Kapitel 40

II

Ippolit war schon vor fünf Tagen in Ptizyns Haus übergesiedelt. Das hatte sich in ganz natürlicher Weise so ergeben, ohne viele Worte und ohne irgendwelches Zerwürfnis zwischen ihm und dem Fürsten; sie hatten sich nicht gezankt, sondern waren sogar äußerlich als gute Freunde voneinander geschieden. Gawrila Ardalionowitsch, der an dem damaligen Abend eine so feindliche Haltung gegen Ippolit eingenommen hatte, war schon am dritten Tag nach jenem Ereignis gekommen, um den Kranken zu besuchen, wobei er sich wahrscheinlich durch irgendeinen Einfall leiten ließ, der ihm plötzlich gekommen war. Aus irgendeinem Grund hatte auch Rogoshin angefangen, dem Kranken Besuche zu machen. Der Fürst war in der ersten Zeit der Meinung gewesen, daß es für den »armen Knaben« sogar das beste sein würde, wenn er aus seinem Hause wegzöge. Aber schon während seines Umzuges hatte sich Ippolit dahin geäußert, er siedele zu Ptizyn über, der »so freundlich« sei, ihm »Unterkunft zu gewähren«, und hatte wie mit Absicht niemals gesagt, er ziehe zu Ganja, obgleich gerade Ganja darauf gedrungen hatte, daß er ins Haus aufgenommen wurde. Ganja hatte das gleich damals beachtet, es übelgenommen und sich ins Gedächtnis eingeprägt.

Er hatte recht, als er zu seiner Schwester sagte, der Kranke habe sich erholt. Tatsächlich ging es Ippolit etwas besser als vorher, was man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte. Er trat langsam in das Zimmer ein, hinter den andern, mit einem spöttischen, häßlichen Lächeln auf dem Gesicht. Nina Alexandrowna sah sehr erschrocken aus. (Sie hatte sich im letzten halben Jahr sehr verändert, sie war stark abgemagert; seit sie ihre Tochter verheiratet hatte und zu ihr gezogen war, hatte sie fast ganz aufgehört, sich äußerlich in die Angelegenheiten ihrer Kinder einzumischen.) Koljas Miene war sorgenvoll und zeigte verständnislose Verwunderung; er begriff vieles von den »irren Reden« des Generals nicht, wie er sich ausdrückte, und das war auch natürlich, da er die Hauptursachen dieser neuen Aufregung in der Familie nicht kannte. Aber es war ihm klar, daß der Vater jetzt Stunde für Stunde und überall dermaßen krakeelte und sich auf einmal so stark verändert hatte, daß man meinen konnte, er sei ein ganz anderer Mensch geworden. Es beunruhigte ihn auch, daß der Alte in den letzten drei Tagen ganz aufgehört hatte zu trinken. Er wußte, daß er sich mit Lebedew und dem Fürsten überworfen und sogar gezankt hatte. Kolja war soeben mit einer Flasche Branntwein nach Hause zurückgekehrt, die er für sein eigenes Geld gekauft hatte.

»Wirklich, Mama«, hatte er noch oben zu Nina Alexandrowna gesagt, »wirklich, mag er lieber trinken! Er hat jetzt schon seit drei Tagen keinen Branntwein angerührt; er muß einen stillen Kummer haben. Wirklich, wir wollen ihn lieber trinken lassen; ich habe ihm ja auch ins Schuldgefängnis Branntwein gebracht…«

Der General öffnete die Tür sperrangelweit und stellte sich, zitternd vor Entrüstung, auf die Schwelle.

»Mein Herr!« schrie er mit donnernder Stimme seinem Schwiegersohn Ptizyn zu, »wenn Sie tatsächlich beschlossen haben, einen achtenswerten alten Mann, Ihren Vater, das heißt wenigstens den Vater Ihrer Frau, der seinem Kaiser treu gedient hat, so einem Milchbart und Atheisten aufzuopfern, so wird mein Fuß von dieser Stunde an die Schwelle Ihres Hauses nie wieder betreten. Wählen Sie, mein Herr, wählen Sie unverzüglich: entweder ich oder dieser… dieser Bohrer! Ja, dieser Bohrer! Der Ausdruck ist mir zufällig in den Mund gekommen, aber er ist ein Bohrer! Denn er wühlt wie ein Bohrer in meiner Seele herum, ohne allen Respekt… ja, wie ein Bohrer!«

»Bin ich nicht eher ein Korkenzieher?« fragte Ippolit.

»Nein, kein Korkenzieher, denn du hast einen General vor dir und keine Flasche. Ich besitze Orden und Ehrenzeichen, aber du, du hast nichts, gar nichts. Entweder er oder ich! Entscheiden Sie sich, mein Herr, sofort, sofort!« schrie er Ptizyn wieder wütend an.

In diesem Augenblick stellte ihm Kolja einen Stuhl hin, und er sank fast ganz erschöpft auf ihn nieder.

»Es wäre wirklich das beste, wenn Sie sich schlafen legten«, murmelte Ptizyn, der ganz betäubt war.

»Er droht noch!« sagte Ganja halblaut zu seiner Schwester.

»Schlafen legen!« schrie der General. »Ich bin nicht betrunken, mein Herr, Sie beleidigen mich. Ich sehe«, fuhr er, wieder aufstehend, fort, »ich sehe, daß hier alle gegen mich sind, alle. Genug! Ich gehe … Aber wissen Sie, mein Herr, wissen Sie…«

Man ließ ihn nicht zu Ende reden und veranlaßte ihn, sich wieder hinzusetzen; man bat ihn, sich zu beruhigen. Ganja ging wütend in eine Ecke. Nina Alexandrowna zitterte und weinte.

»Aber was habe ich ihm denn getan? Worüber beklagt er sich denn?« rief Ippolit grinsend.

»Sie hätten ihm nichts getan?« sagte Nina Alexandrowna. »Es ist von Ihnen eine besondere Schändlichkeit und… Unmenschlichkeit, einen alten Mann zu quälen… und noch dazu in Ihrer Lage.«

»Erstens, von welcher Art ist denn meine Lage? Ich schätze Sie, gerade Sie persönlich, sehr hoch, aber…«

»Er ist ein Bohrer!« schrie der General. »Er bohrt in meiner Seele und meinem Herzen herum! Er will, daß ich an den Atheismus glauben soll! Weißt du wohl, du Milchbart, daß ich schon mit Ehren überschüttet war, als du noch gar nicht geboren warst! Du bist weiter nichts als ein neidischer Wurm, der in zwei Stücke zerrissen ist und hustet… und vor Bosheit und Unglauben stirbt… Warum hat dich Ganja bloß hierhergebracht? Alle sind sie gegen mich, von den Fremden angefangen bis zu meinem eigenen Sohn!«

»So hören Sie doch auf mit dem falschen Pathos!« rief Ganja. »Sie sollten nicht in der ganzen Stadt Schande über uns bringen, das wäre besser!«

»Wie? Ich bringe Schande über dich, du Milchbart? Über dich? Ich kann dir nur Ehre bringen, aber keine Unehre!«

Er sprang auf und war nicht mehr zu halten, aber auch Gawrila Ardalionowitsch hatte offenbar alle Selbstbeherrschung verloren.

»Sie reden noch von Ehre!« rief er boshaft.

»Was hast du gesagt?« donnerte der General, der blaß wurde und einen Schritt auf ihn zutrat.

»Ich brauche ja nur den Mund aufzutun, um…«, schrie Ganja, ohne den Satz zu Ende zu sprechen. Beide standen einander gegenüber; sie zitterten vor Wut, besonders Ganja.

»Ganja, was sprichst du da!« rief Nina Alexandrowna und stürzte auf ihren Sohn zu, um ihn aufzuhalten.

»So ein törichtes Gerede von allen Seiten!« sagte Warja entrüstet in scharfem Ton. »Hören Sie auf, Mama!« fügte sie hinzu und faßte ihre Mutter an.

»Ich schone Sie nur um der Mutter willen!« rief Ganja pathetisch.

»Rede!« brüllte der General in höchster Wut. »Rede! Ich befehle es unter Androhung meines väterlichen Fluches … rede!«

»Na, ich werde mich auch gerade vor Ihrem Fluch fürchten! Wer ist denn daran schuld, daß Sie seit acht Tagen wie verrückt sind? Seit acht Tagen; Sie sehen, ich weiß alles genau dem Datum nach … Nehmen Sie sich in acht und treiben Sie mich nicht zum Äußersten, sonst sage ich alles… Warum haben Sie sich denn gestern zu Jepantschins begeben? Und da bezeichnet er sich noch als alten Mann, spricht von seinen grauen Haaren und spielt sich als Familienvater auf! Ein netter Patron!«

»Schweig still, Ganja!« rief Kolja. »Schweig still, du Dummkopf!«

»Aber womit habe ich, ich ihn denn beleidigt?« fragte Ippolit hartnäckig, immer noch in demselben spöttischen Ton, »Warum nennt er mich einen Bohrer, wie Sie selbst gehört haben? Er hat sich selbst an mich herangemacht; er kam eben zu mir und fing an, von einem Hauptmann Jeropegow zu sprechen. Ich wünsche überhaupt nicht, mit Ihnen zu verkehren, General, ich bin Ihnen schon früher aus dem Weg gegangen, wie Sie selbst wissen. Sagen Sie selbst: was geht mich der Hauptmann Jeropegow an? Um des Hauptmanns Jeropegow willen bin ich nicht hierhergezogen. Ich habe ihm nur laut meine Meinung gesagt, daß dieser Hauptmann Jeropegow vielleicht überhaupt niemals existiert hat. Und da hat er einen Höllenlärm gemacht.«

»Zweifellos hat er nicht existiert!« sagte Ganja in scharfem Ton.

Der General stand wie betäubt und blickte nur gedankenlos rings um sich. Die Worte seines Sohnes verblüfften ihn durch ihre ungewöhnliche Offenheit. Im ersten Augenblick konnte er gar keine Worte finden. Erst als Ippolit über Ganjas Antwort laut auflachte und rief: »Na, nun haben Sie es gehört, Ihr eigener Sohn sagt auch, daß es keinen Hauptmann Jeropegow gegeben hat«, erst da murmelte der Alte endlich ganz verwirrt:

»Kapiton Jeropegow, nicht Hauptmann … Kapiton… Oberstleutnant a. D., Jeropegow… Kapiton.«

»Auch diesen Kapiton hat es nicht gegeben!« rief Ganja, der ganz außer sich war.

»Aber… warum soll es ihn nicht gegeben haben?« murmelte der General, dem die Röte ins Gesicht stieg.

»So lassen Sie es gut sein!« sagten Ptizyn und Warja beschwichtigend zu ihm.

»Schweig, Ganja!« rief Kolja wieder.

Aber der Umstand, daß sich jemand seiner annahm, hatte die Wirkung, daß der General wieder zu sich kam.

»Wieso soll es ihn nicht gegeben haben? Warum soll er nicht existiert haben?« fuhr er seinen Sohn zornig an.

»Ganz einfach, weil er nicht existiert hat. Er hat eben nicht existiert und kann überhaupt nicht existiert haben. Da haben Sie es! Lassen Sie mich in Ruhe, sage ich!«

»Und das ist mein Sohn… das ist mein leiblicher Sohn, den ich… o Gott! Jeropegow, Jeroschka Jeropegow soll nicht existiert haben!«

»Na, da sieht man’s, bald heißt er Jeroschka, bald Kapiton!« warf Ippolit dazwischen.

»Kapitoschka, mein Herr, Kapitoschka, nicht Jeroschka! Kapiton, Kapitän Alexejewitsch, hören Sie wohl, Kapiton … Oberstleutnant… a. D. … er heiratete Marja … Marja … Petrowna Su… Su… mein Freund und Kamerad… Sutugowa, als er sogar noch Fähnrich war! Ich habe mein Blut für ihn… mit meinem Leib gedeckt… dennoch gefallen. Kapitoschka Jeropegow soll nicht existiert haben, nicht auf der Welt gewesen sein!«

Der General schrie vor Wut, aber so, daß man denken konnte, es ginge in dem Gespräch um die eine, bei seinem Geschrei aber um eine ganz andere Sache. Und wirklich hätte er zu anderer Zeit gewiß weit stärkere Beleidigungen ertragen, als es die Bemerkung über Kapiton Jeropegows Nichtexistenz war; er hätte wohl ein bißchen Geschrei erhoben, hätte eine Szene gemacht, wäre außer sich geraten, wäre aber doch schließlich nach seinem Zimmer hinaufgegangen, um sich schlafen zu legen. Aber das Menschenherz ist ein sonderbares Ding: jetzt traf es sich, daß gerade eine verhältnismäßig geringe Kränkung wie der Zweifel an Jeropegows Existenz das Gefäß zum Überlaufen bringen mußte. Der Alte wurde purpurrot, hob die Arme in die Höhe und schrie:

»Genug! Mein Fluch… hinaus aus diesem Hause! Nikolai, bring meine Reisetasche, ich gehe… ich will fort!«

Eilig, in höchstem Zorn, ging er hinaus. Nina Alexandrowna, Kolja und Ptizyn stürzten ihm nach.

»Na, was hast du jetzt angerichtet!« sagte Warja zu ihrem Bruder. »Er wird am Ende wieder dorthin gehen. Welche Schande! Welche Schande!«

»Er hätte nicht stehlen sollen!« schrie Ganja, der beinah vor Wut erstickte; plötzlich begegnete sein Blick dem Blick Ippolits, und Ganja fing fast an zu zittern. »Sie aber, mein Herr«, schrie er, »sollten nicht vergessen, daß Sie hier in einem fremden Hause sind und… Gastfreundschaft genießen, und sollten nicht einen alten Mann reizen, der offenbar den Verstand verloren hat…«

Ippolit war ebenfalls zusammengefahren, hatte aber sofort die Herrschaft über sich wiedergewonnen.

»Ich kann Ihnen doch nicht ganz zustimmen, wenn Sie meinen, daß Ihr Papa den Verstand verloren hat«, antwortete er ruhig. »Es scheint mir im Gegenteil, daß sein Verstand in der letzten Zeit sogar zugenommen hat, wahrhaftig, glauben Sie es nicht? Er ist so vorsichtig und argwöhnisch geworden, immer sucht er einen auszuforschen, jedes Wort wägt er ab… daß er mit mir von diesem Kapiton zu reden anfing, dabei hatte er eine besondere Absicht; stellen Sie sich nur vor: er wollte mich darauf bringen, daß…«

»Zum Teufel, was kümmert es mich, worauf er Sie bringen wollte! Ich bitte Sie, mir gegenüber keine listigen Kunstgriffe zur Anwendung zu bringen, mein Herr!« knirschte Ganja. »Wenn Sie gleichfalls den wahren Grund kennen, weshalb der Alte sich in diesem Zustand befindet (und Sie haben in diesen fünf Tagen so um mich herumspioniert, daß Sie ihn wahrscheinlich kennen), so sollten Sie doch den… Unglücklichen nicht reizen und meine Mutter nicht durch Übertreibung der Geschichte quälen, denn die ganze Geschichte ist dummes Zeug, nur Gerede Betrunkener, weiter nichts. Gerede, das durch nichts bewiesen ist und auf das ich nicht einen Pfifferling gebe… Aber Sie müssen immer spionieren und giftige Reden führen, weil Sie… weil Sie…«

»Weil ich ein Bohrer bin«, fiel Ippolit lächelnd ein.

»Weil Sie ein Lump sind. Eine halbe Stunde lang haben Sie die Gesellschaft gepeinigt, indem Sie meinten, Sie könnten sie dadurch erschrecken, daß Sie sich mit Ihrer ungeladenen Pistole totschießen würden, mit der Sie sich so schändlich blamiert haben, Sie erfolgloser Selbstmörder, Sie übergelaufene Galle… auf zwei Beinen. Ich habe Ihnen Gastfreundschaft gewährt, Sie sind hier dick geworden, haben aufgehört zu husten, und nun danken Sie es mir so…«

»Nur zwei Worte, wenn Sie erlauben; ich wohne bei Warwara Ardalionowna und nicht bei Ihnen; Sie haben mir keinerlei Gastfreundschaft erwiesen; ich glaube sogar, daß Sie selbst Herrn Ptizyns Gastfreundschaft genießen. Vor vier Tagen habe ich meine Mutter gebeten, in Pawlowsk eine Wohnung für mich zu suchen und selbst hierher überzusiedeln, weil ich mich hier tatsächlich wohler fühle, obgleich ich keineswegs dicker geworden bin und immer noch huste. Meine Mutter hat mich gestern abend benachrichtigt, daß die Wohnung bereitstehe, und ich beeile mich meinerseits, Ihnen mitzuteilen, daß ich mich noch heute bei Ihrer Mama und bei Ihrer Schwester bedanken und in meine eigene Wohnung übersiedeln werde, wozu ich mich schon gestern abend entschlossen habe. Entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen; Sie wollten, wie es scheint, noch viel sagen.«

»Oh, wenn es so ist…«, begann Ganja zitternd.

»Wenn es so ist, so gestatten Sie, daß ich mich setze«, fügte Ippolit hinzu, indem er sich mit größter Seelenruhe auf den Stuhl niederließ, auf dem der General gesessen hatte. »Ich bin ja immerhin krank. Nun, jetzt bin ich bereit, Ihnen zuzuhören, um so mehr, als dies unser letztes Gespräch und vielleicht sogar unser letztes Zusammensein sein wird.«

Ganja fing auf einmal an, sich zu schämen.

»Sie können mir glauben, daß ich mich nicht dazu herablassen werde, mit Ihnen abzurechnen«, sagte er, »und wenn Sie…«

»Es hat keinen Zweck, daß Sie sich aufs hohe Roß setzen«, unterbrach ihn Ippolit. »Ich meinerseits habe mir schon am ersten Tag, nachdem ich hierher übergesiedelt war, vorgenommen, mir nicht das Vergnügen zu versagen, Ihnen beim Abschied mit vollster Offenheit meine Meinung zu sagen. Ich beabsichtige, dies eben jetzt zu tun, selbstverständlich nach Ihnen.«

»Und ich ersuche Sie, dieses Zimmer zu verlassen.«

»Reden Sie lieber, sonst werden Sie bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben.«

»Hören Sie auf, Ippolit, das alles ist ja unwürdig; tun Sie mir den Gefallen und hören Sie auf!« sagte Warja.

»Höchstens der Dame zuliebe«, erwiderte Ippolit lachend und stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, Warwara Ardalionowna, bin ich Ihnen zuliebe bereit, mich kurz zu fassen, aber auch nur, mich kurz zu fassen, denn eine gewisse Auseinandersetzung zwischen mir und Ihrem Bruder ist durchaus notwendig, und ich werde mich unter keinen Umständen entschließen, beim Fortgehen hier eine Unklarheit zurückzulassen.«

»Sie sind ganz einfach ein Klatschmaul!« rief Ganja. »Darum wollen Sie nicht weggehen, ohne Ihre Klatscherei vorgebracht zu haben!«

»Sehen Sie wohl«, bemerkte Ippolit kaltblütig, »Sie haben schon jetzt die Selbstbeherrschung verloren. Wirklich, Sie werden es bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben. Ich trete Ihnen noch einmal das Wort ab. Ich werde warten.«

Gawrila Ardalionowitsch schwieg und machte ein verächtliches Gesicht.

»Sie wollen es nicht. Sie beabsichtigen, Ihrer Rolle treu zu bleiben, bitte sehr. Meinerseits werde ich mich möglichst kurz fassen. Ich habe heute zwei- oder dreimal einen Vorwurf wegen der genossenen Gastfreundschaft gehört; dieser Vorwurf ist ungerecht. Indem Sie mich zu sich einluden, warfen Sie selbst Ihr Netz nach mir aus; Sie spekulierten darauf, daß ich mich an dem Fürsten rächen wollte. Außerdem hatten Sie gehört, daß Aglaja Iwanowna ihre Teilnahme für mich ausgesprochen und meine Beichte gelesen hatte. Da Sie aus irgendeinem Grund darauf rechneten, daß ich mich ganz Ihren Interessen widmen würde, so hofften Sie, vielleicht in mir einen Helfer zu finden. Ich will mich nicht eingehender darüber aussprechen! Auch von Ihrer Seite verlange ich weder ein Bekenntnis noch eine Bestätigung; es genügt mir, Sie Ihrem eigenen Gewissen zu überlassen und festzustellen, daß wir einander jetzt vortrefflich verstehen.«

»Aber Sie machen Gott weiß was aus einer ganz gewöhnlichen Sache!« rief Warja.

»Ich habe dir ja gesagt: er ist ein Klatschmaul und ein unreifer Bube«, sagte Ganja.

»Wenn Sie erlauben, Warwara Ardalionowna, werde ich fortfahren. Den Fürsten kann ich natürlich weder lieben vielgestaltiger Weg bevor, ich sage nicht, ein heiterer Weg, und freue mich darüber. Zunächst aber sage ich Ihnen voraus, daß Sie eine gewisse Person nicht gewinnen werden…«

»Nein, das ist unerträglich!« rief Warja. »Sind Sie nun fertig, Sie widerwärtiger Bösewicht?«

Ganja war blaß geworden, zitterte und schwieg. Ippolit blieb stehen, betrachtete ihn unverwandt und mit Genuß, ließ dann seine Blicke zu Warja hinübergleiten, lächelte, verbeugte sich und ging, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, hinaus.

Gawrila Ardalionowitsch hätte sich mit Recht über sein Schicksal und das Mißlingen seiner Pläne beklagen können. Eine Weile mochte Warja ihn nicht anreden, ja sie sah ihn nicht einmal an, als er mit großen Schritten an ihr vorbeiging; schließlich trat er ans Fenster und drehte ihr den Rücken zu. Warja dachte an die russische Redensart vom »Stock mit den zwei Enden«. Oben war wieder Lärm zu hören.

»Willst du gehen?« fragte plötzlich Ganja, der sich zu ihr umwandte, als er hörte, daß sie aufstand. »Warte noch einen Augenblick und sieh dir einmal dies hier an!«

Er trat zu ihr heran und warf ein kleines, nach Art eines Briefchens zusammengelegtes Zettelchen vor ihr auf den Stuhl.

»O Gott!« rief Warja und schlug die Hände zusammen.

Das Billett enthielt nur wenige Zeilen:

»Gawrila Ardalionowitsch! Da ich mich von Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich überzeugt habe, möchte ich Sie in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit um Rat fragen. Ich würde Sie gern morgen sprechen, Punkt sieben Uhr früh auf der grünen Bank. Das ist nicht weit von unserem Landhaus. Warwara Ardalionowna, die Sie unbedingt begleiten soll, kennt diesen Platz ganz genau. A. J.«

»Daraus soll nun einer klug werden!« rief Warwara Ardalionowna, erstaunt die Arme ausbreitend.

Obgleich Ganja in diesem Augenblick die größte Lust hatte zu prahlen, konnte er doch nicht umhin, sein Triumphgefühl merken zu lassen, noch dazu nach den demütigenden Prophezeiungen Ippolits. Ein selbstzufriedenes Lächeln glänzte unverhohlen auf seinem Gesicht, und selbst Warja strahlte vor Freude.

»Und das schreibt sie gerade an dem Tag, an dem bei ihnen die Verlobung öffentlich bekanntgegeben wird! Da soll noch einer klug draus werden!«

»Was meinst du, worüber sie morgen mit mir reden will?« fragte Ganja.

»Das ist ganz gleich; die Hauptsache ist, daß sie dich nach sechs Monaten zum erstenmal wieder zu sehen wünscht. Höre auf mich, Ganja: um was es sich auch handeln und wie die Sache sich auch wenden mag, vergiß nicht, daß es für dich wichtig ist! Sehr wichtig! Spiele nicht wieder den Stolzen, mache nicht wieder Fehler, und hüte dich auch davor, ängstlich zu werden! Es hat ihr doch unmöglich entgehen können, zu welchem Zweck ich ein halbes Jahr lang immer hingekommen bin. Und kannst du dir das vorstellen: kein Wort hat sie mir heute davon gesagt, nichts hat sie sich merken lassen. Ich bin nämlich heimlich bei ihnen gewesen, die Alte hat nichts davon gewußt, daß ich da war, sonst hätte sie mich am Ende weggejagt. Ich habe es um deinetwillen riskiert hinzugehen, weil ich durchaus erfahren wollte…«

Wieder erscholl von oben Geschrei und Lärm; mehrere Personen kamen die Treppe herunter.

»Wir dürfen das jetzt um keinen Preis zulassen!« rief Warja hastig und ängstlich. »Es darf auch nicht die Spur von Skandal geben! Geh hin und bitte um Verzeihung!«

Aber das Oberhaupt der Familie war schon auf der Straße. Kolja, der die Reisetasche trug, hinter ihm. Nina Alexandrowna stand auf der Treppe und weinte; sie wollte ihm nachlaufen, aber Ptizyn hielt sie zurück.

»Sie fachen seinen Zorn dadurch nur noch mehr an«, sagte er zu ihr. »Er kann ja nirgends hingehen, in einer halben Stunde wird er wieder hierher zurückgebracht werden, ich habe schon mit Kolja darüber gesprochen; lassen Sie ihn nur seine Dummheit begehen!«

»Was machen Sie denn für Streiche? Wo wollen Sie denn hin?« rief Ganja aus dem Fenster. »Sie können ja nirgends hingehen!«

»Kommen Sie wieder zurück, Papa!« rief Warja. »Die Nachbarn werden aufmerksam.«

Der General blieb stehen, wandte sich um, streckte den Arm aus und schrie:

»Mein Fluch über dieses Haus!«

»Anders als in diesem Theaterton kann er nicht reden!« murmelte Ganja und schlug das Fenster zu.

Die Nachbarn hörten wirklich zu. Warja lief aus dem Zimmer.

Als Warja hinausgegangen war, nahm Ganja den Zettel vom Tisch, küßte ihn, schnalzte mit der Zunge und machte einen kleinen Luftsprung.

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Kapitel 34

VI

»Ich will nicht lügen: die Wirklichkeit hat in diesen sechs Monaten auch nach mir ihre Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohnedies vergessen. Auch zu Hause, das heißt ›in der Familie‹, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte, zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal, vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie keinen Lärm machten und mich dadurch störten, denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie sie mich jetzt dafür lieben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt beschwören, daß seine Lippen damals nicht vor Zorn bebten, und als er mich am Arm faßte und sein prächtiges ›Gehen Sie weg!‹ sagte, da war er gar nicht zornig. Eine gewisse Würde lag darin, sogar viel Würde, eine Würde, die zu seinem ganzen Wesen gar nicht recht passen wollte (so daß sie, die Wahrheit zu sagen, recht komisch wirkte), aber Zorn lag nicht darin. Vielleicht hatte er einfach angefangen, mich zu verachten. Seit jener Zeit begann er plötzlich, als ich ihm ein paarmal auf der Treppe begegnete, vor mir den Hut abzunehmen, was er früher nie getan hatte, aber er blieb nicht mehr stehen wie früher, sondern lief verlegen an mir vorbei. Wenn er mich auch verachtete, so machte er das doch auf seine Weise: er ›verachtete demütig‹. Vielleicht aber nahm er seinen Hut auch einfach aus Furcht ab, weil ich der Sohn seiner Gläubigerin war; denn er war meiner Mutter beständig Geld schuldig und nie imstande, sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Und das ist sogar das wahrscheinlichste. Ich hätte mich gern mit ihm ausgesprochen und weiß sicher, daß er nach zehn Minuten mich um Verzeihung gebeten hätte; aber ich war doch der Meinung, daß es das beste sei, ihn in Ruhe zu lassen.

Zur gleichen Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden, und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr, ich konnte ihn nicht genauer erkennen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er an einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben, – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter, auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach der folgenden Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das nächste Zimmer.

Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; an sonstigen Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bette quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind zu ›wechseln‹, das heißt mit trockenen Windeln zu versehen, aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, er lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.

Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stande, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden.

Als ich eintrat, war der Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebensmittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen, denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war düster, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab.

Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Der Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunderding, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, stürzte der Herr mit einer wahren Wut auf mich los; namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.

›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.

›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)

Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹

Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trocknerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.

›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet, ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente, hier ist alles … oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹

Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen, aber ich bekam selbst keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr hin und her lief, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl hinstellte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt.

›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, indem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin… Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendeinem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, als protestiere er gegen seine jetzige Lage. ›Ich sehe, daß Sie…‹

›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf.

Er sprang ebenfalls auf.

›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und… bei Anwendung geeigneter Mittel…‹

Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand.

›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke, ›in der vorigen Woche hat mich B-n untersucht‘ (ich brachte also wieder B-n hinein), und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie…‹

Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen, aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, freundliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb, nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält, das sah ich.

›Wenn ich…‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen… ich… Sie sehen…‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage…‹

›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei, das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹

›Woher… woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt.

›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹

Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm widerfahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet, aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn gewühlt und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war mit seinen letzten Mitteln nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör geschenkt, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen, – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und… und… ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten, und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich… ich…‹

Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke, das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an.

›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow, sein Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Pjotr Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor…‹

›Pjotr Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹

Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich durch Zufall mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten auf mich möglichst keinerlei Hoffnungen setzen, ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast), es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben, aber ich würde mich sofort nach der Wassilij-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig wisse, daß sein Onkel, der Wirkliche Staatsrat, ein kinderloser Junggeselle, an seinem Neffen, in dem er den letzten Sproß seines Geschlechtes sehe, außerordentlich hänge und ihn sehr in sein Herz geschlossen habe, so ›wird mein Kamerad vielleicht imstande sein, mir zu Gefallen bei seinem Onkel etwas für Sie durchzusetzen…‹

›Wenn mir nur gestattet würde, mich vor Seiner Exzellenz zu rechtfertigen! Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden, die Sache mündlich darzulegen!‹ rief er; er zitterte wie im Fieber, und seine Augen glänzten. So drückte er sich aus: ›Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden!‹ Nachdem ich noch einmal wiederholt hatte, die Sache werde wahrscheinlich mißlingen und alles sich als Torheit herausstellen, fügte ich hinzu, wenn ich morgen vormittag nicht zu ihnen käme, so sei die Sache aus und sie hätten nichts mehr zu erwarten. Sie begleiteten mich unter Verbeugungen hinaus und waren fast wie von Sinnen. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck vergessen. Ich nahm mir eine Droschke und fuhr sogleich nach der Wassilij-Insel.

Mit diesem Bachmutow hatte ich auf dem Gymnasium mehrere Jahre lang auf gespanntem Fuß gelebt. Er galt bei uns als Aristokrat, wenigstens nannte ich ihn so: er war stets elegant gekleidet und kam in eigener Equipage angefahren, indessen renommierte er nicht, sondern benahm sich stets als guter Kamerad, war immer außerordentlich heiter und sogar manchmal recht witzig, obgleich es mit seinem Verstand nicht weit her war, wiewohl er in der Klasse immer den ersten Platz innehatte; ich dagegen war nie in irgendeinem Gegenstand der Erste. Alle Kameraden mochten ihn gern leiden, nur ich nicht. Mehrmals hatte er sich mir in jenen Jahren zu nähern versucht, aber ich hatte mich jedesmal mürrisch und gereizt von ihm abgewandt. Jetzt hatte ich ihn schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen; er besuchte die Universität. Als ich zwischen acht und neun Uhr abends zu ihm ins Zimmer trat (es war sehr offiziell zugegangen, indem man mich erst angemeldet hatte), empfing er mich zunächst erstaunt, auch nicht einmal eigentlich freundlich, dann aber wurde er sofort heiter und lachte, als er mich ansah, auf einmal laut auf.

›Wie sind Sie denn auf den Einfall gekommen, mich zu besuchen, Terentjew?‹ rief er mit seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Ungeniertheit, die manchmal etwas Dreistes, aber nie etwas Verletzendes hatte, die mir an ihm so gefiel und um derentwillen ich ihn so haßte. ›Aber was ist das?‹ rief er erschrocken. ›Sie sehen ja ganz krank aus!‹

Der Husten quälte mich wieder, ich sank auf einen Stuhl und konnte mich nur mit Mühe wieder erholen.

›Beunruhigen Sie sich nicht, ich habe die Schwindsucht‹, sagte ich. ›Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.‹

Erstaunt setzte er sich hin, ich trug ihm sofort die ganze Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den Unglücklichen etwas erwirken.

›Das werde ich tun, das werde ich unbedingt tun, gleich morgen werde ich meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen, ich freue mich sogar sehr, Sie haben das alles so hübsch erzählt… Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹

›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu.

›Gerade wie Napoleon sich an England gewandt hat!‹ rief er lachend. ›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen, wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst und gemessen vom Stuhl aufstand.

Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen solchen Verlauf, wie man ihn sich besser gar nicht denken konnte. Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in einem andern Gouvernement, er bekam das Umzugsgeld und sogar eine Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, recht trocken empfing), – daß Bachmutow, wie ich vermute, den Arzt sogar überredete, ein Darlehen von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie sehr bald wieder nach Haus zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai, es war ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht hinab. Bachmutow begleitete mich nach Haus; wir gingen über die Nikolai-Brücke, der genossene Wein hatte auf uns beide seine Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich drängte es, mich auszusprechen.

›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber die Organisation des gesellschaftlichen Almosenwesens und die Frage der persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen einander nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird allezeit bestehenbleiben, denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen Namen, ein »General«, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern; jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im voraus, daß »der alte General« ihm auf den einen Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei jedem nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine Strafpredigt und nannte sie alle »Täubchen«. Er gab ihnen Geld und schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und Leinwand, auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung, daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen fragte er nur selten, jedoch hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich, er machte darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern, sie selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so trat er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu seinem Tod, es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien bekannt war, das heißt bei allen und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann …‹ Und so weiter, ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.

›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.

In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter.

›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer beugte.

›Doch nicht ins Wasser zu springen?‹ rief Bachmutow beinah entsetzt. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.

›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in diesem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹

Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt, er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben, ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.

Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken, eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese ständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Entscheidung drängen würde. Aber zu dieser Entscheidung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes.

Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein, aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Oben habe ich soeben die Bemerkung hingeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoshin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoshin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Friedhof, ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist schon für sich zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.

Dieser Besuch bei Rogoshin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett, und zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fornitsch vor Augen, von dem ich träumte, er wäre in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zwecke das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoshin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes, aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.

Auf diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹ und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wenn auch etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.

Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeitweilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als führe mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und als lache er über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer zur Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, jedoch kann man alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoshin trat herein.

Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoshin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar, aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen, aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war derart, daß Rogoshin wegen desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen feindseliger Stimmung getrennt, und ich erinnere mich sogar, daß er mich ein paarmal sehr spöttisch angesehen hatte. Und nun las ich in seinem Blick den gleichen Spott, und das war es eben, was mich beleidigte. Daran, daß dies wirklich Rogoshin selbst war und nicht eine Erscheinung, ein Fieberwahn, daran zweifelte ich anfangs nicht im geringsten. Ein solcher Gedanke kam mir überhaupt gar nicht in den Kopf.

Unterdessen saß er noch immer da und schaute mich mit demselben Lächeln an. Ich drehte mich zornig im Bett herum, stützte mich ebenfalls mit dem Ellbogen auf das Kopfkissen und beschloß absichtlich, auch meinerseits zu schweigen, und wenn wir noch so lange so dasitzen sollten. Aus irgendeinem Grunde wollte ich durchaus, daß er zuerst anfangen sollte zu reden. Ich glaube, so vergingen etwa zwanzig Minuten. Plötzlich kam mir der Gedanke: wie, wenn das nicht Rogoshin ist, sondern eine Erscheinung?

Weder in meiner Krankheit noch sonst je in der vorhergehenden Zeit hatte ich eine Erscheinung gehabt; aber ich hatte immer, schon seit meiner Kinderzeit, gemeint, und das meinte ich auch jetzt, das heißt noch vor kurzem, wenn ich auch nur ein einziges Mal eine Erscheinung sähe, so würde ich auf der Stelle sterben, und zwar meinte ich das, obwohl ich an keine Erscheinungen glaube. Aber als mir der Gedanke kam, daß dies nicht Rogoshin, sondern nur eine Erscheinung sei, erschrak ich, wie ich mich erinnere, gar nicht darüber. Noch mehr: ich wurde darüber sogar zornig. Sonderbar war auch das, daß die Beantwortung der Frage, ob das eine Erscheinung sei oder Rogoshin selbst, mich eigentlich gar nicht so beschäftigte und beunruhigte, wie es wohl natürlich gewesen wäre; ich glaube, daß ich damals an etwas ganz anderes dachte. Es interessierte mich zum Beispiel weit mehr, warum Rogoshin, der vorhin in Schlafrock und Pantoffeln gewesen war, jetzt einen Frack, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte trug. Es tauchte in meinem Kopf auch der Gedanke auf: wenn das eine Erscheinung war und ich mich nicht vor ihr fürchtete, warum sollte ich dann nicht aufstehen und zu ihr hingehen und mich selbst vergewissern? Vielleicht wagte ich es übrigens auch nicht und fürchtete mich doch. Aber sowie mir der Gedanke gekommen war, daß ich mich fürchtete, kam es mir vor, als führe man mir mit einem Stück Eis über den ganzen Körper, ich fühlte eine Kälte im Rücken, und die Knie zitterten mir. Gerade in diesem Augenblick ließ Rogoshin, als hätte er erraten, daß ich mich fürchtete, den Arm, mit dem er sich aufgestützt hatte, sinken, richtete sich auf und öffnete den Mund, als wollte er loslachen; dabei sah er mich starr an. Mich ergriff eine solche Wut, daß ich mich wirklich auf ihn stürzen wollte, aber da ich mir fest vorgenommen hatte, daß ich nicht zuerst anfangen wollte zu reden, so blieb ich im Bett, um so mehr, als ich mir immer noch nicht im klaren darüber war, ob es Rogoshin selbst wäre oder nicht.

Ich erinnere mich nicht genau, wie lange das dauerte; auch habe ich keine sichere Erinnerung, ob ich manchmal auf Minuten das Bewußtsein verlor oder nicht. Endlich jedoch stand Rogoshin auf, musterte mich ebenso langsam und aufmerksam wie vorher, als er hereinkam, lächelte aber nicht mehr und ging leise, beinah auf den Zehen, zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Ich stand nicht vom Bett auf; ich erinnere mich nicht, wie lange ich noch mit offenen Augen dalag und nachdachte, weiß Gott, worüber ich nachdachte; ebensowenig erinnere ich mich, wie mir das Bewußtsein schwand und ich einschlief. Am andern Morgen erwachte ich, als nach neun Uhr an meine Tür geklopft wurde. Ich hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, wenn ich nicht selbst bis neun Uhr die Tür öffnete und nach Tee riefe, solle Matrjona bei mir anklopfen. Als ich ihr die Tür aufmachte, kam mir sofort der Gedanke: wie hat er nur hereinkommen können, da doch die Tür verschlossen war? Ich erkundigte mich und überzeugte mich, daß es für den wirklichen Rogoshin unmöglich gewesen war, hereinzukommen, da all unsere Türen zur Nacht zugeschlossen werden.

Dieses eigenartige Erlebnis, das ich so ausführlich erzählt habe, war nun auch die Ursache, weshalb ich endgültig meinen ›Entschluß‹ faßte. Diesen endgültigen Entschluß führte also nicht die Logik, nicht eine logische Überzeugung herbei, sondern der Ekel. Es war mir unmöglich, in einem Leben zu verharren, das so seltsame, für mich beleidigende Formen annahm. Diese Gespenstererscheinung hatte mich erniedrigt. Ich konnte mich nicht einer dunklen Macht unterordnen, die die Gestalt einer Tarantel annahm. Und erst dann, als ich, schon in der Dämmerung, zum festen, endgültigen Entschluß gelangt war, erst da wurde mir leichter ums Herz. Dies war nur das erste Moment; um das zweite Moment zu erleben, fuhr ich nach Pawlowsk, aber das ist bereits hinreichend klargestellt.«

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Kapitel 35

VII

»Ich besaß eine kleine Taschenpistole, die ich mir noch als Kind angeschafft hatte, in jenem komischen Lebensalter, wo man auf einmal anfängt, an Geschichten von Duellen und räuberischen Überfällen Gefallen zu finden, und wo ich mir ausmalte, wie ich zum Duell herausgefordert werden und mit welchem edlen Anstand ich vor der Pistole des Gegners dastehen würde. Vor einem Monat habe ich sie mir wieder angesehen und instand gesetzt. In dem Kasten, in dem sie lag, fanden sich zwei Kugeln und im Pulverhorn Pulver für drei Schüsse. Diese Pistole ist ein elendes Ding, der Schuß weicht zur Seite ab und trägt nur fünfzehn Schritt weit, aber sie kann doch wohl einen Schädel zerschmettern, wenn man sie dicht an die Schläfe setzt.

Ich beschloß, in Pawlowsk bei Sonnenaufgang zu sterben und dazu in den Park zu gehen, um die Bewohner der Landhäuser nicht zu stören. Meine ›Erklärung‹ wird der Polizei die ganze Sache hinreichend klarlegen. Freunde der Psychologie und wer sonst Lust hat, mögen aus ihr alle ihnen beliebigen Schlüsse ziehen. Ich würde jedoch nicht wünschen, daß dieses Manuskript der Öffentlichkeit übergeben wird. Ich bitte den Fürsten, ein Exemplar für sich zu behalten und ein zweites Aglaja Iwanowna Jepantschina zu geben. Dies ist mein Wille. Ich vermache mein Skelett der medizinischen Akademie zum Besten der Wissenschaft.

Ich erkenne keine Richter an, die mich richten dürften, und weiß, daß ich jetzt außerhalb des Machtbereichs eines jeden Gerichtes stehe. Erst neulich noch belustigte mich folgende Vorstellung: wenn es mir jetzt auf einmal in den Sinn käme, einen beliebigen Menschen zu töten, meinetwegen zehn Menschen zugleich, oder sonst eine Handlung zu begehen, die in dieser Welt als besonders schrecklich gilt, in welche Verlegenheit würde dann das Gericht mir gegenüber kommen in Anbetracht dessen, daß ich nur noch zwei bis drei Monate zu leben habe und die Folter und die körperlichen Mißhandlungen abgeschafft sind? Ich würde behaglich in einem Krankenhaus sterben, in einem warmen Zimmer und unter der Obhut eines aufmerksamen Arztes, und es vielleicht weit behaglicher und wärmer haben als bei mir zu Hause. Ich verstehe nicht, warum Leuten, die sich in gleicher Lage befinden wie ich, nicht derselbe Gedanke in den Kopf kommt, wenn auch nur zum Scherz. Vielleicht kommt er ihnen übrigens auch in den Kopf; heitere Leute gibt es ja auch bei uns viele.

Aber wenn ich auch kein Gericht anerkenne, so weiß ich doch, daß man mich richten wird, wenn ich erst ein tauber und stummer Angeklagter sein werde. Ich will nicht aus der Welt gehen, ohne ein Wort der Entgegnung zurückzulassen, ein freies Wort, ein Wort, das mir nicht abgenötigt ist; nicht zu meiner Entschuldigung, o nein! ich brauche niemand um Verzeihung zu bitten und für nichts, sondern einfach, weil ich es so wünsche.

Hier zunächst ein sonderbarer Gedanke: wer könnte mir jetzt unter Berufung auf irgendwelches Recht oder irgendwelches innere Gefühl das Recht bestreiten wollen, über diese zwei, drei Wochen, die ich noch Frist habe, nach meinem Belieben zu verfügen? Welches Gericht hat sich darum zu kümmern? Wer kann ein Interesse daran haben, daß ich nicht nur zum Tode verurteilt bin, sondern auch noch wohlgesittet den Hinrichtungstermin abwarten muß? Kann das wirklich jemand verlangen? Etwa um der Moral willen? Wenn ich mir in der Blüte der Gesundheit und Kraft das Leben nehmen wollte, das ›meinem Nächsten noch nützlich sein könnte‹ und so weiter, dann würde ich es noch verstehen, daß die Moral auf Grund der alten Anschauung es als tadelnswert ansähe, daß ich über mein Leben, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, Verfügung träfe, oder was sie sonst noch vorbringen möchte. Aber jetzt, jetzt, wo mir der Hinrichtungstermin bereits angekündigt ist? Welche Moral kann denn außer dem Leben des Todeskandidaten auch noch das letzte Röcheln beanspruchen, mit dem er den letzten Lebenshauch von sich gibt, während er die Trostworte des Fürsten anhört, der in seinen christlichen Beweisen sich sicher zu dem glücklichen Gedanken versteigen wird, daß es im Grunde für den Betreffenden sogar das beste ist, wenn er stirbt. (Christen von seinem Schlage versteigen sich immer zu diesem Gedanken, das ist ihr liebstes Steckenpferd.) Und was wollen diese Menschen immer mit ihren lächerlichen ›Bäumen von Pawlowsk‹? Mir die letzten Lebensstunden versüßen? Können sie denn nicht begreifen, daß sie mich um so unglücklicher machen, je mehr ich meine Lage vergesse, je mehr ich mich diesem letzten Trugbild von Leben und Liebe hingebe, mit dem sie mir meine Meyersche Mauer und alles, was ich so offenherzig und schlicht darauf geschrieben habe, verdecken wollen? Was helfen mir eure freie Natur, euer Pawlowsker Park, eure Sonnenauf- und -untergänge, euer blauer Himmel und eure zufriedenen Gesichter, wenn dieses ganze Fest, das kein Ende nimmt, damit angefangen hat, daß es mich zu einem überflüssigen Gast erklärte? Was soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt im Sonnenstrahl um mich herumsummt, an diesem ganzen Festschmaus und Festchor teilnimmt, ihren Platz in ihm kennt und liebt und glücklich ist, während ich allein ein Ausgestoßener bin und nur infolge meiner Schwachmütigkeit das bisher nicht habe begreifen wollen? Oh, ich weiß ja, wie gern der Fürst und all diese Leute mich dahin bringen möchten, daß auch ich statt all dieser ›grimmigen, boshaften‹ Reden sittsam zum Triumph der Moral in Millevoyes berühmte klassische Strophe einstimmte:

›O, puissent voir votre beauté sacrée
Tant d’amis, sourds à mes adieux!
Qu’ils meurent pleins de jours, que leur mort soit pleurée,
Qu’un ami leur ferme les yeux!‹

Oh, könnten sie eure heilige Schönheit sehn,
All die Freunde, die taub für mein Scheiden!
Mögen sie am Ende ihrer Tage sterben, möge ihr Tod beweint werden,
Möge ein Freund ihnen die Augen zudrücken! (frz.)

Aber glaubt es nur, glaubt es nur, ihr harmlosen Leute, daß auch in dieser wohlgesitteten Strophe, in diesem akademischen Segen, den der Dichter der Welt in seinen französischen Versen erteilt, so viel heimliche Galle, so viel unversöhnlicher, sich selbst an den Reimen erquickender Groll steckt, daß vielleicht sogar der Dichter selbst sich hat täuschen lassen und diesen Groll für Tränen der Rührung gehalten hat und in diesem Glauben gestorben ist; Friede seiner Asche! Wisset, daß es in dem Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und Schwäche eine Grenze der Schande gibt, über die der Mensch nicht mehr hinausgehen kann und bei der er anfängt, in seiner Schande selbst einen großen Genuß zu empfinden … Nun, gewiß, die Sanftmut ist eine gewaltige Kraft in diesem Sinne, das gebe ich zu, obwohl nicht in dem Sinne, in welchem die Religion die Sanftmut für eine Kraft hält.

Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem Willen einer höheren Macht entzündet worden, nehmen wir an, dieses mit Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt: ›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck, der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei, – dies alles zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die Frage: wozu ist unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war, um irgendeine allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast herzustellen und so weiter und so weiter, geradeso wie täglich der Opfertod vieler Millionen von Wesen notwendig ist, ohne den die übrige Welt nicht existieren kann (obwohl dazu bemerkt werden muß, daß diese Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung nichts verstehe, aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit: wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles erscheint unmöglich und ungerecht.

Und doch habe ich mir niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches, vorstellen können, daß es kein zukünftiges Leben und keine Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden, daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen? Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen, hier sei eben Gehorsam vonnöten, man müsse gehorchen, ohne zu räsonieren, einzig und allein aus guter Gesittung, und ich würde mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir erniedrigten die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen zuschrieben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist, sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist. Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiele zu lassen.

Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird gewiß die Sonne schon aufgehen und ›nach alter Weise am Himmel tönen‹, und eine gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich gerade auf die Quelle der Kraft und des Lebens hinblicke, und ich werde dieses Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht, zu sterben, obgleich ich nur einen kargen, schon gezählten Rest hingebe. Das ist keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das Schicksal.

Eine letzte Erklärung: ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden Trost haben, aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht will ich die letzte Möglichkeit zum Handeln benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat …«

Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne …

Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt vom Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung, mit der Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie ein vom Baum abgerissenes zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen – was er jetzt zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat –, prägte sich in seinem Blick und seinem Lächeln sofort der hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille aus. Er schien mit seiner Herausforderung Eile zu haben. Aber auch die Zuhörer waren voller Entrüstung. Alle erhoben sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so ausdrücken kann, den Schmutz der Empfindungen.

Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte.

»Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den leuchtenden Baumwipfeln hinblickte und, zum Fürsten gewandt, auf sie wie auf ein Wunder hinwies. »Sie ist aufgegangen!«

»Haben Sie denn gedacht, sie würde nicht aufgehen?« bemerkte Ferdyschtschenko.

»Das verspricht wieder Hitze für den ganzen Tag«, murmelte Ganja lässig und ärgerlich; er hielt den Hut in der Hand, reckte sich und gähnte. »Die Trockenheit scheint den ganzen Monat anzuhalten! … Wollen wir gehen, Ptizyn?«

Ippolit wurde, als er ihn so reden hörte, fast starr vor Staunen; plötzlich erbleichte er furchtbar und begann am ganzen Leib zu zittern.

»Sie bringen die Gleichgültigkeit, mit der Sie mich kränken wollen, in recht ungeschickter Weise zum Ausdruck«, wandte er sich an Ganja und sah ihn dabei starr an. »Sie sind ein Nichtswürdiger!«

»Na, weiß der Teufel, was das bedeuten soll, sich so aufzuknöpfen!« schrie Ferdyschtschenko. »Was ist das für eine unerhörte Schwachheit!«

»Er ist einfach ein Narr«, sagte Ganja.

Ippolit hatte wieder ein wenig Kraft gesammelt.

»Ich verstehe es, meine Herren«, begann er, immer noch wie vorher zitternd und bei jedem Wort stockend, »daß ich Ihre persönliche Rache verdient habe, und … ich bedaure, Sie mit diesen Fieberphantasien« (er wies auf das Manuskript) »halbtot gequält zu haben. Übrigens bedaure ich, daß es mir nicht gelungen ist, Sie ganz totzuquälen …« (Er lächelte dumm.) »Habe ich Sie totgequält, Jewgenij Pawlytsch?« fragte er diesen, sich plötzlich zu ihm wendend. »Habe ich Sie totgequält oder nicht? Antworten Sie!«

»Es war etwas zu weit ausgesponnen, aber im übrigen…«

»Sagen Sie alles! Lügen Sie wenigstens ein einziges Mal in Ihrem Leben nicht!« rief Ippolit zitternd in befehlendem Ton.

»Oh, mir ist die Sache ganz gleichgültig! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch und wandte sich geringschätzig ab.

»Gute Nacht, Fürst!« sagte Ptizyn, an diesen herantretend.

»Aber er wird sich gleich erschießen! Was machen Sie denn! Sehen Sie ihn doch nur an!« rief Wera, stürzte in größter Angst zu Ippolit hin und faßte ihn sogar an den Armen. »Er hat ja gesagt, bei Sonnenaufgang wolle er sich erschießen! Was machen Sie denn!«

»Er wird sich nicht erschießen!« murmelten einige spöttisch, darunter auch Ganja.

»Meine Herren, nehmen Sie sich in acht!« rief Kolja und faßte Ippolit ebenfalls am Arm. »Sehen Sie ihn nur an! Fürst! Fürst, warum tun Sie denn nichts?«

Um Ippolit drängten sich Wera, Kolja, Keller und Burdowskij; alle vier hatten ihn an den Armen gepackt.

»Er hat ein Recht… ein Recht…«, murmelte Burdowskij, der übrigens ebenfalls ganz fassungslos war.

»Erlauben Sie, Fürst, was wollen Sie nun anordnen?« fragte Lebedew, auf den Fürsten zugehend, er war betrunken und bis zur Frechheit aufgebracht.

»Was ich anordnen will?«

»Nein, erlauben Sie, ich bin der Hausherr, obgleich ich es an Achtung Ihnen gegenüber nicht fehlen lassen will… Allerdings sind auch Sie hier Hausherr, aber ich will nicht, daß so etwas in meinem eigenen Hause… Jawohl.«

»Er wird sich nicht erschießen, der Junge treibt nur Possen!« rief ganz unerwartet General Iwolgin entrüstet und mit großartiger Würde.

»Der General hat’s getroffen!« stimmte Ferdyschtschenko bei.

»Das weiß ich, daß er sich nicht erschießen wird, General, hochverehrter General, aber doch… denn ich bin doch der Hausherr.«

»Hören Sie mal, Herr Terentjew«, sagte auf einmal Ptizyn, nachdem er sich von dem Fürsten verabschiedet hatte, und streckte Ippolit seine Hand hin, »Sie reden ja wohl in Ihrem Heft von Ihrem Skelett und vermachen es der Akademie? Meinen Sie damit Ihr eigenes Skelett? Vermachen Sie also der Akademie Ihre eigenen Knochen?«

»Ja, meine Knochen…«

»Soso. Sonst wäre nämlich ein Mißverständnis möglich. Man sagt, ein solcher Fall sei bereits vorgekommen.«

»Warum hänseln Sie ihn?« rief der Fürst.

»Ihm kommen schon die Tränen«, fügte Ferdyschtschenko hinzu.

Aber Ippolit weinte ganz und gar nicht. Er wollte sich von seinem Platz rühren, aber die vier Personen, die ihn umringten, griffen gleichzeitig nach seinen Armen. Man hörte lachen.

»Das hat er ja gerade gewollt, daß man ihn bei den Armen halten soll, dazu hat er ja sein Heft vorgelesen«, bemerkte Rogoshin. »Leb wohl, Fürst! Ach, ich habe zu lange gesessen, die Knochen tun mir weh.«

»Wenn Sie sich wirklich haben erschießen wollen, Terentjew«, sagte Jewgenij Pawlowitsch lachend, »so würde ich an Ihrer Stelle nach all den Komplimenten, die man Ihnen gemacht hat, mich nun gerade nicht erschießen, um die Leute zu foppen.«

»Diese Menschen möchten alle furchtbar gern sehen, wie ich mich erschieße!« warf ihm Ippolit entgegen.

Er sprach, als wollte er auf alle losfahren.

»Und ärgern sich darüber, daß sie es nicht zu sehen bekommen.«

»Also glauben auch Sie nicht, daß ich es tun werde?«

»Ich will Sie nicht anstacheln, ich halte es vielmehr für sehr möglich, daß Sie sich erschießen werden. Vor allen Dingen werden Sie nicht böse!…« sagte Jewgenij Pawlowitsch langsam, indem er die Worte in gönnerhafter Weise dehnte.

»Ich sehe erst jetzt, was für einen ungeheuren Fehler ich damit begangen habe, daß ich Ihnen dieses Heft vorgelesen habe!« erwiderte Ippolit und blickte Jewgenij Pawlowitsch auf einmal mit so vertrauensvoller Miene an, als bäte er einen Freund um einen freundschaftlichen Rat.

»Es ist eine komische Situation für Sie, aber … ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen raten soll«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch lächelnd.

Ippolit sah ihn mit unverwandtem Blick ernst und starr an und schwieg. Man konnte denken, daß er zeitweilig völlig geistesabwesend war.

»Nein, erlauben Sie, was ist denn das für eine Art!« ereiferte sich Lebedew. »›Ich will mich im Park erschießen‹, sagt er, ›um niemand zu stören!‹ Er denkt wohl, daß er niemand stört, wenn er die Stufen hinuntersteigt und drei Schritte weit in den Garten geht.«

»Meine Herren …«, begann der Fürst.

»Nein, erlauben Sie, hochverehrter Fürst«, unterbrach ihn Lebedew wütend, »da Sie selbst sehen, daß das kein Scherz ist, und da mindestens die Hälfte Ihrer Gäste der gleichen Meinung und der bestimmten Überzeugung ist, daß er jetzt, nach allem hier Gesprochenen, um der Ehre willen sich unter allen Umständen erschießen muß, so erkläre ich als der Hausherr in Gegenwart dieser Zeugen, daß ich Sie auffordere, mir behilflich zu sein!«

»Was sollen wir denn tun, Lebedew? Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen.«

»Was geschehen muß, ist dies: erstens soll er sofort die Pistole ausliefern, von der er uns vorgeprahlt hat, sowie das sämtliche Zubehör. Wenn er das tut, so will ich in Anbetracht seines krankhaften Zustandes damit einverstanden sein, daß er diese Nacht im Hause bleibt, natürlich unter der Bedingung, daß er von mir beaufsichtigt wird. Morgen aber muß er unter allen Umständen fort, da mag er gehen, wohin es ihm beliebt; nehmen Sie es nicht übel, Fürst! Wenn er aber seine Waffe nicht ausliefert, so werde ich ihn unverzüglich an den Armen packen, ich am einen, der General am andern, und ich werde sofort zur Polizei schicken und sie benachrichtigen; die wird dann schon das Weitere veranlassen. Herr Ferdyschtschenko als guter Bekannter von mir wird so freundlich sein und hingehen.«

Ein großer Lärm erhob sich. Lebedew war in eine Hitze geraten, die bereits jedes Maß überstieg; Ferdyschtschenko machte sich fertig, um zur Polizei zu gehen; Ganja blieb ärgerlich bei seiner Behauptung, es werde sich niemand erschießen. Jewgenij Pawlowitsch schwieg.

»Fürst, sind Sie einmal von einem Kirchturm hinabgestürzt?« flüsterte Ippolit ihm plötzlich zu.

»N-nein…«, antwortete der Fürst naiv.

»Haben Sie etwa geglaubt, ich hätte diesen ganzen Haß nicht vorhergesehen?« flüsterte Ippolit wieder und sah den Fürsten mit funkelnden Augen an, als erwarte er tatsächlich von ihm eine Antwort. »Nun genug!« rief er, indem er sich an alle Anwesenden wandte. »Ich bin daran schuld… in höherem Grad als Sie alle! Lebedew, da ist der Schlüssel.« (Er zog sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen Stahlring mit drei oder vier kleinen Schlüsseln.) »Dieser ist es, der vorletzte… Kolja wird es Ihnen zeigen… Kolja! Wo ist Kolja?« rief er, er starrte Kolja an, ohne ihn zu sehen. »Ja… er wird es Ihnen zeigen; er hat vorhin mit mir zusammen meinen Koffer gepackt. Führen Sie ihn hin, Kolja, mein Koffer steht… im Zimmer des Fürsten unter dem Tisch… mit diesem Schlüssel… unten im Koffer… meine Pistole und das Pulverhorn. Er selbst hat die Sachen vorhin eingepackt, Herr Lebedew, er wird sie Ihnen zeigen, aber unter der Bedingung, daß Sie mir morgen früh, wenn ich nach Petersburg fahre, die Pistole zurückgeben. Hören Sie wohl? Ich tue das mit Rücksicht auf den Fürsten, nicht um Ihretwillen.«

»So ist es recht!« rief Lebedew, griff nach dem Schlüssel und lief, spöttisch lächelnd, in das Nachbarzimmer.

Kolja blieb stehen, er schien etwas sagen zu wollen, aber Lebedew zog ihn hinter sich her.

Ippolit blickte die lachenden Gäste an. Der Fürst bemerkte, daß seine Zähne wie im stärksten Fieberschauer klapperten.

»Was sind das hier alles für nichtswürdige Menschen!« flüsterte Ippolit ganz außer sich dem Fürsten wieder zu. Wenn er mit dem Fürsten sprach, beugte er sich immer zu ihm hin und flüsterte.

»Lassen Sie sie doch; Sie sind sehr schwach…«

»Gleich, gleich… gleich werde ich fortgehen.«

Plötzlich umarmte er den Fürsten.

»Sie meinen vielleicht, daß ich verrückt bin?« fragte er, indem er ihn, seltsam auflachend, ansah.

»Nein, aber Sie …«

»Gleich, gleich, seien Sie still; reden Sie nicht; bleiben Sie stehen … ich will Ihnen in die Augen sehen … Bleiben Sie so stehen, ich will Sie ansehen. Ich will vom Menschen Abschied nehmen.«

Er stand und blickte, ohne sich zu rühren, den Fürsten schweigend etwa zehn Sekunden lang an. Er war sehr blaß, seine Schläfen waren feucht von Schweiß. Er hielt den Fürsten in sonderbarer Weise an der Schulter gefaßt, als fürchtete er sich, ihn loszulassen.

»Ippolit, Ippolit, was ist Ihnen?« rief der Fürst.

»Gleich … es ist genug … ich werde mich hinlegen. Ich will einen Schluck auf die Gesundheit der Sonne trinken … Ich will es, ich will es, lassen Sie mich!«

Er ergriff schnell ein Glas vom Tisch, stürzte davon und stand im nächsten Augenblick am Ausgang der Veranda. Der Fürst wollte ihm nachlaufen, aber es traf sich, daß gerade in diesem Moment Jewgenij Pawlowitsch ihm die Hand hinstreckte, um ihm Lebewohl zu sagen. Es verging eine Sekunde, und plötzlich erscholl in der Veranda ein allgemeiner Aufschrei. Dann folgte ein Augenblick ärgster Verwirrung.

Folgendes war geschehen:

Als Ippolit ganz nahe an den Ausgang der Veranda gelangt war, blieb er stehen, in der linken Hand hielt er das Glas, die rechte hatte er in die rechte Seitentasche seines Mantels gesteckt. Keller versicherte nachher, Ippolit habe schon vorher diese Hand immer in der rechten Tasche gehabt, schon als er mit dem Fürsten gesprochen und ihn mit der linken Hand an die Schulter und den Kragen gefaßt habe, und diese rechte Hand in der Tasche habe schon damals seinen, Kellers, ersten Verdacht erregt. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls veranlaßte ihn eine gewisse Unruhe, Ippolit ebenfalls nachzulaufen. Aber auch er kam zu spät. Er sah nur, wie auf einmal in Ippolits rechter Hand etwas schimmerte und wie in derselben Sekunde die kleine Taschenpistole sich dicht an seiner Schläfe befand. Keller stürzte hinzu, um ihn am Arm zu packen, aber im selben Augenblick drückte Ippolit ab. Es ertönte das scharfe, trockene Knacken des Hahnes; ein Schuß jedoch erfolgte nicht. Als Keller Ippolit umfaßte, sank ihm dieser wie bewußtlos in die Arme, vielleicht wirklich in der Vorstellung, daß er schon tot sei. Die Pistole befand sich in Kellers Händen. Man ergriff Ippolit, stellte ihm einen Stuhl hin, setzte ihn darauf, und alle umdrängten ihn, alle schrien, alle fragten. Alle hatten das Knacken des Hahnes gehört und erblickten nun einen Menschen, der lebte und nicht einmal eine Schramme aufwies. Ippolit selbst saß da, ohne zu begreifen, was vorging, und ließ wie geistesabwesend seinen Blick über alle Umstehenden hingleiten. Lebedew und Kolja kamen in diesem Augenblick wieder hereingelaufen.

»Hat die Pistole versagt?« fragten mehrere.

»Vielleicht war sie gar nicht geladen?« vermuteten andere.

»Geladen ist sie!« rief Keller, der die Pistole untersuchte. »Aber…«

»Also hat sie versagt?«

»Es war gar kein Zündhütchen darauf«, meldete Keller.

Es ist schwer, die nun folgende klägliche Szene zu schildern. Der ursprüngliche allgemeine Schreck wurde schnell von heiterem Gelächter abgelöst. Manche wollten sich sogar vor Lachen ausschütten und fanden darin ein schadenfrohes Vergnügen. Ippolit schluchzte krampfhaft, rang die Hände, stürzte zu allen hin, sogar zu Ferdyschtschenko, faßte ihn mit beiden Händen und schwur ihm, er habe vergessen, »ganz zufällig, nicht absichtlich vergessen«, ein Zündhütchen aufzusetzen; die Zündhütchen, zehn Stück an der Zahl, befänden sich alle in seiner Westentasche (er zeigte sie allen herum); er habe vorher keines aufgesetzt aus Besorgnis, der Schuß könne zufällig in der Tasche losgehen; er habe damit gerechnet, daß er auch später noch Zeit haben werde, sobald es nötig sei, und habe es dann plötzlich vergessen. Er stürzte zum Fürsten und zu Jewgenij Pawlowitsch hin und flehte Keller an, ihm die Pistole zurückzugeben, er werde allen sofort beweisen, daß er »Ehre im Leibe habe«… er sei jetzt »für alle Ewigkeiten entehrt«!

Schließlich fiel er bewußtlos hin. Man trug ihn in das Zimmer des Fürsten, und Lebedew, der wieder ganz nüchtern geworden war, schickte unverzüglich zu einem Arzt, während er selbst, seine Tochter, sein Sohn, Burdowskij und der General am Bett des Kranken blieben. Als der bewußtlose Ippolit hinausgetragen war, stellte sich Keller mitten in der Veranda hin und verkündete, so daß alle es hörten, in wirklicher Begeisterung, wobei er jedes Wort einzeln und deutlich aussprach:

»Meine Herren, wenn jemand von Ihnen noch einmal laut in meiner Gegenwart einen Zweifel äußern sollte, daß das Zündhütchen nur zufällig vergessen war, und behauptet, der unglückliche junge Mensch habe nur Komödie gespielt, so wird der Betreffende es mit mir zu tun haben.«

Aber niemand antwortete ihm. Die Gäste entfernten sich endlich in einzelnen Gruppen. Ptizyn, Ganja und Rogoshin gingen zusammen.

Der Fürst war sehr erstaunt, daß Jewgenij Pawlowitsch seine Absicht geändert hatte und gehen wollte, ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben.

»Sie wollten doch mit mir sprechen, sobald alle fortgegangen wären?« fragte er ihn.

»Ganz richtig«, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch, setzte sich auf einen Stuhl und nötigte den Fürsten, sich neben ihn zu setzen, »aber ich habe meine Absicht jetzt vorläufig geändert. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich etwas verwirrt bin, und Ihnen wird es wohl ebenso gehen. Meine Gedanken sind ganz in Unordnung gekommen; außerdem ist der Gegenstand, über den ich mit Ihnen sprechen wollte, für mich sehr wichtig und auch für Sie. Sehen Sie, Fürst, ich möchte wenigstens einmal in meinem Leben ganz ehrlich handeln, das heißt ganz ohne Hintergedanken; ich glaube aber, daß ich jetzt, in diesem Augenblick, einer ganz ehrlichen Handlung nicht fähig bin, und Sie vielleicht auch nicht … ja … und … nun, wir werden uns also später aussprechen. Vielleicht gewinnt auch die Sache sowohl für mich als auch für Sie an Klarheit, wenn wir noch die drei Tage warten, die ich jetzt in Petersburg verbringen werde.«

Darauf stand er wieder vom Stuhl auf, so daß es nicht recht verständlich war, warum er sich überhaupt hingesetzt hatte. Der Fürst hatte auch den Eindruck, als wäre Jewgenij Pawlowitsch unzufrieden und gereizt und sähe ihn feindselig an und als läge in seinem Blick etwas ganz anderes als vorher.

»Übrigens, Sie gehen jetzt zu dem Kranken?«

»Ja … ich bin um ihn besorgt«, erwiderte der Fürst.

»Seien Sie unbesorgt; er wird gewiß noch sechs Wochen leben und sich vielleicht hier noch ganz erholen. Aber das beste wäre, wenn Sie ihn morgen wegjagten.«

»Ich habe ihn vielleicht wirklich dadurch verletzt, daß … ich nichts gesagt habe, er hat vielleicht gedacht, ich zweifelte daran, daß er sich erschießen würde. Wie denken Sie darüber, Jewgenij Pawlytsch?«

»Nein, nein. Sie sind zu gutherzig, daß Sie sich um ihn noch Sorgen machen. Ich habe sagen hören, aber nie in natura gesehen, daß sich jemand absichtlich erschießt, um gelobt zu werden, oder aus Ärger darüber, daß man ihn deswegen nicht lobt. Vor allen Dingen hätte ich ein solches offenes Eingestehen der eigenen Schwäche nicht für möglich gehalten! Aber ich möchte Ihnen doch raten, ihn morgen wegzujagen.«

»Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?«

»Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.«

»Ist er etwa ein Lacenaire?«

»Dem Wesen nach ja, obwohl die Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genauso, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.«

»Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.«

»Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?«

»Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten, all dies ist sehr seltsam, aber…« »Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgenij Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend sein werden.«

»Das wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgenij Pawlowitsch nachdenklich anblickte.

Dieser lachte ärgerlich.

»Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie bemerkt, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?«

»Ja, es ist mir aufgefallen, und… ich denke darüber nach.«

»Nun allerdings, in Anbetracht jenes Dutzends«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg.

Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Hause war übrigens alles in Ordnung gebracht worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedew, Kolja und Burdowskij hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorge zu machen.

Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Vauxhall gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte auf ihn einen überraschenden Eindruck und kam ihm aus irgendeinem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Vauxhall gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous angegeben war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin fortgegangen … er wußte nur nicht, wohin. Über ihm auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und im gleichen Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von der Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie »kenne ihren Platz und nehme an dem allgemeinen Festchor teil, während er allein ein Ausgestoßener« sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele.

Es war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot gewesen, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm wollte. Einmal, an einem klaren, sonnigen Tag, war er in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der jedoch durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum in weiter, weiter Entfernung der helle Horizont. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausgestreckt und geweint hatte. Es war ihm eine Qual gewesen, daß er all dem ganz fremd gegenüberstand. Was war dies für ein Fest, was war dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie hingelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf, jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen, jeden Abend flammte der höchste schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rand des Himmels in purpurner Glut; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem Fest teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich, jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen vorgeschriebenen Weg, und alles kannte diesen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne, er stand allem fremd gegenüber, er war ein Ausgestoßener. Oh, er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; taub und stumm quälte er sich, aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, übernommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen …

Er schlief auf der Bank ein, aber seine Unruhe blieb auch im Schlaf. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich daran, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden würde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herrschte eine schöne, klare Stille, nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte, und es waren lauter unruhige Träume, die ihn alle Augenblicke zusammenschrecken ließen. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm, er kannte sie, kannte sie qualvoll genau; er konnte jedem ihren Namen nennen, sie jedem zeigen, aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als das, welches er immer gekannt hatte, und er gab sich voll innerer Qual alle Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie wäre eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, als wolle sie ihn auffordern, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still, um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten, aber er fühlte, daß gleich etwas Schreckliches geschehen würde, durch das sein ganzes Leben beeinflußt würde. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und plötzlich hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte, eine Hand befand sich in der seinigen, er faßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand, laut lachend, Aglaja.

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Kapitel 36

VIII

Sie lachte, war aber zugleich ungehalten.

»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.

»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte. »Ach ja! Das Rendezvous … Ich habe hier geschlafen.«

»Das habe ich gesehen.«

»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei … eine andere Frau hiergewesen.«

»Eine andere Frau sollte hiergewesen sein?«

Endlich hatte er seine Gedanken gesammelt.

»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß ich in einem solchen Augenblick von so etwas träumte … Setzen Sie sich!« Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als sähe er sie überhaupt nicht vor sich. Sie errötete.

»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«

»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, jedoch ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend.

»Aber er ist ja nicht tot, die Pistole versagte.«

Auf Aglajas dringende Bitten mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit die Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgenij Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte hierzu einige Male sogar Fragen.

»Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber wegen einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen viel mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagt hat, das paßt am besten zu seiner Persönlichkeit. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Schwindel war?«

»Es war bestimmt kein Schwindel.«

»Das ist das wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?«

»Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn danach fragen.«

»Bringen Sie sie mir auf jeden Fall, Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm sicher sehr angenehm sein, weil er vielleicht überhaupt mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte lachen Sie nicht über meine Worte, Lew Nikolajitsch; es ist sehr wohl möglich, daß es sich so verhält.«

»Ich lache nicht, denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.«

»Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt.

Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte oft die Sätze nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene zeigte, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen.

»Natürlich wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten …«

»Wieso loben?«

»Das heißt, es ist… Wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und ihm sagen, daß sie ihn sehr lieben und achten, und ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Sehr möglich, daß er Sie dabei mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte … obwohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.«

»Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, was er im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst an die dreißig Mal, sogar zu der Zeit, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran gedacht habe, mich zu vergiften, und alles das in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien… Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn, wenn Sie sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.«

»Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«

»Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Lew Nikolajitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr, denn es ist sehr roh, eine Menschenseele so zu untersuchen und zu beurteilen, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zartheit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.«

Der Fürst dachte nach.

»Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat, denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt… er wünschte, zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle, nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch von etwas anderem! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt…«

»Damit meinen Sie wohl sich selbst?« bemerkte Aglaja.

»Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.

»Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein, das ist gar nicht hübsch von Ihnen.«

»Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz…«

»Auf welchem Musikplatz?«

»Da, wo gestern konzertiert wurde, und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, hin und her überlegt und bin eingeschlafen.«

»Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten… Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?«

»Das weiß ich nicht, nur so …«

»Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immerzu, und was geht es mich überhaupt an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie da geträumt?«

»Von… von… Sie haben sie gesehen…«

»Ich verstehe… verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr… Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Tone hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht…«

Sie wartete ein wenig, als wollte sie sich ein Herz fassen oder als suchte sie ihren Ärger zu überwinden.

»Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu.

Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was deutlich in ihren blitzenden Augen zum Ausdruck kam; gewöhnlich richtete sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn gegen denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, beteiligte sie sich gewöhnlich nur wenig an dem Gespräch und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, gar nicht umhinkonnte zu reden, so tat sie das zunächst sehr hochmütig und irgendwie herausfordernd. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfing oder anfangen wollte zu erröten.

»Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an.

»O doch, ich will ihn annehmen, nur ist das gar nicht erforderlich … ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen.

»Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was denken Sie sich eigentlich? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?«

»Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält, ich … ich halte Sie nicht dafür.«

»Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr vernünftig, daß Sie es sagen.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie vielleicht mitunter sogar sehr vernünftig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr vernünftigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.«

Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, als er sie anblickte.

»So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen alles zu erzählen, schon von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher… Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle andern, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand… das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe, denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das gewiß nicht übelnehmen, ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, und sogar so gut, wie jene es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?«

»Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.

»Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: maman hat es begriffen!«

»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«

»Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.

»Wahrhaftig, das ist meine Ansicht.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit maman Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage zu bemerken.

»Sehr, wirklich sehr, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«

»Ich freue mich ebenfalls, denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal… über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht… Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgenij Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will… ich will… nun, ich will von Hause weglaufen, und ich habe Sie ausgewählt, mir zu helfen.«

»Von Hause weglaufen!?« rief der Fürst.

»Ja, ja, ja, von Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgenij Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste, und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen, davon zu reden, daß ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief gar nicht gezeigt, aber jetzt reden sie schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will mich nützlich machen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen, ich will in Rom sein, ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen, ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen, ich habe alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen alle Bücher, die dürfen das. Aber mir gibt man nicht alle, ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten, aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige, erzieherisch tätig zu sein, und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht gleich, so doch in Zukunft? Wir werden gemeinsam Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein… Sagen Sie, Sie sind doch ein sehr gelehrter Mann?«

»Oh, durchaus nicht!«

»Das ist schade, ich hatte es geglaubt… wie bin ich nur darauf gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden mich dabei doch anleiten, denn ich habe Sie ausgewählt.«

»Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.«

»Ich will von Hause weglaufen, ich will!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder. »Wenn Sie mir Ihre Hilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein schlechtes Frauenzimmer hält und mir Gott weiß was vorwirft.«

»Sind Sie bei Sinnen!« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Was wirft man Ihnen vor? Wer tut so etwas?«

»Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Maman war einen ganzen Tag krank, und am nächsten Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstünde schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als maman das hörte, fiel sie beinah in Ohnmacht.«

Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.

Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht alle Ausdrücke verstand.

»Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?«

»Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich sehe, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich, ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht… Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt bin und Sie zu einem Rendezvous bestellt habe«, sagte sie in gereiztem Ton.

»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachter Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie…«

»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich… Sie haben zu denken gewagt, daß ich… O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierherbestellt, um Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten…«

»Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich nicht? Wie konnte nur ein so schmutziger Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten… Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!«

Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, als hätte sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen.

»Ich schäme mich gar nicht«, murmelte sie. »Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?«

»Den Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war in der schwersten Stunde meines Lebens aus meinem Herzen geströmt! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt… ich…«

»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus dem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie beugte sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt… um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an, wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr schmutziger Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte, aber plötzlich sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben… Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.

»Oh, wenn Sie alles wissen könnten!«

»Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in einer Wohnung mit dieser schlechten Frau, mit der Sie fortgegangen waren…«

Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, gleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute. Der Fürst war durch diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.

»Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf.

Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.

»Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch …«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar, und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.

»Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser Bank.«

Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.

»Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«

»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.«

»Er hat seine Hand verbrannt?«

»Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.«

Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.

»Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier geschehen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen…«

»Jawohl… eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?«

»Eine bloße Kerze oder eine auf einem Leuchter?«

»Nun ja … nein … eine halbe Kerze… ein Stümpfchen… eine ganze Kerze… das ist ja ganz egal, lassen Sie doch das Gerede!… Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?«

»Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.«

Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein schallendes Gelächter aus.

»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich mit der kindlichsten Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, etwas Exzentrisches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe…«

Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, als fiele ihr etwas ein.

»Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte…«

»Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.«

»Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie ihr vor einem halben Jahr vor aller Ohren Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie sehen, ich spreche ganz ohne Kommentar. Darauf ist sie mit Rogoshin davongelaufen, dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu einem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoshin zurückgekehrt, der sie wie… wie ein Wahnsinniger liebt. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr vernünftiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger gemacht, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt… Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierhergereist, nicht wahr, um ihretwillen?«

»Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren… Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoshin, obgleich… kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun und wie ich ihr helfen kann, aber ich bin trotzdem hergekommen.«

Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.

»Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.

»Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!«

Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.

»Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja.

»Es gibt nichts, was Sie nicht hören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und nur Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, sagen Sie nicht Schlechtes von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie wie rasend, sie bekenne sich nicht schuldig, sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts, aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, die das nicht glaubt, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld sei. Sobald ich versuchte, diese düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als wäre mein Herz durchbohrt worden und hörte nicht auf zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das schrecklichste ist, daß sie vielleicht selbst nicht wußte, daß sie mir nur das beweisen wollte, und sie lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann sagen zu können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen, also bist du ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort empörte sie sich wieder, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich stellte mich hoch über sie (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder daß man sie ›zu sich emporhebe‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!«

»Haben Sie ihr dort auch solche… Predigten gehalten?«

»O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten, »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden, aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte. Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie, ich liebte sie sehr… aber dann… dann… dann hat sie alles erraten.«

»Was hat sie erraten?«

»Daß ich nur Mitleid mit ihr habe und daß ich… sie nicht mehr liebe.«

»Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen… Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?«

»Nein, das war nicht der Fall, ich weiß alles; sie machte sich nur über ihn lustig.«

»Und über Sie hat sie sich niemals lustig gemacht?«

»N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht – und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber… dann… oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!«

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Wissen Sie, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?«

»Also ist das wahr!« rief der Fürst in starker Erregung. »Ich habe es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.«

»Von wem haben Sie es gehört?« fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend.

»Rogoshin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.« »Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?«

»Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.«

»Ah so! Nun, wenn es Rogoshin war… Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?«

»Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.«

»Da sind die Briefe.« (Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin.) »Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie … nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich … sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt, sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich, sie wisse das, sie habe es längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann… Sie schreibt so wild … so sonderbar … Ich habe die Briefe niemandem gezeigt, ich habe auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Erraten Sie nichts?«

»Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit«, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten.

»Sie weinen doch nicht?«

»Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht«, erwiderte der Fürst, sie anblickend.

»Was soll ich denn tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!«

»Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!« rief der Fürst. »Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.«

»Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!« rief Aglaja. »Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können, aber dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht, das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau… glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoshin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!«

Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung, zu erkennen, daß dieses Kind schon längst eine Frau geworden war.

»Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen, aber… ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!«

»So bringen Sie sich zum Opfer, das steht Ihnen doch so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ›Aglaja‹ zu mir… Sie haben auch vorhin schon einfach ›Aglaja‹ zu mir gesagt… Sie müssen ihr zu einem neuen Leben verhelfen. Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder fortreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!«

»Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und… vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrunde gehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen, aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrunde gehen! Das ist unnatürlich, aber hier ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt, aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!«

»Wie blaß Sie geworden sind!« rief Aglaja erschrocken.

»Das macht nichts, ich habe wenig geschlafen; ich bin etwas schwach geworden, ich… Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja…«

»Also ist das wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr über mich zu sprechen? Und… und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen haben, da Sie mich doch nur ein einziges Mal gesehen hatten?«

»Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte ich, ahnte ich vielleicht von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Traum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam… Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und wäre drei Jahre lang nicht wieder hergereist…«

»Also sind Sie um ihretwillen hergereist?«

Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang.

»Ja, um ihretwillen.«

Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf.

»Wenn Sie sagen«, begann sie mit unsicherer Stimme, »wenn Sie selbst glauben, daß diese… daß diese Frau… irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an. .. Ich bitte Sie, Lew Nikolajitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr«, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, »wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde in eine Besserungsanstalt gebracht werden …«

Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an, und auf einmal schien sich vor seinen Augen ein Nebel zu zerteilen…

»Sie können nicht so fühlen… das ist nicht wahr!« murmelte er.

»Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!« schrie Aglaja fast außer sich.

»Was ist wahr? Was soll wahr sein?« ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme.

Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna.

»Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen davonlaufen werde!« rief Aglaja ihr heftig zu. »Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?«

Und sie lief nach Hause.

Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. »Nein, Väterchen«, sagte sie, »geh jetzt nicht weg, tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben!… Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Der Fürst folgte ihr.

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Kapitel 37

IX

Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal mit einem runden Tisch in der Mitte, einem Kamin, einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an.

Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatte sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja beim Rendezvous angetroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus vielen Ursachen sehr erschrocken gewesen, aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war schon dabei, wenn Aglaja sich mit dem Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?

»Denken Sie nicht, Väterchen Fürst«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich Sie hierhergeschleppt habe, um Sie einem Verhör zu unterwerfen … Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit Ihnen zusammenzukommen, mein Täubchen…«

Sie stockte ein wenig.

»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.

»Nun ja, gewiß möchte ich das!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden, denn ich kränke niemand und beabsichtigte, niemand zu kränken…«

»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein, es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen Punkt sieben Uhr mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank getroffen, nachdem sie mich gestern dazu aufgefordert hatte. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns getroffen und eine ganze Stunde über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«

»Natürlich, das wird alles sein, Väterchen, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.

»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat.. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für außerstande gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, maman, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«

»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Leben Sie wohl, Fürst; verzeihen Sie, daß ich Ihnen Umstände gemacht habe! Ich hoffe, Sie sind nach wie vor von meiner unveränderten Hochachtung gegen Sie überzeugt.«

Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.

»Wir amüsieren uns nur darüber, maman«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie… wie Jewgenij Pawlytsch.«

»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.

Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte – es war schon gegen neun Uhr –, fand er in der Veranda Wera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.

»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wera erfreut.

»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«

»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«

Das Dienstmädchen ging hinaus; Wera war schon im Begriff, ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.

»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem… mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«

»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen, er kann bleiben, solange er will.«

»Er wird jetzt nichts anrichten, und… seien Sie nicht zu streng zu ihm!«

»O nein! Warum sollte ich?«

»Und… lachen Sie ihn nicht aus, das ist das allerwichtigste.«

»Oh, durchaus nicht!«

»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Ihnen das erst noch sage«, sagte Wera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich halb umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen… so glückliche Augen.«

»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.

Aber Wera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer noch lachend, schnell hinaus.

›Was für ein prächtiges Mädchen…‹, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus.

Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein.

Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und den Augenblick verschieben konnte.

»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«

»Warum sollte ich das tun?… Aber Kolja, ich bin müde… Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen… Aber was macht er jetzt?«

»Er schläft und wird noch zwei Stunden schlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert… natürlich, die Aufregung … wie wäre es auch anders möglich?«

»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und nicht zu Hause geschlafen habe?«

»Wera hat es mir eben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich hielt es nicht aus, nur auf ein Augenblickchen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten, jetzt hat mich Kostja Lebedew abgelöst. Burdowskij ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht… na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«

»Gewiß … all das …«

»Nein, Fürst, nein, was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und vom zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi – gantischer Gedanke!«

Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können.

»Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Umständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben, aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch großartig! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde, das stellt doch eine direkte Herausforderung dar… Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Und dann zu behaupten, er hätte es absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich verbürge mich dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, als wir alle unausgesetzt bei ihm Wache halten.«

»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«

»Ich, Kostja Lebedew und Burdowskij. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General ist ständig bei Lebedew, jetzt ist er ebenfalls weggegangen… Lebedew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er suchte Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, etwas wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowskij weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernahm. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen…‹ Ich berichtete ihm. ›Das ist ja schön‹, sagte er, ›aber ich bin hauptsächlich gekommen und deswegen auch aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und… sich vor ihm hüten muß.‹ Verstehen Sie das, Fürst?«

»Eigentümlich, übrigens… kann es uns ja ganz gleichgültig sein.«

»Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein, wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich sehr darüber gewundert, daß der General ausgerechnet deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.«

»Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?«

»Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir; ich hatte Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejitsch… Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejitsch; also kehrt marsch!«

»Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll. Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt. Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde. Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

»Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen…«

»Sie meinen wegen dieses Jungen von gestern, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten… aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.«

»Konterka… Wie sagten Sie?«

»Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.«

»Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und feierlich, Lebedew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd.

»Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang, »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich…«

»Nun ja, selbstverständlich, selbstverständlich, was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich.

»Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassungsgabe gern«, bemerkte Lebedew, indem er ihm nachsah. »Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens … ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben.«

»Was ist denn geschehen?«

»Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst, eine nette Geschichte!« fügte Lebedew mit einem sauren Lächeln hinzu.

»Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.«

»Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.«

»Gewiß, gewiß, aber wie ist denn das zugegangen?«

»Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich damit rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben… ich erwartete den Bevollmächtigten.«

»Übrigens, Lukjan Timofejitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?«

»Durch eine Vertrauensperson, mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben. Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz…«

»Nun ja, nun ja, ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.«

»Der Bevollmächtigte erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste, wir tranken… Tee, und… ich war dann zu meinem Verderben etwas angeheitert. Dann – es war schon spät geworden – kam dieser Keller und brachte die Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben, denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zur größeren Feierlichkeit des vorbereiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche… Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte – es war schon halb acht – , sprang ich wie halbverrückt auf und griff zuallererst nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!«

»Oh, das ist unangenehm!«

»Ja, wirklich unangenehm, und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den treffenden Ausdruck gefunden«, bemerkte Lebedew nicht ohne eine gewisse Tücke.

»Gewiß ist es unangenehm, aber…«, sagte der Fürst, der ein wenig nachgedacht hatte und nun in Aufregung geriet, »die Sache hat doch ihre ernste Seite.«

»Ja, sie hat wirklich ihre ernste Seite; da haben Sie wieder einen sehr passenden Ausdruck gefunden, Fürst, zur Bezeichnung …«

»Ach, hören Sie doch auf, Lukjan Timofejitsch, was soll denn das? Die Ausdrücke sind hierbei nicht von Wichtigkeit… Halten Sie es für möglich, daß Sie die Brieftasche im Zustand der Trunkenheit aus der Tasche verloren haben?«

»Möglich ist es, im Zustand der Trunkenheit, wie Sie sich mit aller Offenheit ausgedrückt haben, ist alles möglich, hochgeehrter Fürst! Aber ich bitte Sie, folgendes zu erwägen: wenn ich die Brieftasche beim Rockwechsel hätte aus der Tasche fallen lassen, so müßte der herausgefallene Gegenstand dort auf dem Fußboden liegen. Wo aber ist dieser Gegenstand?«

»Haben Sie die Brieftasche nicht vielleicht in die Kommode oder in einen Tischkasten gelegt?«

»Ich habe alles durchsucht, alles durchwühlt, obgleich ich mich genau erinnere, sie nirgends verwahrt und kein Schubfach geöffnet zu haben.«

»Haben Sie im Schränkchen nachgesehen?«

»Gleich zuerst und sogar mehrere Male… Aber wie hätte ich auch dazu kommen sollen, sie in das Schränkchen zu legen, aufrichtig verehrter Fürst?«

»Ich muß bekennen, Lebedew, daß mich die Sache aufregt. Also muß es jemand auf dem Fußboden gefunden haben?«

»Oder aus der Tasche entwendet! Das sind die zwei Alternativen.«

»Die Sache regt mich sehr auf, denn wer könnte eigentlich… Das ist die Frage!«

»Ohne allen Zweifel ist das die Hauptfrage! Sie finden mit bewundernswerter Sicherheit die richtigen Gedanken und Ausdrücke und präzisieren die Situation vortrefflich, durchlauchtigster Fürst.« »Ach, Lukjan Timofejitsch, lassen Sie doch die Spöttereien, hier…«

»Spöttereien!« rief Lebedew und schlug die Hände zusammen.

»Nun, nun, schon gut, ich bin nicht weiter böse, aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes… Ich fürchte für die Menschen. Wen haben Sie denn im Verdacht?«

»Das ist eine schwierige und… sehr verwickelte Frage! Das Dienstmädchen kann ich nicht im Verdacht haben, die hat sich die ganze Zeit über in ihrer Küche aufgehalten. Meine eigenen Kinder ebenfalls nicht…«

»Nun, allerdings!«

»Also müßte es einer der Gäste gewesen sein.«

»Aber ist das möglich?«

»Das ist völlig unmöglich, ganz und gar unmöglich, aber es muß doch unter allen Umständen der Fall sein. Ich will jedoch zugeben und bin sogar davon überzeugt, daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden hat, er nicht am Abend ausgeführt wurde, als alle zusammen waren, sondern erst in der Nacht oder gar erst gegen Morgen, von einem der hier Übernachtenden.«

»Ach, mein Gott!«

»Burdowskij und Nikolai Ardalionowitsch nehme ich natürlich aus, die sind überhaupt nicht zu mir hereingekommen.«

»Allerdings! Und selbst wenn sie hereingekommen wären! Wer hat bei Ihnen übernachtet?«

»Mich mitgezählt, waren wir vier Personen, die in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern übernachteten: ich, der General, Keller und Herr Ferdyschtschenko. Also muß es einer von uns vieren gewesen sein!«

»Das heißt, einer von den dreien, aber wer?«

»Um der Gerechtigkeit und Ordnung willen habe ich auch mich selbst mitgezählt, aber Sie werden zugeben müssen, Fürst, daß ich mich wohl nicht gut selbst bestehlen konnte, obgleich solche Fälle allerdings in der Welt schon vorgekommen sind…«

»Ach, Lebedew, wie langweilig das ist!« rief der Fürst ungeduldig. »Kommen Sie doch zur Sache und ziehen Sie die Vorreden nicht in die Länge…«

»Es bleiben also drei Personen übrig. Da ist erstens Herr Keller, ein Mensch ohne festen Wohnsitz, ein Trunkenbold, und in manchen Dingen ein Liberaler, das heißt, wo es darauf ankommt, aus anderer Leute Tasche zu leben, im übrigen aber sind seine Neigungen sozusagen mehr altritterlich als liberal. Er übernachtete anfangs im Zimmer des Kranken und kam erst in der Nacht zu uns herüber, mit der Begründung, es sei ihm nicht möglich, auf dem harten Fußboden zu schlafen.«

»Haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich hatte ihn allerdings im Verdacht. Als ich zwischen sieben und acht Uhr morgens wie ein Halbverrückter aufsprang und mich vor die Stirn schlug, da weckte ich sogleich den General, der den Schlaf der Unschuld schlief. Nachdem wir über Ferdyschtschenkos sonderbares Verschwinden unsere Betrachtungen angestellt hatten, ein Umstand, der schon an und für sich unsern Verdacht erweckte, entschlossen wir beide uns sofort, Keller zu visitieren, der wie… wie… beinah wie ein Holzklotz dalag. Wir visitierten ihn vollständig: in den Taschen fand sich kein Groschen, und nicht eine einzige Tasche war ohne Löcher. Der Inhalt war: ein baumwollenes, blaukariertes Taschentuch in unanständigem Zustand; ferner ein Liebesbrief von einem Stubenmädchen, enthaltend Geldforderungen und Drohungen, und Fetzen des Ihnen bekannten Feuilletons. Der General gab sein Urteil dahin ab, daß Keller unschuldig sei. Zum Zweck völliger Vergewisserung weckten wir ihn selbst, was uns nur mit Mühe durch viele Püffe gelang; er begriff nur schwer, um was es sich handelte, und sperrte erstaunt den Mund auf. Das betrunkene Aussehen, der alberne, unschuldige, ja dumme Gesichtsausdruck – er war es nicht gewesen!«

»Nun, da freue ich mich!« rief der Fürst, freudig aufatmend. »Ich hatte schon für ihn gefürchtet!«

»Gefürchtet? Also hatten Sie schon einen Grund dazu?« fragte Lebedew, die Augen zusammenkneifend.

»O nein, ich sagte das nur so hin!« erwiderte der Fürst hastig. »Ich habe mich furchtbar dumm ausgedrückt, wenn ich sagte, ich hätte für ihn gefürchtet. Tun Sie mir den Gefallen, Lebedew, und sagen Sie das niemandem weiter…«

»Aber Fürst, Fürst! Ihre Worte ruhen in meinem Herzen… in der Tiefe meines Herzens… wie in einem Grab!« rief Lebedew pathetisch und drückte den Hut gegen sein Herz.

»Schon gut, schon gut!… Also dann war es Ferdyschtschenko? Das heißt, ich meine, Sie haben Ferdyschtschenko im Verdacht?«

»Wen sonst?« sagte Lebedew leise, indem er den Fürsten scharf ansah.

»Nun ja, selbstverständlich … wen denn sonst… das heißt, was haben Sie für Beweise?«

»Beweise habe ich schon. Erstens das Verschwinden um sieben Uhr oder sogar noch vor sieben Uhr morgens.«

»Ich weiß, Kolja hat mir gesagt, daß er zu ihm gekommen sei und gesagt habe, er gehe weg, um den Rest der Nacht bei… bei… seinem Freund zuzubringen, ich habe den Namen vergessen.«

»Wilkin heißt er. Also Nikolai Ardalionowitsch hat Ihnen das bereits gesagt?«

»Von dem Diebstahl hat er mir nichts gesagt.«

»Davon weiß er auch noch nichts, denn ich habe die Sache bis jetzt geheimgehalten. Also er ist zu Wilkin gegangen; man könnte nun meinen: was ist denn Besonderes dabei, daß ein Trunkenbold zu einem ebensolchen Trunkenbold geht, wenn es auch am frühen Morgen und ohne allen Anlaß geschieht? Aber hier kann man doch eine Spur entdecken: er hat beim Weggehen seine Adresse zurückgelassen… Achten Sie jetzt wohl auf diese Frage, Fürst: warum hat er seine Adresse zurückgelassen?… Warum kommt er ausgerechnet zu Nikolai Ardalionowitsch, wozu er einen Umweg machen muß, und teilt ihm mit: ›Ich gehe, um den Rest der Nacht bei Wilkin zuzubringen‹? Wer kann sich denn dafür interessieren, daß er weggeht und daß er gerade zu Wilkin geht? Was hat es für einen Zweck, das hier mitzuteilen? Nein, das ist Schlauheit, die Schlauheit eines Diebes! Das bedeutet: ›Seht ihr wohl? Ich verberge meine Spuren absichtlich nicht, wie kann ich denn dann ein Dieb sein? Würde etwa ein Dieb Mitteilung davon machen, wohin er geht?‹ Er sucht da mit besonderer Sorgfalt den Verdacht von sich abzulenken und sozusagen seine Spuren im Sand zu verwischen… Haben Sie mich auch verstanden, hochgeehrter Fürst?«

»Verstanden habe ich Sie, sehr gut habe ich Sie verstanden, aber das reicht doch noch nicht aus.«

»Zweiter Beweis: die Spur erweist sich als gefälscht, und die angegebene Adresse stimmt nicht. Eine Stunde darauf, das heißt um acht Uhr, klopfte ich schon bei Wilkin; er wohnt da in der Fünften Straße, und ich bin sogar mit ihm bekannt. Aber da war kein Ferdyschtschenko vorhanden. Zwar erfuhr ich von dem sehr schwerhörigen Dienstmädchen, daß vor einer Stunde tatsächlich jemand geläutet habe, und zwar so stark, daß der Klingelzug abgerissen sei. Aber das Mädchen hatte nicht geöffnet, da sie Herrn Wilkin nicht hatte wecken mögen und vielleicht auch selbst keine Lust gehabt hatte aufzustehen. Das kommt schon vor.

»Und das sind all Ihre Beweise? Das ist wenig.«

»Aber Fürst, bedenken Sie: wen könnte man denn sonst noch in Verdacht haben?« erwiderte Lebedew in gerührtem Ton, und aus seinem Lächeln schaute eine gewisse Listigkeit heraus.

»Sie sollten noch einmal in allen Zimmern und Schubfächern nachsehen!« sagte der Fürst nach einigem Nachdenken mit sorgenvoller Miene.

»Das habe ich ja getan!« versetzte Lebedew mit noch größerer Rührung und seufzte dabei.

»Hm! … Warum mußten Sie auch den Zivilrock mit der Uniform vertauschen?« rief der Fürst und schlug ärgerlich auf den Tisch.

»Das ist eine Frage aus einem alten Lustspiel. Aber, großmütigster Fürst, Sie nehmen sich mein Unglück zu sehr zu Herzen! Ich bin so viele Teilnahme gar nicht wert. Das heißt, ich allein würde nicht wert sein, daß Sie sich so beunruhigen, aber Sie leiden ja auch um des Verbrechers willen… um dieses unbedeutenden Herrn Ferdyschtschenko willen!«

»Nun ja, ja, Sie haben mich wirklich in Unruhe versetzt«, unterbrach ihn der Fürst zerstreut und mißvergnügt. »Also was beabsichtigen Sie nun zu tun … wenn Sie so fest davon überzeugt sind, daß es Ferdyschtschenko gewesen ist?«

»Fürst, hochgeehrter Fürst, wer könnte es denn sonst gewesen sein?« wand sich Lebedew mit immer wachsender Rührung. »Das Fehlen eines andern, an den man denken könnte, und sozusagen die absolute Unmöglichkeit, jemand außer Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht zu haben, das ist ja sozusagen noch ein Beweis gegen Herrn Ferdyschtschenko, schon der dritte Beweis! Denn ich frage noch einmal: wer könnte es sonst gewesen sein? Ich kann doch nicht Herrn Burdowskij verdächtigen, hehehe!«

»Was für ein Unsinn!«

»Oder schließlich den General, hehehe?«

»Was für dummes Zeug!« rief der Fürst, beinah zornig, und drehte sich ungeduldig auf seinem Platz hin und her.

»Natürlich ist das dummes Zeug! Hehehe! Dieser Mensch, ich wollte sagen der General, hat mich ordentlich zum Lachen gebracht! Ich ging mit ihm vorhin auf frischer Fährte zu Wilkin … ich muß Ihnen noch bemerken, daß der General noch mehr als ich selbst bestürzt war, als ich nach Entdeckung des Verlustes zuallererst ihn weckte, dermaßen bestürzt, daß er die Farbe wechselte und bald rot, bald blaß wurde und schließlich in eine so empörte, edle Aufregung geriet, wie ich sie in solchem Maße gar nicht von ihm erwartet hatte. Ein höchst edeldenkender Mensch! Fußboden geraten, so daß niemand sie habe bemerken können und sie nur durch diese Feuersbrunst wieder zutage gekommen sei. Alles die reine Lüge! Aber als er auf Nina Alexandrowna zu sprechen kam, da schluchzte er sogar. Nina Alexandrowna ist eine höchst edeldenkende Dame, obwohl sie auf mich böse ist.«

»Sind Sie mit ihr bekannt?«

»So gut wie gar nicht, aber ich würde es von ganzem Herzen wünschen, wenn auch nur, um mich vor ihr zu rechtfertigen. Nina Alexandrowna ist auf mich schlecht zu sprechen, weil sie meint, ich richte ihren Gatten durch Verführung zum Trinken zugrunde. Aber weit entfernt, ihn zu verführen, zähme ich vielmehr diese seine Leidenschaft; ich halte ihn vielleicht von verderblicherer Gesellschaft zurück. Zudem ist er mein Freund, und ich bekenne Ihnen, ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen, das heißt sogar im allereigentlichsten Sinn: wo er hingeht, da werde ich auch hingehen, weil man nur durch Einwirkung auf seine Gefühle etwas mit ihm anfangen kann. Jetzt besucht er sogar seine Hauptmannsfrau gar nicht mehr, obwohl es ihn im geheimen zu ihr hinzieht und er sogar manchmal nach ihr stöhnt, namentlich alle Morgen, wenn er aufsteht und sich die Stiefel anzieht, ich weiß nicht, warum gerade zu dieser Zeit. Geld besitzt er nicht, das ist das Unglück, und ohne Geld kann er sich bei dieser Frau nicht blicken lassen. Hat er Sie nicht um Geld gebeten, hochgeehrter Fürst?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Er schämt sich. Er wollte es schon tun; er hat mir sogar gestanden, daß er Sie mit seiner Bitte belästigen wolle, aber er schämt sich, weil Sie ihm erst unlängst behilflich gewesen sind und er überdies glaubt, Sie würden ihm nichts geben. Er hat mir als seinem Freund sein Herz ausgeschüttet.«

»Und Sie geben ihm kein Geld?«

»Fürst! Hochgeehrter Fürst! Diesem Menschen würde ich nicht nur Geld geben, sondern ich würde für ihn sozusagen sogar mein Leben hingeben … übrigens nein, ich will nicht übertreiben, das Leben nicht, aber wenn es sich darum handelte, etwa ein Fieber oder ein Geschwür oder sogar einen Husten zu ertragen, so bin ich, weiß Gott, bereit, das zu tun, vorausgesetzt, daß es sehr nötig ist, denn ich halte ihn für einen bedeutenden, aber heruntergekommenen Menschen! So steht es; es handelt sich nicht nur um Geld!«

»Also Geld geben Sie ihm?«

»N-nein, Geld habe ich ihm nicht gegeben, und er weiß selbst, daß ich ihm keins geben werde, aber das geschieht einzig und allein, um ihn an Enthaltsamkeit zu gewöhnen und ihn zu bessern. Jetzt hat er sich an mich gehängt, um mit mir nach Petersburg zu fahren; ich fahre nämlich nach Petersburg, um Herrn Ferdyschtsdienko auf frischer Spur abzufassen, denn ich weiß sicher, daß er schon dort ist. Mein General kocht nur so vor Entrüstung, aber ich vermute, daß er sich in Petersburg von mir fortstehlen wird, um die Hauptmannsfrau zu besuchen. Ich gestehe, ich will ihn sogar absichtlich von mir weggehen lassen, und wir haben auch schon verabredet, uns gleich bei der Ankunft in Petersburg zu trennen und nach verschiedenen Seiten zu gehen, um Herrn Ferdyschtsdienko leichter zu fangen. In dieser Weise werde ich ihn also von mir weggehen lassen und ihn dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei der Hauptmannsfrau überraschen – eigentlich um ihn als Familienvater und, allgemein gesagt, als Menschen zu beschämen.«

»Führen Sie nur keinen Skandal herbei, Lebedew, um Gottes willen keinen Skandal!« sagte der Fürst halblaut in starker Unruhe.

»O nein, mein Zweck ist ja nur, ihn zu beschämen und zu sehen, was er für ein Gesicht macht, denn aus dem Gesicht kann man auf vieles schließen, hochgeehrter Fürst, und besonders bei einem solchen Menschen! Ach, Fürst! Obgleich mein eigenes Unglück groß ist, kann ich doch auch jetzt nicht umhin, an ihn und an die Besserung seiner Moral zu denken. Ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie, hochgeehrter Fürst; ich bekenne sogar, daß ich eigentlich nur deswegen hergekommen bin: Sie sind schon mit seiner Familie bekannt und haben dort sogar schon gewohnt; wenn also Sie, hochgeehrter Fürst, sich entschließen wollten, mir hierbei zu helfen, eigentlich nur um des Generals und seines Glückes willen …«

Lebedew faltete sogar die Hände wie beim Gebet.

»Was meinen Sie denn? Wie soll ich helfen? Seien Sie überzeugt, daß mir sehr daran liegt, Sie ganz zu verstehen, Lebedew!«

»Einzig und allein in dieser Überzeugung bin ich ja auch zu Ihnen gekommen! Man könnte durch Nina Alexandrowna auf ihn einwirken, indem man Seine Exzellenz im Schoß seiner eigenen Familie ständig beobachtet und ihm sozusagen auf den Fersen bleibt. Ich selbst bin unglücklicherweise dort nicht bekannt… Außerdem könnte da auch Nikolai Ardalionowitsch vielleicht mithelfen, der Sie sozusagen mit allen Fasern seines jungen Herzens vergöttert…«

»N-ein… Nina Alexandrowna dürfen wir in diese Sache… um Gottes willen nicht! Und Kolja ebensowenig… Ich verstehe Sie übrigens vielleicht noch nicht ganz, Lebedew.«

»Aber es ist ja dabei eigentlich gar nichts zu verstehen!« rief Lebedew und sprang sogar von seinem Stuhl auf. »Gefühlvolle und zarte Behandlung, das ist die einzige Arznei für unsern Kranken. Sie erlauben mir wohl, Fürst, ihn als einen Kranken anzusehen?«

»Das zeugt sogar von Ihrem Zartgefühl und Ihrem Verstand.«

»Ich möchte es Ihnen durch ein Beispiel klarmachen, das ich der Deutlichkeit halber aus der Praxis entnehme. Sehen Sie, was das für ein Mensch ist: da hat er nun jetzt eine Schwäche für diese Hauptmannsfrau, bei der er sich ohne Geld nicht blicken lassen darf, und bei der ich ihn heute zu seinem eigenen Besten abzufassen gedenke; aber nehmen wir an, er habe nicht nur dieses Verhältnis mit der Hauptmannsfrau, sondern er begehe ein wirkliches Verbrechen, irgendeine unehrenhafte Handlung (obwohl er dazu keineswegs imstande ist), so behaupte ich, man könnte auch dann einzig und allein durch edelmütige, zarte Behandlung, um mich so auszudrücken, bei ihm alles erreichen, denn er ist ein gefühlvoller Mensch! Glauben Sie mir, er würde es nicht fünf Tage lang aushalten, sondern in Tränen ausbrechen und alles bekennen, und besonders wenn die Familie und Sie sozusagen sein ganzes Mienenspiel, seine sämtlichen Äußerungen beobachten und in geschickter, edelmütiger Weise auf ihn einwirken … Oh, hochgeehrter Fürst!« rief Lebedew und sprang in einer Art von Begeisterung vom Stuhl auf, »ich behaupte ja gar nicht, daß er es bestimmt gewesen sei… Ich bin sogar bereit, mein ganzes Blut für ihn zu vergießen, auf der Stelle, obwohl Sie zugeben müssen, daß Unenthaltsamkeit und Trunksucht und eine Hauptmannsfrau, alles zusammengenommen, einen Menschen zu allem möglichen bringen können.«

»Solche Absichten bin ich natürlich jederzeit bereit zu fördern«, erwiderte der Fürst, indem er aufstand. »Aber ich bekenne Ihnen, Lebedew, daß ich mich in furchtbarer Unruhe befinde. Sagen Sie, Sie glauben immer noch… kurz, Sie sagen ja selbst, daß Sie Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht haben.«

»Aber wen denn sonst? Wen denn sonst, offenherzigster Fürst?« antwortete Lebedew, indem er wieder gerührt die Hände faltete und milde lächelte.

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht.

»Sehen Sie, Lukjan Timofejitsch, ein Irrtum könnte hier die schrecklichsten Folgen haben. Dieser Ferdyschtschenko… ich möchte nichts Schlechtes von ihm sagen… aber dieser Ferdyschtschenko… ich meine, wer weiß, vielleicht ist er es doch gewesen! … Ich will sagen, vielleicht ist er wirklich einer solchen Tat eher fähig als … als der andere.«

Lebedew kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren.

»Sehen Sie«, fuhr der Fürst fort, der immer mehr in Verwirrung geriet und dessen Gesicht immer finsterer wurde, während er im Zimmer auf und ab ging und es dabei vermied, Lebedew anzusehen, »man hat mir zu verstehen gegeben… es hat mir jemand von Herrn Ferdyschtschenko gesagt, er sei, von allem anderen abgesehen, ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich in acht nehmen müsse und nichts… Überflüssiges reden dürfe, Sie verstehen? Ich sage das in der Hinsicht, daß er vielleicht wirklich einer solchen Tat eher fähig war als der andere … damit wir uns nicht irren, – das ist doch die Hauptsache, verstehen Sie?«

»Aber wer hat Ihnen das über Herrn Ferdyschtschenko mitgeteilt?« fragte Lebedew eifrig.

»Nur so, es hat mir jemand das zugeflüstert, übrigens glaube ich es selbst nicht… ich ärgere mich sehr, daß ich genötigt war, es zu erwähnen; aber ich versichere Ihnen, ich glaube es selbst nicht… es ist törichtes Gerede… Pfui, wie dumm von mir, es nachzusprechen!«

»Sehen Sie, Fürst«, sagte Lebedew und zitterte dabei am ganzen Leib, »das ist wichtig, das ist jetzt sehr wichtig, ich meine die Art, wie diese Beurteilung zu Ihrer Kenntnis gelangt ist, das ist wichtig, wenn auch nicht in bezug auf Herrn Ferdyschtschenko.« (Während Lebedew das sagte, lief er, dem Fürsten folgend, hin und her und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.) »Da möchte auch ich Ihnen jetzt etwas mitteilen, Fürst: als ich vorhin mit dem General zu diesem Wilkin ging, da fing er, nachdem er mir schon die Geschichte von der Feuersbrunst erzählt hatte, auf einmal in höchster sittlicher Entrüstung an, mir ganz ebensolche Andeutungen über Herrn Ferdyschtschenko zumachen, aber in einer so ungereimten, einfältigen Manier, daß ich unwillkürlich ein paar Fragen darüber an ihn richtete und infolgedessen zu der bestimmten Überzeugung kam, daß diese ganze Beurteilung lediglich aus dem Gehirn Seiner Exzellenz stammte… Eigentlich war sie sozusagen ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Denn er lügt einzig und allein, weil er seiner Rührung nicht Herr zu werden vermag. Nun belieben Sie zu erwägen: wenn er das erlogen hat, und davon bin ich überzeugt, wie ist es dann zugegangen, daß auch Sie davon gehört haben? Wohlgemerkt, Fürst, es war das nur eine momentane Eingebung; wer in aller Welt hat es Ihnen also mitgeteilt? Das ist wichtig, das… das ist sehr wichtig und… sozusagen…«

»Ich habe es soeben von Kolja gehört, und ihm hatte es kurz vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.«

Und der Fürst erzählte alles eingehend.

»Nun, sehen Sie, das ist es, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz absichtlich seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe!…«

»Hören Sie, Lebedew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedew, ich beschwöre Sie!… Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein, aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«

»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster Fürst«, rief Lebedew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut… Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch, aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das ist der Triumph der Tugend! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten… mit leisen Schritten und… gemeinsam.«

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Kapitel 38

X

Endlich verstand der Fürst, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einen schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, an deren langen Wimpern was zu unserem wirklichen Leben gehört, etwas, was in unserem Herzen existiert und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der empfangene Eindruck ist stark, ein freudiger oder ein quälender Eindruck, je nachdem, aber worin er besteht und was uns eigentlich gesagt worden ist, das können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern.

Fast dasselbe geschah nach der Lektüre dieser Briefe. Aber noch ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser, phantastischer Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke hatte bereits Gestalt gewonnen, und das verwunderlichste war für ihn, daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn, aber es lag darin doch auch wahrhaftes Leid, echtes Märtyrertum, wodurch der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke, verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits einmal vor langer, langer Zeit gelesen und als sei alles, wonach er sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen enthalten.

»Wenn Sie diesen Brief öffnen« (so begann das erste Schreiben), »werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich Ihnen auch nur im geringsten gleichgestellt, so könnten Sie sich durch eine solche Dreistigkeit beleidigt fühlen, aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst wenn ich es wollte.«

Ferner schrieb sie an einer anderen Stelle:

»Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines kranken Gehirns, aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich habe Sie gesehen, ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über Sie ab; ich bin nicht durch den Verstand dazu gekommen, Sie für die Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben. Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie. Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich, aber Sie brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen, ich stelle Sie nicht mit mir auf die gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten! … Wenn ich könnte, würde ich die Spuren Ihrer Füße küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich… Sehen Sie nach der Unterschrift, sehen Sie schnell nach der Unterschrift!«

»Ich bemerke aber« (schrieb sie in einem andern Brief), »daß ich Sie mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Er gedachte Ihrer wie des ›Lichtes‹, das sind seine eigenen Worte, ich habe sie von ihm gehört. Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn das Licht sind. Ich habe einen ganzen Monat lang mit ihm gelebt und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie und er sind für mich eins.«

»Wie ist das?« (schrieb sie an einer andern Stelle dieses Briefes). »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und mir war, als erröteten Sie. Aber das ist unmöglich, das kann mir nur so vorgekommen sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und zeigte Ihnen dort die nackte Sünde, so dürften Sie doch nicht erröten; Sie können gar nicht über eine Beleidigung entrüstet sein. Sie können alle gemeinen, unwürdigen Menschen hassen, aber nicht um ihrer Eigenschaften willen, sondern aus Teilnahme für diejenigen, denen sie Kränkungen zufügen. Ihnen aber, Ihnen kann niemand eine Kränkung zufügen. Wissen Sie, ich meine, Sie müßten mich sogar lieben. Für mich sind Sie dasselbe wie für ihn: ein lichter Geist; ein Engel aber kann nicht hassen; er kann gar nicht anders als lieben. Kann man alle lieben, alle Menschen, alle seine Nächsten? Ich habe mir diese Frage oft vorgelegt. Gewiß nicht, das ist sogar unnatürlich. In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst. Aber wenn dies auch für uns unmöglich ist, so sind Sie doch ein anderes Wesen: wie könnten Sie jemand nicht lieben, da Sie sich mit niemand auf eine Stufe stellen können und da Sie über alle Kränkungen und alle persönliche Entrüstung erhaben sind? Sie allein können ohne Egoismus lieben; Sie allein können nicht um Ihrer selbst willen lieben, sondern um desjenigen willen, den Sie lieben. Oh, wie schmerzlich würde es mir sein, zu erfahren, daß Sie um meinetwillen Scham oder Zorn empfänden! Das wäre Ihr Untergang: damit stellten Sie sich auf einmal mir gleich …

Nachdem ich Ihnen gestern begegnet und nach Hause gekommen war, dachte ich mir ein Gemälde aus. Die Maler stellen Christus immer nach der Überlieferung des Evangeliums dar; ich würde ihn anders malen: ich würde ihn allein darstellen, seine Jünger haben ihn ja auch manchmal allein gelassen. Ich würde ihn nur mit einem kleinen Kind malen. Das Kind hat neben ihm gespielt, ihm vielleicht etwas in seiner kindlichen Sprache erzählt, Christus hat ihm zugehört, aber jetzt ist er in Gedanken versunken; seine Hand ist unwillkürlich, selbstvergessen auf dem blonden Köpfchen des Kindes liegengeblieben. Er blickt in die Ferne, nach dem Horizont; ein ruhiger Gedanke, groß wie die Welt, liegt in seinem Blick; sein Gesicht ist traurig. Das Kind ist verstummt;, es hat seinen Ellbogen auf das Knie des Heilands gesetzt, die eine Wange in die Hand gestützt, das Köpfchen aufgehoben und schaut ihn nun unverwandt nachdenklich an, in der Art wie Kinder manchmal nachdenklich sind. Die Sonne geht unter… Das ist mein Bild! Sie sind unschuldig, und in Ihrer Unschuld liegt Ihre ganze Vollkommenheit. Oh, vergessen Sie das nicht! Was geht Sie die Leidenschaft an, die ich für Sie empfinde? Sie gehören jetzt schon mir; ich werde mein ganzes Leben lang um Sie sein … Aber ich werde bald sterben.«

Im letzten Briefe endlich hieß es:

»Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, mir das selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß ich mich nicht einmal in einem Anfall von Stolz erniedrigen könnte. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls nicht fähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich.

Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinetwillen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen, darin finde ich meine ganze Absolution, das habe ich mir längst gesagt… Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt auf den Kopf stellen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen, ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was statt meiner in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich ständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer), aber ich kenne ihr Geheimnis. Er hat ein finsteres, ödes Haus, und darin befindet sich das Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Hause gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit, während ich bei ihnen in ihrem Hause wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer, aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden, so habe ich es mit ihm festgesetzt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten… Aber er wird mich vorher töten … Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.«

Und dergleichen irres Gerede stand noch sehr viel in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats.

Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle, durchsichtige Nacht schien ihm noch heller als gewöhnlich. ›Ob es denn noch so früh ist?‹ dachte er. (Er hatte vergessen, seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; ›wahrscheinlich beim Vauxhall‹, dachte er wieder. ›Sie werden heute gewiß nicht dort sein.‹ Während er das überlegte, sah er, daß er ganz dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es gewußt, daß er unbedingt schließlich hierhergeraten würde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen, die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. ›Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen‹, dachte er flüchtig, aber auch der Saal war leer; es war darin fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemand zu treffen.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.

»Ich … bin nur so hereingekommen…«

»Maman ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida legt sich gerade schlafen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«

»Ich wollte … ich wollte Ihnen jetzt… einen Besuch machen…«

»Wissen Sie, was die Uhr ist?«

»N-nein…«

»Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«

»Ach, ich dachte, es… wäre halb zehn.«

»Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«

»Ich… dachte…«, stotterte er und schickte sich an, wieder fortzugehen.

»Auf Wiedersehen! Morgen werde ich alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«

Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum erschien ihm wie ein Traum. Und plötzlich stand, ganz wie vor kurzem, wo er zweimal nach derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. ›Nein‹, sagte er sich, ›das ist kein Traumbild!‹

So stand sie ihm denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sie sagte etwas zu ihm, aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück, aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.

»Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie hochzuziehen. »Steh schnell auf!«

»Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«

Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, als wären Verfolger hinter ihr her.

»Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht… Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«

»Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.

Gierig hingen ihre Blicke an ihm, sie faßte seine beiden Hände.

»Leb wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoshin neben ihr auftauchte, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.

»Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoshin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«

Nach fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf derselben Stelle erwartet.

»Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien zu wissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir vorhin geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben, sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet, dort auf der Bank haben wir gesessen.«

»Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen solltest?«

»Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoshin zähnefletschend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«

»Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.

»Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle von dem Rasiermesser? Hehe!«

»Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.

»Wer weiß, vielleicht auch nicht!« sagte Rogoshin leise, als spräche er mit sich selbst.

Der Fürst antwortete nicht.

»Nun leb wohl!« sagte Rogoshin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«

»Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.

»Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoshin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

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Kapitel 26

X

Ippolit benetzte seine Lippen in der Tasse Tee, die ihm Wera Lebedewa gereicht hatte, stellte die Tasse auf ein Tischchen und blickte verlegen und befangen rings um sich.

»Sehen Sie einmal diese Tassen, Lisaweta Prokofjewna«, sagte er mit seltsamer Hast, »diese Porzellantassen, die wohl von vorzüglichem Porzellan sind, hat Lebedew immer in einer verschlossenen Chiffonière hinter Glas stehen; sie werden nie herausgegeben … wie das so Sitte ist; sie haben zur Mitgift seiner Frau gehört … das ist bei diesen Leuten so Sitte … und nun hat er sie doch für uns herausgegeben, natürlich Ihnen zu Ehren, so hat er sich gefreut…«

Er wollte noch etwas hinzufügen, konnte aber nicht gleich die richtigen Worte finden.

»Er ist ganz verlegen geworden, das hatte ich doch erwartet!« flüsterte Jewgenij Pawlowitsch dem Fürsten ins Ohr. »Das ist doch wohl gefährlich, nicht wahr? Ein ganz sicheres Anzeichen dafür, daß er jetzt aus Trotz irgendeine so arge Absonderlichkeit begehen wird, daß selbst Lisaweta Prokofjewna vielleicht nicht wird hierbleiben mögen.«

Der Fürst blickte ihn fragend an.

»Sie fürchten sich vor solchen Absonderlichkeiten nicht?« fügte Jewgenij Pawlowitsch hinzu. »Ich tue es auch nicht, ich wünsche dergleichen sogar herbei: es liegt mir besonders daran, daß unsere liebe Lisaweta Prokofjewna bestraft wird, und zwar gleich heute, gleich jetzt; vorher möchte ich gar nicht fortgehen. Aber Sie fiebern ja, wie es scheint?«

»Lassen wir das jetzt! Stören Sie nicht! Ja, mir ist nicht wohl«, antwortete der Fürst zerstreut und ungeduldig.

Er hörte seinen Namen; Ippolit sprach von ihm.

»Sie glauben es nicht?« lachte Ippolit krampfhaft. »Das war vorauszusehen, aber der Fürst wird es gleich beim ersten Wort glauben und gar nicht erstaunt darüber sein.«

»Hörst du, Fürst?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an ihn. »Hörst du?«

Ringsum wurde gelacht. Lebedew drängte sich eifrig nach vorn und wendete und drehte sich vor Lisaweta Prokofjewna hin und her.

»Er hat gesagt, daß dieser Grimassenschneider da, dein Hauswirt, jenem Herrn den Schmähartikel verbessert hat, der vorhin vorgelesen wurde.«

Der Fürst sah Lebedew erstaunt an.

»Warum schweigst du denn?« fragte Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und stampfte dabei sogar mit dem Fuß.

»Nun ja«, murmelte der Fürst, der seinen Blick immer noch auf Lebedew gerichtet hielt, »ich sehe schon, daß er es getan hat.«

»Ist das die Wahrheit?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna schnell an Lebedew.

»Die reine Wahrheit, Exzellenz!« antwortete Lebedew in festem Ton, ohne zu zaudern, und legte dabei die Hand aufs Herz.

»Er rühmt sich dessen noch!« rief sie und war nah daran, vom Stuhl aufzuspringen.

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« murmelte Lebedew, schlug sich gegen die Brust und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer hängen.

»Was fange ich damit an, daß du ein gemeiner Mensch bist! Er denkt, wenn er sagt: ›Ich bin ein gemeiner Mensch!‹, dann hat er sich herausgeholfen. Schämst du dich nicht, Fürst, mit solchen Jammermenschen zu verkehren? frage ich dich noch einmal. Ich werde dir das nie verzeihen!«

»Mir wird der Fürst verzeihen!« sagte Lebedew fest überzeugt und sehr gerührt.

»Lediglich aus Edelmut«, begann auf einmal mit lauter, volltönender Stimme Keller, der schnell herzugetreten war und sich nun unmittelbar an Lisaweta Prokofjewna wandte, »lediglich aus Edelmut, gnädige Frau, um nicht einen Freund durch Verrat zu kompromittieren, habe ich vorhin von den Verbesserungen, die er vorgenommen hatte, geschwiegen, obgleich er vorschlug, uns aus der Tür zu werfen, wie Sie selbst gehört haben. Zur Ehre der Wahrheit gestehe ich nun, daß ich mich tatsächlich an ihn gewendet und ihm sechs Rubel bezahlt habe, aber durchaus nicht dafür, daß er meinen Stil verbessert hätte, sondern dafür, daß er als eine kompetente Persönlichkeit mir Tatsachen mitteilte, die mir größtenteils unbekannt waren. Das von den Gamaschen, von dem Appetit bei dem Schweizer Professor und von den fünfzig Rubeln statt der zweihundertfünfzig, kurz, diese ganze Partie stammt von ihm und ist mit sechs Rubeln honoriert worden, aber den Stil hat er nicht korrigiert.«

»Ich muß bemerken«, unterbrach ihn Lebedew mit fieberhafter Ungeduld und in kriecherischem Ton, während das Lachen immer allgemeiner wurde, »daß ich nur die erste Hälfte des Artikels verbessert habe; aber da wir in der Mitte uneins wurden und wegen eines Satzes in Streit gerieten, so habe ich die zweite Hälfte nicht mehr verbessert, und es darf daher alles, was darin gegen die gute Schreibart verstößt (und dessen ist vieles!), mir nicht zur Last gelegt werden …«

»Also das ist es, worauf es ihm ankommt!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Gestatten Sie die Frage«, wandte sich Jewgenij Pawlowitsch an Keller, »wann denn diese Verbesserungen des Artikels stattgefunden haben.«

»Gestern vormittag«, antwortete Keller. »Wir hatten eine Zusammenkunft und versprachen uns gegenseitig mit unserem Ehrenwort, das Geheimnis zu wahren.«

»Das war also fast zu derselben Zeit, als er sich gegen dich so kriecherisch benahm und dich seiner Ergebenheit versicherte. Nein, diese Jammermenschen! Ich brauche deinen Puschkin nicht, und deine Tochter soll auch nicht zu mir kommen!«

Lisaweta Prokofjewna wollte schon aufstehen, aber plötzlich wandte sie sich gereizt an den lachenden Ippolit:

»Wie ist denn das, mein Lieber? Du hast mich wohl hier lächerlich machen wollen?«

»Gott bewahre!« erwiderte Ippolit mit einem schiefen Lächeln. »Aber mich interessiert außerordentlich Ihr exzentrisches Wesen, Lisaweta Prokofjewna, und ich muß gestehen, daß ich die Geschichte von Lebedew absichtlich aufs Tapet gebracht habe, weil ich wußte, wie das auf Sie wirken würde, auf Sie allein, denn der Fürst wird ihm gewiß verzeihen und hat ihm wahrscheinlich schon verziehen… er hat vielleicht schon im stillen eine Entschuldigung für ihn gesucht; es ist doch wohl so, Fürst, nicht wahr?«

Er war ganz außer Atem gekommen, seine seltsame Aufregung wuchs mit jedem Wort.

»Oh, oh!…«, sagte Lisaweta Prokofjewna zornig; sie wunderte sich über seinen Ton. »Nun, und weiter?«

»Ich hatte über Sie schon viel von dieser Art gehört… mit großer Freude gehört… ich habe Sie sehr schätzengelernt«, fuhr Ippolit fort.

Das waren seine Worte; aber er sagte sie in einer Weise, als ob er mit ihnen etwas ganz anderes sagen wollte. Er sprach mit einem Beiklang von Spott und regte sich gleichzeitig unverhältnismäßig auf, sah mißtrauisch um sich und geriet bei jedem Wort mehr in Verwirrung und Verlegenheit, so daß all dies im Verein mit seinem schwindsüchtigen Aussehen und seinem sonderbaren, funkelnden und beinah wütenden Blick unwillkürlich die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte.

»Ich würde mich sonst, obwohl ich die Gebräuche der vornehmen Welt gar nicht kenne (das gebe ich zu), darüber wundern, daß Sie nicht nur selbst in unserer für Sie unpassenden Gesellschaft geblieben sind, sondern auch diesen… jungen Mädchen erlaubt haben, eine solche Skandalgeschichte mit anzuhören; allerdings werden sie das alles wohl schon in Romanen gelesen haben; übrigens, ich weiß das vielleicht nicht… denn ich befinde mich in großer Verwirrung; aber wer außer Ihnen hätte es jedenfalls fertiggebracht… auf die Bitte eines Knaben hin (nun ja, eines Knaben, auch das will ich wieder zugeben), mit ihm einen Teil des Abends zu verbringen und… und an allem solchen Anteil zu nehmen und… mit der Aussicht… sich dessen am nächsten Tag zu schämen… (ich gebe übrigens zu, daß ich mich unrichtig ausdrücke). Ich lobe das alles sehr und schlage es sehr hoch an, obgleich schon an dem Gesicht Seiner Exzellenz, Ihres Gemahls, deutlich zu sehen ist, wie wenig das nach seinem Urteil zu seinem Rang paßt… Hihi!« kicherte er; er hatte sich in seinem Reden völlig verrannt und bekam nun auf einmal einen solchen Hustenanfall, daß er mehrere Minuten lang nicht weitersprechen konnte.

»Er ist ja ganz außer Atem gekommen!« sagte Lisaweta Prokofjewna in kaltem, scharfem Ton, indem sie ihn mit ernster Neugier betrachtete. »Aber nun, mein lieber Junge, müssen wir unser Gespräch abbrechen. Es ist Zeit.«

»Erlauben Sie auch mir, mein Herr, Ihnen meinerseits zu bemerken«, begann auf einmal Iwan Fjodorowitsch gereizt, der den letzten Rest von Geduld verloren hatte, »daß meine Frau sich hier bei dem Fürsten Lew Nikolajewitsch, unserm gemeinsamen Freund und Nachbarn, befindet und daß es jedenfalls Ihnen, junger Mann, nicht zusteht, über Lisaweta Prokofjewnas Handlungen ein Urteil zu fällen, ebensowenig wie es Ihnen zusteht, sich laut und mir ins Gesicht darüber zu äußern, was auf meinem Gesicht geschrieben steht. Jawohl. Und wenn meine Frau hiergeblieben ist«, fuhr er fort, indem er fast mit jedem Wort in eine gereiztere Stimmung hineinkam, »so hat sie das vorwiegend aus Verwunderung getan und aus der allen begreiflichen, zeitgemäßen Neugier, so sonderbare junge Leute kennenzulernen. Und ich für meine eigene Person bin hiergeblieben, wie ich manchmal auf der Straße stehenbleibe, wenn da etwas zu sehen ist, so eine… eine…«

»So eine Kuriosität«, half ihm Jewgenij Pawlowitsch.

»Ganz recht, sehr richtig!« sagte erfreut Seine Exzellenz, der General, der mit seinem Vergleich nicht ganz hatte zurechtkommen können, »so eine Kuriosität. Aber jedenfalls ist es für mich höchst erstaunlich und sogar betrübend, daß Sie, junger Mensch, nicht einmal das haben begreifen können, daß Lisaweta Prokofjewna jetzt nur deswegen bei Ihnen geblieben ist, weil Sie krank sind – wenn es stimmt, Sie wirklich bald sterben werden –, sozusagen aus Mitleid, wegen Ihrer kläglichen Reden, mein Herr, und daß ihrem Namen, ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Rang in keinem Fall irgendein Makel anhaften kann… Lisaweta Prokofjewna«, schloß der General, der ganz rot geworden war, »wenn du gehen willst, so wollen wir uns von unserm guten Fürsten verabschieden und…«

»Ich danke Ihnen für die Lektion, die Sie mir erteilt haben, General«, unterbrach ihn Ippolit ernst, indem er ihn nachdenklich ansah.

»Kommen Sie, maman! Wie lange soll denn das noch dauern?« sagte Aglaja ungeduldig und zornig und stand von ihrem Stuhl auf.

»Noch zwei Minuten, lieber Iwan Fjodorowitsch, wenn du erlaubst!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna mit würdiger Ruhe an ihren Gatten. »Mir scheint, er fiebert vollständig und redet geradezu irre, ich sehe es ihm an den Augen an; man muß etwas für ihn tun. Lew Nikolajewitsch! könnte er nicht bei dir übernachten, damit er heute nicht nach Petersburg zurückgeschleppt zu werden braucht? , Sie langweilen sich doch nicht?« wandte sie sich ohne verständlichen Grund auf einmal an den Fürsten Schtsch. »Komm einmal her, Alexandra, und bring dein Haar in Ordnung, mein Kind!«

Sie brachte ihr das Haar in Ordnung, an dem nichts in Ordnung zu bringen war, und küßte sie; letzteres war der einzige Grund gewesen, warum sie sie zu sich gerufen hatte.

»Ich habe Sie für entwicklungsfähig gehalten«, begann Ippolit von neuem, indem er aus seiner Versunkenheit wieder zu sich kam. »Ja! Das war es, was ich noch sagen wollte!« rief er erfreut, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. »Da wünscht nun Burdowskij aufrichtig, seine Mutter zu beschützen, nicht wahr? Aber das Resultat ist, daß er sie in Unehre bringt. Da wünscht nun der Fürst, Burdowskij zu helfen, und bietet ihm aus reinem Herzen seine Freundschaft und eine große Summe Geld an und ist vielleicht von Ihnen allen der einzige, der gegen ihn keinen Widerwillen empfindet, und doch stehen gerade sie beide einander als wahre Feinde gegenüber … Hahaha! Sie alle hassen Burdowskij, weil er nach Ihrer Anschauung sich gegen seine Mutter unschön und unzart benimmt, so ist es doch? Nicht? Nicht? Sie legen ja alle einen enormen Wert auf Schönheit und Feinheit der Formen, nur darauf kommt es Ihnen an, nicht wahr? (Ich habe schon lange den Verdacht gehabt, daß es sich so verhält!) Nun, so mögen Sie denn wissen, daß vielleicht keiner von Ihnen seine Mutter so geliebt hat wie Burdowskij! Sie, Fürst, haben, wie ich weiß, durch Ganja der Mutter Burdowskijs im stillen Geld geschickt, und nun möchte ich darauf wetten… hihihi!« lachte er hysterisch, »… ich möchte darauf wetten, daß Burdowskij Ihnen dies jetzt als unzarte Form und als eine Respektlosigkeit gegen seine Mutter zum Vorwurf machen wird. Bei Gott, so ist es! Hahaha!«

Hier bekam er wieder keine Luft mehr und mußte husten.

»Nun, bist du fertig? Hast du jetzt alles gesagt, was du sagen wolltest? Na, dann geh jetzt schlafen; du hast Fieber«, unterbrach ihn ungeduldig Lisaweta Prokofjewna, die ihren unruhigen Blick nicht von ihm abwandte. »Ach Gott, da fängt er schon wieder an zu reden!«

»Sie lachen wohl? Was haben Sie immer über mich zu lachen? Ich habe bemerkt, daß Sie fortwährend über mich lachen!« wandte er sich plötzlich unruhig, in gereiztem Ton an Jewgenij Pawlowitsch. Dieser hatte tatsächlich gelacht.

»Ich wollte Sie nur fragen, Herr… Ippolit… Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Familiennamen vergessen.«

»Herr Terentjew«, sagte der Fürst.

»Ja, Terentjew, ich danke Ihnen, Fürst; der Name wurde vorhin genannt, war mir aber wieder entfallen… Ich wollte Sie fragen, Herr Terentjew, ob das wahr ist, was ich gehört habe: Sie seien der Ansicht, Sie brauchten nur eine Viertelstunde lang aus dem Fenster zum Volk zu reden, dann sei es sofort mit Ihnen in allen Stücken einverstanden und folge Ihnen sofort?«

»Sehr möglich, daß ich das gesagt habe«, antwortete Ippolit, wie wenn er in seinem Gedächtnis nachsuchte. »Ich habe es sicher gesagt«, fügte er auf einmal hinzu, indem er wieder lebhafter wurde und einen festen Blick auf Jewgenij Pawlowitsch heftete. »Nun, und was folgern Sie daraus?«

»Nichts; ich fragte nur, weil ich es gern wissen wollte, zur Vervollständigung meiner Kenntnisse.«

Jewgenij Pawlowitsch schwieg, aber Ippolit blickte ihn immer noch ungeduldig wartend an.

»Nun also, bist du fertig?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Jewgenij Pawlowitsch. »Komm schnell zu Ende, Väterchen; es ist für ihn Zeit, sich schlafen zu legen. Oder verstehst du nicht, das Ende zu finden?« (Sie ärgerte sich gewaltig.)

»Ich würde gern noch hinzufügen«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch lächelnd fort, »daß alles, was ich von Seiten Ihrer Kameraden gehört habe, und alles, was Sie soeben auseinandergesetzt haben, und zwar mit ganz unbezweifelbarem Talent, meiner Ansicht nach zu der Theorie gehört, daß das Recht vor allem und über alles und sogar unter Ausschließung alles andern triumphieren muß, und vielleicht sogar ohne die Feststellung, worin denn eigentlich das Recht besteht. Vielleicht irre ich mich?«

»Gewiß, Sie irren sich; ich verstehe Sie nicht einmal… Und weiter?«

Auch in der Ecke wurde gemurrt. Lebedews Neffe murmelte etwas halblaut.

»Weiter habe ich eigentlich kaum etwas zu sagen«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch fort, »ich wollte nur noch bemerken, daß infolge dieses Verfahrens die Sache geradezu in das Recht der Gewalt umschlagen kann, das heißt in das Recht der einzelnen Faust und des persönlichen Beliebens, was übrigens in der Welt sehr oft der Ausgang gewesen ist. Auch Proudhon ist bei dem Recht der Gewalt stehengeblieben. Im amerikanischen Krieg haben viele höchst fortschrittliche Liberale sich für die Pflanzer erklärt, auf Grund der Anschauung, daß die Neger eben nur Neger seien und tiefer stünden als die weiße Rasse und das folglich das Recht der Gewalt auf Seiten der Weißen sei…«

»Nun?«

»Das heißt also: Sie verwerfen das Recht der Gewalt nicht?«

»Weiter?«

»Sie sind jedenfalls konsequent; ich wollte nur bemerken, daß es von dem Recht der Gewalt zu dem Recht der Tiger und Krokodile und sogar zu Männern wie Danilow und Gorskij nicht weit ist.«

»Ich weiß nicht. Weiter?«

Ippolit hörte kaum zu, was Jewgenij Pawlowitsch sagte, und wenn er sein »nun« und »weiter« dazwischenwarf, so schien er das mehr aus einer alten, bei Gesprächen angenommenen Gewohnheit und nicht aus Aufmerksamkeit und Neugier zu tun.

»Weiter wollte ich nichts sagen… das ist alles.«

»Ich bin Ihnen übrigens nicht böse«, sagte Ippolit zum Schluß auf einmal ganz unerwartet und streckte, wohl ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, dem andern die Hand hin, wobei er sogar lächelte. Jewgenij Pawlowitsch war zuerst erstaunt, ergriff dann aber mit ganz ernstem Gesicht die ihm hingehaltene Hand, als nähme er die angebotene Verzeihung an.

»Ich muß noch hinzufügen«, sagte er in demselben zweideutig-respektvollen Ton, »daß ich Ihnen dankbar bin für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich haben reden lassen, denn nach meinen zahlreichen Beobachtungen können unsere Liberalen niemand seine eigene Meinung aussprechen lassen, ohne ihrem Opponenten sofort mit Schimpfworten oder sogar mit noch Schlimmerem zu antworten…«

»Da haben Sie vollkommen recht«, bemerkte General Iwan Fjodorowitsch und zog sich, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gelangweilter Miene zum Ausgang der Veranda zurück, wo er vor Ärger gähnte.

»Na, nun aber Schluß, lieber Freund!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna energisch an Jewgenij Pawlowitsch. »Ich habe eure Gespräche satt…«

»Es ist Zeit!« sagte Ippolit, der sich besorgt und fast erschrocken erhob und verwirrt um sich blickte. »Ich habe Sie aufgehalten; ich wollte Ihnen alles sagen… ich meinte, daß Sie alle… zum letztenmal… es war Phantasie…«

Es war deutlich, daß er manchmal wie mit einem Ruck wieder lebendiger wurde und aus einem an wirkliches Irrereden grenzenden Zustand auf einmal für einige Augenblicke freikam, sich mit vollem Bewußtsein erinnerte und sprach, und zwar größtenteils in abgerissenen Sätzen, die er sich vielleicht schon vor längerer Zeit in langen, öden Krankheitsstunden, wenn er einsam und schlaflos im Bett lag, in Gedanken zurechtgelegt und auswendig gelernt hatte.

»Nun also, leben Sie wohl!« sagte er plötzlich schroff. »Sie meinen wohl, es wird mir leicht, Ihnen Lebewohl zu sagen? Haha!« lachte er, selbst ärgerlich über seine ungeschickte Frage. Dann fügte er, wie ergrimmt darüber, daß es ihm nie recht gelang, zu sagen, was er wollte, laut und gereizt hinzu: »Exzellenz, ich habe die Ehre, Sie zu meinem Begräbnis einzuladen, wenn Sie mich dieser Ehre würdigen wollen, und… nach dem General auch Sie alle, meine Herrschaften!…«

Er lachte wieder auf, aber das war schon das Lachen eines Irren. Lisaweta Prokofjewna trat erschrocken an ihn heran und faßte ihn bei der Hand. Er sah sie starr an, mit demselben Lachen, das aber nicht mehr fortdauerte, sondern gleichsam innehielt und auf seinem Gesicht erstarrte.

»Wissen Sie wohl, daß ich hierhergekommen bin, um Bäume zu sehen? Diese Bäume hier…« (Er wies auf die Bäume des Parks.) »Ist das nicht lächerlich, wie? Eigentlich ist dabei doch nichts lächerlich?« fragte er Lisaweta Prokofjewna ernst und überließ sich wieder seinen Gedanken. Dann, einen Augenblick darauf, hob er den Kopf in die Höhe und begann eifrig mit den Augen unter den Anwesenden zu suchen. Er suchte Jewgenij Pawlowitsch, der ganz in der Nähe, rechts von ihm, auf demselben Fleck stand wie vorher; er hatte das jedoch bereits vergessen und suchte ihn ringsumher. »Ah, Sie sind nicht fortgegangen!« sagte er, als er ihn endlich gefunden hatte. »Sie haben sich vorhin darüber lustig gemacht, daß ich eine Viertelstunde lang aus dem Fenster sprechen wollte… Aber wissen Sie, ich bin noch nicht achtzehn Jahre alt: ich habe so viel auf dem Bett gelegen und so viel durch dieses Fenster geschaut und so viel nachgedacht… über alles mögliche… daß… Ein Toter hat kein Alter, wie Sie wissen; noch in der vorigen Woche habe ich darüber nachgedacht, als ich in der Nacht aufgewacht war… Wissen Sie aber, was Sie am meisten fürchten? Am meisten fürchten Sie unsere Aufrichtigkeit, obwohl Sie uns verachten! Auch das habe ich damals in der Nacht im Bett überlegt… Sie meinen, ich hätte mich vorhin über Sie lustig machen wollen, Lisaweta Prokofjewna? Nein, ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht; ich wollte Sie nur loben… Kolja hat mir gesagt, der Fürst habe Sie ein Kind genannt… Das ist gut… Ja, was hatte ich doch noch… ich wollte noch etwas sagen…« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. »Das war’s: als Sie vorhin Abschied nahmen, da dachte ich auf einmal: da sind nun diese Menschen, und sie werden für immer vergehen, für immer! Und diese Bäume auch. Nur die Backsteinwand wird bestehen bleiben, die rote Backsteinwand des Meyerschen Hauses… meinem Fenster gegenüber… Nun, sprich ihnen einmal von alledem… versuch es, rede davon; da ist ein schönes Mädchen… du bist ja ein Toter, stelle dich als Toter vor; sage, daß ›ein Toter alles sagen darf‹… und daß es ihn nicht mehr kümmert, ob die Fürstin Marja Alexejewna schilt, haha! … Sie lachen doch nicht?« Er ließ seinen Blick mißtrauisch über alle hinschweifen. »Wissen Sie, wenn ich so im Bett lag, da kamen mir viele Gedanken… wissen Sie, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Natur sehr spottlustig ist… Sie sagten vorhin, ich sei ein Atheist, aber wissen Sie, die Natur… Warum lachen Sie wieder? Sie sind furchtbar grausam!« sagte er traurig und unwillig, indem er alle ringsum ansah. »Ich habe Kolja nicht verdorben«, schloß er in völlig verändertem, ernstem Ton, im Ton fester Überzeugung, als ob ihm auch dies eben einfiele…

»Niemand, niemand lacht hier über dich, beruhige dich!« sagte Lisaweta Prokofjewna fast gequält. »Morgen wird ein neuer Arzt zu dir kommen, dein bisheriger hat sich geirrt. Aber so setz dich doch; du kannst ja nicht auf den Beinen stehen! Du redest wirr… Ach, was sollen wir jetzt mit ihm anfangen?« sagte sie, indem sie ihn eifrig veranlassen wollte, sich auf einen Lehnstuhl zu setzen. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.

Ippolit blieb überrascht stehen; dann hob er den Arm, streckte ihn furchtsam aus und berührte mit der Hand diese Träne. Auf seinem Gesicht spielte ein eigentümliches, kindliches Lächeln.

»Ich… habe Sie…«, begann er erfreut, »Sie wissen nicht, wie ich Sie… er hat immer mit solcher Begeisterung von Ihnen gesprochen, er, Kolja… ich liebe seine Begeisterung. Ich habe ihn nicht verdorben! Er ist der einzige Freund, den ich zurücklasse… ich hätte gern alle Menschen als meine Freunde zurückgelassen, alle, aber ich habe keinen zum Freund gewinnen können, keinen… Ich wollte tätig sein, ich hatte ein Recht darauf… Oh, wie vieles wollte ich! Jetzt will ich nichts mehr; ich will nichts mehr wollen; ich habe mir das Wort darauf gegeben, nichts mehr zu wollen; mögen sie, mögen sie jetzt ohne mich die Wahrheit suchen! Ja, die Natur ist spottlustig! Warum«, fuhr er, plötzlich lebhafter werdend, fort, »warum schafft sie die besten Wesen, um sich dann über sie lustig zu machen? Sie hat es so eingerichtet, daß das einzige Wesen, das man auf Erden als vollkommen anerkannt hat… sie hat es eingerichtet, daß, als sie es den Menschen gezeigt hatte, sie gerade dieses Wesen dazu prädestiniert hat, Lehren zu verkünden, infolge deren so viel Blut vergossen worden ist, daß, wenn es alles auf einmal vergossen worden wäre, die Menschen darin sicher ertrunken wären! Oh, es ist gut, daß ich sterbe! Ich hätte auch vielleicht irgendeine furchtbare Lüge gesagt; die Natur würde es schon so eingerichtet haben!… Ich habe niemand verdorben… Ich wollte leben, um das Glück aller Menschen zu fördern, um die Wahrheit zu entdecken und zu verkünden… Ich blickte durch das Fenster nach der Meyerschen Mauer und dachte, ich brauchte nur eine Viertelstunde zu reden, dann würde ich alle, alle überzeugen, und nun bin ich einmal im Leben mit Menschen zusammengekommen, wenn auch nicht mit vielen Menschen, so doch mit Ihnen, und was ist nun das Resultat? Nichts! Das Resultat ist, daß Sie mich verachten! Also bin ich ein Dummkopf, also tauge ich zu nichts, also ist es Zeit, daß ich gehe! Und ich habe es nicht verstanden, irgendwelche Erinnerung an mich zurückzulassen! Kein Laut, keine Spur, keine Tat bleibt von mir zurück; keine einzige Überzeugung habe ich verbreitet!… Lachen Sie nicht über den Toren! Vergessen Sie mich! Vergessen Sie alles… vergessen Sie bitte, seien Sie nicht so grausam! Wissen Sie, wenn sich diese Schwindsucht nicht eingestellt hätte, hätte ich mir selbst das Leben genommen…«

Er schien noch vieles sagen zu wollen, aber er sprach nicht zu Ende, warf sich in den Lehnstuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte wie ein kleines Kind.

»Na, nun sagen Sie bloß, was soll man nun mit ihm anfangen?« rief Lisaweta Prokofjewna, stürzte auf ihn zu, faßte seinen Kopf und drückte ihn fest, ganz fest gegen ihre Brust. Er schluchzte krampfhaft. »Nun, nun, nun! Nun, weine nur nicht, nun, laß nur gut sein; du bist ein guter Junge, Gott wird dir wegen deiner Unwissenheit verzeihen; nun, hör nur auf, zeig dich mannhaft!… Sonst mußt du dich ja auch schämen …«

»Ich habe da zu Hause«, redete Ippolit weiter, indem er mit Anstrengung den Kopf ein wenig in die Höhe hob, »ich habe einen Bruder und zwei Schwestern, kleine, arme, unschuldige Kinder… Sie wird sie verderben! Sie sind eine Heilige, Sie… sind selbst ein Kind, – retten Sie sie! Entreißen Sie sie dieser… sie ist… es ist eine Schande… Oh, helfen Sie ihnen, helfen Sie ihnen; Gott wird es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie um Gottes Willen, um Christi willen!…«

»Nun sagen Sie doch endlich, Iwan Fjodorowitsch, was jetzt geschehen soll!« rief Lisaweta Prokofjewna in gereiztem Ton. »Tun Sie mir den Gefallen und brechen Sie Ihr majestätisches Schweigen! Wenn Sie keine Entscheidung treffen, so mögen Sie wissen, daß ich selbst hierbleiben und hier übernachten werde; Sie haben mich genug mit Ihrer Herrschsucht tyrannisiert!«

Solche lebhaften, zornigen Fragen waren bei Lisaweta Prokofjewna nichts Seltenes, und sie erwartete dann eine sofortige Antwort. Aber in solchen Fällen pflegen die meisten Anwesenden, auch wenn ihrer viele sind, mit Stillschweigen und passiver Neugier zu antworten, ohne daß sie Verlangen tragen, etwas auf sich zu beziehen und entsprechend zu handeln; ihre Gedanken sprechen sie dann erst lange nachher aus. Unter den hier Anwesenden befanden sich auch einige, die bereit waren, ohne ein Wort zu sagen, nötigenfalls bis zum Morgen dazusitzen, zum Beispiel Warwara Ardalionowna, die den ganzen Abend über schweigsam in einiger Entfernung gesessen und während der ganzen Zeit mit außerordentlichem Interesse zugehört hatte, wozu sie vielleicht ihre besonderen Gründe hatte.

»Meine Meinung, liebe Frau«, versetzte der General, »geht dahin, daß hier jetzt sozusagen eine Krankenpflegerin besser angebracht wäre als wir mit unserer Aufregung, und vielleicht außerdem noch ein zuverlässiger, nüchterner Mensch für die Nacht. Jedenfalls müssen wir den Fürsten fragen und… dann sofort für Ruhe sorgen. Morgen können wir ja unsere Teilnahme weiter bekunden.«

»Es ist gleich zwölf Uhr; wir wollen fahren. Soll er nun mit uns fahren oder bei Ihnen bleiben?« wandte sich Doktorenko gereizt und ärgerlich an den Fürsten.

»Wenn Sie wollen, können auch Sie bei ihm hierbleiben«, antwortete der Fürst. »Es wird Platz genug da sein.«

»Exzellenz«, sagte unerwartet Herr Keller, der rasch und eifrig an den General herantrat, »wenn ein zuverlässiger Mensch für die Nacht erforderlich ist, so bin ich bereit, für meinen Freund dieses Opfer zu bringen… er ist eine ganz herrliche Seele! Ich halte ihn schon lange für einen bedeutenden Menschen, Exzellenz! Meine eigene Bildung ist ja natürlich nur mangelhaft; aber wenn er etwas kritisiert, ist jedes Wort von ihm eine Perle, er streut die Perlen nur so um sich, Exzellenz!…«

Der General wandte sich mit einer Miene der Verzweiflung ab.

»Ich würde mich sehr freuen, wenn er hierbleibt; das Fahren würde für ihn natürlich eine böse Sache sein«, erklärte der Fürst auf Lisaweta Prokofjewnas erregte Fragen.

»Aber wirst du denn dann selbst zum Schlafen kommen? Wenn du ihn nicht hierbehalten magst, Väterchen, dann werde ich ihn zu uns transportieren lassen! O Gott, er kann sich ja kaum selbst auf den Beinen halten! Du bist krank, nicht wahr?«

Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten nicht auf dem Sterbebette fand, hatte sie, nach dem äußeren Aussehen urteilend, seinen Gesundheitszustand für viel befriedigender gehalten, als er in Wirklichkeit war; aber die soeben überstandene Krankheit, die schweren mit ihr verbundenen Erinnerungen, die Ermüdung von dem unruhigen Abend, die Affäre mit dem »Sohn Pawlischtschews« und der jetzige Vorfall mit Ippolit, alles dies hatte zusammengewirkt, um die krankhafte Empfindsamkeit des Fürsten bis zu einem fieberhaften, Zustand zu steigern. Aber außerdem beunruhigte ihn jetzt noch eine andere Sorge, ja eine Befürchtung; er beobachtete ängstlich Ippolit, als ob er von ihm noch etwas erwartete.

Plötzlich erhob sich Ippolit; er war schrecklich blaß, und sein verzerrtes Gesicht trug den Ausdruck furchtbarer, verzweifelter Scham. Das trat namentlich in seinem Blick zutage, der voll Haß und Furcht auf die Anwesenden gerichtet war, und in dem verlegenen, schiefen, umherirrenden Lächeln auf seinen zuckenden Lippen. Die Augen schlug er sofort wieder nieder und ging mit schwankenden Schritten, immer noch in gleicher Weise lächelnd, auf Burdowskij und Doktorenko zu, die am Ausgang der Veranda standen; er wollte mit ihnen wegfahren.

»Das war es, was ich befürchtete!« rief der Fürst. »So mußte es kommen!«

Mit rasendem Ingrimm wandte sich Ippolit schnell zu ihm um; jeder Muskel seines Gesichts zitterte und schien zu sprechen.

»Ah, Sie haben das befürchtet! So mußte es nach Ihrer Meinung kommen! So mögen Sie denn wissen«, heulte er heiser und kreischend, und Speicheltröpfchen flogen ihm dabei aus dem Mund, »daß, wenn ich jemand hier hasse (und ich hasse Sie alle, alle!), ich Sie von allen und von allem, was es auf der Welt gibt, am meisten hasse, Sie Jesuit, Sie Sirupseele, Sie Idiot, Sie Millionär und Wohltäter! Ich habe Sie schon lange durchschaut und gehaßt, schon damals, als ich Sie nur erst vom Hörensagen kannte; ich habe Sie gehaßt mit dem ganzen Haß meiner Seele… Das haben Sie hier jetzt alles kunstvoll arrangiert! Sie haben bei mir einen Anfall herbeigeführt! Sie haben einen Sterbenden dahin gebracht, sich zu schämen; Sie, Sie, Sie sind an meinem unwürdigen Kleinmut schuld! Ich würde Sie ermorden, wenn ich am Leben bliebe! Ich brauche Ihre Wohltaten nicht; ich nehme von niemand Wohltaten an, hören Sie, von niemand und nichts! Ich habe vorhin im Delirium gesprochen; erdreisten Sie sich nicht zu triumphieren!… Ich verfluche Sie alle ein für allemal!«

Hier ging ihm die Luft völlig aus.

»Er schämt sich seiner Tränen!« flüsterte Lebedew der Generalin zu. »›So mußte es kommen!‹ Ja, ja, der Fürst! Der hat in seiner Seele gelesen…«

Aber Lisaweta Prokofjewna würdigte ihn keines Blickes. Sie stand stolz aufgerichtet mit zurückgeworfenem Kopf da und betrachtete mit geringschätziger Neugier »diese Jammermenschen«. Als Ippolit schwieg, zuckte der General die Schultern, aber seine Frau sah ihn zornig vom Kopf bis zu den Füßen an, als wollte sie ihn wegen dieser Bewegung zur Rechenschaft ziehen, und wandte sich sogleich zum Fürsten.

»Ich danke Ihnen, Fürst, Sie exzentrischer Freund unseres Hauses, für den angenehmen Abend, den Sie uns allen bereitet haben. Gewiß sind Sie jetzt im Herzen froh darüber, daß es Ihnen gelungen ist, auch uns in Ihre Dummheiten zu verwickeln… Machen wir Schluß, lieber Freund unseres Hauses; ich danke Ihnen, daß Sie uns Gelegenheit gegeben haben, wenigstens Sie genau kennenzulernen!…«

Mit allen Zeichen des Unwillens brachte sie ihre Mantille in Ordnung und wartete darauf, daß »jene da« aufbrächen. Für »jene da« fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor, die Doktorenko schon vor einer Viertelstunde durch Lebedews Sohn, den Gymnasiasten, hatte holen lassen. Der General fügte dem, was seine Gattin gesagt hatte, sofort auch seinerseits ein Wort hinzu.

»In der Tat, Fürst, ich hätte nicht erwartet… nach allem… nach all den freundschaftlichen Beziehungen… und schließlich hat Lisaweta Prokofjewna…«

»Aber wie ist es nur möglich, wie ist es nur möglich!« rief Adelaida, indem sie schnell an den Fürsten herantrat und ihm die Hand reichte.

Der Fürst lächelte sie mit verwirrter Miene an. Plötzlich drang ein erregtes, hastiges Flüstern an sein Ohr.

»Wenn Sie nicht augenblicklich den Verkehr mit diesen garstigen Menschen abbrechen, werde ich Sie mein Leben lang, mein ganzes Leben lang hassen«, flüsterte Aglaja. Sie war ganz außer sich vor Empörung; aber sie wandte sich ab, ehe der Fürst Zeit fand, sie anzusehen. Übrigens hatte er zu einem Abbruch des Verkehrs keine Möglichkeit mehr: der kranke Ippolit war mittlerweile, so gut es ging, in die Droschke gepackt worden, und diese fuhr gerade ab.

»Nun, wird das noch lange dauern, Iwan Fjodorowitsch? Wie denken Sie darüber? Werde ich noch lange von diesen bösen Buben zu leiden haben?«

»Ja, liebe Frau, ich… ich bin natürlich bereit, und… der Fürst…«

Iwan Fjodorowitsch streckte dennoch dem Fürsten die Hand hin, lief aber, ohne daß es zu einem Händedruck gekommen wäre, hinter Lisaweta Prokofjewna her, die geräuschvoll und zornig die Stufen vor der Veranda hinunterstieg. Adelaida, ihr Bräutigam und Alexandra verabschiedeten sich freundlich und herzlich vom Fürsten. Jewgenij Pawlowitsch machte es ebenso; er war der einzige, der sich in heiterer Stimmung befand.

»Es ist so gegangen, wie ich es mir gedacht hatte! Nur schade, daß auch Sie Armer dabei zu leiden gehabt haben!« flüsterte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

Aglaja ging weg, ohne sich zu verabschieden.

Aber die Ereignisse dieses Abends waren damit noch nicht zu ihrem Ende gelangt; Lisaweta Prokofjewna sollte noch eine höchst unerwartete Begegnung erleben.

Sie war noch nicht ganz die Stufen nach dem Weg, der sich um den Park herumzog, hinuntergestiegen, als eine elegante Equipage, eine mit zwei Schimmeln bespannte Kalesche, am Landhaus des Fürsten vorbeirollte. In dem Wagen saßen zwei schöngekleidete Damen. Aber als der Wagen kaum zehn Schritte vorbeigefahren war, hielt er plötzlich an; eine der Damen wendete sich schnell um, als ob sie plötzlich einen Bekannten erblickt hätte, mit dem sie notwendig sprechen müßte.

»Jewgenij Pawlytsch! Bist du es?« rief eine wohl tönende, helle Stimme, bei deren Klang der Fürst und vielleicht sonst noch jemand zusammenfuhr. »Wie freue ich mich, daß ich dich endlich gefunden habe! Ich hatte einen expressen Boten an dich nach der Stadt geschickt und dann einen zweiten! Den ganzen Tag haben sie dich gesucht!«

Jewgenij Pawlowitsch stand auf den Treppenstufen wie vom Donner gerührt. Lisaweta Prokofjewna war ebenfalls stehengeblieben, aber nicht in starrem Schreck wie Jewgenij Pawlowitsch; sie schaute die dreiste Dame ebenso stolz und mit derselben kalten Verachtung an wie fünf Minuten vorher die »Jammermenschen« und wandte dann ihren forschenden Blick sofort nach Jewgenij Pawlowitsch.

»Eine Neuigkeit!« fuhr die helle Stimme fort. »Wegen der Kupferschen Wechsel kannst du unbesorgt sein; Rogoshin hat sie für dreißigtausend Rubel aufgekauft; ich habe ihn dazu überredet. Wenigstens für drei Monate kannst du beruhigt sein. Und mit Biskup und dieser ganzen Bande werden wir uns gewiß einigen, auf Grund unserer alten Bekanntschaft! Nun, du siehst also, es steht alles gut. Freue dich! Bis morgen!«

Die Equipage setzte sich wieder in Bewegung und verschwand schnell.

»Das ist eine Irrsinnige!« rief Jewgenij Pawlowitsch endlich; er war vor Entrüstung ganz rot geworden und blickte erstaunt rings um sich. »Ich verstehe kein Wort von dem, was sie gesagt hat! Was sollen das für Wechsel sein? Wer ist die Person?«

Lisaweta Prokofjewna sah ihn noch ein paar Sekunden an; dann drehte sie sich kurz um und ging schnell nach ihrem Landhaus; die andern folgten ihr. Einen Augenblick darauf kehrte Jewgenij Pawlowitsch in großer Aufregung wieder zu dem Fürsten in die Veranda zurück.

»Fürst, sagen Sie mir die Wahrheit: wissen Sie nicht, was das zu bedeuten hat?«

»Ich weiß nichts davon«, antwortete der Fürst, der sich ebenfalls in einer ungewöhnlichen und krankhaften Aufregung befand.

»Nein?«

»Nein.«

»Und ich weiß auch nichts davon«, sagte Jewgenij Pawlowitsch, plötzlich auflachend. »Bei Gott, ich habe mit diesen Wechseln nichts zu schaffen; glauben Sie meinem Ehrenwort!… Aber was ist mit Ihnen? Fallen Sie in Ohnmacht?«

»O nein, nein, ich versichere Ihnen, es ist nichts…«

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Kapitel 27

XI

Erst am dritten Tage erbarmten Jepantschins sich des Fürsten und verziehen ihm vollständig. Obgleich der Fürst sich nach seiner Gewohnheit viel Schuld beimaß und in vollem Ernst eine Strafe erwartete, so war er doch von vornherein innerlich völlig davon überzeugt, daß Lisaweta Prokofjewna ihm nicht allzusehr zürnen konnte und in der Hauptsache nur auf sich selbst böse war. Daher war er am dritten Tage durch die unerwartet lange Dauer der Feindschaft in eine sehr trübe, ratlose Stimmung versetzt. Dazu hatten auch noch andere Umstände beigetragen, und einer von ihnen in besonders hohem Grade. Dieser eine Umstand hatte während der drei Tage für ihn infolge seines mißtrauischen Wesens immer mehr an Bedeutung gewonnen. (Der Fürst beschuldigte sich nämlich seit einiger Zeit zweier fehlerhafter Extreme: einer übermäßigen »sinnlosen, aufdringlichen« Zutraulichkeit und gleichzeitig eines »finsteren, unwürdigen« Mißtrauens.) Kurz, am Ende des dritten Tages hatte das Erlebnis mit der exzentrischen Dame, die aus ihrer Kutsche mit Jewgenij Pawlowitsch gesprochen hatte, in seinem Kopf ganz rätselhafte, beängstigende Dimensionen angenommen. Der Kernpunkt des Rätsels, abgesehen von anderen Seiten der Angelegenheit, bestand für den Fürsten in der betrüblichen Frage, ob er auch an dieser neuen »Ungeheuerlichkeit« schuld sei oder nur… Aber er ließ unausgesprochen, wer dabei noch m Betracht kam. Was die Buchstaben N. F. B. anlangte, so war das nach seiner Anschauung nur unschuldiger Mutwille, rein kindlicher Mutwille, so daß es ihm lächerlich und in gewisser Hinsicht sogar unehrenhaft erschien, darüber länger nachzudenken.

Gleich am ersten Tage nach dem häßlichen Abend, an dessen ungehörigen Vorgängen er die »Hauptschuld« trug, hatte der Fürst am Vormittag das Vergnügen, den Fürsten Schtsch. und Adelaida in seiner Wohnung zu empfangen: sie waren nach ihrer Angabe hauptsächlich gekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und zwar befanden sie sich auf einem Spaziergange zu zweien. Adelaida hatte soeben im Park einen Baum bemerkt, einen wundervollen alten Baum, mit langen, gekrümmten Ästen, ganz mit jungem, grünem Laub bedeckt, mit einer Höhlung und einem Spalt; sie hatte sich fest, ganz fest vorgenommen, diesen Baum zu malen! So sprach sie denn die ganze halbe Stunde, die ihr Besuch dauerte, fast nur hiervon. Fürst Schtsch. war wie gewöhnlich nett und liebenswürdig, fragte den Fürsten nach weiter zurückliegenden Dingen und erwähnte einige Umstände aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft, so daß von den Ereignissen des vorhergehenden Tages fast gar nicht gesprochen wurde. Endlich konnte sich Adelaida nicht mehr beherrschen und gestand lächelnd, daß sie incognito hergekommen seien; aber damit war auch das Bekenntnis zu Ende, obwohl schon aus diesem incognito zu ersehen war, daß die Eltern, das heißt besonders Lisaweta Prokofjewna, sich in einer gewissen Mißstimmung befanden. Aber weder von ihr noch von Aglaja, noch selbst von Iwan Fjodorowitsch sagten Adelaida und Fürst Schtsch. bei ihrem Besuch ein Sterbenswörtchen. Als sie wieder fortgingen, um ihren Spaziergang fortzusetzen, luden sie den Fürsten nicht ein, sich ihnen anzuschließen. Eine Aufforderung, doch zu ihnen in ihre Wohnung zu kommen, fand auch nicht einmal andeutungsweise statt; in dieser Hinsicht ließ sich Adelaida sogar eine sehr bezeichnende Wendung entschlüpfen: sie erzählte von einem Aquarell, das sie gemalt hatte, und äußerte den lebhaften Wunsch, es dem Fürsten zu zeigen. »Wie könnten wir das nur möglichst bald machen? Warten Sie! Ich werde es Ihnen entweder heute noch durch Kolja schicken, wenn er zu uns kommen sollte, oder es morgen selbst herbringen, wenn ich wieder mit dem Fürsten spazierengehe«, so erledigte sie schließlich diese Schwierigkeit, erfreut, daß es ihr gelungen war, diese Aufgabe in einer so geschickten und für alle Beteiligten bequemen Weise zu lösen. Endlich, als sie sich schon empfahlen, fragte Fürst Schtsch., als ob ihm das plötzlich einfiele:

»Ach ja, wissen Sie vielleicht, lieber Lew Nikolajewitsch, was das für eine Person war, die gestern unsern Jewgenij Pawlytsch aus dem Wagen anrief?«

»Das war Nastasja Filippowna«, antwortete der Fürst. »Haben Sie denn noch nicht erfahren, daß sie es war? Aber wer ihre Begleiterin war, das weiß ich nicht.«

»Ja, ja, ich habe es gehört!« sagte Fürst Schtsch. »Aber was bedeutete das, was sie ihm zurief? Ich muß gestehen, das ist mir ein reines Rätsel… mir und den andern.«

Fürst Schtsch. sprach mit außerordentlicher, offensichtlicher Verwunderung.

»Sie hat von Wechseln Jewgenij Pawlowitschs gesprochen«, erwiderte der Fürst schlicht, »die Rogoshin auf ihre Bitte von einem Wucherer erworben habe, und hat gesagt, Rogoshin werde mit Jewgenij Pawlowitsch Geduld haben.«

»Das habe ich gehört, das habe ich gehört, mein teurer Fürst, aber das ist ja doch unmöglich! Jewgenij Pawlowitsch hat keine Wechsel ausgestellt, das ist unmöglich! Bei einem solchen Vermögen… Allerdings ist es ihm früher einmal aus Leichtsinn begegnet, und ich habe ihm sogar selbst aus der Klemme geholfen… Aber bei einem solchen Vermögen einem Wucherer Wechsel auszustellen und sich deswegen zu beunruhigen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch kann er sich nicht mit Nastasja Filippowna duzen und in solchen freundschaftlichen Beziehungen zu ihr stehen – das ist das allergrößte Rätsel. Er schwört, er verstehe von der ganzen Geschichte gar nichts, und ich glaube ihm vollkommen. Aber ich wollte doch auch Sie, lieber Fürst, fragen, ob Sie vielleicht etwas davon wissen. Ich meine: ist vielleicht durch irgendeinen wunderlichen Zufall ein Gerücht zu Ihren Ohren gelangt?«

»Nein, ich weiß nichts, und ich versichere Ihnen, daß ich an der Sache in keiner Weise beteiligt bin.«

»Ach, wie wunderlich reden Sie da, Fürst! Ich erkenne Sie heute gar nicht wieder! Konnte ich denn überhaupt auf den Gedanken kommen, daß Sie an einer derartigen Sache beteiligt seien?… Na, Sie sind heute angegriffen.«

Er umarmte und küßte ihn.

»Was meinen Sie denn mit ›an einer derartigen Sache beteiligt‹? Ich sehe hier keine ›derartige‹ Sache.«

»Ohne Zweifel beabsichtigte diese Person, unserm Jewgenij Pawlowitsch irgendwie und bei irgend etwas dadurch hinderlich zu sein, daß sie ihm vor Zeugen Eigenschaften beilegte, die er nicht besitzt und nicht besitzen kann«, versetzte Fürst Schtsch. in ziemlich trockenem Ton.

Fürst Lew Nikolajewitsch wurde verlegen, fuhr aber doch fort, den Fürsten Schtsch. unverwandt und fragend anzusehen, aber dieser schwieg.

»Könnten es nicht doch einfach Wechsel sein? Könnte es sich nicht buchstäblich so verhalten, wie gestern gesagt wurde?« murmelte Fürst Myschkin endlich wie ungeduldig.

»Aber ich bitte Sie, sagen Sie selbst: was kann es zwischen Jewgenij Pawlytsch und… ihr Gemeinsames geben, obendrein wenn dabei noch Rogoshin im Spiel ist? Ich wiederhole Ihnen: er besitzt ein kolossales Vermögen, wie mir ganz genau bekannt ist, und ein zweites Vermögen hat er von seinem Onkel zu erwarten. Nastasja Filippowna hat einfach…«

Fürst Schtsch. verstummte plötzlich wieder, augenscheinlich, weil er dem Fürsten Myschkin nichts weiter über Nastasja Filippowna sagen mochte.

»Jedenfalls ist sie doch mit ihm bekannt?« fragte plötzlich Fürst Lew Nikolajewitsch nach kurzem Stillschweigen.

»Es scheint allerdings, daß das einmal der Fall gewesen ist; er ist ein Windhund! Wenn es übrigens so gewesen ist, dann ist es schon lange her; es müßte in früherer Zeit gewesen sein, vor zwei, drei Jahren. Er war ja noch mit Tozkij bekannt. Jetzt aber kann nichts von der Art vorliegen, und ›du‹ können sie niemals zueinander gesagt haben! Sie wissen ja selbst, daß auch sie die ganze Zeit nicht hier gewesen ist und ihr Aufenthaltsort unbekannt war. Viele wissen auch jetzt noch nicht, daß sie wieder hier erschienen ist. Ich habe ihre Equipage vor drei Tagen zum erstenmal gesehen.«

»Eine prächtige Equipage!« bemerkte Adelaida.

»Ja, wundervoll!«

Beide brachten übrigens beim Fortgehen dem Fürsten Lew Nikolajewitsch ihre durchaus freundschaftliche, ja sozusagen geschwisterliche Gesinnung zum Ausdruck.

Aber für unseren Helden war dieser Besuch von geradezu entscheidender Bedeutung. Allerdings hatte er auch selbst, schon seit dem vorhergehenden Abend (vielleicht auch schon noch früher), gar vieles geargwöhnt, aber bis zu diesem Besuch hatte er sich nicht dazu entschließen mögen, seine Befürchtungen für begründet zu halten. Jetzt aber war alles klargeworden; Fürst Schtsch. deutete den Vorfall gewiß irrig, kam jedoch insofern der Wahrheit nahe, als er begriff, daß es sich hier um eine Intrige handelte. (›Übrigens‹, dachte der Fürst, ›faßt er die Sache vielleicht im stillen ganz richtig auf, will es aber nicht aussprechen und deutet sie darum absichtlich irrig.‹) Am allerklarsten war, daß die beiden (besonders Fürst Schtsch.) jetzt zu ihm gekommen waren, weil sie gehofft hatten, von ihm irgendwelche Aufklärungen zu erlangen; wenn dem so war, so meinten sie offenbar, er sei an der Intrige mitbeteiligt. Wenn sich ferner all dies so verhielt und von solcher Wichtigkeit war, so mußte sie irgendein furchtbares Ziel im Auge haben; aber was war das für ein Ziel? Entsetzlich! ›Und wie soll man sie aufhalten? Sie aufzuhalten gibt es keine Möglichkeit, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat!‹ Das wußte der Fürst aus Erfahrung. ›Sie ist eine Irrsinnige, eine Irrsinnige!‹

Aber es kamen an diesem Morgen noch eine Menge anderer schwieriger Fragen hinzu, die alle gleichzeitig auf ihn einstürmten und sofortige Entscheidung verlangten, so daß der Fürst in recht trübe Stimmung geriet. Ein wenig Zerstreuung verschaffte ihm Wera Lebedewa, die mit der kleinen Ljubotschka auf dem Arm zu ihm kam und ihm unter vielem Lachen längere Zeit etwas erzählte. Ihr folgte ihre Schwester, die immer den Mund so weit aufriß, und beiden folgte dann Lebedews Sohn, der Gymnasiast, der versicherte, der »Wermutstern« in der Apokalypse, der auf die Wasserquellen der Erde gefallen sei, sei nach der Deutung seines Vaters das Eisenbahnnetz, welches Europa bedecke. Der Fürst glaubte nicht recht, daß Lebedew es so erklärt habe, und sie nahmen sich vor, ihn selbst bei der ersten passenden Gelegenheit danach zu fragen. Von Wera Lebedewa erfuhr der Fürst, daß Keller sich bei ihnen seit gestern einquartiert habe und, nach allen Anzeichen zu urteilen, so bald nicht wieder fortgehen werde, denn er habe hier an General Iwolgin Gesellschaft gefunden und mit ihm Freundschaft geschlossen; er habe übrigens erklärt, er bleibe einzig und allein, um seine Bildung zu vervollständigen. Überhaupt gefielen Lebedews Kinder dem Fürsten von Tag zu Tag mehr. Kolja war den ganzen Tag nicht anwesend; er hatte sich ganz früh am Morgen nach Petersburg begeben. (Auch Lebedew war beim Morgengrauen in eigenen Geschäften weggefahren.) Aber der Fürst wartete ungeduldig auf einen Besuch Gawrila Ardalionowitschs, der unbedingt heute bei ihm vorsprechen mußte.

Er kam zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags, gleich nach Tisch. Sowie der Fürst ihn erblickte, kam ihm der Gedanke, wenn jemand, so müsse dieser Herr den ganzen Zusammenhang haarklein und ohne Entstellung kennen; es sei ja gar nicht anders möglich, da er solche Gehilfen wie Warwara Ardalionowna und ihren Mann habe. Aber das Verhältnis des Fürsten zu Ganja war von ganz besonderer Art. Der Fürst hatte ihm zum Beispiel die Erledigung der Burdowskijschen Angelegenheit anvertraut und ihn dringend darum gebeten; aber ungeachtet des ihm hierbei bezeigten Vertrauens und trotz manchem, was vorhergegangen war, blieben zwischen ihnen beiden doch immer noch gewisse Punkte bestehen, über die sie wie nach Vereinbarung nicht miteinander sprachen. Es schien dem Fürsten manchmal, daß Ganja vielleicht seinerseits den Wunsch hegte, es möge doch zwischen ihnen beiden die vollste, freundschaftlichste Aufrichtigkeit herrschen; jetzt zum Beispiel, unmittelbar nach Ganjas Eintritt, hatte der Fürst den Eindruck, als sei Ganja der bestimmten Überzeugung, in diesem Augenblick müsse notwendigerweise zwischen ihnen in allen Punkten das Eis brechen. (Gawrila Ardalionowitsch hatte es jedoch eilig; in Lebedews Wohnung erwartete ihn seine Schwester; sie hatten beide zusammen eine dringende geschäftliche Besorgung vor.)

Aber wenn Ganja wirklich eine ganze Reihe ungeduldiger Fragen, freiwilliger Mitteilungen und freundschaftlicher Herzensergießungen erwartet haben sollte, so hatte er sich natürlich sehr geirrt. Während der ganzen zwanzig Minuten, die sein Besuch dauerte, war der Fürst in Gedanken versunken und unaufmerksam, und es fiel ihm gar nicht ein, die vielen Fragen oder, richtiger gesagt, die eine wichtige Frage zu stellen, auf die Ganja wartete. Da entschied sich auch Ganja dafür, mit größter Zurückhaltung zu sprechen. Er erzählte die ganzen zwanzig Minuten, ohne eine Pause eintreten zu lassen, dieses und jenes, lachte, führte eine leichte, nette, muntere Konversation, berührte aber nicht den Hauptpunkt.

Ganja berichtete unter anderm, Nastasja Filippowna sei erst seit vier Tagen hier in Pawlowsk, ziehe aber bereits die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wohne in der Matrosskaja-Straße in einem kleinen unförmigen Häuschen bei Darja Alexejewna, habe aber beinah die feinste Equipage in ganz Pawlowsk. Es habe sich bereits eine ganze Schar alter und junger Verehrer um sie gesammelt; ihre Equipage werde manchmal von Reitern begleitet. Nastasja Filippowna sei, wie in früheren Zeiten, sehr wählerisch und gestatte nur einer Auslese, sich ihr zu nähern. Dennoch aber habe sich um sie eine ganze Leibgarde gebildet, auf deren Schutz sie sich im Notfall verlassen könne. Ein Verlobter unter den Sommerfrischlern sei bereits um ihretwillen mit seiner Braut zerfallen; ein alter General habe beinah seinen Sohn verflucht. Sie nehme auf ihren Spazierfahrten oft ein reizendes, eben erst sechzehnjähriges Mädchen mit, eine entfernte Verwandte Darja Alexejewnas; dieses Mädchen singe wunderschön, so daß abends ihr Häuschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Nastasja Filippowna benehme sich übrigens höchst anständig; sie kleide sich nicht luxuriös, aber außerordentlich geschmackvoll, und alle Damen seien wegen ihres Geschmacks, ihrer Schönheit und ihrer Equipage auf sie neidisch.

»Ihr gestriges auffälliges Benehmen«, verplapperte sich Ganja, »war natürlich vorher überlegt und darf selbstverständlich nicht in Rechnung gestellt werden. Um ihr etwas am Zeuge zu flicken, müßte man sie schon absichtlich belauern oder verleumden, was übrigens nicht lange ausbleiben wird«, schloß Ganja und erwartete nun, daß der Fürst jetzt unbedingt fragen werde, warum er ihr gestriges Verhalten ein vorher überlegtes nenne und warum die Verleumdung nicht lange ausbleiben werde. Aber der Fürst stellte diese Fragen nicht.

Über Jewgenij Pawlowitsch ließ sich Ganja von selbst, ohne danach gefragt zu sein, ausführlich aus, was sehr sonderbar war, da er ohne jeden äußeren Anlaß das Gespräch auf ihn brachte. Nach Gawrila Ardalionowitschs Ansicht hatte Jewgenij Pawlowitsch Nastasja Filippowna früher nicht gekannt; er kenne sie auch jetzt kaum und nur daher, daß er ihr vor vier Tagen durch irgend jemand auf dem Spaziergang vorgestellt sei; er sei aber schwerlich mit den andern auch nur ein einziges Mal bei ihr im Hause gewesen. Was die Wechsel anlange, so sei die Sache allerdings möglich (hierüber glaubte Ganja sogar Zuverlässiges zu wissen); Jewgenij Pawlowitsch besitze freilich ein großes Vermögen, aber manches auf seinem Gut sei tatsächlich in Unordnung. Bei diesem interessanten Punkt brach Ganja plötzlich ab. Über Nastasja Filippownas auffälliges Benehmen vom vorhergehenden Tag sagte er kein Wort außer der flüchtigen Bemerkung, die ihm vorher entschlüpft war. Endlich kam Warwara Ardalionowna, um Ganja abzuholen; sie blieb einen Augenblick da, teilte (ebenfalls ungefragt) mit, daß Jewgenij Pawlowitsch sich heute und vielleicht auch morgen in Petersburg aufhalten werde, daß ihr Mann (Iwan Petrowitsch Ptizyn) gleichfalls in Petersburg sei, und zwar fast ausschließlich in geschäftlichen Angelegenheiten Jewgenij Pawlowitschs, und daß da wirklich etwas passiert sein müsse. Beim Weggehen fügte sie hinzu, Lisaweta Prokofjewna befinde sich heute in einer gräßlichen Stimmung; aber, was das Seltsamste sei, Aglaja habe sich mit der ganzen Familie überworfen, nicht nur mit dem Vater und der Mutter, sondern sogar mit ihren beiden Schwestern, und das sei »ganz und gar nicht schön von ihr«. Nachdem sie, anscheinend nur so beiläufig, dem Fürsten diese letzte (für ihn überaus bedeutsame) Mitteilung gemacht hatte, entfernten sich Bruder und Schwester. Der Geschichte mit »Pawlischtschews Sohn« hatte Ganja mit keinem Wort Erwähnung getan, vielleicht aus falscher Bescheidenheit oder auch, »um die Gefühle des Fürsten zu schonen«, aber der Fürst sprach ihm doch noch einmal für die sorgsame Erledigung der Angelegenheit seinen Dank aus.

Der Fürst war sehr froh, daß sie ihn endlich allein gelassen hatten; er stieg von der Veranda hinab, schritt quer über den Weg und ging in den Park hinein; er wollte nachdenken und über einen wichtigen Schritt ins klare kommen. Aber dieser »Schritt« war nicht einer von denen, die man überlegt, sondern zu denen man sich ohne Überlegung einfach entschließt: es hatte ihn auf einmal ein heftiges Verlangen ergriffen, alles, was ihn hier umgab, zu verlassen, dahin zurückzukehren, von wo er gekommen war, irgendwohin, recht weit weg, in die Einsamkeit zu fahren, und zwar sofort, ohne auch nur von jemand Abschied zu nehmen. Er sah vorher, daß, wenn er hier auch nur noch ein paar Tage bliebe, er mit Sicherheit unwiederbringlich in diese Welt werde hineingezogen werden, und daß es dann künftig sein Los sein werde, ganz in ihr aufzugehen. Aber er hatte noch nicht zehn Minuten darüber nachgedacht, als er zu der Einsicht gelangte, daß es unzulässig sei, so davonzulaufen, daß das Kleinmut sein würde, daß ihm Aufgaben gestellt seien, deren Erfüllung abzulehnen er jetzt in keiner Weise berechtigt sei, daß er sich jedenfalls nicht weigern dürfe, zu ihrer Erfüllung all seine Kräfte anzustrengen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte er nach Hause zurück, nachdem er kaum eine Viertelstunde spazierengegangen war. Er fühlte sich in diesem Augenblick tief unglücklich.

Lebedew war immer noch nicht zu Hause, so daß gegen Abend Keller die Gelegenheit benutzte, zum Fürsten einzudringen; er war zwar nicht betrunken, aber sehr zu Herzensergießungen und Bekenntnissen geneigt. Er erklärte geradeheraus, er sei gekommen, um dem Fürsten sein ganzes Leben zu erzählen, und sei speziell zu diesem Zweck in Pawlowsk geblieben. Ihn hinauszujagen, war schlechterdings unmöglich: er wäre unter keinen Umständen gegangen. Keller setzte zu einer sehr langen, sehr abgeschmackten Erzählung an, sprang aber gleich von den ersten Worten zum Schluß hinüber, indem er erklärte, er habe dermaßen »jeden Schatten von Moralität« verloren (einzig und allein infolge mangelnden Glaubens an die Existenz Gottes), daß er sogar gestohlen habe. »Können Sie sich das vorstellen?«

»Hören Sie mal, Keller, ich würde das an Ihrer Stelle ohne besondere Not lieber nicht bekennen«, erwiderte der Fürst. »Aber vielleicht wollen Sie sich absichtlich verleumden?«

»Ihnen, einzig und allein Ihnen sage ich es, und einzig und allein um meine sittliche Entwicklung zu fördern. Keinem andern werde ich es sagen, ich werde mein Geheimnis, wenn ich sterbe, in meinem Totenhemd mitnehmen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, wenn Sie nur wüßten, wie schwer es in unserer Zeit ist, Geld zu bekommen! Woher soll unsereiner welches nehmen, wenn Sie mir die Frage gestatten wollen. Ich bekam immer ein und dieselbe Antwort: ›Bringen Sie uns Goldsachen und Brillanten als Pfand, dann werden wir Ihnen Geld geben.‹ Aber das waren gerade die Dinge, die ich nicht hatte. Können Sie sich so etwas vorstellen? Ich wurde schließlich ärgerlich, ich stand da und zauderte. ›Geben Sie auch für Smaragde Geld?‹ fragte ich. – ›Ja, auch für Smaragde‹, antwortete er. – ›Nun, das ist ja vorzüglich!‹ erwiderte ich, setzte meinen Hut auf und ging weg; hol euch der Teufel, ihr nichtswürdigen Schurken!«

»Hatten Sie denn Smaragde?«

»Woher hätte ich denn Smaragde haben sollen? O Fürst, was haben Sie noch für eine sonnige, unschuldige, ja sozusagen idyllische Lebensanschauung!«

Es kam schließlich so weit, daß der Fürst ihn weniger bemitleidete, als vielmehr sich für ihn schämte. Es ging ihm sogar der Gedanke durch den Kopf: ›Könnte nicht aus diesem Menschen noch etwas Ordentliches werden, wenn jemand einen guten Einfluß auf ihn ausübte?‹ Seinen eigenen Einfluß hielt er aus gewissen Gründen für sehr ungeeignet, nicht weil er von sich selbst zu gering gedacht hätte, sondern wegen seiner besonderen Art, die Dinge anzuschauen. Allmählich kamen sie beide so eifrig ins Gespräch, daß sie sich gar nicht mehr voneinander trennen mochten. Keller bekannte mit seltener Offenherzigkeit von sich Dinge, bei denen man nicht begreifen konnte, wie jemand es fertigbrachte, sie zu erzählen. Jedesmal, wenn er sich zu einer solchen Erzählung anschickte, versicherte er hoch und teuer, er empfinde Reue und sei »innerlich voll Tränen«, aber trotzdem erzählte er in einer Weise, als sei er auf sein Verhalten stolz, und zugleich manchmal so komisch, daß er und der Fürst schließlich wie die Wahnsinnigen lachten.

»Die Hauptsache ist, daß Sie sich eine kindliche Zutraulichkeit und eine große Aufrichtigkeit bewahrt haben«, sagte der Fürst endlich. »Wissen Sie, daß Sie schon allein dadurch sehr vieles wiedergutmachen?«

»Ja, ich bin ein edler Mensch, ein edler Mensch, ein ritterlich edler Mensch!« bestätigte Keller gerührt. »Aber wissen Sie, Fürst, das bin ich immer nur, wenn ich mich so meinen Phantasien überlasse und sozusagen besondere Courage habe, in Wirklichkeit wird nie etwas daraus! Wie geht das nur zu? Mir ist das unbegreiflich.«

»Verzweifeln Sie nicht! Man kann jetzt mit Bestimmtheit sagen; daß Sie mir Ihr ganzes Inneres gezeigt haben; wenigstens scheint mir, daß es unmöglich ist, zu dem, was Sie erzählt haben, noch etwas hinzuzufügen, nicht wahr?«

»Unmöglich?!« rief Keller gewissermaßen mitleidig. »O Fürst, wie schweizermäßig, wenn ich mich so ausdrücken darf, beurteilen Sie den Menschen noch!«

»Sollte es wirklich möglich sein, noch etwas hinzuzufügen?« erwiderte der Fürst mit schüchternem Erstaunen. »Also nun sagen Sie bitte, Keller, was Sie eigentlich von mir wollten und warum Sie mit Ihrer Beichte zu mir gekommen sind!«

»Was ich wollte? Von Ihnen wollte? Erstens ist es schon allein ein Vergnügen, Ihre Herzenseinfalt anzusehen; es ist ein Vergnügen, so mit Ihnen zu sitzen und zu plaudern; ich weiß wenigstens, daß ich einen höchst tugendhaften Menschen vor mir habe. Und zweitens… zweitens…«

Er stockte.

»Vielleicht wollten Sie Geld von mir leihen?« half ihm der Fürst in ganz ernstem, schlichtem, ja sogar etwas schüchternem Ton.

Keller fuhr ordentlich zusammen; schnell und immer noch erstaunt blickte er dem Fürsten gerade in die Augen und schlug kräftig mit der Faust auf den Tisch.

»Na, Sie bringen einen ja ganz und gar aus der Fassung! Ich bitte Sie, Fürst: einerseits diese Herzenseinfalt und Harmlosigkeit, wie sie selbst im Goldenen Zeitalter unerhört wäre, und andrerseits durchschauen Sie einen gleichzeitig, wie wenn man von Glas wäre, durch und durch, mit der feinsten psychologischen Beobachtungsgabe! Aber erlauben Sie, Fürst, das bedarf einer Erklärung, da ich… ich bin ganz in Verwirrung geraten! Allerdings hatte ich die Absicht, mir zu guter Letzt von Ihnen Geld zu leihen; aber nun haben Sie mich danach in einer Weise gefragt, als fänden Sie darin nichts Tadelnswertes, als müßte das so sein.« »Ja… bei Ihnen muß das auch so sein.«

»Und Sie sind darüber nicht entrüstet?«

»Worüber sollte ich entrüstet sein?«

»Hören Sie mal, Fürst, ich bin seit gestern abend hiergeblieben, erstens aus besonderer Hochachtung gegen den französischen , von dem Lebedew erzählte (wir haben in Lebedews Wohnung bis drei Uhr morgens eine Flasche nach der andern entkorkt), und zweitens und hauptsächlich (ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist, daß ich die reine Wahrheit sage), weil ich Ihnen eine vollständige, aufrichtige Beichte ablegen und dadurch sozusagen meine eigene sittliche Entwicklung fördern wollte; mit diesem Gedanken schlief ich zwischen drei und vier Uhr tränenüberströmt ein. Werden Sie das nun einem höchst edel denkenden Menschen glauben: in demselben Augenblick, als ich einschlief, aufrichtig erfüllt von inneren und sozusagen auch äußeren Tränen (denn ich schluchzte zuletzt, wie ich mich recht wohl erinnere), in demselben Augenblick kam mir ein teuflischer Gedanke: ›Wie wär’s? Könnte ich nicht zu guter Letzt, nach der Beichte, mir Geld von ihm leihen?‹ Auf diese Weise machte ich meine Beichte zurecht, um mich so auszudrücken, wie ein ragoût fin mit Tränen, in der Absicht, mir mit diesen Tränen den Weg zu bahnen und, wenn Sie sich dann geschmeichelt fühlten, mir von Ihnen hundertfünfzig Rubelchen auszahlen zu lassen. Meinen Sie nicht, daß das eine Gemeinheit ist?«

»Aber so ist das doch gewiß nicht wahr, sondern es ist nur einfach eins zum andern hinzugekommen. Zwei Gedanken sind zusammengetroffen, das kommt sehr oft vor. Mir begegnet das fortwährend. Ich glaube übrigens, daß das nicht schön ist, und wissen Sie, Keller, ich mache mir deswegen die größten Vorwürfe. Mir war, als ob Sie mir mich selbst schilderten. Manchmal habe ich sogar gedacht«, fuhr der Fürst sehr ernst und mit aufrichtigem, starkem Interesse fort, »daß alle Menschen von dieser Art sind, und wollte dann schon anfangen, mir Mut zu machen, denn gegen diese doppelten Gedanken anzukämpfen, ist furchtbar schwer; ich weiß es aus Erfahrung. Gott weiß, woher sie kommen und wie sie entstehen. Aber da nennen Sie das nun geradezu eine Gemeinheit! Jetzt werde auch ich wieder anfangen, mich vor diesen Gedanken zu fürchten. Jedenfalls steht es mir nicht zu, Sie zu verdammen. Aber man darf das doch meiner Ansicht nach nicht so geradezu eine Gemeinheit nennen, meinen Sie nicht auch? Sie haben sich einer List bedient, um durch Tränen Geld von mir herauszulocken, aber dabei schwören Sie doch selbst, daß Ihre Beichte noch einen andern Zweck hatte, einen edlen Zweck, nicht nur jenen pekuniären. Was aber das Geld anlangt, so wollen Sie es doch gewiß haben, um es zu verzechen, nicht? Das ist nach einer solchen Beichte selbstverständlich eine Kleinmütigkeit. Wie aber soll man auch noch die Neigung zum Trinken so im Handumdrehen ablegen? Das ist ja unmöglich. Was ist da zu tun? Das beste ist wohl, wir stellen es Ihrem eigenen Gewissen anheim, meinen Sie nicht?«

Der Fürst blickte Keller mit dem lebhaftesten Interesse an. Das Thema von den doppelten Gedanken hatte ihn offenbar schon lange beschäftigt.

»Na, warum man Sie bei alledem einen Idioten nennt, das ist mir unverständlich!« rief Keller.

Der Fürst errötete ein wenig.

»Der Prediger Bourdaloue, der würde mit einem Menschen wie mir keine Nachsicht gehabt haben; aber Sie waren nachsichtig und haben mich menschlich gerichtet! Um mich zu bestrafen und um zu zeigen, daß ich gerührt bin, verzichte ich jetzt auf die hundertfünfzig Rubel; geben Sie mir nur fünfundzwanzig und damit basta! Mehr brauche ich nicht, wenigstens nicht für die nächsten zwei Wochen. Vor Ablauf von zwei Wochen werde ich nicht wieder um Geld zu Ihnen kommen. Ich wollte eigentlich meiner Agaschka etwas schenken, aber sie verdient es gar nicht. O lieber Fürst, Gott segne Sie!«

Endlich kam Lebedew herein, der soeben zurückgekehrt war, und runzelte, als er in Kellers Händen den Fünfundzwanzigrubelschein erblickte, die Stirn. Aber kaum hatte Keller das Geld, beeilte er sich wegzukommen und verschwand schleunigst. Lebedew begann sofort auf ihn zu schimpfen.

»Sie sind ungerecht«, bemerkte der Fürst endlich. »Er bereute wirklich aufrichtig.«

»Aber was hat die Reue für einen Wert! Das ist gerade, wie ich gestern sagte: ›Ich bin ein gemeiner Mensch, ich bin ein gemeiner Mensch!‹ Das sind doch bloße Worte!«

»Also bei Ihnen waren es bloße Worte? Ich dachte schon …«

»Na, Ihnen, Ihnen allein will ich die Wahrheit sagen, weil Sie ja doch einen Menschen ganz durchschauen: die Worte und das Tun, die Lüge und die Wahrheit, das ist alles zusammen in mir enthalten und ist alles vollkommen aufrichtig. Die Wahrheit und das Tun bestehen bei mir in aufrichtiger Reue, ob Sie es nun glauben oder nicht, ich kann’s beschwören, und die Worte und die Lüge bestehen in dem teuflischen (immer gegenwärtigen) Gedanken, wie ich auch hierbei jemanden hinters Licht führen und durch die Reuetränen profitieren könnte! Bei Gott, so ist es! Einem andern würde ich es nicht sagen, er würde mich auslachen oder verachten; aber Sie, Fürst, Sie urteilen human.«

»Nun, sehen Sie, das ist ganz genau dasselbe, was auch er mir soeben gesagt hat!« rief der Fürst. »Und beide rühmen Sie sich dessen gewissermaßen! Sie setzen mich beide in Erstaunen; nur ist er aufrichtiger als Sie; Sie aber haben die Sache zu einer Art von Gewerbe gemacht. Nun genug davon! Runzeln Sie nicht die Stirn, Lebedew, und legen Sie nicht die Hand aufs Herz! Haben Sie mir nichts zu sagen? Sie werden doch nicht ohne Zweck zur mir gekommen sein …«

Lebedew begann Grimassen zu schneiden und sich zu winden.

»Ich habe den ganzen Tag auf Sie gewartet, um Ihnen eine Frage vorzulegen; sagen Sie nun wenigstens einmal in Ihrem Leben gleich bei den ersten Worten die Wahrheit: waren Sie an der gestrigen Geschichte mit der Equipage irgendwie beteiligt?«

Lebedew schnitt wieder Grimassen und kicherte, rieb sich die Hände, nieste sogar zuletzt, konnte sich aber immer noch nicht dazu entschließen, etwas zu sagen.

»Ich sehe Ihnen an, daß Sie daran beteiligt waren.«

»Aber nur indirekt, durchaus nur indirekt! Ich sage die reine Wahrheit! Ich bin nur insofern daran beteiligt gewesen, als ich die betreffende Person rechtzeitig davon benachrichtigte, daß sich bei mir eine Gesellschaft zusammengefunden hatte und daß gewisse Leute anwesend waren.«

»Ich weiß, daß Sie Ihren Sohn dorthin geschickt haben, er hat es mir selbst vorhin eingestanden; aber was hat diese ganze Intrige zu bedeuten?« rief der Fürst ungeduldig.

»Es ist nicht meine Intrige, nicht meine Intrige«, wehrte Lebedew, lebhaft gestikulierend, ab. »Da stecken andere Leute dahinter, ganz andere Leute, und es ist auch eher sozusagen ein phantastischer Einfall als eine Intrige.«

»Aber um was handelt es sich denn eigentlich? Das erklären Sie mir, um des Himmels willen! Begreifen Sie denn nicht, daß die Sache mich direkt angeht? Jewgenij Pawlowitsch wird ja dadurch angeschwärzt.«

»Fürst! Durchlauchtigster Fürst!« erwiderte Lebedew, sich wieder hin und her krümmend. »Sie erlauben mir ja nicht, die ganze Wahrheit zu sagen; ich habe Ihnen ja schon früher eine wahrheitsgemäße Mitteilung machen wollen, sogar mehrmals; aber Sie gestatteten mir nicht fortzufahren…«

Der Fürst schwieg ein Weilchen und überlegte.

»Nun gut, sagen Sie die Wahrheit!« brachte er, offenbar nach schwerem Kampf, mühsam heraus.

»Aglaja Iwanowna…«, begann Lebedew sofort.

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief der Fürst grimmig; er war vor Empörung, vielleicht auch vor Scham, ganz rot geworden. »Das ist unmöglich, das ist Unsinn! Das haben Sie sich alles selbst ausgedacht oder Leute, die ebenso verrückt sind wie Sie. Ich will das nie wieder von Ihnen hören!«

Spät am Abend, erst nach zehn Uhr, erschien Kolja mit einem ganzen Sack voll Nachrichten. Seine Nachrichten waren von zweierlei Art: Petersburger und Pawlowsker. Er erzählte zunächst rasch das Wichtigste aus Petersburg (namentlich von Ippolit und der Affäre vom vorhergehenden Tage), indem er sich vorbehielt, nachher noch einmal darauf zurückzukommen, und ging dann möglichst schnell zu den Pawlowsker Ereignissen über. Er war vor drei Stunden aus Petersburg zurückgekehrt und hatte sich, ohne zu dem Fürsten zu kommen, geradewegs zu Jepantschins begeben. »Da geht es schrecklich zu!« Vornean stehe natürlich die Geschichte mit der Kutsche; aber gewiß sei dort noch etwas anderes passiert, das ihm und dem Fürsten unbekannt sei. »Ich habe selbstverständlich nicht spioniert und wollte niemanden ausfragen; übrigens nahmen sie mich freundlich auf, so freundlich, wie ich es gar nicht erwartet hatte; aber Sie, Fürst, wurden mit keinem Wort erwähnt!« Das Wichtigste und Interessanteste sei, daß Aglaja sich vorhin mit den Ihrigen Ganjas wegen überworfen habe. Wie das im einzelnen zugegangen wäre, wisse er nicht, nur daß der Streit sich um Ganja gedreht habe (»stellen Sie sich so etwas vor!«) und daß sie heftig aneinandergeraten seien, also müsse der Grund ein wichtiger sein. Der General sei erst spät und in mürrischer Stimmung nach Hause gekommen, zusammen mit Jewgenij Pawlowitsch, den sie sehr gut aufgenommen hätten, und Jewgenij Pawlowitsch selbst sei erstaunlich heiter und liebenswürdig gewesen. Die allerwichtigste Neuigkeit aber sei, daß Lisaweta Prokofjewna ohne alles Aufsehen Warwara Ardalionowna, die bei den jungen Mädchen gewesen sei, auf ihr Zimmer gerufen und ihr ein für allemal das Haus verboten habe, übrigens in der höflichsten Form, – »ich habe es von Warja selbst gehört«. Als Warja aber aus Lisaweta Prokofjewnas Zimmer wieder herausgekommen sei und sich von den jungen Mädchen verabschiedet habe, da hätten diese gar nicht gewußt, daß ihr das Haus für alle Zeit verboten worden sei und sie ihnen für immer Lebewohl sagte.

»Aber Warwara Ardalionowna war noch um sieben Uhr bei mir! Wie geht das zu?« fragte der Fürst erstaunt.

»Aus dem Hause gewiesen wurde sie zwischen sieben und acht Uhr oder um acht. Warja tut mir sehr leid, auch Ganja tut mir leid … Die beiden intrigieren zweifellos fortwährend, ohne das können sie gar nicht leben. Ich habe nie dahinterkommen können, was sie eigentlich im Schilde führen, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich versichere Ihnen, mein lieber, guter Fürst, daß Ganja ein gutes Herz hat. Allerdings haften ihm manche schlechten Eigenschaften an; aber andererseits besitzt er viele Charakterzüge, denen nachzuforschen wirklich der Mühe lohnt, und ich werde es mir nie verzeihen, daß ich ihn früher nicht verstanden habe … Ich weiß nicht, ob ich jetzt nach der Geschichte mit Warja den Verkehr bei Jepantschins fortsetzen soll. Allerdings habe ich dort gleich von Anfang an eine ganz unabhängige, selbständige Stellung eingenommen, aber ich muß mir die Sache doch erst noch überlegen.«

»Sie bedauern Ihren Bruder unnötigerweise so sehr«, erwiderte ihm der Fürst. »Wenn es schon so weit gekommen ist, daß Lisaweta Prokofjewna eine derartige Maßregel für notwendig hält, so muß Gawrila Ardalionowitsch in ihren Augen gefährlich sein, und folglich erscheinen gewisse Hoffnungen, die er hegt, nicht unbegründet.«

»Was denn für Hoffnungen?« rief Kolja erstaunt. »Sie glauben doch nicht, daß Aglaja … Das ist nicht möglich!«

Der Fürst schwieg.

»Sie sind ein schrecklicher Skeptiker, Fürst«, fügte Kolja nach ein paar Minuten hinzu. »Ich habe bemerkt, daß Sie seit einiger Zeit außerordentlich skeptisch geworden sind; Sie fangen an, an nichts zu glauben und alles für möglich zu halten… Habe ich das Wort ›Skeptiker‹ in diesem Fall richtig angewendet?«

»Ich glaube ja. Genau weiß ich es allerdings selbst nicht.«

»Aber nun widerrufe ich selbst das Wort ›Skeptiker‹!« rief Kolja auf einmal. »Sie sind kein Skeptiker, sondern eifersüchtig! Sie sind auf Ganja eines gewissen stolzen Mädchens wegen höllisch eifersüchtig!«

Nach diesen Worten sprang Kolja auf und lachte so herzlich, wie er es vielleicht in seinem Leben noch nie getan hatte. Als er sah, daß der Fürst ganz rot geworden war, steigerte sich sein Lachen noch; der Gedanke, daß der Fürst Aglajas wegen eifersüchtig war, machte ihm den größten Spaß, aber er verstummte sofort, als er bemerkte, daß dieser sich wirklich gekränkt fühlte. Darauf führten sie noch eine oder anderthalb Stunden lang sehr ernst und besorgt ein Gespräch miteinander.

Am nächsten Tag verbrachte der Fürst wegen eines unaufschiebbaren Geschäfts den ganzen Vormittag in Petersburg. Als er – es war schon bald fünf Uhr nachmittags nach Pawlowsk zurückkehrte, traf er auf dem Bahnhof mit Iwan Fjodorowitsch zusammen. Dieser nahm ihn schnell bei der Hand, blickte sich um, als fürchtete er etwas, und zog den Fürsten mit sich in einen Wagen erster Klasse, um mit ihm zusammen zu fahren. Er brannte vor Verlangen, mit ihm über einen wichtigen Punkt zu sprechen.

»Erstens, lieber Fürst, sei nicht böse auf mich, und wenn ich mich meinerseits nicht richtig verhalten habe, so vergiß das! Ich wäre gestern schon selbst zu dir gekommen, aber ich wußte nicht, wie Lisaweta Prokofjewna das aufnehmen würde… Bei mir zu Hause… ist die Hölle los; eine rätselhafte Sphinx hat sich da niedergelassen, und ich gehe umher, ohne etwas zu verstehen. Was aber dich anlangt, so trägst du meines Erachtens weniger Schuld als wir alle, obwohl natürlich vieles deinetwegen so gekommen ist. Du siehst, Fürst, es ist ein Vergnügen, ein Philanthrop zu sein, aber kein sehr großes. Du hast wohl selbst schon die Früchte davon zu schmecken bekommen. Ich habe natürlich Herzensgüte sehr gern und schätze Lisaweta Prokofjewna sehr hoch, aber…«

Der General fuhr noch lange fort, in dieser Weise zu reden, aber seine Worte waren seltsam unzusammenhängend. Es war klar, daß er durch etwas ihm völlig Unverständliches stark erschüttert und verwirrt worden war.

»Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß du damit nichts zu schaffen hast«, drückte er sich endlich deutlicher aus. »Aber ich bitte dich in aller Freundschaft, uns eine Zeitlang nicht zu besuchen, bis sich der Wind gedreht haben wird. Was aber Jewgenij Pawlytsch anbetrifft«, rief er mit ungewöhnlicher Leidenschaftlichkeit, »so ist das alles sinnlose Verleumdung, Verleumdung schlimmster Art! Es ist Anschwärzung, eine Intrige steckt dahinter, der Wunsch, alles über den Haufen zu stürzen und uns zu entzweien. Siehst du, Fürst, ich sage dir im Vertrauen: zwischen uns und Jewgenij Pawlytsch ist noch kein deutliches Wort gesprochen worden. Wir sind in keiner Weise gebunden, aber ein solches Wort kann gesprochen werden und vielleicht sogar sehr bald! Darum wollte man ihm schaden! Aber welchen Zweck das Ganze eigentlich verfolgt, das kann ich nicht begreifen! Sie ist ein wunderbares Weib, ein exzentrisches Weib; ich fürchte mich vor ihr so sehr, daß ich kaum schlafen kann. Und was für eine Equipage sie hat! Diese Schimmel! Das ist großartig, das ist genau das, was man im Französischen chic nennt! Wer bezahlt das für sie? Ich habe mich wahrhaftig versündigt und vorgestern gedacht, am Ende tue es Jewgenij Pawlytsch. Aber es stellt sich heraus, daß das unmöglich ist; wenn das aber unmöglich ist, warum will sie dann diese Sache hintertreiben? Das ist das Rätsel! Um Jewgenij Pawlytsch für sich zu behalten? Aber ich wiederhole dir und bekreuzige mich dabei, daß er mit ihr nicht bekannt ist und daß diese Wechsel pure Erfindung sind! Und mit welcher Frechheit sie ihn über die Straße weg duzte! Das ist ja die reine Verschwörung! Es ist klar, daß man diese Verleumdung verächtlich zurückweisen und dem beleidigten Jewgenij Pawlytsch mit doppelter Achtung begegnen muß. Das habe ich auch Lisaweta Prokofjewna gesagt. Jetzt will ich dir meinen allergeheimsten Gedanken mitteilen: ich bin fest überzeugt, daß sie das getan hat, um sich an mir persönlich zu rächen, du erinnerst dich wohl, wegen meiner früheren Beziehungen zu ihr, obwohl ich mir ihr gegenüber nie auch nur das Geringste habe zuschulden kommen lassen. Ich erröte bei der bloßen Erinnerung. Jetzt ist sie nun wieder aufgetaucht; ich hatte schon gedacht, sie wäre für immer verschwunden. Sag mal, bitte, wo steckt denn eigentlich dieser Rogoshin? Ich dachte, sie wäre schon längst seine Frau.«

Kurz, der Mann war völlig durcheinander. Fast die ganze Stunde, die die Fahrt dauerte, redete er allein, warf Fragen auf, die er dann selbst beantwortete, drückte dem Fürsten die Hand und überzeugte diesen wenigstens davon, daß er keinen Verdacht gegen ihn zu hegen brauche. Das war dem Fürsten wichtig. Zuletzt erzählte er von Jewgenij Pawlytschs Onkel, dem Chef einer Kanzlei in Petersburg: »Er bekleidet ein hohes Amt, ist siebzig Jahre alt, ein Lebemann, ein Feinschmecker und läßt sich trotz seiner Jahre noch leicht verlocken … Haha! – Ich weiß, daß er von Nastasja Filippowna gehört und sich sogar um sie bemüht hat. Ich sprach vorhin bei ihm vor; aber er empfängt nicht, er ist unpäßlich. Aber er ist reich, schwer reich, besitzt großen Einfluß und… Nun, Gott gebe ihm Gesundheit und ein langes Leben, aber irgendeinmal fällt doch alles Jewgenij Pawlytsch zu… Ja, ja… aber doch ängstige ich mich! Ich weiß nicht wovor, aber ich ängstige mich… Es ist, als ob etwas in der Luft schwebt, wie eine Fledermaus; es ist ein Unheil im Anzug, und ich ängstige mich, ich ängstige mich!…«

Endlich, aber erst am dritten Tage, wie schon oben gesagt, erfolgte die förmliche Aussöhnung der Familie Jepantschin mit dem Fürsten Lew Nikolajewitsch.

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Kapitel 28

XII

Es war sieben Uhr abends; der Fürst wollte eben in den Park gehen. Auf einmal kam Lisaweta Prokofjewna ganz allein zu ihm in die Veranda.

»Erstens, bilde dir nicht ein«, begann sie, »daß ich gekommen wäre, dich um Verzeihung zu bitten! Unsinn! Du allein trägst die ganze Schuld.«

Der Fürst schwieg.

»Trägst du die Schuld?«

»In demselben Maße wie Sie. Übrigens haben weder Sie noch ich in irgendeiner Hinsicht uns absichtlich schuldig gemacht. Ich hielt mich vorgestern für schuldig, aber jetzt bin ich doch anderer Ansicht und meine, daß dem nicht so ist.«

»Also so denkst du darüber! Nun gut, hör zu und setz dich, denn ich beabsichtige nicht zu stehen.«

Beide setzten sich.

»Zweitens, kein Wort von den boshaften Burschen! Ich werde zehn Minuten hierbleiben und mit dir reden; ich bin hergekommen, um dich nach etwas zu fragen (du dachtest wohl schon, ich sei aus Gott weiß was für einem Grunde gekommen?), und wenn du der dreisten Burschen auch nur mit einem Worte Erwähnung tust, so stehe ich auf und gehe weg und breche jeden Verkehr mit dir ab.«

»Gut«, antwortete der Fürst.

»Gestatte die Frage: hast du vor zwei oder zweieinhalb Monaten, um Ostern herum, an Aglaja einen Brief geschrieben?«

»J-ja, das habe ich getan.«

»Was hattest du dabei für eine Absicht? Was stand in dem Brief? Zeig mal den Brief her!«

Lisaweta Prokofjewnas Augen blitzten, sie zitterte vor Ungeduld.

»Den Brief habe ich nicht«, versetzte der Fürst sehr erstaunt und sehr schüchtern. »Wenn er überhaupt noch existiert, muß ihn Aglaja Iwanowna haben.«

»Keine Ausflüchte! Was hast du ihr geschrieben?«

»Ich mache keine Ausflüchte; ich habe keinen Grund, mich zu fürchten. Ich sehe nicht ein, warum ich ihr nicht hätte schreiben dürfen…«

»Schweig! Du kannst nachher reden. Was stand in dem Brief? Warum bist du so rot geworden?«

Der Fürst überlegte ein Weilchen.

»Ich kenne Ihre Gedanken nicht, Lisaweta Prokofjewna. Ich sehe nur, daß Ihnen dieser Brief sehr mißfällt. Sie werden zugeben müssen, daß ich die Beantwortung einer solchen Frage ablehnen könnte; aber um Ihnen zu zeigen, daß ich mich wegen des Briefes nicht fürchte und es nicht bedaure, ihn geschrieben zu haben, und ganz und gar nicht um seinetwillen erröte« (hier wurde der Fürst fast noch einmal so rot), »will ich Ihnen diesen Brief hersagen, da ich ihn, wie ich meine, auswendig weiß.«

Hierauf sagte der Fürst den Brief fast Wort für Wort so her, wie er ihn geschrieben hatte.

»So ein Galimathias! Was soll dieser Unsinn denn nach deiner Meinung bedeuten?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton, nachdem sie bei dem Hersagen des Briefes sehr aufmerksam zugehört hatte.

»Ich weiß es selbst nicht ganz; ich weiß nur, daß meine Empfindung wahr und echt war. Ich hatte dort Augenblicke, in denen ich wahrhaft lebte und von außerordentlichen Hoffnungen erfüllt war.«

»Von was für Hoffnungen?«

»Das ist schwer zu erklären, aber nicht von denen, an die Sie jetzt vielleicht denken. Von Hoffnungen… nun kurz, von Hoffnungen auf die Zukunft und von Freude darüber, daß ich vielleicht dort kein Fremder, kein Ausländer war. Es gefiel mir auf einmal sehr gut in der Heimat. An einem sonnigen Morgen ergriff ich die Feder und schrieb einen Brief an sie; warum gerade an sie, das weiß ich nicht. Es überkommt einen ja manchmal ein Verlangen, einen Freund neben sich zu haben; auch ich sehnte mich offenbar nach einem Freund…«, fügte der Fürst nach kurzem Schweigen hinzu.

»Bist du verliebt, ja?«

»N-nein. Ich … ich habe wie an eine Schwester geschrieben; ich habe auch als Bruder unterzeichnet.«

»Hm! Absichtlich; ich verstehe.«

»Es ist mir sehr peinlich, Ihnen auf diese Fragen zu antworten, Lisaweta Prokofjewna.«

»Ich weiß, daß es dir peinlich ist, aber das kümmert mich nicht. Hör mal, sag mir die Wahrheit, wie wenn du vor Gott stündest: lügst du mir auch nichts vor?«

»Ich lüge nicht.«

»Sagst du die Wahrheit, daß du nicht verliebt bist?«

»Ich glaube, daß das die volle Wahrheit ist.«

»Sieh mal an: ›Ich glaube!‹ Wer hat ihr den Brief überbracht? Der dumme Junge?«

»Ich habe Nikolai Ardalionowitsch gebeten…«

»Ein dummer Junge ist er! Ein dummer Junge!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna. »Ich kenne keinen Nikolai Ardalionowitsch! Ein dummer Junge ist er!«

»Nikolai Ardalionowitsch…«

»Ein dummer Junge, sage ich dir!«

»Nein, kein dummer Junge, sondern Nikolai Ardalionowitsch«, antwortete der Fürst in festem Ton, wenn auch ziemlich leise.

»Na schön, mein Täubchen, schön! Das werde ich dir ankreiden.«

Sie kämpfte ihre Aufregung für ein Weilchen nieder und erholte sich.

»Und was hat es mit dem ›armen Ritter‹ für eine Bewandtnis?«

»Das ist mir völlig unbekannt; ich bin nicht dabeigewesen, als es aufkam; es ist irgendein Scherz.«

»Mir sehr angenehm, das zu erfahren! Aber konnte sie sich denn wirklich für dich interessieren? Sie hat dich ja selbst ›Mißgeburt‹ und ›Idiot‹ genannt.«

»Das hätten Sie mir nicht wiedersagen sollen«, bemerkte der Fürst vorwurfsvoll, aber beinah flüsternd.

»Sei nicht böse! Sie ist ein eigensinniges, verrücktes, verzogenes Mädchen; wenn sie sich verliebt, so wird sie unbedingt laut über den Geliebten schimpfen und ihm ins Gesicht spotten; ich bin ganz ebenso gewesen. Nur bitte triumphiere nicht, mein Täubchen; sie wird nicht die Deine werden; ich glaube nicht daran, es wird nie geschehen! Ich sage das, damit du dich schon jetzt danach einrichtest. Hör mal, schwöre mir, daß du nicht mit jener Frauensperson verheiratet bist!«

»Lisaweta Prokofjewna, ich bitte Sie, was reden Sie da!« rief der Fürst und sprang vor Erstaunen beinah auf.

»Aber es fehlte nicht viel, daß du sie geheiratet hättest?«

»Nein, es fehlte nicht viel«, flüsterte der Fürst und ließ den Kopf sinken.

»Also in die bist du doch verliebt, wenn es so ist? Bist du jetzt um, ihretwillen hergereist? Um dieser Frauensperson willen?«:

»Ich bin nicht hergereist, um zu heiraten«, versetzte der Fürst.

»Ist dir etwas auf der Welt heilig?«

»Ja.«

»Dann schwöre mir, daß du nicht hergereist bist, um die zu heiraten.«

»Ich schwöre es bei allem, was Sie wollen!«

»Ich glaube dir; küsse mich! Endlich kann ich wieder frei atmen. Aber merk dir’s: Aglaja liebt dich nicht, richte dich danach; solange ich auf der Welt bin, wird sie nicht deine Frau werden! Hast du gehört?«

»Ja, ich habe es gehört.«

Der Fürst errötete so stark, daß er Lisaweta Prokofjewna nicht gerade in die Augen sehen konnte.

»Nun, dann merk es dir! Ich habe auf dich gewartet wie auf die Vorsehung (was du übrigens nicht wert warst!); ich habe mein Kissen nachts mit Tränen benetzt – nicht deinetwegen, mein Täubchen, mach dir keine Sorgen; ich habe meinen eigenen, anderen Kummer, immer und ewig denselben. Aber der Grund, weshalb ich auf dich mit solcher Ungeduld gewartet habe, ist der: ich glaube immer noch, daß Gott selbst dich mir als meinen Freund und leiblichen Bruder gesandt hat. Ich habe keinen Menschen als die alte Bjelokonskaja, und auch die ist jetzt ausgeflogen und ist überdies infolge ihres hohen Alters dumm wie ein Schaf. Jetzt antworte einfach ja oder nein: weißt du, warum sie neulich die seltsamen Worte aus dem Wagen gerufen hat?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht dabei beteiligt war und nichts davon weiß!«

»Genug, ich glaube dir. Jetzt fasse ich die Sache anders auf; aber noch gestern vormittag machte ich Jewgenij Pawlytsch für alles verantwortlich. Den ganzen vorgestrigen Tag und gestern vormittag war ich dieser Meinung. Jetzt allerdings kann ich nicht umhin, den andern beizustimmen: es ist offenbar, daß sie sich über ihn wie über einen Dummkopf lustig gemacht hat, aus irgendeinem Grunde, zu irgendeinem Zweck, in irgendeiner Absicht. (Schon das allein ist verdächtig und ganz ungehörig!) Aber Aglaja wird er nicht zur Frau bekommen, das sage ich dir! Er mag ja ein ganz guter Mensch sein, aber es kommt doch so. Früher habe ich noch geschwankt, aber jetzt habe ich mit aller Bestimmtheit erklärt: ›Legt mich erst in den Sarg und versenkt mich in die Erde, dann könnt ihr meine Tochter zur Frau geben, wem ihr wollt!‘ Das habe ich heute meinem Mann gegenüber ausgesprochen. Siehst du wohl, daß ich dir vertraue? Siehst du das wohl?«

»Ja, ich sehe und verstehe es.«

Lisaweta Prokofjewna blickte den Fürsten durchdringend an: vielleicht wollte sie wissen, welchen Eindruck die Mitteilung über Jewgenij Pawlytsch auf ihn machte.

»Von Gawrila Iwolgin weißt du nichts?«

»Das heißt… ich weiß von ihm vieles.«

»Hast du gewußt, daß er mit Aglaja Beziehungen unterhält?«

»Davon habe ich nicht das geringste gewußt«, erwiderte der Fürst erstaunt; er zuckte sogar zusammen. »Wie? Sie sagen, Gawrila Ardalionowitsch unterhalte Beziehungen mit Aglaja Iwanowna? Unmöglich!«

»Erst seit kurzer Zeit. Seine Schwester hat ihm den ganzen Winter den Weg gebahnt, wie eine Ratte hat sie gewühlt und genagt.«

»Ich glaube es nicht«, wiederholte der Fürst mit fester Stimme, nachdem er ein Weilchen erregt nachgedacht hatte. »Wenn das der Fall wäre, würde ich es sicher wissen.«

»Na ja, er wäre wohl selbst gekommen, wäre dir an die Brust gesunken und hätte es dir unter Tränen gestanden! O du Einfaltspinsel, du Einfaltspinsel! Alle betrügen sie dich ja… wie… Schämst du dich denn gar nicht, ihm zu vertrauen? Siehst du denn nicht, daß er dich ständig hinters Licht führt?«

»Ich weiß sehr wohl, daß er mich manchmal betrügt«, antwortete der Fürst unwillig und halblaut, »und er weiß, daß ich das weiß, aber…«, fügte er hinzu, sprach jedoch den Satz nicht zu Ende.

»Es wissen und doch vertrauen! Das hat noch gefehlt! Übrigens konnte man das von dir erwarten. Worüber wundere ich mich da noch? Mein Gott! Hat es je so einen Menschen gegeben? Nein, so etwas! Und weißt du, daß dieser Ganjka oder diese Warja sie mit Nastasja Filippowna in Beziehungen gebracht haben?«

»Wen?« rief der Fürst.

»Aglaja.«

»Das glaube ich nicht! Das ist nicht möglich! Was sollten sie dabei für eine Absicht gehabt haben?«

Er sprang vom Stuhl auf.

»Auch ich glaube es nicht, obwohl sichere Anzeichen dafür vorhanden sind. Sie ist ein eigenwilliges Mädchen, ein phantastisches Mädchen, ein verrücktes Mädchen! Und boshaft ist sie, boshaft! Tausend Jahre werde ich behaupten, daß sie boshaft ist! Alle meine Töchter haben sich jetzt in dieser Weise verändert, sogar das sanfte Hühnchen, die Alexandra, aber bei Aglaja ist es rein zum Tollwerden. Aber ich glaube es auch nicht! Vielleicht deswegen, weil ich es nicht glauben will«, fügte sie wie für sich hinzu. »Warum bist du denn nicht zu uns gekommen?« wandte sie sich plötzlich wieder an den Fürsten. »Warum bist du die ganzen drei Tage nicht gekommen?« rief sie ihm ungeduldig zum zweitenmal zu.

Der Fürst begann, seine Gründe anzuführen, aber sie unterbrach ihn von neuem.

»Alle halten sie dich für einen Dummkopf und betrügen dich! Du bist gestern nach der Stadt gefahren; ich möchte wetten, du hast auf den Knien gelegen und diesen Schuft gebeten, die zehntausend Rubel anzunehmen!«

»Keineswegs, ich habe gar nicht daran gedacht. Ich habe ihn überhaupt nicht besucht, und außerdem ist er kein Schuft. Ich habe einen Brief von ihm erhalten.«

»Zeig ihn mal her!«

Der Fürst nahm einen Zettel aus seiner Brieftasche und reichte ihn Lisaweta Prokofjewna. Auf dem Zettel stand:

»Geehrter Herr! Ich habe freilich in den Augen der Menschen nicht das geringste Recht, Ehrgefühl zu besitzen. Nach der Meinung der Leute stehe ich dazu zu niedrig. Aber so ist das nur in den Augen der Menschen, nicht in den Ihrigen. Ich bin zu der bestimmten Überzeugung gelangt, daß Sie, geehrter Herr, besser sind als die anderen. Ich bin darin nicht Doktorenkos Meinung und unsere Ansichten gehen hier auseinander. Ich werde von Ihnen nie auch nur eine Kopeke annehmen, aber Sie haben meine Mutter unterstützt, und dafür muß ich Ihnen dankbar sein, wenn auch nur aus Schwäche. Jedenfalls sehe ich Sie jetzt mit anderen Augen an und hielt es für nötig, Ihnen das mitzuteilen. Des weiteren aber bin ich der Ansicht, daß zwischen uns keinerlei Beziehungen mehr bestehen können.

Antip Burdowskij.

PS. Die an den zweihundert Rubel fehlende Summe wird Ihnen im Laufe der Zeit sicher zurückgezahlt werden.«

»So ein Blödsinn!« rief Lisaweta Prokofjewna nach dem Durchlesen und warf dem Fürsten das Blatt wieder hin. »Es lohnte nicht die Mühe, es durchzulesen. Was schmunzelst du?«

»Geben Sie doch zu, daß auch Sie es mit Vergnügen gelesen haben!«

»Wie? Diesen von Eitelkeit triefenden Galimathias? Siehst du denn nicht, daß diese Menschen alle vor Stolz und Eitelkeit geradezu verrückt geworden sind?«

»Ja, aber er hat sich doch schuldig bekannt, hat mit Doktorenko gebrochen, und je eitler er ist, um so schwerer muß das seiner Eitelkeit gefallen sein. Ach, was sind Sie für ein kleines Kind, Lisaweta Prokofjewna!«

»Du möchtest wohl noch eine Ohrfeige von mir bekommen, was?«

»Nein, das möchte ich nicht. Ich sage das, weil Sie sich über den Brief freuen und es verbergen. Warum schämen Sie sich Ihrer Empfindungen? So machen Sie es immer.«

»Untersteh dich nicht, je wieder den Fuß über meine Schwelle zu setzen!« rief Lisaweta Prokofjewna und sprang blaß vor Zorn auf. »Laß dich nie wieder bei mir blicken!«

»Aber nach drei Tagen werden Sie selbst herkommen und mich zu sich rufen … Sie sollten sich schämen! Das sind ja Ihre besten Empfindungen, warum schämen Sie sich ihrer denn? Sie quälen sich ja nur selbst damit.«

»Eher sterbe ich, als daß ich dich jemals rufe! Ich werde deinen Namen vergessen! Ich habe ihn vergessen!!«

Sie stürzte davon.

»Es ist mir sowieso schon verboten worden, zu Ihnen zu gehen!« rief ihr der Fürst nach.

»Wa-as? Wer hat es dir verboten?«

Sie wandte sich augenblicklich um, als hätte sie jemand mit einer Nadel gestochen. Der Fürst zögerte mit der Antwort, er merkte, daß er sich unversehens, aber sehr arg verplappert hatte.

»Wer hat es dir verboten?« rief Lisaweta Prokofjewna wütend.

»Aglaja Iwanowna hat es mir verboten …«

»Wann? So re-de doch!!!«

»Heute vormittag hat sie mir die Weisung zugehen lassen, ich möchte mich nie wieder erdreisten, zu Ihnen zu kommen.«

Lisaweta Prokofjewna stand wie versteinert da; aber sie überlegte.

»Was hat sie dir geschickt? Wen hat sie geschickt? Den dummen Jungen? Mit einer mündlichen Bestellung?« rief sie plötzlich wieder.

»Ich habe ein Billett erhalten«, versetzte der Fürst.

»Wo ist es? Gib es her! Augenblicklich!«

Der Fürst überlegte einen Augenblick, zog dann aber aus der Westentasche ein gewöhnliches Stückchen Papier heraus, auf dem geschrieben stand:

»Fürst Lew Nikolajewitsch! Wenn Sie nach allem, was vorgefallen ist, beabsichtigen sollten, mich durch einen Besuch in unserem Landhaus in Erstaunen zu versetzen, so mögen Sie wissen, daß ich nicht zu denjenigen gehören werde, die sich darüber freuen.

Aglaja Jepantschina.«

Lisaweta Prokofjewna dachte ein Weilchen nach; dann stürzte sie plötzlich auf den Fürsten zu, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

»Komm! Sofort! Nun gerade sofort, augenblicklich!« rief sie in einem Anfall starker Erregung und Ungeduld.

»Aber Sie setzen mich ja der Gefahr aus …«

»Was für einer Gefahr? Du harmloser Tropf! Gerade als ob du kein Mann wärest! Na, jetzt werde ich selbst alles mit eigenen Augen sehen …«

»Aber lassen Sie mich doch wenigstens meinen Hut nehmen …«

»Da ist dein abscheulicher Deckel, komm! Du hast nicht einmal soviel Geschmack gehabt, dir eine ordentliche Fasson auszusuchen! … Das hat sie … das hat sie nach dem heutigen … in der Aufregung«, murmelte Lisaweta Prokofjewna, indem sie den Fürsten hinter sich herzog und seine Hand keinen Augenblick losließ. »Vorhin habe ich dich noch verteidigt und habe laut erklärt, es sei dumm von dir, daß du nicht kämest … Sonst hätte sie ja auch nicht einen so sinnlosen Brief geschrieben! Einen so unpassenden Brief, ganz unpassend für ein anständiges, wohlerzogenes, kluges, kluges Mädchen! … Hm«, fuhr sie fort, »natürlich hat sie sich selbst darüber geärgert, daß du nicht kamst, und nur nicht bedacht, daß man so an einen Idioten nicht schreiben kann, weil er es wörtlich auffaßt, wie es ja auch geschehen ist. Warum horchst du denn?« rief sie, da sie merkte, daß sie zuviel gesagt hatte. »Sie braucht einen Hansnarren, wie du einer bist, so einen hat sie schon lange nicht gesehen; darum ladet sie dich ein zu kommen! Und ich freue mich, ich freue mich, daß sie dich jetzt bei den Ohren kriegen wird! Das geschieht dir ganz recht! Und sie versteht das, oh, das versteht sie vorzüglich! …«

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Kapitel 29

Dritter Teil

I

Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine praktischen Menschen gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber es mangle an praktischen Menschen. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschifffahrtsgesellschaft eine halbwegs erträgliche Verwaltung zusammenzubringen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder ein paar Wagen von einer Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren abgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern würde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat, wie man hört (es ist übrigens kaum zu glauben), dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei »in Eifer geraten«. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial anständiges Verwaltungspersonal für eine Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bekommen?

Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, so einfach, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln, aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu sprechen gekommen; wir wollten eigentlich von den praktischen Menschen sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines praktischen Menschen gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir uns beschuldigen – wenn überhaupt diese Meinung eine Beschuldigung ist. Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer als die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch sehr niedrig angesetzt) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders.

Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als Dummköpfe gehalten worden – das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so mußte selbstverständlich, als die Leihbank abgeschafft wurde und alle sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener Millionen die den Tugenden, über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne sich dieser Tatsache völlig bewußt zu sein (weil das eben seine Schwierigkeiten hatte), hatten sie doch manchmal den Argwohn, daß in ihrer Familie alles anders zugehe als bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im Übermaß ängstlich, aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum guten Ton gehörige Schüchternheit, die ihnen so erstrebenswert schien. Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich darüber beunruhigte: die Mädchen waren noch jung – wenn auch ein sehr scharfsinniges Völkchen mit Neigung zur Ironie, während der General zwar Verständnis besaß (allerdings ein langsames und schwerfälliges), in schwierigen Fällen aber nur »Hm!« sagte und schließlich seine ganze Zuversicht auf Lisaweta Prokofjewna setzte. Auf ihr ruhte also die Verantwortung. Nicht als ob diese Familie sich durch irgendwelche besondere Initiative ausgezeichnet hätte oder infolge eines bewußten Hanges zur Originalität aus dem Geleise gesprungen wäre, was sich ja freilich mit der Schicklichkeit ganz und gar nicht vertragen hätte. O nein! Das war wirklich nicht der Fall; das heißt, es lag bei ihnen keine bewußte Absicht vor, aber dennoch kam es schließlich so heraus, daß die Familie Jepantschin trotz all ihrer Respektabilität von anderer Art war, als respektable Familien sein müssen. In letzter Zeit hatte Lisaweta Prokofjewna angefangen, die Schuld an alledem lediglich sich und ihrem »unglücklichen« Charakter beizumessen, wodurch ihre Leiden nur noch vermehrt wurden. Sie selbst nannte sich alle Augenblicke »eine dumme, taktlose Person, eine verdrehte Schraube«, quälte sich mit ihrem Mißtrauen, war beständig außer sich, fand bei ganz gewöhnlichen Dingen, die ihr zustießen, keinen Ausweg und übertrieb fortwährend das Unglück.

Schon zu Beginn unserer Erzählung haben wir erwähnt, daß Jepantschins sich allgemeiner, aufrichtiger Hochachtung erfreuten. Sogar der General Iwan Fjodorowitsch ganze Tage lang mit ihnen herum, obwohl sie sie gleichzeitig leidenschaftlich und bis zur Selbstvergessenheit liebte.

Am meisten quälte sie die Befürchtung, ihre Töchter könnten ebenso »verdrehte Schrauben« werden wie sie; solche Mädchen wie die ihrigen, meinte sie, gebe es auf der ganzen Welt nicht mehr und könne es auch gar nicht mehr geben. ›Sie werden die reinen Nihilistinnen, das ist’s!‹ sagte sie sich alle Augenblicke. Im letzten Jahr und besonders in der allerletzten Zeit hatte sich dieser traurige Gedanke immer mehr und mehr bei ihr festgesetzt. ›Erstens, warum heiraten sie nicht?‹ fragte sie sich fortwährend. ›Um ihre Mutter zu ärgern – darin sehen sie ihren Lebenszweck, und das kommt natürlich alles von den neuen Ideen und der verdammten Frauenfrage! Kam nicht Aglaja vor einem halben Jahr auf den Einfall, sich ihr prächtiges Haar abzuschneiden? (O Gott, solches Haar habe ich in meiner Jugend nicht gehabt!) Sie hatte ja sogar schon die Schere in der Hand, und ich habe sie auf den Knien bitten müssen, es zu lassen! … Na, die hat das allerdings aus Bosheit getan, um ihre Mutter zu quälen, denn sie ist ein boshaftes, eigenwilliges, verzogenes Mädchen, vor allem boshaft, boshaft, boshaft! Aber wollte nicht die dicke Alexandra es ihr nachmachen und sich ebenfalls ihre Zotteln abschneiden? Und die nicht aus Bosheit und Laune, sondern in aufrichtiger Dummheit, weil Aglaja ihr eingeredet hatte, sie werde ohne Haar besser schlafen und keine Kopfschmerzen mehr haben. Und wie viele, viele Bewerber haben sie nicht in diesen fünf Jahren gehabt? Und es waren doch wirklich nette Männer darunter, sogar ganz prächtige Männer! Worauf warten sie denn noch? Warum heiraten sie nicht? Nur, um ihre Mutter zu ärgern – das ist der einzige Grund! Der einzige! Der einzige!‹

Endlich ging nun auch für ihr Mutterherz die Freudensonne auf: es war Aussicht, daß wenigstens eine Tochter, Adelaida, endlich unter die Haube kommen würde. »Wenigstens eine werde ich loswerden«, sagte Lisaweta Prokofjewna, wenn es sich traf, daß sie laut darüber sprach (im stillen für sich drückte sie sich sehr viel zärtlicher aus). Und in wie netter, schicklicher Weise sich die ganze Sache gemacht hatte; selbst in den Kreisen der vornehmen Welt zeichneten sich stets durch außerordentliche Harmlosigkeit und Naivität aus, ganz wie bei einem siebenjährigen Kind, und nun hatte sogar diese Naivität der Träume die Wirkung, die Mama in eine gereizte Stimmung zu versetzen. Einmal hatte Alexandra Iwanowna von neun Hennen geträumt, und hieraus entstand ein regelrechter Streit zwischen ihr und der Mutter; warum, war schwer zu sagen. Ein andermal, nur ein einziges Mal, glückte es ihr, daß sie einen einigermaßen originellen Traum hatte: sie träumte von einem Mönch in einem dunklen Zimmer, in welches hineinzugehen sie sich fürchtete. Der Traum wurde von den beiden andern Schwestern sofort unter großem Gelächter triumphierend Lisaweta Prokofjewna mitgeteilt; aber die Mama wurde wieder ärgerlich und nannte sie alle drei Dummköpfe. ›Hm! Sie besitzt die Seelenruhe eines Dummkopfes, sie ist vollständig ein begossenes Huhn und läßt sich nicht aufrütteln; aber dabei ist sie doch traurig und sieht manchmal ganz trübselig aus! Worüber mag sie sich grämen? Ja, worüber?‹ Mitunter richtete sie diese Frage auch an Iwan Fjodorowitsch, und zwar wie immer in hysterischer Erregung, in drohendem Ton und in Erwartung einer unverzüglichen Antwort.

Iwan Fjodorowitsch sagte »Hm!«, machte ein finsteres Gesicht, zuckte mit den Schultern und gab endlich, die Arme ausbreitend, sein Urteil dahin ab:

»Sie braucht einen Mann!«

»Nur wolle Gott ihr nicht einen solchen bescheren, wie Sie einer sind, Iwan Fjodorytsch!« explodierte Lisaweta Prokofjewna plötzlich wie eine Bombe. »Nicht einen mit solchen Anschauungen und Urteilen wie Sie, Iwan Fjodorytsch, nicht einen solchen Grobian wie Sie, Iwan Fjodorytsch…« Iwan Fjodorowitsch machte schleunigst, daß er davonkam, und Lisaweta Prokofjewna beruhigte sich nach dieser Explosion. Selbstverständlich war sie am Abend dieses Tages besonders liebenswürdig, sanft, freundlich und respektvoll gegen Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren »groben Grobian« Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren guten, lieben, vergötterten Iwan Fjodorowitsch; denn in Wirklichkeit liebte sie ihren Iwan Fjodorowitsch ihr ganzes Leben lang, ja sie war in ihn sogar verliebt, was Iwan Fjodorowitsch selbst genau wußte, der auch seinerseits seine Lisaweta Prokofjewna außerordentlich hochschätzte.

Aber die ärgste Qual bereitete ihr beständig Aglaja.

›Sie ist ganz, aber auch ganz wie ich, mein Ebenbild in jeder Beziehung‹, sagte Lisaweta Prokofjewna bei sich im stillen, ›ein eigenwilliger, abscheulicher Unhold! Eine Nihilistin, eine verdrehte Schraube, verrückt, boshaft, boshaft, boshaft! O Gott, wie unglücklich wird sie werden!‹

Aber wie schon gesagt, die aufgehende Freudensonne besänftigte und erhellte alles für eine Weile. Infolgedessen gab es in Lisaweta Prokofjewnas Leben fast einen ganzen Monat, in dem sie sich von aller Unruhe wieder völlig erholte. Anläßlich der nahe bevorstehenden Hochzeit Adelaidas wurde in den vornehmen Kreisen auch über Aglaja viel gesprochen, und dabei benahm sich Aglaja überall ganz vortrefflich, ruhig, verständig, auch etwas siegesgewiß und stolz, aber das stand ihr ja gerade gut! Den ganzen Monat war sie so freundlich und liebenswürdig zu ihrer Mutter! (›Allerdings, diesen Jewgenij Pawlowitsch muß man sich noch sehr, sehr genau ansehen und gründlich kennenlernen, Aglaja scheint ja auch an ihm nicht sehr viel mehr Gefallen zu finden als an andern!‹) Sie war auf einmal ein so prächtiges Mädchen geworden, und wie schön sie war, o Gott, wie schön, von Tag zu Tag wurde sie schöner! Und da…

Und da war nun soeben dieser gräßliche Fürst wieder erschienen, dieser jämmerliche Idiot, und alles war wieder in Unruhe geraten, alles im Hause ging wieder drunter und drüber!

Was war denn eigentlich geschehen?

Andere hätten wohl kaum gespürt, daß etwas Besonderes vorgegangen war. Aber Lisaweta Prokofjewna zeichnete sich eben dadurch aus, daß sie in dem bunten Durcheinander der gewöhnlichsten Dinge bei ihrer steten Unruhe immer etwas herausfand, was sie manchmal mit einer geradezu krankhaften Angst, mit einer unerklärlichen, argwöhnischen und infolgedessen höchst peinlichen Furcht erfüllte. Wie mußte ihr da zumute sein, als jetzt plötzlich aus der ganzen wüsten Menge lächerlicher, unbegründeter Befürchtungen wirklich etwas herausschaute, was tatsächlich wichtig zu sein schien, etwas, was tatsächlich zu Beunruhigung, Zweifel und Argwohn Anlaß gab!

›Wie hat nur jemand wagen können, wie hat nur jemand wagen können, mir diesen verdammten anonymen Brief über diese Kreatur zu schreiben, mir zu schreiben, daß sie mit Aglaja Beziehungen unterhalte?‹ dachte Lisaweta Prokofjewna auf dem ganzen Weg, während sie den Fürsten hinter sich herzog, und zu Hause, als sie ihn an dem runden Tisch Platz nehmen ließ, um den die ganze Familie versammelt war. ›Wie konnte sich jemand erdreisten, so etwas nur zu denken? Ich müßte mich ja totschämen, wenn ich auch nur die Spur davon glaubte oder diesen Brief Aglaja zeigte! Solcher Hohn und Spott über uns, die Familie Jepantschin! Und alles um Iwan Fjodorytschs willen, alles um Ihretwillen, Iwan Fjodorytsch! Ach, warum sind wir nicht nach gegangen; ich sagte ja, wir sollten nach Jelagin ziehen! Den Brief hat vielleicht Warjka geschrieben, denke ich mir, oder vielleicht… Aber an allem, an allem ist Iwan Fjodorytsch schuld! Diesen Streich hat ihm diese Kreatur zur Erinnerung an ihre früheren Beziehungen gespielt, um ihn zu blamieren, gerade wie sie sich früher über den Dummkopf lustig machte und ihn an der Nase herumführte, als er ihr noch Perlen schenkte… Und nun werden schließlich auch noch wir mit hineingezogen, Ihre Töchter werden mit hineingezogen, Iwan Fjodorytsch, junge Damen, die zur besten Gesellschaft gehören und in heiratsfähigem Alter stehen, die sind da mit dabeigewesen, haben dabeigestanden, haben alles mit angehört, und auch bei der Geschichte mit den dummen Burschen sind sie zugegen gewesen – freuen Sie sich doch! –, auch da sind sie dabeigewesen und haben zugehört! Ich werde das diesem Menschen, dem Fürsten, nicht verzeihen, nein, niemals werde ich ihm das verzeihen! Und warum ist Aglaja drei Tage lang so nervös gewesen, warum hat sie sich mit ihren Schwestern gezankt, sogar mit Alexandra, der sie sonst immer wie einer Mutter die Hände geküßt hat – so hat sie sie verehrt? Warum gibt sie seit drei Tagen uns allen Rätsel auf? Was hat das mit Gawrila Iwolgin zu bedeuten? Wie kam sie gestern und heute darauf, Gawrila Iwolgin zu loben, und brach dann in Tränen aus? Warum wird in diesem anonymen Brief dieser verdammte »arme Ritter« erwähnt, während sie den Brief, den sie vom Fürsten bekommen hatte, nicht einmal ihren Schwestern gezeigt hat? Und warum … weshalb, weshalb bin ich jetzt wie eine Verrückte zu ihm hingerannt und habe ihn selbst hierhergeschleppt? O Gott, ich habe wohl den Verstand verloren, daß ich so etwas anrichte! Mit einem jungen Mann von den Geheimnissen meiner Tochter zu reden, und noch dazu… noch dazu von solchen Geheimnissen, die beinah ihn selbst betreffen! O Gott, es ist noch ein Glück, daß er ein Idiot und… und… ein Freund unseres Hauses ist! Aber hat sich Aglaja denn wirklich in eine solche Mißgeburt verlieben können! O Gott, was fasele ich da! Pfui! Wir sind die reinen Originale… man müßte uns alle unter Glas ausstellen, mich zuerst, für zehn Kopeken Eintrittspreis. Das werde ich Ihnen nicht verzeihen, Iwan Fjodorytsch, niemals werde ich Ihnen das verzeihen! Und warum nimmt sie ihn sich jetzt nicht gehörig vor? Sie hatte gesagt, daß sie das tun wolle, und nun tut sie es nicht! Da, da, sie sieht ihn mit weitgeöffneten Augen an, schweigt, geht nicht weg, bleibt da, und dabei hatte sie ihm doch selbst verboten herzukommen… Er sitzt ganz blaß da. Und dieser verdammte, verdammte Schwätzer Jewgenij Pawlowitsch hat das ganze Gespräch an sich gerissen! Sieh mal, wie ihm das Mundwerk geht, keinen andern läßt er zu Worte kommen. Ich würde alles sofort erfahren, wenn ich nur die Rede darauf bringen könnte…‘

Der Fürst saß tatsächlich ganz blaß an dem runden Tisch und schien sich gleichzeitig in großer Angst und für Augenblicke in einem ihm selbst unbegreiflichen Entzücken zu befinden, das seine Seele ergriffen hatte. Oh, wie er sich fürchtete, nach jener Seite hinzusehen, nach jenem Winkel, von wo zwei wohlbekannte schwarze Augen beharrlich auf ihn gerichtet waren, und wie er gleichzeitig fast verging vor Glückseligkeit darüber, daß er hier wieder unter ihnen saß und die wohlbekannte Stimme hörte – trotz allem, was sie ihm geschrieben hatte! ›O Gott, was wird sie jetzt sagen!‹ Er selbst hatte noch kein einziges Wort gesprochen und hörte mit Anstrengung dem unaufhaltsam redenden Jewgenij Pawlowitsch zu, der sich selten in so zufriedener, angeregter Stimmung befunden hatte wie jetzt an diesem Abend. Der Fürst hörte ihn lange reden und verstand kaum ein Wort. Außer Iwan Fjodorytsch, der noch nicht aus Petersburg zurückgekehrt war, waren alle vollzählig versammelt. Fürst Schtsch. war ebenfalls anwesend. Wie es schien, hatten sie sich versammelt, um nach einiger Zeit, noch vor dem Tee, zum Konzert zu gehen. Das jetzige Gespräch war offenbar schon vor der Ankunft des Fürsten in Gang gekommen. Bald darauf schlüpfte auch Kolja in die Veranda herein, ohne daß man gewußt hätte, von wo er kam. ›Also wird er hier wie früher empfangen‹, sagte sich der Fürst im stillen.

Das Jepantschinsche Landhaus war luxuriös im Schweizerstil gebaut und auf allen Seiten mit Blumen und Blattpflanzen schön geschmückt. Auf allen Seiten war es von einem kleinen, aber hübschen Blumengarten umgeben. Alle saßen in der Veranda wie vor kurzem beim Fürsten; nur war die Veranda etwas geräumiger und eleganter eingerichtet.

Der Gegenstand des Gespräches, das geführt wurde, schien nicht allen sonderlich zu behagen; dieses Gespräch hatte, wie man merken konnte, seinen Ursprung von einer hitzigen Debatte genommen, und alle hätten gewiß gern das Thema gewechselt; aber Jewgenij Pawlowitsch schien nun erst recht eigensinnig an ihm festzuhalten, ohne sich um die Empfindungen der übrigen zu kümmern, und es war, als würde durch die Ankunft des Fürsten sein Eifer noch erhöht. Lisaweta Prokofjewna machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie nicht alles verstand. Aglaja, die abseits, fast in einer Ecke, saß, ging nicht fort, hörte zu und schwieg hartnäckig.

»Erlauben Sie«, sagte Jewgenij Pawlowitsch eifrig, »ich sage nichts gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist keine Sünde, er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservativismus. Ich greife jedoch den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, daß ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Rußland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler. Zeigen Sie mir einen russischen Liberalen, und ich will ihn sogleich vor Ihren Augen küssen.«

»Wenn er Sie nur wird küssen wollen«, bemerkte Alexandra Iwanowna, die sich in großer Erregung befand. Selbst ihre Wangen waren röter als sonst.

›Nun sieh mal an!‹ dachte Lisaweta Prokofjewna für sich. ›Sonst schläft und ißt sie nur und ist gar nicht aufzurütteln, und dann richtet sie sich einmal im Jahr auf und redet so lebhaft, daß man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen möchte.‹

Der Fürst nahm schon bei flüchtiger Beobachtung wahr, daß es Alexandra Iwanowna stark mißfiel, daß Jewgenij Pawlowitsch in so munterem Ton sprach, nämlich daß er über einen ernsten Gegenstand sprach und anscheinend in Eifer geriet, dabei aber doch scherzte.

»Ich habe soeben kurz vor Ihrer Ankunft, Fürst«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch fort, »die Behauptung aufgestellt, daß bei uns bisher die Liberalen nur zwei Gesellschaftsschichten angehört haben: der früheren (jetzt abgeschafften) gutsherrlichen und der seminaristischen. Und da diese beiden Stände sich schließlich in richtige Kasten, in etwas von der Nation völlig Abgesondertes verwandelten, und zwar je länger, in um so höherem Grad, von einer Generation zur andern immer mehr, so war und ist auch alles, was sie getan haben und tun, ganz nicht-national…«

»Wie? Also wäre alles, was auf diesem Gebiete getan worden ist, nichtrussisch?« versetzte Fürst Schtsch.

»Es ist nicht national; obgleich es von Russen getan ist, ist es doch nicht national; weder unsere Liberalen noch unsere Konservativen sind echte Russen, keiner… Und seien Sie überzeugt, daß die Nation nichts von dem anerkennen wird, was von den Gutsherren und Seminaristen getan ist, weder jetzt noch später…«

»Nun, das ist ja nett! Wie können Sie nur eine so paradoxe Behauptung verfechten, wenn Sie es überhaupt ernst meinen! Ich kann solchen Angriffen auf die russischen Gutsherrn keine Berechtigung zuerkennen, Sie selbst sind ja ein russischer Gutsherr!« erwiderte Fürst Schtsch. sehr erregt.

»Ich rede ja von den russischen Gutsherren auch nicht in dem Sinne, wie Sie das annehmen. Das ist ein Stand, der alle Achtung verdient, und wär’s auch nur deswegen, weil ich zu ihm gehöre; besonders jetzt, wo er aufgehört hat, ein Stand zu sein…«

»Hat es etwa auch in der Literatur nichts Nationales gegeben?« unterbrach ihn Alexandra Iwanowna.

»Ich bin mit der Literatur nicht vertraut, aber auch die russische Literatur ist meiner Ansicht nach in ihrem ganzen Umfang nichtrussisch, ausgenommen etwa Lomonossow, Puschkin und Gogol.«

»Erstens ist das gerade nicht wenig, und zweitens stammt einer von ihnen aus dem Volk, während die beiden andern Gutsherren waren«, versetzte Adelaida lachend.

»Ganz richtig, aber triumphieren Sie nicht zu früh! Da es von allen russischen Schriftstellern bisher nur diesen dreien gelungen ist, etwas wirklich Eigenes zu sagen, etwas, was sie von keinem andern entlehnt haben, so sind sie eben dadurch alle drei sofort national geworden. Wenn ein Russe etwas Eigenes sagt, schreibt oder tut, etwas Eigenes, das er von niemand übernommen und entlehnt hat, so wird er unfehlbar national, selbst wenn er schlecht russisch spricht. Das ist für mich ein Axiom. Aber wir sprachen ursprünglich nicht von der Literatur, wir begannen von den Sozialisten zu sprechen, und durch sie hat das Gespräch diesen Gang genommen; nun also, ich behaupte, daß wir keinen einzigen russischen Sozialisten haben; es gibt keinen und hat keinen gegeben, weil alle unsere Sozialisten aus den Gutsherren- oder Seminaristenkreisen hervorgegangen sind. Alle unsere überzeugten, erklärten Sozialisten, sowohl die hiesigen als die im Ausland lebenden, sind weiter nichts als liberale Gutsherren aus den Zeiten der Leibeigenschaft. Warum lachen Sie? Geben Sie mir ihre Bücher, ihre Lehren, ihre Memoiren, und obgleich ich kein zünftiger Kritiker bin, mache ich mich anheischig, Ihnen eine überzeugende Kritik abzufassen, in der ich sonnenklar beweisen werde, daß jede Seite ihrer Bücher, Broschüren und Memoiren mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem früheren russischen Gutsherrn geschrieben ist. Ihr Zorn, ihre Entrüstung, ihr Witz, alles weist auf Gutsherren als Verfasser hin (sogar auf solche aus der Zeit vor ); nicht minder ihr Entzücken, ihre Tränen, die vielleicht wahr und echt sind. Alles paßt zu Gutsherren oder auch zu Seminaristen… Sie lachen wieder, und auch Sie lachen, Fürst? Sind auch Sie nicht meiner Meinung?«

In der Tat lachten alle, auch der Fürst lächelte.

»Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich Ihrer Meinung bin oder nicht«, erwiderte der Fürst, indem er plötzlich aufhörte zu lächeln und wie ein ertappter Schuljunge zusammenfuhr, »Aber ich versichere Ihnen, daß ich Ihnen mit außerordentlichem Vergnügen zuhöre…«

Als er dies sagte, konnte er kaum Luft holen, und es trat ihm sogar kalter Schweiß auf die Stirn. Dies waren die ersten Worte, die er sprach, seit er sich hingesetzt hatte. Er wollte den Versuch machen, sich im Kreis der Anwesenden umzuschauen, aber er wagte es nicht; Jewgenij Pawlowitsch hatte seine Kopfbewegung bemerkt und lächelte.

»Ich werde Ihnen eine Tatsache mitteilen, meine Herrschaften«, fuhr er in dem früheren Ton fort, das heißt scheinbar mit großem Eifer und großer Anteilnahme, gleichzeitig aber beinah lachend, vielleicht über seine eigenen Worte, »eine Tatsache, eine Beobachtung, sogar eine Entdeckung, die ich die Ehre habe, mir selbst zuzuschreiben und sogar mir ganz allein; wenigstens ist darüber nirgends etwas gesagt oder geschrieben worden. In dieser Tatsache kommt das ganze Wesen jener Art von russischem Liberalismus, von der ich rede, zum Ausdruck. Erstens: was ist denn der Liberalismus, allgemein gesprochen, anderes als ein Angriff (vernünftig oder unsinnig, das ist eine andere Frage) auf die bestehende Ordnung der Dinge? Nicht wahr? Die von mir beobachtete Tatsache besteht nun darin, daß der russische Liberalismus nicht ein Angriff auf die bestehende Ordnung der Dinge ist, sondern ein Angriff auf das Wesen unserer Dinge selbst, auf die Dinge selbst und nicht nur auf ihre Ordnung, ein Angriff nicht auf russische Einrichtungen, sondern auf Rußland selbst. Mein Liberaler ist dahin gelangt, die Existenzberechtigung Rußlands selbst zu verneinen, das heißt, er haßt und schlägt seine eigene Mutter. Alles, was in Rußland unglücklich ausfällt und mißlingt, bringt ihn zum Lachen und versetzt ihn beinah in Entzücken. Er haßt die Volkssitten, die russische Geschichte und alles. Wenn es für ihn eine Entschuldigung gibt, so kann sie höchstens darin bestehen, daß er nicht weiß, was er tut, und seinen Haß gegen Rußland für den fruchtbarsten Liberalismus hält (oh, Sie können bei uns nicht selten einen Liberalen finden, dem die übrigen Beifall klatschen und der vielleicht in Wirklichkeit der abgeschmackteste, stumpfsinnigste und gefährlichste Konservative ist, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben!). Diesen Haß gegen Rußland hielten vor noch nicht allzulanger Zeit manche unserer Liberalen beinah für die wahre Vaterlandsliebe und rühmten sich, besser als andere Leute zu erkennen, worin diese bestehen müsse; aber jetzt sind sie schon aufrichtiger geworden und haben sich sogar des Wortes ›Vaterlandsliebe‹ zu schämen angefangen, ja sogar den Begriff als nichtig und schädlich ausgemerzt und entfernt. Das ist eine sichere Tatsache, die ich verbürgen kann… es muß doch einmal die Wahrheit vollständig, schlicht und aufrichtig ausgesprochen werden. Ein solches Verhalten des Liberalismus ist aber seit Menschengedenken nie und bei keinem Volke vorgekommen, und es mag daher etwas Zufälliges sein und vielleicht vorübergehen, das will ich zugeben. Ein Liberaler, der einen Haß auf sein eigenes Vaterland hätte, ist in keinem andern Lande möglich. Wodurch läßt sich nun diese Erscheinung bei uns erklären? Durch denselben Gedanken, den ich schon vorhin aussprach: dadurch, daß der Liberale in Rußland vorläufig noch nicht ein russischer Liberaler ist; meiner Ansicht nach ist das die einzig mögliche Erklärung.«

»Ich fasse alles, was du gesagt hast, als Scherz auf, Jewgenij Pawlowitsch«, bemerkte Fürst Schtsch. in ernstem Tone.

»Ich habe nicht alle Liberalen kennengelernt und erlaube mir daher kein Urteil«, sagte Alexandra Iwanowna. »Aber ich bin über Ihre Darlegung ganz empört: Sie haben einen vereinzelten Fall genommen und eine allgemeine Regel daraus gemacht; folglich haben Sie verleumdet.«

»Einen vereinzelten Fall? Ah, ah! Das ist ein wichtiger Ausdruck, den Sie da gebraucht haben!« versetzte Jewgenij Pawlowitsch. »Wie denken Sie darüber, Fürst? Ist es ein vereinzelter Fall oder nicht?«

»Ich muß ebenfalls bekennen, daß ich nur wenige Liberale kennengelernt und nur wenig mit ihnen verkehrt habe«, antwortete der Fürst. »Aber es scheint mir, daß Sie vielleicht bis zu einem gewissen Grade recht haben und daß dieser russische Liberalismus, von dem Sie gesprochen haben, tatsächlich teilweise dazu neigt, Rußland selbst zu hassen und nicht nur dessen Einrichtungen. Natürlich wird das nur teilweise zutreffen… und kann natürlich nicht von allen Liberalen gesagt werden.«

Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine scherzhafte Erwiderung von Seiten des andern befürchtete, spiegelten sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgenij Pawlowitsch sich sonst immer nur mit einem besonderen Lächeln an ihn wandte, so blickte er ihn jetzt bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort von ihm in keiner Weise erwartet hätte.

»So… aber das ist doch seltsam«, sagte er. »War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?«

»Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?« erwiderte dieser erstaunt.

Alle lachten.

»Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgenij Pawlytsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!«

»Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir wollten doch spazierengehen…«

»Gehen wir! Der Abend ist wunderschön!« rief Jewgenij Pawlowitsch. »Aber um Ihnen zu beweisen, daß ich dieses Mal ganz ernst geredet habe, und namentlich, um es dem Fürsten zu beweisen (Sie interessieren mich außerordentlich, Fürst, und ich schwöre Ihnen: ein so oberflächlicher Mensch, wie es notwendigerweise den Anschein hat, bin ich denn doch nicht, obwohl ich wirklich oberflächlich bin!), und… zu diesem Zweck, meine Herrschaften, möchte ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis dem Fürsten noch eine letzte Frage vorlegen, aus reiner Neugier, und damit wollen wir dann die Sache abgetan sein lassen. Diese Frage ist mir, was sich sehr gut trifft, vor zwei Stunden in den Kopf gekommen (sehen Sie wohl, Fürst, auch ich denke manchmal über ernste Dinge nach); ich habe sie mir beantwortet, aber wir wollen sehen, was der Fürst dazu sagt. Es war soeben von einem ›vereinzelten Fall‹ die Rede. Dieser Ausdruck hat bei uns in Rußland eine große Wichtigkeit erlangt, und man hört ihn recht oft. Neulich redeten und schrieben alle Leute von jenem schrecklichen Mord, den dieser… junge Mann an sechs Menschen begangen hat, und von der seltsamen Rede des Verteidigers, in der dieser gesagt hat, dem Verbrecher habe bei seinen ärmlichen Verhältnissen naturgemäß der Gedanke in den Kopf kommen müssen, diese sechs Menschen zu ermorden. Das war wohl nicht der Wortlaut, aber der Sinn war doch dieser oder ein ähnlicher. Meiner persönlichen Ansicht nach war der Verteidiger, als er diese sonderbare Anschauung vorbrachte, der festen Überzeugung, den liberalsten, humansten, fortschrittlichsten Gedanken auszusprechen, den man nur überhaupt in unserer Zeit äußern kann. Nun also, wie verhält es sich damit Ihrer Ansicht nach: ist diese Verdrehung der Begriffe und Meinungen, die Möglichkeit einer so merkwürdig schiefen Auffassung der Sache ein vereinzelter Fall oder die Regel?«

Alle lachten.

»Ein vereinzelter Fall, selbstverständlich ein vereinzelter Fall!« riefen Alexandra und Adelaide lachend.

»Mit deiner Erlaubnis möchte ich dich daran erinnern, Jewgenij Pawlytsch«, fügte Fürst Schtsch. hinzu, »daß dein Scherz schon sehr abgenutzt ist.«

»Wie denken Sie darüber, Fürst?« fragte, ohne darauf zu hören, Jewgenij Pawlowitsch, der wahrnahm, daß ihn Fürst Lew Nikolajewitsch mit ernstem Interesse anblickte. »Was meinen Sie: war das ein vereinzelter Fall oder die Regel? Ich muß bekennen, daß ich mir diese Frage speziell für Sie zurechtgelegt habe.«

»Nein, das war kein vereinzelter Fall«, antwortete der Fürst leise, aber mit fester Stimme.

»Aber ich bitte Sie, Lew Nikolajewitsch«, rief Fürst Schtsch. ein wenig ärgerlich, »sehen Sie denn nicht, daß er Ihnen eine Falle stellt? Er lacht sicher innerlich und beabsichtigt, sich gerade über Sie lustig zu machen.«

»Ich glaubte, Jewgenij Pawlytsch spräche im Ernst«, versetzte der Fürst errötend und schlug die Augen nieder.

»Lieber Fürst«, fuhr Fürst Schtsch. fort, »denken Sie doch an ein Gespräch, das wir beide einmal vor drei Monaten führten; wir sprachen namentlich darüber, daß es in unseren jungen, neueröffneten Gerichten bereits viele beachtenswerte, talentvolle Verteidiger gibt. Und wie viele im höchsten Grade beachtenswerte Urteile sind von unseren Geschworenen gefällt worden? Wie haben Sie selbst sich gefreut, und wie habe ich mich damals über Ihre Freude gefreut…, wir sagten, daß wir Anlaß hätten, stolz zu sein… Aber diese ungeschickte Verteidigung, dieses sonderbare Argument ist sicherlich nur etwas Zufälliges, ein vereinzelter Fall unter Tausenden.«

Fürst Lew Nikolajewitsch dachte einen Augenblick nach, antwortete aber dann im Ton festester Überzeugung, wenn auch leise und gewissermaßen schüchtern:

»Ich wollte nur sagen, daß diese Entstellung der Gedanken und Begriffe (wie sich Jewgenij Pawlytsch ausdrückte) sehr häufig begegnet und leider viel weiter verbreitet ist, als daß man sie einen vereinzelten Fall nennen könnte. Und sogar so sehr, daß, wenn diese Entstellung nicht ein so häufiger Fall wäre, es vielleicht auch nicht so unerhörte Verbrechen geben würde wie diese…«

»Unerhörte Verbrechen? Aber ich versichere Ihnen, daß genau ebensolche Verbrechen und vielleicht noch schauderhaftere auch früher vorgekommen sind, immer vorgekommen sind, und nicht nur bei uns, sondern überall, und daß sie meines Erachtens sich noch sehr lange wiederholen werden. Der Unterschied besteht nur darin, daß sie früher weniger publik wurden, während man jetzt angefangen hat, laut von ihnen zu reden und sogar zu schreiben; daher entsteht nun der Anschein, als seien solche Verbrecher erst jetzt aufgetreten. Darin besteht Ihr Irrtum, ein sehr naiver Irrtum, Fürst, glauben Sie mir«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd.

»Ich weiß selbst, daß die Verbrechen auch früher sehr zahlreich und ebenso schrecklich waren; ich habe erst kürzlich mehrere Gefängnisse besucht, und es ist mir dabei gelungen, mit einer Anzahl von Verbrechern und Angeklagten bekannt zu werden. Es gibt sogar noch furchtbarere Verbrecher als jenen jungen Mann, Verbrecher, von denen ein jeder zehn Menschen ermordet hat, ohne irgendwelche Reue zu verspüren. Aber ein Punkt ist mir dabei aufgefallen: der verstockteste Mörder, der keine Reue empfindet, weiß doch, daß er ein Verbrecher ist, das heißt, er urteilt seinem Gewissen nach, daß er schlecht gehandelt hat, obwohl er nichts von Reue weiß. So denkt jeder von ihnen; aber diejenigen, von denen Jewgenij Pawlytsch gesprochen hat, wollen sich nicht für Verbrecher halten und meinen, sie hätten ein Recht gehabt und… hätten sogar gut gehandelt, das heißt, ungefähr so denken sie. Darin besteht meiner Ansicht nach der furchtbare Unterschied. Und beachten Sie, daß das lauter junge Leute sind, das heißt Leute in dem Lebensalter, in welchem man am leichtesten und schutzlosesten in eine Verdrehung der Anschauungen verfallen kann.«

Fürst Schtsch. lachte nicht mehr und hörte dem Fürsten erstaunt zu. Alexandra Iwanowna, die schon lange etwas hatte sagen wollen, schwieg, als hielte ein besonderer Gedanke sie vom Reden zurück. Jewgenij Pawlowitsch aber sah den Fürsten mit unverhohlener Verwunderung und jetzt ohne eine Spur von Lächeln an.

»Aber warum wundern Sie sich denn so über ihn, mein Herr?« mischte sich Lisaweta Prokofjewna unerwartet in das Gespräch. »Ist er etwa dümmer als Sie, weil sein Urteil von dem Ihrigen abweicht?«

»Nein, so etwas denke ich nicht«, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch. »Aber wie geht es denn zu, Fürst (entschuldigen Sie die Frage!), wenn Sie das alles so scharf beobachten und erkennen, wie geht es denn zu, daß Sie (ich bitte nochmals um Verzeihung) bei dieser sonderbaren Angelegenheit… ich meine das, was sich vor einigen Tagen ereignete… bei der Angelegenheit dieses Herrn – Burdowskij heißt er ja wohl… wie geht es denn zu, daß Sie da die ganz gleiche Verdrehung der Ideen und moralischen Anschauungen nicht bemerkten? Es war ja doch ganz genau dasselbe! Ich hatte damals den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht bemerkt hatten.«

»Ja, sehen Sie mal, Väterchen«, ereiferte sich Lisaweta Prokofjewna, »wir haben es damals alle bemerkt, und nun sitzen wir hier und brüsten uns damit vor ihm, aber er, er hat heute von einem dieser Leute einen Brief erhalten, von der eigentlichen Hauptperson, von dem mit den Pickeln im Gesicht, erinnerst du dich, Alexandra? In dem Brief bittet er ihn um Verzeihung, wenn auch so auf seine Art, und teilt ihm mit, daß er sich von jenem Kameraden, der ihn damals aufgehetzt hatte, losgesagt habe – du erinnerst dich doch, Alexandra? Und er glaube dem Fürsten jetzt mehr als jenem. Na, aber wir haben einen solchen Brief noch nicht erhalten, obgleich wir uns hier dem Fürsten gegenüber so hochnäsig benehmen.«

»Und Ippolit ist auch jetzt eben zum Fürsten in das Landhaus gezogen!« rief Kolja.

»Wie? Ist er schon hier?« fragte der Fürst aufgeregt.

»Gleich nachdem Sie mit Lisaweta Prokofjewna weggegangen waren, ist er eingetroffen; ich habe ihn hertransportiert!«

»Na, da möchte ich wetten«, fuhr Lisaweta Prokofjewna heftig auf, die ganz vergaß, daß sie den Fürsten einen Augenblick vorher gelobt hatte, »da möchte ich wetten, daß er gestern zu ihm hingefahren ist und ihn in seiner Dachkammer kniefällig um Verzeihung gebeten hat, damit diese boshafte Kanaille sich herablassen möchte, hierher überzusiedeln. Bist du gestern zu ihm hingefahren? Du hast ja neulich selbst bekannt, daß du es tun wolltest. Ja oder nein? Bist du vor ihm auf die Knie gefallen oder nicht?«

»Auf die Knie ist er ganz und gar nicht gefallen«, rief Kolja. »Ganz im Gegenteil: Ippolit hat gestern die Hand des Fürsten ergriffen und zweimal geküßt, das habe ich selbst gesehen, und damit endete die ganze Aussprache; der Fürst sagte nur noch ganz einfach, Ippolit werde sich in der Sommerfrische wohler fühlen, und der war sofort damit einverstanden überzusiedeln, sobald es ihm nur ein wenig besser gehen würde.«

»Sie hätten das nicht sagen sollen, Kolja…«, murmelte der Fürst, indem er aufstand und nach seinem Hut griff. »Warum erzählen Sie das? Ich…«

»Wohin willst du denn?« hielt ihn Lisaweta Prokofjewna zurück.

»Lassen Sie sich hier nicht stören, Fürst!« fuhr Kolja in seinem Feuereifer fort. »Gehen Sie nicht zu ihm hin, und beunruhigen Sie ihn nicht, er ist von der Fahrt ermüdet und eingeschlafen; er freut sich sehr; und wissen Sie, Fürst, meiner Ansicht nach ist es das beste, wenn Sie ihn jetzt nicht aufsuchen. Verschieben Sie es lieber auf morgen, sonst wird er wieder verlegen. Er hat heute vormittag zu mir gesagt, er habe sich schon seit einem halben Jahr nicht so wohl und kräftig gefühlt; er hustet sogar viel weniger.«

Der Fürst bemerkte, daß Aglaja plötzlich ihren Platz verließ und an den Tisch herantrat. Er wagte nicht, nach ihr hinzublicken, aber er fühlte mit seinem ganzen Wesen, daß sie ihn in diesem Augenblick ansah und vielleicht zornig ansah und daß in ihren schwarzen Augen jedenfalls ein Ausdruck des Unwillens lag und ihr Gesicht glühte.

»Ich glaube, Nikolai Ardalionowitsch, Sie haben nicht gut daran getan, ihn hierherzubringen, wenn es sich um jenen schwindsüchtigen jungen Menschen handelt, der damals zu weinen anfing und uns zu seinem Begräbnis einlud«, bemerkte Jewgenij Pawlowitsch. »Er sprach damals in so pathetischen Ausdrücken von der Mauer des Nachbarhauses, daß er sich unbedingt nach dieser Mauer zurücksehnen wird, davon können Sie überzeugt sein.«

»Das ist ganz richtig. Er wird sich mit dir zanken und überwerfen und wieder wegfahren – weiter kommt nichts dabei heraus!«

Nach diesen Worten zog Lisaweta Prokofjewna würdevoll den Korb mit ihrer Handarbeit zu sich heran, da sie ganz vergessen hatte, daß alle bereits aufgestanden waren, um den Spaziergang anzutreten.

»Es ist mir erinnerlich, daß er mit dieser Mauer sehr geprahlt hat«, begann Jewgenij Pawlowitsch von neuem. »Ohne diese Mauer wird er nicht mit großartigen Redewendungen sterben können, und daran ist ihm doch viel gelegen.«

»Nun gut«, murmelte der Fürst, »wenn Sie ihm nicht verzeihen wollen, wird er eben ohne Ihre Verzeihung sterben… Jetzt ist er um der Bäume willen hierher übergesiedelt.«

»Oh, ich meinerseits verzeihe ihm alles, das können Sie ihm ausrichten.«

»So darf die Sache nicht aufgefaßt werden«, antwortete der Fürst leise und anscheinend nur ungern, indem er fortfuhr, mit gesenkten Augen auf einen Punkt des Fußbodens zu blicken. »Es ist erforderlich, daß auch Sie bereit sind, von ihm Verzeihung anzunehmen.«

»Aber was habe ich denn damit zu tun? Was habe ich ihm denn zuleide getan?«

»Wenn Sie das nicht verstehen, so… aber Sie verstehen es ja; er wollte damals… Sie alle segnen und Ihren Segen empfangen, weiter nichts…«

»Lieber Fürst«, fiel Fürst Schtsch. schnell mit einer gewissen Behutsamkeit ein, nachdem er mit einem und dem andern von den Anwesenden einen Blick gewechselt hatte, »das Paradies läßt sich auf Erden nicht so leicht wiederherstellen, und doch rechnen Sie gewissermaßen mit einer Wiederherstellung des Paradieses; das ist ein schweres Ding, Fürst, weit schwerer, als es Ihrem prächtigen Herzen erscheint. Wir wollen lieber davon aufhören, sonst geraten wir alle am Ende wieder ins Streiten, und dann…«

»Wir wollen zur Musik gehen«, sagte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und erhob sich ärgerlich von ihrem Platz.

Alle schlossen sich ihr an.

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