Kapitel 36

VIII

Sie lachte, war aber zugleich ungehalten.

»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.

»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte. »Ach ja! Das Rendezvous … Ich habe hier geschlafen.«

»Das habe ich gesehen.«

»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei … eine andere Frau hiergewesen.«

»Eine andere Frau sollte hiergewesen sein?«

Endlich hatte er seine Gedanken gesammelt.

»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß ich in einem solchen Augenblick von so etwas träumte … Setzen Sie sich!« Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als sähe er sie überhaupt nicht vor sich. Sie errötete.

»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«

»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, jedoch ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend.

»Aber er ist ja nicht tot, die Pistole versagte.«

Auf Aglajas dringende Bitten mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit die Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgenij Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte hierzu einige Male sogar Fragen.

»Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber wegen einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen viel mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagt hat, das paßt am besten zu seiner Persönlichkeit. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Schwindel war?«

»Es war bestimmt kein Schwindel.«

»Das ist das wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?«

»Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn danach fragen.«

»Bringen Sie sie mir auf jeden Fall, Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm sicher sehr angenehm sein, weil er vielleicht überhaupt mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte lachen Sie nicht über meine Worte, Lew Nikolajitsch; es ist sehr wohl möglich, daß es sich so verhält.«

»Ich lache nicht, denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.«

»Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt.

Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte oft die Sätze nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene zeigte, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen.

»Natürlich wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten …«

»Wieso loben?«

»Das heißt, es ist… Wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und ihm sagen, daß sie ihn sehr lieben und achten, und ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Sehr möglich, daß er Sie dabei mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte … obwohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.«

»Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, was er im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst an die dreißig Mal, sogar zu der Zeit, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran gedacht habe, mich zu vergiften, und alles das in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien… Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn, wenn Sie sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.«

»Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«

»Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Lew Nikolajitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr, denn es ist sehr roh, eine Menschenseele so zu untersuchen und zu beurteilen, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zartheit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.«

Der Fürst dachte nach.

»Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat, denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt… er wünschte, zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle, nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch von etwas anderem! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt…«

»Damit meinen Sie wohl sich selbst?« bemerkte Aglaja.

»Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.

»Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein, das ist gar nicht hübsch von Ihnen.«

»Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz…«

»Auf welchem Musikplatz?«

»Da, wo gestern konzertiert wurde, und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, hin und her überlegt und bin eingeschlafen.«

»Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten… Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?«

»Das weiß ich nicht, nur so …«

»Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immerzu, und was geht es mich überhaupt an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie da geträumt?«

»Von… von… Sie haben sie gesehen…«

»Ich verstehe… verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr… Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Tone hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht…«

Sie wartete ein wenig, als wollte sie sich ein Herz fassen oder als suchte sie ihren Ärger zu überwinden.

»Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu.

Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was deutlich in ihren blitzenden Augen zum Ausdruck kam; gewöhnlich richtete sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn gegen denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, beteiligte sie sich gewöhnlich nur wenig an dem Gespräch und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, gar nicht umhinkonnte zu reden, so tat sie das zunächst sehr hochmütig und irgendwie herausfordernd. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfing oder anfangen wollte zu erröten.

»Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an.

»O doch, ich will ihn annehmen, nur ist das gar nicht erforderlich … ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen.

»Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was denken Sie sich eigentlich? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?«

»Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält, ich … ich halte Sie nicht dafür.«

»Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr vernünftig, daß Sie es sagen.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie vielleicht mitunter sogar sehr vernünftig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr vernünftigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.«

Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, als er sie anblickte.

»So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen alles zu erzählen, schon von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher… Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle andern, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand… das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe, denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das gewiß nicht übelnehmen, ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, und sogar so gut, wie jene es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?«

»Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.

»Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: maman hat es begriffen!«

»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«

»Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.

»Wahrhaftig, das ist meine Ansicht.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit maman Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage zu bemerken.

»Sehr, wirklich sehr, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«

»Ich freue mich ebenfalls, denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal… über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht… Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgenij Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will… ich will… nun, ich will von Hause weglaufen, und ich habe Sie ausgewählt, mir zu helfen.«

»Von Hause weglaufen!?« rief der Fürst.

»Ja, ja, ja, von Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgenij Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste, und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen, davon zu reden, daß ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief gar nicht gezeigt, aber jetzt reden sie schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will mich nützlich machen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen, ich will in Rom sein, ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen, ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen, ich habe alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen alle Bücher, die dürfen das. Aber mir gibt man nicht alle, ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten, aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige, erzieherisch tätig zu sein, und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht gleich, so doch in Zukunft? Wir werden gemeinsam Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein… Sagen Sie, Sie sind doch ein sehr gelehrter Mann?«

»Oh, durchaus nicht!«

»Das ist schade, ich hatte es geglaubt… wie bin ich nur darauf gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden mich dabei doch anleiten, denn ich habe Sie ausgewählt.«

»Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.«

»Ich will von Hause weglaufen, ich will!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder. »Wenn Sie mir Ihre Hilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein schlechtes Frauenzimmer hält und mir Gott weiß was vorwirft.«

»Sind Sie bei Sinnen!« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Was wirft man Ihnen vor? Wer tut so etwas?«

»Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Maman war einen ganzen Tag krank, und am nächsten Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstünde schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als maman das hörte, fiel sie beinah in Ohnmacht.«

Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.

Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht alle Ausdrücke verstand.

»Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?«

»Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich sehe, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich, ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht… Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt bin und Sie zu einem Rendezvous bestellt habe«, sagte sie in gereiztem Ton.

»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachter Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie…«

»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich… Sie haben zu denken gewagt, daß ich… O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierherbestellt, um Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten…«

»Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich nicht? Wie konnte nur ein so schmutziger Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten… Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!«

Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, als hätte sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen.

»Ich schäme mich gar nicht«, murmelte sie. »Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?«

»Den Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war in der schwersten Stunde meines Lebens aus meinem Herzen geströmt! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt… ich…«

»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus dem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie beugte sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt… um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an, wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr schmutziger Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte, aber plötzlich sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben… Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.

»Oh, wenn Sie alles wissen könnten!«

»Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in einer Wohnung mit dieser schlechten Frau, mit der Sie fortgegangen waren…«

Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, gleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute. Der Fürst war durch diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.

»Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf.

Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.

»Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch …«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar, und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.

»Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser Bank.«

Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.

»Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«

»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.«

»Er hat seine Hand verbrannt?«

»Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.«

Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.

»Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier geschehen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen…«

»Jawohl… eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?«

»Eine bloße Kerze oder eine auf einem Leuchter?«

»Nun ja … nein … eine halbe Kerze… ein Stümpfchen… eine ganze Kerze… das ist ja ganz egal, lassen Sie doch das Gerede!… Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?«

»Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.«

Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein schallendes Gelächter aus.

»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich mit der kindlichsten Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, etwas Exzentrisches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe…«

Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, als fiele ihr etwas ein.

»Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte…«

»Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.«

»Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie ihr vor einem halben Jahr vor aller Ohren Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie sehen, ich spreche ganz ohne Kommentar. Darauf ist sie mit Rogoshin davongelaufen, dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu einem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoshin zurückgekehrt, der sie wie… wie ein Wahnsinniger liebt. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr vernünftiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger gemacht, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt… Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierhergereist, nicht wahr, um ihretwillen?«

»Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren… Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoshin, obgleich… kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun und wie ich ihr helfen kann, aber ich bin trotzdem hergekommen.«

Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.

»Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.

»Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!«

Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.

»Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja.

»Es gibt nichts, was Sie nicht hören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und nur Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, sagen Sie nicht Schlechtes von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie wie rasend, sie bekenne sich nicht schuldig, sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts, aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, die das nicht glaubt, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld sei. Sobald ich versuchte, diese düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als wäre mein Herz durchbohrt worden und hörte nicht auf zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das schrecklichste ist, daß sie vielleicht selbst nicht wußte, daß sie mir nur das beweisen wollte, und sie lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann sagen zu können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen, also bist du ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort empörte sie sich wieder, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich stellte mich hoch über sie (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder daß man sie ›zu sich emporhebe‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!«

»Haben Sie ihr dort auch solche… Predigten gehalten?«

»O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten, »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden, aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte. Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie, ich liebte sie sehr… aber dann… dann… dann hat sie alles erraten.«

»Was hat sie erraten?«

»Daß ich nur Mitleid mit ihr habe und daß ich… sie nicht mehr liebe.«

»Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen… Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?«

»Nein, das war nicht der Fall, ich weiß alles; sie machte sich nur über ihn lustig.«

»Und über Sie hat sie sich niemals lustig gemacht?«

»N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht – und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber… dann… oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!«

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Wissen Sie, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?«

»Also ist das wahr!« rief der Fürst in starker Erregung. »Ich habe es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.«

»Von wem haben Sie es gehört?« fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend.

»Rogoshin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.« »Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?«

»Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.«

»Ah so! Nun, wenn es Rogoshin war… Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?«

»Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.«

»Da sind die Briefe.« (Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin.) »Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie … nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich … sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt, sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich, sie wisse das, sie habe es längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann… Sie schreibt so wild … so sonderbar … Ich habe die Briefe niemandem gezeigt, ich habe auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Erraten Sie nichts?«

»Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit«, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten.

»Sie weinen doch nicht?«

»Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht«, erwiderte der Fürst, sie anblickend.

»Was soll ich denn tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!«

»Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!« rief der Fürst. »Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.«

»Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!« rief Aglaja. »Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können, aber dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht, das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau… glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoshin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!«

Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung, zu erkennen, daß dieses Kind schon längst eine Frau geworden war.

»Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen, aber… ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!«

»So bringen Sie sich zum Opfer, das steht Ihnen doch so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ›Aglaja‹ zu mir… Sie haben auch vorhin schon einfach ›Aglaja‹ zu mir gesagt… Sie müssen ihr zu einem neuen Leben verhelfen. Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder fortreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!«

»Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und… vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrunde gehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen, aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrunde gehen! Das ist unnatürlich, aber hier ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt, aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!«

»Wie blaß Sie geworden sind!« rief Aglaja erschrocken.

»Das macht nichts, ich habe wenig geschlafen; ich bin etwas schwach geworden, ich… Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja…«

»Also ist das wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr über mich zu sprechen? Und… und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen haben, da Sie mich doch nur ein einziges Mal gesehen hatten?«

»Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte ich, ahnte ich vielleicht von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Traum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam… Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und wäre drei Jahre lang nicht wieder hergereist…«

»Also sind Sie um ihretwillen hergereist?«

Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang.

»Ja, um ihretwillen.«

Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf.

»Wenn Sie sagen«, begann sie mit unsicherer Stimme, »wenn Sie selbst glauben, daß diese… daß diese Frau… irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an. .. Ich bitte Sie, Lew Nikolajitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr«, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, »wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde in eine Besserungsanstalt gebracht werden …«

Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an, und auf einmal schien sich vor seinen Augen ein Nebel zu zerteilen…

»Sie können nicht so fühlen… das ist nicht wahr!« murmelte er.

»Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!« schrie Aglaja fast außer sich.

»Was ist wahr? Was soll wahr sein?« ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme.

Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna.

»Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen davonlaufen werde!« rief Aglaja ihr heftig zu. »Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?«

Und sie lief nach Hause.

Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. »Nein, Väterchen«, sagte sie, »geh jetzt nicht weg, tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben!… Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Der Fürst folgte ihr.

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Kapitel 37

IX

Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal mit einem runden Tisch in der Mitte, einem Kamin, einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an.

Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatte sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja beim Rendezvous angetroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus vielen Ursachen sehr erschrocken gewesen, aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war schon dabei, wenn Aglaja sich mit dem Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?

»Denken Sie nicht, Väterchen Fürst«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich Sie hierhergeschleppt habe, um Sie einem Verhör zu unterwerfen … Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit Ihnen zusammenzukommen, mein Täubchen…«

Sie stockte ein wenig.

»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.

»Nun ja, gewiß möchte ich das!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden, denn ich kränke niemand und beabsichtigte, niemand zu kränken…«

»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein, es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen Punkt sieben Uhr mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank getroffen, nachdem sie mich gestern dazu aufgefordert hatte. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns getroffen und eine ganze Stunde über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«

»Natürlich, das wird alles sein, Väterchen, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.

»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat.. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für außerstande gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, maman, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«

»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Leben Sie wohl, Fürst; verzeihen Sie, daß ich Ihnen Umstände gemacht habe! Ich hoffe, Sie sind nach wie vor von meiner unveränderten Hochachtung gegen Sie überzeugt.«

Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.

»Wir amüsieren uns nur darüber, maman«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie… wie Jewgenij Pawlytsch.«

»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.

Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte – es war schon gegen neun Uhr –, fand er in der Veranda Wera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.

»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wera erfreut.

»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«

»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«

Das Dienstmädchen ging hinaus; Wera war schon im Begriff, ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.

»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem… mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«

»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen, er kann bleiben, solange er will.«

»Er wird jetzt nichts anrichten, und… seien Sie nicht zu streng zu ihm!«

»O nein! Warum sollte ich?«

»Und… lachen Sie ihn nicht aus, das ist das allerwichtigste.«

»Oh, durchaus nicht!«

»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Ihnen das erst noch sage«, sagte Wera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich halb umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen… so glückliche Augen.«

»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.

Aber Wera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer noch lachend, schnell hinaus.

›Was für ein prächtiges Mädchen…‹, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus.

Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein.

Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und den Augenblick verschieben konnte.

»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«

»Warum sollte ich das tun?… Aber Kolja, ich bin müde… Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen… Aber was macht er jetzt?«

»Er schläft und wird noch zwei Stunden schlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert… natürlich, die Aufregung … wie wäre es auch anders möglich?«

»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und nicht zu Hause geschlafen habe?«

»Wera hat es mir eben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich hielt es nicht aus, nur auf ein Augenblickchen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten, jetzt hat mich Kostja Lebedew abgelöst. Burdowskij ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht… na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«

»Gewiß … all das …«

»Nein, Fürst, nein, was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und vom zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi – gantischer Gedanke!«

Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können.

»Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Umständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben, aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch großartig! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde, das stellt doch eine direkte Herausforderung dar… Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Und dann zu behaupten, er hätte es absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich verbürge mich dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, als wir alle unausgesetzt bei ihm Wache halten.«

»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«

»Ich, Kostja Lebedew und Burdowskij. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General ist ständig bei Lebedew, jetzt ist er ebenfalls weggegangen… Lebedew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er suchte Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, etwas wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowskij weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernahm. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen…‹ Ich berichtete ihm. ›Das ist ja schön‹, sagte er, ›aber ich bin hauptsächlich gekommen und deswegen auch aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und… sich vor ihm hüten muß.‹ Verstehen Sie das, Fürst?«

»Eigentümlich, übrigens… kann es uns ja ganz gleichgültig sein.«

»Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein, wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich sehr darüber gewundert, daß der General ausgerechnet deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.«

»Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?«

»Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir; ich hatte Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejitsch… Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejitsch; also kehrt marsch!«

»Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll. Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt. Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde. Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

»Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen…«

»Sie meinen wegen dieses Jungen von gestern, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten… aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.«

»Konterka… Wie sagten Sie?«

»Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.«

»Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und feierlich, Lebedew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd.

»Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang, »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich…«

»Nun ja, selbstverständlich, selbstverständlich, was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich.

»Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassungsgabe gern«, bemerkte Lebedew, indem er ihm nachsah. »Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens … ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben.«

»Was ist denn geschehen?«

»Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst, eine nette Geschichte!« fügte Lebedew mit einem sauren Lächeln hinzu.

»Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.«

»Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.«

»Gewiß, gewiß, aber wie ist denn das zugegangen?«

»Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich damit rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben… ich erwartete den Bevollmächtigten.«

»Übrigens, Lukjan Timofejitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?«

»Durch eine Vertrauensperson, mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben. Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz…«

»Nun ja, nun ja, ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.«

»Der Bevollmächtigte erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste, wir tranken… Tee, und… ich war dann zu meinem Verderben etwas angeheitert. Dann – es war schon spät geworden – kam dieser Keller und brachte die Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben, denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zur größeren Feierlichkeit des vorbereiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche… Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte – es war schon halb acht – , sprang ich wie halbverrückt auf und griff zuallererst nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!«

»Oh, das ist unangenehm!«

»Ja, wirklich unangenehm, und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den treffenden Ausdruck gefunden«, bemerkte Lebedew nicht ohne eine gewisse Tücke.

»Gewiß ist es unangenehm, aber…«, sagte der Fürst, der ein wenig nachgedacht hatte und nun in Aufregung geriet, »die Sache hat doch ihre ernste Seite.«

»Ja, sie hat wirklich ihre ernste Seite; da haben Sie wieder einen sehr passenden Ausdruck gefunden, Fürst, zur Bezeichnung …«

»Ach, hören Sie doch auf, Lukjan Timofejitsch, was soll denn das? Die Ausdrücke sind hierbei nicht von Wichtigkeit… Halten Sie es für möglich, daß Sie die Brieftasche im Zustand der Trunkenheit aus der Tasche verloren haben?«

»Möglich ist es, im Zustand der Trunkenheit, wie Sie sich mit aller Offenheit ausgedrückt haben, ist alles möglich, hochgeehrter Fürst! Aber ich bitte Sie, folgendes zu erwägen: wenn ich die Brieftasche beim Rockwechsel hätte aus der Tasche fallen lassen, so müßte der herausgefallene Gegenstand dort auf dem Fußboden liegen. Wo aber ist dieser Gegenstand?«

»Haben Sie die Brieftasche nicht vielleicht in die Kommode oder in einen Tischkasten gelegt?«

»Ich habe alles durchsucht, alles durchwühlt, obgleich ich mich genau erinnere, sie nirgends verwahrt und kein Schubfach geöffnet zu haben.«

»Haben Sie im Schränkchen nachgesehen?«

»Gleich zuerst und sogar mehrere Male… Aber wie hätte ich auch dazu kommen sollen, sie in das Schränkchen zu legen, aufrichtig verehrter Fürst?«

»Ich muß bekennen, Lebedew, daß mich die Sache aufregt. Also muß es jemand auf dem Fußboden gefunden haben?«

»Oder aus der Tasche entwendet! Das sind die zwei Alternativen.«

»Die Sache regt mich sehr auf, denn wer könnte eigentlich… Das ist die Frage!«

»Ohne allen Zweifel ist das die Hauptfrage! Sie finden mit bewundernswerter Sicherheit die richtigen Gedanken und Ausdrücke und präzisieren die Situation vortrefflich, durchlauchtigster Fürst.« »Ach, Lukjan Timofejitsch, lassen Sie doch die Spöttereien, hier…«

»Spöttereien!« rief Lebedew und schlug die Hände zusammen.

»Nun, nun, schon gut, ich bin nicht weiter böse, aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes… Ich fürchte für die Menschen. Wen haben Sie denn im Verdacht?«

»Das ist eine schwierige und… sehr verwickelte Frage! Das Dienstmädchen kann ich nicht im Verdacht haben, die hat sich die ganze Zeit über in ihrer Küche aufgehalten. Meine eigenen Kinder ebenfalls nicht…«

»Nun, allerdings!«

»Also müßte es einer der Gäste gewesen sein.«

»Aber ist das möglich?«

»Das ist völlig unmöglich, ganz und gar unmöglich, aber es muß doch unter allen Umständen der Fall sein. Ich will jedoch zugeben und bin sogar davon überzeugt, daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden hat, er nicht am Abend ausgeführt wurde, als alle zusammen waren, sondern erst in der Nacht oder gar erst gegen Morgen, von einem der hier Übernachtenden.«

»Ach, mein Gott!«

»Burdowskij und Nikolai Ardalionowitsch nehme ich natürlich aus, die sind überhaupt nicht zu mir hereingekommen.«

»Allerdings! Und selbst wenn sie hereingekommen wären! Wer hat bei Ihnen übernachtet?«

»Mich mitgezählt, waren wir vier Personen, die in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern übernachteten: ich, der General, Keller und Herr Ferdyschtschenko. Also muß es einer von uns vieren gewesen sein!«

»Das heißt, einer von den dreien, aber wer?«

»Um der Gerechtigkeit und Ordnung willen habe ich auch mich selbst mitgezählt, aber Sie werden zugeben müssen, Fürst, daß ich mich wohl nicht gut selbst bestehlen konnte, obgleich solche Fälle allerdings in der Welt schon vorgekommen sind…«

»Ach, Lebedew, wie langweilig das ist!« rief der Fürst ungeduldig. »Kommen Sie doch zur Sache und ziehen Sie die Vorreden nicht in die Länge…«

»Es bleiben also drei Personen übrig. Da ist erstens Herr Keller, ein Mensch ohne festen Wohnsitz, ein Trunkenbold, und in manchen Dingen ein Liberaler, das heißt, wo es darauf ankommt, aus anderer Leute Tasche zu leben, im übrigen aber sind seine Neigungen sozusagen mehr altritterlich als liberal. Er übernachtete anfangs im Zimmer des Kranken und kam erst in der Nacht zu uns herüber, mit der Begründung, es sei ihm nicht möglich, auf dem harten Fußboden zu schlafen.«

»Haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich hatte ihn allerdings im Verdacht. Als ich zwischen sieben und acht Uhr morgens wie ein Halbverrückter aufsprang und mich vor die Stirn schlug, da weckte ich sogleich den General, der den Schlaf der Unschuld schlief. Nachdem wir über Ferdyschtschenkos sonderbares Verschwinden unsere Betrachtungen angestellt hatten, ein Umstand, der schon an und für sich unsern Verdacht erweckte, entschlossen wir beide uns sofort, Keller zu visitieren, der wie… wie… beinah wie ein Holzklotz dalag. Wir visitierten ihn vollständig: in den Taschen fand sich kein Groschen, und nicht eine einzige Tasche war ohne Löcher. Der Inhalt war: ein baumwollenes, blaukariertes Taschentuch in unanständigem Zustand; ferner ein Liebesbrief von einem Stubenmädchen, enthaltend Geldforderungen und Drohungen, und Fetzen des Ihnen bekannten Feuilletons. Der General gab sein Urteil dahin ab, daß Keller unschuldig sei. Zum Zweck völliger Vergewisserung weckten wir ihn selbst, was uns nur mit Mühe durch viele Püffe gelang; er begriff nur schwer, um was es sich handelte, und sperrte erstaunt den Mund auf. Das betrunkene Aussehen, der alberne, unschuldige, ja dumme Gesichtsausdruck – er war es nicht gewesen!«

»Nun, da freue ich mich!« rief der Fürst, freudig aufatmend. »Ich hatte schon für ihn gefürchtet!«

»Gefürchtet? Also hatten Sie schon einen Grund dazu?« fragte Lebedew, die Augen zusammenkneifend.

»O nein, ich sagte das nur so hin!« erwiderte der Fürst hastig. »Ich habe mich furchtbar dumm ausgedrückt, wenn ich sagte, ich hätte für ihn gefürchtet. Tun Sie mir den Gefallen, Lebedew, und sagen Sie das niemandem weiter…«

»Aber Fürst, Fürst! Ihre Worte ruhen in meinem Herzen… in der Tiefe meines Herzens… wie in einem Grab!« rief Lebedew pathetisch und drückte den Hut gegen sein Herz.

»Schon gut, schon gut!… Also dann war es Ferdyschtschenko? Das heißt, ich meine, Sie haben Ferdyschtschenko im Verdacht?«

»Wen sonst?« sagte Lebedew leise, indem er den Fürsten scharf ansah.

»Nun ja, selbstverständlich … wen denn sonst… das heißt, was haben Sie für Beweise?«

»Beweise habe ich schon. Erstens das Verschwinden um sieben Uhr oder sogar noch vor sieben Uhr morgens.«

»Ich weiß, Kolja hat mir gesagt, daß er zu ihm gekommen sei und gesagt habe, er gehe weg, um den Rest der Nacht bei… bei… seinem Freund zuzubringen, ich habe den Namen vergessen.«

»Wilkin heißt er. Also Nikolai Ardalionowitsch hat Ihnen das bereits gesagt?«

»Von dem Diebstahl hat er mir nichts gesagt.«

»Davon weiß er auch noch nichts, denn ich habe die Sache bis jetzt geheimgehalten. Also er ist zu Wilkin gegangen; man könnte nun meinen: was ist denn Besonderes dabei, daß ein Trunkenbold zu einem ebensolchen Trunkenbold geht, wenn es auch am frühen Morgen und ohne allen Anlaß geschieht? Aber hier kann man doch eine Spur entdecken: er hat beim Weggehen seine Adresse zurückgelassen… Achten Sie jetzt wohl auf diese Frage, Fürst: warum hat er seine Adresse zurückgelassen?… Warum kommt er ausgerechnet zu Nikolai Ardalionowitsch, wozu er einen Umweg machen muß, und teilt ihm mit: ›Ich gehe, um den Rest der Nacht bei Wilkin zuzubringen‹? Wer kann sich denn dafür interessieren, daß er weggeht und daß er gerade zu Wilkin geht? Was hat es für einen Zweck, das hier mitzuteilen? Nein, das ist Schlauheit, die Schlauheit eines Diebes! Das bedeutet: ›Seht ihr wohl? Ich verberge meine Spuren absichtlich nicht, wie kann ich denn dann ein Dieb sein? Würde etwa ein Dieb Mitteilung davon machen, wohin er geht?‹ Er sucht da mit besonderer Sorgfalt den Verdacht von sich abzulenken und sozusagen seine Spuren im Sand zu verwischen… Haben Sie mich auch verstanden, hochgeehrter Fürst?«

»Verstanden habe ich Sie, sehr gut habe ich Sie verstanden, aber das reicht doch noch nicht aus.«

»Zweiter Beweis: die Spur erweist sich als gefälscht, und die angegebene Adresse stimmt nicht. Eine Stunde darauf, das heißt um acht Uhr, klopfte ich schon bei Wilkin; er wohnt da in der Fünften Straße, und ich bin sogar mit ihm bekannt. Aber da war kein Ferdyschtschenko vorhanden. Zwar erfuhr ich von dem sehr schwerhörigen Dienstmädchen, daß vor einer Stunde tatsächlich jemand geläutet habe, und zwar so stark, daß der Klingelzug abgerissen sei. Aber das Mädchen hatte nicht geöffnet, da sie Herrn Wilkin nicht hatte wecken mögen und vielleicht auch selbst keine Lust gehabt hatte aufzustehen. Das kommt schon vor.

»Und das sind all Ihre Beweise? Das ist wenig.«

»Aber Fürst, bedenken Sie: wen könnte man denn sonst noch in Verdacht haben?« erwiderte Lebedew in gerührtem Ton, und aus seinem Lächeln schaute eine gewisse Listigkeit heraus.

»Sie sollten noch einmal in allen Zimmern und Schubfächern nachsehen!« sagte der Fürst nach einigem Nachdenken mit sorgenvoller Miene.

»Das habe ich ja getan!« versetzte Lebedew mit noch größerer Rührung und seufzte dabei.

»Hm! … Warum mußten Sie auch den Zivilrock mit der Uniform vertauschen?« rief der Fürst und schlug ärgerlich auf den Tisch.

»Das ist eine Frage aus einem alten Lustspiel. Aber, großmütigster Fürst, Sie nehmen sich mein Unglück zu sehr zu Herzen! Ich bin so viele Teilnahme gar nicht wert. Das heißt, ich allein würde nicht wert sein, daß Sie sich so beunruhigen, aber Sie leiden ja auch um des Verbrechers willen… um dieses unbedeutenden Herrn Ferdyschtschenko willen!«

»Nun ja, ja, Sie haben mich wirklich in Unruhe versetzt«, unterbrach ihn der Fürst zerstreut und mißvergnügt. »Also was beabsichtigen Sie nun zu tun … wenn Sie so fest davon überzeugt sind, daß es Ferdyschtschenko gewesen ist?«

»Fürst, hochgeehrter Fürst, wer könnte es denn sonst gewesen sein?« wand sich Lebedew mit immer wachsender Rührung. »Das Fehlen eines andern, an den man denken könnte, und sozusagen die absolute Unmöglichkeit, jemand außer Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht zu haben, das ist ja sozusagen noch ein Beweis gegen Herrn Ferdyschtschenko, schon der dritte Beweis! Denn ich frage noch einmal: wer könnte es sonst gewesen sein? Ich kann doch nicht Herrn Burdowskij verdächtigen, hehehe!«

»Was für ein Unsinn!«

»Oder schließlich den General, hehehe?«

»Was für dummes Zeug!« rief der Fürst, beinah zornig, und drehte sich ungeduldig auf seinem Platz hin und her.

»Natürlich ist das dummes Zeug! Hehehe! Dieser Mensch, ich wollte sagen der General, hat mich ordentlich zum Lachen gebracht! Ich ging mit ihm vorhin auf frischer Fährte zu Wilkin … ich muß Ihnen noch bemerken, daß der General noch mehr als ich selbst bestürzt war, als ich nach Entdeckung des Verlustes zuallererst ihn weckte, dermaßen bestürzt, daß er die Farbe wechselte und bald rot, bald blaß wurde und schließlich in eine so empörte, edle Aufregung geriet, wie ich sie in solchem Maße gar nicht von ihm erwartet hatte. Ein höchst edeldenkender Mensch! Fußboden geraten, so daß niemand sie habe bemerken können und sie nur durch diese Feuersbrunst wieder zutage gekommen sei. Alles die reine Lüge! Aber als er auf Nina Alexandrowna zu sprechen kam, da schluchzte er sogar. Nina Alexandrowna ist eine höchst edeldenkende Dame, obwohl sie auf mich böse ist.«

»Sind Sie mit ihr bekannt?«

»So gut wie gar nicht, aber ich würde es von ganzem Herzen wünschen, wenn auch nur, um mich vor ihr zu rechtfertigen. Nina Alexandrowna ist auf mich schlecht zu sprechen, weil sie meint, ich richte ihren Gatten durch Verführung zum Trinken zugrunde. Aber weit entfernt, ihn zu verführen, zähme ich vielmehr diese seine Leidenschaft; ich halte ihn vielleicht von verderblicherer Gesellschaft zurück. Zudem ist er mein Freund, und ich bekenne Ihnen, ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen, das heißt sogar im allereigentlichsten Sinn: wo er hingeht, da werde ich auch hingehen, weil man nur durch Einwirkung auf seine Gefühle etwas mit ihm anfangen kann. Jetzt besucht er sogar seine Hauptmannsfrau gar nicht mehr, obwohl es ihn im geheimen zu ihr hinzieht und er sogar manchmal nach ihr stöhnt, namentlich alle Morgen, wenn er aufsteht und sich die Stiefel anzieht, ich weiß nicht, warum gerade zu dieser Zeit. Geld besitzt er nicht, das ist das Unglück, und ohne Geld kann er sich bei dieser Frau nicht blicken lassen. Hat er Sie nicht um Geld gebeten, hochgeehrter Fürst?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Er schämt sich. Er wollte es schon tun; er hat mir sogar gestanden, daß er Sie mit seiner Bitte belästigen wolle, aber er schämt sich, weil Sie ihm erst unlängst behilflich gewesen sind und er überdies glaubt, Sie würden ihm nichts geben. Er hat mir als seinem Freund sein Herz ausgeschüttet.«

»Und Sie geben ihm kein Geld?«

»Fürst! Hochgeehrter Fürst! Diesem Menschen würde ich nicht nur Geld geben, sondern ich würde für ihn sozusagen sogar mein Leben hingeben … übrigens nein, ich will nicht übertreiben, das Leben nicht, aber wenn es sich darum handelte, etwa ein Fieber oder ein Geschwür oder sogar einen Husten zu ertragen, so bin ich, weiß Gott, bereit, das zu tun, vorausgesetzt, daß es sehr nötig ist, denn ich halte ihn für einen bedeutenden, aber heruntergekommenen Menschen! So steht es; es handelt sich nicht nur um Geld!«

»Also Geld geben Sie ihm?«

»N-nein, Geld habe ich ihm nicht gegeben, und er weiß selbst, daß ich ihm keins geben werde, aber das geschieht einzig und allein, um ihn an Enthaltsamkeit zu gewöhnen und ihn zu bessern. Jetzt hat er sich an mich gehängt, um mit mir nach Petersburg zu fahren; ich fahre nämlich nach Petersburg, um Herrn Ferdyschtsdienko auf frischer Spur abzufassen, denn ich weiß sicher, daß er schon dort ist. Mein General kocht nur so vor Entrüstung, aber ich vermute, daß er sich in Petersburg von mir fortstehlen wird, um die Hauptmannsfrau zu besuchen. Ich gestehe, ich will ihn sogar absichtlich von mir weggehen lassen, und wir haben auch schon verabredet, uns gleich bei der Ankunft in Petersburg zu trennen und nach verschiedenen Seiten zu gehen, um Herrn Ferdyschtsdienko leichter zu fangen. In dieser Weise werde ich ihn also von mir weggehen lassen und ihn dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei der Hauptmannsfrau überraschen – eigentlich um ihn als Familienvater und, allgemein gesagt, als Menschen zu beschämen.«

»Führen Sie nur keinen Skandal herbei, Lebedew, um Gottes willen keinen Skandal!« sagte der Fürst halblaut in starker Unruhe.

»O nein, mein Zweck ist ja nur, ihn zu beschämen und zu sehen, was er für ein Gesicht macht, denn aus dem Gesicht kann man auf vieles schließen, hochgeehrter Fürst, und besonders bei einem solchen Menschen! Ach, Fürst! Obgleich mein eigenes Unglück groß ist, kann ich doch auch jetzt nicht umhin, an ihn und an die Besserung seiner Moral zu denken. Ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie, hochgeehrter Fürst; ich bekenne sogar, daß ich eigentlich nur deswegen hergekommen bin: Sie sind schon mit seiner Familie bekannt und haben dort sogar schon gewohnt; wenn also Sie, hochgeehrter Fürst, sich entschließen wollten, mir hierbei zu helfen, eigentlich nur um des Generals und seines Glückes willen …«

Lebedew faltete sogar die Hände wie beim Gebet.

»Was meinen Sie denn? Wie soll ich helfen? Seien Sie überzeugt, daß mir sehr daran liegt, Sie ganz zu verstehen, Lebedew!«

»Einzig und allein in dieser Überzeugung bin ich ja auch zu Ihnen gekommen! Man könnte durch Nina Alexandrowna auf ihn einwirken, indem man Seine Exzellenz im Schoß seiner eigenen Familie ständig beobachtet und ihm sozusagen auf den Fersen bleibt. Ich selbst bin unglücklicherweise dort nicht bekannt… Außerdem könnte da auch Nikolai Ardalionowitsch vielleicht mithelfen, der Sie sozusagen mit allen Fasern seines jungen Herzens vergöttert…«

»N-ein… Nina Alexandrowna dürfen wir in diese Sache… um Gottes willen nicht! Und Kolja ebensowenig… Ich verstehe Sie übrigens vielleicht noch nicht ganz, Lebedew.«

»Aber es ist ja dabei eigentlich gar nichts zu verstehen!« rief Lebedew und sprang sogar von seinem Stuhl auf. »Gefühlvolle und zarte Behandlung, das ist die einzige Arznei für unsern Kranken. Sie erlauben mir wohl, Fürst, ihn als einen Kranken anzusehen?«

»Das zeugt sogar von Ihrem Zartgefühl und Ihrem Verstand.«

»Ich möchte es Ihnen durch ein Beispiel klarmachen, das ich der Deutlichkeit halber aus der Praxis entnehme. Sehen Sie, was das für ein Mensch ist: da hat er nun jetzt eine Schwäche für diese Hauptmannsfrau, bei der er sich ohne Geld nicht blicken lassen darf, und bei der ich ihn heute zu seinem eigenen Besten abzufassen gedenke; aber nehmen wir an, er habe nicht nur dieses Verhältnis mit der Hauptmannsfrau, sondern er begehe ein wirkliches Verbrechen, irgendeine unehrenhafte Handlung (obwohl er dazu keineswegs imstande ist), so behaupte ich, man könnte auch dann einzig und allein durch edelmütige, zarte Behandlung, um mich so auszudrücken, bei ihm alles erreichen, denn er ist ein gefühlvoller Mensch! Glauben Sie mir, er würde es nicht fünf Tage lang aushalten, sondern in Tränen ausbrechen und alles bekennen, und besonders wenn die Familie und Sie sozusagen sein ganzes Mienenspiel, seine sämtlichen Äußerungen beobachten und in geschickter, edelmütiger Weise auf ihn einwirken … Oh, hochgeehrter Fürst!« rief Lebedew und sprang in einer Art von Begeisterung vom Stuhl auf, »ich behaupte ja gar nicht, daß er es bestimmt gewesen sei… Ich bin sogar bereit, mein ganzes Blut für ihn zu vergießen, auf der Stelle, obwohl Sie zugeben müssen, daß Unenthaltsamkeit und Trunksucht und eine Hauptmannsfrau, alles zusammengenommen, einen Menschen zu allem möglichen bringen können.«

»Solche Absichten bin ich natürlich jederzeit bereit zu fördern«, erwiderte der Fürst, indem er aufstand. »Aber ich bekenne Ihnen, Lebedew, daß ich mich in furchtbarer Unruhe befinde. Sagen Sie, Sie glauben immer noch… kurz, Sie sagen ja selbst, daß Sie Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht haben.«

»Aber wen denn sonst? Wen denn sonst, offenherzigster Fürst?« antwortete Lebedew, indem er wieder gerührt die Hände faltete und milde lächelte.

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht.

»Sehen Sie, Lukjan Timofejitsch, ein Irrtum könnte hier die schrecklichsten Folgen haben. Dieser Ferdyschtschenko… ich möchte nichts Schlechtes von ihm sagen… aber dieser Ferdyschtschenko… ich meine, wer weiß, vielleicht ist er es doch gewesen! … Ich will sagen, vielleicht ist er wirklich einer solchen Tat eher fähig als … als der andere.«

Lebedew kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren.

»Sehen Sie«, fuhr der Fürst fort, der immer mehr in Verwirrung geriet und dessen Gesicht immer finsterer wurde, während er im Zimmer auf und ab ging und es dabei vermied, Lebedew anzusehen, »man hat mir zu verstehen gegeben… es hat mir jemand von Herrn Ferdyschtschenko gesagt, er sei, von allem anderen abgesehen, ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich in acht nehmen müsse und nichts… Überflüssiges reden dürfe, Sie verstehen? Ich sage das in der Hinsicht, daß er vielleicht wirklich einer solchen Tat eher fähig war als der andere … damit wir uns nicht irren, – das ist doch die Hauptsache, verstehen Sie?«

»Aber wer hat Ihnen das über Herrn Ferdyschtschenko mitgeteilt?« fragte Lebedew eifrig.

»Nur so, es hat mir jemand das zugeflüstert, übrigens glaube ich es selbst nicht… ich ärgere mich sehr, daß ich genötigt war, es zu erwähnen; aber ich versichere Ihnen, ich glaube es selbst nicht… es ist törichtes Gerede… Pfui, wie dumm von mir, es nachzusprechen!«

»Sehen Sie, Fürst«, sagte Lebedew und zitterte dabei am ganzen Leib, »das ist wichtig, das ist jetzt sehr wichtig, ich meine die Art, wie diese Beurteilung zu Ihrer Kenntnis gelangt ist, das ist wichtig, wenn auch nicht in bezug auf Herrn Ferdyschtschenko.« (Während Lebedew das sagte, lief er, dem Fürsten folgend, hin und her und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.) »Da möchte auch ich Ihnen jetzt etwas mitteilen, Fürst: als ich vorhin mit dem General zu diesem Wilkin ging, da fing er, nachdem er mir schon die Geschichte von der Feuersbrunst erzählt hatte, auf einmal in höchster sittlicher Entrüstung an, mir ganz ebensolche Andeutungen über Herrn Ferdyschtschenko zumachen, aber in einer so ungereimten, einfältigen Manier, daß ich unwillkürlich ein paar Fragen darüber an ihn richtete und infolgedessen zu der bestimmten Überzeugung kam, daß diese ganze Beurteilung lediglich aus dem Gehirn Seiner Exzellenz stammte… Eigentlich war sie sozusagen ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Denn er lügt einzig und allein, weil er seiner Rührung nicht Herr zu werden vermag. Nun belieben Sie zu erwägen: wenn er das erlogen hat, und davon bin ich überzeugt, wie ist es dann zugegangen, daß auch Sie davon gehört haben? Wohlgemerkt, Fürst, es war das nur eine momentane Eingebung; wer in aller Welt hat es Ihnen also mitgeteilt? Das ist wichtig, das… das ist sehr wichtig und… sozusagen…«

»Ich habe es soeben von Kolja gehört, und ihm hatte es kurz vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.«

Und der Fürst erzählte alles eingehend.

»Nun, sehen Sie, das ist es, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz absichtlich seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe!…«

»Hören Sie, Lebedew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedew, ich beschwöre Sie!… Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein, aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«

»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster Fürst«, rief Lebedew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut… Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch, aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das ist der Triumph der Tugend! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten… mit leisen Schritten und… gemeinsam.«

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Kapitel 38

X

Endlich verstand der Fürst, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einen schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, an deren langen Wimpern was zu unserem wirklichen Leben gehört, etwas, was in unserem Herzen existiert und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der empfangene Eindruck ist stark, ein freudiger oder ein quälender Eindruck, je nachdem, aber worin er besteht und was uns eigentlich gesagt worden ist, das können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern.

Fast dasselbe geschah nach der Lektüre dieser Briefe. Aber noch ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser, phantastischer Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke hatte bereits Gestalt gewonnen, und das verwunderlichste war für ihn, daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn, aber es lag darin doch auch wahrhaftes Leid, echtes Märtyrertum, wodurch der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke, verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits einmal vor langer, langer Zeit gelesen und als sei alles, wonach er sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen enthalten.

»Wenn Sie diesen Brief öffnen« (so begann das erste Schreiben), »werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich Ihnen auch nur im geringsten gleichgestellt, so könnten Sie sich durch eine solche Dreistigkeit beleidigt fühlen, aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst wenn ich es wollte.«

Ferner schrieb sie an einer anderen Stelle:

»Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines kranken Gehirns, aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich habe Sie gesehen, ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über Sie ab; ich bin nicht durch den Verstand dazu gekommen, Sie für die Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben. Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie. Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich, aber Sie brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen, ich stelle Sie nicht mit mir auf die gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten! … Wenn ich könnte, würde ich die Spuren Ihrer Füße küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich… Sehen Sie nach der Unterschrift, sehen Sie schnell nach der Unterschrift!«

»Ich bemerke aber« (schrieb sie in einem andern Brief), »daß ich Sie mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Er gedachte Ihrer wie des ›Lichtes‹, das sind seine eigenen Worte, ich habe sie von ihm gehört. Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn das Licht sind. Ich habe einen ganzen Monat lang mit ihm gelebt und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie und er sind für mich eins.«

»Wie ist das?« (schrieb sie an einer andern Stelle dieses Briefes). »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und mir war, als erröteten Sie. Aber das ist unmöglich, das kann mir nur so vorgekommen sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und zeigte Ihnen dort die nackte Sünde, so dürften Sie doch nicht erröten; Sie können gar nicht über eine Beleidigung entrüstet sein. Sie können alle gemeinen, unwürdigen Menschen hassen, aber nicht um ihrer Eigenschaften willen, sondern aus Teilnahme für diejenigen, denen sie Kränkungen zufügen. Ihnen aber, Ihnen kann niemand eine Kränkung zufügen. Wissen Sie, ich meine, Sie müßten mich sogar lieben. Für mich sind Sie dasselbe wie für ihn: ein lichter Geist; ein Engel aber kann nicht hassen; er kann gar nicht anders als lieben. Kann man alle lieben, alle Menschen, alle seine Nächsten? Ich habe mir diese Frage oft vorgelegt. Gewiß nicht, das ist sogar unnatürlich. In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst. Aber wenn dies auch für uns unmöglich ist, so sind Sie doch ein anderes Wesen: wie könnten Sie jemand nicht lieben, da Sie sich mit niemand auf eine Stufe stellen können und da Sie über alle Kränkungen und alle persönliche Entrüstung erhaben sind? Sie allein können ohne Egoismus lieben; Sie allein können nicht um Ihrer selbst willen lieben, sondern um desjenigen willen, den Sie lieben. Oh, wie schmerzlich würde es mir sein, zu erfahren, daß Sie um meinetwillen Scham oder Zorn empfänden! Das wäre Ihr Untergang: damit stellten Sie sich auf einmal mir gleich …

Nachdem ich Ihnen gestern begegnet und nach Hause gekommen war, dachte ich mir ein Gemälde aus. Die Maler stellen Christus immer nach der Überlieferung des Evangeliums dar; ich würde ihn anders malen: ich würde ihn allein darstellen, seine Jünger haben ihn ja auch manchmal allein gelassen. Ich würde ihn nur mit einem kleinen Kind malen. Das Kind hat neben ihm gespielt, ihm vielleicht etwas in seiner kindlichen Sprache erzählt, Christus hat ihm zugehört, aber jetzt ist er in Gedanken versunken; seine Hand ist unwillkürlich, selbstvergessen auf dem blonden Köpfchen des Kindes liegengeblieben. Er blickt in die Ferne, nach dem Horizont; ein ruhiger Gedanke, groß wie die Welt, liegt in seinem Blick; sein Gesicht ist traurig. Das Kind ist verstummt;, es hat seinen Ellbogen auf das Knie des Heilands gesetzt, die eine Wange in die Hand gestützt, das Köpfchen aufgehoben und schaut ihn nun unverwandt nachdenklich an, in der Art wie Kinder manchmal nachdenklich sind. Die Sonne geht unter… Das ist mein Bild! Sie sind unschuldig, und in Ihrer Unschuld liegt Ihre ganze Vollkommenheit. Oh, vergessen Sie das nicht! Was geht Sie die Leidenschaft an, die ich für Sie empfinde? Sie gehören jetzt schon mir; ich werde mein ganzes Leben lang um Sie sein … Aber ich werde bald sterben.«

Im letzten Briefe endlich hieß es:

»Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, mir das selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß ich mich nicht einmal in einem Anfall von Stolz erniedrigen könnte. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls nicht fähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich.

Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinetwillen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen, darin finde ich meine ganze Absolution, das habe ich mir längst gesagt… Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt auf den Kopf stellen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen, ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was statt meiner in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich ständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer), aber ich kenne ihr Geheimnis. Er hat ein finsteres, ödes Haus, und darin befindet sich das Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Hause gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit, während ich bei ihnen in ihrem Hause wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer, aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden, so habe ich es mit ihm festgesetzt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten… Aber er wird mich vorher töten … Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.«

Und dergleichen irres Gerede stand noch sehr viel in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats.

Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle, durchsichtige Nacht schien ihm noch heller als gewöhnlich. ›Ob es denn noch so früh ist?‹ dachte er. (Er hatte vergessen, seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; ›wahrscheinlich beim Vauxhall‹, dachte er wieder. ›Sie werden heute gewiß nicht dort sein.‹ Während er das überlegte, sah er, daß er ganz dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es gewußt, daß er unbedingt schließlich hierhergeraten würde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen, die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. ›Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen‹, dachte er flüchtig, aber auch der Saal war leer; es war darin fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemand zu treffen.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.

»Ich … bin nur so hereingekommen…«

»Maman ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida legt sich gerade schlafen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«

»Ich wollte … ich wollte Ihnen jetzt… einen Besuch machen…«

»Wissen Sie, was die Uhr ist?«

»N-nein…«

»Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«

»Ach, ich dachte, es… wäre halb zehn.«

»Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«

»Ich… dachte…«, stotterte er und schickte sich an, wieder fortzugehen.

»Auf Wiedersehen! Morgen werde ich alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«

Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum erschien ihm wie ein Traum. Und plötzlich stand, ganz wie vor kurzem, wo er zweimal nach derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. ›Nein‹, sagte er sich, ›das ist kein Traumbild!‹

So stand sie ihm denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sie sagte etwas zu ihm, aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück, aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.

»Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie hochzuziehen. »Steh schnell auf!«

»Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«

Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, als wären Verfolger hinter ihr her.

»Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht… Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«

»Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.

Gierig hingen ihre Blicke an ihm, sie faßte seine beiden Hände.

»Leb wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoshin neben ihr auftauchte, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.

»Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoshin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«

Nach fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf derselben Stelle erwartet.

»Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien zu wissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir vorhin geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben, sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet, dort auf der Bank haben wir gesessen.«

»Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen solltest?«

»Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoshin zähnefletschend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«

»Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.

»Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle von dem Rasiermesser? Hehe!«

»Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.

»Wer weiß, vielleicht auch nicht!« sagte Rogoshin leise, als spräche er mit sich selbst.

Der Fürst antwortete nicht.

»Nun leb wohl!« sagte Rogoshin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«

»Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.

»Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoshin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

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Kapitel 39

Vierter Teil

I

Es war ungefähr eine Woche seit dem Tage vergangen, an dem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

Es gibt Leute, von denen man schwer etwas aussagen kann, das uns diese Menschen mit einemmal und vollständig in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen stellt; das sind diejenigen, die man meist als die »üblichen«, als »Masse« bezeichnet und die tatsächlich in jeder Gesellschaft die weitaus überwiegende Mehrheit bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist und daß alle diese George Dandins und Podkolessins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und wir wollen damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den ganz »gewöhnlichen« Leuten, anfangen und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist unmöglich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch bei den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr lebelang unverändert Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt.

Zu der Kategorie der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte, Herr Ptizyn, und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch.

In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein »wie alle Menschen«. Reichtum ist vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und sich sagen, man habe ihn zum General befördert, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Propagandisten gegeben! Ich sage »hat es gegeben«, aber natürlich gibt es sie auch jetzt…

Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt: bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschengruppe verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende des Lebens hat sich vielleicht ein mehr oder minder starkes Leberleiden entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und in ihr Los fügen, manchmal sehr lange, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht bereit, sich zu einer gemeinen Handlung herbeizulassen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur ehrlichen, sondern auch herzensguten Menschen ist der Beschützer und Versorger seiner Familie und unterhält und ernährt durch seine Arbeit nicht nur die Seinigen, sondern sogar Fremde, aber was ist das Resultat? Er kann trotzdem sein ganzes Leben lang nicht zur Ruhe gelangen! Für ihn ist es keineswegs ein beruhigender, tröstlicher Gedanke, daß er seine menschlichen Pflichten so gut erfüllt hat; dieser Gedanke hat sogar im Gegenteil für ihn etwas Aufreizendes: ›Also das ist es‹, sagt er sich, ›worauf ich mein ganzes Leben verwandt habe, das ist es, was mich an Händen und Füßen gebunden hat, das ist es, was mich gehindert hat, das Pulver zu erfinden! Wäre dieses Hindernis nicht gewesen, dann hätte ich vielleicht sicher entweder das Pulver erfunden oder Amerika entdeckt; ich weiß noch nicht genau, was, aber erfunden oder entdeckt hätte ich sicherlich etwas!‹ Das Charakteristische bei diesen Herren ist, daß sie tatsächlich ihr ganzes Leben lang sich nicht recht darüber klarwerden können, was sie eigentlich so eifrig zu erfinden und zu entdecken wünschen und was für eine Großtat sie eigentlich das ganze Leben hindurch auszuführen bereit waren, ob die Erfindung des Pulvers oder die Entdeckung Amerikas. Aber ihre schmerzliche Sehnsucht nach einer solchen Großtat hätte wirklich für einen Kolumbus oder Galilei ausgereicht.

Gawrila Ardalionowitsch begann sich gerade in dieser Weise zu entwickeln; aber, wie gesagt, er stand erst am Anfang. Er hatte noch die lange Periode der tollen Streiche vor sich. Das tiefe, stetige Bewußtsein seiner Talentlosigkeit und gleichzeitig das unüberwindliche Verlangen, sich davon zu überzeugen, daß er ein durchaus selbständiger Mensch sei, hatten sein Herz tief verwundet, fast schon von seiner Knabenzeit an. Er war ein junger Mensch mit neidischen und heftigen Wünschen und hatte anscheinend schon bei der Geburt ein reizbares Nervensystem mitbekommen. Die Heftigkeit seiner Wünsche hielt er für Stärke. Bei seinem leidenschaftlichen Wunsch, sich hervorzutun, war er manchmal zu den sinnlosesten Sprüngen bereit; aber sowie die Ausführung eines solchen sinnlosen Sprunges heranrückte, war unser Held doch immer zu klug, als daß er sich dazu hätte entschließen mögen. Das drückte ihn nieder. Vielleicht hätte er sich bei Gelegenheit sogar zu einer recht gemeinen Handlung bereit gefunden, falls er dadurch etwas von seinen erträumten Zielen hätte erreichen können, aber gerade, wenn es an den entscheidenden Punkt kam, war er jedesmal für die recht gemeine Handlung doch zu ehrlich. (Zu einer gemeinen Handlung kleineren Kalibers war er übrigens jederzeit bereit.) Mit hinausgehen, und damit wird die Sache für Ptizyn ihren Abschluß finden.

Eine ganz andersartige Persönlichkeit war Gawrila Ardalionowitschs Schwester. Auch sie war von einem kräftigen Streben erfüllt, das aber mehr den Charakter der Beharrlichkeit als den der Heftigkeit trug. Sie bewies viel Verstand, wenn eine Sache zum entscheidenden Punkt gelangt war, aber daran mangelte es ihr auch schon vorher nicht. Freilich gehörte auch sie zu der Kategorie der »gewöhnlichen« Leute, die von Originalität träumen, aber sie erkannte doch sehr bald, daß sie keine Spur von besonderer Originalität besaß, und grämte sich darüber nicht allzusehr – wer weiß, vielleicht aus einer eigenen Art von Stolz. Ihren ersten Schritt ins praktische Leben führte sie mit großer Entschlossenheit aus, als sie Herrn Ptizyn heiratete, aber indem sie das tat, sagte sie ganz und gar nicht zu sich selbst: ›Will man gemein handeln, dann gründlich, wenn man nur sein Ziel erreicht‹, wie Gawrila Ardalionowitsch sich in solchem Falle unbedingt ausgedrückt hätte (er war nahe daran, sich vor ihren Ohren so auszudrücken, als er als älterer Bruder seine Billigung ihres Entschlusses aussprach). Vielmehr heiratete Warwara Ardalionowna ganz im Gegenteil erst, nachdem sie zu der wohlbegründeten Überzeugung gelangt war, daß ihr künftiger Gatte ein bescheidener, angenehmer, beinah gebildeter Mann sei und größere Gemeinheiten nie und um keinen Preis begehen würde. Nach kleineren Gemeinheiten fragte Warwara Ardalionowna nicht; das waren eben Kleinigkeiten, und solche Kleinigkeiten kamen ja in der Welt überall vor. Wozu ein Ideal suchen! Zudem wußte sie, daß sie durch diese Heirat ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern zu einem Unterkommen verhalf. Da sie ihren Bruder Ganja im Unglück sah, wünschte sie, trotz aller früheren Zwistigkeiten in der Familie, ihm zu helfen. Ptizyn drängte seinen Schwager Ganja manchmal, natürlich freundschaftlich, wieder eine Stelle anzunehmen. »Da verachtest du nun die Generale und den Generalsrang«, sagte er mitunter scherzend zu ihm, »aber paß einmal auf, ›sie‹ werden alle schließlich, wenn die Reihe an sie kommt, Generale werden; wenn du lange genug lebst, wirst du es schon sehen.«

›Wie kommen manche Leute nur zu dem Glauben, ich sei ein Verächter der Generale und des Generalsranges?‹ dachte Ganja im stillen bitter und spöttisch. Um ihrem Bruder behilflich zu sein, entschloß sich Warwara Ardalionowna, den Bereich ihrer Tätigkeit zu erweitern: sie verschaffte sich Zutritt bei der Familie Jepantschin, wobei ihr Erinnerungen an die Kinderzeit halfen, denn sowohl sie selbst als auch ihr Bruder hatten als Kinder mit den Jepantschinschen Töchtern gespielt. Wir bemerken hier, daß Warwara Ardalionowna, wenn sie mit ihren Besuchen bei den Jepantschinschen Damen irgendein phantastisches Ziel vor Augen gehabt hätte, vielleicht eben dadurch sofort aus jener Menschenklasse ausgeschieden wäre, zu der sie sich selbst rechnete; aber sie hatte kein phantastisches Ziel vor Augen, sondern es lag ihrerseits sogar eine sehr wohlbegründete Spekulation vor, wobei sie den Charakter dieser Familie als Ausgangspunkt benutzte. Aglajas Charakter studierte sie unermüdlich. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die beiden jungen Leute, ihren Bruder und Aglaja, wieder zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie tatsächlich einiges erreicht; vielleicht hatte sie auch Fehler begangen, indem sie zum Beispiel zu sehr auf ihren Bruder rechnete und von ihm etwas erwartete, was er nie und auf keine Weise hätte leisten können. Jedenfalls operierte sie bei Jepantschins sehr geschickt: sie erwähnte wochenlang ihren Bruder mit keinem Wort, war immer sehr wahrheitsliebend und aufrichtig und benahm sich schlicht, aber würdig. Was aber ihr innerstes Gewissen anlangt, so fürchtete sie sich nicht, in dasselbe hineinzublicken, und machte sich nicht den geringsten Vorwurf. Und dadurch wuchs ihre Kraft noch mehr. Nur eins, was ihr mißfiel, bemerkte sie manchmal an sich: daß auch sie sehr viel Ehrgeiz besaß, sich gelegentlich ärgerte und in ihrer Eitelkeit verletzt fühlte; besonders bemerkte sie das zu bestimmten Zeiten, und zwar fast jedesmal, wenn sie von Jepantschins fortging.

So kehrte sie auch jetzt von ihnen heim und, wie wir schon gesagt haben, in nachdenklicher, trüber Stimmung. In dieser trüben Stimmung lag auch eine gewisse spöttische Bitterkeit. Ptizyn bewohnte in Pawlowsk ein unansehnliches, aber geräumiges Holzhaus, das an einer staubigen Straße gelegen war und demnächst in seinen vollen Besitz übergehen sollte, so daß er seinerseits es schon wieder einem Dritten zum Kauf angeboten hatte. Als Warwara Ardalionowna die Freitreppe hinaufstieg, hörte sie oben im Haus einen ungewöhnlichen Lärm und unterschied die schreienden Stimmen ihres Bruders und ihres Vaters. In den Salon eintretend, sah sie Ganja, der, ganz blaß vor Wut, im Zimmer auf und ab lief und sich beinah die Haare ausriß; sie runzelte bei diesem Anblick die Stirn und ließ sich mit müder Miene auf das Sofa sinken, ohne den Hut abzunehmen. Sie wußte ganz genau, daß, wenn sie noch ungefähr eine Minute lang schwieg und ihren Bruder nicht fragte, warum er so umherlaufe, dieser mit Sicherheit darüber in Zorn geraten würde; daher beeilte sie sich schließlich, in Form einer Frage zu sagen:

»Immer noch die alte Geschichte?«

»Ach was, die alte Geschichte!« rief Ganja. »Die alte Geschichte! Nein, weiß der Teufel, was jetzt hier vorgeht! Etwas Neues! Der Alte ist ganz rasend geworden… die Mutter heult. Wahrhaftig, Warja, rede, was du willst, aber ich werde ihn aus dem Hause jagen oder… oder selbst von euch wegziehen«, fügte er hinzu, wahrscheinlich weil ihm einfiel, daß man aus einem fremden Haus niemand wegjagen kann.

»Man muß doch Nachsicht haben«, murmelte Warja.

»Nachsicht womit? Mit wem?« fuhr Ganja auf. »Mit seinen Gemeinheiten? Nein, da kannst du reden, was du willst, aber das geht so nicht länger! Unmöglich, unmöglich, unmöglich! Und was ist das für eine Manier: er ist schuld und trumpft dabei noch auf. Wie ein störrisches Tier: ›Ich will nicht ins Tor, reiß den Zaun nieder!‹ Warum sitzt du so da? Was machst du denn für ein Gesicht?«

»Mein Gesicht ist wie immer«, erwiderte Warja mißvergnügt.

Ganja sah sie genauer an.

»Bist du dort gewesen?« fragte er plötzlich.

»Ja.«

»Warte, da schreit er wieder! Es ist eine Schande, und noch dazu um diese Zeit!«

»Was meinst du damit: ›um diese Zeit‹? Es ist doch keine besondere Zeit.«

Ganja betrachtete seine Schwester noch aufmerksamer.

»Hast du etwas erfahren?« fragte er.

»Nein, wenigstens nichts Überraschendes. Ich habe erfahren, daß das alles seine Richtigkeit hat. Mein Mann hat gegen uns beide recht behalten; es ist so gekommen, wie er es gleich von Anfang an vorhergesagt hat. Wo ist er eigentlich?«

»Er ist nicht zu Hause. Was ist geschehen?«

»Der Fürst ist regulärer Bräutigam, die Sache ist entschieden. Die beiden älteren Schwestern haben mir gesagt, Aglaja habe eingewilligt; sie verheimlichen es nicht einmal mehr. (Vorher haben sie immer sehr geheimnisvoll getan.) Adelaidas Hochzeit wird von neuem verschoben, damit beide Hochzeiten gleichzeitig gefeiert werden können, an demselben Tag, – sehr romantisch! Es mutet einen ganz poetisch an. Du solltest lieber ein Hochzeitsgedicht verfassen, statt so unnütz im Zimmer umherzulaufen. Heute abend wird die alte Bjelokonskaja bei ihnen sein, sie ist gerade zur rechten Zeit angekommen; es werden auch noch mehr Gäste da sein. Sie werden ihn der alten Bjelokonskaja vorstellen, obwohl er schon mit ihr bekannt ist; es scheint, daß die Verlobung bekanntgemacht werden soll. Sie fürchten nur, daß er irgend etwas hinfallen läßt oder zerschlägt, wenn er zu den Gästen ins Zimmer kommt, oder auch, daß er selbst hinplumpst, denn auf so etwas kann man sich gefaßt machen.«

Ganja hörte sehr aufmerksam zu, aber zur Verwunderung seiner Schwester übte diese ihrer Meinung nach für ihn überraschende Nachricht anscheinend auf ihn gar keine besonders überraschende Wirkung aus.

»Nun gut, das war ja schon lange klar«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Also nun ist das zu Ende!« fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu, indem er seiner Schwester verschmitzt ins Gesicht sah und immer noch fortfuhr, im Zimmer auf und ab zu gehen, allerdings viel langsamer.

»Es ist nur gut, daß du es mit philosophischer Ruhe aufnimmst, ich freue mich darüber wirklich«, sagte Warja.

»Nun sind wir eine Last von den Schultern los, wenigstens du.«

»Ich glaube, dir aufrichtig gedient zu haben, ohne mich mit meinem eigenen Urteil einzumischen und ohne dich mit Fragen zu belästigen; ich habe dich nicht gefragt, welches Glück du an Aglajas Seite zu finden hofftest.«

»Aber habe ich denn überhaupt… ein Glück an Aglajas Seite zu finden gehofft?«

»Na, laß dich bitte nicht auf philosophische Betrachtungen ein! Jedenfalls ist es jetzt so. Wir haben verspielt und ziehen mit langer Nase ab. Ich muß dir gestehen, ich habe diese Sache nie als etwas Ernstes betrachten können, ich habe sie nur so ›für alle Fälle‹ betrieben und dabei auf den komischen Charakter des Mädchens gebaut, vor allen Dingen aber wollte ich dir eine Freude machen; die Wahrscheinlichkeit, daß es mißlingen würde, betrug neunzig Prozent. Ich für meine Person weiß sogar jetzt nicht einmal, was du eigentlich angestrebt hast.«

»Jetzt werdet ihr, du und dein Mann, mich dazu drängen, wieder in den Dienst zu treten, und werdet mir Predigten über Beharrlichkeit und Willenskraft halten, und daß man das Kleine nicht geringschätzen dürfe und so weiter. Ich weiß es schon auswendig!« sagte Ganja lachend.

›Er hat irgend etwas Neues im Sinn!‹ dachte Warja.

»Nun, wie steht es jetzt dort? Die Eltern freuen sich wohl?« fragte Ganja plötzlich.

»Es scheint nicht. Übrigens kannst du dir das ja selbst zurechtlegen. Iwan Fjodorowitsch ist zufrieden; die Mutter ist ängstlich; sie hat bekanntlich von jeher einen Widerwillen gegen die Vorstellung gehabt, daß er der Bräutigam ihrer Tochter werden könnte.«

»Danach frage ich nicht; er ist ein unmöglicher, undenkbarer Bräutigam, das ist klar. Ich frage nach der jetzigen Situation, wie es jetzt dort steht. Hat sie ihr formelles Jawort gegeben?«

»Sie hat bis jetzt nicht nein gesagt, das ist alles, aber etwas anderes war ja von ihr auch nicht zu erwarten. Du weißt, daß sie von jeher bis zur Verdrehtheit blöde und schüchtern war: als Kind stieg sie in einen Schrank und saß da zwei, drei Stunden lang, um nur nicht zu den Gästen hineingehen zu müssen; nun ist sie eine große Göre geworden, aber es ist mit ihr immer noch dieselbe Geschichte. Weißt du, ich denke, daß es sich da wirklich auch von ihrer Seite um ein ernsthaftes Gefühl handelt. Allerdings macht sie sich, wie mir gesagt wird, über den Fürsten vom Morgen bis zum Abend aus Leibeskräften lustig, um sich nichts anmerken zu lassen; aber gewiß weiß sie ihm täglich im stillen etwas Angenehmes zu sagen, denn er geht umher wie im Himmel und strahlt ordentlich… Er soll furchtbar komisch aussehen. Das habe ich von den beiden älteren Schwestern gehört. Es schien mir auch, als ob diese sich direkt über mich lustig machten.«

Ganja machte endlich ein finsteres Gesicht; vielleicht vertiefte sich Warja absichtlich in dieses Thema, um in seine wahren Gedanken einzudringen. Aber jetzt erscholl oben wieder Geschrei.

»Ich werde ihn aus dem Hause jagen!« brüllte Ganja, als freute er sich, seinem Ärger Luft machen zu können.

»Dann wird er wieder hingehen und uns überall blamieren wie gestern.«

»Was meinst du mit ›wie gestern‹? Was soll das heißen: ›wie gestern‹? Ist er etwa …«, fragte Ganja, der plötzlich einen gewaltigen Schreck bekam.

»Ach, mein Gott, weißt du es denn nicht?« fragte Warja erschrocken.

»Wie… also ist es wirklich wahr, daß er dort gewesen ist?« rief Ganja, der vor Scham und Wut ganz rot wurde. »O Gott, du kommst ja von dort! Hast du etwas erfahren? Ist der Alte dagewesen? War er da oder nicht?«

Ganja stürzte nach der Tür; Warja lief zu ihm hin und ergriff ihn mit beiden Händen.

»Was hast du? Wo willst du hin?« sagte sie. »Wenn du ihn jetzt hinausläßt, wird er bei allen Menschen herumlaufen und noch schlimmere Dinge anrichten!«

»Was hat er denn dort angerichtet? Was hat er gesagt?«

»Sie haben es selbst nicht recht begriffen und konnten es mir nicht ordentlich wiedererzählen; nur hat er alle in Angst versetzt. Er wollte zu Iwan Fjodorowitsch, aber der war nicht zu Hause; dann verlangte er Lisaweta Prokofjewna zu sprechen. Zuerst bat er sie um eine Stelle, er wolle wieder in den Dienst treten, und dann fing er an, sich über uns zu beklagen, über mich, über meinen Mann, namentlich aber über dich… er hat alles mögliche zusammengeredet.«

»Du hast es nicht erfahren können?« fragte Ganja, krampfhaft zitternd.

»Wie wäre das möglich! Er hat selbst kaum verstanden, was er redete; und vielleicht haben sie mir auch nicht alles wiedererzählt.«

Ganja griff sich an den Kopf und lief zum Fenster; Warja setzte sich an das andere Fenster.

»Wie komisch Aglaja ist«, bemerkte sie plötzlich. »Als ich weggehen wollte, hielt sie mich noch zurück und sagte zu mir: ›Übermitteln Sie Ihren Eltern den Ausdruck meiner besonderen persönlichen Hochachtung; ich werde in diesen Tagen gewiß Gelegenheit finden, mit Ihrem Papa zu sprechen.‹ Und das sagte sie ganz ernst. Es war sehr merkwürdig …«

»Nicht spöttisch? Nicht spöttisch?«

»Das ist es eben, daß sie es nicht spöttisch sagte; darum war es so merkwürdig.«

»Weiß sie, was der Alte gemacht hat, oder nicht? Was meinst du?«

»Daß es bei ihnen nicht die ganze Familie weiß, scheint mir sicher, aber du bringst mich da auf einen Gedanken: vielleicht weiß es Aglaja. Und sie wird die einzige sein, die es weiß, denn auch die Schwestern waren verwundert, als sie mir mit solchem Ernst eine Empfehlung an den Vater auftrug. Und warum gerade an ihn? Wenn sie es weiß, dann muß es ihr der Fürst gesagt haben!«

»Es wird kein Kunststück sein, herauszubringen, wer es ihr gesagt hat! Ein Dieb! Das fehlte noch! Ein Dieb in unserer Familie, das ›Oberhaupt der Familie‹!«

»Ach, dummes Zeug!« rief Warja ganz ärgerlich. »Gerede Betrunkener, weiter nichts! Und wer hat es aufgebracht? Lebedew und der Fürst … selbst eine nette Sorte; gerade die rechten Kirchenlichter. Ich mache mir auch nicht so viel daraus.«

»Der Alte ein Dieb und Trunkenbold«, fuhr Ganja bitter fort, »ich ein Bettler, der Mann meiner Schwester ein Wucherer – das wäre etwas für Aglaja gewesen! Das muß man sagen: eine angenehme Sippschaft!«

»Und doch ist es dieser Mann deiner Schwester, der Wucherer, der dich…«

»Ernährt, nicht wahr? Bitte geniere dich nicht!«

»Warum bist du denn so ärgerlich?« erwiderte Warja. »Du verstehst auch gar nichts, du bist wie ein Schuljunge. Du meinst, all das hätte dir in Aglajas Augen schaden können? Da kennst du ihren Charakter schlecht; die wäre imstande, sich von dem besten Bewerber abzuwenden und mit Vergnügen zu irgendeinem Studenten auf die Dachkammer zu laufen, um da Hungers zu sterben, – das ist ihr Traum! Du hast nie begreifen können, wie interessant du in ihren Augen geworden wärest, wenn du es verstanden hättest, unsere kümmerliche Lage mit Festigkeit und Stolz zu ertragen. Bei dem Fürsten hat sie angebissen, erstens weil er es nicht darauf angelegt hatte, sie zu fangen, und zweitens weil er in den Augen aller ein Idiot ist. Schon allein, daß sie um seinetwillen ihre Familie in Aufregung versetzt, schon das ist ihr jetzt eine Freude. Ach, ihr versteht aber auch gar nichts!«

»Nun, das wollen wir noch sehen, ob wir etwas verstehen oder nicht«, murmelte Ganja rätselhaft. »Aber ich möchte doch nicht, daß sie das von dem Alten erfährt. Ich hatte gemeint, der Fürst würde sich beherrschen und es nicht weitererzählen. Er hat auch Lebedew veranlaßt, darüber zu schweigen, und wollte auch mir nicht alles sagen, als ich in ihn drang…«

»Also siehst du selbst, daß auch auf anderen Wegen alles schon bekanntgeworden ist. Was willst du jetzt noch weiter? Worauf hoffst du noch? Wenn dir überhaupt noch eine Hoffnung bliebe, so würde gerade dieser Vorfall dir nützen, indem er dir in ihren Augen das Ansehen eines Märtyrers verleihen würde.«

»Na, vor einem Skandal würde wohl auch sie zurückschrecken, trotz all ihrer Romantik. Es hat alles seine Grenzen, und alle Menschen gehen nur bis zu einem bestimmten Punkt, so seid ihr alle.«

»Aglaja würde zurückschrecken?« versetzte Warja heftig und blickte ihren Bruder geringschätzig an. »Hast du eine niedrige Denkungsart! Ihr seid allesamt nichts wert. Mag sie auch eine komische, wunderliche Person sein, aber dafür hat sie eine tausendmal anständigere Gesinnung als wir alle zusammen!«

»Na, schon gut, schon gut, ärgere dich nur nicht!« murmelte Ganja wieder selbstzufrieden.

»Mir tut nur die Mutter leid«, fuhr Warja fort. »Ich fürchte, daß diese Geschichte mit dem Vater ihr zu Ohren kommt. Ach ja, das fürchte ich!«

»Das ist gewiß schon geschehen«, bemerkte Ganja.

Warja stand auf, um zu Nina Alexandrowna nach oben zu gehen, blieb aber dann noch stehen und blickte ihren Bruder aufmerksam an.

»Wer kann es aber gewesen sein, der es ihr gesagt hat?«

»Wahrscheinlich Ippolit. Ich denke mir, er hat sich sofort, nachdem er zu uns übergesiedelt ist, eine Freude daraus gemacht, es der Mutter zu berichten.«

»Aber woher weiß er es denn? Das sag mir bitte! Der Fürst und Lebedew haben sich vorgenommen, es niemandem zu sagen, sogar Kolja weiß nichts davon.«

»Ippolit? Der hat es von selbst erfahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine listige Kreatur ist, was für ein Klatschweib, und was er für eine feine Nase hat, um alles Schlechte und Skandalöse zu wittern. Na, du magst es glauben oder nicht, ich bin überzeugt, daß er Aglaja schon ganz in seinen Händen hat! Und wenn es ihm noch nicht gelungen ist, so wird es ihm bald gelingen! Auch Rogoshin ist zu ihm in Beziehung getreten. Wie ist es nur möglich, daß der Fürst das nicht merkt! Und jetzt hat er die größte Lust, mich hineinzulegen! Er hält mich für seinen persönlichen Feind, das habe ich längst durchschaut. Warum nur? Und was hat er hier noch vor? Er wird ja bald sterben, – ich kann es nicht begreifen! Aber ich werde ihn hinters Licht führen; du wirst sehen, daß nicht er mich hineinlegt, sondern ich ihn.«

»Warum hast du ihn denn zu uns herübergelockt, wenn du ihn so haßt? Und ist er das überhaupt wert, daß du ihn hineinlegst?«

»Du bist es ja gewesen, die mir geraten hat, ihn zu uns herüberzulocken.«

»Ich glaubte, er würde uns nützlich sein; aber weißt du, daß er sich jetzt selbst in Aglaja verliebt und an sie geschrieben hat? Sie haben mich danach gefragt… fast hätte er auch noch an Lisaweta Prokofjewna geschrieben.«

»In dieser Hinsicht ist er nicht gefährlich!« sagte Ganja, boshaft lachend. »Übrigens ist da sicherlich etwas nicht in Ordnung. Daß er verliebt ist, ist sehr wohl möglich, denn er ist ein unreifes Bürschchen! Aber… anonyme Briefe wird er der Alten nicht schreiben. Eine boshafte, wertlose, selbstzufriedene Mittelmäßigkeit, das ist seine Charakteristik… Ich bin überzeugt, ja ich weiß sicher, daß er mich ihr als Intriganten geschildert hat; das ist das erste gewesen, was er getan hat. Ich muß bekennen, ich bin zuerst dumm genug gewesen, ihm zuviel von mir zu erzählen; ich meinte, er werde, schon um sich an dem Fürsten zu rächen, für meine Interessen eintreten; er ist eine so listige Kreatur! Oh, ich habe ihn jetzt völlig durchschaut. Von diesem Diebstahl aber hat er durch seine Mutter, die Hauptmannsfrau, gehört. Wenn der Alte sich zu einer solchen Tat hat entschließen können, so hat er es wegen der Hauptmannsfrau getan. Der Junge hat mir auf einmal ohne äußeren Anlaß mitgeteilt, der General habe seiner Mutter vierhundert Rubel versprochen; das hat er mir ohne äußeren Anlaß gesagt und ohne alle Umschweife. Da ist mir alles klargeworden. Und dabei hat er mir mit einem ganz besonderen Genuß in die Augen gesehen, und unserer Mama hat er es sicherlich ebenfalls gesagt, nur weil es ihm Vergnügen macht, ihr das Herz zu zerreißen. Und sage mir um alles in der Welt, warum stirbt er nicht? Er hat sich doch verpflichtet, in drei Wochen zu sterben, und nun hat er hier noch angefangen, dick zu werden! Er hört auf zu husten; gestern abend hat er selbst gesagt, er habe seit zwei Tagen kein Blut mehr gehustet.«

»Jag ihn weg!«

»Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn«, erwiderte Ganja stolz. »Nun ja, ja, ich gebe zu, daß ich ihn auch hasse!« rief er dann plötzlich in maßloser Wut. »Und das werde ich ihm ins Gesicht sagen, wenn er auf seinem Sterbebett in den letzten Zügen liegen wird! Wenn du seine Beichte gelesen hättest – o Gott, was für eine naive Frechheit! Das ist ja der Leutnant Pirogow, das ist Nosdrjow in einer Tragödie, und vor allen Dingen ein unreifer Bube! Oh, mit welchem Genuß hätte ich ihn damals durchgeprügelt, namentlich um ihn in Erstaunen zu versetzen! Jetzt rächt er sich an allen dafür, daß ihm sein Selbstmord damals nicht gelungen ist… Aber was ist das? Das ist ja schon wieder Spektakel! Ja, was hat denn das zu bedeuten? Ich kann das schließlich doch nicht länger dulden. Ptizyn!« rief er dem ins Zimmer tretenden Ptizyn zu. »Was ist denn das? Wie weit wird denn dieser Unfug bei uns noch gehen? Das… das …«

Aber der Lärm kam schnell näher; die Tür wurde aufgerissen, und der alte Iwolgin, vor Zorn dunkelrot und zitternd, stürzte ganz außer sich ebenfalls auf Ptizyn los. Dem Alten folgten Nina Alexandrowna, Kolja und hinter allen Ippolit.

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Kapitel 4

IV

Die Jepantschinschen Töchter waren alle drei gesunde, blühende, wohlgewachsene junge Damen mit gut entwickelter Brust und kräftigen, beinah männlichen Armen, und infolge ihrer Kraft und Gesundheit liebten sie es natürlich auch, manchmal tüchtig zu essen, was sie gar nicht zu verbergen suchten. Ihre Mama, die Generalin Lisaweta Prokofjewna, schnitt über den unverhohlenen Appetit der Töchter mitunter ein Gesicht; aber da viele ihrer Ansichten trotz allen äußeren Respekts, mit dem sie von den Kindern aufgenommen wurden, schon längst ihre ursprüngliche, unbestrittene Autorität bei diesen verloren hatten, und zwar in einem Maße, daß ein sich konstituierendes einmütiges Konklave der drei Töchter jedesmal den Sieg davontrug, so fand auch die Generalin im Interesse ihrer eigenen Würde es zweckmäßiger, nicht erst zu streiten, sondern gleich nachzugeben. Allerdings hatte sie ihrem ganzen Charakter nach oft keine Neigung, sich den Geboten der Vernunft unterzuordnen und sich zu fügen, denn Lisaweta Prokofjewna wurde von Jahr zu Jahr launischer und ungeduldiger, ja sogar ein wenig wunderlich; aber da immer noch der sehr gehorsame und wohldressierte Ehemann unter ihrer Herrschaft blieb, so ergoß sich, was an überschüssigem Mißmut sich bei ihr angesammelt hatte, gewöhnlich über sein Haupt, und damit war dann die Harmonie in der Familie wiederhergestellt, und alles ging den denkbar besten Gang.

Übrigens erfreute sich auch die Generalin selbst eines guten Appetits und nahm gewöhnlich um halb eins mit ihren Töchtern zusammen an einem reichlichen Frühstück teil, das bald einer Mittagsmahlzeit gleichkam. Eine Tasse Kaffee tranken die jungen Damen schon vorher, Punkt zehn Uhr, im Bett gleich nach dem Aufwachen. Das war ihnen eine liebe Gewohnheit und ein für allemal so festgesetzt. Um halb eins aber wurde der Tisch in dem kleinen Eßzimmer, neben den Zimmern der Mutter, gedeckt, und zu diesem Frühstück im engsten Familienkreise erschien manchmal auch der General selbst, wenn seine Zeit es erlaubte. Außer Tee, Kaffee, Käse, Honig, Butter, Koteletts und einer besonderen Art von Pfannkuchen, die die Generalin selbst sehr gern aß, wurde starke, heiße Bouillon serviert. An dem Morgen, an dem unsere Erzählung begonnen hat, war die ganze Familie im Eßzimmer versammelt und wartete auf den General, der versprochen hatte, um halb eins zu erscheinen. Hätte er sich auch nur um eine Minute verspätet, so wäre sofort nach ihm geschickt worden; aber er erschien pünktlich. Als er an seine Frau herantrat, um sie zu begrüßen und ihr die Hand zu küssen, bemerkte er diesmal in ihrem Gesicht etwas ganz Besonderes. Und obgleich er schon am vorhergehenden Abend ein Vorgefühl gehabt hatte, daß heute wegen einer gewissen »Geschichte« (so pflegte er selbst sich auszudrücken) etwas kommen werde, und schon gestern beim Einschlafen unruhig gewesen war, so bekam er es doch jetzt wieder mit der Angst zu tun. Die Töchter traten an ihn heran, um ihn zu küssen, und obwohl sie ihn keineswegs böse ansahen, so glaubte er doch auch in ihren Gesichtern einen eigentümlichen Ausdruck wahrzunehmen. Allerdings war der General infolge gewisser früherer Vorfälle allzu argwöhnisch geworden, aber als erfahrener und lebenskluger Vater und Gatte ergriff er sofort seine Maßnahmen.

Vielleicht verderben wir das Relief unserer Erzählung nicht allzusehr, wenn wir jetzt haltmachen und durch einige hilfreiche Bemerkungen eine wahrhafte und genaue Erklärung der gegenseitigen Beziehungen und der Verhältnisse geben, in denen wir die Familie des Generals Jepantschin beim Beginn unserer Geschichte vorfinden. Wir haben bereits oben gesagt, daß der General zwar kein sehr gebildeter, sondern, wie er selbst sich ausdrückte, nur ein »selbstunterrichteter« Mann, dabei aber doch ein erfahrener Gatte und lebenskluger Vater war. Unter anderm hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, seine Töchter nicht zum Heiraten zu drängen, also ihnen nicht ständig zuzusetzen und sie mit seiner väterlichen Sorge um ihr Lebensglück zu quälen, wie das unwillkürlich und natürlicherweise fortwährend selbst in den verständigsten Familien geschieht, in denen sich erwachsene Töchter ansammeln. Er hatte es sogar erreicht, daß Lisaweta Prokofjewna sein System akzeptierte, obgleich es ihm schwer genug geworden war, schwer deswegen, weil dieses Verfahren eben ein unnatürliches ist; aber die Argumente des Generals waren doch äußerst gewichtig und stützten sich auf greifbare Tatsachen. Er sagte, Mädchen, die man in dieser Hinsicht völlig unbehelligt lasse, müßten naturgemäß einmal zu ernstem Nachdenken kommen, und dann gehe die Sache schnell vonstatten, weil sie sie mit Eifer betrieben und alle Launen und überflüssigen Mäkeleien beiseite ließen. Die Eltern hätten dann weiter nichts zu tun, als unablässig und möglichst unmerkbar darüber zu wachen, daß es nicht zu einer absonderlichen Wahl oder unnatürlichen Neigung komme, und dann nach Abpassung des richtigen Augenblicks mit einemmal kräftig nachzuhelfen und die Sache unter Aufbietung aller Hilfsmittel in Ordnung zu bringen. Schließlich war auch zu erwägen, daß das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Generalsfamilie von Jahr zu Jahr in geometrischer Progression stieg: je mehr Zeit also verging, um so günstiger gestalteten sich auch die Heiratsaussichten der Töchter. Aber mitten unter all diese unbestreitbaren Tatsachen trat noch eine andere Tatsache: die älteste Tochter Alexandra vollendete plötzlich und fast ganz unerwartet (wie das immer so zu geschehen pflegt) das fünfundzwanzigste Lebensjahr. Fast zu derselben Zeit sprach Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ein Mann aus den höchsten Gesellschaftskreisen, mit vortrefflichen Verbindungen und außerordentlich reich, wieder seinen langgehegten Wunsch aus zu heiraten. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und besaß einen ausgezeichneten Charakter sowie einen ungewöhnlich feinen Geschmack. Er wollte sich gut verheiraten; er war ein vorzüglicher Kenner weiblicher Schönheit. Da er seit einiger Zeit mit dem General Jepantschin eng befreundet war, wozu ihre beiderseitige Teilnahme an gewissen finanziellen Unternehmungen wesentlich beitrug, so richtete er an diesen, gewissermaßen mit der Bitte um freundschaftlichen Rat und Anleitung, die Frage, ob er einer seiner Töchter einen Heiratsantrag machen dürfe. Dies führte in dem bisher so still und schön verlaufenen Familienleben des Generals Jepantschin einen sichtbaren Umschwung herbei.

Unbestritten die Schönste in der Familie war, wie schon gesagt, die Jüngste, Aglaja. Aber sogar Tozkij selbst mußte sich trotz seines starken Selbstgefühls sagen, daß er hier nicht anklopfen dürfe und daß Aglaja vom Schicksal nicht für ihn bestimmt sei. Vielleicht ging die blinde Liebe und allzu glühende Freundschaft der Schwestern hier allzu weit, jedenfalls waren sie sich schon im voraus in aufrichtiger Überzeugung darüber einig, daß Aglajas Schicksal nicht von gewöhnlicher Art, sondern das denkbar schönste Ideal eines irdischen Paradieses sein müsse. Aglajas künftiger Mann müsse, vom Reichtum ganz abgesehen, alle erdenklichen Vorzüge und Erfolge in sich vereinigen. Die Schwestern hatten sich sogar, und zwar ohne viel Worte zu machen, dahin geeinigt, wenn es nötig sein sollte, ihrerseits zu Aglajas Gunsten ein Opfer zu bringen: Aglaja sollte eine kolossale Mitgift erhalten, eine erheblich größere als sie beide. Die Eltern wußten von dieser Übereinkunft der beiden älteren Schwestern und hegten daher, als Tozkij jene Bitte um Rat aussprach, fast keinen Zweifel, daß eine der beiden älteren Schwestern die elterlichen Wünsche erfüllen würde, um so mehr, als von Afanassij Iwanowitschs Seite Schwierigkeiten bezüglich der Mitgift unmöglich zu erwarten waren. Tozkijs Antrag hatte der General selbst mit der ihm eigenen Lebensklugheit sofort als außerordentlich wertvoll erkannt. Da aber Tozkij selbst vorläufig aus gewissen besonderen Gründen in seinem Vorgehen die allergrößte Vorsicht beobachtete und zunächst nur den Boden sondierte, so hatten auch die Eltern den Töchtern bisher nur ganz vage Andeutungen gemacht. Als Antwort hatten sie von ihnen die gleichfalls nicht ganz bestimmte, aber doch wenigstens beruhigende Erklärung erhalten, daß die Älteste, Alexandra, wohl nicht nein sagen würde. Sie war ein zwar charakterfestes, aber dabei doch gutherziges, verständiges und sehr verträgliches Mädchen; sie wäre sogar ganz gern Tozkijs Frau geworden, und wenn sie einmal ihr Wort gegeben hätte, so hätte sie es ehrlich gehalten. Glanz und Pracht liebte sie nicht; ihr Mann hatte von ihr keine steten Sorgen, keine schroffe Sinnesänderung zu befürchten; sie konnte ihm sogar ein angenehmes, ruhiges Leben verschaffen. Ihre äußere Erscheinung war sehr hübsch, wenn auch nicht gerade aufsehenerregend. Wo konnte es für Tozkij eine bessere Frau geben?

Und doch kam die Sache nur äußerst langsam vom Fleck. Tozkij und der General waren beiderseits in aller Freundschaft zu dem Entschluß gelangt, vorläufig jeden formellen, unwiderruflichen Schritt zu unterlassen. Selbst die Eltern sprachen mit den Töchtern immer noch nicht ganz offen über die Angelegenheit, vielmehr hatte sich eine Art von Dissonanz herausgebildet: die Mutter, die Generalin Jepantschina, war aus einem gewissen Grunde unzufrieden geworden, und das war doch von großer Wichtigkeit. Es lag da ein hinderlicher Umstand vor, eine verwickelte, widerwärtige Sache, durch die das ganze Projekt möglicherweise unwiederbringlich zum Scheitern gebracht wurde.

Dieser verwickelte, widerwärtige »Kasus« (wie Tozkij selbst sich ausdrückte) reichte in seinen Anfängen sehr weit, zwei, selbst drei Monate lang. So verging eine ziemlich lange Zeit, wohl vier Jahre, ruhigen und glücklichen, schönen und genußreichen Lebens.

Eines Tages – es war zu Anfang des Winters, ungefähr vier Monate, nachdem Afanassij Iwanowitsch im Sommer wieder in »Otradnoje« zu Besuch gewesen war, wo er sich jedoch diesmal nur vierzehn Tage aufgehalten hatte – ereignete es sich, daß irgendwie zu Nastasja Filippownas Ohren ein Gerücht drang, daß Afanassij Iwanowitsch in Petersburg im Begriff sei, eine schöne, reiche, vornehme Dame zu heiraten, kurz, eine solide, glänzende Partie zu machen. Es stellte sich dann heraus, daß dieses Gerücht nicht in allen Einzelheiten mit der Wirklichkeit übereinstimmte: die Heirat war erst in Aussicht genommen und alles noch sehr unbestimmt, aber in Nastasja Filippownas Wesen ging seitdem doch eine gewaltige Wandlung vor. Sie zeigte auf einmal eine große Entschlossenheit und legte eine ganz unerwartete Energie an den Tag. Ohne sich lange zu besinnen, verließ sie ihr kleines Gutshaus, reiste völlig allein nach Petersburg und begab sich dort geradeswegs zu Tozkij. Dieser war äußerst erstaunt und fing an, mit ihr zu reden; aber fast vom ersten Wort an stellte es sich heraus, daß er die ganze Art, in der er sonst mit ihr geredet hatte, ändern mußte: die Ausdrucksweise, den Stimmklang, die bisher so erfolgreich benutzten Themen netter, angenehmer Gespräche, die Form der logischen Schlußfolgerungen, kurz alles, alles, alles! Vor ihm saß ein ganz anderes weibliches Wesen, das keinerlei Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, das er bisher gekannt und erst im Juli in »Otradnoje« verlassen hatte.

Erstens wußte und verstand dieses neue Weib, wie sich herausstellte, außerordentlich viel, so viel, daß man höchst erstaunt sein mußte, wie sie es möglich gemacht hatte, sich ein solches Wissen anzueignen und sich so klare Anschauungen zu erarbeiten. (Hatte ihr wirklich ihre Mädchenbibliothek dazu verholfen?) Und damit nicht genug: sie verstand auch sehr viel von juristischen Dingen und besaß sichere Kenntnisse, wenn auch nicht von der menschlichen Gesellschaft, so doch von dem Gang, den gewisse Dinge in der menschlichen Gesellschaft nehmen. Zweitens aber hatte sich ihr Charakter gegen früher vollständig geändert: es war keine Rede mehr von jenem schüchternen, unsicheren Mädchentyp, der bald durch seine originelle Munterkeit und Naivität bezaubert, bald trüb und melancholisch, erstaunt und mißtrauisch, unruhig und zum Weinen geneigt ist.

Nein, diejenige, die ihm da ins Gesicht lachte und ihn mit beißendem Spott verwundete, war ein fremdes, überraschendes Wesen. Nastasja erklärte ihm geradezu, sie habe ihm gegenüber in ihrem Herzen nie etwas anderes empfunden als tiefste Verachtung; dieses bis zum Ekel gesteigerte Gefühl sei bei ihr gleich nach dem ersten Erstaunen eingetreten. Dieses neue Weib erklärte ihm, es sei ihr eigentlich vollständig gleichgültig, ob er sich jetzt verheirate und mit wem; aber doch sei sie hergekommen, um ihm diese Heirat zu verbieten, und zwar einfach aus Bosheit, einzig und allein, weil es ihr so gefalle, und folglich müsse es nun so sein. »Und wär’s auch nur, damit ich über dich lachen kann, soviel ich will«, sagte sie, »denn jetzt habe auch ich schließlich Lust bekommen zu lachen.«

So wenigstens drückte sie sich aus; vielleicht hatte sie damit nicht einmal alles, was sie dachte, ausgesprochen. Aber während die neue Nastasja Filippowna höhnisch lachte und ihm all dies auseinandersetzte, überdachte Afanassij Iwanowitsch diese Angelegenheit für sich und brachte seine ein wenig durcheinandergeworfenen Gedanken nach Möglichkeit wieder in Ordnung. Diese Erwägungen dauerten ziemlich lange; er brauchte zu seinen Überlegungen und zum Fassen eines endgültigen Entschlusses fast zwei Wochen: aber nach zwei Wochen hatte er sich auch entschieden. Afanassij Iwanowitsch war damals schon ungefähr fünfzig Jahre alt und ein höchst solider, gesetzter Mann. Seine Stellung in der Welt und in der Gesellschaft war schon seit langer Zeit auf die festesten Fundamente gegründet. Sich selbst sowie seine Ruhe und Bequemlichkeit liebte und schätzte er über alles in der Welt, wie sich das auch für einen im höchsten Grad anständigen Menschen schickte. Diesen Zustand, der sich durch sein ganzes bisheriges Leben konsolidiert und eine so schöne Form angenommen hatte, war er nicht gewillt, auch nur im geringsten sich selbst auf häßliche Weise, etwa durch Sibirien und Zuchthaus, unwiederbringlich zugrunde zu richten, nur um den Menschen zu beschimpfen, gegen den sie einen so unmenschlichen Haß nährte. Afanassij Iwanowitsch hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er ein wenig feige oder, besser ausgedrückt, in höchstem Grade konservativ war. Hätte er zum Beispiel gewußt, daß man ihn auf seiner Hochzeit ermorden würde oder sich dabei sonst etwas sehr Unpassendes, Lächerliches und in der Gesellschaft nicht Übliches ereignen würde, so hätte er gewiß einen großen Schreck bekommen, aber nicht so sehr darüber, daß man ihn ermorden, ihn schwer verwunden oder ihm vor aller Augen ins Gesicht speien würde und so weiter und so weiter, als vielmehr darüber, daß ihm dies unter Verletzung allen Brauches und Anstandes widerfahren würde. Und gerade so etwas war von Nastasja Filippowna zu erwarten, obwohl sie noch darüber schwieg; aber er wußte, daß sie ihn durch und durch kannte und folglich wußte, wie sie ihn am empfindlichsten treffen konnte. Und da die Heirat in der Tat bisher nur in Aussicht genommen war, so gab Afanassij Iwanowitsch nach und fügte sich der Forderung Nastasja Filippownas.

Zu seinem Entschluß wirkte auch noch ein anderer Umstand mit: man konnte kaum begreifen, wie wenig das Gesicht dieser neuen Nastasja Filippowna noch dem früheren glich. Früher war sie nur ein recht hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt … Tozkij konnte es sich lange Zeit nicht verzeihen, daß er sie vier Jahre lang angesehen hatte, ohne ihr Gesicht richtig zu erfassen. Allerdings fällt es in solchen Fällen auch sehr ins Gewicht, wenn auf beiden Seiten eine plötzliche innere Umwandlung vorgeht. Übrigens erinnerte er sich auch an einzelne Momente in der Vergangenheit, wo ihm manchmal sonderbare Gedanken gekommen waren, wenn er zum Beispiel in diese Augen blickte: man konnte in ihnen sozusagen eine tiefe, geheimnisvolle Finsternis ahnen. Diese Augen blickten, als ob sie einem ein Rätsel aufgäben. In den letzten zwei Jahren hatte er sich oft über die Veränderung gewundert, die mit Nastasja Filippownas Gesichtsfarbe vorgegangen war: sie war erschreckend blaß, merkwürdigerweise aber dadurch sogar noch schöner geworden. Tozkij, der wie alle Lebemänner anfangs mit Geringschätzung daran gedacht hatte, wie billig ihm dieses lebensunkundige Wesen zugefallen war, war in der letzten Zeit an der Richtigkeit seiner Ansicht einigermaßen irre geworden. Jedenfalls hatte er noch im letzten Frühjahr beabsichtigt, Nastasja Filippowna in Bälde mit irgendeinem verständigen, ordentlichen, in einem anderen Gouvernement angestellten Beamten gut zu verheiraten und ihr eine hübsche Summe als Mitgift zu geben. (Oh, wie schrecklich und boshaft lachte Nastasja Filippowna jetzt über diesen Plan!) Aber jetzt war Afanassij Iwanowitsch, entzückt über ihren neuen Reiz, sogar auf den Gedanken gekommen, ob er aus diesem Weib nicht von neuem Vorteil ziehen könne. Er beschloß, Nastasja Filippowna in Petersburg wohnen zu lassen und mit allem Komfort und Luxus zu umgeben. Konnte er das eine nicht haben, so wenigstens das andere: mit einer Nastasja Filippowna konnte man sich schon sehen lassen und sich in gewissen Kreisen sogar ein feines Renommee erwerben. In diesem Punkt aber legte Afanassij Iwanowitsch auf sein Renommee großen Wert.

Jetzt wohnte nun Nastasja Filippowna schon fünf Jahre in Petersburg, und natürlich hatte in diesem langen Zeitraum vieles sich geklärt und eine bestimmtere Gestalt angenommen. Afanassij Iwanowitschs Lage war wenig tröstlich; das schlimmste war dabei, daß er, nachdem er sich einmal feige gezeigt hatte, sich gar nicht wieder beruhigen konnte. Er fürchtete sich – und wußte selbst nicht einmal wovor; er fürchtete sich einfach vor Nastasja Filippowna. Eine Zeitlang, nämlich während der beiden ersten Jahre, hatte er geargwöhnt, daß Nastasja Filippowna selbst den Wunsch hege, ihn zu heiraten, aber infolge ihres außergewöhnlichen Hochmuts schweige und beharrlich auf seinen Antrag warte. Das wäre ja von ihrer Seite ein sonderbares Ansinnen gewesen, aber Afanassij Iwanowitsch war argwöhnisch geworden: er runzelte die Stirn und überließ sich seinen trüben Gedanken. Zu seiner großen und (so ist das Menschenherz nun einmal!) ihm einigermaßen unangenehmen Überraschung überzeugte er sich jedoch bei einer bestimmten Gelegenheit davon, daß, auch wenn er ihr seine Hand anböte, sie sie nicht annehmen würde. Lange Zeit Familie und hatte sich bis zum Pfandleiher hinaufgearbeitet. Schließlich wurde auch Gawrila Ardalionowitsch mit ihr bekannt … Das Resultat war, daß Nastasja Filippowna eine eigenartige Berühmtheit erlangte: jedermann wußte von ihrer Schönheit, aber das war auch alles: niemand konnte sich rühmen, etwas bei ihr erreicht zu haben, niemand Nachteiliges über sie erzählen. Durch dieses Renommee und durch ihre Bildung, ihr feines Benehmen und ihren scharfen Verstand, durch alles dies ließ sich Afanassij Iwanowitsch in der Absicht bestärken, einen gewissen Plan durchzuführen. Bis zu diesem Punkt hatten sich die Dinge entwickelt, als General Jepantschin selbst daran tätigen, hervorragenden Anteil zu nehmen begann.

Tozkij legte, als er sich in so liebenswürdiger Weise an ihn mit der Bitte um seinen Rat hinsichtlich einer seiner Töchter wandte, ihm durchaus ehrenhaft ein vollständiges und offenherziges Bekenntnis ab. Er eröffnete ihm, daß er entschlossen sei, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um seine Freiheit wiederzuerlangen; er werde sich nicht damit zufriedengeben, wenn sogar Nastasja Filippowna selbst ihm die Versicherung geben sollte, ihn künftig ganz in Ruhe lassen zu wollen; mit Worten werde er sich nicht zufriedengeben; er brauche eine vollständige Garantie. So verbündeten sich denn die beiden und beschlossen, gemeinsam vorzugehen. Sie entschieden sich dafür, es zuerst mit den mildesten Mitteln zu versuchen und sozusagen nur die »edelsten Saiten« in Nastasja Filippownas Herzen anzurühren. Beide fuhren zu ihr, und Tozkij begann geradeheraus mit der Erklärung, seine Lage sei ihm unerträglich geworden; er gestand, daß er selbst an allem schuld sei, sprach es offen aus, daß er nicht umhin könne, sein früheres Verhalten gegen sie zu bereuen; aber er sei eben ein eingefleischter Genußmensch und habe sich selbst nicht in der Gewalt. Jetzt aber wolle er heiraten, und das ganze Schicksal dieser im höchsten Grade wohlanständigen, noblen Ehe liege in ihren Händen; kurz, er erwarte alles von ihrem Edelmut. Dann begann in seiner Eigenschaft als Vater General Jepantschin zu reden; er sprach verstandesmäßig, unter Vermeidung des rührenden Elements, erwähnte nur, daß er seinerseits durchaus ihr Recht anerkenne, über Afanassij So, wie sie jetzt lebe, werde sie ihre vielleicht glänzenden Fähigkeiten zugrunde richten; sie liebäugle aus freien Stücken mit ihrem Grame und gebe sich einer romantischen Überspannung hin, die weder ihres klaren Verstandes noch ihres edlen Herzens würdig sei. Er wiederholte noch einmal, niemandem könne es peinlicher sein, davon zu reden, als ihm, und schloß, er könne nicht die Hoffnung aufgeben, daß Nastasja Filippowna ihm nicht mit Verachtung antworten werde, wenn er ihr seinen aufrichtigen Wunsch ausspreche, ihr Geschick für die Zukunft sicherzustellen, und ihr eine Summe von fünfundsiebzigtausend Rubel anbiete. Er fügte zur Erklärung hinzu, die Summe sei ihr unter allen Umständen bereits in seinem Testament zugedacht; kurz, es handle sich hier ganz und gar nicht um irgendwelche Entschädigung… Warum wolle sie schließlich nicht glauben, daß er den menschlich verständlichen Wunsch habe, wenigstens irgendwie sein Gewissen zu erleichtern und so weiter und so weiter. Und so brachte er alles vor, was eben in ähnlichen Fällen über dieses Thema gesagt zu werden pflegt. Afanassij Iwanowitsch sprach lange und mit Aufgebot seiner ganzen Redekunst; dabei ließ er noch so beiläufig die interessante Bemerkung einfließen, daß er von diesen fünfundsiebzigtausend Rubel jetzt zum erstenmal habe ein Wort fallenlassen und daß selbst der hier danebensitzende Iwan Fjodorowitsch bisher nichts davon gewußt habe; kurz, daß überhaupt niemand etwas davon wisse.

Nastasja Filippownas Antwort setzte die beiden Freunde in Erstaunen.

Da war nicht die geringste Spur von ihrer früheren Spottlust, Feindseligkeit und haßerfüllten Gesinnung, keine Spur von jenem früheren Lachen, von dem immer noch bei der bloßen Erinnerung dem armen Tozkij ein kalter Schauder über den Rücken lief. Nein, ganz im Gegenteil: sie schien sich sogar darüber zu freuen, daß sie endlich mit jemand offenherzig und freundschaftlich reden könne. Sie gestand, daß sie selbst schon lange gewünscht habe, um einen freundschaftlichen Rat zu bitten; nur ihr Stolz habe sie davon zurückgehalten, aber jetzt, wo das Eis gebrochen sei, könne ihr nichts erwünschter sein. Anfangs mit einem Frage, ob diese sie freudig in ihre Familie aufnehmen würden. Alles in allem sage sie nichts gegen die Möglichkeit dieser Ehe; aber das bedürfe noch längerer Überlegung, und sie wünsche nicht, daß man sie dränge. Was die fünfundsiebzigtausend Rubel anlange, so habe sich Afanassij Iwanowitsch unnötigerweise soviel Mühe gegeben, darüber zu reden. Sie kenne selbst den Wert des Geldes und werde die Summe natürlich annehmen. Sie danke Afanassij Iwanowitsch für sein Zartgefühl, daß er nicht nur Gawrila Ardalionowitsch, sondern auch dem General gegenüber nicht davon gesprochen habe, wiewohl eigentlich kein Grund vorhanden sei, weshalb der erstere davon nicht vorher Kenntnis haben solle. Wenn sie in seine Familie eintrete, so habe sie keinen Anlaß, sich dieses Geldes zu schämen. Jedenfalls beabsichtige sie nicht, irgend jemand wegen irgend etwas um Verzeihung zu bitten, und wünsche, daß alle dies wüßten. Sie werde Gawrila Ardalionowitsch nicht eher heiraten, als bis sie die Überzeugung gewonnen habe, daß weder er noch seine Angehörigen irgendwelche heimlichen Ansichten über sie hegten. Jedenfalls meine sie, daß sie an nichts eine Schuld trage; und es wäre sehr gut, wenn Gawrila Ardalionowitsch erführe, in welcher Art sie diese ganzen fünf Jahre hindurch in Petersburg gelebt, in welchen Beziehungen sie während dieser Zeit zu Afanassij Iwanowitsch gestanden und ob sie viel Vermögen angesammelt habe. Wenn sie schließlich das Kapital jetzt annehme, so sehe sie es durchaus nicht als Bezahlung für den Verlust ihrer jungfräulichen Ehre an, an dem sie keine Schuld trage, sondern einfach als eine Entschädigung für das Leben, das ihr dadurch verdorben worden sei.

Sie geriet sogar (was übrigens nur natürlich war) bei all diesen Darlegungen so in Hitze und Erregung, daß General Jepantschin sehr zufrieden war und die Sache für erledigt hielt; aber Tozkij, der nun einmal ängstlich geworden war, traute dem Frieden auch jetzt noch nicht ganz und fürchtete immer noch, es könnte unter den Blumen eine Schlange verborgen sein. Dennoch begannen die Unterhandlungen; derjenige Punkt, auf dem das ganze Manöver der beiden Freunde beruhte, nämlich die Möglichkeit, Nastasja für Ganja zu interessieren, gewann allmählich eine klarere, liederliche Frauenzimmer« zu heiraten, aber sich selbst im stillen geschworen habe, sich später dafür bitter an ihr zu rächen und sie schwer »büßen zu lassen«, wie er sich selbst ausgedrückt habe. Alles dies wisse Nastasja Filippowna und bereite im geheimen irgend etwas vor. Tozkij war dermaßen beängstigt, daß er nicht einmal dem General Jepantschin etwas von seinen Befürchtungen mitteilte; aber es kamen auch Augenblicke vor, in denen er, wie das schwachherzige Menschen zu tun pflegen, den Kopf wieder aufrichtete und schnell neuen Mut faßte; so ermutigte es ihn zum Beispiel außerordentlich, als Nastasja Filippowna endlich den beiden Freunden das Versprechen gab, sie werde am Abend ihres Geburtstages das entscheidende Wort sprechen.

Aber dagegen erwies sich ein ganz seltsames und ganz unglaubliches Gerücht, das den achtenswerten Iwan Fjodorowitsch selbst betraf, leider mehr und mehr als richtig. Auf den ersten Blick erschien dabei alles als der barste Unsinn. Es war schwer zu glauben, daß Iwan Fjodorowitsch bei seinem würdigen Alter, bei seinem vortrefflichen Verstand und seiner praktischen Lebenskenntnis und so weiter und so weiter sich in Nastasja Filippowna verliebt haben sollte, und zwar gleich dermaßen, daß diese wunderliche Verirrung fast zu einer Leidenschaft wurde. Worauf er dabei seine Hoffnungen gründete, das war schwer auszudenken; vielleicht sogar auf Ganjas eigenen Beistand. Tozkij vermutete wenigstens etwas Derartiges; er vermutete, daß eine beinahe ohne Worte abgeschlossene, auf gegenseitigem Verständnis beruhende Verabredung zwischen dem General und Ganja bestehe. Übrigens ist bekannt, daß ein Mensch, der in den Bann einer Leidenschaft gerät, namentlich wenn er schon bei Jahren ist, vollständig blind wird und sich Hoffnungen macht, wo für ihn nicht die geringste Aussicht ist, ja alles gesunde Urteil verliert und, obwohl sonst ein Ausbund von Klugheit, nun wie ein törichtes Kind handelt. Man wußte, daß der General vorhatte, Nastasja Filippowna zu ihrem Geburtstage einen wundervollen Perlenschmuck zu schenken, der ein gewaltiges Geld kostete, und sich von diesem Geschenk viel versprach, obgleich er Nastasja Filippownas Uneigennützigkeit kannte. Am Abend vor ihrem Geburtstag war er wie im Fieber, obwohl er sich geschickt beherrschte. Von eben diesem Perlenschmuck hatte auch die Generalin Jepantschina gehört. Allerdings hatte Lisaweta Prokofjewna schon seit längerer Zeit Proben von der Flatterhaftigkeit ihres Gatten gehabt und sich sogar zum Teil daran gewöhnt, aber eine solche Gelegenheit durfte sie nicht unbenutzt vorübergehen lassen: das Gerücht von dem Perlenschmuck regte sie außerordentlich auf. Der General merkte das zum Glück noch rechtzeitig, da die Generalin schon am Abend vor dem Geburtstag ein paar Anspielungen darauf machte; er ahnte, daß die eigentliche Auseinandersetzung ihm noch bevorstand, und fürchtete sich davor. Dies war der Grund, weshalb er an dem Morgen, mit dem wir unsere Erzählung begonnen haben, schlechterdings keine Lust verspürte, im Kreise der Familie sein Frühstück einzunehmen. Noch bis zur Ankunft des Fürsten war er entschlossen gewesen, sich mit dringenden Geschäften zu entschuldigen und der Sache aus dem Wege zu gehen. Aus dem Wege gehen bedeutete bei dem General manchmal nichts anderes als die Flucht ergreifen. Er wollte wenigstens diesen einen Tag und namentlich den heutigen Abend ohne Unannehmlichkeiten genießen. Da stellte sich plötzlich, wie gerufen, der Fürst ein. ›Den hat mir Gott gesandt!‹ dachte der General im stillen, als er zu seiner Gemahlin ins Zimmer trat.

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Kapitel 40

II

Ippolit war schon vor fünf Tagen in Ptizyns Haus übergesiedelt. Das hatte sich in ganz natürlicher Weise so ergeben, ohne viele Worte und ohne irgendwelches Zerwürfnis zwischen ihm und dem Fürsten; sie hatten sich nicht gezankt, sondern waren sogar äußerlich als gute Freunde voneinander geschieden. Gawrila Ardalionowitsch, der an dem damaligen Abend eine so feindliche Haltung gegen Ippolit eingenommen hatte, war schon am dritten Tag nach jenem Ereignis gekommen, um den Kranken zu besuchen, wobei er sich wahrscheinlich durch irgendeinen Einfall leiten ließ, der ihm plötzlich gekommen war. Aus irgendeinem Grund hatte auch Rogoshin angefangen, dem Kranken Besuche zu machen. Der Fürst war in der ersten Zeit der Meinung gewesen, daß es für den »armen Knaben« sogar das beste sein würde, wenn er aus seinem Hause wegzöge. Aber schon während seines Umzuges hatte sich Ippolit dahin geäußert, er siedele zu Ptizyn über, der »so freundlich« sei, ihm »Unterkunft zu gewähren«, und hatte wie mit Absicht niemals gesagt, er ziehe zu Ganja, obgleich gerade Ganja darauf gedrungen hatte, daß er ins Haus aufgenommen wurde. Ganja hatte das gleich damals beachtet, es übelgenommen und sich ins Gedächtnis eingeprägt.

Er hatte recht, als er zu seiner Schwester sagte, der Kranke habe sich erholt. Tatsächlich ging es Ippolit etwas besser als vorher, was man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte. Er trat langsam in das Zimmer ein, hinter den andern, mit einem spöttischen, häßlichen Lächeln auf dem Gesicht. Nina Alexandrowna sah sehr erschrocken aus. (Sie hatte sich im letzten halben Jahr sehr verändert, sie war stark abgemagert; seit sie ihre Tochter verheiratet hatte und zu ihr gezogen war, hatte sie fast ganz aufgehört, sich äußerlich in die Angelegenheiten ihrer Kinder einzumischen.) Koljas Miene war sorgenvoll und zeigte verständnislose Verwunderung; er begriff vieles von den »irren Reden« des Generals nicht, wie er sich ausdrückte, und das war auch natürlich, da er die Hauptursachen dieser neuen Aufregung in der Familie nicht kannte. Aber es war ihm klar, daß der Vater jetzt Stunde für Stunde und überall dermaßen krakeelte und sich auf einmal so stark verändert hatte, daß man meinen konnte, er sei ein ganz anderer Mensch geworden. Es beunruhigte ihn auch, daß der Alte in den letzten drei Tagen ganz aufgehört hatte zu trinken. Er wußte, daß er sich mit Lebedew und dem Fürsten überworfen und sogar gezankt hatte. Kolja war soeben mit einer Flasche Branntwein nach Hause zurückgekehrt, die er für sein eigenes Geld gekauft hatte.

»Wirklich, Mama«, hatte er noch oben zu Nina Alexandrowna gesagt, »wirklich, mag er lieber trinken! Er hat jetzt schon seit drei Tagen keinen Branntwein angerührt; er muß einen stillen Kummer haben. Wirklich, wir wollen ihn lieber trinken lassen; ich habe ihm ja auch ins Schuldgefängnis Branntwein gebracht…«

Der General öffnete die Tür sperrangelweit und stellte sich, zitternd vor Entrüstung, auf die Schwelle.

»Mein Herr!« schrie er mit donnernder Stimme seinem Schwiegersohn Ptizyn zu, »wenn Sie tatsächlich beschlossen haben, einen achtenswerten alten Mann, Ihren Vater, das heißt wenigstens den Vater Ihrer Frau, der seinem Kaiser treu gedient hat, so einem Milchbart und Atheisten aufzuopfern, so wird mein Fuß von dieser Stunde an die Schwelle Ihres Hauses nie wieder betreten. Wählen Sie, mein Herr, wählen Sie unverzüglich: entweder ich oder dieser… dieser Bohrer! Ja, dieser Bohrer! Der Ausdruck ist mir zufällig in den Mund gekommen, aber er ist ein Bohrer! Denn er wühlt wie ein Bohrer in meiner Seele herum, ohne allen Respekt… ja, wie ein Bohrer!«

»Bin ich nicht eher ein Korkenzieher?« fragte Ippolit.

»Nein, kein Korkenzieher, denn du hast einen General vor dir und keine Flasche. Ich besitze Orden und Ehrenzeichen, aber du, du hast nichts, gar nichts. Entweder er oder ich! Entscheiden Sie sich, mein Herr, sofort, sofort!« schrie er Ptizyn wieder wütend an.

In diesem Augenblick stellte ihm Kolja einen Stuhl hin, und er sank fast ganz erschöpft auf ihn nieder.

»Es wäre wirklich das beste, wenn Sie sich schlafen legten«, murmelte Ptizyn, der ganz betäubt war.

»Er droht noch!« sagte Ganja halblaut zu seiner Schwester.

»Schlafen legen!« schrie der General. »Ich bin nicht betrunken, mein Herr, Sie beleidigen mich. Ich sehe«, fuhr er, wieder aufstehend, fort, »ich sehe, daß hier alle gegen mich sind, alle. Genug! Ich gehe … Aber wissen Sie, mein Herr, wissen Sie…«

Man ließ ihn nicht zu Ende reden und veranlaßte ihn, sich wieder hinzusetzen; man bat ihn, sich zu beruhigen. Ganja ging wütend in eine Ecke. Nina Alexandrowna zitterte und weinte.

»Aber was habe ich ihm denn getan? Worüber beklagt er sich denn?« rief Ippolit grinsend.

»Sie hätten ihm nichts getan?« sagte Nina Alexandrowna. »Es ist von Ihnen eine besondere Schändlichkeit und… Unmenschlichkeit, einen alten Mann zu quälen… und noch dazu in Ihrer Lage.«

»Erstens, von welcher Art ist denn meine Lage? Ich schätze Sie, gerade Sie persönlich, sehr hoch, aber…«

»Er ist ein Bohrer!« schrie der General. »Er bohrt in meiner Seele und meinem Herzen herum! Er will, daß ich an den Atheismus glauben soll! Weißt du wohl, du Milchbart, daß ich schon mit Ehren überschüttet war, als du noch gar nicht geboren warst! Du bist weiter nichts als ein neidischer Wurm, der in zwei Stücke zerrissen ist und hustet… und vor Bosheit und Unglauben stirbt… Warum hat dich Ganja bloß hierhergebracht? Alle sind sie gegen mich, von den Fremden angefangen bis zu meinem eigenen Sohn!«

»So hören Sie doch auf mit dem falschen Pathos!« rief Ganja. »Sie sollten nicht in der ganzen Stadt Schande über uns bringen, das wäre besser!«

»Wie? Ich bringe Schande über dich, du Milchbart? Über dich? Ich kann dir nur Ehre bringen, aber keine Unehre!«

Er sprang auf und war nicht mehr zu halten, aber auch Gawrila Ardalionowitsch hatte offenbar alle Selbstbeherrschung verloren.

»Sie reden noch von Ehre!« rief er boshaft.

»Was hast du gesagt?« donnerte der General, der blaß wurde und einen Schritt auf ihn zutrat.

»Ich brauche ja nur den Mund aufzutun, um…«, schrie Ganja, ohne den Satz zu Ende zu sprechen. Beide standen einander gegenüber; sie zitterten vor Wut, besonders Ganja.

»Ganja, was sprichst du da!« rief Nina Alexandrowna und stürzte auf ihren Sohn zu, um ihn aufzuhalten.

»So ein törichtes Gerede von allen Seiten!« sagte Warja entrüstet in scharfem Ton. »Hören Sie auf, Mama!« fügte sie hinzu und faßte ihre Mutter an.

»Ich schone Sie nur um der Mutter willen!« rief Ganja pathetisch.

»Rede!« brüllte der General in höchster Wut. »Rede! Ich befehle es unter Androhung meines väterlichen Fluches … rede!«

»Na, ich werde mich auch gerade vor Ihrem Fluch fürchten! Wer ist denn daran schuld, daß Sie seit acht Tagen wie verrückt sind? Seit acht Tagen; Sie sehen, ich weiß alles genau dem Datum nach … Nehmen Sie sich in acht und treiben Sie mich nicht zum Äußersten, sonst sage ich alles… Warum haben Sie sich denn gestern zu Jepantschins begeben? Und da bezeichnet er sich noch als alten Mann, spricht von seinen grauen Haaren und spielt sich als Familienvater auf! Ein netter Patron!«

»Schweig still, Ganja!« rief Kolja. »Schweig still, du Dummkopf!«

»Aber womit habe ich, ich ihn denn beleidigt?« fragte Ippolit hartnäckig, immer noch in demselben spöttischen Ton, »Warum nennt er mich einen Bohrer, wie Sie selbst gehört haben? Er hat sich selbst an mich herangemacht; er kam eben zu mir und fing an, von einem Hauptmann Jeropegow zu sprechen. Ich wünsche überhaupt nicht, mit Ihnen zu verkehren, General, ich bin Ihnen schon früher aus dem Weg gegangen, wie Sie selbst wissen. Sagen Sie selbst: was geht mich der Hauptmann Jeropegow an? Um des Hauptmanns Jeropegow willen bin ich nicht hierhergezogen. Ich habe ihm nur laut meine Meinung gesagt, daß dieser Hauptmann Jeropegow vielleicht überhaupt niemals existiert hat. Und da hat er einen Höllenlärm gemacht.«

»Zweifellos hat er nicht existiert!« sagte Ganja in scharfem Ton.

Der General stand wie betäubt und blickte nur gedankenlos rings um sich. Die Worte seines Sohnes verblüfften ihn durch ihre ungewöhnliche Offenheit. Im ersten Augenblick konnte er gar keine Worte finden. Erst als Ippolit über Ganjas Antwort laut auflachte und rief: »Na, nun haben Sie es gehört, Ihr eigener Sohn sagt auch, daß es keinen Hauptmann Jeropegow gegeben hat«, erst da murmelte der Alte endlich ganz verwirrt:

»Kapiton Jeropegow, nicht Hauptmann … Kapiton… Oberstleutnant a. D., Jeropegow… Kapiton.«

»Auch diesen Kapiton hat es nicht gegeben!« rief Ganja, der ganz außer sich war.

»Aber… warum soll es ihn nicht gegeben haben?« murmelte der General, dem die Röte ins Gesicht stieg.

»So lassen Sie es gut sein!« sagten Ptizyn und Warja beschwichtigend zu ihm.

»Schweig, Ganja!« rief Kolja wieder.

Aber der Umstand, daß sich jemand seiner annahm, hatte die Wirkung, daß der General wieder zu sich kam.

»Wieso soll es ihn nicht gegeben haben? Warum soll er nicht existiert haben?« fuhr er seinen Sohn zornig an.

»Ganz einfach, weil er nicht existiert hat. Er hat eben nicht existiert und kann überhaupt nicht existiert haben. Da haben Sie es! Lassen Sie mich in Ruhe, sage ich!«

»Und das ist mein Sohn… das ist mein leiblicher Sohn, den ich… o Gott! Jeropegow, Jeroschka Jeropegow soll nicht existiert haben!«

»Na, da sieht man’s, bald heißt er Jeroschka, bald Kapiton!« warf Ippolit dazwischen.

»Kapitoschka, mein Herr, Kapitoschka, nicht Jeroschka! Kapiton, Kapitän Alexejewitsch, hören Sie wohl, Kapiton … Oberstleutnant… a. D. … er heiratete Marja … Marja … Petrowna Su… Su… mein Freund und Kamerad… Sutugowa, als er sogar noch Fähnrich war! Ich habe mein Blut für ihn… mit meinem Leib gedeckt… dennoch gefallen. Kapitoschka Jeropegow soll nicht existiert haben, nicht auf der Welt gewesen sein!«

Der General schrie vor Wut, aber so, daß man denken konnte, es ginge in dem Gespräch um die eine, bei seinem Geschrei aber um eine ganz andere Sache. Und wirklich hätte er zu anderer Zeit gewiß weit stärkere Beleidigungen ertragen, als es die Bemerkung über Kapiton Jeropegows Nichtexistenz war; er hätte wohl ein bißchen Geschrei erhoben, hätte eine Szene gemacht, wäre außer sich geraten, wäre aber doch schließlich nach seinem Zimmer hinaufgegangen, um sich schlafen zu legen. Aber das Menschenherz ist ein sonderbares Ding: jetzt traf es sich, daß gerade eine verhältnismäßig geringe Kränkung wie der Zweifel an Jeropegows Existenz das Gefäß zum Überlaufen bringen mußte. Der Alte wurde purpurrot, hob die Arme in die Höhe und schrie:

»Genug! Mein Fluch… hinaus aus diesem Hause! Nikolai, bring meine Reisetasche, ich gehe… ich will fort!«

Eilig, in höchstem Zorn, ging er hinaus. Nina Alexandrowna, Kolja und Ptizyn stürzten ihm nach.

»Na, was hast du jetzt angerichtet!« sagte Warja zu ihrem Bruder. »Er wird am Ende wieder dorthin gehen. Welche Schande! Welche Schande!«

»Er hätte nicht stehlen sollen!« schrie Ganja, der beinah vor Wut erstickte; plötzlich begegnete sein Blick dem Blick Ippolits, und Ganja fing fast an zu zittern. »Sie aber, mein Herr«, schrie er, »sollten nicht vergessen, daß Sie hier in einem fremden Hause sind und… Gastfreundschaft genießen, und sollten nicht einen alten Mann reizen, der offenbar den Verstand verloren hat…«

Ippolit war ebenfalls zusammengefahren, hatte aber sofort die Herrschaft über sich wiedergewonnen.

»Ich kann Ihnen doch nicht ganz zustimmen, wenn Sie meinen, daß Ihr Papa den Verstand verloren hat«, antwortete er ruhig. »Es scheint mir im Gegenteil, daß sein Verstand in der letzten Zeit sogar zugenommen hat, wahrhaftig, glauben Sie es nicht? Er ist so vorsichtig und argwöhnisch geworden, immer sucht er einen auszuforschen, jedes Wort wägt er ab… daß er mit mir von diesem Kapiton zu reden anfing, dabei hatte er eine besondere Absicht; stellen Sie sich nur vor: er wollte mich darauf bringen, daß…«

»Zum Teufel, was kümmert es mich, worauf er Sie bringen wollte! Ich bitte Sie, mir gegenüber keine listigen Kunstgriffe zur Anwendung zu bringen, mein Herr!« knirschte Ganja. »Wenn Sie gleichfalls den wahren Grund kennen, weshalb der Alte sich in diesem Zustand befindet (und Sie haben in diesen fünf Tagen so um mich herumspioniert, daß Sie ihn wahrscheinlich kennen), so sollten Sie doch den… Unglücklichen nicht reizen und meine Mutter nicht durch Übertreibung der Geschichte quälen, denn die ganze Geschichte ist dummes Zeug, nur Gerede Betrunkener, weiter nichts. Gerede, das durch nichts bewiesen ist und auf das ich nicht einen Pfifferling gebe… Aber Sie müssen immer spionieren und giftige Reden führen, weil Sie… weil Sie…«

»Weil ich ein Bohrer bin«, fiel Ippolit lächelnd ein.

»Weil Sie ein Lump sind. Eine halbe Stunde lang haben Sie die Gesellschaft gepeinigt, indem Sie meinten, Sie könnten sie dadurch erschrecken, daß Sie sich mit Ihrer ungeladenen Pistole totschießen würden, mit der Sie sich so schändlich blamiert haben, Sie erfolgloser Selbstmörder, Sie übergelaufene Galle… auf zwei Beinen. Ich habe Ihnen Gastfreundschaft gewährt, Sie sind hier dick geworden, haben aufgehört zu husten, und nun danken Sie es mir so…«

»Nur zwei Worte, wenn Sie erlauben; ich wohne bei Warwara Ardalionowna und nicht bei Ihnen; Sie haben mir keinerlei Gastfreundschaft erwiesen; ich glaube sogar, daß Sie selbst Herrn Ptizyns Gastfreundschaft genießen. Vor vier Tagen habe ich meine Mutter gebeten, in Pawlowsk eine Wohnung für mich zu suchen und selbst hierher überzusiedeln, weil ich mich hier tatsächlich wohler fühle, obgleich ich keineswegs dicker geworden bin und immer noch huste. Meine Mutter hat mich gestern abend benachrichtigt, daß die Wohnung bereitstehe, und ich beeile mich meinerseits, Ihnen mitzuteilen, daß ich mich noch heute bei Ihrer Mama und bei Ihrer Schwester bedanken und in meine eigene Wohnung übersiedeln werde, wozu ich mich schon gestern abend entschlossen habe. Entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen; Sie wollten, wie es scheint, noch viel sagen.«

»Oh, wenn es so ist…«, begann Ganja zitternd.

»Wenn es so ist, so gestatten Sie, daß ich mich setze«, fügte Ippolit hinzu, indem er sich mit größter Seelenruhe auf den Stuhl niederließ, auf dem der General gesessen hatte. »Ich bin ja immerhin krank. Nun, jetzt bin ich bereit, Ihnen zuzuhören, um so mehr, als dies unser letztes Gespräch und vielleicht sogar unser letztes Zusammensein sein wird.«

Ganja fing auf einmal an, sich zu schämen.

»Sie können mir glauben, daß ich mich nicht dazu herablassen werde, mit Ihnen abzurechnen«, sagte er, »und wenn Sie…«

»Es hat keinen Zweck, daß Sie sich aufs hohe Roß setzen«, unterbrach ihn Ippolit. »Ich meinerseits habe mir schon am ersten Tag, nachdem ich hierher übergesiedelt war, vorgenommen, mir nicht das Vergnügen zu versagen, Ihnen beim Abschied mit vollster Offenheit meine Meinung zu sagen. Ich beabsichtige, dies eben jetzt zu tun, selbstverständlich nach Ihnen.«

»Und ich ersuche Sie, dieses Zimmer zu verlassen.«

»Reden Sie lieber, sonst werden Sie bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben.«

»Hören Sie auf, Ippolit, das alles ist ja unwürdig; tun Sie mir den Gefallen und hören Sie auf!« sagte Warja.

»Höchstens der Dame zuliebe«, erwiderte Ippolit lachend und stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, Warwara Ardalionowna, bin ich Ihnen zuliebe bereit, mich kurz zu fassen, aber auch nur, mich kurz zu fassen, denn eine gewisse Auseinandersetzung zwischen mir und Ihrem Bruder ist durchaus notwendig, und ich werde mich unter keinen Umständen entschließen, beim Fortgehen hier eine Unklarheit zurückzulassen.«

»Sie sind ganz einfach ein Klatschmaul!« rief Ganja. »Darum wollen Sie nicht weggehen, ohne Ihre Klatscherei vorgebracht zu haben!«

»Sehen Sie wohl«, bemerkte Ippolit kaltblütig, »Sie haben schon jetzt die Selbstbeherrschung verloren. Wirklich, Sie werden es bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben. Ich trete Ihnen noch einmal das Wort ab. Ich werde warten.«

Gawrila Ardalionowitsch schwieg und machte ein verächtliches Gesicht.

»Sie wollen es nicht. Sie beabsichtigen, Ihrer Rolle treu zu bleiben, bitte sehr. Meinerseits werde ich mich möglichst kurz fassen. Ich habe heute zwei- oder dreimal einen Vorwurf wegen der genossenen Gastfreundschaft gehört; dieser Vorwurf ist ungerecht. Indem Sie mich zu sich einluden, warfen Sie selbst Ihr Netz nach mir aus; Sie spekulierten darauf, daß ich mich an dem Fürsten rächen wollte. Außerdem hatten Sie gehört, daß Aglaja Iwanowna ihre Teilnahme für mich ausgesprochen und meine Beichte gelesen hatte. Da Sie aus irgendeinem Grund darauf rechneten, daß ich mich ganz Ihren Interessen widmen würde, so hofften Sie, vielleicht in mir einen Helfer zu finden. Ich will mich nicht eingehender darüber aussprechen! Auch von Ihrer Seite verlange ich weder ein Bekenntnis noch eine Bestätigung; es genügt mir, Sie Ihrem eigenen Gewissen zu überlassen und festzustellen, daß wir einander jetzt vortrefflich verstehen.«

»Aber Sie machen Gott weiß was aus einer ganz gewöhnlichen Sache!« rief Warja.

»Ich habe dir ja gesagt: er ist ein Klatschmaul und ein unreifer Bube«, sagte Ganja.

»Wenn Sie erlauben, Warwara Ardalionowna, werde ich fortfahren. Den Fürsten kann ich natürlich weder lieben vielgestaltiger Weg bevor, ich sage nicht, ein heiterer Weg, und freue mich darüber. Zunächst aber sage ich Ihnen voraus, daß Sie eine gewisse Person nicht gewinnen werden…«

»Nein, das ist unerträglich!« rief Warja. »Sind Sie nun fertig, Sie widerwärtiger Bösewicht?«

Ganja war blaß geworden, zitterte und schwieg. Ippolit blieb stehen, betrachtete ihn unverwandt und mit Genuß, ließ dann seine Blicke zu Warja hinübergleiten, lächelte, verbeugte sich und ging, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, hinaus.

Gawrila Ardalionowitsch hätte sich mit Recht über sein Schicksal und das Mißlingen seiner Pläne beklagen können. Eine Weile mochte Warja ihn nicht anreden, ja sie sah ihn nicht einmal an, als er mit großen Schritten an ihr vorbeiging; schließlich trat er ans Fenster und drehte ihr den Rücken zu. Warja dachte an die russische Redensart vom »Stock mit den zwei Enden«. Oben war wieder Lärm zu hören.

»Willst du gehen?« fragte plötzlich Ganja, der sich zu ihr umwandte, als er hörte, daß sie aufstand. »Warte noch einen Augenblick und sieh dir einmal dies hier an!«

Er trat zu ihr heran und warf ein kleines, nach Art eines Briefchens zusammengelegtes Zettelchen vor ihr auf den Stuhl.

»O Gott!« rief Warja und schlug die Hände zusammen.

Das Billett enthielt nur wenige Zeilen:

»Gawrila Ardalionowitsch! Da ich mich von Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich überzeugt habe, möchte ich Sie in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit um Rat fragen. Ich würde Sie gern morgen sprechen, Punkt sieben Uhr früh auf der grünen Bank. Das ist nicht weit von unserem Landhaus. Warwara Ardalionowna, die Sie unbedingt begleiten soll, kennt diesen Platz ganz genau. A. J.«

»Daraus soll nun einer klug werden!« rief Warwara Ardalionowna, erstaunt die Arme ausbreitend.

Obgleich Ganja in diesem Augenblick die größte Lust hatte zu prahlen, konnte er doch nicht umhin, sein Triumphgefühl merken zu lassen, noch dazu nach den demütigenden Prophezeiungen Ippolits. Ein selbstzufriedenes Lächeln glänzte unverhohlen auf seinem Gesicht, und selbst Warja strahlte vor Freude.

»Und das schreibt sie gerade an dem Tag, an dem bei ihnen die Verlobung öffentlich bekanntgegeben wird! Da soll noch einer klug draus werden!«

»Was meinst du, worüber sie morgen mit mir reden will?« fragte Ganja.

»Das ist ganz gleich; die Hauptsache ist, daß sie dich nach sechs Monaten zum erstenmal wieder zu sehen wünscht. Höre auf mich, Ganja: um was es sich auch handeln und wie die Sache sich auch wenden mag, vergiß nicht, daß es für dich wichtig ist! Sehr wichtig! Spiele nicht wieder den Stolzen, mache nicht wieder Fehler, und hüte dich auch davor, ängstlich zu werden! Es hat ihr doch unmöglich entgehen können, zu welchem Zweck ich ein halbes Jahr lang immer hingekommen bin. Und kannst du dir das vorstellen: kein Wort hat sie mir heute davon gesagt, nichts hat sie sich merken lassen. Ich bin nämlich heimlich bei ihnen gewesen, die Alte hat nichts davon gewußt, daß ich da war, sonst hätte sie mich am Ende weggejagt. Ich habe es um deinetwillen riskiert hinzugehen, weil ich durchaus erfahren wollte…«

Wieder erscholl von oben Geschrei und Lärm; mehrere Personen kamen die Treppe herunter.

»Wir dürfen das jetzt um keinen Preis zulassen!« rief Warja hastig und ängstlich. »Es darf auch nicht die Spur von Skandal geben! Geh hin und bitte um Verzeihung!«

Aber das Oberhaupt der Familie war schon auf der Straße. Kolja, der die Reisetasche trug, hinter ihm. Nina Alexandrowna stand auf der Treppe und weinte; sie wollte ihm nachlaufen, aber Ptizyn hielt sie zurück.

»Sie fachen seinen Zorn dadurch nur noch mehr an«, sagte er zu ihr. »Er kann ja nirgends hingehen, in einer halben Stunde wird er wieder hierher zurückgebracht werden, ich habe schon mit Kolja darüber gesprochen; lassen Sie ihn nur seine Dummheit begehen!«

»Was machen Sie denn für Streiche? Wo wollen Sie denn hin?« rief Ganja aus dem Fenster. »Sie können ja nirgends hingehen!«

»Kommen Sie wieder zurück, Papa!« rief Warja. »Die Nachbarn werden aufmerksam.«

Der General blieb stehen, wandte sich um, streckte den Arm aus und schrie:

»Mein Fluch über dieses Haus!«

»Anders als in diesem Theaterton kann er nicht reden!« murmelte Ganja und schlug das Fenster zu.

Die Nachbarn hörten wirklich zu. Warja lief aus dem Zimmer.

Als Warja hinausgegangen war, nahm Ganja den Zettel vom Tisch, küßte ihn, schnalzte mit der Zunge und machte einen kleinen Luftsprung.

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Kapitel 30

II

Der Fürst trat plötzlich an Jewgenij Pawlowitsch heran.

»Jewgenij Pawlytsch«, sagte er mit auffälliger Wärme, indem er seine Hand ergriff, »seien Sie überzeugt, daß ich Sie trotz allem für den edelsten, besten Menschen halte; das versichere ich Ihnen…«

Jewgenij Pawlowitsch war so erstaunt, daß er sogar einen Schritt zurücktrat. Einen Augenblick lang hatte er die größte Mühe, einen starken Lachreiz zu unterdrücken; aber bei näherem Hinsehen bemerkte er, daß der Fürst kaum seiner selbst mächtig war und sich jedenfalls in einem ganz eigenartigen Zustand befand.

»Ich möchte wetten, Fürst«, rief er, »daß Sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollten und vielleicht gar nicht zu mir… Aber was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Möglich, sehr möglich, und Sie haben sehr richtig bemerkt, daß ich mich vielleicht gar nicht an Sie wenden wollte!«

Nach diesen Worten lächelte er ganz seltsam und sogar komisch, aber plötzlich schien er in starke Erregung zu geraten und rief:

»Erinnern Sie mich nicht an mein Benehmen vor drei Tagen! Ich habe mich diese drei Tage sehr geschämt… Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe…«

»Aber… aber was haben Sie denn so Schreckliches getan?«

»Ich sehe, daß Sie sich vielleicht mehr für mich schämen, als es die andern alle tun, Jewgenij Pawlowitsch. Sie erröten, und das ist das Zeichen eines guten Herzens. Ich gehe sogleich weg, glauben Sie mir!«

»Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja.

»Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna, ich bekomme keinen Anfall; ich werde gleich weggehen. Ich weiß, daß ich… von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als die eines Kranken auf. Ich werde gleich weggehen, gleich, seien Sie dessen versichert. Ich erröte deswegen nicht, denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht… Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl… Ich habe in diesen drei Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen… Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus, darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht… Außerdem bin ich mißtrauisch, ich … ich bin überzeugt, daß mich in diesem Hause niemand kränken will und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene, aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal… nicht umhinkönnen, über mich zu lachen… nicht wahr?«

Er blickte um sich und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich berührt durch dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß.

»Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!«

Sie schien im höchsten Grade entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß.

»Hier ist niemand, der solche Worte verdiente!« fuhr Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner Finger und reichen nicht an Ihren Verstand und Ihr Herz heran! Sie sind ehrlicher als sie alle, edler als sie alle, klüger als sie alle! Manche sind hier nicht wert, sich zu bücken und das Taschentuch aufzuheben, das Sie soeben haben hinfallen lassen … Warum setzen Sie sich selbst herab und stellen sich niedriger als alle? Warum karikieren Sie all Ihre guten Eigenschaften? Warum besitzen Sie so gar keinen Stolz?«

»Mein Gott, ist es zu glauben?« rief Lisaweta Prokofjewna und schlug die Hände zusammen.

»Der arme Ritter! Hurra!« schrie Kolja begeistert.

»Schweigen Sie!… Wie kann jemand wagen, mich hier in Ihrem Hause zu beleidigen!« fiel Aglaja plötzlich mit größter Heftigkeit über ihre Mutter her. Sie befand sich bereits in jenem hysterischen Zustand, in dem der Mensch keine Grenzen mehr kennt und über jedes Hindernis hinwegschreitet. »Warum peinigen sie mich alle, alle ohne Ausnahme? Warum haben alle diese Menschen mir diese drei Tage lang um Ihretwillen zugesetzt, Fürst? Ich werde Sie um keinen Preis heiraten! Hören Sie wohl: um keinen Preis und niemals! Das mögen Sie wissen! Wie kann man denn auch einen so lächerlichen Menschen wie Sie heiraten? Betrachten Sie sich jetzt nur einmal im Spiegel, wie Sie dastehen!… Warum, warum ziehen mich alle damit auf, daß ich Sie heiraten werde? Sie, Sie müssen das wissen! Sie sind auch mit in der Verschwörung!«

»Nie hat dich jemand damit aufgezogen!« murmelte Adelaida erschrocken.

»Es ist keinem in den Sinn gekommen, kein Wort von der Art ist gesprochen worden!« rief Alexandra Iwanowna.

»Wer hat sie aufgezogen? Wann ist das geschehen? Wer hat es fertiggebracht, so etwas zu ihr zu sagen? Redet sie irre?« Mit diesen Fragen wandte sich Lisaweta Prokofjewna, zitternd vor Zorn, an alle Anwesenden.

»Alle haben es gesagt, alle ohne Ausnahme, die ganzen drei Tage lang! Aber ich werde ihn niemals heiraten, niemals!«

Nach diesen heftig hervorgestoßenen Worten brach Aglaja in bittere Tränen aus, verbarg ihr Gesicht im Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

»Aber er hat dir ja noch gar keinen Antrag…«

»Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, Aglaja Iwanowna«, entfuhr es dem Fürsten unwillkürlich.

»Wa-as?« rief Lisaweta Prokofjewna erstaunt, entrüstet, erschrocken aus und zog dieses Wort sehr in die Länge. »Was – soll – das – heißen?«

Sie wollte ihren Ohren nicht trauen.

»Ich wollte sagen… ich wollte sagen«, erwiderte der Fürst zitternd, »ich wollte Aglaja Iwanowna nur erklären… die Ehre haben zu erklären, daß ich überhaupt nicht beabsichtigte… die Ehre zu haben, um ihre Hand zu bitten… zu keiner Zeit… Ich bin hierbei ganz unschuldig, bei Gott, ganz unschuldig, Aglaja Iwanowna! Ich habe es nie gewollt, und es ist mir nie in den Sinn gekommen, ich werde es niemals wollen, das werden Sie selbst sehen: davon können Sie überzeugt sein! Irgendein schlechter Mensch muß mich bei Ihnen verleumdet haben! Seien Sie ganz beruhigt!«

Während er das sagte, näherte er sich dem aufgeregten Mädchen. Diese nahm das Taschentuch weg, mit dem sie ihr Gesicht verhüllt hatte, warf einen schnellen Blick auf ihn und seine ganze erschrockene Gestalt, wurde sich über den Sinn seiner Worte klar und lachte ihm auf einmal gerade ins Gesicht, mit einem so lustigen, unbezwingbaren Lachen, einem so komischen, spöttischen Lachen, daß als erste Adelaida sich nicht halten konnte, namentlich nachdem sie ebenfalls den Fürsten angeblickt hatte, zu ihrer Schwester hinstürzte, sie umarmte und in ein ebenso unbezwingbares, schulmädchenhaft lustiges Lachen ausbrach wie diese. Beim Anblick der beiden begann der Fürst plötzlich zu lächeln und sagte mit fröhlicher, glückseliger Miene mehrmals:

»Nun, Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Jetzt konnte sich auch Alexandra nicht mehr beherrschen und begann ebenso herzhaft zu lachen. Es schien, als wollte dieses Gelächter der drei Mädchen gar kein Ende nehmen.

»Na, sie sind verrückt!« murmelte Lisaweta Prokofjewna. »Erst jagen sie einem einen Schreck ein, und dann…«

Aber jetzt lachte auch schon Fürst Schtsch., auch Jewgenij Pawlowitsch lachte, Kolja lachte ohne Aufhören, und beim Anblick des allgemeinen Gelächters lachte auch der Fürst.

»Wir wollen Spazierengehen, wir wollen Spazierengehen!« rief Adelaida. »Alle zusammen wollen wir gehen, und der Fürst muß unbedingt mit uns kommen; Sie dürfen nicht weggehen, Sie lieber Mensch! Was für ein lieber Mensch er ist, Aglaja! Nicht wahr, Mamachen? Ich muß ihn unbedingt, unbedingt umarmen und ihm einen Kuß geben für… für die Erklärung, die er unserer Aglaja soeben gemacht hat. Liebe maman, erlauben Sie mir, ihm einen Kuß zu geben! Aglaja, erlaube mir, deinen Fürsten zu küssen!« rief die Übermütige, sprang wirklich zu dem Fürsten hin und küßte ihn auf die Stirn. Dieser ergriff ihre beiden Hände, drückte sie kräftig, so daß Adelaida beinah aufschrie, sah ihr mit grenzenloser Freude ins Gesicht, führte plötzlich schnell ihre Hand an seine Lippen und küßte sie dreimal.

»Wir wollen gehen!« rief Aglaja. »Fürst, Sie sollen mich führen! Darf das ein junger Mann tun, maman, der mir einen Korb gegeben hat? Ihre Absage an mich gilt ja doch wohl gleich für das ganze Leben, Fürst? Aber doch nicht so! So gibt man einer Dame doch nicht den Arm! Wissen Sie denn nicht, wie man eine Dame am Arm führt? So macht man das! Nun kommen Sie, wir wollen allen vorangehen; wollen Sie mit mir vorangehen, tête-à-tête?«

Sie sprach ohne Pause und wurde dazwischen immer noch wieder von Lachen geschüttelt.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« sagte Lisaweta Prokofjewna ein Mal über das andere, ohne selbst zu wissen, worüber sie sich eigentlich freute.

»Ganz sonderbare Menschen!« dachte Fürst Schtsch. vielleicht zum hundertstenmal, seit er sie kennengelernt hatte, aber… diese sonderbaren Menschen gefielen ihm. Was den Fürsten anlangte, so gefiel ihm der vielleicht nicht so besonders; Fürst Schtsch. machte ein sehr ernstes Gesicht und schien nicht frei von Sorgen, als alle den Spaziergang antraten.

Jewgenij Pawlowitsch befand sich anscheinend in heiterster Gemütsstimmung; während des ganzen Weges zum Vauxhall unterhielt er Alexandra und Adelaida mit den lustigsten Reden, und die jungen Damen lachten mit ganz besonderer Bereitwilligkeit über seine Scherze, mit einer solchen Bereitwilligkeit, daß ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, sie hörten auf das, was er sagte, vielleicht überhaupt nicht hin. Infolge dieses Gedankens brach er plötzlich, ohne einen Grund anzugeben, in lautes Gelächter aus, das ihm ganz von Herzen kam (so war nun einmal sein Charakter!). Die beiden Schwestern, die übrigens in einer Art festlicher Stimmung waren, blickten fortwährend nach Aglaja und dem Fürsten hin, die vor ihnen gingen; offenbar hatte die jüngste Schwester ihnen ein schweres Rätsel aufgegeben. Fürst Schtsch. war andauernd bemüht, Lisaweta Prokofjewna mit nebensächlichen Dingen zu unterhalten, vielleicht, um sie zu zerstreuen, und wurde ihr damit sehr lästig. Sie schien ganz verstört zu sein und gab Antworten, die nicht zu den Fragen paßten, mitunter antwortete sie auch überhaupt nicht. Aber die Rätsel, die Aglaja Iwanowna den anderen an diesem Abend aufgab, hatten noch nicht ihr Ende erreicht. Das letzte Rätsel legte sie dem Fürsten allein vor. Als sie sich ungefähr hundert Schritte von dem Landhaus entfernt hatten, sagte Aglaja hastig, halb flüsternd zu ihrem hartnäckig schweigenden Kavalier:

»Blicken Sie einmal nach rechts!«

Der Fürst blickte nach der angegebenen Richtung.

»Blicken Sie recht aufmerksam hin! Sehen Sie da eine Bank im Park, da, wo die drei großen Bäume stehen… eine grüne Bank?«

Der Fürst antwortete, daß er sie sehe.

»Gefällt Ihnen das Plätzchen? Ich gehe manchmal frühmorgens gegen sieben Uhr, wenn alle noch schlafen, allein dorthin und sitze da.«

Der Fürst murmelte, es sei ein sehr schönes Plätzchen.

»Aber jetzt lassen Sie mich los, ich möchte nicht länger mit Ihnen untergefaßt gehen. Oder besser so: lassen Sie mir Ihren Arm, aber reden Sie mit mir kein Wort! Ich möchte still für mich nachdenken…«

Dieses Verbot war jedenfalls überflüssig: der Fürst hätte sicherlich auch ohne solche Weisung auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Sein Herz begann furchtbar zu klopfen, als er die Mitteilung von der Bank hörte. Einen Augenblick darauf hatte er sich wieder gesammelt und wies voller Scham einen absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war.

In dem Vauxhall in Pawlowsk versammelt sich an den Wochentagen, wie allgemein bekannt ist oder wenigstens alle behaupten, ein »feineres« Publikum als an Sonn- und Festtagen, wo »alle möglichen Leute« aus der Stadt kommen. Die Toiletten sind nicht festlich, aber elegant. Es ist Sitte, sich bei der Musik zu treffen. Die Kapelle ist vielleicht tatsächlich die beste unserer Gartenkapellen und spielt moderne Sachen. Man benimmt sich dort außerordentlich steif und korrekt, obwohl das Ganze bis zu einem gewissen Grade einen familiären, ja intimen Anstrich hat. Bekannte, sämtlich Sommerfrischler, finden sich dort zusammen, um sich gegenseitig zu mustern. Viele vollführen das mit wirklichem Vergnügen und gehen nur zu diesem Zwecke hin, aber es gibt auch einige, die lediglich um der Musik willen kommen. Skandalszenen sind äußerst selten, obwohl sie auch an Wochentagen vorkommen. Aber ganz ohne das geht es nun einmal nicht ab.

Es war diesmal ein wundervoller Abend und ziemlich viel Publikum beisammen. Alle Plätze in der Umgebung der musizierenden Kapelle waren besetzt. Unsere Gesellschaft nahm auf Stühlen etwas mehr seitwärts Platz, dicht bei dem linken Vauxhallausgang. Die bunte Menge und die Musik übten auf Lisaweta Prokofjewna bis zu einem gewissen Grade eine belebende Wirkung aus und brachten den jungen Damen etwas Zerstreuung; sie hatten schon Zeit gefunden, mit diesem und jenem ihrer Bekannten einen Blick zu wechseln, dem einen und andern, von weitem freundlich zuzunicken, die Toiletten zu betrachten, einige Sonderbarkeiten daran zu bemerken, darüber ihre Ansichten auszutauschen und spöttisch zu lächeln. Jewgenij Pawlowitsch verneigte sich ebenfalls sehr häufig. Auf Aglaja und den Fürsten, die immer noch zusammen waren, war schon mancher aufmerksam geworden. Bald traten zur Mutter und zu den jungen Damen einzelne junge Männer aus ihrem Bekanntenkreis heran, um sie zu begrüßen; zwei oder drei blieben da und unterhielten sich mit ihnen; alle waren sie mit Jewgenij Pawlowitsch befreundet. Unter ihnen befand sich ein junger, sehr hübscher Offizier, ein sehr munterer, gesprächiger Mensch; er beeilte sich, mit Aglaja ein Gespräch anzuknüpfen, und bemühte sich aus allen Kräften, ihr Interesse zu erregen. Aglaja benahm sich ihm gegenüber sehr gnädig und war sehr lachlustig. Jewgenij Pawlowitsch bat den Fürsten um die Erlaubnis, ihn mit diesem Freund bekannt machen zu dürfen; der Fürst verstand kaum, was man mit ihm vorhatte, aber die Vorstellung kam doch zustande, beide verbeugten sich und reichten einander die Hand. Jewgenij Pawlowitschs Freund stellte eine Frage, aber der Fürst antwortete, wie es schien, gar nicht darauf oder murmelte höchstens in so sonderbarer Weise etwas vor sich hin, daß der Offizier ihn mit einem prüfenden Blick scharf anschaute, dann nach Jewgenij Pawlowitsch hinsah, sogleich begriff, warum dieser den Einfall gehabt hatte, sie einander vorzustellen, leise lächelte und sich wieder zu Aglaja wandte. Nur Jewgenij Pawlowitsch nahm es wahr, daß Aglaja plötzlich darüber errötete.

Der Fürst bemerkte es nicht einmal, daß andere mit Aglaja sprachen und ihr den Hof machten; minutenlang vergaß er sogar, daß er selbst neben ihr saß. Manchmal befiel ihn ein Verlangen fortzugehen, ganz von hier zu verschwinden; es hätte ihm sogar ein düsterer, öder Ort zugesagt, wenn er nur hätte mit seinen Gedanken allein sein können und niemand gewußt hätte, wo er sich befände. Oder wenn er wenigstens hätte bei sich zu Hause sein können, in der Veranda, aber so, daß niemand bei ihm wäre, weder Lebedew noch die Kinder; dann hätte er sich auf sein Sofa geworfen, das Gesicht in das Kissen gedrückt und so einen ganzen Tag und eine Nacht und noch einen Tag dagelegen. In einzelnen Augenblicken sah er auch das Gebirge vor sich und namentlich eine ihm wohlbekannte Stelle in den Bergen, an die er immer gern zurückgedacht hatte; nach dieser Stelle war er gern hingegangen, als er noch dort wohnte, und hatte von da auf das Dorf hinabgeblickt und auf den nur schwach schimmernden weißen Faden des Wasserfalls und nach den weißen Wolken und der alten Burgruine. Oh, wie gern wäre er jetzt wieder dort gewesen und hätte an das eine gedacht – oh! das ganze Leben nur daran – und für tausend Jahre hätte er an diesem einen Gedanken genug gehabt! Und mochten sie ihn hier doch ganz vergessen. Oh, das war sogar notwendig und das beste würde sein, wenn man ihn hier gar nicht gekannt hätte und das alles nur ein Traumbild gewesen wäre. Aber war es denn nicht ganz gleich, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war? Manchmal begann er plötzlich Aglaja zu betrachten und konnte fünf Minuten lang seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen; aber sein Blick war sehr sonderbar: er schien sie so anzusehen, als wäre sie ein etwa zwei Werst von ihm entfernter Gegenstand oder als wäre sie ihr Porträt und nicht sie selbst.

»Warum sehen Sie mich denn so an, Fürst?« fragte sie auf einmal, indem sie das heitere Geplauder und Gelache mit ihrer Umgebung unterbrach. »Ich fürchte mich vor Ihnen; ich habe immer die Vorstellung, Sie wollten die Hand ausstrecken und mein Gesicht mit den Fingern berühren, um es zu befühlen. Nicht wahr, Jewgenij Pawlowitsch, so sieht er mich an?«

Der Fürst hörte, wie es schien, mit Erstaunen, daß sich jemand an ihn wandte, überlegte das Gesagte, obwohl er es vielleicht nicht ganz verstand, gab jedoch keine Antwort, aber als er sah, daß sie und alle andern lachten, öffnete er plötzlich den Mund und begann ebenfalls zu lachen. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; der Offizier, der offenbar ein lachlustiger Mensch war, schüttelte sich nur so vor Lachen. Aglaja flüsterte auf einmal zornig vor sich hin:

»So ein Idiot!«

›O Gott! Kann sie denn wirklich so einen… ist sie denn ganz verrückt geworden?‹ dachte Lisaweta Prokofjewna zähneknirschend.

»Es ist ein Scherz! Es ist derselbe Scherz wie damals mit dem ›armen Ritter‹«, flüsterte ihr Alexandra im Ton fester Überzeugung ins Ohr, »weiter nichts! Sie hat sich auf ihre Weise wieder über ihn lustig gemacht. Nur geht dieser Scherz zu weit, dem muß ein Ende gemacht werden, maman! Vorhin hat sie uns wie eine Komödiantin eine Szene vorgespielt und uns aus Unart einen Schreck eingejagt…«

»Es ist noch ein Glück, daß sie an einen solchen Idioten geraten ist«, flüsterte ihr Lisaweta Prokofjewna als Antwort zu. Die Bemerkung der Tochter hatte ihr doch das Herz etwas leichter gemacht.

Der Fürst hörte, daß er ein Idiot genannt wurde, und fuhr zusammen, aber nicht infolge dieser Benennung. Den »Idioten« vergaß er sofort wieder. Aber in der Menge, nicht weit von der Stelle, wo er saß, irgendwo seitwärts – er hätte die Stelle und den Punkt, wo es gewesen war, schlechterdings nicht bezeichnen können –, war ein Männergesicht aufgetaucht, ein blasses Gesicht, mit lockigem, dunklem Haar, mit einem ihm bekannten, sehr bekannten Blick und Lächeln, es war aufgetaucht und wieder verschwunden. Sehr möglich, daß er es sich nur eingebildet hatte; von der ganzen Vision blieb ihm nur der Eindruck des schiefen Lächelns, der Augen und des hellgrünen, stutzerhaften Halstuches, das der vorüberhuschende Herr getragen hatte, im Gedächtnis haften. Ob dieser Herr in der Menge verschwunden oder in das Vauxhallgebäude hineingeschlüpft war, das hätte der Fürst gleichfalls nicht zu sagen vermocht.

Aber einen Augenblick darauf begann er auf einmal schnell und unruhig um sich zu blicken; diese erste Vision konnte die Vorbotin und Vorläuferin einer zweiten sein. Das war mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er wirklich, als er sich nach dem Vauxhall begab, gar nicht an die Möglichkeit eines Zusammentreffens gedacht? Während er nach dem Vauxhall ging, hatte er allerdings gar nicht gewußt, daß er dorthin ging – in einem solchen Zustand hatte er sich befunden. Wenn er aufmerksamer hätte sein können oder wollen, so hätte er schon vor einer Viertelstunde bemerken können, daß Aglaja ab und zu ebenfalls mit einer gewissen Unruhe eilig um sich blickte, ebenfalls, als ob sie etwas um sich herum suche. Jetzt, als seine Unruhe stark bemerkbar wurde, wuchs auch Aglajas Aufregung und Unruhe, und kaum blickte er rückwärts, so tat auch sie fast im gleichen Augenblick dasselbe. Das Ereignis, dem mit solcher Unruhe entgegengesehen wurde, ließ nicht lange auf sich warten.

Von eben jenem Seitenausgang aus dem Vauxhall, neben dem der Fürst und die ganze Jepantschinsche Gesellschaft Platz genommen hatten, erschien plötzlich ein ganzer Schwarm von mindestens zehn Menschen. An der Spitze dieses Schwarmes gingen drei Frauen; zwei von ihnen waren außerordentlich schön, und es war nicht zu verwundern, daß ihnen so viele Verehrer nachfolgten. Aber sowohl die Verehrer als auch die Frauen, alle hatten etwas Besonderes an sich, etwas, was von dem übrigen um die Musik versammelten Publikum stark abstach. Fast alle Anwesenden bemerkten die Ankömmlinge sofort, bemühten sich aber großenteils, so zu tun, als ob sie sie gar nicht sähen, und nur einige junge Männer lächelten und tauschten miteinander halblaute Bemerkungen aus. Sie zu übersehen war ganz unmöglich: sie machten sich nur zu bemerkbar, redeten laut und lachten. Man konnte annehmen, daß manche unter ihnen einen ziemlichen Rausch hatten, obgleich mehrere äußerlich stutzerhaft und elegant gekleidet waren; aber es waren darunter auch Leute von recht sonderbarem Aussehen, in sonderbarer Kleidung und mit sonderbar geröteten Gesichtern; auch einige Offiziere waren dabei; manche waren bereits älter; etliche waren behäbig gekleidet, in bequemen, elegant gearbeiteten Anzügen, und trugen kostbare Ringe und Manschettenknöpfe, prächtige pechschwarze Perücken und schwarze Backenbärte und gaben ihren Gesichtern einen besonders vornehmen, wenn auch etwas verdrossenen Ausdruck, eine Menschensorte, die man in der Gesellschaft wie die Pest zu meiden pflegt. Unter den Sommerfrischen in unseren Vororten befinden sich natürlich auch solche, die sich durch besonders guten Ton auszeichnen und sich eines vorzüglichen Rufes erfreuen; aber auch der vorsichtigste Mensch kann sich nicht in jedem Augenblick vor einem Ziegelstein hüten, der vom Nachbarhaus herabfällt. Ein solcher Ziegelstein war jetzt im Begriff, auf das wohlanständige Publikum herabzufallen, das sich bei der Musik versammelt hatte.

Um von dem Vauxhall auf den Platz zu gelangen, auf dem sich das Orchester befand, mußte man drei Stufen hinabsteigen. Dicht bei diesen Stufen hatte der Schwarm haltgemacht; sie trauten sich nicht hinabzusteigen, aber eine der Frauen schritt vorwärts; von ihrer Suite wagten nur zwei Männer, ihr zu folgen. Der eine war ein Herr in mittleren Jahren, mit recht bescheidener Miene und einem in jeder Hinsicht anständigen Äußeren, aber er machte den Eindruck eines richtigen Einzelgängers, das heißt eines der Leute, die nie jemand kennen und von niemand gekannt werden. Der andere, der sich von der Dame nicht getrennt hatte, trug eine sehr schäbige Kleidung und sah höchst zweideutig aus. Außer diesen beiden folgte der exzentrischen Dame niemand weiter; aber während des Hinuntersteigens blickte sie gar nicht zurück, als wäre es ihr völlig gleichgültig, ob ihr jemand folgte oder nicht. Sie lachte und redete laut wie vorher; gekleidet war sie mit viel Geschmack und reich, aber etwas luxuriöser, als es schicklich gewesen wäre. Sie ging am Orchester vorbei nach der andern Seite des Platzes, wo neben der Landstraße eine Equipage wartete.

Der Fürst hatte sie schon seit mehr als drei Monaten nicht gesehen. Seit seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich jeden Tag vorgenommen, zu ihr zu gehen, aber vielleicht hatte ihn eine geheime Ahnung immer davon zurückgehalten. Wenigstens vermochte er schlechterdings nicht den Eindruck vorauszusehen, den die bevorstehende Begegnung mit ihr auf ihn machen würde, aber er bemühte sich manchmal angstvoll, ihn sich vorzustellen. Eines war ihm klar: daß die Begegnung peinlich sein würde. Mehrmals hatte er in diesen sechs Monaten an die erste Empfindung zurückgedacht, die das Gesicht dieser Frau schon beim bloßen Anblick ihres Bildes bei ihm hervorgerufen hatte; aber selbst der Eindruck des Bildes war, wie er sich erinnerte, ein sehr peinlicher gewesen. Jeder Monat in der Provinz, da er beinah täglich mit ihr zusammengewesen war, hatte auf ihn eine schreckliche Wirkung ausgeübt, so daß der Fürst manchmal sogar die Erinnerung an diese noch nicht weit zurückliegende Zeit zu verscheuchen suchte. In dem Gesicht dieser Frau lag für ihn stets etwas, was ihm Qualen bereitete: in dem Gespräch mit Rogoshin hatte der Fürst dieses Gefühl als ein Gefühl grenzenlosen Mitleids bezeichnet, und das war die Wahrheit gewesen: dieses Gesicht hatte schon beim Anblick des Bildes in seinem Herzen ein Mitleid erweckt, das zum eigenen Leid geworden war; dieses Gefühl des Mitleids und sogar des eigenen Leids um dieses Wesen hatte ihn nie verlassen und war ihm auch jetzt gegenwärtig. Nein, es war jetzt sogar noch stärker. Aber der Ausdruck, den er Rogoshin gegenüber gebraucht hatte, hatte den Fürsten auf die Dauer nicht befriedigt; erst jetzt, in dem Augenblick, wo sie plötzlich vor seinen Augen erschien, verstand er, vielleicht infolge der unmittelbaren Anschauung, inwiefern das, was er zu Rogoshin gesagt hatte, mangelhaft gewesen war. Er hatte damals nicht die Worte gefunden, um das Entsetzen auszudrücken – jawohl, das Entsetzen! Jetzt, in diesem Augenblick, empfand er es ganz; er war auf Grund all seiner eigenen Beobachtungen mit völliger Sicherheit davon überzeugt, daß diese Frau irrsinnig war. Wenn man eine Frau über alles in der Welt liebt oder einen Vorgeschmack von der Möglichkeit einer solchen Liebe verspürt und nun auf einmal diese Frau an der Kette erblickt, hinter einem Eisengitter, von dem Stock des Aufsehers bedroht, dann mag die Empfindung einigermaßen derjenigen ähnlich sein, die jetzt der Fürst durchmachte.

»Was ist Ihnen?« fragte Aglaja hastig, indem sie sich nach ihm umwandte und naiv seinen Arm berührte.

Er drehte den Kopf nach ihr hin, sah sie an, blickte in ihre schwarzen Augen, die jetzt in einer ihm unverständlichen Weise funkelten, und machte den Versuch, ihr zuzulächeln; aber plötzlich, als hätte er sie sofort wieder vergessen, wandte er die Augen wieder nach rechts und verfolgte die ihn fesselnde Erscheinung weiter. Nastasja Filippowna ging soeben dicht an den Stühlen der jungen Damen vorüber. Jewgenij Pawlowitsch fuhr fort, Alexandra Iwanowna etwas wohl sehr Komisches und Interessantes zu erzählen, und sprach laut und lebhaft. Der Fürst erinnerte sich später, daß Aglaja auf einmal halblaut gesagt hatte: »Was für eine…«

Diese Worte hatten noch keinen bestimmten Sinn, und sie sprach den Satz nicht zu Ende; sie beherrschte sich sofort wieder und fügte nichts weiter hinzu, aber auch das Gesagte genügte schon. Nastasja Filippowna, die, anscheinend ohne jemand besonders zu beachten, vorbeigegangen war, wandte sich plötzlich zu der Jepantschinschen Gesellschaft um und schien erst jetzt Jewgenij Pawlowitsch zu bemerken.

»Ah! Da ist er ja!« rief sie stehenbleibend. »Einmal kann man ihn durch noch so viele Boten nicht ausfindig machen, und ein andermal sitzt er gerade da, wo man ihn nicht vermutet… Ich dachte ja, du wärest dort… bei deinem Onkel!«

Jewgenij Pawlowitsch wurde dunkelrot und blickte sie wütend an, wandte sich aber schnell wieder von ihr ab.

»Wie? Weißt du es etwa noch nicht? Kann man sich das vorstellen: er weiß es noch nicht! Er hat sich erschossen! Heute früh hat sich dein Onkel erschossen! Mir wurde es vorhin, um zwei Uhr, gesagt, aber jetzt weiß es schon die halbe Stadt; dreihundertfünfzigtausend Rubel Staatsgelder fehlen, wie es heißt; andere sagen fünfhunderttausend. Und ich spekulierte immer darauf, daß er dir noch eine große Erbschaft hinterlassen würde; aber er hat alles verjubelt. Ja, ja, der alte Mann führte ein ausschweifendes Leben… Nun, leb wohl, bonne chance! Also du fährst wirklich nicht hin? Da hast du ja noch glücklich zur rechten Zeit den Abschied genommen, du Schlaukopf! Ach, Unsinn, du hast es ja gewußt, hast es vorher gewußt: vielleicht wußtest du es schon gestern…«

Obgleich hinter dieser dreisten Zudringlichkeit und der öffentlichen Behauptung einer gar nicht existierenden Bekanntschaft und Intimität unbedingt eine besondere Absicht steckte und daran jetzt kein Zweifel mehr möglich war, so hatte Jewgenij Pawlowitsch doch zunächst noch geglaubt, er könne davonkommen, wenn er die Beleidigerin gar nicht beachte. Aber Nastasja Filippownas Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag; als er von dem Tod seines Onkels hörte, wurde er kreidebleich und wandte sich zu der Überbringerin dieser Nachricht hin. In diesem Augenblick erhob sich Lisaweta Prokofjewna schnell von ihrem Platz, winkte allen, ihr zu folgen, und entfernte sich fast laufend. Nur Fürst Lew Nikolajewitsch blieb noch einen Moment anscheinend unentschlossen auf seinem Platz, und Jewgenij Pawlowitsch stand immer noch wie besinnungslos da. Aber die Familie Jepantschin hatte sich noch nicht zwanzig Schritte entfernt, als sich eine furchtbare Skandalszene abspielte.

Der mit Jewgenij Pawlowitsch gut befreundete Offizier, der sich mit Aglaja unterhalten hatte, war im höchsten Grade empört.

»Da müßte man einfach eine Reitpeitsche nehmen, auf andere Art wird man mit diesem Geschöpf nicht fertig!« sagte er ziemlich laut. (Wie es schien, war er auch früher schon Jewgenij Pawlowitschs Vertrauter gewesen.)

Nastasja Filippowna wandte sich augenblicklich zu ihm um. Ihre Augen funkelten; sie stürzte auf einen ihr ganz unbekannten jungen Mann los, der zwei Schritte von ihr entfernt stand und ein dünnes, geflochtenes Spazierstöckchen in der Hand hatte, entriß es ihm und versetzte ihrem Beleidiger damit aus aller Kraft einen Schlag quer ins Gesicht. All dies vollzog sich in einer Sekunde… Der Offizier, vor Wut außer sich, stürzte sich auf sie; ihr Gefolge hatte Nastasja Filippowna nicht mehr um sich; der anständige Herr in mittleren Jahren hatte sich bereits aus dem Staube gemacht, und der angeheiterte Herr stand ein wenig abseits und lachte aus Leibeskräften. Eine Minute darauf wäre natürlich die Polizei erschienen, aber während dieser Minute wäre es Nastasja Filippowna schlimm ergangen, wenn ihr nicht eine unerwartete Hilfe gekommen wäre: der Fürst, der ebenfalls zwei Schritte entfernt stand, vermochte noch gerade den Offizier von hinten an den Armen zu fassen. Seinen Arm losreißend, versetzte ihm der Offizier einen starken Stoß gegen die Brust; der Fürst flog etwa drei Schritte zurück und fiel auf einen Stuhl. Aber nun erschienen bei Nastasja Filippowna bereits zwei Beschützer. Vor dem heranstürmenden Offizier stand der Boxer, der Verfasser jenes dem Leser bekannten Schmähartikels und aktives Mitglied der früheren Rogoshinschen Bande.

»Keller! Leutnant a. D.«, stellte er sich in affektiert forscher Weise vor. »Wenn Ihnen ein Faustkampf gefällig ist, Hauptmann, so stehe ich als Vertreter des schwachen Geschlechts zu Ihren Diensten; ich verstehe mich vorzüglich auf die englische Boxkunst. Nehmen Sie es nicht übel, Hauptmann; ich bedaure die Ihnen angetane blutige Beleidigung, aber ich kann nicht zugeben, daß jemand gegen eine Frau vor den Augen des Publikums vom Faustrecht Gebrauch macht. Wenn Sie aber, wie es sich für einen anständigen Mann schickt, die Sache in anderer Form zu erledigen wünschen, so … Sie werden mich selbstverständlich verstehen, Hauptmann…«

Aber der Hauptmann war schon zur Besinnung gekommen und hörte nicht mehr auf ihn hin. In diesem Augenblick tauchte Rogoshin aus der Menge auf, reichte Nastasja Filippowna schnell den Arm und zog sie hinter sich her. Rogoshin selbst schien furchtbar aufgeregt zu sein, er war blaß und zitterte. Während er Nastasja Filippowna wegführte, fand er noch Zeit, dem Offizier höhnisch ins Gesicht zu lachen und ihm mit der Miene eines triumphierenden Krämers zuzurufen:

»He! Da hast du’s abbekommen! Die ganze Visage voll Blut! Teufel auch!«

Der Offizier, der seine Fassung wiedererlangt hatte und sich darüber klargeworden war, an wen er sich zu halten hatte, wandte sich, das Gesicht mit dem Taschentuch verdeckend, höflich an den Fürsten, der bereits vom Stuhl wieder aufgestanden war:

»Sie sind Fürst Myschkin, dem ich das Vergnügen hatte vorgestellt zu werden?«

»Sie ist irrsinnig! Geisteskrank! Ich versichere es Ihnen!« antwortete der Fürst mit bebender Stimme und streckte ihm aus irgendeinem Grund seine zitternden Hände entgegen.

»Ich kann mich natürlich solcher Kenntnisse nicht rühmen; aber ich muß Ihren Namen wissen.«

Er nickte ihm zu und ging weg. Die Polizei erschien genau fünf Sekunden, nachdem die letzten beteiligten Personen verschwunden waren. Übrigens hatte der ganze Skandal nicht länger als zwei Minuten gedauert. Einige aus dem Publikum hatten sich von ihren Stühlen erhoben und waren weggegangen; andere hatten sich nur auf einen andern Platz gesetzt; wieder andere freuten sich gewaltig über die Skandalaffäre; andere schließlich begannen eifrig und mit lebhaftem Interesse darüber zu sprechen. Die Musikkapelle fing wieder an zu spielen. Der Fürst folgte den Jepantschins nach. Wenn er darauf verfallen wäre oder Zeit gehabt hätte, nach links zu blicken, als er infolge des Stoßes auf den Stuhl gefallen war, so hätte er zwanzig Schritte entfernt Aglaja erblickt, die stehengeblieben war, um die Skandalszene mit anzusehen, und nicht auf die Rufe ihrer Mutter und ihrer Schwestern hörte, die schon weitergegangen waren. Fürst Schtsch., der zu ihr gelaufen kam, überredete sie endlich, schneller wegzugehen. Lisaweta Prokofjewna erinnerte sich später, daß Aglaja zu ihnen in einer solchen Aufregung zurückkam, daß sie ihre Rufe wohl kaum gehört haben konnte. Aber zwei Minuten darauf, als sie eben in den Park eingetreten waren, sagte Aglaja in ihrem gewöhnlichen, gleichgültigen, launischen Ton:

»Ich wollte nur sehen, wie die Komödie endete.«

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Kapitel 31

III

Der Vorfall in dem Vauxhall hatte die Mutter und die Töchter arg erschreckt. In ihrer Unruhe und Aufregung legten Lisaweta Prokofjewna und die Töchter den ganzen Weg vom Vauxhall nach ihrem Hause geradezu laufend Aber seine Gattin ging mit drohender Miene an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten und ohne ihn auch nur anzusehen. An den Augen seiner Töchter und des Fürsten Schtsch. erkannte er sogleich, daß es in seiner Familie gewitterte. Aber auch ohne das prägte sich auf seinem eigenen Gesicht eine ungewöhnliche Unruhe aus. Er faßte den Fürsten Schtsch. sogleich unter, hielt ihn am Hauseingang zurück und wechselte fast flüsternd einige Worte mit ihm. An den aufgeregten Mienen beider, als sie dann in die Veranda kamen und sich weiter zu Lisaweta Prokofjewna begaben, konnte man merken, daß sie beide eine ganz ungewöhnliche Nachricht erhalten hatten. Allmählich fanden sich alle oben bei Lisaweta Prokofjewna zusammen, und in der Veranda blieb schließlich nur der Fürst zurück. Er saß in einer Ecke, als wartete er auf etwas, ohne jedoch selbst zu wissen warum; angesichts der im Hause herrschenden Unruhe wegzugehen, das kam ihm gar nicht in den Sinn; es schien, als habe er die ganze Welt vergessen und sei bereit, auch zwei Jahre hintereinander da zu sitzen, wo man ihn hinsetzen würde. Von oben hörte er mitunter einzelne Laute eines aufgeregten Gesprächs. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er da schon so gesessen hatte. Es war spät geworden und schon ganz dunkel. Auf einmal kam Aglaja nach der Veranda heraus; sie war äußerlich ruhig, wenn auch etwas blaß. Als sie den Fürsten erblickte, den sie hier in der Ecke auf einem Stuhl zu treffen anscheinend nicht erwartet hatte, lächelte sie wie erstaunt.

»Was machen Sie denn hier?« fragte sie, an ihn herantretend.

Der Fürst murmelte verlegen eine Antwort und sprang vom Stuhl auf; aber Aglaja setzte sich sogleich neben ihn, und so ließ auch er sich wieder nieder. Sie blickte ihn aufmerksam an, dann sah sie wie gedankenlos durch das Fenster, dann wieder nach ihm hin. ›Vielleicht will sie sich über mich lustig machen‹, dachte der Fürst, ›aber nein, dann hätte sie es ja schon getan.‹

»Vielleicht möchten Sie Tee trinken, dann werde ich welchen bringen lassen«, sagte sie nach einigem Schweigen.

»N-nein … Ich weiß nicht…«

»Aber wie kann man denn so etwas nicht wissen? Ach ja, hören Sie: wenn Sie jemand zum Duell forderte, was würden Sie dann machen? Ich wollte Sie schon vorhin danach fragen.«

»Aber… wer sollte… es fordert mich ja niemand zum Duell.«

»Nun, aber wenn Sie gefordert würden? Würden Sie große Angst haben?«

»Ich glaube, ich würde mich sehr… fürchten.«

»Im Ernst? Also sind Sie feige?«

»N-nein; das vielleicht nicht. Feige ist derjenige, der sich fürchtet und davonläuft, aber wer sich fürchtet und nicht davonläuft, der braucht noch nicht feige zu sein«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lächelnd.

»Und Sie würden nicht weglaufen?«

»Vielleicht würde ich das nicht tun«, antwortete er, schließlich auflachend, auf Aglajas Fragen.

»Ich bin zwar ein Weib, aber ich würde unter keinen Umständen weglaufen«, bemerkte sie empfindlich. »Aber Sie machen sich über mich lustig und reden nach Ihrer Gewohnheit wunderliches Zeug, um sich interessant zu machen. Sagen Sie mal: die Duellanten schießen ja wohl gewöhnlich auf zwölf Schritte, manche auch auf zehn Schritte; also wird man sicher erschossen oder verwundet?«

»Beim Duell fällt wohl selten jemand.«

»Selten? Puschkin ist doch im Duell erschossen.«

»Das war vielleicht ein Zufall.«

»Ganz und gar kein Zufall; es war ein Duell auf Leben und Tod, und da wurde er erschossen.«

»Die Kugel traf ihn so weit unten, daß man annehmen muß, Dantès habe auf eine höhere Körperstelle gezielt, auf die Brust oder auf den Kopf. So weit nach unten zielt niemand, somit hat die Kugel Puschkin aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig getroffen, durch einen Fehlschuß. Das ist mir von kompetenten Leuten gesagt worden.«

»Aber mir hat ein Soldat, mit dem ich einmal sprach, gesagt, sie seien, wenn sie sich in Schützenschwärme auflösten, durch das Reglement ausdrücklich angewiesen, auf die Mitte des Menschen zu zielen; so lautet der Ausdruck bei ihnen: ›auf die Mitte des Menschen‹. Also die werden angewiesen, nicht nach der Brust oder nach dem Kopf, sondern absichtlich nach der Mitte des Körpers zu schießen. Ich fragte später einen Offizier danach, und der sagte mir, daß es sich genau so verhalte.«

»Das ist gewiß so angeordnet, weil da auf weite Entfernung geschossen wird.«

»Können Sie schießen?«

»Ich habe noch nie geschossen.«

»Können Sie wirklich nicht einmal eine Pistole laden?«

»Nein, das kann ich nicht. Das heißt, ich weiß, wie es gemacht wird, aber ich habe noch nie selbst eine geladen.«

»Nun, dann können Sie es auch nicht; denn dazu gehört praktische Erfahrung! Hören Sie mal zu und prägen Sie es sich gut ein: erstens kaufen Sie sich gutes Pistolenpulver, nicht feuchtes (es darf nicht feucht sein, sage ich, es muß ganz trocken sein), recht feines; solches müssen Sie gleich fordern, nicht solches, mit dem man aus Kanonen schießt. Die Kugel gießt man sich irgendwie selbst. Haben Sie Pistolen?«

»Nein, ich brauche auch keine«, versetzte der Fürst lachend.

»Ach, dummes Zeug! Kaufen Sie sich unter allen Umständen eine: eine gute französische oder englische; das sind die besten, sage ich Ihnen. Dann nehmen Sie Pulver, etwa einen Fingerhut voll oder vielleicht zwei, und schütten Sie es hinein! Lieber ein bißchen mehr. Drücken Sie es mit Filz fest (Filz ist unbedingt nötig, sage ich Ihnen); den können Sie sich leicht irgendwoher beschaffen, von einer Matratze; auch die Türen werden manchmal mit Filz beschlagen. Dann, wenn Sie den Filz hineingestopft haben, legen Sie die Kugel darauf; hören Sie wohl: die Kugel nachher, das Pulver zuerst, sonst schießt es nicht. Warum lachen Sie? Ich will, daß Sie täglich ein paarmal schießen und unbedingt ein Ziel treffen lernen. Werden Sie das auch tun?«

Der Fürst lachte; Aglaja stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Ihre ernste Miene bei einem solchen Gespräch setzte den Fürsten einigermaßen in Erstaunen. Er hatte die unklare Empfindung, daß er hier etwas in Erfahrung bringen, nach etwas fragen müsse, und zwar jedenfalls nach etwas Ernsthafterem, als es das Laden einer Pistole war. Aber all das war ihm aus dem Sinn entschwunden, und er fühlte nur das eine, daß sie vor ihm saß und er sie ansah; worüber sie redete, das war ihm in diesem Augenblick so gut wie gleichgültig.

Endlich kam Iwan Fjodorowitsch selbst von oben nach der Veranda herunter; er hatte noch einen Gang vor; seine Miene war finster und sorgenvoll, zeigte aber feste Entschlossenheit.

»Ah, Lew Nikolajitsch, du bist hier… Wo willst du denn jetzt hin?« fragte er, obwohl dieser gar nicht daran dachte, sich von seinem Platz zu rühren. »Komm mit, ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

»Auf Wiedersehen!« sagte Aglaja und reichte dem Fürsten die Hand.

In der Veranda war es schon recht dunkel, und der Fürst konnte jetzt ihren Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen. Gleich darauf, als er bereits mit dem General das Landhaus verließ, errötete er plötzlich stark und preßte seine rechte Hand fest zusammen.

Es stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch mit ihm den gleichen Weg hatte; der General ging trotz der späten Stunde noch eilig fort, um mit jemand etwas zu besprechen. Zunächst aber begann er jetzt mit dem Fürsten zu reden, Hastig, aufgeregt, unzusammenhängend, und erwähnte in dem Gespräch häufig Lisaweta Prokofjewna. Hätte der Fürst in diesem Augenblick aufmerksamer sein können, so würde er vielleicht gemerkt haben, daß Iwan Fjodorowitsch unter anderm auch von ihm etwas herauszubringen oder, richtiger ausgedrückt, ihn offen und geradezu nach etwas zu fragen wünschte, es aber immer nicht fertigbrachte, den Hauptpunkt zu berühren. Zu seiner Schande war aber der Fürst in einem Maße zerstreut, daß er gleich von vornherein nichts hörte und, als der General mit einer eifrigen Frage vor ihm stehenblieb, bekennen mußte, daß er nichts verstanden habe.

Der General zuckte mit den Achseln.

»Was seid ihr alle für sonderbare Menschen geworden«, begann er dann von neuem. »Ich sage dir, ich begreife gar nicht, was Lisaweta Prokofjewna sich für Gedanken macht und warum sie sich so aufregt. Sie ist furchtbar nervös und weint und sagt, wir seien beschimpft und an den Pranger gestellt worden. Wer hätte das getan? Wie? Wodurch? Wann und warum? Ich gestehe, daß ich einen Teil der Schuld trage (das gebe ich zu), einen großen Teil der Schuld, aber den Zudringlichkeiten dieses… dieses unruhigen Weibes (obendrein ist auch ihr Benehmen schlecht) muß schließlich durch die Polizei ein Ende gemacht werden, und ich beabsichtige gleich heute, zu diesem Zweck mit jemand zu sprechen und der Sache einen Riegel vorzuschieben. Man kann all dergleichen im stillen, im guten, sogar in freundlicher Weise, durch gute Bekannte und ohne alles Aufsehen abmachen. Ich gebe auch zu, daß die Zukunft noch manche Überraschungen in ihrem Schoß birgt und daß vieles noch unaufgeklärt ist; es steckt eine Intrige dahinter; aber wenn man hier nichts weiß und dort nichts zu erklären vermag und wenn ich nichts gehört habe und du nichts gehört hast und jener nichts gehört hat und ein vierter ebenfalls nichts gehört hat: wer hat denn schließlich etwas davon gehört, frage ich dich? Wie soll man das deiner Ansicht nach erklären, wenn man nicht sagen will, die Sache sei zur Hälfte eine Luftspiegelung, etwas nicht Existierendes, in der Art wie das Mondlicht… oder andere Visionen?«

»Sie ist geisteskrank«, murmelte der Fürst, der sich plötzlich mit Schmerz an den ganzen Vorfall von vorhin erinnerte.

»Das habe ich auch geglaubt, wenn du damit dieses Weib meinst. Auch mir war dieser Gedanke gekommen, und dann schlief ich ruhig ein. Aber jetzt sehe ich, daß sie doch sehr folgerichtig denkt, und glaube nicht mehr an ihre Geisteskrankheit. Ein launisches Weib, gewiß, dabei aber scharfsinnig und ganz und gar nicht verrückt. Ihre heutigen Ausfälle gegen Kapiton Alexejitsch beweisen das deutlich. Es liegt ihrerseits ein gaunerisches, das heißt mindestens ein jesuitisches Verfahren vor, bei dem sie bestimmte Ziele verfolgt.«

»Was ist das für ein Kapiton Alexejitsch?«

»Ach, mein Gott, Lew Nikolajitsch, du hörst ja gar nicht zu! Ich habe ja damit angefangen, dir von Kapiton Alexejitsch zu erzählen; ich bin so erschüttert, daß mir noch jetzt Arme und Beine zittern. Darum bin ich ja auch heute so lange in der Stadt geblieben. Es handelt sich um Kapiton Alexejitsch Radomskij, den Onkel Jewgenij Pawlowitschs.«

»Nun, was ist mit ihm?« rief der Fürst.

»Er hat sich erschossen, heute morgen um sieben Uhr. Ein allgemein geachteter Greis, siebzigjährig, ein Epikureer. Und ganz wie sie gesagt hat: es fehlen Staatsgelder, eine bedeutende Summe!«

»Woher hat sie denn…«

»Woher sie das erfahren hat? Haha! Es hat sich ja um sie schon ein ganzer Stab gebildet, sobald sie nur hier erschienen ist. Weißt du nicht, was für Leute sie jetzt besuchen und sich um die ›Ehre ihrer Bekanntschaft‹ bemühen? Sie konnte das heute auf die einfachste Weise von Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, erfahren, denn jetzt weiß es schon ganz Petersburg und hier halb Pawlowsk oder auch schon ganz Pawlowsk. Aber wie fein war ihre Bemerkung über die Uniform – sie ist mir wiedererzählt worden –, das heißt in bezug darauf, daß Jewgenij Pawlytsch rechtzeitig den Abschied genommen habe! Das war eine teuflische Anspielung! Nein, das weist nicht auf Geisteskrankheit hin. Ich kann natürlich nicht glauben, daß Jewgenij Pawlytsch von der Katastrophe etwas im voraus wissen konnte, das heißt, daß am Soundsovielten, um sieben Uhr morgens und so weiter. Aber er konnte all das wenigstens ahnen. Und ich und wir alle, auch Fürst Schtsch., rechneten damit, daß der Onkel ihm noch eine hübsche Erbschaft hinterlassen würde! Es ist furchtbar! Geradezu furchtbar! Versteh mich übrigens recht: ich spreche gegen Jewgenij Pawlytsch keinerlei Beschuldigung aus und beeile mich, dir das ausdrücklich zu erklären, aber verdächtig ist die Sache trotz alledem. Fürst Schtsch. ist tief erschüttert. Das alles ist so seltsam über uns hereingebrochen.«

»Aber was ist denn an Jewgenij Pawlytschs Benehmen verdächtig?«

»Gar nichts! Er hat sich durchaus anständig benommen. Ich habe ja auch nichts Derartiges angedeutet. Sein eigenes Vermögen, denke ich, ist unversehrt. Lisaweta Prokofjewna will davon natürlich nichts hören… Aber die Hauptsache sind all diese Familienkatastrophen oder, richtiger gesagt, all diese Zänkereien – man weiß gar nicht, wie man es nennen soll… Du bist ja, das muß man wirklich sagen, ein Freund unseres Hauses, Lew Nikolajitsch; nun denk dir einmal, eben kommt zur Sprache, wenn auch nicht in genauer, zuverlässiger Form, daß Jewgenij Pawlytsch schon vor mehr als einem Monat Aglaja einen Heiratsantrag gemacht und von ihr in aller Form einen Korb erhalten hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief der Fürst lebhaft.

»Aber weißt du denn vielleicht etwas darüber? Siehst du, Teuerster«, sagte der General, indem er erschrocken zusammenfuhr und wie angenagelt auf dem Fleck stehenblieb, »ich habe dir vielleicht unpassenderweise mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen, aber das ist mir so entschlüpft, weil du… weil du… man kann sagen, weil du ein solcher Mensch bist. Vielleicht weißt du irgend etwas Besonderes?«

»Ich weiß nichts… von Jewgenij Pawlytsch«, murmelte der Fürst.

»Auch ich weiß nichts! Mich… mich, mein Lieber, behandeln alle geradezu, als ob ich schon tot und begraben wäre und von nichts mehr zu wissen brauchte, und können dabei gar nicht verstehen, daß das für einen Menschen peinlich ist und daß ich das nicht ertragen kann. Eben habe ich da eine Szene erlebt, es war schrecklich! Ich rede mit dir, als wärst du mein Sohn. Die Hauptsache ist: Aglaja macht sich geradezu über ihre Mutter lustig. Daß sie anscheinend vor einem Monat Jewgenij Pawlytsch einen Korb gegeben und daß zwischen ihnen eine ziemlich formelle Auseinandersetzung stattgefunden hat, haben uns die Schwestern als Vermutung mitgeteilt… übrigens als sichere Vermutung. Aber sie ist ja ein so eigenwilliges, phantastisches Wesen, daß es gar nicht zu sagen ist! Sie besitzt die prächtigsten, glänzendsten Eigenschaften des Geistes und Herzens, gewiß, zugegeben, aber dabei ist sie launisch und spottlustig, kurz, ein reiner Kobold, und hat immer phantastische Einfälle. Über ihre Mutter hat sie sich jetzt eben gerade ins Gesicht lustig gemacht, ebenso über ihre Schwestern und den Fürsten Schtsch. Von mir brauche ich erst gar nicht zu reden; über mich macht sie sich eigentlich fortwährend lustig, aber, weißt du, ich liebe sie doch und habe es sogar gern, daß sie sich über unsereinen lustig macht, – und wie es scheint, liebt mich dieser Kobold deswegen ganz besonders, das heißt mehr, als sie alle andern liebt. Ich möchte darauf wetten, daß sie sich auch über dich schon lustig gemacht hat. Ich fand euch hier eben im Gespräch begriffen, als ich von der erregten Szene oben herunterkam; sie saß da mit dir zusammen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.«

Der Fürst wurde furchtbar rot und preßte seine rechte Hand zusammen, aber er schwieg.

»Mein lieber, guter Lew Nikolajitsch!« sagte der General auf einmal mit warmer Empfindung. »Ich… und sogar Lisaweta Prokofjewna selbst (die übrigens wieder angefangen hat, auf dich zu schimpfen und zugleich in zweiter Linie auch auf mich, ich weiß nicht, weswegen eigentlich), wir lieben dich trotz alledem, wir lieben und achten dich aufrichtig, trotz aller Äußerlichkeiten. Du mußt aber selbst zugeben, lieber Freund, du mußt selbst zugeben: was ist das auf einmal für ein Rätsel und für ein Ärger, wenn man hört, wie dieser kaltblütige Kobold (denn sie stand vor ihrer Mutter mit dem Ausdruck tiefster Verachtung für all unsere Fragen und namentlich für die meinigen, weil ich, hol’s der Teufel, die Dummheit begangen hatte, streng zu sein, wo ich doch das Oberhaupt der Familie bin, – na, das war eben eine Dummheit), wie dieser kaltblütige Kobold auf einmal lächelnd erklärt, daß diese ›Geisteskranke‹ (so drückte sie sich aus, und es kommt mir merkwürdig vor, daß sie sich desselben Wortes bediente wie du: ›Habt ihr denn das noch nicht gemerkt?‹ sagte sie), daß diese Geisteskranke ›es sich in den Kopf gesetzt hat, mich um jeden Preis mit Lew Nikolajitsch zu verheiraten, und zu diesem Zwecke Jewgenij Pawlytsch aus unserm Haus herausschaffen möchte‹… Mehr sagte sie nicht, sie gab keine weiteren Erklärungen, lachte für sich, wir rissen erstaunt den Mund auf, sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Dann erzählten mir die Meinigen von der Szene, die sich vorhin zwischen ihr und dir abgespielt hat… und… und… hör mal, lieber Fürst, du bist ein sehr verständiger Mensch und nicht empfindlich, das habe ich an dir wahrgenommen, aber… werde nicht böse: sie macht sich, weiß Gott, über dich lustig. Wie ein Kind macht sie sich über andere Leute lustig, und darum sei ihr nicht böse, aber es verhält sich bestimmt so. Mach dir darüber weiter keine Gedanken – sie hält dich und uns alle einfach zum Narren, so zum Zeitvertreib. Aber nun leb wohl! Du kennst doch unsere Gesinnung? Unsere herzliche Zuneigung zu dir? Die ist unwandelbar, für alle Zeit und in jeder Hinsicht… aber… ich muß jetzt hier abbiegen, auf Wiedersehn! Selten in meinem Leben habe ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt… O weh, ist das eine Sommerfrische!«

Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gespräches mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers:

»Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht.

PS. Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemand zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, wobei ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete.

PP. SS. Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.«

Der Zettel war eilig geschrieben und ohne Sorgfalt zusammengefaltet, aller Wahrscheinlichkeit nach kurz bevor Aglaja nach der Veranda herausgekommen war. In einer unsagbaren Aufregung, die mit Angst Ähnlichkeit hatte, drückte der Fürst den Zettel wieder in der Hand zusammen und sprang schnell wie ein erschreckter Dieb vom Fenster und vom Licht zurück, aber bei dieser Bewegung stieß er auf einmal heftig mit einem Herrn zusammen, der unmittelbar hinter ihm stand.

»Ich bin Ihnen gefolgt, Fürst«, sagte der Herr.

»Sie sind es, Keller?« rief der Fürst erstaunt.

»Ich möchte mit Ihnen reden, Fürst. Ich habe bei dem Jepantschinschen Landhaus auf Sie gewartet; hineingehen konnte ich natürlich nicht. Ich bin hinter Ihnen hergegangen, während Sie mit dem General gingen. Ich stehe zu Ihren Diensten, Fürst; verfügen Sie über Keller. Ich bin bereit, für Sie jedes Opfer zu bringen und, wenn es sein muß, sogar zu sterben.«

»Aber… weshalb denn?«

»Nun, es wird jetzt jedenfalls eine Herausforderung zum Duell erfolgen. Dieser Leutnant Molowzow, ich kenne ihn, das heißt nicht persönlich… er wird die Beleidigung nicht so hinnehmen. Unsereinen, das heißt mich und Rogoshin, hält er natürlich für Pack, und vielleicht verdientermaßen; auf diese Weise fällt die Verantwortung allein Ihnen zu. Sie werden die Zeche bezahlen müssen, Fürst. Er hat sich, wie ich gehört habe, nach Ihnen erkundigt, und es wird sich gewiß morgen einer seiner Freunde bei Ihnen einfinden, vielleicht wartet er auch jetzt schon auf Sie. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich als Sekundanten zu nehmen, so bin ich bereit, alles auf mich zu nehmen; darum habe ich Sie aufgesucht, Fürst.«

»Also auch Sie reden von einem Duell!« rief der Fürst lachend zu Kellers größtem Erstaunen. Er lachte gewaltig. Keller, der wirklich von Unruhe gepeinigt worden war, bis er es zu seiner Beruhigung fertiggebracht hatte, sich als Sekundanten anzubieten, fühlte sich beinah beleidigt, als er den Fürsten so heiter lachen sah.

»Sie haben ihn aber vorhin bei den Armen gepackt, Fürst. Das kann sich ein anständiger Mensch vor den Augen des Publikums schwerlich gefallen lassen.«

»Und er hat mich vor die Brust gestoßen!« rief der Fürst lachend. »Wir haben keinen Grund, uns zu duellieren! Ich werde ihn um Verzeihung bitten, und damit ist die Sache erledigt. Wenn es aber zum Duell kommen soll, mir ist’s recht! Mag er schießen; ich wünsche es sogar. Haha! Ich verstehe jetzt eine Pistole zu laden! Verstehen Sie eine Pistole zu laden, Keller? Zuerst muß man Pulver kaufen, Pistolenpulver, nicht feuchtes und nicht so grobes wie das, womit man aus Kanonen schießt; dann muß man zuerst das Pulver hineintun, darauf Filz, den man von einer Tür abreißt, und dann schiebt man die Kugel hinein, aber nicht die Kugel vor dem Pulver, weil es sonst nicht schießt. Hören Sie wohl, Keller: weil es sonst nicht schießt. Haha! Ist das nicht eine ausgezeichnete Begründung, Freund Keller? Ach, Keller, wissen Sie, ich werde Sie gleich umarmen und küssen. Hahaha! Wie ging das nur zu, daß Sie vorhin in dem Vauxhall so plötzlich vor ihm standen? Kommen Sie möglichst bald einmal zu mir Champagner trinken! Wir wollen uns alle gehörig bezechen! Wissen Sie, daß ich zwölf Flaschen Champagner in Lebedews Keller liegen habe? Lebedew hat sie mir vorgestern als Gelegenheitskauf angeboten, gleich am andern Tag, nachdem ich zu ihm gezogen war, ich habe sie alle gekauft! Ich werde die ganze Gesellschaft zusammen einladen! Wie ist’s, werden Sie heute nacht schlafen?«

»Wie jede Nacht, Fürst.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume! Haha!«

Der Fürst ging quer über die Straße und verschwand im Park; Keller blieb sehr verwundert und nachdenklich stehen. Er hatte den Fürsten noch nie in einem so sonderbaren Zustand gesehen und ihn sich bisher auch nicht so vorstellen können.

›Vielleicht fiebert er, denn er ist ein nervöser Mensch, und das alles hat eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt, aber feige ist er gewiß nicht. Gerade solche Leute sind nicht feige, weiß Gott!‹ dachte Keller bei sich. ›Hm! Champagner! Das ist doch eine sehr interessante Mitteilung. Zwölf Flaschen, ein Dutzend; das läßt sich hören: eine ordentliche Batterie! Ich möchte wetten, daß Lebedew den Champagner von irgend jemand als Pfand bekommen hat. Hm!… Er ist aber doch recht liebenswürdig, dieser Fürst; wirklich, ich habe solche Menschen gern, aber es ist keine Zeit zu verlieren, und… wenn Champagner da ist, so ist das gerade die richtige Zeit…‹

Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, war natürlich ganz richtig.

Er schweifte lange im dunklen Park umher und kam endlich zu sich, als er in einer Allee auf und ab ging. In seinem Bewußtsein haftete die Erinnerung, daß er in dieser Allee, von einer Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens bei einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein lautes Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen vorhanden, aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können und daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig gewesen war… ›Ah!‹ dachte er und blieb, von einem andern Gedanken überrascht, stehen, ›vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und lachte so … und fing an, vom Teetrinken zu reden, und doch hatte sie in diesem Augenblick schon den Zettel in der Hand; folglich wußte sie unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie dann also so erstaunt? Hahaha!‹

Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken.

»Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein Weilchen darauf beinahe traurig. In Augenblicken einer starken Freude wurde er stets traurig, er wußte selbst nicht warum. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er hierhergeraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik im Vauxhall hatte schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme, helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni, aber in dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand, war es schon fast ganz dunkel.

Wenn ihm jemand in diesem Augenblick gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt, und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen Menschen«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten. Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte, aber er fand diesen Mutwillen ganz natürlich und regte sich darüber nicht auf; etwas ganz anderes war es, was ihn beschäftigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Die Bemerkung, die kurz vorher dem General in seiner Erregung entschlüpft war, daß sie sich über alle und namentlich über ihn, den Fürsten, lustig mache, hielt er für vollkommen richtig. Er fühlte sich dadurch auch nicht im geringsten verletzt, seiner Meinung nach mußte es so sein. Die Hauptsache war für ihn, daß er sie am nächsten Tage frühmorgens wiedersehen, neben ihr auf der grünen Bank sitzen, die Belehrung über das Laden von Pistolen anhören und sie ansehen würde. Weiter hatte er keinen Wunsch. Die Frage, was sie ihm eigentlich sagen wollte und was das für eine wichtige, ihn direkt angehende Angelegenheit war, tauchte ebenfalls ein- oder zweimal in seinem Kopf auf. An der tatsächlichen Existenz dieser »wichtigen Angelegenheit«, um derentwillen er zum Rendezvous bestellt war, zweifelte er übrigens keinen Augenblick, aber er dachte an diese wichtige Angelegenheit jetzt fast gar nicht, so wenig, daß er nicht einmal den geringsten Drang verspürte, daran zu denken.

Das Knirschen leiser Schritte auf dem Sand der Allee veranlaßte ihn, den Kopf zu heben. Ein Mensch, dessen Gesicht in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, näherte sich der Bank und setzte sich neben ihn. Der Fürst rückte schnell nahe an ihn heran und erkannte das bleiche Gesicht Rogoshins.

»Das habe ich doch gewußt, daß du hier irgendwo umherschweifst, ich habe auch nicht lange zu suchen brauchen«, murmelte Rogoshin durch die Zähne.

Es war das erstemal seit ihrer Begegnung auf der Treppe des Gasthauses, daß sie miteinander zusammentrafen. Überrascht durch Rogoshins plötzliches Erscheinen, konnte der Fürst eine Weile nicht seine Gedanken sammeln, und eine qualvolle Empfindung wurde in seinem Herzen wieder wach. Rogoshin hatte offenbar Verständnis für den Eindruck, den er hervorrief; aber obgleich er anfänglich verwirrt zu sein und mit einer Art gekünstelter Ungezwungenheit zu reden schien, schien es dem Fürsten doch bald, daß sein Benehmen ungekünstelt und nicht einmal besonders verlegen war: wenn eine gewisse Ungeschicklichkeit in seinen Gesten und seiner Redeweise zutage trat, so war das nur äußerlich; im Herzen konnte sich dieser Mensch nicht verändern.

»Wie hast du… mich denn hier gefunden?« fragte der Fürst, um etwas zu sagen.

»Ich hatte von Keller gehört (ich war nämlich in deiner Wohnung), du wärest in den Park gegangen; na, dachte ich, dann ist die Sache richtig.«

»Was heißt das: ›die Sache ist richtig‹?« fragte der Fürst, indem er aufgeregt den Ausdruck aufgriff, der dem andern entschlüpft war.

Rogoshin lächelte, gab aber keine Erklärung.

»Ich habe deinen Brief erhalten, Lew Nikolajitsch; du hast dir unnütze Mühe gemacht…, wozu tust du das nur!… Jetzt aber komme ich zu dir in ihrem Auftrag: du sollst unbedingt zu ihr kommen; sie hat dir etwas zu sagen. Sie läßt dich bitten, noch heute hinzukommen.«

»Ich werde morgen kommen. Ich gehe jetzt gleich nach Hause. Willst du nicht… zu mir kommen?«

»Wozu? Ich habe dir alles Nötige gesagt. Leb wohl!«

»Willst du nicht doch mitgehen?« fragte ihn der Fürst leise.

»Du bist ein sonderbarer Mensch, Lew Nikolajitsch; man muß sich über dich wundern.«

Rogoshin lächelte spöttisch.

»Warum? Weshalb hast du jetzt einen solchen Groll gegen mich?« fragte ihn der Fürst traurig und mit leidenschaftlicher Empfindung. »Du weißt ja jetzt selbst, daß alles, was du gedacht hast, unwahr ist. Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß dein Groll gegen mich noch nicht vergangen sein würde, und weißt du weshalb? Weil du mir nach dem Leben getrachtet hast, darum vergeht dein Groll nicht. Ich sage dir, ich erinnere mich nur an jenen Parfen Rogoshin, mit dem ich an jenem Tag das Kreuz gewechselt habe; ich habe dir das in meinem gestrigen Brief geschrieben, damit du diesen ganzen Fieberwahn vergessen und nicht mit mir davon zu reden anfangen möchtest. Warum rückst du von mir weg? Warum versteckst du deine Hand vor mir? Ich sage dir, daß ich alles damals Geschehene nur für einen Fieberwahn halte: ich kenne dich, wie du an jenem ganzen Tage warst, durch und durch, wie mich selbst. Das, was du dir einbildest, hat nicht existiert und konnte nicht existieren. Warum soll unser Groll fortdauern?«

»Was kannst du denn für Groll empfinden?« erwiderte Rogoshin, wieder lachend, auf die warmen Worte des Fürsten. Er stand wirklich etwas von ihm entfernt, da er ein paar Schritte zurückgewichen war, und hielt seine Hände versteckt.

»Es schickt sich jetzt für mich überhaupt nicht, zu dir zu kommen, Lew Nikolajitsch«, fügte er langsam und bedeutsam zum Schluß hinzu.

»So sehr haßt du mich also? Wie?«

»Ich liebe dich nicht, Lew Nikolajitsch, also warum sollte ich zu dir kommen? Ach, Fürst, du bist ganz wie ein kleines Kind: du möchtest ein Spielzeug haben; ›gib her, gib her!‹ heißt es, aber du verstehst von der Sache gar nichts. Was du jetzt sagst, hast du mir alles ganz ebenso in deinem Brief geschrieben; meinst du denn, daß ich dir nicht glaube? Ich glaube jedes Wort, das du sagst, und weiß, daß du mich nie getäuscht hast und nie täuschen wirst; aber ich liebe dich trotzdem nicht. Du schreibst mir, du hättest alles vergessen und erinnerst dich nur an deinen Kreuzbruder Rogoshin, aber nicht an jenen Rogoshin, der damals das Messer gegen dich gezückt habe. Aber woher kennst du denn meine Gefühle?« Rogoshin lächelte wieder.) »Ich habe das vielleicht seitdem noch nie bereut, und du hast mir schon deine brüderliche Verzeihung geschickt. Vielleicht habe ich gleich an jenem selben Abend schon an etwas ganz anderes gedacht und diese Geschichte…«

»Und diese Geschichte vergessen!« fiel der Fürst ein.

»Wie könnte es auch anders sein! Ich möchte wetten, daß jedesmal, wenn sie den Betreffenden ansieht, denkt: Jetzt quäle ich ihn halbtot, aber nachher werde ich durch meine Liebe alles wiedergutmachen›…«

Rogoshin lachte, als er den Fürsten das sagen hörte.

»Hör mal, Fürst, du bist wohl selbst an so eine geraten? Ich habe so etwas über dich gehört, wenn’s wahr ist.«

»Was kannst du gehört haben? Was?« fragte der Fürst, der plötzlich zusammenfuhr und in großer Bestürzung stehenblieb.

Rogoshin fuhr fort zu lachen. Er hatte mit Interesse und vielleicht nicht ohne Vergnügen dem Fürsten zugehört; die freudige, warme Begeisterung des Fürsten imponierte ihm und ermutigte ihn.

»Und ich habe nicht nur etwas gehört, sondern ich sehe jetzt auch selbst, daß es wahr ist«, fügte er hinzu. »Wann hättest du denn jemals so geredet wie jetzt? Deine Reden klingen ja gar nicht, als ob sie von dir kämen. Hätte ich nicht so etwas über dich gehört, so würde ich nicht zu dir gekommen sein, noch dazu in den Park, um Mitternacht.«

»Ich verstehe dich absolut nicht, Parfen Semjonytsch.«

»Sie hat mir das schon vor längerer Zeit von dir gesagt, und vorhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen, als du mit der andern bei der Musik saßest. Sie hat mir geschworen, gestern und heute hat sie mir geschworen, daß du in Aglaja Jepantschina wie ein Kater verliebt seist. Mir ist das ganz gleichgültig, Fürst, das geht mich nichts an: wenn du sie auch nicht mehr liebst, so liebt doch sie dich noch immer. Du weißt ja, daß sie aus dir und jener andern unter allen Umständen ein Paar machen will, das hat sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt, hehe! Sie sagt zu mir: ›Sonst heirate ich dich nicht; wenn die beiden zum Traualtar gehen, dann wollen wir es auch tun.‹ Was das zu bedeuten hat, habe ich nie begriffen und begreife ich auch jetzt nicht: entweder liebt sie dich grenzenlos oder… wenn sie dich liebt, wie kann sie dann wünschen, daß du eine andere heiratest? Sie sagt: ›Ich will ihn glücklich sehen‹, also liebt sie dich.«

»Ich habe dir gesagt und geschrieben, daß sie… nicht bei Sinnen ist«, sagte der Fürst, der Rogoshin mit innerer Qual angehört hatte.

»Gott mag’s wissen! Vielleicht irrst du dich auch… Übrigens hat sie heute, als ich sie von der Musik nach Hause brachte, unsern Hochzeitstag bestimmt: ›In drei Wochen‹, sagt sie, ›vielleicht auch schon früher, wollen wir uns bestimmt trauen lassen.‹ Sie hat es geschworen, hat das Heiligenbild von der Wand genommen und geküßt. Also hängt die Sache jetzt von dir ab, Fürst, hehe!«

»Das ist lauter irres Gerede! Das, was du da von mir sagst, kann nie geschehen! Ich werde morgen zu euch kommen…«

»Wie soll sie denn geisteskrank sein?« bemerkte Rogoshin. »Allen andern scheint sie bei Verstand zu sein, und nur du hältst sie für verrückt. Wie könnte sie denn Briefe dorthin schreiben? Wenn sie geisteskrank wäre, dann würde es doch auch dort an den Briefen gemerkt werden.«

»Was für Briefe?« fragte der Fürst erschrocken.

»Sie schreibt dorthin, an jene, und die liest es. Weißt du das denn nicht? Na, dann wirst du es schon noch erfahren; sie wird dir die Briefe schon selbst zeigen.«

»Das kann ich nicht glauben!« rief der Fürst.

»O weh! Du, Lew Nikolajitsch, hast, wie ich sehe, auf diesem Gebiet noch nicht viel Erfahrung, sondern bist noch ein Anfänger. Warte nur ein bißchen: du wirst dir deine eigene Polizei halten und selbst Tag und Nacht auf dem Posten sein und jeden Schritt von dort in Erfahrung bringen, wenn du nur erst…«

»Laß das und rede nie wieder davon!« rief der Fürst. »Höre, Parfen, ich bin hier soeben, bevor du kamst, umhergegangen und fing auf einmal an zu lachen, worüber, weiß ich selbst nicht, aber der äußere Anlaß war, daß mir einfiel, daß gerade morgen mein Geburtstag ist. Jetzt ist es bald zwölf Uhr. Komm mit, wir wollen den Tag zusammen begrüßen! Ich habe Wein zu Hause, den wollen wir trinken, wünsche du mir das, was ich mir selbst jetzt nicht zu wünschen weiß, ich lege Wert darauf, daß gerade du es mir wünschst, und ich werde dir wünschen, daß du vollkommen glücklich wirst. Sonst mußt du mir das Kreuz zurückgeben! Du hast mir das Kreuz damals doch nicht am nächsten Tag zurückgeschickt! Du trägst es doch noch? Trägst du es auch in diesem Augenblick?«

»Ja, ich trage es«, antwortete Rogoshin.

»Nun, dann wollen wir gehen! Ich will mein neues Leben nicht ohne dich antreten, denn es hat allerdings ein neues Leben für mich begonnen! Weißt du es nicht, Parfen, daß heute für mich ein neues Leben begonnen hat?«

»Jetzt sehe ich selbst und weiß selbst, daß das der Fall ist; ich werde es auch ihr berichten. Du bist ja ganz außer dir, Lew Nikolajitsch!«

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Kapitel 32

IV

Mit großem Vergnügen bemerkte der Fürst, als er sich mit Rogoshin seinem Landhause näherte, daß in seiner hell erleuchteten Veranda eine zahlreiche, lärmende Gesellschaft versammelt war. Es wurde lustig gelacht und geredet, anscheinend sogar unter Geschrei debattiert; man erkannte auf den ersten Blick, daß diese Leute die Zeit höchst heiter verbrachten. Und wirklich sah er, als er zur Veranda hinaufgestiegen war, daß alle tranken, und zwar Champagner tranken und dies, wie es schien, schon ziemlich lange getan hatten, so daß viele der Zechenden sich bereits in einem sehr angenehmen, angeregten Zustand befanden. Die Gäste waren lauter Bekannte des Fürsten, aber es war merkwürdig, daß sie sich alle auf einmal wie auf eine Einladung zusammengefunden hatten, obwohl der Fürst in Wirklichkeit niemand eingeladen und sich an seinen Geburtstag selbst soeben nur zufällig erinnert hatte.

»Du hast gewiß jemand mitgeteilt, daß du Champagner spendierst, und da sind sie zusammengelaufen«, murmelte Rogoshin, als er hinter dem Fürsten die Veranda betrat. »Das kenne ich; solchen Leuten braucht man nur zu pfeifen…«, fügte er ingrimmig hinzu, offenbar in Erinnerung an seine eigene, noch nicht weit zurückliegende Vergangenheit.

Alle begrüßten den Fürsten mit Freudenrufen und Glückwünschen und umringten ihn. Manche machten dabei viel Lärm, andere benahmen sich ruhiger, aber alle beeilten sich, ihm zu gratulieren, da sie von seinem Geburtstag gehört hatten, und jeder wartete auf den Augenblick, wo er an die Reihe kommen würde. Die Anwesenheit mancher Persönlichkeiten, so zum Beispiel Burdowskijs, war dem Fürsten interessant, aber am erstaunlichsten war es ihm, daß sich auch Jewgenij Pawlowitsch in dieser Gesellschaft befand; der Fürst traute kaum seinen Augen und bekam beinah einen Schreck, als er ihn erblickte.

Unterdessen kam auch Lebedew, mit gerötetem Gesicht und sehr enthusiasmiert, herbeigelaufen und erklärte den Hergang; er war schon in hohem Grade fertig. Aus seinem Geschwätz war zu entnehmen, daß alle sich ganz natürlich, ja zufällig zusammengefunden hatten. Am frühesten von allen, noch vor Abend, war Ippolit gekommen und hatte, da er sich weit besser fühlte, den Fürsten in der Veranda zu erwarten gewünscht. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht; dann war Lebedew hinzugekommen, hierauf dessen ganze Familie, das heißt General Iwolgin und die Töchter. Burdowskij war zugleich mit Ippolit angekommen, den er herbegleitet hatte. Ganja und Ptizyn waren erst vor kurzem, als sie gerade vorübergingen, eingetreten ihr Erscheinen fiel mit den Vorgängen im Vauxhall zusammen); darauf war Keller erschienen, hatte von dem Geburtstag Mitteilung gemacht und Champagner verlangt. Jewgenij Pawlowitsch hatte sich erst vor einer halben Stunde eingefunden. Auf das Champagnertrinken und die Veranstaltung eines Festes hatte auch Kolja mit aller Energie gedrungen. Lebedew hatte bereitwillig Wein aufgetragen.

»Aber von meinem eigenen, von meinem eigenen!« beteuerte er dem Fürsten lallend. »Auf meine eigenen Kosten, um Ihren Geburtstag festlich zu begehen und Ihnen zu gratulieren; es wird auch etwas zu essen geben, einen Imbiß; meine Tochter ist schon dabei, das zu besorgen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, über welches Thema wir gerade debattieren! Erinnern Sie sich an die Stelle im Hamlet: ›Sein oder Nichtsein‹? Das ist ein zeitgemäßes Thema, ein sehr zeitgemäßes Thema! Wir werfen Fragen auf und beantworten sie… Auch Herr Terentjew ist im höchsten Grade… er ist gar nicht müde! Von dem Champagner hat er nur genippt, nur genippt; das kann ihm nicht schaden… Treten Sie näher, Fürst, und entscheiden Sie! Alle haben wir nur auf Sie gewartet und auf Ihren glücklichen Verstand …«

Der Blick des Fürsten begegnete dem lieben, freundlichen Blicke Wera Lebedewas, die sich ebenfalls eilig bemühte, durch den Schwarm zu ihm vorzudringen. Unter Übergehung aller andern streckte er ihr zuerst die Hand hin; sie errötete vor Freude und wünschte ihm, daß er von diesem Tage an immer glücklich leben möge. Dann lief sie schleunigst in die Küche, wo sie den Imbiß herrichtete; aber auch vor der Ankunft des Fürsten war sie mehrmals, sowie sie sich nur für ein Weilchen von ihrer Arbeit hatte losmachen können, in der Veranda erschienen und hatte eifrig zugehört, wie die angetrunkenen Gäste unausgesetzt über ganz abstrakte und ihr ganz fernliegende Gegenstände debattierten. Ihre jüngere Schwester war mit offenem Mund im Nebenzimmer auf einem Koffer eingeschlafen, der Knabe aber, Lebedews Sohn, stand neben Kolja und Ippolit, und schon sein begeisterter Gesichtsausdruck zeigte, daß er bereit war, hier noch lange in genußreichem Zuhören auf einem Fleck stehenzubleiben, selbst zehn Stunden hintereinander.

»Ich habe speziell auf Sie gewartet und freue mich außerordentlich, daß Sie in so glücklicher Stimmung gekommen sind«, sagte Ippolit, als der Fürst unmittelbar nach Begrüßung Weras zu ihm trat, um ihm die Hand zu drücken.

»Aber woher wissen Sie, daß ich mich ›in so glücklicher Stimmung‹ befinde?«

»Das sieht man Ihnen am Gesicht an. Begrüßen Sie die Herren, und setzen Sie sich so bald wie möglich hierher zu mir! Ich habe speziell auf Sie gewartet«, fügte er hinzu, indem er einen bedeutsamen Nachdruck darauf legte, daß er gewartet habe. Auf die Bemerkung des Fürsten, ob ihm das lange Aufbleiben auch nicht schädlich sein würde, erwiderte er, er wundere sich selbst darüber, daß er vor drei Tagen habe sterben wollen, er habe sich nie wohler gefühlt als an diesem Abend.

Burdowskij sprang auf und murmelte, er sei »nur so« … er habe Ippolit »herbegleitet« und freue sich ebenfalls; in dem Brief habe er »allerlei Unsinn geschrieben«, aber jetzt empfinde er »einfach« Freude… Er sprach nicht zu Ende, drückte dem Fürsten kräftig die Hand und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Nach Begrüßung aller andern trat der Fürst auch zu Jewgenij Pawlowitsch. Dieser faßte ihn sogleich unter den Arm.

»Ich möchte Ihnen nur ein paar Worte sagen«, flüsterte er ihm zu, »und zwar in einer überaus wichtigen Angelegenheit. Lassen Sie uns einen Augenblick beiseite treten.«

»Nur ein paar Worte!« flüsterte eine andere Stimme dem Fürsten in das andere Ohr, und eine andere Hand faßte ihn von der anderen Seite unter den Arm. Der Fürst erblickte mit Erstaunen eine Gestalt mit gerötetem, blinzelndem, lachendem Gesicht und wirrem Haar und erkannte im gleichen Augenblick Ferdyschtschenko, der sich, Gott weiß woher, hier wieder angefunden hatte.

»Erinnern Sie sich noch an Ferdyschtschenko?« fragte dieser.

»Wo kommen Sie denn her?« rief der Fürst.

»Er bereut!« rief der herbeilaufende Keller. »Er hatte sich versteckt und wollte sich nicht sehen lassen, er hatte sich dahinten in einem Winkel versteckt; er bereut, Fürst, er fühlt sich schuldig.«

»Schuldig? Wieso?«

»Ich habe ihn getroffen, Fürst, ich habe ihn vorhin eben getroffen und mit hergebracht; er ist einer meiner besten Freunde, aber er bereut.«

»Ich freue mich sehr, meine Herren, gehen Sie nur, und setzen Sie sich dort zu den andern; ich komme auch gleich«, sagte der Fürst, indem er sich endlich losmachte und zu Jewgenij Pawlowitsch eilte.

»Es ist ja hier bei Ihnen sehr amüsant«, bemerkte dieser, »und ich habe mit Vergnügen eine halbe Stunde lang auf Sie gewartet. Was ich sagen wollte, liebster Lew Nikolajewitsch: ich habe alles mit Kurmyschew geordnet und kam her, um Sie zu beruhigen; Sie brauchen sich nicht darüber aufzuregen, er hat die Sache sehr, sehr vernünftig aufgefaßt, was auch um so näherlag, als er meiner Ansicht nach selbst die meiste Schuld hatte.«

»Mit was für einem Kurmyschew?«

»Nun, mit dem, den Sie vorhin an den Armen gepackt haben… Er war so wütend, daß er schon beabsichtigte, morgen zu Ihnen zu schicken und Genugtuung zu fordern.«

»Ich bitte Sie, was für ein Unsinn!«

»Natürlich ist es ein Unsinn, und die Sache wäre auch sicher harmlos erledigt worden, aber diese Leute sind bei uns hier…«

»Sie sind vielleicht auch noch zu einem andern Zweck hergekommen, Jewgenij Pawlytsch?«

»Oh, natürlich noch zu einem andern Zweck!« versetzte dieser lachend. »Lieber Fürst, ich fahre morgen bei Tagesanbruch in dieser unglücklichen Angelegenheit (nun ja, ich meine die Sache mit meinem Onkel) nach Petersburg. Denken Sie sich nur: es ist alles wahr, und alle Leute wissen davon mehr als ich. Mich hat die Sache so mitgenommen, daß ich heute nicht mehr dazu gekommen bin, dorthin zu gehen (zu Jepantschins), und morgen werde ich es ebenfalls nicht können, weil ich in Petersburg sein werde, Sie verstehen. Vielleicht werde ich ungefähr drei Tage von hier abwesend sein – kurz gesagt, meine Sache kommt nicht voran. Obwohl es eine Sache von allergrößter Wichtigkeit ist, habe ich es doch für das richtige gehalten, mich Ihnen gegenüber in der offenherzigsten Weise und unverzüglich, das heißt noch vor meiner Abreise, auszusprechen. Ich werde jetzt, wenn es Ihnen recht ist, noch ein Weilchen hier sitzenbleiben und warten, bis die Gesellschaft auseinandergeht; überdies wüßte ich auch nicht, was ich sonst anfangen sollte: ich bin so aufgeregt, daß ich mich gar nicht schlafen legen werde. Endlich möchte ich Ihnen noch eins geradeheraus sagen: obwohl es gewissenlos und unschicklich ist, sich jemandem so geradezu aufzudrängen, so bin ich doch hergekommen, um Ihre Freundschaft zu gewinnen, mein lieber Fürst; Sie sind ein unvergleichlicher Mensch, das heißt, Sie lügen nicht auf Schritt und Tritt und vielleicht überhaupt nicht, und ich bedarf in einer gewissen Angelegenheit eines Freundes und Ratgebers, weil ich jetzt tatsächlich ein unglücklicher Mensch bin…«

Er lachte wieder auf.

»Das Schlimme ist nur«, sagte der Fürst, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, »Sie wollen warten, bis diese Leute auseinandergehen, aber weiß Gott, wann das geschehen wird. Wäre es nicht das beste, wenn wir jetzt in den Park gingen? Gewiß werden sie ein Weilchen warten, ich werde mich entschuldigen.«

»Nein, nein, ich möchte aus bestimmten Gründen nicht den Verdacht aufkommen lassen, als führten wir ein Gespräch mit besonderen Absichten; es sind hier Leute darunter, die sich sehr für unsere Beziehungen interessieren, wissen Sie das nicht, Fürst? Es wird weit besser sein, wenn sie sehen, daß wir auch ohnehin in sehr freundschaftlichen Beziehungen stehen, von allen Sonderfällen abgesehen, verstehen Sie wohl? Sie werden in etwa zwei Stunden auseinandergehen, dann möchte ich Sie zwanzig Minuten in Anspruch nehmen – nun, oder eine halbe Stunde…«

»Aber ich bitte sehr, mit Vergnügen; ich freue mich darüber auch ohne alle Erklärungen, und für Ihre liebenswürdigen Worte über unsere freundschaftlichen Beziehungen danke ich Ihnen herzlich. Sie entschuldigen, daß ich heute zerstreut bin; wissen Sie, ich kann mich augenblicklich gar nicht zur Aufmerksamkeit zwingen.«

»Ich sehe, ich sehe«, murmelte Jewgenij Pawlowitsch mit einem leisen Lächeln! Er war an diesem Abend überhaupt sehr zum Lachen aufgelegt.

»Was sehen Sie denn?« fragte der Fürst erschrocken.

»Hegen Sie denn gar keinen Verdacht, lieber Fürst«, sagte Jewgenij Pawlowitsch, immer noch lächelnd, ohne auf die direkte Frage zu antworten, »hegen Sie denn gar keinen Verdacht, daß ich einfach hergekommen bin, um Sie hinters Licht zu führen und so nebenbei etwas von Ihnen herauszubekommen, wie?«

»Daß Sie hergekommen sind, um etwas von mir herauszubekommen, daran ist kein Zweifel«, antwortete der Fürst lachend, »und vielleicht haben Sie sich auch vorgenommen, mich ein bißchen zu betrügen. Aber nur zu! Ich fürchte mich vor Ihnen nicht, und außerdem ist es mir jetzt ganz gleichgültig, wollen Sie mir das glauben? Und… und… und da ich vor allem überzeugt bin, daß Sie trotzdem ein vortrefflicher Mensch sind, so werden wir möglicherweise wirklich am Ende Freundschaft miteinander schließen. Sie haben mir sehr gefallen, Jewgenij Pawlytsch; Sie… sind meiner Ansicht nach ein sehr anständiger Mensch!«

»Nun, jedenfalls ist es sehr angenehm, mit Ihnen etwas zu tun zu haben, mag es sein, was es will«, schloß Jewgenij Pawlowitsch. »Kommen Sie, ich will ein Glas auf Ihre Gesundheit trinken; ich bin sehr zufrieden, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Ah!« unterbrach er sich plötzlich. »Ist dieser Herr Ippolit vollständig zu Ihnen übergesiedelt?«

»Ja.«

»Ich meine, er wird nicht so bald sterben.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Ich denke es mir so; ich habe hier eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbracht…«

Ippolit wartete diese ganze Zeit auf den Fürsten und blickte ununterbrochen nach ihm und Jewgenij Pawlowitsch hin, während die beiden abseits standen und miteinander redeten. Er zeigte eine krankhafte Lebhaftigkeit, als sie an den Tisch traten. Er war unruhig und aufgeregt; der Schweiß trat ihm auf die Stirn. In seinen funkelnden Augen kam außer einer dauernden unsteten Unruhe auch eine unbestimmte Ungeduld zum Ausdruck, sein Blick irrte ziellos von einem Gegenstand zum andern, von einer Person zur andern. Er hatte sich zwar an dem gemeinsamen lärmenden Gespräch bisher stark beteiligt, aber sein Eifer hatte etwas Fieberhaftes; im Grunde schenkte er dem Gespräch wenig Aufmerksamkeit; was er in der Debatte vorbrachte, war unzusammenhängend und klang spöttisch, geringschätzig warf er paradoxe Bemerkungen hin; er sprach seine Gedanken nicht bis zu Ende aus und ließ ein Thema, über das er eine Minute vorher selbst mit glühendem Eifer zu sprechen begonnen hatte, schnell wieder fallen. Der Fürst erfuhr mit Verwunderung und Bedauern, daß man ihn an diesem Abend ungehindert schon zwei volle Gläser Champagner hatte trinken lassen und daß das vor ihm stehende angefangene Glas schon das dritte war. Aber er erfuhr dies erst später; im Augenblick war er nicht imstande, seine Umgebung genau zu beobachten.

»Wissen Sie, ich freue mich außerordentlich darüber, daß gerade heute Ihr Geburtstag ist!« rief Ippolit.

»Warum denn?«

»Das werden Sie bald sehen; setzen Sie sich nur schnell her! Erstens schon deswegen, weil hier alle unsere Leute zusammengekommen sind. Ich hatte damit gerechnet, daß Leute hier sein würden; zum erstenmal in meinem Leben hat sich eine Rechnung von mir als richtig erwiesen! Aber schade, daß ich von Ihrem Geburtstag nichts gewußt habe, sonst hätte ich ein Geschenk mitgebracht… Haha! Ja, vielleicht habe ich aber wirklich eins mitgebracht! Dauert es noch lange, bis es Tag wird?«

»Bis zum Morgengrauen sind es nicht mehr ganz zwei Stunden«, sagte Ptizyn nach einem Blick auf die Uhr.

»Wozu braucht es jetzt erst noch Tag zu werden, wo man draußen auch ohne das lesen kann?« bemerkte jemand.

»Damit ich ein Stückchen von der Sonne sehen kann. Kann man auf die Gesundheit der Sonne trinken, Fürst? Wie denken Sie darüber?«

Ippolit stellte seine Fragen in scharfem Ton und wendete sich ungeniert, als kommandierte er, an alle, schien sich aber dessen selbst nicht bewußt zu sein.

»Trinken wir darauf, meinetwegen! Nur sollten Sie sich beruhigen, Ippolit, nicht?«

»Sie reden immer von Schlafen, Sie sind meine Kinderfrau, Fürst! Sobald die Sonne erscheint und am Himmel ertönt (wer hat das doch in einem Gedicht gesagt: ›Die Sonne tönt nach alter Weise‹? Es ist sinnlos, aber schön!) dann will ich mich schlafen legen. Lebedew! Die Sonne ist ja wohl die Quelle des Lebens? Was bedeuten die ›Quellen des Lebens‹ in der Apokalypse? Sie haben wohl von dem ›Wermutstern‹ gehört, Fürst?«

»Ich habe gehört, daß Lebedew diesen ›Wermutstern‹ für das Eisenbahnnetz hält, das Europa überzieht.«

»Nein, erlauben Sie, das ist nicht gestattet!« schrie Lebedew, indem er aufsprang und lebhaft mit den Armen gestikulierte, als wollte er das allgemeine Gelächter, das sich erhob, hemmen. »Erlauben Sie! Mit diesen Herren… all diese Herren«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »das ist in mehreren Punkten gegen die Verabredung, hören Sie nur…« Und er schlug sehr ungezwungen zweimal auf den Tisch, wodurch das Gelächter noch stärker wurde.

Lebedew befand sich nicht nur in seinem gewöhnlichen »Abendzustand«, sondern es kam diesmal auch noch hinzu, daß er durch die vorhergehende lange »gelehrte« Debatte besonders aufgeregt und gereizt war; in solchen Fällen benahm er sich gegen seine Opponenten mit grenzenloser und im höchsten Grade offenherziger Geringschätzung.

»Das ist nicht gestattet! Fürst, vor einer halben Stunde haben wir eine Verabredung getroffen: es darf niemand unterbrochen werden, es darf nicht gelacht werden, solange jemand spricht, es soll jeder alles freiheraus sagen dürfen. Nachher können ja auch die Atheisten, wenn sie wollen, ihre Erwiderungen vorbringen. Wir haben den General als Vorsitzenden eingesetzt, jawohl! Denn wie soll es anders gehen? Man könnte jeden, der eine hohe Idee, eine tiefsinnige Idee vorbringt, konfus machen…«

»Reden Sie doch, reden Sie doch! Niemand wird Sie stören!« riefen mehrere.

»Reden Sie, aber reden Sie nicht zuviel Unsinn!«

»Was ist das für ein ›Wermutstern‹?« erkundigte sich jemand.

»Ich habe keine Ahnung!« antwortete General Iwolgin und nahm mit wichtiger Miene den ihm vorhin zuerkannten Platz als Vorsitzender ein.

»Ich liebe all diese gereizten Debatten außerordentlich, Fürst, natürlich nur Debatten über gelehrte Themen«, murmelte unterdessen Keller, der in höchster Begeisterung und Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her rückte, »über gelehrte und politische Themen«, wandte er sich plötzlich und unerwartet an Jewgenij Pawlowitsch, der in seiner Nähe saß. »Wissen Sie, ich lese furchtbar gern in den Zeitungen die Berichte über die Sitzungen des englischen Parlaments, das heißt, mich interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie miteinander reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›der sehr ehrenwerte Vicomte, der mir gegenübersitzt‹, ›der sehr ehrenwerte Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes – das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich, Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das schwöre ich Ihnen, Jewgenij Pawlytsch.«

»Und was ist nun das Resultat von alledem?« ereiferte sich Ganja an einer anderen Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?«

Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah triumphierenden Stimmung. Mit Lebedew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte, aber er wurde dabei bald selbst hitzig.

»Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedew, der außer sich geriet und zugleich einen maßlosen Genuß empfand. »Was die Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen, sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze Tendenz der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.«

»Tatsächlich verflucht oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgenij Pawlowitsch.

»Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedew hitzig.

»Übereilen Sie sich nicht, Lebedew, Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd.

»Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedew, sich mit Lebhaftigkeit zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer; und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft, der Industrie, der Assoziationen, Arbeitslöhne und so weiter? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?«

»Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgenij Pawlowitsch.

»Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!«

»Aber der Kredit bewirkt doch die allgemeine Solidarität und das Gleichgewicht der Interessen«, bemerkte Ptizyn.

»Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendwelcher sittlichen Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der allgemeine Friede, das allgemeine Glück sollte durch die Befriedigung des Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?«

»Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung, daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und ›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt ernstlich erregt wurde.

»Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb…«

»Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit…«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch. »Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig, aber fundamental ist dieses Gesetz nicht mehr als das Gesetz des Vernichtungstriebes und vielleicht auch des Selbstvernichtungstriebes. Besteht denn etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein im Selbsterhaltungstrieb?«

»Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgenij Pawlowitsch hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja an und fragte ihn wieder, wie spät es sei; ja er zog sogar Koljas silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den Zeigern. Dann streckte er sich, als hätte er alles vergessen, auf dem Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke, aber eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und hörte das Geschwätz Lebedews mit an, der im höchsten Grade hitzig geworden war.

»Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedew eifrig auf Jewgenij Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen, – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (obwohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstvernichtung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie nach Voltaires Vorbild über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben, denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!…«

»Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.

»Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht die ›Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Erstarkens…«

»Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.

»Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und geschäftig in der Menschheit, es gibt zuwenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein, aber das Rasseln der Wagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer, der überall geschäftig umherreist, und entfernt sich eitel und selbstgefällig. Aber ich, der schändliche Lebedew, glaube nicht an die Wagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Wagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an der sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist…«

»Die Wagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.

»Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedew, ohne der Frage irgendwelche Beachtung zu schenken. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden, – übrigens, um die Wahrheit zu sagen, genauso wie jeder von uns und auch ich, der Schändlichste von allen, es tun würde, denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz herbeiträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«

»Aber um was handelt es sich denn schließlich?«

»Langweiliges Gerede!«

»Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten, denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben wie ich, denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut dafür zu vergießen…«

»Weiter! Weiter!«

»In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Viertel Jahrhundert, mit anderen Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen, aber es kommt verhältnismäßig selten vor.«

»Im Verhältnis wozu?«

»Im Verhältnis zum zwölften Jahrhundert und den beiderseits anschließenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«

»Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als fühlte er sich persönlich beleidigt. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themen, aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«

»General! Denk an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.«

»Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.

»Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich…«

»Und natürlich?«

»Und natürlich!« wiederholte Lebedew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt, aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.«

»Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst.

Bisher hatte er den Streitenden schweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt, oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend zuging, und sogar darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt, aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.

»Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Geschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer Fallhöhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Anstieg auf den Saumpfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es gab damals von ihnen nur wenige; wahrscheinlich verhungerten sie massenhaft, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiterbestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser gab, und vielleicht sehr viele, darin hat Lebedew ohne Zweifel recht; nur weiß ich nicht, warum er dabei gerade von Mönchen sprach, und was er damit sagen will.«

»Er meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch.

»Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche, das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wert für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf, denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit…«

»Übertreibung, Übertreibung, Lebedew!« lachte man ringsum.

»Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist, aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott gegenüber Lebedew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen, auch über ihn zu lachen, aber er bemerkte das nicht.)

»Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgenij Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zwecke ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.«

»Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen und juristischen Zustand des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin und denunziert sich bei der Geistlichkeit und gibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl Sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, stärker als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, welche den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen… das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen, aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen, denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt, alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, alle, alle sind ausgekocht!… Aber genug davon, darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«

Lebedew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen »geschickten Advokatenkniff«. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter, die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung.

»Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt.

»Ich habe einen echten Erklärer der Apokalypse gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einem Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigorij Semjonowitsch Burmistrow: der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf, na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene, selbst Generale beugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß. Ein ganz tolles Benehmen!«

Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen oder er vergaß sein Vorhaben ständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoshin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoshin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges wartete und vorher nicht weggehen wollte.

Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich sein und Jewgenij Pawlowitschs Blick; er erinnerte sich an die bevorstehende Unterredung und lächelte freundlich. Jewgenij Pawlowitsch nickte ihm zu und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte. Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief.

»Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten, daß er nichts Gutes im Schilde führt!«

»Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als interessierte er Sie heute ganz besonders, Jewgenij Pawlytsch, ist das richtig?«

»Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich mit meinen eigenen Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend nicht von dieser widerwärtigen Visage losreißen kann.«

»Er hat ein hübsches Gesicht…«

»Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgenij Pawlowitsch, indem er den Fürsten am Arm faßte. »Sehen Sie!«

Der Fürst blickte Jewgenij Pawlowitsch noch einmal verwundert an.

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Kapitel 33

V

Ippolit, der gegen Ende des Lebedewschen Vortrages auf dem Sofa eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, als hätte ihm jemand einen Stoß in die Seite versetzt, fuhr zusammen, richtete sich auf, blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich endlich alles ins Gedächtnis zurückgerufen und begriffen hatte.

»Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist die Sonne schon aufgegangen?« fragte er aufgeregt und griff nach der Hand des Fürsten. »Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr? Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?« fügte er mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte, wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge.

»Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch.

Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach.

»Ah … nicht mehr! Also kann ich …«

Er holte tief und begierig Atem, als hätte er eine schwere Last von sich geworfen. Er merkte endlich, daß nichts »zu Ende war«, daß es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch aufgestanden waren und daß lediglich Lebedews Geschwätz aufgehört hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt zweier greller Flecke auf seinen Wangen.

»Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief, Jewgenij Pawlytsch«, sagte er spöttisch. »Sie haben den ganzen Abend über die Augen nicht von mir abgewandt, ich habe es wohl gesehen … Ah, da ist ja Rogoshin! Ich habe soeben von ihm geträumt«, flüsterte er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoshin hindeutete. »Ach ja«, fuhr er, plötzlich zu etwas anderem übergehend, fort, »wo ist denn der Redner? Wo ist denn Lebedew? Lebedew ist also zu Ende? Worüber hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren«, rief er allen laut zu, »der Fürst behauptet, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er jetzt deshalb so leichtsinnige Gedanken hat, weil er verliebt ist. Meine Herren, der Fürst ist verliebt; vorhin, sowie er hereinkam, habe ich mich davon überzeugt. Erröten Sie nicht, Fürst, das würde mir leid tun. Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt erlöst werden wird? Mir hat Kolja das wiedererzählt… Sind Sie ein eifriger Christ? Kolja sagt, Sie bezeichneten sich selbst als Christ.«

Der Fürst sah ihn aufmerksam an, ohne ihm zu antworten.

»Sie antworten mir nicht? Sie glauben vielleicht, daß ich Sie sehr gern habe?« fügte Ippolit plötzlich ganz unvermittelt hinzu.

»Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Wie? Selbst nach dem, was gestern geschehen ist? War ich gestern gegen Sie nicht aufrichtig?«

»Ich wußte auch gestern, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Sie meinen, weil ich Sie beneide? Das haben Sie immer gedacht und denken es auch jetzt, aber… aber warum rede ich mit Ihnen davon? Ich will noch Champagner trinken; gießen Sie mir ein, Keller!«

»Sie dürfen nicht mehr trinken, Ippolit, ich gebe Ihnen keinen mehr…«

Der Fürst schob das Glas von ihm weg.

»Nun gut…«, sagte er, sofort damit einverstanden, und schien in Gedanken zu versinken. »Die Leute werden womöglich noch sagen… aber was schere ich mich um das, was die Leute sagen werden! Nicht wahr? Nicht wahr? Mögen die Leute nachher reden, was sie wollen, nicht wahr, Fürst? Und was kümmert es uns alle, was nachher sein wird! … Ich bin übrigens noch schlaftrunken. Was ich für einen schrecklichen Traum gehabt habe, jetzt fällt es mir wieder ein… Ich wünsche Ihnen solche Träume nicht, Fürst, wenn ich Sie auch vielleicht wirklich nicht leiden kann. Übrigens, wenn man jemand auch nicht leiden kann, warum soll man ihm Böses wünschen, nicht wahr? Warum frage ich nur fortwährend? Fortwährend frage ich! Geben Sie mir Ihre Hand, ich werde sie kräftig drücken, sehen Sie, so!… Sie haben mir also doch die Hand gereicht! Sie wissen also, daß mein Händedruck aufrichtig gemeint ist? … Meinetwegen, ich werde nicht mehr trinken. Was ist die Uhr? Übrigens brauchen Sie es mir nicht zu sagen; ich weiß, was die Uhr ist. Die Stunde ist gekommen! Jetzt ist genau die Zeit. Was? Wird der Imbiß dort in die Ecke gestellt? Also bleibt dieser Tisch frei? Vorzüglich! Meine Herren, ich … aber diese Herren hören ja alle nicht… ich beabsichtige, einen Artikel vorzulesen, Fürst; der Imbiß ist natürlich interessanter, aber…«

Und ganz unerwartet zog er aus seiner oberen Seitentasche ein mit einem großen roten Siegel verschlossenes Kuvert in Kanzleiformat heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch.

Dieser unerwartete Vorgang übte auf die angeheiterte Gesellschaft, die vorbereitet war, aber nicht darauf, eine starke Wirkung aus. Jewgenij Pawlowitsch sprang sogar von seinem Stuhl auf; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoshin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten.

»Was haben Sie denn da?« fragte der Fürst beunruhigt.

»Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst, ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es sehen!« rief Ippolit. »Aber… aber… glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?« fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte.

Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.

»Niemand von uns glaubt das«, antwortete der Fürst für alle. »Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was… was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?«

»Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?« wurde von allen Seiten gefragt.

Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet.

»Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann die ganze Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum …«

»Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern.

»Morgen wird ›keine Zeit mehr sein‹«, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich übrigens nicht, das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern, na – oder eine Stunde… Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie hergekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert verpackt und versiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert aufbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Apokalypse.«

»Es ist das beste, die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch, aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.

»Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.

»Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.

»Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.

»Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.

»Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen. Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.

»Also… soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ, als wollte er sich wieder mit der gleichen, sozusagen anstürmenden Expansivität an alle klammern. »Sie … fürchten sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewandt.

»Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, während sein Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.

»Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?«

»Hier!« sagte Lebedew, ihm schnell eine Münze hinreichend. Ihm huschte der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.

»Wera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler oben liegt, will ich es vorlesen!«

Wera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann warf sie, den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, diese mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen.

»Also vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das… das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!« wiederholte er, wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst, merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung… Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. »Da muß man sich ja geradezu schämen!… Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens… ich zwinge niemand zuzuhören! …«

Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt.

»Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?« murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst, in fast gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen hatte.

»Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen«, schickte Ippolit aus irgendeinem Grunde voraus und begann dann seine Vorlesung: »Eine notwendige Erklärung! Motto: Pfui! Hol’s der Teufel!« rief er, als ob er sich verbrannt hätte. »Habe ich wirklich im Ernst ein solches dummes Motto hinsetzen können?… Hören Sie, meine Herren!… Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir… Wenn Sie glauben, daß das hier… irgend etwas Geheimnisvolles oder… Verbotenes ist… mit einem Wort…«

»Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!« unterbrach ihn Ganja.

»Er kneift!« fügte jemand hinzu.

»Viel unnützes Gerede!« mischte sich Rogoshin ein, der bisher die ganze Zeit geschwiegen hatte.

Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, fletschte Rogoshin bitter und grimmig die Zähne und sprach langsam die seltsamen Worte:

»Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders…«

Was Rogoshin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand, aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke berührte einen jeden von ihnen. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte. Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoshin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung:

»Also Sie… Sie waren es … Sie?«

»Was soll ich gewesen sein? Ich?« antwortete Rogoshin verständnislos. Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme:

»Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tage, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war, Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?«

»In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?«

Der »Junge« schwieg wieder ungefähr eine Minute, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf.

»Das waren Sie!« wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. »Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen … Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht, aber das waren Sie!«

Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf.

»Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren, ich … ich … hören Sie nur zu …«

Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten, er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam.

»Er ist verrückt geworden oder er redet im Fieber!« murmelte Rogoshin kaum hörbar.

Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es dem Verfasser der unerwarteten Abhandlung noch schwer, Luft zu bekommen, und er las unzusammenhängend und ungleichmäßig, aber dann wurde seine Stimme fest und vermochte den Sinn des Gelesenen vollständig zum Ausdruck zu bringen. Nur wurde er manchmal von einem ziemlich starken Husten unterbrochen; von der Mitte des Schriftstücks an war er sehr heiser. Der gewaltige Eifer, der sich seiner, je weiter die Vorlesung fortschritt, immer mehr bemächtigte, erreichte gegen Ende den höchsten Grad, ebenso wie die peinliche Empfindung der Zuhörer. Hier ist diese ganze »Abhandlung«.

»Meine notwendige Erklärung.

Après moi le déluge.

Gestern vormittag war der Fürst bei mir; unter anderm überredete er mich, nach seinem Landhaus überzusiedeln. Ich wußte, daß er unbedingt darauf bestehen würde, und war überzeugt, daß er geradezu mit der Bemerkung herausplatzen werde, es werde mir in dem Landhaus unter den Menschen und Bäumen leichter sein, zu sterben, wie er sich ausdrückt. Heute jedoch sagte er nicht sterben, sondern er sagte: ›Es wird Ihnen leichter sein zu leben‹, was indessen für mich in meiner Lage beinah dasselbe ist. Ich fragte ihn, was er denn mit den Bäumen, von denen er fortwährend redete, eigentlich wolle und warum er mir diese Bäume so aufdränge, – und erfuhr von ihm zu meiner Verwunderung, daß ich selbst an jenem Abend geäußert hätte, ich sei nach Pawlowsk gekommen, um zum letztenmal Bäume zu sehen. Als ich ihm bemerkte, es sei ja doch ganz gleich, ob ich unter Bäumen stürbe oder mit dem Blick durchs Fenster auf meine Backsteinmauer, und daß es um zweier Wochen willen sich nicht lohne, besondere Umstände zu machen, stimmte er mir sogleich bei; aber er meinte, das Grün und die reine Luft würden sicherlich bei mir eine physische Veränderung hervorrufen, und meine Aufregung und meine Träume würden vielleicht einen linderen Charakter annehmen. Ich erwiderte ihm lachend, er rede wie ein Materialist. Er antwortete mir mit seinem Lächeln, er sei immer ein Materialist gewesen. Da er nie lügt, sind diese Worte bedeutungsvoll. Sein Lächeln ist gut und angenehm; ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt gern habe oder nicht; aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich muß aber bemerken, daß mein fünfmonatiger Haß gegen ihn sich im letzten Monat ganz gelegt hat. Wer weiß, vielleicht bin ich nach Pawlowsk hauptsächlich gefahren, um ihn kennenzulernen. Aber… weshalb habe ich damals mein Zimmer verlassen? Wer zum Tode verurteilt ist, muß in seinem Winkel bleiben; und wenn ich jetzt nicht einen definitiven Entschluß gefaßt hätte, sondern entschieden hätte, die letzte Stunde abzuwarten, so würde ich natürlich mein Zimmer um keinen Preis verlassen und seinen Vorschlag, zu ihm überzusiedeln, um in Pawlowsk zu ›sterben‹, nicht annehmen.

Ich muß mich beeilen und diese ganze Erklärung unter allen Umständen bis morgen zu Ende bringen. Somit werde ich keine Zeit haben, sie noch einmal durchzulesen und zu korrigieren; ich werde sie erst morgen wieder durchlesen, wenn ich sie dem Fürsten und zwei oder drei Zeugen, die ich bei ihm vorzufinden hoffe, vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ›die letzte, feierliche Wahrheit‹ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (NB. Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.)

Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben, aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist.

Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer für immer! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu empfinden oder sich irgendwelchen derartigen Gefühlen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben habe.

Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B-n hat nichts zu mir gesagt und mich nie gesehen, aber man hat vor etwa einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; ebendeswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme, möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag: solche Fälle seien vorgekommen, erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in , deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches alles negierendes höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei, für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache, zu sterben. Aber am Ende blieb doch wie eingerahmt die Tatsache: einen Monat und nicht ein bißchen mehr. Daß er sich nicht irrte, davon war ich überzeugt.

Es hat mich sehr gewundert, wieso der Fürst vorhin erraten hat, daß ich ›böse Träume‹ habe; er sagte wörtlich, ›meine Aufregung und meine Träume‹ würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume? Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß er aber im Grunde doch ein ›Idiot‹ ist, daran kann kein Zweifel bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie jetzt zu Hunderten roten Rachen, duckte sich, paßte geschickt die Entfernung ab, faßte einen Entschluß und packte plötzlich das garstige Tier mit den Zähnen. Dieses machte heftige Bewegungen, um zu entschlüpfen, so daß Norma es noch einmal, jetzt im Fluge, griff und es zweimal, immer im Fluge, mit dem ganzen Rachen in sich hineinzog, als wollte sie es hinunterschlucken. Die Schale knackte unter ihren Zähnen; der Schwanz des Tieres und die Pfoten, die aus dem Maul herausragten, bewegten sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Auf einmal begann Norma kläglich zu winseln: das Reptil hatte es doch noch fertiggebracht, sie in die Zunge zu stechen. Vor Schmerz winselnd und heulend, öffnete sie das Maul, und ich sah, daß das zerbissene, quer im Maul liegende Reptil sich noch bewegte und aus seinem halbzerquetschten Körper auf Normas Zunge eine Menge weißen Saftes floß, ähnlich dem Saft einer zerdrückten schwarzen Schabe… In diesem Augenblicke wachte ich auf, und der Fürst trat herein.

Meine Herren«, sagte Ippolit, indem er seine Vorlesung plötzlich unterbrach und ein beschämtes Gesicht machte, »ich habe es nicht noch einmal durchgelesen, aber ich habe, wie es scheint, tatsächlich viel Überflüssiges hingeschrieben. Dieser Traum …«

»Ja, das ist richtig«, beeilte sich Ganja zu bemerken.

»Ich muß zugeben, es ist zuviel Persönliches dabei, das heißt Dinge, die eigentlich nur auf mich Bezug haben…«

Als Ippolit das sagte, sah er müde und erschöpft aus und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Ja, Sie interessieren sich zu sehr für sich selbst«, zischte Lebedew.

»Meine Herren, noch einmal: ich nötige niemand; wer nicht zuhören will, kann sich entfernen.«

»Er jagt uns weg … aus einem fremden Haus«, brummte Rogoshin kaum vernehmbar.

»Aber wie können wir denn alle auf einmal aufstehen und uns entfernen?« sagte plötzlich Ferdyschtschenko, der bis dahin nicht gewagt hatte, laut zu reden.

Ippolit schlug die Augen nieder und griff nach seinem Manuskript; aber in derselben Sekunde hob er den Kopf wieder und sagte mit funkelnden Augen und zwei roten Flecken auf den Backen, indem er Ferdyschtschenko gerade ins Gesicht blickte: »Sie können mich gar nicht leiden!«

Man hörte Lachen; indes war es nicht die Mehrzahl, die lachte. Ippolit wurde dunkelrot.

»Ippolit«, sagte der Fürst, »machen Sie Ihr Manuskript zu und geben Sie es mir und legen Sie selbst sich hier in meinem Zimmer schlafen. Wir wollen, bevor Sie einschlafen, noch ein bißchen mit Ihnen reden und das Gespräch dann morgen fortsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie diese Blätter nie wieder aufschlagen. Wollen Sie das tun?«

»Ist das denn möglich?« rief Ippolit, indem er ihn mit wirklicher Verwunderung anblickte. »Meine Herren«, fuhr er, wieder in fieberhafter Lebhaftigkeit, fort, »das war ein dummer Zwischenakt, in dem ich mich nicht richtig zu benehmen verstand. Ich werde in der Vorlesung keine Unterbrechung mehr eintreten lassen. Wer zuhören will, mag zuhören…«

Er trank schnell einen Schluck Wasser aus einem Glas, stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, um sich vor den Blicken zu verbergen, und setzte das Vorlesen hartnäckig fort. Das Gefühl der Beschämung ging übrigens schnell vorüber…

»Der Gedanke«, fuhr er fort zu lesen, »daß es nicht lohne, ein paar Wochen zu leben, kam mir in deutlicher Gestalt, wie ich meine, ungefähr vor einem Monat, als ich nur noch vier Wochen Leben vor mir zu haben glaubte, aber meiner völlig bemächtigt hat sich dieser Gedanke erst vor drei Tagen, als ich von jenem in Pawlowsk verlebten Abend heimkehrte. Der erste Augenblick, wo mich dieser Gedanke vollständig und unmittelbar durchdrang, fiel in die Zeit, als ich mich beim Fürsten in der Veranda befand, gerade in die Zeit, als ich mit dem Leben einen letzten Versuch zu machen gedachte, Menschen und Bäume sehen wollte (ich mag das auch selbst ausgesprochen haben), mich ereiferte, für Burdowskijs, ›meines Nächsten‹, Recht eintrat und im stillen davon phantasierte, alle diese Menschen würden auf einmal die Arme ausbreiten und mich an ihr Herz drücken und mich wegen irgend etwas um Verzeihung bitten und ich meinerseits sie ebenfalls; kurz, ich war zu guter Letzt ein unfähiger Dummkopf. Und siehe da, in diesen Stunden flammte in mir ›die letzte Überzeugung‹ auf. Ich wundere mich jetzt, wie ich ganze sechs Monate lang ohne diese ›Überzeugung‹ habe leben können! Ich wußte positiv, daß ich die Schwindsucht hatte und diese Krankheit bei mir unheilbar war; ich täuschte mich nicht und begriff die Sachlage klar. Aber je klarer ich sie begriff, um so krampfhafter begehrte ich zu leben; ich klammerte mich an das Leben; leben wollte ich, leben um jeden Preis. Ich gebe zu, daß ich damals dem dunklen, unerbittlichen Schicksal zürnte, das beschlossen hatte, mich wie eine Fliege totzuschlagen, ohne selbst zu wissen warum; aber warum habe ich mich nicht bis zum Schluß damit begnügt, lediglich zu zürnen? Warum habe ich tatsächlich angefangen zu leben, obwohl ich wußte, daß ich nicht mehr anfangen konnte? Warum habe ich es versucht, obwohl ich wußte, daß dazu keine Zeit mehr war? Dabei war ich aber nicht einmal imstande, ein Buch zu lesen, und hörte zu lesen auf: wozu sollte ich lesen, wozu noch Kenntnisse für sechs Monate erwerben? Dieser Gedanke brachte mich wiederholt dazu, ein Buch beiseite zu werfen.

Ja, diese Meyersche Mauer kann vieles erzählen! Vieles habe ich in Gedanken auf sie geschrieben. Es gab keinen Fleck auf dieser schmutzigen Mauer, den ich nicht auswendig gewußt hätte. Verfluchte Mauer! Und doch ist sie mir teurer als alle Bäume in Pawlowsk, das heißt, sie sollte mir teurer sein als all diese Bäume, wenn mir nicht jetzt alles gleichgültig wäre.

Ich erinnere mich jetzt, mit welchem gierigen Interesse ich damals anfing, das Leben jener zu verfolgen: ein solches Interesse war mir früher fremd gewesen. Ungeduldig und schimpfend wartete ich manchmal auf Kolja, wenn ich selbst so krank war, daß ich das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich erkundigte mich so genau nach allen Kleinigkeiten und interessierte mich so für alle möglichen Gerüchte, daß ich geradezu ein Klatschmaul wurde. Ich konnte zum Beispiel nicht begreifen, wie diese Menschen, die ein so langes Leben zur Verfügung haben, es nicht verstehen, reich zu werden (übrigens begreife ich es auch jetzt nicht). denn nicht selbst ein Rothschild? Wer ist schuld daran, daß er nicht Millionen besitzt wie Rothschild, daß er nicht einen Berg goldener Imperiale und Napoleondors besitzt, einen so hohen Berg, wie man ihn in der Butterwoche in den Schaubuden sieht? Wenn er lebt, so steht das doch alles in seiner Macht! Wer ist schuld daran, daß er das nicht begreift?

Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig, jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern, aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und biß tatsächlich nachts vor Wut in mein Kopfkissen und zerriß meine Bettdecke. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich gezeigt…

Was hätte ich gezeigt?

Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.

Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem denn? Ich habe mich damals mit ihnen belustigt, als ich klar einsehen mußte, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; mir fiel zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax gelangt bin, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe Matrjona verboten, es aufzuheben.

es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und ewig darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben. Indessen, ich fahre fort.«

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