zum Schein tue‹, so kommt das beinah auf dasselbe heraus!«

»Wenn es so steht und Bitten auf Sie nichts vermögen«, begann er in strengem, hochmütigem Ton, »so gestatten Sie mir, Sie zu benachrichtigen, daß die erforderlichen Maßregeln gegen Sie werden ergriffen werden. Es gibt hier eine Obrigkeit; Sie werden noch heute von hier weggeschafft werden, que diable! Un blanc bec comme vous will eine solche Persönlichkeit wie den Baron zum Duell herausfordern! Glauben Sie etwa, daß man Sie unbehelligt lassen wird? Verlassen Sie sich darauf: Furcht hat hier vor Ihnen niemand! Wenn ich Sie bat, so tat ich das mehr von mir aus, weil Sie den General beunruhigt hatten. Können Sie wirklich etwas anderes erwarten, als daß der Baron Sie einfach durch einen Diener wegjagen läßt?«

»Ich werde ja doch nicht selbst hingehen«, antwortete ich mit großer Ruhe. »Sie irren sich, Monsieur de Grieux; es wird sich alles in weit anständigeren Formen abspielen, als Sie glauben. Ich werde mich jetzt sofort zu Mister Astley begeben und ihn bitten, mein Mittelsmann, kurz gesagt, mein Sekundant zu sein. Dieser Mann ist mir freundlich gesinnt und wird es mir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht abschlagen. Er wird zum Baron gehen, und der Baron wird ihn empfangen. Wenn auch ich selbst nur ein Hauslehrer bin und als ein Mensch in subalterner Stellung angesehen werde und hier schutzlos dastehe, so ist doch Mister Astley der Neffe eines Lords, eines wirklichen Lords, das ist allgemein bekannt, des Lord Peabroke, und dieser Lord ist hier anwesend. Sie können sich darauf verlassen, daß der Baron gegen Mister Astley höflich sein und ihn anhören wird. Und wenn er ihn nicht anhört, so wird Mister Astley das als eine persönliche Beleidigung auffassen (Sie wissen, wie energisch die Engländer sind) und dem Baron von sich aus einen Freund zuschicken, und er hat angesehene Freunde. Nun können Sie sich sagen, daß es vielleicht ganz anders kommt, als Sie annehmen.«

Der Franzose bekam es entschieden mit der Angst; in der Tat, all dies klang sehr wahrscheinlich, und es ergab sich also daraus, daß ich wirklich imstande war, einen Skandal hervorzurufen.

»Aber ich bitte Sie«, begann er in geradezu flehendem Ton, »unterlassen Sie doch all so etwas! Ihnen macht es ordentlich Freude, wenn es zu einem Skandal kommt! Es liegt Ihnen nicht daran, Genugtuung zu erhalten, sondern ein häßliches Aufsehen zu erregen! Ich sagte schon, daß das alles interessant und sogar geistreich klingt, worauf Sie es auch vielleicht angelegt haben; aber mit einem Wort«, schloß er, da er sah, daß ich aufstand und nach meinem Hut griff, »ich kam, um Ihnen diese Zeilen von einer gewissen Person zu übergeben. Lesen sie es durch; ich bin beauftragt, auf Antwort zu warten.« Bei diesen Worten zog er ein kleines, zusammengefaltetes, mit einer Oblate zugeklebtes Papier aus der Tasche und reichte es mir.

Darin stand, von Polinas Hand geschrieben:

»Ich hatte den Eindruck, als beabsichtigten Sie, dieser häßlichen Geschichte noch eine Fortsetzung zu geben. Sie sind in Erregung geraten und beginnen nun, schlechte Streiche zu machen. Aber es liegen hier besondere Umstände vor, und ich werde sie Ihnen vielleicht später erklären; darum seien Sie so gut aufzuhören und sich zu beruhigen! Was sind das alles für Dummheiten! Ich bedarf Ihrer, und Sie selbst haben versprochen, mir zu gehorchen. Denken Sie an den Schlangenberg! Ich bitte Sie, gehorsam zu sein, und wenn es nötig ist, befehle ich es Ihnen. Ihre P.

P.S. Wenn Sie mir wegen des gestrigen Vorfalls böse sind, so verzeihen Sie mir!«

Als ich diese Zeilen gelesen hatte, drehte sich mir alles vor den Augen herum. Die Lippen waren mir blaß geworden, und ein Zittern befiel mich.

Der verdammte Franzose verlieh seiner Miene einen besonderen Ausdruck von Diskretion und wandte die Augen von mir weg, als wolle er meine Verwirrung nicht sehen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er über mich laut aufgelacht hätte.

»Gut«, erwiderte ich. »Bestellen Sie, Mademoiselle möge beruhigt sein! Erlauben Sie mir aber die Frage«, fügte ich in scharfem Ton hinzu, »warum Sie so lange damit gewartet haben, mir dieses Schreiben zu übergeben. Statt leeres Geschwätz zu machen, mußten Sie, wie mir scheint, gerade damit anfangen, wenn Sie wirklich mit diesem Auftrag kamen.«

»Oh, ich wollte … Diese ganze Sache ist überhaupt so seltsam, daß Sie meine natürliche Ungeduld entschuldigen werden. Es lag mir daran, möglichst schnell persönlich von Ihnen selbst Auskunft über Ihre Absichten zu erhalten. Übrigens weiß ich gar nicht, was in diesem Schreiben steht, und meinte, es sei immer noch Zeit, es zu übergeben.«

»Ich verstehe; es ist Ihnen einfach befohlen worden, dieses Blatt nur im äußersten Notfall zu übergeben und, wenn es Ihnen gelänge, die Sache auf mündlichem Wege in Ordnung zu bringen, seine Überreichung ganz zu unterlassen. Ist es nicht so? Sprechen Sie offen, Monsieur de Grieux!«

»Peut-être«, sagte er, indem er eine Miene besonderer Zurückhaltung annahm und mich mit einem eigentümlichen Blick ansah.

Ich nahm den Hut; er nickte mit dem Kopf und ging hinaus. Es kam mir vor, als ob um seine Lippen ein spöttisches Lächeln spielte. Und wie war es auch anders möglich?

»Ich werde schon noch mit dir abrechnen, elender Franzose; wir messen uns noch miteinander!« murmelte ich, als ich die Treppe hinunterstieg. Ich konnte noch zu keinem klaren Gedanken kommen; es war mir, als hätte ich einen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten. Die Luft erfrischte mich ein wenig.

Nach einigen Minuten, sobald ich wieder ordentlich denken konnte, traten mir zwei Gedanken mit aller Deutlichkeit vor die Seele: erstens das Erstaunen darüber, daß aus solchen Kleinigkeiten, aus ein paar knabenhaften, unwahrscheinlichen Drohungen eines jungen Menschen, die gestern so obenhin ausgesprochen waren, sich eine so allgemeine Beunruhigung entwickelt hatte! Und zweitens die Frage: Welchen Einfluß hat dieser Franzose auf Polina? Es genügt ein Wort von ihm, und sie tut alles, was er verlangt, schreibt einen Brief und bittet mich sogar. Gewiß, das Verhältnis der beiden war immer für mich ein Rätsel gewesen, von Anfang an, gleich von der Zeit an, wo ich sie kennenlernte; aber in diesen Tagen hatte ich doch an Polina eine entschiedene Abneigung, ja sogar Verachtung gegen ihn wahrgenommen, und er seinerseits hatte sie gar nicht einmal angesehen, ja war sogar geradezu unhöflich gegen sie gewesen. Das hatte ich wohl bemerkt. Und Polina selbst hatte zu mir von ihrer Abneigung gesprochen; es waren bei ihr schon sehr bedeutsame Geständnisse zum Vorschein gekommen … Also er hatte sie völlig in seiner Gewalt; sie befand sich sozusagen in seinen Fesseln …

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