Kapitel 9

IX

Ein allgemeines Stillschweigen folgte; alle blickten den Fürsten an, wie wenn sie ihn nicht recht verstanden hätten und nicht verstehen wollten. Ganja war vor Schreck ganz starr.

Die Ankunft Nastasja Filippownas, und dazu noch in diesem Augenblick, war für alle eine sehr seltsame, besorgniserregende Überraschung. Schon allein der Umstand, daß Nastasja Filippowna zum ersten Male hinkam; bisher hatte sie sich so hochmütig benommen, daß sie in den Gesprächen mit Ganja nicht einmal den Wunsch, mit seinen Angehörigen bekannt zu werden, ausgesprochen und in der letzten Zeit ihrer überhaupt nie mehr Erwähnung getan hatte, als ob sie gar nicht auf der Welt wären. Ganja war zwar zum Teil froh darüber, daß ihm dieses für ihn so mißliche Thema erspart blieb, im stillen aber kreidete er ihr diesen Hochmut doch an. Jedenfalls hätte er von ihrer Seite eher Spottreden und Sticheleien über seine Familie als einen Besuch bei derselben erwartet; er wußte zuverlässig, daß ihr alles bekannt war, was bei ihm zu Hause anläßlich seiner Bewerbung um ihre Hand vorging, und daß sie sich keinen Illusionen darüber hingab, wie seine Angehörigen über sie dachten. Ihr Besuch, jetzt, nach der Schenkung des Bildes und an ihrem Geburtstage, an dem sie sein Schicksal zu entscheiden versprochen hatte, schloß eigentlich schon beinahe die Entscheidung selbst in sich.

Die Verständnislosigkeit, mit der alle den Fürsten ansahen, dauerte nicht lange: Nastasja Filippowna erschien in eigener Person in der Tür des Salons und schob wieder beim Eintritt ins Zimmer den Fürsten mit einem leichten Stoß beiseite.

»Endlich ist es mir gelungen hereinzukommen … Warum binden Sie denn Ihre Klingel fest?« fragte sie munter und reichte Ganja, der eilig zu ihr hinstürzte, die Hand. »Warum machen Sie denn ein so betrübtes Gesicht? Bitte, machen Sie mich doch bekannt…«

Ganja, der ganz die Besinnung verloren hatte, stellte sie zuerst seiner Schwester Warja vor, und die beiden Frauen maßen einander, bevor sie sich die Hände reichten, mit sonderbaren Blicken. Nastasja Filippowna lachte übrigens und spielte die Heitere, Warja dagegen wollte sich nicht verstellen und blickte düster und starr; nicht einmal eine Spur von Lächeln, wie es schon die einfache Höflichkeit verlangt, zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ganja fuhr erschrocken zusammen; seine Schwester zu bitten, dazu war es zu spät, so warf er ihr denn einen so drohenden Blick zu, daß sie begriff, was dieser Augenblick für ihren Bruder bedeutete. Da entschloß sie sich, wie es schien, ihm nachzugeben, und lächelte Nastasja Filippowna ein ganz klein wenig an. (Im Grunde liebten in der Familie alle einander doch noch.) Nina Alexandrowna verbesserte die Situation ein bißchen; sie hatte der völlig verwirrte Ganja erst nach seiner Schwester vorgestellt und dabei sogar seine Mutter zu Nastasja Filippowna hingeführt, statt umgekehrt. Aber kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, von ihrer »ganz besonderen Freude« zu reden, als Nastasja Filippowna, ohne weiter zuzuhören, sich schnell zu Ganja wandte und, während sie unaufgefordert auf einem kleinen Sofa in der Ecke am Fenster Platz nahm, ihm zurief:

»Wo ist denn Ihr Arbeitszimmer? Und … und wo sind Ihre Untermieter? Sie geben ja wohl Zimmer ab?«

Ganja wurde dunkelrot und begann eine Antwort zu stottern, aber Nastasja Filippowna fügte sogleich hinzu:

»Wo haben Sie denn hier noch Raum, um Untermieter zu halten? Sie haben ja nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ist denn das Weitervermieten einträglich?« wandte sie sich plötzlich an Nina Alexandrowna.

»Es macht einige Mühe und Umstände«, antwortete diese. »Natürlich muß es auch etwas einbringen. Wir sind indessen eben erst …«

Aber Nastasja Filippowna hörte sie wieder nicht zu Ende, sie blickte Ganja an, lachte und rief:

»Nein, was machen Sie nur für ein Gesicht? O mein Gott, was machen Sie in diesem Augenblick für ein Gesicht!«

Dieses Lachen dauerte einige Sekunden. Ganjas Gesicht sah allerdings arg entstellt aus: die Starrheit und die komische, ängstliche Fassungslosigkeit waren zwar von ihm gewichen, aber er war schrecklich blaß geworden, seine Lippen hatten sich krampfhaft verzogen, und er blickte schweigend, forschend und mit einem bösen Ausdruck unverwandt seiner Besucherin ins Gesicht, die immer noch fortfuhr zu lachen.

Es war noch ein Beobachter da, der sich ebenfalls noch nicht hatte von der Betäubung frei machen können, die ihn bei Nastasja Filippownas Anblick überkommen hatte; aber obgleich er immer noch wie eine Bildsäule an seinem früheren Platz in der Tür des Salons stand, hatte er doch bemerkt, wie Ganja blaß wurde und sein Gesicht einen bösartigen Ausdruck annahm. Beinahe erschrocken darüber, trat er plötzlich unwillkürlich vor.

»Trinken Sie Wasser«, flüsterte er Ganja zu, »und blicken Sie nicht so…«

Es war klar, daß er das ohne allen Vorbedacht, ohne jede besondere Absicht, nur so im ersten Impuls gesagt hatte, aber seine Worte brachten eine ganz merkwürdige Wirkung hervor. Ganjas ganze Wut schien sich auf einmal gegen den Fürsten zu richten, er faßte ihn an der Schulter und blickte ihn schweigend, rachsüchtig und haßerfüllt an, wie wenn er nicht imstande wäre, ein Wort herauszubringen. Es entstand eine allgemeine Bewegung: Nina Alexandrowna stieß sogar einen leisen Schrei aus. Ptizyn trat beunruhigt einige Schritte vor; Kolja und Ferdyschtschenko, die in der Tür erschienen waren, blieben erstaunt stehen; nur Warja behielt ihren finsteren Blick unverändert bei, beobachtete aber aufmerksam, was vorging. Sie hatte sich nicht hingesetzt, sondern stand seitwärts neben der Mutter, die Arme über der Brust verschränkt.

Ganja gewann jedoch schnell die Herrschaft über sich zurück, unmittelbar nachdem er sich so hatte hinreißen lassen, und lachte nervös auf. Er war nun vollständig wieder zu sich gekommen.

»Ja, Fürst, sind Sie denn ein Arzt?« rief er in möglichst heiterem, treuherzigem Tone. »Sie haben mich geradezu erschreckt! Nastasja Filippowna, ich möchte Ihnen da diesen ganz köstlichen Menschen empfehlen, obwohl ich selbst ihn erst seit heute morgen kenne.«

Nastasja Filippowna blickte den Fürsten verwundert an.

»Ein Fürst? Er ist Fürst? Denken Sie nur, ich habe ihn vorhin im Vorzimmer für einen Bedienten gehalten und ihn hergeschickt, um mich anzumelden! Hahaha!«

»Das tut ja nichts, das tut ja nichts!« fiel Ferdyschtschenko ein, der eilig näher trat und sich freute, daß man zu lachen anfing. »Das tut ja nichts, …«

»Und ich hätte Sie beinahe noch ausgeschimpft, Fürst! Bitte, verzeihen Sie mir! … Aber, Ferdyschtschenko, wie kommt es denn, daß Sie zu dieser Tageszeit hier sind? Ich dachte, Sie würde ich hier gewiß nicht treffen … Wer ist der Herr nun? Was für ein Fürst? Myschkin?« fragte sie Ganja, der ihr inzwischen den Fürsten, den er noch immer an der Schulter gefaßt hielt, vorgestellt hatte.

»Unser Untermieter«, wiederholte Ganja.

Sie waren offenbar bemüht, den Fürsten als eine Art von seltener Kuriosität hinzustellen (alle sahen darin einen Ausweg aus der unerquicklichen Situation), und schoben ihn förmlich zu Nastasja Filippowna hin; der Fürst hörte sogar deutlich das Wort »Idiot«, das jemand, wahrscheinlich Ferdyschtschenko, hinter seinem Rücken zur Erklärung für Nastasja Filippowna flüsterte.

»Sagen Sie, warum haben Sie mich denn vorhin nicht aufgeklärt, als ich mich in Ihnen so schrecklich … irrte?« fragte Nastasja Filippowna weiter und musterte den Fürsten vom Kopf bis zu den Füßen in der ungeniertesten Weise. Sie wartete ungeduldig auf seine Antwort, als wäre sie im voraus völlig überzeugt, daß die Antwort unfehlbar so dumm sein werde, daß sie darüber werde lachen müssen.

»Ich war erstaunt, Sie so plötzlich vor mir zu sehen …«, murmelte der Fürst.

»Aber woher wußten Sie denn, daß ich es war? Wo haben Sie mich früher gesehen? Wie geht es nur zu: mir ist tatsächlich, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen! Und gestatten Sie die Frage: warum blieben Sie vorhin so starr auf Ihrem Fleck stehen? Was habe ich denn an mir, das eine solche Wirkung hervorbringen könnte?«

»Nun los! Los!« trieb Ferdyschtschenko, der fortfuhr, Gesichter zu schneiden, den Fürsten an. »Los doch! O mein Gott, was für schöne Dinge würde ich auf eine solche Frage antworten! Nun los doch!… Wenn Sie da nicht reden, sind Sie ja der reine Tölpel, Fürst!«

»Auch ich würde eine Menge reden, wenn ich Sie wäre«, antwortete der Fürst lachend. »Ihr Bild, das ich vor kurzem sah, hat auf mich einen starken Eindruck gemacht«, fuhr er, zu Nastasja Filippowna gewendet, fort. »Dann habe ich mit Jepantschins von Ihnen gesprochen… und schon heute früh, noch ehe ich in Petersburg ankam, hat mir Parfen Rogoshin viel von Ihnen erzählt… Gerade in dem Augenblick, als ich Ihnen die Tür öffnete, hatte ich an Sie gedacht, und da standen Sie plötzlich vor mir.«

»Aber woher wußten Sie denn, wer ich war?«

»Nach dem Bilde und …«

»Und woher noch?«

»Außerdem deswegen, weil ich Sie mir gerade so vorgestellt habe… Auch mir ist, als hätte ich Sie schon irgendwo gesehen.«

»Wo denn? Wo denn?«

»Ich habe die Empfindung, als hätte ich Ihre Augen schon einmal irgendwo gesehen… aber es ist unmöglich! Ich bilde es mir nur ein … Ich bin nie hier gewesen. Vielleicht daß ich im Traume…«

»Bravo, Fürst!« rief Ferdyschtschenko. »Nein, ich nehme mein se non é vero zurück. Übrigens… übrigens sagt er das ja alles in reiner Unschuld!« fügte er bedauernd hinzu.

Der Fürst hatte jene wenigen Sätze mit unruhiger Stimme gesprochen, mehrfach stockend und häufig dazwischen Atem holend. Sein ganzes Wesen bekundete eine hochgradige Erregung. Nastasja Filippowna blickte ihn neugierig an, lachte aber nicht mehr. In diesem Augenblick ertönte plötzlich hinter der Gruppe, die dicht geschart um den Fürsten und Nastasja Filippowna herumstand, eine neue kräftige Stimme, schob sozusagen die Gruppe in zwei Hälften auseinander und schuf in ihr eine Gasse. Vor Nastasja Filippowna stand das Oberhaupt der Familie selbst, General Iwolgin. Er hatte den Frack und ein reines Vorhemd angelegt und sich den Schnurrbart frisch gefärbt.

Das war mehr, als Ganja ertragen konnte.

Selbstsüchtig und eitel bis zur Nervosität, bis zur Hysterie, hatte er diese ganzen zwei Monate nach Mitteln gesucht, sich ein anständigeres, vornehmeres Renommee zu geben. Er fühlte, daß er auf dem gewählten Wege noch ein Neuling war und vielleicht nicht imstande sein werde, ihn dauernd einzuhalten. In seiner Verzweiflung war er schließlich dazu gelangt, bei sich zu Hause, wo er der reine Despot war, sich ganz brutal zu benehmen, wagte dies aber nicht in Gegenwart Nastasja Filippownas zu tun, die ihn bis zu diesem Augenblick immer in Verwirrung gesetzt und erbarmungslos tyrannisiert hatte. Einen »ungeduldigen Bettler« hatte sie selbst ihn genannt, eine Bezeichnung, die ihm hinterbracht worden war, und er hatte sich hoch und heilig geschworen, ihr das alles später einmal heimzuzahlen, obwohl er gleichzeitig manchmal kindlich davon geträumt hatte, alles in Ordnung zu bringen und alle Gegensätze zu versöhnen. So stand die Sache, und nun mußte er jetzt noch diesen schrecklichen Becher leeren, und noch dazu gerade in einem solchen Augenblick! Eine unvorhergesehene, aber für einen eitlen Menschen ganz besonders furchtbare Folter sollte er erdulden: die Qual, für seine Angehörigen im eigenen Hause erröten zu müssen! In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Ist denn überhaupt der in Aussicht stehende Preis all diese Mühe und diese Schmerzen wert?‹

Jetzt vollzog sich das, was ihm während dieser zwei Monate nur nachts in beängstigenden Träumen vor das geistige Auge getreten war und ihn mit eisigem Schreck, mit glühender Scham erfüllt hatte: es fand endlich im Familienkreis ein Zusammentreffen zwischen seinem Vater und Nastasja Filippowna statt. Er hatte manchmal in spöttischer Selbstverhöhnung versucht, es sich auszumalen, was für eine Figur der General bei dem Trauakt machen würde, hatte aber nie vermocht, sich das qualvolle Bild vollständig zu vergegenwärtigen, sondern es immer rasch wieder beiseite geschoben. Vielleicht machte er sich von dem ihm erwachsenden Schaden maßlos übertriebene Vorstellungen, aber so geht es eitlen Menschen stets. In diesen zwei Monaten hatte er sich die Sache überlegt, seinen Entschluß gefaßt und sich fest vorgenommen, seinen Vater um jeden Preis irgendwie wegzuschaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche überhaupt nicht gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade in dem Augenblick, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. (Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt.) Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, die beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen wie entehrt abseits, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden … Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht!

Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran.

»Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß …«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen Gebärde ihre feinen Finger langsam und effektvoll an seine Lippen. Überhaupt war es recht schwer, den General in Verlegenheit zu bringen. Sein Äußeres war, von einer gewissen Nachlässigkeit abgesehen, immer noch ziemlich anständig, was er selbst recht wohl wußte. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, in sehr guter Gesellschaft zu verkehren, aus der er erst vor zwei, drei Jahren endgültig ausgeschlossen worden war. Seitdem hatte er sich allerdings widerstandslos seinen Schwächen hingegeben, aber seine gewandten, angenehmen Manieren hatte er sich immer noch bewahrt. Nastasja Filippowna schien über das Erscheinen Ardalion Alexandrowitschs, über den sie natürlich schon manches gehört hatte, außerordentlich erfreut zu sein.

»Ich habe gehört, daß mein Sohn …«, begann der General.

»Ja, Ihr Sohn! Aber Sie sind mir auch nett, Papachen! Warum lassen Sie sich nie bei mir sehen? Verstecken Sie sich selbst, oder versteckt Sie Ihr Sohn? Sie wenigstens können doch zu mir kommen, ohne jemand zu kompromittieren.«

»Die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Väter …«, fing der General wieder an.

»Nastasja Filippowna«, sagte Nina Alexandrowna laut, »lassen Sie doch bitte meinen Mann für einen Augenblick fortgehen, es fragt jemand nach ihm.«

»Fortgehen lassen? Aber ich bitte Sie, ich habe so viel von ihm gehört und schon so lange gewünscht, ihn persönlich kennenzulernen! Und was kann er denn zu tun haben? Er befindet sich doch im Ruhestande? Sie werden mich doch nicht verlassen, General, werden doch nicht fortgehen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß er Ihnen bald einen Besuch machen wird, aber jetzt bedarf er dringend der Ruhe.«

»Ardalion Alexandrowitsch, es wird behauptet, Sie bedürften dringend der Ruhe!« rief Nastasja Filippowna mit unzufriedener, schmollender Miene, wie ein launisches kleines Mädchen, dem man sein Spielzeug wegnimmt. Der General benutzte die Gelegenheit, sich noch närrischer zu gebärden.

»Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte.

»Wollen Sie nicht hinausgehen, Mamachen«, fragte Warja laut.

»Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.«

Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben, aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.

Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.

»Führen doch Sie ihn weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganjka!« fügte er für sich hinzu.

»Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach zwanzigjähriger Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie . Aber leider liegt der eine von uns im Grabe, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen …«

»Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.

»Sie sitzen hier in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«

»Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn! …« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen.

»Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja, aber … es lohnt nicht die Mühe, es zu erzählen.«

»Aber unbedingt müssen Sie es erzählen!« rief Nastasja Filippowna lustig.

»Auch ich habe diese Geschichte noch nicht gehört«, bemerkte Ferdyschtschenko. »«

»Ardalion Alexandrowitsch!« rief Nina Alexandrowna wieder in flehendem Tone.

»Papachen, es fragt jemand nach Ihnen«, sagte Kolja.

»Es ist eine dumme Geschichte, und sie läßt sich in wenigen Worten erzählen«, begann der General sehr selbstzufrieden. »Vor zwei Jahren, ja, vor noch nicht ganz zwei Jahren, die Eröffnung der neuen ***skischen Eisenbahn hatte soeben stattgefunden, mußte ich in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit – es handelte sich um den Austritt aus meiner dienstlichen Stellung – eine Reise machen; ich war schon in Zivil und nahm mir ein Billett erster Klasse. Ich steige ein, setze mich hin und rauche. Das heißt, ich fahre fort zu rauchen, angesteckt hatte ich mir die Zigarre schon vorher. Ich war in dem Abteil ganz allein. Das Rauchen ist nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, es ist so halb erlaubt und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, steigen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzen sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören, aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoße der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie meine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es trug ein silbernes Halsband, mit einer Inschrift darauf. Ich kümmere mich um nichts, merke aber, daß die Damen sich ärgern, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern, denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können, wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schweigen … Auf einmal – und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug saust dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das muß ein tolles Frauenzimmer gewesen sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster. Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.«

»Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.

»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!«

»Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.«

»Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!«

»Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig.

»Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!«

»Und Sie?«

Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann:

»Ich ließ mich hinreißen!«

»Haben Sie ihr weh getan? Ja?«

»Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben, aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst seine Hand im Spiel: es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja, und die im schwarzen Kleide, das war die älteste Prinzessin Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskij sehen Hause steht. Alle Prinzessinnen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Prinzessinnen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf!«

»Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich, »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ – ich lese die Indépendance ständig – genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Abteil zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!«

Der General wurde sehr rot, auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen, Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte unsagbare, unerträgliche Qualen durch.

»Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der General, »daß auch mir ganz dasselbe begegnet ist …«

»Papa hat wirklich Unannehmlichkeiten mit Mrs. Smith, der Gouvernante bei Bjelokonskijs gehabt«, rief Kolja. »Daran erinnere ich mich.« »Wie! Genau ebenso? Ein und dieselbe Geschichte sollte sich an zwei weit auseinanderliegenden Stellen Europas zugetragen haben, genau übereinstimmend in allen Einzelheiten einschließlich des hellblauen Kleides?« sagte Nastasja Filippowna, unbarmherzig bei diesem Gegenstand beharrend. »Ich werde Ihnen die ›Indépendance Belge‹ zuschicken.

»Aber beachten Sie wohl«, erwiderte der General, der sich immer noch standhaft verteidigte, »daß es mir zwei Jahre früher passiert ist.«

»Ja, das ist entscheidend!«

Nastasja Filippowna brach in ein geradezu hysterisches Lachen aus.

»Papachen, ich bitte Sie, auf ein paar Worte mit mir hinauszukommen«, sagte Ganja mit zitternder Stimme, der man seine Seelenqual anhörte, und faßte den Vater mechanisch an der Schulter.

Ein grenzenloser Haß loderte in seinem Blicke.

In diesem Augenblick ertönte außerordentlich laut die Klingel im Vorzimmer. Bei so gewaltsamem Läuten konnte die Klingel abreißen. Man konnte sich auf einen ungewöhnlichen Besuch gefaßt machen, Kolja lief hin, um zu öffnen.

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Kapitel 5

V

Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechtes, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken und ihre Gedanken irgendwie in eine andere Richtung zu lenken.

Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber noch dichtem Haar, etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Effekt mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben.

»Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?« Dabei riß die Generalin die Augen auf, soweit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an.

»Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Büro eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist…«

»Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?«

»Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens macht er den Eindruck eines gebildeten Menschen. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.«

»Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Tone und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Manne und umgekehrt hin und her rollen.

»Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen… übrigens ganz, wie es dir beliebt; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen, denn das ist beinahe ein gutes Werk.«

»Bei uns verkehren lassen? Aus der Schweiz kommt er?

»Die Schweiz kann dabei nicht hinderlich sein; übrigens noch einmal: ganz, wie du willst. Ich wünschte es deswegen, weil er erstens dein Namensvetter und vielleicht sogar ein Verwandter von dir ist und weil er zweitens nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Ich dachte sogar, du würdest dich für ihn ein wenig interessieren, da er ja doch zu unserer Familie gehört.«

»Selbstverständlich, maman, wenn wir mit ihm keine Umstände zu machen brauchen«, sagte Alexandra, die Älteste. »Überdies wird er von seiner Reise hungrig sein; warum sollen wir ihm da nicht etwas zu essen geben, wenn er nicht weiß, wo er bleiben soll?«

»Und obendrein ist er das reine Kind; man kann mit ihm noch Blindekuh spielen.«

»Blindekuh spielen? Wieso?«

»Ach, maman, hören Sie doch bitte auf, sich so anzustellen!« unterbrach Aglaja sie ärgerlich.

Die Mittlere, Adelaida, ein lachlustiges Ding, konnte sich nicht länger halten und lachte los.

»Rufen Sie ihn her, Papa, maman erlaubt es«, entschied Aglaja.

Der General klingelte und gab Befehl, den Fürsten zu rufen.

»Aber nur unter der Bedingung, daß ihm jedenfalls eine Serviette um den Hals gebunden wird, wenn er sich an den Tisch setzt«, erklärte die Generalin. »Ruft Fjodor oder Mawra … es soll einer hinter ihm stehen und auf ihn aufpassen, wenn er ißt. Verhält er sich denn wenigstens ruhig, wenn er seine Anfälle bekommt? Schlägt er nicht mit den Armen um sich?«

»Er ist sogar im Gegenteil sehr wohlerzogen und hat sehr gute Manieren. Etwas zu naiv ist er manchmal… Aber da ist er ja selbst! Hier stelle ich euch den Fürsten Myschkin vor, den Letzten dieses Geschlechtes, einen Namensvetter und vielleicht sogar Verwandten; nehmt ihn freundlich auf! Es findet gleich das Frühstück statt, Fürst; erweisen Sie uns also die Ehre… Mich aber entschuldigen Sie bitte; ich habe mich schon verspätet und muß mich beeilen…«

»Man weiß schon, wohin Sie es so eilig haben«, sagte die Generalin würdevoll.

»Ich muß eilen, ich muß eilen, liebe Frau; ich habe mich schon verspätet. Gebt ihm auch eure Albums, mesdames, damit er euch etwas hineinschreibt; er ist ein Kalligraph, wie man ihn selten findet! Dort bei mir in meinem Arbeitszimmer hat er in altertümlicher Schrift geschrieben: ›Der Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ … Nun, auf Wiedersehen!«

»Pafnutij? Abt? So warten Sie doch, warten Sie doch, wohin wollen Sie denn, und was ist das für ein Pafnutij?« rief die Generalin eigensinnig, ärgerlich und beinah in Aufregung ihrem davoneilenden Gatten nach.

»Ja, ja, liebe Frau, das war so ein Abt in alten Zeiten … Aber ich muß zum Grafen; er wartet auf mich, schon lange, und vor allen Dingen: er hat mir die Zeit selbst bestimmt… Auf Wiedersehen, Fürst!«

Der General entfernte sich mit schnellen Schritten.

»Ich weiß, zu welchem Grafen er es so eilig hat!« bemerkte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und lenkte gereizt ihre Blicke auf den Fürsten. »Ja, was war doch gleich?« begann sie, indem sie sich mürrisch und ärgerlich zu erinnern suchte. »Wovon redeten wir nur? Ach ja: was war das für ein Abt?«

»Maman!« begann Alexandra, und Aglaja stampfte sogar mit dem Füßchen.

»Stören Sie mich nicht, Alexandra Iwanowna!« schalt die Generalin. »Ich will das auch wissen. Setzen Sie sich, Fürst, da auf diesen Sessel mir gegenüber; nein, hierher, rücken Sie mehr in die Sonne, ins Licht, damit ich Sie sehen kann! Nun also, was war das für ein Abt?«

»Der Abt Pafnutij«, antwortete der Fürst aufmerksam und ernst.

»Pafnutij? Das ist interessant; also was war mit ihm?«

Die Generalin fragte ungeduldig, schnell, in scharfem Ton, ohne die Augen von dem Fürsten wegzuwenden, und als der Fürst antwortete, nickte sie zu jedem seiner Worte mit dem Kopfe.

»Der Abt Pafnutij lebte im vierzehnten Jahrhundert«, begann der Fürst. »Er stand einem Kloster an der Wolga vor, in unserem jetzigen Gouvernement Kostroma. Er war durch sein frommes Leben weit und breit bekannt; er reiste auch zur Goldenen Horde, half die damals schwebenden Angelegenheiten ordnen und unterzeichnete ein Schriftstück; von dieser Unterschrift habe ich ein Faksimile gesehen. Die Schrift gefiel mir, und ich übte mich in ihr. Als der General vorhin sehen wollte, wie ich schreibe, um mir eine passende Stellung anzuweisen, schrieb ich einige Sätze in verschiedenen Schriftgattungen nieder und unter anderm auch den Satz: ›Der Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ in der Schrift des Abtes Pafnutij. Das gefiel dem General sehr, und so hat er es denn jetzt erwähnt.«

»Aglaja«, sagte die Generalin, »merk es dir: Pafnutij! Oder notier es dir lieber; ich vergesse dergleichen sonst immer. Übrigens hatte ich gedacht, die Sache würde interessanter sein. Wo ist denn diese Unterschrift?«

»Ich glaube, sie ist im Arbeitszimmer des Generals geblieben, auf dem Tisch.«

»Schickt doch gleich jemand hin und laßt sie herholen!«

»Ich werde sie Ihnen lieber noch einmal schreiben, wenn es Ihnen recht ist.«

»Gewiß, maman«, sagte Alexandra, »aber jetzt wäre es das beste, wenn wir frühstückten, wir sind hungrig.«

»Auch das«, erwiderte die Generalin. »Kommen Sie, Fürst, haben Sie großen Hunger?«

»Ja, ich habe jetzt allerdings großen Hunger und sage Ihnen meinen besten Dank.«

»Das ist sehr nett, daß Sie so höflich sind, und ich finde, daß Sie überhaupt nicht so ein … Sonderling sind, wie man Sie uns geschildert hat. Kommen Sie! Setzen Sie sich hierher, mir gegenüber!« sagte sie, als sie ins Eßzimmer gekommen waren, geschäftig und nötigte den Fürsten zum Sitzen. »Ich möchte Sie gern ansehen können. Alexandra, Adelaida, sorgt ihr beide für den Fürsten! Nicht wahr, er ist gar nicht so … krank? Vielleicht ist auch die Vorsichtsmaßregel mit der Serviette nicht nötig… Hat man Ihnen beim Essen eine Serviette umgebunden, Fürst?«

»Früher, als ich etwa sieben Jahre alt war, hat man das wohl getan, aber jetzt lege ich mir die Serviette gewöhnlich auf die Knie, wenn ich esse.«

»So ist das auch in der Ordnung. Und Ihre Anfälle?«

»Anfälle?« fragte der Fürst ein wenig verwundert. »Anfälle kommen jetzt bei mir nur sehr selten vor. Übrigens, ich weiß nicht, es wird mir gesagt, das hiesige Klima werde mir schädlich sein.«

»Er spricht gut«, bemerkte die Generalin zu ihren Töchtern, sie nickte immer noch zu jedem Worte des Fürsten mit dem Kopf, »ich hatte das gar nicht erwartet. Es war also wie gewöhnlich nur dummes Zeug und Unwahrheit. Essen Sie, Fürst, und erzählen Sie, wo Sie geboren und wo Sie erzogen sind! Ich möchte alles wissen; Sie interessieren mich ganz außerordentlich.«

Der Fürst bedankte sich, und während er mit großem Appetit aß, begann er von neuem all das mitzuteilen, wovon er an diesem Morgen schon mehrmals zu reden Anlaß gehabt hatte. Die Generalin zeigte sich immer mehr befriedigt. Auch die jungen Damen hörten recht aufmerksam zu. Man suchte die Verwandtschaft festzustellen, wobei sich herausstellte, daß der Fürst seinen Stammbaum ziemlich gut im Kopf hatte; aber trotz aller Bemühung wollte sich zwischen ihm und der Generalin keinerlei Verwandtschaft ergeben. Nur zwischen den beiderseitigen Großvätern und Großmüttern hätte sich allenfalls eine entfernte Verwandtschaft annehmen lassen. Dieser trockene Gesprächsstoff gefiel der Generalin ganz ausnehmend, da sie fast nie Gelegenheit hatte, von ihrem Stammbaum zu sprechen, obwohl sie das sehr gern tat, und als sie vom Tisch aufstand, befand sie sich in angeregter Stimmung.

»Wir wollen jetzt alle in unser Gesellschaftszimmer gehen«, sagte sie, »und auch der Kaffee soll dorthin gebracht werden. Wir haben ein solches gemeinsames Zimmer«, wandte sie sich an den Fürsten, den sie führte. »Es ist ganz einfach mein kleiner Salon, wo wir, wenn kein Besuch da ist, uns zusammenfinden und jede von uns sich in ihrer Weise beschäftigt; Alexandra hier, meine älteste Tochter, spielt Klavier oder liest oder stickt; Adelaida malt Landschaften und Porträts (sie wird nur mit nichts fertig), und Aglaja sitzt da und tut nichts. Mir geht die Arbeit ebenfalls nicht vonstatten: es kommt nichts Ordentliches heraus. Nun, sehen Sie, da sind wir, setzen Sie sich hierher, Fürst, an den Kamin, und erzählen Sie! Ich möchte gern wissen, wie Sie zu erzählen verstehen. Ich möchte ganz genaue Kenntnis von allem erlangen, und wenn ich dann mit der alten Fürstin Bjelokonskaja zusammenkomme, will ich ihr viel von Ihnen erzählen. Ich möchte, daß alle Leute ebenfalls für Sie Interesse gewinnen. Nun also, reden Sie!«

»Aber maman, es ist doch sehr sonderbar, so auf Befehl erzählen zu müssen«, bemerkte Adelaida, die unterdessen ihre Staffelei zurechtgerückt, Pinsel und Palette zur Hand genommen hatte und nun anfing, eine schon vor längerer Zeit begonnene Landschaft nach einem Kupferstich zu kopieren.

Alexandra und Aglaja setzten sich nebeneinander auf ein kleines Sofa, legten die Hände zusammen und machten sich bereit, das Gespräch mit anzuhören. Der Fürst bemerkte, daß sich von allen Seiten eine gespannte Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

»Ich würde nichts erzählen, wenn es mir auf solche Weise befohlen würde«, bemerkte Aglaja.

»Warum denn? Was ist denn dabei weiter sonderbar? Warum soll er nicht erzählen? Wozu hat er denn seine Zunge? Ich will wissen, wie er zu reden versteht. Sprechen Sie also, worüber Sie wollen! Erzählen Sie, wie Ihnen die Schweiz gefallen hat, welches der erste Eindruck gewesen ist! Ihr werdet sehen, er wird unverzüglich anfangen und sehr hübsch erzählen.«

»Der erste Eindruck war sehr stark…«, begann der Fürst.

»Seht ihr wohl«, unterbrach ihn die ungeduldige Lisaweta Prokofjewna, zu ihren Töchtern gewendet, »er hat schon angefangen.«

»Lassen Sie ihn doch wenigstens sprechen, maman!« schalt Alexandra. »Dieser Fürst ist vielleicht ein arger Schelm und gar kein Idiot«, flüsterte sie ihrer Schwester Aglaja zu.

»Höchstwahrscheinlich verhält es sich so, ich merke das schon lange«, versetzte Aglaja. »Es ist häßlich von ihm, uns so eine Rolle vorzuspielen. Hofft er etwa, dadurch in unseren Augen zu gewinnen?«

»Der erste Eindruck war sehr stark«, sagte der Fürst noch einmal. »Als man mich aus Rußland wegbrachte und wir durch verschiedene deutsche Städte fuhren, blickte ich alles nur schweigend an und erkundigte mich, soviel ich mich erinnern kann, nach nichts. Das war nach einer Reihe starker, qualvoller Anfälle meiner Krankheit; jedesmal aber, wenn die Krankheit sich in dieser Weise steigerte und die Anfälle mehrmals hintereinander erfolgten, verfiel ich in vollständigen Stumpfsinn, verlor gänzlich das Gedächtnis, und wenn auch der Verstand noch weiterarbeitete, so war doch die logische Aufeinanderfolge der Gedanken anscheinend unterbrochen. Mehr als zwei oder drei Gedanken vermochte ich nicht folgerichtig miteinander zu verknüpfen. So ist mir das in Erinnerung. Als dann aber die Anfälle nachließen, wurde ich wieder gesund und kräftig wie jetzt. Ich weiß noch, daß die Traurigkeit, die mich erfüllte, ganz unerträglich war; ich hätte am liebsten losgeweint, ich befand mich dauernd in größter Erregung und Unruhe. Einen furchtbaren Eindruck machte es auf mich, daß dies alles mir fremd war; denn soviel begriff ich. Das Fremde drückte mich nieder. Aber (daran erinnere ich mich aufs deutlichste) ich erwachte eines Abends in Basel bei der Ankunft in der Schweiz völlig aus dieser geistigen Umnachtung, und was mich erweckte, das war das Geschrei eines Esels auf dem Marktplatz. Dieser Esel war für mich eine großartige Überraschung und gefiel mir aus nicht recht verständlichen Gründen außerordentlich, und gleichzeitig wurde in meinem Kopfe sozusagen alles auf einmal wieder hell.«

»Ein Esel? Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin. »Übrigens, eigentlich ist dabei nichts Sonderbares, die eine oder die andere von uns wird sich noch in einen Esel verlieben«, fügte sie hinzu und blickte die lachenden Mädchen zornig an. »Das ist alles schon in der Mythologie vorgekommen. Fahren Sie fort, Fürst!«

»Seitdem liebe ich Esel sehr. Ich habe sogar eine gewisse Sympathie für sie. Ich begann, mich nach ihnen zu erkundigen, denn ich hatte früher noch nie welche gesehen, und überzeugte mich auch bald selbst davon, daß sie höchst nützliche, arbeitsame, kräftige, geduldige, billig zu unterhaltende, ausdauernde Tiere sind, und wegen dieses Esels fing mir auf einmal die ganze Schweiz zu gefallen an, so daß meine frühere Traurigkeit vollständig verschwand.«

»Das alles ist ja sehr seltsam, aber das von dem Esel konnte auch wegbleiben; gehen wir nun zu einem anderen Thema über! Warum lachst du denn fortwährend, Aglaja? Und du, Adelaida? Der Fürst hat die Geschichte von dem Esel sehr schön erzählt. Er hat selbst einen gesehen; aber du, was hast du gesehen? Du bist doch nicht im Ausland gewesen.«

»Ich habe schon einen Esel gesehen, maman«, versetzte Adelaida.

»Und ich habe schon einen gehört«, fügte Aglaja hinzu. Alle drei brachen wieder in ein Gelächter aus, in das der Fürst einstimmte.

»Das ist sehr häßlich von euch«, schalt die Generalin. »Nehmen Sie es ihnen nicht übel, Fürst, sie sind sonst gute Mädchen. Ich zanke fortwährend mit ihnen, habe sie aber doch sehr lieb. Sie sind nur flatterhaft, leichtsinnig und ein bißchen verdreht.«

»Aber was sollte ich denn übelnehmen?« erwiderte der Fürst lachend. »Auch ich hätte die Gelegenheit zu lachen nicht unbenutzt gelassen. Aber ich trete trotzdem für den Esel ein: der Esel ist ein gutherziges, nützliches Geschöpf.«

»Sind Sie denn auch gutherzig, Fürst? Ich frage aus wirklichem Interesse«, fragte die Generalin.

Alle lachten wieder los.

»Da ist ihnen wieder dieser nichtswürdige Esel eingefallen; ich hatte gar nicht an ihn gedacht!« rief die Generalin. »Bitte glauben Sie mir, Fürst, ich beabsichtigte keinerlei…«

»Keinerlei Anspielung? Oh, das glaube ich Ihnen gern, ohne Zweifel!«

Der Fürst lachte, ohne aufzuhören.

»Das ist sehr nett von Ihnen, daß Sie lachen. Ich sehe, daß Sie ein recht gutherziger junger Mann sind«, sagte die Generalin.

»Manchmal bin ich nicht gutherzig«, erwiderte der Fürst.

»Aber ich habe ein gutes Herz«, bemerkte die Generalin überraschenderweise, »ich kann sogar sagen, daß ich immer gutherzig bin, und das ist mein einziger Fehler; denn man darf nicht immer gutherzig sein. Ich ärgere mich sehr oft, über meine Töchter da, und besonders über Iwan Fjodorowitsch; aber es ist scheußlich, daß ich gerade, wenn ich mich ärgere, am allergutherzigsten bin. Ich war vorhin, vor Ihrer Ankunft, recht böse geworden und stellte mich, als verstünde ich nicht, was man zu mir sagte, und wolle es nicht verstehen. Das kommt bei mir öfter vor, ich bin darin wie ein Kind. Aglaja hat mich deswegen ausgescholten, und ich danke dir, Aglaja. Übrigens ist das alles Unsinn. Ich bin nicht so dumm, wie ich scheine und wie mich meine lieben Töchter gern darstellen möchten. Ich habe einen energischen Charakter und halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. Ich sage das übrigens alles ohne Groll. Komm her, Aglaja, und gib mir einen Kuß… nun, nun, genug der Zärtlichkeit!« bemerkte sie, als Aglaja ihr herzlich den Mund und die Hand küßte. »Fahren Sie nur fort, Fürst. Vielleicht erinnern Sie sich noch an etwas, was interessanter ist als der Esel.«

»Ich kann trotz alledem nicht begreifen, wie jemand so geradezu loserzählen kann«, sagte Adelaida noch einmal. »Ich brächte das nicht fertig.«

»Aber der Fürst bringt es fertig, weil der Fürst eben überaus verständig, mindestens zehnmal oder vielleicht zwölfmal so verständig ist wie du. Hoffentlich fühlst du das nun selbst. Liefern Sie ihnen den Beweis, Fürst, fahren Sie fort! Den Esel können wir nun aber wirklich endlich beiseite lassen. Nun, was haben Sie außer dem Esel im Ausland gesehen?«

»Auch das von dem Esel war verständig«, sagte Alexandra. »Der Fürst hat sehr interessant seinen Krankheitszustand geschildert, und wie ihm infolge eines äußeren Anstoßes alles wieder zu gefallen anfing. Mir ist es immer interessant gewesen, wie Menschen den Verstand verlieren und dann wieder gesund werden. Namentlich wenn das plötzlich erfolgt.«

»Nicht wahr, nicht wahr?« sagte die Generalin eifrig. »Ich sehe, daß auch Du manchmal verständig bist. Na, nun hast du aber genug gelacht! Sie blieben ja wohl bei dem landschaftlichen Eindruck der Schweiz stehen. Fürst. Also bitte!«

»Wir kamen in Luzern an und fuhren dann über den See. Ich empfand, wie schön er war, fühlte mich aber dabei entsetzlich bedrückt«, sagte der Fürst.

»Warum?« fragte Alexandra.

»Ich verstehe es nicht. Ich fühle mich beim ersten Anblick solcher Naturschönheiten jedesmal bedrückt und unruhig; es ist eine aus Vergnügen und Unruhe gemischte Empfindung. Übrigens hing das alles noch mit meiner Krankheit zusammen.«

»Ach, ich möchte das zu gern einmal sehen«, sagte Adelaida. »Und ich begreife nicht, warum wir nicht endlich einmal ins Ausland reisen. Ich kann schon seit zwei Jahren keinen Vorwurf für ein Bild finden:

›Ost und Süd sind längst geschildert…‹

Suchen Sie mir doch einen Vorwurf für ein Bild, Fürst!«

»Ich verstehe davon nichts. Aber ich möchte meinen: es ist weiter nichts erforderlich, als zu sehen und dann zu malen.«

»Zu sehen verstehe ich eben nicht.«

»Aber in was für Rätseln sprecht ihr denn da? Ich verstehe euch ja gar nicht!« unterbrach sie die Generalin. »Was heißt das: ›Zu sehen verstehe ich nicht?‹ Du hast doch Augen, nun, dann sieh doch! Wenn du hier nicht zu sehen verstehst, wirst du es auch im Ausland nicht lernen. Erzählen Sie lieber, was Sie selbst gesehen haben, Fürst!«

»Ja, das wird das beste sein«, stimmte ihr Adelaida bei. »Der Fürst hat ja im Ausland sehen gelernt.«

»Das weiß ich nicht, ich habe dort nur meine Gesundheit gebessert; ich weiß nicht, ob ich da auch sehen gelernt habe. Ich bin übrigens dort fast die ganze Zeit über sehr glücklich gewesen.«

»Glücklich! Sie verstehen es, glücklich zu sein?« rief Aglaja. »Warum sagen Sie dann, daß Sie da nicht sehen gelernt haben? Sie werden in dieser Kunst noch unser Lehrer werden!«

»Ach ja, bitte, lehren Sie uns!« rief Adelaida lachend.

»Ich kann Sie nichts lehren«, versetzte der Fürst, gleichfalls lachend. »Ich habe fast die ganze Zeit meines Aufenthalts im Auslande in diesem Schweizer Dorf verlebt; nur selten machte ich einen kleinen Ausflug; was kann ich Sie da lehren? Anfangs beschränkte sich die Besserung darauf, daß das Gefühl des Mißmuts aufhörte, aber bald fing ich an zu genesen; dann wurde mir jeder Tag lieber und teurer, so daß ich dies selbst zu bemerken begann. Ich legte mich immer sehr zufrieden schlafen und fühlte mich noch glücklicher beim Aufstehen. Aber woher das kam, das ist allerdings recht schwer zu erklären.«

»Sie waren also so zufrieden, daß Sie an keinen anderen Ort wollten, sich sonst nirgendwo hingezogen fühlten?« fragte Alexandra.

»Zuerst, ganz am Anfang, sehnte ich mich weg, ja, und ich verfiel in große Unruhe. Ich dachte immer darüber nach, wie ich mir mein Leben einrichten könnte, und suchte mein künftiges Schicksal zu erkennen, besonders zu gewissen Zeiten war ich sehr unruhig. Sie wissen, es gibt solche Augenblicke, namentlich wenn man ganz allein ist. Wir hatten dort einen kleinen Wasserfall; er fiel hoch vom Berge herab wie ein dünner Faden, fast senkrecht, weiß, geräuschvoll, schäumend; er fiel hoch herunter und schien doch ziemlich niedrig zu sein; er war eine halbe Werst entfernt, und es kam einem vor, als ob es bis zu ihm nur fünfzig Schritte wären. Ich horchte bei Nacht gern auf sein Rauschen; das waren die Augenblicke, in denen ich manchmal in sehr große Unruhe geriet. Ebenso ging es mir manchmal um die Mittagszeit; ich stieg irgendwohin in die Berge und stand dort dann allein, ringsum alte, große, harzige Tannen, oben auf einem Felsen die Ruinen einer alten mittelalterlichen Burg, unser Dörfchen unten in der Ferne kaum sichtbar; die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau, es herrschte eine furchtbare Stille. In solchen Augenblicken zog es mich mitunter weg, und ich hatte immer die Vorstellung, wenn ich nur immer geradeaus gehen könnte, immer weiter und weiter, und die Linie überschreiten könnte, wo Himmel und Erde einander berühren, da würde sich jedes Rätsel lösen, und ich würde sofort ein neues Leben erblicken, ein Leben, das tausendmal frischer und lärmender ist als das unsere; ich malte mir eine große Stadt aus wie Neapel und darin lauter Paläste, Lärm, Getöse, Leben… Ja, in was für Phantasien erging ich mich da! Aber dann schien es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein reiches Leben führen könne.«

»Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja.

»Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu belehren.«

»Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren… Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.«

»Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlage wie Jewlampija Nikolajewnas Philosophie«, warf Aglaja wieder ein. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken, aber wohlgemerkt, sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Geradeso ist es auch mit Ihrem reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorfe, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Gewinn, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.«

»Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war sehr traurig gewesen, kann hierfür zwei Minuten angesetzt; dann habe er noch zwei Minuten dazu bestimmt, zum letztenmal über sich selbst nachzudenken, und die dann noch verbleibende, um zum letztenmal um sich zu schauen. Er hatte es sehr gut im Gedächtnis, daß er gerade in dieser Weise über seine Zeit verfügt und sie so berechnet hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gesund und kräftig gewesen, als er dem Tode so nahe war. Er erinnerte sich, daß er beim Abschiede von seinen Kameraden an einen derselben eine ziemlich nebensächliche Frage gerichtet und die Antwort mit großem Interesse gehört hatte. Dann, nachdem er von seinen Kameraden Abschied genommen hatte, kamen die beiden Minuten, die er dazu bestimmt hatte, über sich selbst nachzudenken; er wußte von vornherein, worüber er nachdenken würde: er wollte sich möglichst schnell und klar eine Vorstellung davon machen, wie das zugehe, daß er jetzt existiere und lebe und in drei Minuten bereits irgend etwas sein werde, ein jemand oder ein etwas, also wer denn? Und wo? Über all diese Fragen gedachte er in diesen zwei Minuten ins klare zu kommen! Nicht weit entfernt stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt hatte; er hatte sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er hatte die Vorstellung gehabt, als gehörten sie zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen… Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich eintreten würde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte – welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.«

Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen würde.

»Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja.

»Wie? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam.

»Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?«

»Nur so … es ist mir eingefallen… zur Unterhaltung…«

»Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Gold. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt; was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?«

»O nein, er hat mir selbst gesagt (ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.«

»Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, über das Leben vollständig ›Rechnung zu führen‹. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.«

»Ja, es muß aus irgendeinem Grund unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt… Aber irgendwie kann ich es doch nicht glauben…«

»Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja.

»Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.«

»Und Sie glauben es noch?«

»Und… ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder und blickte sie fröhlich an.

»Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.

»Wie tapfer Sie doch alle sind! Sie lachen, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten …«

Er ließ seinen Blick noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.

»Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch gerade allen in die Augen.

»Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.

»Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele…«

Alle lachten.

»Wenn Sie mir zürnen, dann seien Sie mir doch bitte wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle anderen vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich…«

Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.

»Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, herausforderndem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«

»Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön, nur ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.«

»Ach was, maman! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.«

»Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst.

»Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?«

»Fanden denn Hinrichtungen in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.

»Ich habe ihr in Lyon beigewohnt, ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, kamen wir darüber zu.«

»Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.

»Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank, aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht abwenden konnte.«

»Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.

»Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«

»Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen (und wohl gar rechtfertigen), daß es für Männer schicklich sei. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«

»Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida.

»Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.

»Sie wollen es wohl unterlassen, um uns zu schonen?« fragte Aglaja spöttisch.

»Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser selben Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«

»Wem haben Sie denn davon erzählt?«

»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete…«

»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten.

»Nun dem, der im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«

»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.

»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz. »Nun, wenn Sie es Alexej erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«

»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida.

»Als Sie mich vorhin nach einem Vorwurf für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und vertrauensvoll wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beils der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«

»Das Gesicht? Nur das Gesicht? fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Vorwurf sein, was soll denn dabei für ein Bild herauskommen?«

»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben… Ich werde es auch ein andermal tun… Es hat auf mich einen starken Eindruck gemacht.«

»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber erklären Sie mir bitte das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«

»Es war genau eine Minute vor dem Tode«, begann der Fürst sehr bereitwillig – er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen, »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und als beeile er sich, auf jeden Fall eine Art Reisevorrat mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war… Es ist merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil, der Kopf ist sehr lebendig und arbeitet wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine im Gange befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche, fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf verrostet …‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles, und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun bedenkt, daß das so bis zur letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt und wartet und… weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich daläge, ich würde absichtlich darauf achten und danach hinhören! Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines Augenblicks, aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß man noch bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn er es gar fünf Sekunden lang weiß!… Zeichnen Sie das Schafott so, daß nur die oberste Stufe deutlich und nahe zu sehen ist; der Verurteilte hat sie betreten: man sieht seinen Kopf, das Gesicht ist weiß wie ein Blatt Papier, der Geistliche hält ihm das Kruzifix hin, er streckt begierig seine bläulichen Lippen danach aus und sieht, was vor ihm ist, und – weiß alles. Das Kruzifix und der Kopf, die bilden den eigentlichen Gegenstand des Bildes, die Gesichter des Geistlichen, des Scharfrichters und seiner beiden Gehilfen und ein paar Köpfe und Augen weiter unten, das alles braucht nur im Hintergrunde dargestellt zu sein, wie im Nebel, nur als Beiwerk… So denke ich mir das Bild.«

Der Fürst schwieg und blickte die Damen alle an.

»Das sieht nun freilich nicht wie Quietismus aus«, sagte Alexandra vor sich hin.

»Und jetzt, bitte, erzählen Sie uns, wie Sie verliebt waren!« sagte Adelaida.

Der Fürst blickte sie erstaunt an.

»Hören Sie!« fuhr Adelaida schnell fort. »Sie sind uns auch noch die Beschreibung des Baseler Bildes schuldig, aber jetzt möchte ich hören, wie Sie verliebt waren; leugnen Sie nicht, Sie sind verliebt gewesen! Zudem werden Sie, sobald Sie zu erzählen anfangen, aufhören, Philosoph zu sein.«

»Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie sich sofort dessen, was Sie erzählt haben«, bemerkte Aglaja plötzlich. »Woher kommt das?«

»Was redest du da für dummes Zeug«, schalt die Generalin und blickte Aglaja mißbilligend an.

»Ja, das war sehr unverständig«, stimmte Alexandra ihr bei.

»Glauben Sie nicht, daß sie das wirklich meint, Fürst«, wandte sich die Generalin an diesen, »sie redet absichtlich so, aus irgendwelcher Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.«

»Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung.

»Wieso?« fragte Adelaida neugierig.

»Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung.

Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort.

»Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst.

»Sie wollen sich durchaus interessant machen«, rief Aglaja. »Und was Sie dabei für ein feierliches Gesicht machen!«

»Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon.«

»Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher, »ich… war auf andere Weise glücklich.«

»Wie denn? Wodurch denn?«

»Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

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Kapitel 50

XII Schluß

Als die Lehrerwitwe eilig in einem Wagen nach Pawlowsk gefahren war, hatte sie sich direkt zu der durch die Ereignisse des vorhergehenden Tages sehr ergriffenen Darja Alexejewna begeben, ihr alles erzählt, was sie wußte, und dadurch deren Angst noch erhöht. Die beiden Damen hatten dann beschlossen, mit Lebedew in Verbindung zu treten, der als Freund seines Mieters und als Hauswirt ebenfalls sehr aufgeregt war. Wera Lebedewa hatte alles mitgeteilt, was sie wußte. Auf Lebedews Rat hatten sie sich dann dafür entschieden, alle drei nach Petersburg zu fahren, um aufs schnellste das zu verhüten, »was sehr leicht geschehen könnte«. So war es gekommen, daß bereits am andern Vormittag gegen elf Uhr Rogoshins Wohnung von der Polizei in Gegenwart Lebedews, der Damen und des Bruders von Rogoshin, Semjon Semjonowitsch Rogoshins, der im Nebengebäude wohnte, geöffnet wurde. Zu diesem Vorgehen hatte besonders auch die Angabe des Hausknechtes mitgewirkt, er habe am Abend des vorhergehenden Tages Parfen Semjonowitsch mit einem Gast von der Haupttür ganz leise hereinkommen sehen. Nach dieser Aussage trug man kein Bedenken, die Tür, die auf Klingeln nicht geöffnet wurde, aufzubrechen.

Rogoshin lag zwei Monate an Gehirnentzündung krank, und als er genesen war, folgte die Untersuchung und die Gerichtsverhandlung. Er machte über alles unumwundene, genaue und völlig befriedigende Aussagen, so daß von einer Hinzuziehung des Fürsten zu dem Gerichtsverfahren von vornherein abgesehen werden konnte. Rogoshin zeigte sich bei seinem Prozeß schweigsam. Er widersprach seinem geschickten, redegewandten Verteidiger nicht, der klar und logisch bewies, daß das begangene Verbrechen eine Folge der Gehirnentzündung sei, die infolge der von dem Angeklagten erlittenen Unbilden schon lange vorher sich herauszubilden begonnen habe. Aber er fügte von sich aus nichts zur Bekräftigung dieser Ansicht hinzu und bestätigte und erwähnte wie bisher klar und deutlich alle, auch die kleinsten Umstände des stattgefundenen Ereignisses. Er wurde unter Zubilligung mildernder Umstände zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und hörte sein Urteil finster, schweigend und »nachdenklich« an. Sein ganzes gewaltiges Vermögen, außer dem verhältnismäßig sehr geringen Teil, den er bei den anfänglichen Zechereien vergeudet hatte, ging auf seinen Bruder Semjon Semjonowitsch zu dessen großer Befriedigung über. Die alte Rogoshina lebt noch und scheint sich manchmal an ihren Lieblingssohn Parfen zu erinnern, aber nicht deutlich: Gott hat ihren Geist und ihr Herz vor der Erkenntnis des schrecklichen Verhängnisses bewahrt, von dem ihr unglückliches Haus heimgesucht worden ist.

Lebedew, Keller, Ganja, Ptizyn und viele andere Personen unserer Erzählung leben wie früher und haben sich wenig verändert, so daß wir fast nichts über sie mitzuteilen haben. Ippolit starb in schrecklicher Aufregung und etwas früher, als er erwartet hatte, etwa zwei Wochen nach Nastasja Filippownas Tode. Kolja war von allem Geschehenen tief erschüttert; er schloß sich seitdem eng an seine Mutter an. Nina Alexandrowna ist nicht frei von Sorge um ihn, da er für sein Alter zu nachdenklich ist; er wird vielleicht einmal ein tüchtiger Geschäftsmann werden. Unter anderm ist großenteils durch seine Bemühungen auch das weitere Schicksal des Fürsten geordnet worden: schon lange hatte er unter allen Personen, mit denen er in der letzten Zeit bekannt geworden war, Jewgenij Pawlowitsch Radomskij besonders schätzen gelernt; er ging aus eigener Initiative zu ihm, teilte ihm alle ihm bekannten Einzelheiten des Geschehenen mit und sprach mit ihm über die derzeitige Lage des Fürsten. Er hatte sich nicht geirrt: Jewgenij Pawlowitsch nahm selbst warmen Anteil an dem Schicksal des unglücklichen »Idioten«, und durch seine Bemühungen und seine Fürsorge gelangte der Fürst wieder ins Ausland, nach der Schweiz, in das Schneidersche Institut. Jewgenij Pawlowitsch selbst ist ins Ausland gereist, beabsichtigt in Westeuropa sehr lange zu bleiben und nennt sich selbst mit völliger Aufrichtigkeit einen in Rußland ganz überflüssigen Menschen; ziemlich oft, mindestens alle paar Monate einmal, besucht er seinen kranken Freund bei Schneider; aber Schneider macht ein immer finstereres Gesicht das Beichtkind eines berühmten katholischen Paters geworden war, der ihren Verstand ganz in Fesseln geschlagen und sie zu seiner fanatischen Anhängerin gemacht hatte. Das kolossale Vermögen des Grafen, von dem er Lisaweta Prokofjewna und dem Fürsten Schtsch. beinah unwiderlegliche Beweise beigebracht hatte, stellte sich als gar nicht existierend heraus. Und nicht genug damit: ein halbes Jahr nach der Eheschließung hatten der Graf und sein Freund, der berühmte Beichtvater, es schon fertiggebracht, Aglaja mit ihrer Familie gänzlich zu entzweien, so daß diese sie schon seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen hatte … Mit einem Worte, es wäre viel zu erzählen gewesen, aber Lisaweta Prokofjewna, ihre Töchter und selbst Fürst Schtsch. waren von all diesen schrecklichen Ereignissen so ergriffen, daß sie sich sogar fürchteten, manche Dinge im Gespräch mit Jewgenij Pawlowitsch überhaupt nur zu erwähnen, obwohl sie wußten, daß er auch aus anderer Quelle über Aglajas letzte Schwärmerei gut unterrichtet war. Die arme Lisaweta Prokofjewna sehnte sich nach Rußland zurück und kritisierte, wie Jewgenij Pawlowitsch bezeugte, im Gespräch mit ihm bitter und parteiisch das ganze Ausland: »Nirgends verstehen sie ordentlich Brot zu backen, und im Winter frieren sie wie die Mäuse im Keller«, sagte sie. »Wenigstens habe ich hier über diesen Armen auf russische Art weinen können«, fügte sie hinzu, indem sie aufgeregt auf den Fürsten zeigte, der sie überhaupt nicht erkannte. »Nun haben wir uns genug durch Schwärmereien fortreißen lassen; es wird Zeit, daß wir auch auf die Stimme der Vernunft hören. Und all das, dieses ganze Ausland und dieses euer ganzes Westeuropa, das ist alles bloße Phantasie, und wir selbst sind im Ausland auch nur Phantasie … denken Sie an mein Wort; Sie werden selbst sehen, daß es so ist!« schloß sie ordentlich zornig, als sie sich von Jewgenij Pawlowitsch verabschiedete.

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Kapitel 6

VI

»Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er, »daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem Lächeln hinzu. »Dort… dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, o nein, dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt, größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich. Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen, sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei … Geküßt hatte ich Marie zwei Wochen vor dem Tode ihrer Mutter, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort, wie sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie empört, einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht war, aber im Dorfe hatte man sofort alles erfahren und beschuldigte mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren auch alle, daß die Kinder Marie liebhatten, und bekamen einen gewaltigen Schreck; Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit, fast eine halbe Werst vom Dorfe entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›‹ und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glückes fast den Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche.

etwas gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern, und was ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an einen heran, verstehen es aber auch, das Herz schnell zu erkennen. So denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein schönes und sehr liebes Gesicht, aber vielleicht haben Sie einen geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch über Ihr Gesicht; kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder Hinsicht, in allem Guten und allem Schlechten, obwohl Sie bereits in einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich Kinder halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre Gesichter soeben lediglich aus Naivität so freiheraus gesagt habe, o nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht dabei.«

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Kapitel 7

VII

Als der Fürst nun schwieg, blickten alle, selbst Aglaja, namentlich aber Lisaweta Prokofjewna ihn vergnügt an.

»Da habt ihr ihn ja nett examiniert!« rief sie. »Ja, meine verehrten Damen, ihr dachtet, ihr würdet ihn wie einen armen Schlucker protegieren, und nun hat er selbst euch nur gerade noch für eine seiner würdige Gesellschaft erklärt und noch dazu gleich vorher angekündigt, daß er nur selten herkommen werde. Seht ihr wohl, da sind wir nun – worüber ich mich freue – die Blamierten, und am allermeisten Iwan Fjodorowitsch. Bravo, Fürst! Wir hatten vorhin die Weisung erhalten, wir sollten Sie examinieren. Was Sie aber von meinem Gesicht sagten, das ist durchaus richtig: ich bin ein Kind und weiß das. Ich habe es schon früher gewußt als Sie, und Sie haben nur meine eigene Ansicht in knapper Form zum Ausdruck gebracht. Ich meine, daß Ihr Charakter mit dem meinigen völlig übereinstimmt, und freue mich sehr darüber; die beiden sind sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Nur sind Sie ein Mann und ich eine Frau, auch bin ich nicht in der Schweiz gewesen, das ist der ganze Unterschied.«

»Sachte, sachte, maman!« rief Aglaja. »Der Fürst sagt ja, daß er bei all seinen freimütigen Auseinandersetzungen eine besondere Absicht hatte und nicht ohne Hintergedanken gesprochen hat.«

»Ja, ja!« stimmten ihr die andern lachend bei.

»Zieht ihn nicht auf, liebe Kinder, es wird vielleicht noch so herauskommen, daß er schlauer ist als ihr alle drei zusammen. Ihr werdet ja sehen. Aber warum haben Sie nichts von Aglaja gesagt, Fürst? Aglaja wartet darauf, und ich ebenfalls.«

»Ich kann im Augenblick nichts über sie sagen. Ich werde es später tun.«

»Warum denn? Sie scheint doch eine eigenartige Persönlichkeit zu sein.«

»O ja, das ist sie. Sie sind eine hervorragende Schönheit, Aglaja Iwanowna. Sie sind so schön, daß man sich ordentlich fürchtet, Sie anzusehen.«

»Ist das alles? Und ihre Eigenschaften?« setzte ihm die Generalin hartnäckig zu.

»Über die Schönheit ist schwer zu urteilen; ich bin noch nicht so weit, daß ich meine Ansicht aussprechen könnte. Die Schönheit ist ein Rätsel.«

»Damit haben Sie Aglaja ein Rätsel aufgegeben«, sagte Adelaida. »Nun rate einmal, Aglaja! Aber schön ist sie, Fürst, nicht wahr?«

»Außerordentlich schön!« antwortete der Fürst lebhaft und blickte Aglaja ganz entzückt an. »Fast so schön wie Nastasja Filippowna, obwohl das Gesicht von ganz anderer Art ist! …«

Alle sahen einander erstaunt an.

»Wie we-er?« fragte die Generalin gedehnt. »Wie Nastasja Filippowna? Wo haben Sie Nastasja Filippowna gesehen? Was für eine Nastasja Filippowna?«

»Gawrila Ardalionowitsch hat vorhin ihr Bild Iwan Fjodorowitsch gezeigt.«

»Wie? Er hat meinem Manne ihr Porträt gebracht?«

»Nur, um es ihm zu zeigen. Nastasja Filippowna hatte ihm heute ihr Bild geschenkt, und da brachte er es her, um es zu zeigen.«

»Ich will es sehen!« rief die Generalin heftig. »Wo ist dieses Bild? Wenn sie es ihm geschenkt hat, so muß er es haben, und er ist gewiß noch im Arbeitszimmer. Er kommt mittwochs immer her, um hier zu arbeiten, und geht nie vor vier Uhr weg. Laßt Gawrila Ardalionowitsch sogleich herrufen! Oder nein! Ich sehne mich nicht übermäßig danach, ihn zu sehen. Tun Sie mir den Gefallen, bester Fürst, gehen Sie in das Arbeitszimmer, lassen Sie sich von ihm das Bild geben, und bringen Sie es her! Sagen Sie, ich wolle es gern einmal sehen! Seien Sie so freundlich!«

»Er ist ein guter Mensch, aber doch gar zu einfältig«, sagte Adelaida, als der Fürst hinausgegangen war.

»Ja, gar zu einfältig«, stimmte Alexandra ihr bei, »so daß er sogar ein bißchen komisch erscheint.«

Die eine wie die andere schien das, was sie dachte, nicht vollständig auszusprechen.

»Mit unseren Gesichtern hat er sich übrigens gut aus der Affäre gezogen«, bemerkte Aglaja. »Er hat uns allen geschmeichelt, sogar maman.«

»Bitte, keine Spötteleien!« rief die Generalin. »Er hat nicht geschmeichelt, sondern ich fühle mich geschmeichelt.« »Meinst du, daß er sich nur aus der Affäre ziehen wollte?« fragte Adelaida.

»Mir scheint, er ist gar nicht so einfältig«, versetzte Aglaja.

»Was redet ihr da!« ereiferte sich die Generalin. »Meiner Ansicht nach seid ihr noch komischer als er. Er ist ein schlichter Mensch und hat seinen Kopf für sich, selbstverständlich im besten Sinne. Ganz wie ich.«

›Es war gewiß eine Dummheit, daß ich mir das von dem Bilde entschlüpfen ließ‹, sagte sich der Fürst, während er nach dem Arbeitszimmer ging, und fühlte dabei einige Gewissensbisse. ›Aber … vielleicht habe ich gut daran getan, daß ich davon anfing …‹

Es ging ihm ein sonderbarer, noch nicht ganz klarer Gedanke durch den Kopf.

Gawrila Ardalionowitsch saß noch im Arbeitszimmer und war in seine Papiere vertieft. Er schien in der Tat sein Gehalt von der Aktiengesellschaft nicht ohne Gegenleistung zu beziehen. Er wurde furchtbar verlegen, als der Fürst nach dem Bild fragte und erzählte, auf welche Weise die Damen von diesem Bild etwas erfahren hatten.

»Donnerwetter! Wozu mußten Sie davon schwatzen?« rief er in grimmigem Ärger. »Sie verstehen ja nichts davon … Idiot!« murmelte er vor sich hin.

»Verzeihung, ich habe es gesagt, ohne mir etwas dabei zu denken. Das Gespräch kam zufällig darauf. Ich sagte, Aglaja sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna.«

Ganja bat ihn, ihm über das Gespräch Genaueres mitzuteilen, und der Fürst erzählte. Ganja sah ihn wieder spöttisch an.

»Ich möchte wissen, was Sie sich um Nastasja Filippowna …«, murmelte er, versank aber, ohne den Satz zu beenden, in Gedanken.

Er war in sichtlicher Unruhe. Der Fürst erinnerte ihn an das Bild.

»Hören Sie, Fürst«, sagte Ganja auf einmal, wie wenn ein plötzlicher Gedanke in seinem Kopf aufleuchtete, »ich habe eine große Bitte an Sie … Aber ich weiß wirklich nicht …«

Er wurde verwirrt und sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende. Es schien, als ob er einen Entschluß fassen wolle, aber mit sich selbst kämpfe. Der Fürst wartete schweigend. Ganja sah ihn noch einmal mit einem forschenden, durchdringenden Blick an.

»Fürst«, begann er von neuem, »man ist dort auf mich augenblicklich … infolge eines ganz sonderbaren Umstandes … an dem ich keine Schuld trage … nun kurz, das gehört nicht hierher … man ist dort auf mich, wie es scheint, ein wenig böse, so daß ich für einige Zeit nicht ohne besondere Aufforderung hingehen möchte. Ich muß jetzt aber ganz notwendig mit Aglaja Iwanowna sprechen. Ich habe hier für alle Fälle ein paar Worte an sie geschrieben« (er hatte auf einmal einen kleinen, zusammengefalteten Zettel in der Hand) »und weiß nun nicht, wie ich sie ihr zugehen lassen soll. Möchten Sie es nicht übernehmen, Fürst, dieses Blättchen Aglaja Iwanowna abzugeben, jetzt gleich, aber nur Aglaja Iwanowna allein, das heißt so, daß es niemand sieht, verstehen Sie? Es handelt sich nicht um irgendwelche arge Heimlichkeit, es ist nichts Derartiges … aber … wollen Sie es tun?«

»Die Sache ist mir nicht sehr angenehm«, antwortete der Fürst.

»Ach, Fürst, ich bin in der äußersten Notlage!« bat Ganja. »Sie wird vielleicht antworten … Seien Sie versichert, daß nur die dringende Notwendigkeit, die allerdringendste Notwendigkeit mich veranlaßt, mich an Sie zu wenden! … Durch wen sollte ich es sonst hinschicken? … Die Sache ist sehr wichtig … außerordentlich wichtig für mich …«

Ganja war in größter Angst, der Fürst könnte es ihm abschlagen, und blickte ihm, furchtsam bittend, in die Augen.

»Nun, meinetwegen, ich werde es übergeben.«

»Aber nur so, daß niemand es bemerkt!« bat der erfreute Ganja. »Und noch eins, Fürst: ich kann mich doch wohl auf Ihr Ehrenwort verlassen, nicht wahr?«

»Ich werde es niemandem zeigen«, erwiderte der Fürst.

»Das Billett ist nicht versiegelt, aber …« Ganja merkte, daß er in seiner übergroßen Sorge zuviel sagte, und hielt verlegen inne.

»Oh, ich werde es nicht lesen«, versetzte der Fürst ganz schlicht, nahm das Bild und verließ das Arbeitszimmer.

Als Ganja allein geblieben war, griff er sich an den Kopf.

»Ein Wort von ihr, und ich … und ich breche vielleicht wirklich diese Beziehung ab! …«

Vor Aufregung und gespannter Erwartung war er nicht imstande, sich wieder an seine Papiere zu setzen, sondern schritt im Arbeitszimmer von einer Ecke in die andere.

Der Fürst ging sehr nachdenklich zurück; der Auftrag war ihm unangenehm, unangenehm war ihm auch der Gedanke, daß Ganja mit Aglaja in Korrespondenz stand. Aber als er noch zwei Zimmer zu passieren hatte, um wieder in den Salon zu gelangen, blieb er plötzlich stehen, als ob ihm etwas einfiele, blickte sich um, trat ans Fenster, recht nahe an das Licht, und begann Nastasja Filippownas Bild zu betrachten.

Er hätte gern etwas enträtselt, was in diesem Gesicht verborgen lag und ihn vorhin frappiert hatte. Der Eindruck von vorhin war in ihm haftengeblieben, und er beeilte sich jetzt, ihn von neuem nachzuprüfen. Dieses durch seine Schönheit und noch durch etwas anderes auffallende Gesicht übte jetzt auf ihn eine noch stärkere Wirkung aus. Ein grenzenloser Stolz, eine grenzenlose Verachtung, die fast wie Haß aussah, lagen in diesem Gesicht und zu gleicher Zeit etwas Zutrauliches, erstaunlich Offenherziges; dieser Kontrast erweckte bei dem, der diese Züge betrachtete, sogar ein gewisses Mitleid. Diese blendende Schönheit war geradezu unerträglich, die Schönheit des blassen Gesichts, der fast eingefallenen Wangen und glühenden Augen – eine seltsame Schönheit! Der Fürst betrachtete das Bild wohl eine Minute lang; dann zuckte er auf einmal zusammen, blickte rings um sich, führte das Bild eilig an seine Lippen und küßte es. Als er einen Augenblick darauf in den Salon trat, war sein Gesicht wieder vollkommen ruhig.

Aber als er in das Eßzimmer gelangte, das noch durch ein Zimmer vom Salon getrennt war, stieß er in der Tür beinahe mit der herauskommenden Aglaja zusammen. Sie war allein.

»Gawrila Ardalionowitsch hat mich gebeten, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte der Fürst, indem er ihr das Billett hinreichte.

Aglaja blieb stehen, nahm das Billett und blickte den Fürsten seltsam an. In ihrem Blick lag nicht die geringste Verlegenheit, nur ein gewisses Erstaunen mochte daraus hervorschimmern, und auch dieses Erstaunen schien sich nur auf den Fürsten zu beziehen. Aglaja forderte durch ihren Blick von ihm gleichsam Rechenschaft darüber, wie es zugehe, daß er in dieser Angelegenheit mit Ganja im Bunde sei, und sie benahm sich dabei mit aller Ruhe und von oben herab. Zwei oder drei Sekunden lang standen sie einander gegenüber; endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht etwas wie Spott; sie lächelte leise und ging vorüber.

Die Generalin betrachtete eine Zeitlang schweigend und mit einem leisen Ausdruck von Geringschätzung Nastasja Filippownas Bild, das sie mit ausgestrecktem Arm sehr weit von den Augen hielt.

»Ja, schön ist sie«, sagte sie endlich, »sogar sehr schön. Ich habe sie zweimal gesehen, aber nur von weitem. Also eine solche Schönheit bewundern Sie?« wandte sie sich plötzlich an den Fürsten.

»Eine solche … ja …«, antwortete der Fürst mit einiger Überwindung.

»Gerade eine solche?«

Ja.«

»Warum denn?«

»In diesem Gesicht … liegt soviel Leid …«, sagte der Fürst; es schien, als kämen diese Worte unwillkürlich aus seinem Munde und als antwortete er nicht auf die Frage, sondern spräche für sich.

»Das ist übrigens vielleicht nur eine Phantasie von Ihnen«, bemerkte die Generalin kurz und warf mit einer hochmütigen Gebärde das Bild von sich weg auf den Tisch.

Alexandra nahm es, Adelaida trat zu ihr, und beide begannen es zu betrachten. In diesem Augenblick kehrte Aglaja wieder in den Salon zurück.

»Das ist eine gewaltige Macht!« rief auf einmal Adelaida, die über die Schulter ihrer Schwester hinweg das Bild mit größtem Interesse ansah.

»Wieso? Inwiefern eine Macht?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton.

»Eine solche Schönheit ist eine Macht«, erwiderte Adelaida enthusiastisch. »Mit einer solchen Schönheit kann man die Welt umdrehen!«

In Gedanken versunken ging sie zu ihrer Staffelei. Aglaja sah das Bild nur flüchtig an, kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe vor, ging zur Seite und setzte sich da mit zusammengelegten Händen hin.

Die Generalin klingelte.

»Rufe Gawrila Ardalionowitsch her, er ist im Arbeitszimmer«, befahl sie dem eintretenden Diener.

»Aber maman!« rief Alexandra mit bedeutsamer Betonung.

»Ich will ihm nur ein paar Worte sagen, und damit basta!« erklärte die Generalin schnell in bestimmtem, scharfem Ton, der jede Widerrede abschnitt. Sie befand sich offenbar in gereizter Stimmung. »Sehen Sie, Fürst, bei uns hier gibt es jetzt lauter Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Die Etikette verlangt das, obwohl es eine Dummheit ist. Und noch dazu bei einer Sache, bei der die größte Offenheit, Klarheit und Ehrlichkeit erforderlich ist. Es sind Eheschließungen im Werke; aber diese Ehen wollen mir gar nicht gefallen …«

»Maman, was reden Sie da?« unterbrach Alexandra sie wieder eilig, um sie von weiteren Äußerungen zurückzuhalten.

»Was willst du, liebe Tochter? Gefallen sie denn dir? Daß der Fürst dabei zuhört, tut nichts, wir sind ja Freunde. Ich und er wenigstens. Es heißt: ›Gott sucht sich Menschen‹, aber natürlich gute Menschen; schlechte und launische, die sich heute so entscheiden und morgen wieder anders reden, kann er nicht gebrauchen. Verstehen Sie wohl, Alexandra Iwanowna? Meine Töchter sagen, Fürst, ich sei wunderlich, aber ich habe ein klares, gesundes Urteil. Denn das Herz ist die Hauptsache, und alles übrige ist dummes Zeug. Verstand ist freilich auch nötig, gewiß … vielleicht ist der Verstand sogar die allergrößte Hauptsache. Lache nicht, Aglaja, ich widerspreche mir nicht: ein Weib mit Herz ohne Verstand ist ebenso unglücklich wie ein Weib mit Verstand ohne Herz. Das ist eine alte Wahrheit. Ich bin ein Weib mit Herz ohne Verstand und du eins mit Verstand ohne Herz; wir sind beide unglücklich und müssen beide viel leiden.«

»Inwiefern sind Sie denn so unglücklich, maman?« konnte Adelaida sich nicht enthalten zu fragen; sie war anscheinend von der ganzen Gesellschaft die einzige, die ihre heitere Stimmung nicht verloren hatte.

»Erstens, weil ich so gelehrte Töchter habe«, schnitt ihr die Generalin das Wort ab. »Und da dies eine schon ganz hinreichend ist, so brauche ich das übrige nicht erst lange aufzuzählen. Aber nun genug des Geredes! Wir wollen einmal sehen, wie ihr beide (von Aglaja rede ich nicht) mit eurem Verstand und mit eurer Redekunst euch herauswickeln werdet, und ob Sie, verehrte Alexandra Iwanowna, mit Ihrem geschätzten Herrn Gemahl glücklich sein werden… Ah!…«, rief sie, als sie den eintretenden Ganja erblickte, »da kommt noch so ein Ehekandidat. Guten Morgen!« erwiderte sie auf Ganjas Verbeugung, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern. »Sie wollen eine Ehe eingehen?«

»Eine Ehe?… Wieso?… Was für eine Ehe?…«, murmelte Gawrila Ardalionowitsch ganz verblüfft. Er war schrecklich verlegen.

»Sie wollen heiraten? frage ich, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist.«

»N-nein… ich… n-nein«, log Gawrila Ardalionowitsch, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht. Er warf eilig einen Blick auf die abseits sitzende Aglaja und ließ seine Augen schnell wieder weitergleiten. Aglaja sah ihn kalt, gerade und ruhig an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, und beobachtete seine Verwirrung.

»Nein? Sie haben nein gesagt?« setzte die unerbittliche Lisaweta Prokofjewna das Verhör beharrlich fort. »Gut, ich werde es mir merken, daß Sie heute, Mittwoch vormittag, auf meine Frage mit Nein geantwortet haben. Was haben wir heute für einen Tag – Mittwoch?«

»Ich glaube, Mittwoch, maman«, antwortete Adelaida.

»Ihr wißt doch nie die Wochentage. Und was für ein Datum?«

»Den Siebenundzwanzigsten«, antwortete Ganja.

»Den Siebenundzwanzigsten? Das ist nützlich zu wissen, wegen einer gewissen Berechnung. Leben Sie wohl, Sie haben sicher viel zu tun, und für mich ist es Zeit, daß ich mich anziehe und ausfahre; nehmen Sie Ihr Bild wieder mit! Empfehlen Sie mich der unglücklichen Nina Alexandrowna!… Auf Wiedersehen, mein lieber Fürst! Kommen Sie recht oft wieder her; ich will jetzt eiligst zu der alten Bjelokonskaja fahren, um ihr von Ihnen zu erzählen. Und hören Sie, mein Lieber: ich glaube, daß Gott Sie speziell meinetwegen aus der Schweiz nach Petersburg geführt hat. Vielleicht haben Sie hier auch noch anderes zu tun; aber hauptsächlich sind Sie meinetwegen hergekommen. Gott hat es mit Absicht so eingerichtet … Auf Wiedersehen, liebe Kinder! Liebe Alexandra, komm du mit mir!«

Die Generalin ging hinaus. Ganja, ganz verstört, fassungslos, wütend, nahm das Bild vom Tisch und wandte sich mit einem schiefen Lächeln zum Fürsten:

»Fürst, ich gehe jetzt gleich nach Hause. Wenn Sie Ihre Absicht, bei uns zu wohnen, nicht aufgegeben haben, so werde ich Sie hinführen; sonst kennen Sie ja nicht einmal Straße und Haus.«

»Warten Sie, Fürst«, sagte Aglaja, die sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob, »Sie sollen mir noch etwas in mein Album schreiben. Papa hat gesagt, Sie seien ein Kalligraph. Ich werde es Ihnen gleich bringen.«

Sie verließ das Zimmer.

»Auf Wiedersehen, Fürst, ich gehe auch weg«, sagte Adelaida.

Sie drückte dem Fürsten fest die Hand, lächelte ihm freundlich und herzlich zu und ging hinaus. Den dabeistehenden Ganja sah sie gar nicht an.

»Das ist Ihr Werk!« rief zähneknirschend Ganja, der, sowie alle hinausgegangen waren, auf den Fürsten losstürzte. »Sie haben ihnen ausgeplaudert, daß ich heiraten will!« murmelte er hastig im Flüsterton, mit wütendem Gesicht und zornig funkelnden Augen. »Sie sind ein schamloser Schwätzer!«

»Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren«, antwortete der Fürst ruhig und höflich. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie heiraten wollen.«

»Sie haben vorhin gehört, wie Iwan Fjodorowitsch sagte, heute abend werde sich alles bei Nastasja Filippowna entscheiden, und das haben Sie weitererzählt! Sie lügen! Woher hätten die Damen es sonst wissen können? Wer, zum Teufel, konnte es ihnen mitteilen außer Ihnen? Hat mir die Alte etwa nicht zu verstehen gegeben, daß sie davon weiß?«

»Sie müssen am besten wissen, wer es den Damen mitgeteilt hat, wenn Sie der Ansicht sind, daß man Ihnen dergleichen zu verstehen gegeben hat; ich habe kein Wort davon gesagt.«

»Haben Sie mein Billett übergeben? … Ist eine Antwort da?« unterbrach ihn Ganja, vor Ungeduld glühend. Aber gerade in diesem Augenblick kam Aglaja zurück, und der Fürst hatte nicht mehr Zeit zu antworten.

»Hier, Fürst«, sagte Aglaja, indem sie ihr Album auf ein Tischchen legte. »Suchen Sie sich eine Seite aus, und schreiben Sie mir etwas hinein! Hier ist eine Feder, noch dazu eine ganz neue. Es macht doch nichts aus, daß es eine Stahlfeder ist? Ich habe mir sagen lassen, die Kalligraphen schrieben nicht mit Stahlfedern.«

Während sie mit dem Fürsten sprach, schien sie gar nicht zu bemerken, daß Ganja ebenfalls da war. Aber während nun der Fürst die Feder in Ordnung brachte, eine Seite aussuchte und sich zum Schreiben fertigmachte, trat Ganja an den Kamin heran, wo Aglaja unmittelbar rechts neben dem Fürsten stand, und sagte zu ihr mit zitternder, stockender Stimme aus nächster Nähe.

»Ein einziges Wort, nur ein einziges Wort von Ihnen – und ich bin gerettet.«

Der Fürst wandte sich rasch um und sah sie beide an. Auf Ganjas Gesicht lag der Ausdruck echter Verzweiflung; er schien diese Worte ohne jede Überlegung hervorgestoßen zu haben. Aglaja blickte ihn ein paar Sekunden lang mit ganz demselben ruhigen Erstaunen an wie eine Weile vorher den Fürsten, und es schien, daß dieses ruhige Erstaunen, diese Verwunderung, diese offenkundige völlige Verständnislosigkeit für das, was ihr gesagt war, in diesem Augenblick für Ganja schrecklicher war, als es die stärkste Verachtung hätte sein können.

»Was soll ich denn schreiben?« fragte der Fürst.

»Ich werde es Ihnen gleich diktieren«, erwiderte Aglaja, sich zu ihm wendend. »Sind Sie bereit? Nun, dann schreiben Sie: ›Ich lasse mich nicht auf Handelsgeschäfte ein.‹ Setzen Sie jetzt das Datum darunter! Zeigen Sie her!«

Der Fürst reichte ihr das Album hin.

»Vorzüglich! Sie haben es erstaunlich schön geschrieben; Ihre Handschrift ist ganz wundervoll! Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Fürst … Warten Sie«, fügte sie hinzu, als ob ihr plötzlich etwas einfiele, »kommen Sie mit; ich will Ihnen etwas zum Andenken schenken.«

Der Fürst folgte ihr; als sie jedoch ins Eßzimmer kamen, blieb Aglaja stehen.

»Lesen Sie das da!« sagte sie, ihm Ganjas Billett reichend. Der Fürst nahm das Billett und blickte Aglaja erstaunt an.

»Ich weiß ja, daß Sie es nicht gelesen haben und nicht der Vertraute dieses Menschen sein können. Lesen Sie, es ist mein Wunsch, daß Sie es lesen.«

Das Billett war augenscheinlich in großer Eile geschrieben:

»Heute wird mein Schicksal entschieden, Sie wissen, in welcher Weise. Heute werde ich unwiderruflich mein Wort geben müssen. Ich habe keinerlei Recht auf Ihre Teilnahme und wage nicht, irgendwelche Hoffnungen zu hegen, aber Sie haben früher einmal ein Wort ausgesprochen, nur ein einziges Wort, und dieses Wort hat die ganze dunkle Nacht meines Lebens erhellt und ist für mich ein Leuchtzeichen geworden. Sagen Sie jetzt noch ein solches Wort – und Sie werden mich damit vom Untergang erretten! Sagen Sie nur zu mir: ›Brich alle Beziehungen ab!‹ und ich tue es noch heute. Oh, was kostet es Sie, dieses eine Wort zu sagen! Ich erbitte dieses Wort nur als Zeichen Ihrer Teilnahme und Ihres Mitleids mit mir – nur in diesem Sinne! Weiter soll es nichts sein, nichts! Ich wage nicht, irgendwelche Hoffnung zu hegen, weil ich solcher Hoffnung nicht würdig bin. Aber wenn Sie dieses Wort gesprochen haben, werde ich von neuem meine Armut auf mich nehmen und meine verzweifelte Lage mit Freuden ertragen. Ich werde in den Kampf eintreten; ich werde mich seiner freuen und in ihm neue Kraft gewinnen!

Senden Sie mir dieses Wort der Teilnahme (nur der Teilnahme, das schwöre ich Ihnen!). Zürnen Sie nicht über die Kühnheit eines Verzweifelnden, Ertrinkenden, der eine letzte Anstrengung zu machen gewagt hat, um sich vor dem Untergange zu retten!

G. J.«

»Dieser Mensch versichert«, sagte Aglaja scharf, als der Fürst zu Ende gelesen hatte, »daß das Wort ›Brechen Sie alle Beziehungen ab!‹ mich nicht kompromittieren und zu nichts verpflichten solle, und er gibt mir, wie Sie sehen, hierin, in diesem Billett, eine schriftliche Garantie dafür. Beachten Sie, wie naiv er einige Worte unterstrichen hat, und in wie plumper Weise seine geheime Absicht hervorschaut! Er weiß übrigens, daß, wenn er alle Beziehungen abbräche, aber von selbst, allein, ohne auf ein Wort von mir zu warten und ohne mit mir auch nur davon zu reden und ohne jede Hoffnung auf meine Hand, daß ich dann meine Gefühle gegen ihn ändern und vielleicht seine Freundin werden würde. Das weiß er genau! Aber er hat eine niedrige Gesinnung: er weiß es und kann sich doch nicht entschließen; er weiß es und verlangt doch Garantien. Er ist nicht imstande, auf Treu und Glauben einen Entschluß zu fassen. Er möchte, daß ich ihm, als Ersatz für die hunderttausend Rubel, die Hoffnung auf meine Hand gebe. Was aber jenes frühere Wort anlangt, von dem er in seinem Billett spricht und das angeblich sein Leben erhellt hat, so lügt er frech. Ich habe ihm einfach einmal meine Teilnahme ausgesprochen. Aber er ist dreist und unverschämt; ihm ist damals sogleich der Gedanke durch den Kopf gegangen, da sei für ihn eine Hoffnung möglich, ich habe das sofort bemerkt. Seitdem hat er angefangen, auf mich Jagd zu machen, und so sucht er mich auch jetzt zu fangen. Aber genug davon; nehmen Sie dieses Billett, und geben Sie es ihm zurück, unmittelbar nachdem Sie unser Haus werden verlassen haben, selbstverständlich nicht früher!«

»Und welche Antwort soll ich ihm ausrichten?«

»Natürlich gar keine. Das ist die beste Antwort. Sie wollen also in seinem Hause wohnen?«

»Iwan Fjodorowitsch hat es mir vorhin selbst empfohlen«, antwortete der Fürst.

»Dann nehmen Sie sich vor ihm in acht, ich warne Sie; er wird es Ihnen jetzt nicht verzeihen, daß Sie ihm sein Billett zurückbringen.«

Aglaja drückte dem Fürsten leicht die Hand und ging hinaus. Ihr Gesicht war ernst und finster, und sie lächelte nicht einmal, als sie dem Fürsten zum Abschied zunickte.

»Ich bin gleich fertig, ich will nur mein Bündel holen«, sagte der Fürst zu Ganja. »Dann können wir gehen.«

Ganja stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß. Sein Gesicht wurde ganz dunkel vor Wut. Endlich traten beide auf die Straße, der Fürst mit seinem Bündel in der Hand.

»Und die Antwort? Die Antwort?« bestürmte ihn Ganja. »Was hat sie Ihnen gesagt? Haben Sie ihr meinen Brief übergeben?«

Der Fürst reichte ihm schweigend sein Billett hin. Ganja erstarrte.

»Wie? Mein Billett!« rief er. »Er hat es ihr gar nicht einmal übergeben! Oh, das hätte ich mir im voraus sagen müssen! O dieser ver-r-dammte … Nun ist es erklärlich, daß sie vorhin nichts verstand! Aber wie kommt denn das, daß Sie es ihr nicht übergeben haben, Sie ver-r-dammter …«

»Entschuldigen Sie, es gelang mir im Gegenteil sogleich, Ihr Billett zu übergeben, unmittelbar nachdem Sie es mir eingehändigt hatten, und genau in der Art, wie Sie es wünschten. Ihr Billett befindet sich jetzt deshalb wieder in meinen Händen, weil Aglaja Iwanowna es mir soeben wieder zurückgegeben hat.«

»Wann? Wann?«

»Als ich mit der Eintragung in das Album fertig war und sie mich aufforderte, mit ihr hinauszukommen. Sie haben es wohl gehört? Wir gingen in das Eßzimmer; dort gab sie mir das Billett und befahl mir, es durchzulesen und Ihnen zurückzugeben.«

»Durch-zu-lesen!« schrie Ganja. »Durchzulesen! Und Sie haben es gelesen?«

Er blieb von neuem wie erstarrt mitten auf dem Gehsteig stehen und war dermaßen erstaunt, daß er sogar den Mund aufriß.

»Ja, ich habe es gelesen, jetzt eben.«

»Und sie selbst, sie selbst hat es Ihnen zum Durchlesen gegeben? Sie selbst?«

»Ja, sie selbst; Sie können mir glauben, daß ich es ohne ihre Aufforderung nicht gelesen hätte.«

Ganja schwieg eine Minute und überlegte etwas mit qualvoller Anstrengung, aber plötzlich rief er:

»Es ist unmöglich! Sie konnte Sie nicht auffordern, den Brief zu lesen. Sie lügen! Sie haben ihn ohne Erlaubnis durchgelesen!«

»Ich sage die Wahrheit«, antwortete der Fürst in dem früheren, völlig ruhigen Ton, »und seien Sie überzeugt: es tut mir sehr leid, daß dies auf Sie einen so unangenehmen Eindruck macht.«

»Aber, Sie Unseliger, sie hat Ihnen doch wenigstens etwas dabei gesagt, etwas geantwortet?«

»Ja, gewiß.«

So sprechen Sie doch, sprechen Sie doch, zum Teufel!«

Ganja stampfte mit dem in einem Überschuh steckenden rechten Fuß zweimal auf das Pflaster.

»Als ich den Brief durchgelesen hatte, sagte sie mir, Sie suchten sie zu fangen; Sie wünschten sie zu kompromittieren, um auf ihre Hand hoffen zu können, damit Sie dann, auf diese Hoffnung gestützt, eine andere Hoffnung auf hunderttausend Rubel ohne Verlust fahren lassen könnten. Wenn Sie das täten, ohne mit ihr eine Art von Handelsgeschäft zu machen, und alle jene Beziehungen auf eigene Faust abbrächen, ohne von ihr vorher eine Garantie zu verlangen, dann würde sie vielleicht Ihre Freundin werden. Das ist alles, glaube ich. Ja, noch eins: als ich den Brief bereits zurückerhalten hatte und fragte, was für eine Antwort ich bestellen solle, da sagte sie, keine Antwort werde die beste Antwort sein. Ich meine, so war es; entschuldigen Sie, wenn ich den genauen Wortlaut vergessen habe; ich habe es Ihnen so mitgeteilt, wie ich es selbst verstanden habe.«

Ein grenzenloser Zorn bemächtigte sich Ganjas, und seine Wut kam hemmungslos zum Ausbruch.

»Ah! So steht es!« rief er zähneknirschend. »Also meine Briefe werden aus dem Fenster geworfen! Ah! Auf Handelsgeschäfte will sie sich nicht einlassen – nun, so werde ich es tun! Wir wollen einmal sehen! Ich habe noch viele Hilfsmittel… wir wollen einmal sehen!… Ich will sie schon klein kriegen!…«

Sein Gesicht verzerrte sich, er wurde ganz blaß, sein Mund schäumte, er drohte mit der Faust. So gingen sie einige Schritte. Vor dem Fürsten legte er sich nicht den geringsten Zwang auf; er benahm sich, als wäre er in seinem Zimmer und ganz allein, weil er den Fürsten geradezu als eine Null betrachtete. Aber auf einmal fiel ihm etwas ein, und er kam zur Besinnung.

»Aber wie kommt es«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »wie kommt es, daß Sie« (›Idiot!‹fügte er im stillen hinzu) »auf einmal eine solche Vertrauensstellung einnehmen, zwei Stunden nach der ersten Bekanntschaft? Wie kommt das?«

Zu all seinen Qualen hatte nur noch der Neid gefehlt, der nun auf einmal sein Herz schmerzhaft packte.

»Das weiß ich Ihnen allerdings nicht zu erklären«, antwortete der Fürst.

Ganja warf ihm einen grimmigen Blick zu.

»Da hat sie Sie wohl ins Eßzimmer gerufen, um Ihnen ihr Vertrauen zu schenken? Denn daß sie Ihnen etwas schenken wollte, hatte sie ja vorher gesagt.«

»Ich kann es nicht anders auffassen als in dieser Weise.«

»Aber, zum Teufel, wodurch haben Sie denn das verdient? Was haben Sie denn so Dankenswertes dort getan? Wodurch haben Sie so gefallen? Hören Sie einmal«, sagte er hastig (in seinem Geiste war in diesem Augenblick alles gleichsam bunt durcheinandergewürfelt und befand sich in ärgster Unordnung, so daß er mit seinen Gedanken nicht zurechtkommen konnte), »hören Sie einmal, können Sie sich nicht wenigstens einigermaßen erinnern und der Reihe nach erzählen, wovon Sie dort eigentlich gesprochen haben, alle Ihre Worte, von Anfang an? Haben Sie irgend etwas Eigenartiges geäußert, besinnen Sie sich nicht?«

»O ja, sehr wohl«, antwortete der Fürst. »Gleich zu Anfang, als ich hereingekommen und mit den Damen bekannt geworden war, sprachen wir über die Schweiz.«

»Ach, hol die Schweiz der Teufel!«

»Dann über die Todesstrafe.«

»Über die Todesstrafe?«

»Ja, das Gespräch führte uns darauf… Dann erzählte ich ihnen, wie ich dort vier Jahre gelebt habe, und eine Geschichte von einem armen Bauernmädchen….«

»Ach, zum Teufel mit dem armen Bauernmädchen! Weiter!« drängte Ganja ungeduldig.

»Dann, wie Schneider mir seine Ansicht über meinen Charakter aussprach und mich nötigte….«

»Hol Ihren Schneider der Henker, was scheren mich seine Ansichten! Weiter!«

»Dann fing ich bei irgendeinem Anlaß an, von Gesichtern zu sprechen, das heißt von dem Ausdruck der Gesichter, und sagte, Aglaja Iwanowna sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna. Und da kam ich denn auch auf das Bild zu sprechen….«

»Aber Sie haben nichts mitgeteilt, Sie haben doch nichts von dem mitgeteilt, was Sie vorher im Arbeitszimmer gehört hatten? Nein? Nein?«

»Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht getan habe.«

»Aber woher dann, zum Teufel…. Ha! Hat Aglaja den Brief etwa der Alten gezeigt?«

»Was das betrifft, kann ich Ihnen bestimmt garantieren, daß sie es nicht getan hat. Ich war die ganze Zeit dabei, sie hatte auch gar keine Zeit dazu.«

»Aber vielleicht haben Sie selbst etwas nicht bemerkt…. Oh, dieser ver-r-dammte Idiot!« schrie er auf einmal ganz außer sich, »er kann nicht einmal etwas erzählen!«

Ganja, der nun einmal ins Schimpfen hineingeraten war und keinen Widerstand fand, verlor allmählich alle Selbstbeherrschung, wie das bei manchen Menschen immer ist. Es fehlte nicht viel, und er hätte vielleicht zu spucken begonnen, so wütend war er. Aber eben infolge dieser Wut war er auch wie blind; sonst hätte er längst bemerken müssen, daß dieser »Idiot«, den er so verächtlich behandelte, manche Dinge sehr schnell und genau durchschaute und außerordentlich klar darzustellen wußte. Doch auf einmal geschah etwas Unerwartetes.

»Ich muß Ihnen bemerken, Gawrila Ardalionowitsch«, sagte der Fürst plötzlich, »daß ich zwar früher in der Tat so krank war, daß ich wirklich fast einem Idioten glich, aber jetzt bin ich schon längst wiederhergestellt, und daher ist es mir einigermaßen unangenehm, wenn man mich, mir ins Gesicht, einen Idioten nennt. Allerdings kann man Ihre Mißerfolge als Entschuldigung für Sie geltend machen, aber Sie haben mich in Ihrem Ärger schon zweimal mit Schimpfnamen belegt. Das mißfällt mir sehr, namentlich auch, da Sie es so ohne weiteres gleich beim Beginn unserer Bekanntschaft tun, und da wir uns jetzt gerade an einer Straßenkreuzung befinden, so ist es wohl das beste, wenn wir uns trennen: gehen Sie rechts nach Ihrer Wohnung, und ich werde links gehen. Ich bin im Besitz von fünfundzwanzig Rubel und werde wohl irgendein finden.«

Ganja wurde höchst verlegen und errötete sogar vor Scham.

»Verzeihen Sie, Fürst!« rief er eifrig, indem er seinen scheltenden Ton schnell mit einem äußerst höflichen vertauschte. »Ich bitte Sie inständig, verzeihen Sie mir! Sie sehen, in welcher entsetzlichen Lage ich mich befinde! Sie wissen noch fast nichts darüber, aber wenn Sie alles wüßten, würden Sie mich gewiß wenigstens einigermaßen entschuldigen, obwohl selbstverständlich mein Verhalten unentschuldbar ist…«

»Oh, ich beanspruche gar nicht so lange Entschuldigungen«, beeilte sich der Fürst zu erwidern. »Ich begreife ja, daß Ihre Lage sehr unangenehm ist und Sie deswegen schimpfen. Nun, dann wollen wir nach Ihrer Wohnung gehen. Ich tue es mit Vergnügen …«

›Nein, so darf ich ihn jetzt nicht davonlassen‹, sagte sich Ganja im stillen, während er unterwegs dem Fürsten grimmige Blicke zuwarf. ›Dieser schlaue Patron hat mir alle meine Geheimnisse entlockt und nun auf einmal die Maske abgeworfen… Das hat etwas zu bedeuten… Nun, wir wollen sehen! Es wird sich alles entscheiden, alles, alles! Noch heute!‹

Sie standen schon gerade vor dem Hause.

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Kapitel 8

VIII

Ganjas Wohnung befand sich im dritten Stock, zu dem man auf einer sehr sauberen, hellen, breiten Treppe hinaufstieg, und bestand aus sechs oder sieben Zimmern und Zimmerchen, die zwar nur ganz gewöhnlicher Art waren, aber doch jedenfalls nicht recht im Einklang standen mit dem Portemonnaie eines Beamten, der Familie hatte, auch wenn er zweitausend Rubel Gehalt bezog. Bei der Wohnung war jedoch die Aufnahme von Untermietern mit Beköstigung und Bedienung in Aussicht genommen, und sie war von Ganja und seiner Familie erst vor zwei Monaten gemietet worden, und zwar zu Ganjas eigenem größten Mißvergnügen, auf die inständigen Bitten seiner Mutter Nina Alexandrowna und seiner Schwester Warwara Ardalionowna hin, die den Wunsch hatten, sich ihrerseits nützlich zu machen und die Einnahmen der Familie wenigstens um eine Kleinigkeit zu vermehren. Ganja ärgerte sich darüber und nannte das Halten von Untermietern eine Unanständigkeit; er schämte sich dessen gewissermaßen in der Gesellschaft, in der er als junger eleganter Mann mit einer bedeutenden Zukunft sich zu bewegen pflegte. Dieser Druck der Verhältnisse und diese ganze widerwärtige Beengtheit bereiteten ihm tiefe seelische Schmerzen. Seit einiger Zeit regte er sich über jede Kleinigkeit maßlos auf, viel mehr, als sie wert war, und wenn er sich dazu verstand, vorläufig noch nachzugeben und zu dulden, so tat er dies nur deshalb, weil er bereits entschlossen war, dies alles in nächster Zeit umzuändern und umzugestalten. Indessen stellte ihm gerade diese Umgestaltung, gerade der Ausweg, den er vor sich sah, eine nicht leichte Aufgabe, eine Aufgabe, deren bevorstehende Lösung mühsamer und qualvoller zu werden drohte als alles Vorhergegangene.

Die Wohnung wurde von einem Korridor durchschnitten, der gleich beim Vorzimmer begann. Auf der einen Seite des Korridors befanden sich die drei Zimmer, die zum Vermieten an »gut empfohlene« Untermieter bestimmt waren; außerdem lag auf derselben Seite des Korridors, ganz am Ende bei der Küche, ein viertes Zimmerchen, enger als alle übrigen, in welchem das Oberhaupt der Familie, der General a. D. Iwolgin, selbst wohnte; er schlief dort auf einem breiten Sofa und war verpflichtet, wenn er die Wohnung verließ und wiederkam, seinen Weg durch die Küche und über die Hintertreppe zu nehmen. In demselben Zimmerchen wohnte auch Gawrila Ardalionowitschs fünfzehnjähriger Bruder, der Gymnasiast Kolja; auch er mußte sich in diesem engen Raum behelfen, mußte hier seine Schulaufgaben erledigen und auf einem andern sehr alten, schmalen, kurzen Sofa und einem zerrissenen Laken schlafen; vor allen Dingen aber mußte er den Vater warten und beaufsichtigen, denn das wurde bei diesem von Tag zu Tag mehr notwendig. Dem Fürsten wurde das mittlere der drei Zimmer angewiesen; in dem ersten Zimmer, rechts davon, wohnte Ferdyschtschenko, und das dritte, links, stand noch leer. Aber Ganja führte den Fürsten zunächst in die von der Familie eingenommene Wohnungshälfte. Diese Hälfte bestand aus einem Wohnzimmer, das ich, sooft es nötig war, in ein Eßzimmer verwandelte, ferner aus einem Salon, der jedoch nur vormittags Salon war und sich am Abend in Ganjas Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer verwandelte, und endlich aus einem dritten, engen und stets geschlossen gehaltenen Zimmer: dies war Nina Alexandrownas und Warwara Ardalionownas Schlafzimmer. Mit einem Wort: alles in dieser Wohnung war beengt und zusammengedrängt; Ganja knirschte im stillen nur so mit den Zähnen; obgleich er gegen seine Mutter respektvoll war und zu sein wünschte, so konnte man doch beim ersten Blick, den man in dieses Familienleben tat, bemerken, daß er hier einen argen Despotismus ausübte.

Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich; und etwas vergrämt, aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck, gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen, aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre ganze Haltung zeugten von einer Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte.

Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Fähigkeit besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber schon etwas zu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten, ja sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in letzter Zeit sogar angefangen, ihm Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet.

Ganja, der seine Mutter sehr trocken und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohne Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen.

»Wo ist denn Ihr Gepäck?« fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte.

»Ich habe nur ein Bündelchen, das habe ich im Vorzimmer gelassen.«

»Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrjona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?«

»Ja.«

»Ist es in der Schweiz schön?«

»Ja, sehr schön.«

»Sind da Berge?«

»Ja.«

»Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.«

Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer.

»Matrjona wird Ihnen sofort das Bett beziehen. Haben Sie einen Koffer?«

»Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen, es ist im Vorzimmer.«

»Es ist kein Bündel da, außer diesem kleinen; wo haben Sie es denn hingelegt?« fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte.

»Außer diesem habe ich keins«, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm.

»So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.«

»Schwatz keinen Unsinn!« sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur so eben noch höflichen Redeweise.

»Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen, ich bin ja nicht Ptizyn.«

»Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrjona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!«

»Nun, dann gehen wir, du resoluter Charakter!«

Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen.

»Ist Vater zu Hause?« fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr.

Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus.

»Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen… Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Ihnen nicht zu große Anstrengung kostet, so reden Sie weder hier von dem, was eben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden, denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel!… Halten Sie wenigstens heute damit zurück!«

»Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben«, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe.

Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter.

»Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Worte, ich bitte Sie darum.«

»Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bilde zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.«

»Pfui, was für ein häßliches Zimmer!« bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. »So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen… Na, das ist nicht meine Sache; für die Wohnung bin ich nicht zuständig.«

Ptizyn blickte herein und rief Ganja; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, obwohl er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, aber er hatte gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit.

Kaum hatte der Fürst sich gewaschen und seine Toilette einigermaßen in Ordnung gebracht, als sich die Tür wieder öffnete und eine neue Gestalt hereinschaute.

Es war ein Herr von etwa dreißig Jahren, ziemlich groß, breitschultrig, mit großem Kopf und krausem, rötlichem Haar. Sein Gesicht war fleischig und gerötet, die Lippen dick, die Nase breit und platt; die kleinen, verschwommenen, spöttischen Augen blinzelten fortwährend. Im ganzen erweckte er den Eindruck ziemlicher Frechheit. Seine Kleidung war unsauber.

Er öffnete die Tür anfangs nur so weit, daß er den Kopf hineinstecken konnte. Dieser hineingesteckte Kopf sah sich etwa fünf Sekunden lang im Zimmer um, dann öffnete sich die Tür langsam weiter, und die ganze Gestalt wurde auf der Schwelle sichtbar, aber der Besucher trat noch nicht herein, sondern fuhr von der Schwelle aus fort, den Fürsten mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Endlich machte er die Tür hinter sich zu, trat näher, setzte sich auf einen Stuhl, ergriff den Fürsten kräftig bei der Hand und setzte ihn schräg gegenüber auf das Sofa.

»Mein Name ist Ferdyschtschenko«, sagte er, indem er dem Fürsten unverwandt und forschend ins Gesicht blickte.

»Nun, und?« antwortete der Fürst beinahe lachend.

»Ich bin hier Untermieter«, fuhr Ferdyschtschenko fort, ihn wie vorher anstarrend.

»Wünschen Sie mit mir bekannt zu werden?«

»Ach was!« brummte der Gast, wühlte sich in den Haaren, seufzte und blickte in die entgegengesetzte Ecke. »Haben Sie Geld?« fragte er plötzlich, sich zum Fürsten hinwendend.

»Nur wenig.«

»Also wieviel?«

»Fünfundzwanzig Rubel.«

»Zeigen Sie mal her!«

Der Fürst zog den Fünfundzwanzigrubelschein aus der Westentasche und reichte ihn Ferdyschtschenko. Dieser faltete ihn auseinander, besah ihn, drehte ihn dann auf die andere Seite und hielt ihn gegen das Licht.

»Es ist doch recht merkwürdig«, sagte er wie in Nachdenken versunken, »woher werden sie nur so braun? Diese Fünfundzwanzigrubelscheine werden manchmal schrecklich braun, während andere dagegen ganz ausbleichen. Da, nehmen Sie!«

Der Fürst nahm seine Banknote zurück. Ferdyschtschenko stand von seinem Stuhle auf.

»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen: erstens, leihen Sie mir niemals Geld, denn ich werde Sie unfehlbar darum bitten.«

»Gut.«

»Beabsichtigen Sie, hier zu bezahlen?«

»Allerdings.«

»Ich beabsichtige es nicht, fällt mir nicht ein. Ich wohne hier rechts von Ihnen, die erste Tür, haben Sie gesehen? Geben Sie sich nicht zu oft die Mühe, mich zu besuchen; ich werde schon zu Ihnen kommen, da können Sie unbesorgt sein. Haben Sie den General schon gesehen?«

»Nein.«

»Auch noch nicht gehört?«

»Natürlich nicht.«

»Na, Sie werden ihn ja noch zu sehen und zu hören bekommen; der versucht sogar mich anzupumpen! Leben Sie wohl. Kann man etwa leben, wenn man Ferdyschtschenko heißt? Wie?«

»Warum denn nicht?«

»Leben Sie wohl.«

Er ging zur Tür. Der Fürst erfuhr später, daß dieser Herr es sich gewissermaßen zur Pflicht gemacht hatte, alle Leute durch seine Originalität und Spaßhaftigkeit in Erstaunen zu versetzen, daß ihm das aber so gut wie nie gelang. Auf manche machte er sogar einen recht unangenehmen Eindruck, was ihm wirklich schmerzlich war; indes wurde er seiner Aufgabe darum doch nicht untreu. In der Tür gelang es ihm noch, eine besondere Leistung hinzuzufügen: er stieß nämlich dort auf einen eintretenden Herrn, ließ diesen neuen, dem Fürsten noch unbekannten Gast an sich vorbei ins Zimmer gehen und zwinkerte hinter dessen Rücken ein paarmal warnend nach ihm hin. So erreichte er doch noch einen effektvollen Abgang.

Der neue Herr war von hohem Wuchs, etwa fünfundfünfzig Jahre alt oder noch etwas darüber, ziemlich wohlbeleibt, mit einem purpurroten, fleischigen, aufgedunsenen Gesicht, das von einem dichten grauen Backenbart umrahmt war, mit einem Schnurrbart und großen, stark hervorstehenden Augen. Seine Erscheinung wäre recht stattlich gewesen, wenn sie nicht etwas Nachlässiges, Verlebtes und sogar Unsauberes gehabt hätte. Er trug einen alten, an den Ellbogen beinah schon durchgestoßenen Rock; auch seine Wäsche war schmutzig; außerhalb des Hauses konnte er sich so nicht sehen lassen. Um ihn herum roch es ein wenig nach Schnaps, aber sein Benehmen war effektvoll, wiewohl etwas studiert und offenbar veranlaßt von dem leidenschaftlichen Wunsch, durch Würde zu imponieren. Der Herr näherte sich dem Fürsten langsam mit einem freundlichen Lächeln, ergriff schweigend seine Hand, die er dann in der seinigen behielt, und blickte ihm eine Weile ins Gesicht, wie wenn er wohlbekannte Züge darin wiederfände.

»Er ist es! Er ist es!« sagte er leise, aber in feierlichem Ton. »Als stünde er leibhaftig vor mir! Ich hörte, wie da mehrmals ein mir bekannter, teurer Name genannt wurde, und erinnerte mich an die unwiederbringlich dahingeschwundene Vergangenheit… Sie sind Fürst Myschkin?«

»Ganz richtig.«

»General a. D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?«

»Lew Nikolajewitsch.«

»Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!«

»Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.«

»Lwowitsch«, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff gleichfalls den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. »Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.«

»In der Tat?« fragte der Fürst. »Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.«

»Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.«

»Mein Vater war ebenfalls beim Militär, er war Leutnant im Wassilkowschen Regiment.«

»Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tode. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter…«

Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt.

»Auch sie«, sagte der Fürst, »starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.«

»Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! O Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.«

Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören.

»Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens, es war noch nicht sieben Uhr, kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begriff alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Tuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen in Strömen aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden, gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ›Sie sei dein!‹ Ich rief: ›Sie sei dein!‹ Mit einem Worte… mit einem Worte… Sie wollen bei uns wohnen… bei uns wohnen?«

»Ja, vielleicht, für einige Zeit«, antwortete der Fürst etwas stockend.

»Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten«, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte.

Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen, aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder.

»Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen«, sagte der General. »Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten, aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer – ein unerhörter Niedergang der Familie!… So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen!… Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Hause eine schlimme Tragödie ab!«

Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an.

»Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten!… Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht, ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen werden, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt…«

»Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.

»Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!«

Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.

»Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon längst nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt… in Twer?«

»Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.

»Jawohl, aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zu dem General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört…«

»Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tode stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, obwohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.«

»Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«

»Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tode Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbette…«

»Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, »obwohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.«

»Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«

»So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.

»Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst – wohlgemerkt, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals – macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich, aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr nachher, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Divison gehörte wie unser Regiment!«

»Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.

»Es verhält sich nicht so, das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn fast bekümmert ansah. ». Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu, aber…«

»Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt«, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat.

»Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger… Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite…«

»Die Suppe wird wieder kalt werden«, drängte Warwara ungeduldig.

»Gleich, gleich!« murmelte der General und verließ das Zimmer. »Und trotz aller Nachforschungen…«, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen.

»Sie werden meinem Manne Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben«, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. Er wird Sie übrigens nicht zuviel belästigen, er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine… besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Zimmer wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt berücksichtigt werden, aber ich bitte Sie einzig um der Ordnung willen darum … Was ist, Warja?«

Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja.

»Sie hat es ihm heute selbst geschenkt«, sagte Warja, »und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.«

»Heute abend!« wiederholte Nina Alexandrowna halblaut, wie in Verzweiflung. »Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt… Hat er es dir denn selbst gezeigt?« fügte sie erstaunt hinzu.

»Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden, da habe ich es aufgehoben.«

»Fürst«, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, »ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierherbitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?«

Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, wobei er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu.

»Wenn ich Sie danach frage«, bemerkte Nina Alexandrowna, »so tue ich es nicht etwa in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte eigentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ›Er weiß alles, man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‹ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade …«

Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand.

»Also heute, Ganja?« fragte Nina Alexandrowna plötzlich.

»Was heute?« rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. »Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier … Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht …«

»Hier trage ich die Schuld, Ganja, und kein anderer«, unterbrach ihn Ptizyn.

Ganja blickte ihn fragend an.

»Es ist ja doch so am besten, Ganja, um so mehr, als von der einen Seite die Sache erledigt ist«, murmelte Ptizyn; dann ging er beiseite, setzte sich an einen Tisch, zog ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und blickte unverwandt darauf. Ganja stand mit finsterer Miene da und erwartete mit innerer Unruhe eine Familienszene. Sich dem Fürsten gegenüber zu entschuldigen kam ihm gar nicht in den Sinn.

»Wenn alles erledigt ist, hat Iwan Petrowitsch natürlich recht«, sagte Nina Alexandrowna. »Bitte, mach kein so böses Gesicht, Ganja, und ärgere dich nicht; ich werde nie etwas herauszubekommen suchen, was du nicht von selbst sagen magst, und ich versichere dir, daß ich mich vollständig darein gefügt habe, tu mir den Gefallen und beunruhige dich nicht!«

Sie sagte das, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und, wie es schien, wirklich ganz ruhig. Ganja war erstaunt, schwieg aber vorsichtigerweise und sah seine Mutter an, in der Erwartung, daß sie sich deutlicher aussprechen werde. Häusliche Szenen hatten ihm schon gar zu viel Verdruß gemacht. Nina Alexandrowna bemerkte diese vorsichtige Zurückhaltung und fügte mit bitterem Lächeln hinzu:

»Du zweifelst immer noch und glaubst mir nicht; beunruhige dich nicht: es wird keine Tränen und keine Bitten mehr geben wie früher, wenigstens nicht von meiner Seite. Alles, was ich wünsche, ist, daß du glücklich sein möchtest, das weißt du; ich habe mich in mein Schicksal gefunden, und mein Herz wird immer voll Liebe für dich sein, ob wir nun zusammenbleiben oder uns trennen. Selbstverständlich rede ich nur in meinem eigenen Namen, von deiner Schwester kannst du nicht dasselbe verlangen…«

»Ah, immer wieder sie!« rief Ganja, indem er seiner Schwester einen spöttischen, haßerfüllten Blick zuwarf. »Mamachen, ich schwöre Ihnen nochmals, worauf ich Ihnen schon früher mein Wort gegeben habe: nie soll jemand wagen, sich Ihnen gegenüber etwas herauszunehmen, solange ich hier bin, solange ich am Leben bin. Um wen es sich auch handeln mag, ich werde stets darauf bestehen daß jeder, der unsere Schwelle überschreitet, Ihnen mit der größten Ehrerbietung begegnet…«

Ganja freute sich so, daß er seine Mutter fast mit versöhnlichen, zärtlichen Blicken ansah.

»Ich habe auch nie etwas für meine eigene Person gefürchtet, Ganja, das weißt du. Nicht um meinetwillen habe ich mich diese ganze Zeit beunruhigt und gequält. Es heißt, heute wird zwischen euch alles abgeschlossen werden? Was wird denn abgeschlossen werden?«

»Sie hat versprochen, heute abend bei sich zu Hause sich zu erklären, ob sie einwilligt oder nicht«, antwortete Ganja.

»Wir haben es fast drei Wochen lang vermieden, davon zu sprechen, und das war auch das beste. Jetzt, da alles beschlossen ist, möchte ich mir nur die eine Frage erlauben: wie konnte sie dir ihre Einwilligung geben und dir sogar ihr Bild schenken, wenn du sie nicht liebst? Hast du sie denn wirklich, eine so… so…«

»Na, eine so erfahrene Person, nicht wahr?«

»Ich wollte mich nicht so ausdrücken. Hast du sie denn wirklich bis zu dem Grade verblenden können?«

Aus dieser Frage klang auf einmal eine große Gereiztheit. Ganja stand eine Weile da und überlegte, dann sagte er mit unverhohlenem Spott:

»Sie haben sich hinreißen lassen, Mamachen, und sich wieder einmal nicht beherrschen können. In der Art fangen bei uns immer alle Gespräche an und werden dann hitzig. Sie sagten, es werde keine Fragen und keine Vorwürfe geben, und nun haben Sie doch schon wieder angefangen! Lassen wir dergleichen lieber weg, wirklich, lassen wir es weg; auch Sie haben es ja wenigstens beabsichtigt… Ich werde Sie nie und um keinen Preis verlassen; ein anderer würde vor einer solchen Schwester mindestens davonlaufen – da, sehen Sie nur, wie sie mich eben anblickt! Hören wir auf davon! Ich freute mich schon so… Und woher wissen Sie, daß ich Nastasja Filippowna täusche? Und was Warja anlangt, so kann sie tun, was sie will, basta! Na, nun aber wirklich genug!«

Ganja war bei jedem Worte hitziger geworden und ging nun ziellos im Zimmer umher. Solche Gespräche nahmen immer eine Wendung, daß sie bei allen Familienmitgliedern einen wunden Punkt berührten.

»Ich habe gesagt, wenn sie hier einzieht, ziehe ich von hier fort, und ich werde ebenfalls Wort halten«, erklärte Warja.

»Aus Eigensinn!« rief Ganja. »Aus Eigensinn willst du auch nicht heiraten! Warum fauchst du mich so an? Ich mache mir aus Ihnen nicht das geringste, Warwara Ardalionowna, wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie Ihre Absicht sofort zur Ausführung bringen. Ich bin Ihrer schon recht überdrüssig. Wie! Sie entschließen sich endlich, uns allein zu lassen, Fürst?« schrie er den Fürsten an, als er sah, daß dieser sich von seinem Platz erhob.

Aus Ganjas Stimme konnte man schon jenen Grad von Gereiztheit heraushören, bei dem der Mensch beinah Freude über seine eigene Erregung empfindet und sich diesem Gefühl ohne jeden weiteren Versuch der Selbstbeherrschung überläßt, nahezu mit wachsendem Genuß, mag nun daraus entstehen, was will. Der Fürst, schon in der Tür, drehte sich um, um etwas zu erwidern, aber als er an dem krankhaft erregten Gesichtsausdruck seines Beleidigers sah, daß hier nur noch der letzte Tropfen fehlte, der das Gefäß zum Überlaufen bringt, da wandte er sich wieder um und ging schweigend hinaus. Einige Sekunden darauf hörte er an den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraustönten, daß das Gespräch nach seinem Weggange noch lärmender und rücksichtsloser geworden war.

Er ging durch das Wohnzimmer ins Vorzimmer, um auf den Korridor und aus diesem in sein Zimmer zu gelangen. Als er dicht bei der nach der Treppe führenden Tür vorbeikam, hörte und sah er, daß auf der andern Seite der Tür sich jemand aus aller Kraft bemühte zu klingeln; die Klingel aber, an der offenbar etwas in Unordnung war, zitterte nur und gab keinen Ton. Der Fürst schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und – prallte erstaunt, am ganzen Leibe zitternd, zurück: vor ihm stand Nastasja Filippowna. Er erkannte sie sofort nach ihrem Bild. Ihre Augen funkelten vor Ärger, als sie ihn erblickte, sie trat, ihn mit der Schulter beiseite stoßend, schnell ins Vorzimmer und sagte zornig, während sie ihren Pelz abwarf:

»Wenn du zu faul bist, die Klingel in Ordnung zu bringen, so solltest du wenigstens im Vorzimmer sitzen, um zu hören, wenn jemand klopft. Na, und nun hat er den Pelz hinfallen lassen, der Tölpel!«

Der Pelz lag in der Tat auf dem Fußboden; Nastasja Filippowna hatte nicht abgewartet, daß der Fürst ihn ihr abnahm, sondern ihn ihm selbst, ohne sich umzusehen, nach hinten in die Hände werfen wollen, aber der Fürst hatte nicht Zeit gehabt, ihn aufzufangen.

»Weggejagt solltest du werden! Geh und melde mich!«

Der Fürst wollte etwas sagen, war aber so fassungslos, daß er nichts herausbrachte und mit dem Pelz, den er vom Fußboden aufgehoben hatte, nach dem Salon zu ging.

»Na, jetzt zieht er gar mit dem Pelz los! Wozu nimmst du denn den Pelz mit? Hahaha! Bist wohl verrückt, wie?«

Der Fürst kehrte um und blickte sie ganz verstört an; als sie auflachte, lächelte er ebenfalls, war aber immer noch nicht imstande, die Zunge zu bewegen. Im ersten Augenblick, als er ihr die Tür geöffnet hatte, war er blaß gewesen; jetzt aber wurde sein Gesicht plötzlich von dunkler Röte übergossen.

»Nein, was für ein Idiot!« rief Nastasja Filippowna unwillig und stampfte mit dem Fuß. »Na, wohin gehst du nun? Na, wen meldest du?«

»Nastasja Filippowna«, murmelte der Fürst.

»Woher kennst du mich?« fragte sie schnell. »Ich habe dich nie gesehen! Geh und melde mich!… Was ist denn da für ein Geschrei?«

»Sie zanken sich«, antwortete der Fürst und ging nach dem Salon.

Er trat gerade in einem recht kritischen Augenblick ein. Nina Alexandrowna war auf dem Punkt, vollständig zu vergessen, daß sie sich »in alles gefügt« hatte; sie war übrigens dabei, Warjas Verhalten zu verteidigen. Ptizyn, der seinen mit Bleistift beschriebenen Zettel beiseite getan hatte, war ebenfalls auf Warjas Seite getreten. Auch Warja selbst bewies Mut, wie sie überhaupt ganz und gar kein feiges Mädchen war; die Grobheiten ihres Bruders aber wurden mit jedem Worte, das er sprach, ärger und unerträglicher. In solchen Fällen hörte sie gewöhnlich auf zu sprechen und richtete nur schweigend ihre spöttischen, unverwandten Blicke auf den Bruder. Dieses Benehmen hatte, wie sie wußte, die Wirkung, ihn alle Schranken vergessen zu lassen. Gerade in diesem Augenblick trat der Fürst ins Zimmer und rief:

»Nastasja Filippowna!«

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Kapitel 49

XI

Eine Stunde darauf war er bereits in Petersburg, und zwischen neun und zehn Uhr klingelte er bei Rogoshin. Er hatte das Haus durch den Haupteingang betreten, und es wurde ihm lange nicht geöffnet. Endlich öffnete sich die Tür zur Wohnung der alten Rogoshina, und es erschien die alte, würdig aussehende Dienerin.

»Parfen Semjonowitsch ist nicht zu Hause«, meldete sie, in der Tür stehend. »Zu wem wollten Sie?«

»Zu Parfen Semjonowitsch.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Die Dienerin betrachtete den Fürsten mit sonderbarer Neugier.

»Sagen Sie mir wenigstens, ob er die Nacht über zu Hause gewesen ist! Und… ist er gestern allein zurückgekommen?«

Die Dienerin fuhr fort, ihn anzusehen, gab aber keine Antwort.

»War nicht gestern … gegen Abend … Nastasja Filippowna mit ihm zusammen hier?«

»Gestatten Sie die Frage, wer Sie selbst sind!«

»Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, wir sind sehr gut miteinander bekannt.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Die Dienerin schlug die Augen nieder.

»Und Nastasja Filippowna?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Warten Sie, warten Sie! Wann wird er denn wiederkommen?«

»Das weiß ich auch nicht.«

Die Tür schloß sich.

Der Fürst beschloß, nach einer Stunde wiederzukommen. Als er in den Hof hineinschaute, fand er dort den Hausknecht.

»Ist Parfen Semjonowitsch zu Hause?«

»Jawohl.«

»Wie kommt es denn, daß mir soeben gesagt wurde, er wäre nicht zu Hause?«

»Ist Ihnen das in seiner Wohnung gesagt worden?«

»Nein, es war die Dienerin seiner Mutter; bei Parfen Semjonowitsch habe ich geklingelt, aber es wurde nicht geöffnet.«

»Vielleicht ist er auch ausgegangen«, meinte der Hausknecht. »Er meldet das nicht an. Manchmal nimmt er auch den Schlüssel mit, dann bleibt die Wohnung drei Tage lang verschlossen.«

»Daß er gestern zu Hause war, weißt du bestimmt?«

»Ja, er war zu Hause. Manchmal kommt er vom Haupteingang her; dann sieht ihn unsereiner gar nicht.«

»Und Nastasja Filippowna war gestern nicht bei ihm?«

»Das weiß ich nicht. Sie geruht nicht oft zu kommen; man würde es doch wohl wissen, wenn sie gekommen wäre.«

Der Fürst ging hinaus und wanderte eine Weile in Gedanken versunken auf dem Gehsteig hin und her. Die Fenster der von Rogoshin bewohnten Zimmer waren sämtlich geschlossen; die Fenster der von seiner Mutter bewohnten Seite standen fast alle offen. Es war ein heller, heißer Tag; der Fürst ging quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig, stellte sich dort hin und blickte noch einmal nach den Fenstern: sie waren nicht nur geschlossen, sondern es waren auch fast bei allen die weißen Vorhänge heruntergelassen.

Er stand ein Weilchen da, und – seltsam – auf einmal schien es ihm, als ob der Rand eines Vorhangs ein wenig zur Seite geschoben und Rogoshins Gesicht sichtbar würde und in demselben Augenblick wieder verschwände. Er wartete noch eine kurze Zeit und wollte schon hingehen und noch einmal klingeln, änderte aber dann seine Absicht und verschob es um eine Stunde: ›Wer weiß, vielleicht ist es mir nur so vorgekommen…‹

Vor allen Dingen eilte er jetzt zum Ismailowskij Polk, nach der Wohnung, die Nastasja Filippowna noch unlängst innegehabt hatte. Es war ihm bekannt, daß sie, als sie auf seine Bitte vor drei Wochen aus Pawlowsk weggezogen war, sich im Ismailowskij Polk bei einer früheren guten Bekannten von ihr einquartiert hatte, einer Lehrerwitwe, einer achtbaren und kinderreichen Dame, die einen Teil ihrer Wohnung gut möbliert weitervermietete und davon fast ganz lebte. Das wahrscheinlichste war, daß Nastasja Filippowna, als sie wieder nach Pawlowsk übersiedelte, die Wohnung behalten hatte; wenigstens war sehr wahrscheinlich, daß sie jetzt in dieser Wohnung, in die sie gestern wohl von Rogoshin gebracht worden war, übernachtet hatte. Der Fürst nahm eine Droschke. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß er hier hätte anfangen sollen, da es unwahrscheinlich sei, daß sie in der Nacht direkt zu Rogoshin gefahren wäre. Dabei mußte er auch an die Bemerkung des Hausknechts denken, daß Nastasja Filippowna nicht häufig ins Haus gekommen sei. Wenn sie überhaupt nur selten hinkam, aus welchem Grund sollte sie dann gerade jetzt bei Rogoshin eingekehrt sein? Sich mit diesen Tröstungen ermutigend, gelangte der Fürst endlich mehr tot als lebendig zum Ismailowskij Polk.

Zu seiner großen Überraschung hatte man bei der Lehrerwitwe weder am vorhergehenden noch an diesem Tage etwas von Nastasja Filippowna gehört, aber alle kamen herausgelaufen, um ihn wie ein Wundertier anzustaunen. Die ganze zahlreiche Familie der Lehrerwitwe, lauter Mädchen, immer ein Jahr auseinander, im Alter von fünfzehn bis zu sieben Jahren, kam hinter der Mutter her und umringte ihn mit offenem Mund. Hinter ihnen erschien auch ihre hagere, gelbe Tante mit einem schwarzen Kopftuch, und endlich die Großmutter der Familie, eine alte Dame mit einer Brille. Die Lehrerwitwe bat ihn dringend, einzutreten und sich zu setzen, was der Fürst auch tat. Er merkte sofort, daß ihnen durchaus bekannt war, wer er war, und daß sie genau wußten, daß gestern seine Hochzeit hatte sein sollen, und nun den brennenden Wunsch hatten, ihn sowohl nach der Hochzeit zu fragen als auch eine Erklärung des wunderlichen Umstandes zu erhalten, daß er sich jetzt bei ihnen nach derjenigen erkundigte, die jetzt nirgends sonst als in Pawlowsk mit ihm hätte zusammensein sollen, daß aber ihr Taktgefühl sie von diesen Fragen zurückhielt. In kurzen Zügen befriedigte er ihre Neugier hinsichtlich der Hochzeit. Nun fingen sie an, ihr Erstaunen zu äußern und »ach!« und »oh!« zu rufen, so daß er sich genötigt sah, auch fast alles übrige zu erzählen, natürlich mit Beschränkung auf die Hauptpunkte. Endlich kam der Rat der weisen, aufgeregten Damen zu dem Schluß, der Fürst müsse unter allen Umständen und vor allen Dingen sich den Zutritt zu Rogoshin erzwingen und sich von ihm über alles positive Auskunft geben lassen. Wenn Rogoshin nicht zu Hause sei (was zuverlässig festgestellt werden müsse) oder nichts sagen wolle, so müsse der Fürst zum Semjonowskij Polk fahren, zu einer deutschen Dame, einer Bekannten von Nastasja Filippowna, die dort mit ihrer Mutter wohne: vielleicht habe Nastasja Filippowna in ihrer Aufregung und in dem Wunsch, sich verborgen zu halten, bei denen übernachtet. Der Fürst erhob sich in sehr bedrückter Stimmung; die Damen erzählten später, er sei »furchtbar blaß« geworden; tatsächlich konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Endlich hörte er aus dem schrecklichen Stimmengewirr heraus, daß sie sich verabredeten, ihm behilflich zu sein, und ihn nach seiner Adresse in der Stadt fragten. Eine Adresse, unter der er zu erreichen gewesen wäre, hatte er gar nicht, und so rieten sie ihm denn, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen. Der Fürst überlegte ein Weilchen und gab ihnen dann die Adresse seines früheren Gasthauses an, desselben, wo er vor fünf Wochen den Anfall gehabt hatte. Dann begab er sich wieder zu Rogoshin. Dieses Mal wurde nicht nur bei Rogoshin nicht geöffnet, sondern auch die Tür zur Wohnung der alten Mutter blieb geschlossen. Der Fürst begab sich zum Hausknecht und fand ihn mit Mühe auf dem Hof; der Hausknecht war irgendwie beschäftigt und antwortete kaum, er sah den Fürsten sogar kaum an, aber er erklärte doch mit Bestimmtheit, Parfen Semjonowitsch sei ganz früh weggegangen, er sei nach Pawlowsk gefahren und werde heute nicht mehr nach Hause kommen.

»Ich werde warten; vielleicht kommt er am Abend?«

»Vielleicht bleibt er auch eine Woche weg, wer kann das wissen?«

»Also hat er doch heute hier übernachtet?«

»Übernachtet hat er hier schon …«

All dies war verdächtig und unheimlich. Sehr möglich, daß der Hausknecht in der Zwischenzeit neue Instruktionen erhalten hatte: vorhin war er geradezu redselig gewesen, und jetzt wandte er sich einfach vom Fürsten ab. Aber der Fürst beschloß, nach zwei Stunden noch einmal wiederzukommen und, wenn nötig, sogar bei dem Haus Wache zu halten; jetzt aber blieb noch die Hoffnung auf die Deutsche, und er fuhr eiligst zum Semjonowskij Polk.

Aber bei der Deutschen fand er überhaupt kein Verständnis für seine Wünsche. Aus einigen flüchtigen Andeutungen konnte er sogar entnehmen, daß die schöne Deutsche sich vor ungefähr vierzehn Tagen mit Nastasja Filippowna überworfen hatte, so daß sie alle diese Tage von ihr nichts gehört hatte und jetzt ausdrücklich zu verstehen gab, es interessiere sie gar nicht, wieder von ihr zu hören, »und wenn sie alle Fürsten der Welt heiratet«. Der Fürst beeilte sich, wieder wegzugehen. Es kam ihm unter anderm der Gedanke, sie sei vielleicht wie damals nach Moskau gefahren und Rogoshin selbstverständlich hinter ihr her, vielleicht aber auch mit ihr zusammen. ›Wenn man wenigstens irgendwelche Spuren finden könnte!‹ dachte er. Er erinnerte sich jedoch, daß er in dem Gasthaus Quartier nehmen mußte, und eilte nach der Litejnaja-Straße; dort wies man ihm sogleich ein Zimmer an. Der Kellner fragte ihn, ob er etwas essen wolle; er bejahte in seiner Zerstreutheit und war, als er dann seine Gedanken gesammelt hatte, sehr ärgerlich auf sich selbst, weil das Essen ihn unnötigerweise eine halbe Stunde aufhielt; erst nachher fiel ihm ein, daß ihn ja nichts gehindert hätte, das bestellte Essen im Stich zu lassen. Eine sonderbare Empfindung bemächtigte sich seiner in diesem halbdunklen, heißen Korridor, eine Empfindung, die qualvoll danach strebte, sich in einen Gedanken zu verwandeln; aber er konnte absolut nicht erraten, worin dieser neue, sich aufdrängende Gedanke eigentlich bestand. Als er endlich das Gasthaus verließ, war er kaum bei Sinnen; ihn schwindelte, aber wohin sollte er fahren? Er eilte wieder zu Rogoshin.

Rogoshin war nicht zurückgekehrt; auf sein Klingeln wurde nicht geöffnet; er klingelte bei der alten Rogoshina; es wurde geöffnet und ihm gesagt, Parfen Semjonowitsch sei nicht da und werde vielleicht drei Tage wegbleiben. Auffällig war dem Fürsten, daß die Dienerin ihn wie früher mit einer seltsamen Neugier musterte. Den Hausknecht fand er diesmal überhaupt nicht. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ging er wie das vorige Mal auf den gegenüberliegenden Gehsteig, sah nach den Fenstern und wanderte in der drückenden Hitze eine halbe Stunde, vielleicht auch noch länger, auf und ab; aber dieses Mal bewegte sich nichts; die Fenster öffneten sich nicht; die weißen Vorhänge waren unbeweglich. Er sagte sich endgültig, daß es ihm gewiß auch vorhin nur so vorgekommen sei und daß die Fenster allem Anschein nach so trübe und so lange nicht geputzt seien, daß man es schwer erkennen könne, wenn wirklich jemand durch die Scheiben sähe. Erfreut über diesen Gedanken, fuhr er wieder zum Ismailowskij Polk zu der Lehrerwitwe.

Dort erwartete man ihn bereits. Die Lehrerwitwe war schon an drei, vier Stellen gewesen und sogar selbst zu Rogoshin gefahren, hatte aber nicht die geringste Spur gefunden. Der Fürst hörte schweigend zu, trat ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte alle an, als verstünde er gar nicht, wovon sie redeten. Sonderbar: bald war er außerordentlich aufmerksam, bald wurde er auf einmal wieder in unglaublichem Maße zerstreut. Die ganze Familie erklärte später, er sei an diesem Tag »ein ganz erstaunlich sonderbarer Mensch« gewesen, so daß sich vielleicht damals schon alles bei ihm »angedeutet« habe. Er stand schließlich auf und bat, man möchte ihm die früher von Nastasja Filippowna bewohnten Zimmer zeigen. Dies waren zwei große, helle, hohe, sehr anständig möblierte Zimmer, deren Mietspreis ziemlich hoch war. Alle diese Damen erzählten später, der Fürst habe in den Zimmern jeden Gegenstand betrachtet, er habe auf einem Tischchen ein aufgeschlagenes Buch aus der Leihbibliothek gesehen, den französischen Roman »Madame Bovary«, habe an der aufgeschlagenen Stelle die Ecke eines Blattes umgebogen, um die Erlaubnis gebeten, das Buch mitnehmen zu dürfen, und ohne auf den Einwand zu hören, daß es Eigentum der Leihbibliothek sei, es sofort in die Tasche gesteckt. Er habe sich an das offene Fenster gesetzt und, als er den mit Kreide vollgeschriebenen Spieltisch bemerkt habe, gefragt, wer da gespielt habe. Sie hätten ihm erzählt, Nastasja Filippowna habe jeden Abend mit Rogoshin Schafskopf, Préférence, Müller, Whist, Eigentrumpf und alle möglichen Spiele gespielt, das Kartenspielen sei bei ihnen erst in der letzten Zeit, nach der Übersiedlung von Pawlowsk nach Petersburg, aufgekommen, denn Nastasja Filippowna habe immer geklagt, sie langweile sich, und Rogoshin sitze die ganzen Abende schweigend da und wisse über nichts zu reden, und sie habe sogar häufig darüber geweint; da habe Rogoshin eines Abends auf einmal ein Spiel Karten aus der Tasche gezogen; Nastasja Filippowna habe laut aufgelacht, und sie hätten angefangen zu spielen. Der Fürst fragte, wo die Karten seien, mit denen sie gespielt hätten. Aber die Karten waren nicht zu finden; die Karten hatte Rogoshin immer selbst in der Tasche mitgebracht, jeden Tag ein neues Spiel, und dann wieder mit fortgenommen.

Die Damen rieten ihm, noch einmal zu Rogoshin zu fahren und noch einmal möglichst stark zu klingeln und zu klopfen, aber nicht sogleich, sondern erst am Abend: »Vielleicht findet er sich doch noch ein.« Die Lehrerwitwe erbot sich, inzwischen selbst vor Abend nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna zu fahren, ob dort irgend etwas bekannt sei. Sie baten den Fürsten, jedenfalls um zehn Uhr abends noch einmal zu ihnen zu kommen, damit sie für den nächsten Tag Verabredungen treffen könnten. Obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten und ihm Hoffnung zu machen suchten, hatte sich doch völlige Verzweiflung der Seele des Fürsten bemächtigt. In unbeschreiblichem Kummer ging er zu Fuß nach seinem Gasthaus zurück. In dem sommerlichen, staubigen, stickigen Petersburg fühlte er sich wie in einem Schraubstock; er drängte sich zwischen grobem oder betrunkenem Volk durch, blickte ziellos in allerlei Gesichter und machte vielleicht einen weiten Umweg; es war schon beinahe Abend, als er im Gasthaus in sein Zimmer trat. Er beschloß, sich ein Weilchen zu erholen und dann wieder zu Rogoshin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach.

Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Ihm fiel Wera Lebedewa ein; dann dachte er, daß Lebedew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoshin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoshin selbst: an dessen Anwesenheit neulich bei der Seelenmesse, dann an die Begegnung im Park, dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als Rogoshin sich in dem Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf.

Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoshin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen würde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoshin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoshin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen würde, ihn hier zu finden… wenn er ihn sehr brauchte. Und wie konnte man wissen, vielleicht brauchte er ihn wirklich schon sehr nötig.

So dachte er, und dieser Gedanke schien ihm durchaus möglich. Er wäre, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen, manche Fragen befriedigend zu beantworten: ›Warum soll Rogoshin mich plötzlich so dringend brauchen, und warum ist es sogar ausgeschlossen, daß wir nicht schließlich zusammenkommen?‹ Aber der Fürst sagte sich in sehr bedrückter Stimmung weiter: ›Wenn es ihm gut geht, wird er nicht kommen; eher wenn es ihm schlecht geht, und es wird ihm gewiß schlecht gehen…‹

Bei dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoshin zu Hause, im Hotelzimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen, er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. ›Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?‹ ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging durch das Tor, trat auf den Gehsteig hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr:

»Lew Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich brauche dich.«

Es war Rogoshin.

Sonderbar: der Fürst begann auf einmal, vor Freude stammelnd und die Worte kaum zu Ende sprechend, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe.

»Ich war dort«, erwiderte Rogoshin zu seiner Überraschung. »Komm mit!«

Der Fürst wunderte sich über diese Antwort, aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoshin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt voraus, er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus.

»Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht… wenn du doch im Gasthaus warst?« fragte der Fürst auf einmal.

Rogoshin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, als verstünde er die Frage nicht:

»Weißt du was, Lew Nikolajewitsch, geh du hier geradeaus bis dicht an unser Haus, verstehst du? Ich gehe auf der anderen Seite. Aber paß auf, daß wir nicht auseinanderkommen!…«

Nach diesen Worten ging er quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig hinüber, sah sich um, ob der Fürst auch weitergehe, und als er bemerkte, daß dieser stehengeblieben war und mit weitgeöffneten Augen nach ihm hinblickte, machte er ihm mit der Hand ein Zeichen nach der Gorochowaja-Straße zu und ging dann weiter, indem er sich alle Augenblicke nach dem Fürsten hinwandte und ihn zum Nachkommen aufforderte. Er war augenscheinlich beruhigt, als er sah, daß der Fürst ihn verstanden hatte und nicht von dem andern Gehsteig zu ihm herüberkam. Dem Fürsten ging der Gedanke durch den Kopf, daß Rogoshin wohl nach jemand Ausschau halten und ihn nicht auf der Straße unbemerkt vorbeigehen lassen wolle und darum nach dem andern Gehsteig hinübergegangen sei. ›Aber warum hat er denn nicht gesagt, nach wem er Ausschau hält?‹ fragte er sich. So gingen sie etwa fünfhundert Schritte, und auf einmal begann der Fürst aus irgendeinem Grund zu zittern; Rogoshin sah sich immer noch um, wenn auch jetzt seltener; der Fürst konnte seine Angst nicht mehr ertragen und winkte ihm mit der Hand. Der kam sofort über die Straße zu ihm herüber.

»Ist Nastasja Filippowna etwa bei dir?«

»Ja, sie ist bei mir.«

»Hast du vorhin hinter dem Vorhang nach mir durchs Fenster gesehen?«

»Ja…«

»Warum hast du denn …«

Aber der Fürst wußte nicht, was er weiter fragen und wie er seine Frage schließen sollte; auch schlug ihm das Herz so heftig, daß ihm das Sprechen schwerfiel. Rogoshin schwieg ebenfalls und blickte ihn wie früher an, das heißt wie in Gedanken versunken.

»Nun, dann werde ich wieder gehen«, sagte er auf einmal, indem er sich anschickte, wieder hinüberzugehen, »und du geh für dich! Wir wollen auf der Straße getrennt gehen… es ist besser so… auf verschiedenen Seiten… du wirst schon sehen.«

Als sie endlich auf den zwei verschiedenen Gehsteigen in die Gorochowaja-Straße einbogen und sich dem Haus Rogoshins näherten, wurden dem Fürsten wieder die Beine so schwach, daß er nur mit großer Mühe weitergehen konnte. Es war schon gegen zehn Uhr abends. Die Fenster in der Wohnungshälfte der alten Mutter standen wie vorhin offen, in der Rogoshinschen Hälfte waren sie geschlossen, und in der Abenddämmerung waren die heruntergelassenen weißen Vorhänge noch auffälliger. Der Fürst näherte sich dem Haus auf dem gegenüberliegenden Gehsteig; Rogoshin trat von seinem Gehsteig auf die Stufen vor der Haustür und winkte ihm mit der Hand. Der Fürst ging zu ihm hinüber und stieg die Stufen hinan.

»Daß ich nach Hause zurückgekommen bin, weiß jetzt nicht einmal der Hausknecht. Ich habe ihm vorhin gesagt, ich führe nach Pawlowsk, und bei meiner Mutter habe ich es ebenfalls gesagt«, flüsterte er mit einem schlauen, selbstzufriedenen Lächeln. »Wenn wir hineingehen, wird es niemand hören.«

Er hatte schon den Schlüssel in der Hand. Während er die Treppe hinaufstieg, drehte er sich um und machte dem Fürsten eine drohende Gebärde, er solle leiser gehen, schloß leise die Tür zu seiner Wohnung auf, ließ den Fürsten hinein, folgte ihm vorsichtig, schloß die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Komm!« sagte er flüsternd.

Schon von dem Gehsteig in der Litejnaja-Straße an hatte er im Flüsterton gesprochen. Trotz all seiner äußeren Ruhe befand er sich in tiefer innerer Erregung. Als sie in den vor seinem Arbeitszimmer gelegenen Saal traten, ging er ans Fenster und winkte den Fürsten geheimnisvoll zu sich heran.

»Als du vorhin bei mir klingeltest, dachte ich mir gleich, daß du es selbst wärest; ich ging auf den Zehen an die Tür und hörte, daß du mit der alten Pafnutjewna sprachst. Aber ich hatte der schon ganz früh am Morgen aufgetragen: wenn du oder irgendein Abgesandter von dir oder sonst jemand bei mir klopfen sollte, dann soll sie mich unter allen Umständen verleugnen, und besonders wenn du selbst kämst und nach mir fragtest und ihr deinen Namen angäbest. Aber als du dann weggegangen warst, kam mir der Gedanke: wie, wenn er jetzt dasteht und hersieht oder auf der Straße Wache hält? Ich ging zu ebendiesem Fenster hier, schob den Vorhang ein wenig zurück, sah hinaus, und da standest du und sahst mich gerade an … So ist das gewesen.«

»Wo ist aber … Nastasja Filippowna?« fragte der Fürst, nur mühsam atmend.

»Sie ist… hier«, erwiderte Rogoshin langsam, nachdem er einen Augenblick mit der Antwort gezögert hatte.

»Wo denn?«

Rogoshin hob die Augen zum Fürsten und blickte ihn fest an.

»Komm…«

Er sprach immer flüsternd und ohne sich zu beeilen, langsam und wie früher seltsam nachdenklich. Selbst als er die Geschichte von dem Vorhang erzählte, machte es den Eindruck, als wolle er mit seiner Erzählung trotz aller Mitteilsamkeit etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen.

Sie gingen in das Arbeitszimmer. In diesem Zimmer hatte sich, seit der Fürst darin gewesen war, eine gewisse Veränderung vollzogen: quer durch das ganze Zimmer war ein grünseidner Vorhang gezogen, mit zwei Eingängen, je einem an jedem Ende; er teilte von dem Zimmer einen Alkoven ab, in dem Rogoshins Bett stand. Der schwere Vorhang war heruntergelassen und die Eingänge geschlossen. Aber im Zimmer war es sehr dunkel; die »weißen« Petersburger Sommernächte begannen schon dunkler zu werden, und wäre nicht Vollmond gewesen, so hätte man in Rogoshins Wohnung mit den heruntergelassenen Vorhängen nur schwer etwas erkennen können. Allerdings konnte man noch die Gesichter unterscheiden, wenn auch nicht gerade deutlich. Rogoshins Gesicht war blaß wie gewöhnlich; die Augen blickten den Fürsten fest an, sie glänzten stark, waren aber unbeweglich.

»Willst du nicht Licht anzünden?« fragte der Fürst.

»Nein, das ist nicht nötig«, antwortete Rogoshin, faßte den Fürsten bei der Hand und zog ihn auf einen Stuhl nieder; er selbst setzte sich ihm gegenüber, indem er seinen Stuhl so heranzog, daß seine Knie fast gegen die des Fürsten stießen. Zwischen ihnen stand, etwas seitwärts, ein kleines rundes Tischchen. »Setz dich! Wir wollen ein Weilchen sitzen«, sagte er, als müßte er ihm zureden. Etwa eine Minute lang schwiegen sie. »Ich wußte, daß du dich in diesem selben Gasthaus einquartieren würdest«, begann er, wie manchmal die Leute zu Beginn eines bedeutsamen Gespräches mit unwichtigen Details anfangen, die in keinem direkten Bezug zur Sache stehen. »Als ich auf den Korridor kam, da dachte ich: ›Vielleicht sitzt auch er jetzt da und wartet auf mich, wie ich auf ihn, in diesem selben Augenblick.‹ Bist du bei der Lehrerwitwe gewesen?«

»Ja, ich war dort«, versetzte der Fürst; er konnte vor starkem Herzklopfen kaum reden.

»Ich habe auch daran gedacht. ›Es wird noch ein Gerede geben‹, dachte ich … und dann dachte ich noch: ›Ich werde ihn zum Übernachten hierherbringen, damit wir diese Nacht zusammen …‹«

»Rogoshin! Wo ist Nastasja Filippowna?« flüsterte der Fürst und stand, an allen Gliedern zitternd, auf.

Auch Rogoshin erhob sich.

»Dort«, flüsterte er und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Vorhang.

»Schläft sie?« flüsterte der Fürst.

Rogoshin blickte ihn wieder starr an wie vorher.

»Wollen wir hingehen?… Aber du… Na, gehen wir!«

Er hob die Portiere in die Höhe, blieb stehen und wandte sich wieder zum Fürsten.

»Geh hinein!« sagte er, mit dem Kopf auf die Portiere deutend und ihn zum Vorangehen einladend. Der Fürst ging unter dem Vorhang durch.

»Es ist hier dunkel«, sagte er.

»Man kann schon sehen!« murmelte Rogoshin.

»Ich sehe kaum … das Bett.«

»Tritt nur näher heran!« forderte ihn Rogoshin leise auf.

Der Fürst trat noch näher, einen Schritt, einen zweiten, dann blieb er stehen. Er stand da und blickte eine oder zwei Minuten lang hin; beide schwiegen während der ganzen Zeit, wo sie an dem Bett standen; dem Fürsten klopfte das Herz so, daß er meinte, es müßte im Zimmer bei der herrschenden Totenstille zu hören sein. Aber seine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er das ganze Bett erkennen konnte; auf ihm schlief jemand, ganz ohne sich zu rühren; man hörte nicht das leiseste Rascheln, nicht das leiseste Atemholen. Der Schlafende war bis über den Kopf mit einem weißen Leinentuch zugedeckt, aber die Glieder hoben sich nur undeutlich ab; man sah nur an der Erhöhung, daß da lang ausgestreckt ein Mensch lag. Ringsherum war auf dem Fußende des Bettes, auf den beim Bett stehenden Sesseln, sogar auf dem Fußboden die abgelegte Kleidung unordentlich hingeworfen: ein reiches weißseidenes Kleid, Blumen, Bänder. Auf einem kleinen Tischchen am Kopfende blitzten die abgelegten und durcheinandergeworfenen Brillanten. Am Fußende waren Spitzen zu einem Klumpen zusammengeknüllt, und auf den weißen Spitzen wurde, unter dem Leinentuch hervorschauend, eine nackte Fußspitze sichtbar; sie sah wie aus Marmor gemeißelt aus und war von einer erschreckenden Regungslosigkeit. Der Fürst blickte hin und fühlte, daß, je länger er hinblickte, die Totenstille im Zimmer immer drückender wurde. Auf einmal fing eine erwachte Fliege zu summen an, flog über das Bett hin und verstummte am Kopfende. Der Fürst fuhr zusammen.

»Gehen wir!« sagte Rogoshin, indem er seine Hand berührte.

Sie gingen hinaus und setzten sich wieder auf dieselben Stühle, wieder einander gegenüber. Der Fürst zitterte immer stärker und wendete seinen fragenden Blick nicht von Rogoshins Gesicht ab.

»Du zitterst ja, wie ich sehe, Lew Nikolajewitsch«, sagte Rogoshin endlich. »Fast wie in den Zeiten, wo du schwer leidend warst, erinnerst du dich, es war in Moskau? Oder wie einmal vor einem Anfall. Und ich weiß gar nicht, was ich mit dir jetzt anfangen sollte…«

Der Fürst strengte beim Zuhören alle seine Kräfte an, um das Gesagte zu verstehen, sein Blick hatte noch immer denselben fragenden Ausdruck.

»Hast du das getan?« sagte er endlich, mit dem Kopf nach der Portiere deutend.

»Ja … ich habe es getan…«, flüsterte Rogoshin und schlug die Augen nieder.

Sie schwiegen etwa fünf Minuten lang.

»Denn«, fuhr Rogoshin fort, als hätte er seine Rede nicht unterbrochen, »denn wenn du deine Krankheit und einen Anfall bekämest und zu schreien anfingest, dann könnte es womöglich jemand von der Straße oder vom Hof aus hören, und man würde merken, daß Leute in der Wohnung übernachten; man würde anklopfen und hereinkommen… denn sie denken alle, daß ich nicht zu Hause bin. Ich habe auch kein Licht angesteckt, damit man es von der Straße oder vom Hof aus nicht bemerkt. Denn wenn ich nicht hier bin, nehme ich auch die Schlüssel mit, und es kommt in meiner Abwesenheit drei, vier Tage lang niemand herein, auch nicht zum Reinmachen; so habe ich das angeordnet. Also damit sie nicht merken, daß wir die Nacht über hier sind…«

»Warte«, unterbrach ihn der Fürst, »ich habe vorhin sowohl den Hausknecht als auch die alte Frau gefragt, ob Nastasja Filippowna die Nacht hier zugebracht hätte. Also wissen sie es schon.«

»Ich weiß, daß du danach gefragt hast. Ich habe der alten Pafnutjewna gesagt, Nastasja Filippowna sei gestern mit hergekommen und gleich gestern nach Pawlowsk gefahren, sie habe sich bei mir nur zehn Minuten aufgehalten. Sie wissen also nicht, daß sie die Nacht über hiergewesen ist, niemand. Gestern sind wir ebenso hereingekommen wie heute du und ich, ganz leise. Ich dachte noch unterwegs im stillen, sie würde nicht leise hereinkommen mögen, aber nein! Sie flüsterte, ging auf den Zehenspitzen, raffte das Kleid hoch, damit es nicht raschelte, hielt es mit der Hand fest und drohte mir auf der Treppe selbst mit dem Finger solche Angst hatte sie vor dir. Im Zug war sie rein wie eine Wahnsinnige vor lauter Furcht und sprach selbst den Wunsch aus, hier in meiner Wohnung die Nacht über zu bleiben; ich hatte anfangs daran gedacht, sie in ihre alte Wohnung zu der Lehrerwitwe zu bringen, aber nein! ›Da wird er mich gleich frühmorgens suchen‹, sagte sie; ›aber du wirst mich verstecken, und morgen bei Tagesanbruch wollen wir nach Moskau‹, und dann wollte sie weiter nach Orjol. Auch beim Hinlegen redete sie immerzu davon, daß wir nach Orjol fahren wollten …«

»Warte, was willst du denn jetzt tun, Parfen, was hast du vor?«

»Siehst du, ich habe Sorge deinetwegen, weil du immer so zitterst. Die Nacht wollen wir hier zusammen verbringen. Betten sind außer dem da hier nicht vorhanden, ich habe gedacht, ich wollte von den beiden Sofas die Kissen herunternehmen und hier bei dem Vorhang für uns beide, für dich und mich, eine Lagerstatt herrichten, so daß wir nebeneinander liegen können. Denn wenn sie hereinkommen und anfangen, sich umzusehen oder zu suchen, werden sie sie gleich sehen und forttragen. Sie werden mich befragen, und ich werde erzählen, daß ich es gewesen bin, und sie werden mich sofort abführen. Also mag sie jetzt hier liegenbleiben, neben uns, neben mir und dir …«

»Ja, ja!« stimmte ihm der Fürst lebhaft zu.

»Also wir wollen jetzt nichts verraten und sie nicht forttragen lassen.«

»Um keinen Preis!« versetzte der Fürst. »Ja nicht, ja nicht!«

»Das war auch meine Meinung, daß wir das um keinen Preis tun und sie niemandem herausgeben wollten! Die Nacht wollen wir hier ganz still verbringen. Ich bin heute nur eine Stunde lang von Hause weggewesen, am Vormittag; die übrige Zeit war ich immer bei ihr. Und dann ging ich am Abend fort, um dich zu holen. Ich fürchte nun noch, daß es bei der Hitze riechen wird. Spürst du einen Geruch oder nicht?«

»Vielleicht spüre ich etwas, ich weiß es nicht, aber morgen früh wird es gewiß riechen.«

»Ich habe sie mit Wachstuch zugedeckt, mit gutem amerikanischem Wachstuch, und über dem Wachstuch mit einem Leinentuch, und vier offene Flaschen mit Shdanowscher Flüssigkeit habe ich danebengestellt, die stehen jetzt noch da.«

»Du hast das genauso gemacht wie … wie der in Moskau?«

»Weil man es riechen wird, Bruder. Aber wie sie daliegt… Am Morgen, wenn es hell wird, dann sieh sie dir an! Was ist mit dir? Du kannst wohl gar nicht aufstehen?« fragte Rogoshin erstaunt und ängstlich, als er sah, daß der Fürst so zitterte, daß er nicht imstande war, sich zu erheben.

»Die Beine sind mir schwach«, murmelte der Fürst. »Das kommt von der Angst, ich kenne das … Wenn die Angst vorübergeht, werde ich wieder aufstehen können …«

»Warte noch, ich werde inzwischen das Lager für uns zurechtmachen, dann kannst du dich hinlegen… und ich werde mich zu dir legen… und dann wollen wir hören… denn, mein Junge, ich weiß noch nicht… ich weiß jetzt noch nicht alles; das sage ich dir im voraus, damit du alles darüber im voraus weißt…«

Während Rogoshin diese unklaren Worte murmelte, begann er, die Lagerstatt herzurichten. Offenbar hatte er sich eine solche schon vorher im stillen ausgedacht, vielleicht schon am Morgen. In der vorhergehenden Nacht hatte er selbst auf dem Sofa gelegen. Aber zwei Personen konnten nicht nebeneinander auf dem Sofa liegen, und er wollte jetzt durchaus zwei Lager nebeneinander herrichten; deshalb schleppte er jetzt mit großer Anstrengung von den beiden Sofas allerlei verschieden große Kissen durch das ganze Zimmer bis dicht an den einen Eingang des Vorhanges.

Es wurde eine leidliche Lagerstatt; er trat zum Fürsten, faßte ihn zärtlich und behutsam unter den Arm, half ihm auf und führte ihn zu dem Lager; es stellte sich heraus, daß der Fürst auch allein gehen konnte; denn »die Angst war vorübergegangen«; aber er zitterte doch noch immer.

»Weißt du, Bruder«, begann Rogoshin auf einmal, nachdem er den Fürsten sich auf das linke, bessere Lager hatte legen lassen und sich selbst, ohne die Kleider abzulegen, rechts von ihm hingestreckt und beide Hände hinter den Kopf gelegt hatte, »es ist heute heiß, und da wird es natürlich riechen… Die Fenster zu öffnen, fürchte ich mich; aber meine Mutter hat Töpfe mit Blumen, viele Blumen, und die duften sehr schön; ich habe daran gedacht, sie herüberzuholen, aber die alte Pafnutjewna würde etwas merken, denn sie ist sehr neugierig.«

»Ja, das ist sie«, bestätigte der Fürst.

»Soll ich vielleicht Blumen kaufen und sie ganz mit Sträußen bedecken? Aber ich glaube, sie würde mir gar zu leid tun, wenn sie so unter den Blumen daläge!«

»Hör mal…«, begann der Fürst, als wäre er verwirrt und überlegte, wonach er eigentlich fragen wollte, und vergäße es immer gleich wieder. »Hör mal, sage mir doch: womit hast du sie getötet? Mit einem Messer? Mit eben jenem Messer?«

»Ja, mit eben jenem…«

»Warte noch! Ich will dich noch etwas fragen, Parfen… ich werde dich noch nach vielem fragen, nach allem… aber sage mir lieber zuerst, zuallererst, damit ich das weiß: wolltest du sie vor meiner Hochzeit töten, vor der Trauung, an der Kirchentür, mit dem Messer? Wolltest du das oder nicht?«

»Ich weiß nicht, ob ich es wollte oder nicht…«, antwortete Rogoshin trocken, als wäre er sogar über die Frage einigermaßen verwundert und verstünde sie nicht.

»Hast du das Messer niemals nach Pawlowsk mitgenommen?«

»Nein, niemals. Ich kann dir über dieses Messer nur soviel sagen, Lew Nikolajewitsch«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »ich habe es heute früh aus einem verschlossenen Schubkasten herausgenommen, denn die ganze Sache geschah heute morgen zwischen drei und vier Uhr.

Es hat bei mir immer in einem Buch gelegen… Und… und… und da ist noch etwas, was mir wunderbar vorkommt: das Messer ist anderthalb oder sogar zwei Werschok tief eingedrungen … dicht unter der linken Brust… aber Blut ist nur so etwa ein halber Eßlöffel voll auf das Hemd herausgelaufen, nicht mehr …«

»Das, das, das«, stammelte der Fürst und richtete sich in furchtbarer Erregung auf, »das, das kenne ich, das habe ich gelesen… das nennt man innere Verblutung… Es kommt vor, daß kein einziger Tropfen herausfließt. Das ist so, wenn der Stoß gerade ins Herz gegangen ist…«

»Halt, hörst du?« unterbrach ihn auf einmal Rogoshin hastig und setzte sich erschrocken auf dem Lager aufrecht. »Hörst du?«

»Nein!« erwiderte ebenso hastig und erschrocken der Fürst und sah Rogoshin an.

»Es geht jemand! Hörst du? Im Saal…«

Beide begannen zu horchen.

»Ich höre es«, flüsterte der Fürst in festem Ton.

»Geht jemand?«

»Ja.«

»Wollen wir die Tür zuschließen oder nicht?«

»Wir wollen sie zuschließen….«

Sie schlossen die Tür zu und legten sich beide wieder hin. Sie schwiegen lange.

»Ach ja!« flüsterte der Fürst auf einmal aufgeregt, hastig wie vorhin, als hätte er wieder einen Gedanken erhascht und befürchtete ängstlich, ihn wieder zu verlieren; er richtete sich sogar auf seinem Lager hastig ein wenig in die Höhe. »Ja… ich wollte ja … diese Karten! Die Karten! Ich höre, du hast mit ihr Karten gespielt?«

»Ja, das habe ich getan«, erwiderte Rogoshin nach einigem Stillschweigen.

»Wo sind denn… die Karten?«

»Die Karten sind hier…«, versetzte Rogoshin, nachdem er noch länger geschwiegen hatte. »Da …«

Er zog ein gebrauchtes, in Papier gewickeltes Spiel Karten aus der Tasche und reichte es dem Fürsten. Dieser nahm es, aber mit einer Art von Befremden. Ein neues, trauriges, trostloses Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen; er wurde sich auf einmal bewußt, daß er in diesem Augenblick und schon längst immer nicht von dem redete, wovon er reden mußte, und immer nicht das tat, was er tun mußte, und daß dies Kartenspiel, das er in den Händen hielt und über das er sich so freute, jetzt zu nichts helfen konnte, zu gar nichts. Er stand auf und schlug die Hände zusammen. Rogoshin lag da, ohne sich zu rühren, und schien seine Bewegung weder zu hören noch zu sehen; aber seine Augen leuchteten hell durch die Dunkelheit und waren weit geöffnet und starr. Der Fürst setzte sich auf einen Stuhl und begann ihn angstvoll anzusehen. So verging etwa eine halbe Stunde; auf einmal fing Rogoshin an, laut und stoßweise zu schreien und zu lachen, als hätte er vergessen, daß sie nur flüsternd reden durften:

»Den Offizier, den Offizier … erinnerst du dich, wie sie den Offizier beim Konzert mit dem Spazierstöckchen ins Gesicht schlug, erinnerst du dich? Hahaha! Und wie der Leutnant hinzusprang … Der Leutnant… der Leutnant…«

Der Fürst sprang in neuem Schrecken vom Stuhl auf. Als Rogoshin verstummt war (und das geschah plötzlich), beugte sich der Fürst leise zu ihm herab, setzte sich neben ihn und begann ihn mit stark klopfendem Herzen und nur mühsam atmend zu betrachten. Rogoshin drehte den Kopf nicht zu ihm hin und schien seine Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Der Fürst sah ihn an und wartete; die Zeit verging, es begann hell zu werden. Rogoshin fing mitunter plötzlich an zu murmeln, laut, scharf und unzusammenhängend; er schrie und lachte; der Fürst streckte dann seine zitternde Hand nach ihm aus und berührte leise seinen Kopf und sein Haar, streichelte dieses und streichelte seine Wangen… mehr vermochte er nicht zu tun! Er selbst begann wieder zu zittern, und seine Beine waren auf einmal wieder wie gelähmt. Eine ganz neue Empfindung quälte sein Herz mit grenzenlosem Schmerz. Unterdessen war es ganz hell geworden; er legte sich endlich ganz kraftlos und verzweifelt auf das Kissen und schmiegte sein Gesicht an das blasse, regungslose Gesicht Rogoshins. Tränen strömten aus seinen Augen auf Rogoshins Wangen, aber vielleicht bemerkte er damals schon seine eigenen Tränen nicht mehr und wußte nichts mehr von ihnen …

Als viele Stunden nachher die Tür geöffnet wurde und Leute hereinkamen, fanden sie den Mörder in voller Bewußtlosigkeit und in starkem Fieber. Der Fürst saß, ohne sich zu rühren, neben ihm auf dem Lager und fuhr jedesmal, wenn der Kranke aufschrie oder zu phantasieren begann, ihm mit zitternder Hand eilig über das Haar und die Wangen, als wollte er ihn liebkosen und beruhigen. Aber er verstand nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte nicht mehr die Leute, die hereingekommen waren und ihn umringten. Und wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, um sich seinen ehemaligen Schüler und Patienten anzusehen, so würde er in Erinnerung an den Zustand, in dem sich der Fürst manchmal im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz befunden hatte, jetzt eine verzweifelte Handbewegung gemacht und wie damals gesagt haben: »Ein Idiot!«

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Kapitel 41

III

Der Skandal mit dem General wäre zu jeder anderen Zeit spurlos im Sande verlaufen. Es waren bei ihm auch früher schon derartige Fälle von plötzlicher Störrigkeit vorgekommen, jedoch nur recht selten, da er im allgemeinen ein sehr friedlicher Mensch war und zur Gutherzigkeit neigte. Er hatte wohl hundertmal den Kampf mit der Verlotterung aufgenommen, die sich seiner in den letzten Jahren bemächtigt hatte. Er erinnerte sich dann plötzlich, daß er »der Vater der Familie« sei, versöhnte sich mit seiner Frau und vergoß aufrichtige Tränen. Er verehrte Nina Alexandrowna bis zur Vergötterung zum Dank dafür, daß sie ihm so vieles schweigend verzieh und ihn trotz seines clownhaften, unwürdigen Benehmens immer noch liebte. Aber dieser hochherzige Kampf mit der Verlotterung dauerte gewöhnlich nicht lange; der General war doch eine zu »impulsive« Natur, wenigstens in seiner Art; er konnte das ruhige Büßerleben in seiner Familie gewöhnlich nicht ertragen und revoltierte schließlich dagegen; er geriet dann in heftigen Zorn, über den er sich vielleicht selbst im gleichen Augenblick Vorwürfe machte, aber er konnte es eben nicht aushalten: er fing Streit an, begann hochmütige, pathetische Reden zu führen, verlangte seiner Person gegenüber einen maßlosen, ganz unmöglichen Respekt und verschwand schließlich aus dem Haus, manchmal sogar auf lange Zeit. In den letzten zwei Jahren hatte er von den Angelegenheiten seiner Familie nur ganz allgemein oder nur vom Hörensagen Kenntnis; sich näher darum zu kümmern, hatte er aufgegeben, da er dazu nicht die geringste Veranlagung verspürte.

Aber dieses Mal war bei dem »Skandal mit dem General« etwas Besonderes hervorgetreten; alle schienen etwas zu wissen, wovon sie sich zu reden fürchteten. Der General war erst drei Tage vorher bei der Familie, das heißt bei Nina Alexandrowna, »formell« wieder erschienen, aber nicht in der demütigen, reuigen Stimmung, in der er sich in früheren Fällen immer »zurückzumelden« pflegte, sondern im Gegenteil in außerordentlich reizbarer Verfassung. Er war redselig und unruhig, knüpfte mit jedem, der ihm in den Weg kam, ein eifriges Gespräch an und stürzte sich dabei geradezu auf die Menschen, redete aber immer über so bunte, unerwartete Themen, daß man gar nicht begreifen konnte, was ihn eigentlich jetzt so aufregte. Zeitweilig war er heiter, meist aber nachdenklich, ohne daß er übrigens selbst gewußt hätte, worüber er nachdachte; auf einmal begann er etwas zu erzählen, von Jepantschins, vom Fürsten, von Lebedew, brach dann aber plötzlich wieder ab, hörte gänzlich auf zu reden, antwortete auf weitere Fragen nur mit einem stumpfsinnigen Lächeln, ohne übrigens zu bemerken, daß man ihn fragte und er lächelte. Die letzte Nacht hatte er ächzend und stöhnend verbracht und seine Frau, die ihm die ganze Nacht über heiße Umschläge gemacht hatte, halbtot gequält; erst gegen Morgen war er eingeschlafen, hatte vier Stunden lang geschlafen und war in einem Anfall von sehr starker, seltsamer Hypochondrie erwacht, die dann dazu führte, daß er mit Ippolit in Streit geriet und einen »Fluch über dieses Haus« aussprach. Es war auch aufgefallen, daß er in diesen drei Tagen beständig ein sehr starkes Ehrgefühl bekundete und infolgedessen ungewöhnlich empfindlich war. Kolja allerdings behauptete der Mutter gegenüber beharrlich, das sei alles nur Sehnsucht nach dem Alkohol und vielleicht nach Lebedew, mit dem sich der General in letzter Zeit außerordentlich angefreundet hatte. Aber drei Tage vorher hatte er sich mit Lebedew auf einmal heftig gezankt und sich in schrecklicher Wut von ihm getrennt, und sogar mit dem Fürsten hatte es eine Szene gegeben. Kolja hatte den Fürsten um Aufklärung gebeten und war schließlich auf die Vermutung gekommen, daß auch dieser ihm irgend etwas nicht sagen wollte. Wenn wirklich, wie Ganja mit größter Bestimmtheit annahm, ein besonderes Gespräch zwischen Ippolit und Nina Alexandrowna stattgefunden hatte, so war es doch merkwürdig, daß dieser boshafte Herr, den Ganja so geradezu ein Klatschmaul nannte, kein Vergnügen daran gefunden hatte, auch Kolja in derselben Weise aufzuklären. Sehr möglich, daß er gar kein boshafter »Bube« von der Art war, wie ihn Ganja in seinem Gespräch mit der Schwester geschildert hatte, sondern in anderer Weise boshaft; und er hatte auch Nina Alexandrowna eine gewisse von ihm gemachte Beobachtung wohl kaum nur zu dem Zweck mitgeteilt, »ihr das Herz zu zerreißen«. Wir wollen nicht vergessen, daß die Motive der menschlichen Handlungen gewöhnlich unendlich komplizierter und mannigfaltiger sind, als wir nachher immer glauben, und sich nur selten mit Sicherheit angeben lassen. Für den Erzähler ist es manchmal das beste, sich auf die einfache Darlegung der Tatsachen zu beschränken. So wollen wir auch bei der weiteren Darstellung der über den General hereingebrochenen Katastrophe verfahren, denn trotz alles Widerstrebens sehen wir uns doch in die Notwendigkeit versetzt, auch dieser Nebenfigur unserer Erzählung etwas mehr Aufmerksamkeit und Platz zuzugestehen, als wir bisher beabsichtigten.

Die Ereignisse hatten sich in nachstehender Reihenfolge abgespielt.

Als Lebedew von seiner Fahrt nach Petersburg, bei der er Nachforschungen nach Ferdyschtschenko hatte anstellen wollen, noch an demselben Tage mit dem General zurückgekehrt war, hatte er dem Fürsten nichts Besonderes mitgeteilt. Wäre der Fürst in jener Zeit nicht durch andere für ihn sehr wichtige Dinge abgelenkt und in Anspruch genommen worden, so hätte er bald bemerken müssen, daß auch an den beiden darauffolgenden Tagen Lebedew ihm nicht nur keine Aufklärung gab, sondern sogar im Gegenteil aus irgendeinem Grund einem Zusammentreffen mit ihm aus dem Weg ging. Als der Fürst schließlich doch darauf aufmerksam wurde, wunderte er sich darüber, daß an diesen beiden Tagen Lebedew bei zufälligen Begegnungen, wie er sich erinnerte, stets in der heitersten Stimmung und fast immer mit dem General zusammen gewesen war. Die beiden Freunde trennten sich keine Minute mehr. Der Fürst hörte mitunter lautes, eifriges Gespräch, das zu ihm von oben herunterdrang, und lachendes, munteres Disputieren; einmal sehr spätabends schlugen sogar plötzlich und unerwartet die Töne eines feuchtfröhlichen Soldatenliedes an sein Ohr, und er erkannte sofort die heisere Baßstimme des Generals. Aber das angestimmte Lied kam nicht recht in Gang und verstummte plötzlich wieder. Dann setzte sich ungefähr noch eine Stunde ein sehr lebhaftes Gespräch fort; nach allen Anzeichen zu urteilen, waren die Redenden bereits betrunken. Man konnte erraten, daß die beiden Freunde, die sich da oben vergnügten, einander umarmten und schließlich einer von ihnen zu weinen anfing. Dann folgte auf einmal ein heftiger Streit, der ebenfalls bald wieder verstummte. Diese ganzen Tage befand sich Kolja in besonders sorgenvoller Stimmung. Der Fürst war größtenteils nicht zu Hause und kehrte manchmal erst sehr spät zurück; dann wurde ihm immer gemeldet, Kolja habe ihn den ganzen Tag gesucht und nach ihm gefragt. Aber bei Begegnungen vermochte Kolja nichts Besonderes zu sagen, außer daß er mit dem General und dessen jetziger Aufführung sehr unzufrieden sei: »Sie treiben sich herum, betrinken sich nicht weit von hier in einer Schenke, umarmen und zanken sich auf der Straße, ärgern sich gegenseitig und können sich doch nicht voneinander trennen.« Als der Fürst ihm erwiderte, daß das auch früher fast täglich dieselbe Geschichte gewesen sei, wußte Kolja nicht, was er darauf antworten und wie er erklären sollte, weswegen er sich eigentlich jetzt so beunruhigte.

An dem Morgen nach dem Trinklied und dem Streit wollte der Fürst gegen elf Uhr ausgehen, als plötzlich der General in großer Aufregung bei ihm erschien.

»Ich habe lange nach einer Gelegenheit gesucht, wo ich die Ehre haben könnte, Sie zu sprechen, hochverehrter Lew Nikolajewitsch, schon lange, sehr lange«, murmelte er und drückte dem Fürsten so kräftig die Hand, daß es diesem beinahe weh tat. »Schon sehr, sehr lange.«

Der Fürst bat ihn, Platz zu nehmen.

»Nein, ich wollte mich nicht hinsetzen, ich halte Sie überdies auf, ein andermal. Wie es scheint, kann ich bei dieser Gelegenheit Ihnen auch zu der… Erfüllung… Ihrer Herzenswünsche gratulieren.«

»Welcher Herzenswünsche?«

Der Fürst wurde verlegen. Er hatte, wie viele Leute in seiner Lage, die Vorstellung, daß bestimmt niemand etwas sehe, errate oder verstehe.

»Seien Sie ganz beruhigt, seien Sie ganz beruhigt! Ich werde Ihre zarten Gefühle nicht verletzen. Ich habe das selbst durchgemacht und weiß selbst, wie es ist, wenn ein Fremder… wie man sagt seine Nase… nach dem üblichen Ausdruck… da hineinsteckt, wo es nicht gewünscht wird. Ich mache diese Erfahrung jeden Morgen. Ich bin in einer andern, wichtigen Angelegenheit gekommen. In einer sehr wichtigen Angelegenheit, Fürst.«

Der Fürst bat ihn noch einmal, sich zu setzen, und setzte sich selbst.

»Nun, dann nur auf eine Sekunde… Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen. Ich habe jetzt bekanntlich keine praktische Tätigkeit; aber da ich mich selbst und meine den Russen im allgemeinen fehlende Geschäftstüchtigkeit wohl zu schätzen weiß… so möchte ich mich, meine Frau und meine Kinder in die Lage bringen… kurz gesagt, Fürst, ich möchte gern einen guten Rat haben.«

Der Fürst spendete seiner Absicht warmes Lob.

»Na, das ist alles nur dummes Zeug«, unterbrach ihn der General, »und, was die Hauptsache ist, ich will gar nicht davon, sondern von etwas anderem, Wichtigem reden. Und ich habe mich entschlossen, es gerade Ihnen auseinanderzusetzen, Lew Nikolajewitsch, als einem Menschen, von dessen Aufrichtigkeit und Edelsinn ich ebenso überzeugt bin wie… wie… Sie wundern sich doch nicht über meine Worte, Fürst?«

Der Fürst betrachtete seinen Gast, wenn nicht mit besonderer Verwunderung, so doch mit großer Aufmerksamkeit und Neugier. Der Alte war etwas blaß, seine Lippen zuckten mitunter leicht, seine Hände schienen keinen Ruhepunkt finden zu können. Er saß erst einige Minuten und hatte sich während dieser Zeit bereits ein paarmal ohne Anlaß vom Stuhle erhoben und wieder hingesetzt, offenbar ohne diesen seinen Bewegungen die geringste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auf dem Tisch lagen Bücher; er nahm eines, warf, ohne sich im Reden zu unterbrechen, einen Blick auf die aufgeschlagene Seite, klappte es sofort wieder zu und legte es auf den Tisch zurück, ergriff ein anderes Buch, das er gar nicht mehr aufschlug, sondern die ganze übrige Zeit in der rechten Hand behielt, wobei er es unaufhörlich in der Luft umherschwenkte.

»Genug!« rief er plötzlich. »Ich sehe, daß ich Sie sehr belästige.«

»Aber durchaus nicht, ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen, im Gegenteil, ich bin ganz Ohr und würde gern erfahren …«

»Fürst, ich möchte mich in eine geachtete Position bringen… ich möchte gern mich selbst und… meine Rechte achten können.«

»Wer einen solchen Wunsch hegt, verdient schon dafür alle Hochachtung.«

Der Fürst sagte diesen Satz, einen Satz, wie sie in Schönschreibheften als Vorlage dienen, in der festen Überzeugung, daß er eine gute Wirkung haben würde. Er fühlte fast instinktiv, daß man durch eine solche hohle, aber schönklingende Phrase, wenn sie zur rechten Zeit ausgesprochen wurde, das Herz eines Menschen wie des Generals gewinnen und besänftigen konnte, namentlich wenn der Betreffende sich in solcher Lage befand wie der General. Jedenfalls mußte er erreichen, daß ein solcher Gast sich beim Weggehen leichter ums Herz fühlte, das war die Aufgabe.

Die Redensart schmeichelte, rührte und gefiel sehr: der General wurde plötzlich gefühlvoll, änderte sofort seinen Ton und erging sich in langen, begeisterten Auseinandersetzungen. Aber wie sehr sich der Fürst auch beim Zuhören anstrengte, er konnte buchstäblich nichts verstehen. Der General redete etwa zehn Minuten lang eifrig und schnell, als wäre er gar nicht imstande, die sich massenhaft in seinem Kopf drängenden Gedanken zu bewältigen; gegen Ende blitzten sogar Tränen in seinen Augen, aber doch waren es nur Phrasen ohne Anfang und Ende, zusammenhanglose Worte und zusammenhanglose Gedanken, die rasch und in bunter Folge hervorstürzten und übereinander wegsprangen.

»Genug! Sie haben mich verstanden, und ich bin beruhigt«, schloß er plötzlich und stand auf. »Ein Herz wie das Ihrige muß einen Leidenden verstehen. Fürst, Sie sind von einem idealen Edelsinn! Was sind alle andern gegen Sie? Aber Sie sind noch jung, und so erteile ich Ihnen meinen Segen. Also zum Schluß: ich bin gekommen, um Sie zu bitten, mir eine Stunde für eine wichtige Unterredung zu bestimmen; auf diese Unterredung setze ich meine größte Hoffnung. Was ich suche, ist nur Freundschaft und ein Herz, Fürst; ich habe die Forderungen meines Herzens bisher nie erfüllt gesehen.«

»Aber warum nicht gleich jetzt? Ich bin bereit zuzuhören…«

»Nein, Fürst, nein«, unterbrach ihn der General eifrig. »Nicht gleich! Gleich, das wäre ein Traum! Und die Sache ist allzu, allzu wichtig, allzu wichtig! In der Stunde, die dieses Gespräch dauern wird, wird sich mein Schicksal entscheiden. Diese Stunde wird mir gehören, und ich möchte nicht, daß uns in einem so heiligen Augenblick der erste beste Eindringling unterbrechen könnte, der erste beste freche Mensch, wie es ein solcher frecher Mensch oft tut« (er beugte sich auf einmal zum Fürsten hin und sprach in einem sonderbaren, geheimnisvollen, beinah ängstlichen Flüsterton), »ein solcher frecher Mensch, der nicht so viel wert ist wie Ihr Stiefelabsatz, geliebter Fürst! Oh, ich sage nicht: wie mein Stiefelabsatz! Beachten Sie besonders, daß ich nicht meinen Stiefelabsatz erwähnt habe, denn ich achte mich selbst zu sehr, um das so ohne weiteres auszusprechen; aber nur Sie sind imstande, zu verstehen, daß ich, indem ich in einem solchen Fall meinen Stiefelabsatz unerwähnt lasse, vielleicht einen außerordentlichen Stolz auf meine Würde zum Ausdruck bringe. Außer Ihnen wird kein anderer dafür Verständnis haben, auch er nicht, er vor allem nicht. Er hat für nichts Verständnis, Fürst, er ist völlig, völlig unfähig, etwas zu begreifen! Man muß ein Herz haben, um etwas zu verstehen!«

Gegen Ende dieser Rede wurde der Fürst beinah ängstlich und setzte die Unterredung mit dem General für den folgenden Tag zur gleichen Stunde fest. Der General ging in mutiger Stimmung weg; er fühlte sich sehr getröstet und fast beruhigt. Am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ließ der Fürst auf einen Augenblick Lebedew zu sich bitten.

Lebedew erschien mit großer Eilfertigkeit, er hielt es für eine Ehre, wie er sofort beim Eintritt sagte; mit keiner Silbe redete er davon, daß er sich drei Tage lang gewissermaßen versteckt gehalten und offenbar eine Begegnung mit dem Fürsten vermieden hatte. Er setzte sich auf den Rand eines Stuhles, schnitt Grimassen, lächelte, kniff die lachenden, lauernden Augen zusammen, rieb sich die Hände und machte in der naivsten Weise ein Gesicht, als ob er eine sehr wichtige, längst erwartete und von allen bereits erratene Mitteilung zu hören erhoffte. Dem Fürsten war das wieder peinlich; ihm wurde klar, daß alle Leute auf einmal angefangen hatten, etwas von ihm zu erwarten, daß alle ihn unter Andeutungen, Lächeln und Augenzwinkern so anblickten, als ob sie ihm zu etwas gratulieren wollten. Keller war schon dreimal eilig hereingekommen, ebenfalls mit dem offensichtlichen Wunsch zu gratulieren; er begann jedesmal mit enthusiastischen, unklaren Redensarten, die er aber nie zu Ende brachte, und verschwand schnell wieder. (Er hatte in den letzten Tagen angefangen, in einer Wirtschaft besonders stark zu trinken, und in einem Billardlokal randaliert.) Selbst Kolja begann trotz seines Kummers ebenfalls ein paarmal ein unklar andeutendes Gespräch mit dem Fürsten.

Der Fürst fragte Lebedew geradeheraus und in etwas gereiztem Ton, was er über den jetzigen Zustand des Generals denke und warum sich dieser in solcher Unruhe befinde. Mit wenigen Worten erzählte er ihm die Szene, die am Vormittag stattgefunden hatte.

»Jeder Mensch hat seine Unruhe, Fürst, und … besonders in unserer seltsamen, unruhigen Zeit, jawohl!« antwortete Lebedew etwas trocken und verstummte dann gekränkt, mit der Miene eines Mannes, der sich in seinen Erwartungen arg getäuscht sieht.

»Was sprechen Sie für philosophische Gedanken aus!« sagte der Fürst lächelnd.

»Die Philosophie ist etwas Notwendiges; gerade für unser Zeitalter wäre es sehr notwendig, sie auf das praktische Leben anzuwenden, aber man schätzt diese Wissenschaft zu gering, das ist es. Ich meinerseits, hochgeehrter Fürst, bin zwar von Ihnen in einer gewissen, Ihnen bekannten Angelegenheit mit Ihrem Vertrauen beehrt worden, aber nur bis zu einem gewissen Grad, und nicht weiter, als es die mit dieser Angelegenheit zusammenhängenden Umstände mit sich brachten… Das begreife ich vollkommen und beklage mich in keiner Weise darüber.«

»Sie scheinen mir aus irgendeinem Grund Böse zu sein, Lebedew?«

»Ganz und gar nicht, nicht im geringsten, hochgeehrter, durchlauchtigster Fürst, nicht im geringsten!« rief Lebedew pathetisch und legte die Hand aufs Herz. »Im Gegenteil, ich habe sofort eingesehen, daß ich weder durch meine Stellung in der Welt noch durch Eigenschaften des Geistes und Herzens, noch durch angesammelte Reichtümer, noch durch mein früheres Benehmen, noch durch Kenntnisse, durch nichts Ihr geschätztes und meine Hoffnungen weit übersteigendes Vertrauen verdiene und daß, wenn ich Ihnen überhaupt dienen kann, ich das nur als Sklave und Tagelöhner vermag, nicht anders… ich bin nicht böse, aber traurig.«

»Aber ich bitte Sie, Lukjan Timofejitsch!«

»Es ist nicht anders! So auch jetzt, so auch im vorliegenden Fall! Als ich jetzt zu Ihnen kam und Sie mit meinem Herzen und meinen Gedanken anschaute, da sagte ich zu mir: ›Freundschaftlicher Mitteilungen bin ich unwürdig, aber vielleicht kann ich in meiner Eigenschaft als Hauswirt zur gegebenen Zeit, zu dem erwarteten Termin, sozusagen eine Instruktion erhalten oder, wenn’s hoch kommt, eine Benachrichtigung im Hinblick auf gewisse bevorstehende und zu erwartende Veränderungen …‹«

Während Lebedew so sprach, sog er sich mit seinen scharfen, zusammengekniffenen Augen geradezu an dem ihn erstaunt anblickenden Fürsten fest; er hoffte immer noch, seine Neugier befriedigt zu sehen.

»Ich begreife absolut nicht!« rief der Fürst beinah zornig. »Und… Sie sind ein schrecklicher Intrigant!« fügte er, auf einmal herzlich auflachend, hinzu.

Sofort fing auch Lebedew an zu lachen, und sein strahlender Blick ließ erkennen, daß seine Hoffnungen wieder lebendig geworden waren und sich sogar verdoppelt hatten.

»Ich werde Ihnen einmal etwas sagen, Lukjan Timofejitsch. Nehmen Sie es mir nur nicht übel, aber ich wundere mich über Ihre Naivität und nicht allein über die Ihrige! Sie erwarten gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick von mir etwas mit solcher Naivität, daß ich mich ordentlich vor Ihnen darüber schäme, daß ich nichts mitzuteilen habe, womit ich Ihre Wißbegierde befriedigen könnte; aber ich schwöre Ihnen, daß absolut nichts vorliegt, können Sie sich das vorstellen?«

Der Fürst fing wieder an zu lachen.

Lebedew nahm eine würdevolle Haltung an. Er war allerdings manchmal sehr naiv und zudringlich in seiner Neugier, aber gleichzeitig war er ein recht schlauer, geriebener Mensch und in manchen Fällen sogar von einer heimtückischen Schweigsamkeit; der Fürst hatte dadurch, daß er ihn fortwährend zurückstieß, ihn sich beinah zum Feind gemacht. Aber der Fürst stieß ihn nicht etwa deswegen zurück, weil er ihn geringgeschätzt hätte, sondern weil der Gegenstand seiner Neugier gar zu delikat war. Gewisse Zukunftsträume hatte der Fürst noch vor wenigen Tagen sozusagen wie ein Verbrechen betrachtet, aber Lukjan Timofejitsch faßte das ablehnende Verhalten des Fürsten lediglich als Widerwillen und Mißtrauen gegen sich persönlich auf, pflegte mit tief verwundetem Herzen fortzugehen und war nicht nur auf Kolja und Keller, sondern sogar auf seine eigene Tochter Wera Lukjanowna wegen des Fürsten eifersüchtig. Vielleicht hätte er sogar gerade in diesem Augenblick aufrichtig gewünscht, dem Fürsten eine für diesen höchst interessante Mitteilung zu machen, aber er schwieg finster und sagte nichts.

»Womit kann ich Ihnen denn nun dienen, hochgeehrter Fürst, da Sie mich doch jetzt haben rufen lassen?« fragte er endlich, nachdem das Stillschweigen eine Weil« gedauert hatte.

»Ich wollte Sie eigentlich nach dem General fragen«, versetzte der Fürst, der sich ebenfalls einen Augenblick seinen Gedanken überlassen hatte und nun zusammenfuhr, »und … wie es mit dem Diebstahl geworden ist, von dem Sie mir Mitteilung gemacht haben…«

»Wie es womit geworden ist?«

»Na aber! Als ob Sie mich jetzt nicht verstünden! Ach, mein Gott, was soll das nur bedeuten, Lukjan Timofejitsch, Sie schauspielern fortwährend! Ich rede von dem Geld, von dem Geld, von den vierhundert Rubel, die Sie damals mit der Brieftasche verloren hatten; Sie kamen an dem Morgen, ehe Sie nach Petersburg fuhren, hierher, um mir davon zu erzählen, haben Sie nun endlich verstanden?«

»Ach so, jene vierhundert Rubel meinen Sie!« erwiderte Lebedew gedehnt, als käme er erst jetzt auf das Richtige. »Ich danke Ihnen, Fürst, für Ihre aufrichtige Teilnahme, sie ist mir sehr schmeichelhaft, aber… ich habe das Geld wiedergefunden, schon längst.«

»Sie haben es wiedergefunden! Ach, Gott sei Dank!«

»Dieser Ausruf zeugt von Ihrer überaus edlen Denkungsart, denn vierhundert Rubel sind keine Kleinigkeit für einen armen Menschen, der von seiner schweren Arbeit leben muß und eine zahlreiche Familie von mutterlosen Kindern hat…«

»Das meine ich ja nicht! Gewiß, ich freue mich auch darüber, daß Sie das Geld wiedergefunden haben«, verbesserte sich der Fürst eilig, »aber… wie ist es denn zugegangen, daß Sie es wiedergefunden haben?«

»Ganz einfach, ich fand es unter dem Stuhl, auf dem der Rock gehangen hatte, so daß die Brieftasche offenbar aus der Tasche geglitten und auf den Fußboden gefallen war.«

»Unter den Stuhl? Das ist doch nicht möglich; Sie haben mir doch selbst gesagt, Sie hätten in allen Ecken und Winkeln nachgesucht; wie sollten Sie denn gerade diese wichtigste Stelle nicht revidiert haben?«

»Das ist es ja eben, daß ich sie revidiert habe! Daß ich das getan habe, darauf besinne ich mich ganz genau! Auf allen vieren bin ich herumgekrochen, habe den Stuhl weggerückt und an dieser Stelle mit den Händen umhergetastet, da ich meinen eigenen Augen nicht glaubte: ich sah, daß nichts da war, daß der Fleck leer und glatt war wie meine Handfläche da, aber dennoch fuhr ich fort umherzutasten. Solch ein törichtes Zweifeln an seinen eigenen Sinnen wiederholt sich immer beim Menschen, wenn er… bei wichtigen traurigen Verlusten den dringenden Wunsch hat, das Verlorene wiederzufinden: er sieht, daß nichts da und der Fleck leer ist, sieht aber doch fünfzehnmal nach ihm hin.«

»Ja, allerdings; aber wie hängt denn die Sache hier zusammen?… Ich verstehe es gar nicht«, murmelte der Fürst ganz verwirrt. »Sie sagen, es sei zuerst nicht dagewesen und Sie hätten an dieser Stelle gesucht, aber dann sei es plötzlich doch dagewesen!«

»Ja, dann war es plötzlich doch da.«

Der Fürst sah Lebedew mit einem sonderbaren Blick an.

»Und der General?« fragte er dann plötzlich.

»Wieso? Was ist mit dem General?« erwiderte Lebedew, der wieder nicht verstand.

»Ach, mein Gott! Ich frage, was der General dazu sagte, als Sie die Brieftasche unter dem Stuhl wiedergefunden hatten. Sie hatten ja doch zuerst beide zusammen danach gesucht.«

»Ja, wir hatten zuerst zusammen danach gesucht. Aber ich muß bekennen, diesmal schwieg ich still und zog es vor, ihm keine Mitteilung davon zu machen, daß ich die Brieftasche bereits allein wiedergefunden hatte.«

»Aber… warum denn das? War denn das Geld vollzählig darin?«

»Ich habe die Brieftasche geöffnet; das Geld war vollzählig darin, nicht ein einziger Rubel fehlte.«

»Aber Sie hätten doch wenigstens zu mir kommen und es mir sagen sollen«, bemerkte der Fürst nachdenklich.

»Ich fürchtete, Sie in Ihren persönlichen und vielleicht sozusagen ganz außerordentlichen Empfindungen zu stören, Fürst; zudem stellte ich mich überhaupt so, als ob ich nichts gefunden hätte. Ich machte die Brieftasche auf, revidierte den Inhalt, machte sie dann wieder zu und legte sie wieder unter den Stuhl.«

»Wozu denn das?«

»Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei, ich war nur neugierig, was nun weiter geschehen würde«, erwiderte Lebedew kichernd und sich die Hände reibend.

»Also liegt sie auch jetzt noch seit vorgestern da?«

»O nein, sie hat nur vierundzwanzig Stunden lang dagelegen. Sehen Sie, ich wünschte, daß auch der General sie finden möchte. Denn wenn ich sie schließlich gefunden hatte, warum sollte nicht auch der General einen Gegenstand bemerken, der unter dem Stuhl hervorsah und einem sozusagen in die Augen sprang? Ich hob diesen Stuhl zu wiederholten Malen auf und stellte ihn anders hin, so daß die Brieftasche nun ganz frei dalag, aber der General bemerkte sie absolut nicht, und so dauerte das einen ganzen Tag lang. Er ist jetzt offenbar sehr zerstreut, man kann gar nicht aus ihm klug werden: er redet, erzählt, lacht, aber auf einmal wird er dann auf mich furchtbar böse, ich weiß nicht weshalb. Als wir schließlich einmal aus dem Zimmer gingen, ließ ich die Tür absichtlich offenstehen; er schwankte ein Weilchen, als wollte er etwas sagen; wahrscheinlich war er um die Brieftasche mit dem vielen Geld besorgt, aber auf einmal wurde er furchtbar zornig und sagte nichts. Wir waren auf der Straße noch nicht zwei Schritte gegangen, als er mich im Stich ließ und nach der anderen Seite hinüberging. Erst am Abend trafen wir im Wirtshaus wieder zusammen.«

»Aber schließlich haben Sie doch wohl die Brieftasche unter dem Stuhl weggenommen?«

»Nein, sie ist noch in derselben Nacht von dort verschwunden.«

»Also wo ist sie denn jetzt?«

»Hier!« erwiderte Lebedew lachend, indem er vom Stuhl aufstand, sich ganz aufrichtete und den Fürsten vergnügt ansah. »Sie befand sich auf einmal hier, in meinem eigenen Rockschoß. Da! Sehen Sie selbst, und befühlen Sie sie!«

In der Tat hatte sich im linken vorderen Rockschoß, genau vorn, an einer sehr sichtbaren Stelle ein ordentlicher Bausch gebildet, und beim Befühlen konnte man ohne weiteres erraten, daß sich da eine lederne Brieftasche befand, die aus der zerrissenen Tasche dort hinuntergerutscht war.

»Ich habe sie herausgenommen und revidiert: der Inhalt war vollzählig. Ich ließ sie wieder hinuntergleiten und gehe so seit gestern morgen herum; ich trage sie im Rockschoß, sie schlägt sogar gegen mein Bein.«

»Und Sie bemerken das gar nicht?«

»Nein, ich bemerke es nicht, hehe! Und stellen Sie sich vor, hochgeehrter Fürst – obwohl der Gegenstand einer solchen besonderen Beachtung von Ihrer Seite gar nicht würdig ist – meine Taschen sind immer ganz und heil, und nun hatte diese Tasche auf einmal über Nacht ein solches Loch bekommen! Ich besah mir dieses Loch genauer; es macht den Eindruck, als ob es jemand mit einem Federmesser hineingeschnitten hätte; ist das nicht beinah unglaublich?«

»Und… der General?«

»Den ganzen Tag über war er böse, gestern und heute; er ist furchtbar verstimmt; bald ist er vergnügt und lustig und sagt mir sogar Schmeicheleien, bald ist er so gefühlvoll, daß ihm sogar die Tränen kommen, bald wieder wird er auf einmal zornig, so daß ich sogar Angst bekomme, wahrhaftig; ich bin ja doch kein Soldat, Fürst. Gestern saßen wir im Wirtshaus, und mein Rockschoß stand wie zufällig so recht sichtbar hervor mit der daran befindlichen Erhöhung; er schielte danach hin und ärgerte sich. Gerade in die Augen sieht er mir jetzt schon längst nicht mehr, außer wenn er sehr betrunken oder sehr gefühlvoll ist; aber gestern sah er mich ein paarmal so an, daß es mir ordentlich kalt den Rücken hinunterlief. Ich beabsichtige übrigens, morgen die Brieftasche zu finden; aber heute abend will ich noch meinen Spaß mit ihm haben.«

»Warum quälen Sie ihn so?« rief der Fürst.

»Ich quäle ihn nicht, Fürst, ich quäle ihn nicht«, erwiderte Lebedew lebhaft. »Ich habe ihn von Herzen gern und… schätze ihn hoch, und jetzt – Sie mögen es glauben oder nicht – ist er mir noch teurer geworden, ich schätze ihn noch höher!«

Lebedew sagte das alles so ernst und aufrichtig, daß der Fürst geradezu empört war.

»Sie haben ihn gern und quälen ihn so! Ich bitte Sie, schon allein dadurch, daß er Ihnen den verlorenen Gegenstand so offen unter den Stuhl legte und in den Rock steckte, schon dadurch allein beweist er Ihnen deutlich, daß er Ihnen gegenüber keine List anwenden will, sondern Sie schlicht und einfach um Verzeihung bittet. Hören Sie: er bittet Sie um Verzeihung! Er hofft also auf Ihr Zartgefühl, glaubt also an Ihre freundschaftliche Gesinnung. Und Sie demütigen ihn dermaßen … einen grundehrlichen Menschen!«

»Einen grundehrlichen Menschen, einen grundehrlichen Menschen, Fürst!« fiel Lebedew mit funkelnden Augen ein. »Und nur Sie, edelster Fürst, waren imstande, ein so gerechtes Wort auszusprechen! Darum bin ich Ihnen ja auch bis zur Vergötterung ergeben, obwohl ich von mancherlei Lastern angefault bin! Also abgemacht! Ich finde die Brieftasche jetzt gleich, sofort und nicht erst morgen; da, ich ziehe sie vor Ihren Augen heraus, da ist sie, und da ist auch das ganze bare Geld; hier, nehmen Sie es, edelster Fürst, nehmen Sie es, und heben Sie es mir bis morgen auf! Morgen oder übermorgen werde ich es mir wieder zurückerbitten; wissen Sie, Fürst, es hat offenbar in der ersten Nacht, nachdem es abhanden gekommen war, irgendwo in meinem Gärtchen unter einem Stein gelegen, meinen Sie nicht auch?«

»Sagen Sie es ihm nur nicht so gerade ins Gesicht, daß Sie die Brieftasche wiedergefunden haben. Mag er ganz einfach sehen, daß nichts mehr in Ihrem Rockfutter steckt; dann wird er es schon verstehen.«

»Also auf diese Art? Wäre es nicht besser, zu sagen, daß ich sie wiedergefunden habe, und so zu tun, als hätte ich sie bisher nicht bemerkt?«

»N-nein«, versetzte der Fürst nach einiger Überlegung, »n-nein, dazu ist es jetzt zu spät, das ist zu gefährlich; wirklich, sagen Sie lieber nichts! Und seien Sie freundlich zu ihm, aber… tragen Sie dabei nicht zu stark auf und… und… nun, Sie wissen schon…«

»Ich weiß, Fürst, ich weiß, das heißt, ich weiß, daß ich es vielleicht nicht werde durchführen können, denn dazu muß man ein Herz haben wie das Ihrige. Und überdies bin ich selbst reizbar und empfindlich; er behandelt mich aber jetzt manchmal auch gar zu sehr von oben herab; bald schluchzt er und umarmt mich, und dann auf einmal fängt er an, mich zu demütigen und zu schmähen; na, dann stelle ich gleich absichtlich den Rockschoß zur Schau, hehe! Auf Wiedersehen, Fürst, denn ich halte Sie offenbar auf und behindere Sie in den sozusagen interessantesten Gefühlen…« »Aber um Gottes willen: schweigen Sie von der Sache wie bisher!«

»Mit leisen Schritten, mit leisen Schritten!« Aber obgleich die Sache nun erledigt war, war der Fürst nach Lebedews Weggang doch in fast noch größerer Sorge als vorher. Ungeduldig sah er der morgigen Zusammenkunft mit dem General entgegen.

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Kapitel 42

IV

Die Zusammenkunft war auf zwölf Uhr festgesetzt, aber der Fürst verspätete sich ganz unerwartet. Bei seiner Heimkehr fand er in seiner Wohnung den General vor, der auf ihn wartete. Er bemerkte auf den ersten Blick, daß dieser unzufrieden war und vielleicht gerade darüber, daß er hatte warten müssen. Der Fürst bat um Entschuldigung und setzte sich schleunigst hin, aber in einer eigentümlich ängstlichen Art, als wäre sein Gast von Porzellan und als fürchte er jeden Augenblick, ihn zu zerbrechen. Früher war er dem General gegenüber niemals ängstlich gewesen, dergleichen war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Der Fürst erkannte bald, daß er da einen ganz andern Menschen vor sich hatte als tags zuvor: statt der Verwirrung und Zerstreutheit machte sich eine große Zurückhaltung bemerkbar; man konnte schließen, daß dies ein Mensch war, der irgendeinen endgültigen Entschluß gefaßt hatte. Übrigens war diese Ruhe mehr äußerlich als wirklich vorhanden. Aber jedenfalls zeigte der Gast eine vornehme Zwanglosigkeit, obwohl diese sich mit zurückhaltender Würde paarte; am Anfang behandelte er den Fürsten sogar mit einer Art von Herablassung; diese vornehme Zwanglosigkeit findet man ja oft bei stolzen, ungerecht gekränkten Leuten. Er sprach freundlich, wenn auch in seinem Ton etwas Trauriges lag.

»Da ist Ihr Buch, das ich neulich von Ihnen entliehen habe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung nach einem von ihm mitgebrachten Band, der auf dem Tisch lag. »Ich danke Ihnen.«

»Ach ja, haben Sie diesen Artikel gelesen, General? Wie hat er Ihnen gefallen? Ist er nicht interessant?« erwiderte der Fürst, erfreut über die Möglichkeit, schnell ein Gespräch über einen nebensächlichen Gegenstand anfangen zu können.

»Ja, interessant ist er, meinetwegen, aber plump und jedenfalls abgeschmackt. Vielleicht wimmelt er auch von Lügen.«

Der General sprach mit affektierter Würde und zog sogar die einzelnen Worte ein wenig in die Länge.

»Ach, es ist doch eine so schlichte Erzählung, die Erzählung eines alten Soldaten über das, was er während des Aufenthaltes der Franzosen in Moskau mit eigenen Augen gesehen hat, manches darin ist überaus reizvoll geschildert. Memoiren von Augenzeugen sind ja überhaupt wertvoll, wer auch immer diese Augenzeugen sind, nicht wahr?«

»An Stelle des Redakteurs hätte ich diesen Artikel nicht abgedruckt; was aber Memoiren von Augenzeugen im allgemeinen anlangt, so findet ein dreister, aber amüsanter Lügner leichter Glauben als ein würdiger, wohlverdienter Mann. Ich kenne gewisse Memoiren aus dem Jahre 1812, die… Ich habe meinen Entschluß gefaßt, Fürst, und verlasse dieses Haus, das Haus des Herrn Lebedew.«

Der General sah den Fürsten bedeutsam an.

»Sie wohnen ja auch eigentlich hier in Pawlowsk bei… bei Ihrer Tochter…«, antwortete der Fürst, der nicht recht wußte, was er sagen sollte.

Er erinnerte sich, daß der General ja gekommen war, um sich in einer wichtigen Angelegenheit Rat zu erbitten, in einer Angelegenheit, von der sein Schicksal abhänge.

»Bei meiner Frau; mit andern Worten in meiner eigenen Wohnung im Hause meiner Tochter.«

»Verzeihen Sie, ich …«

»Ich verlasse Lebedews Haus, lieber Fürst, weil ich mich von diesem Menschen losgesagt habe; ich habe mich gestern abend von ihm losgesagt und habe bereut, dies nicht schon früher getan zu haben. Ich verlange Respekt, Fürst, und möchte ihn mir auch von denjenigen Leuten ausbitten, denen ich sozusagen mein Herz schenke. Fürst, ich verschenke mein Herz häufig und werde dabei fast immer betrogen. Dieser Mensch ist meines Geschenkes unwürdig.«

»Er ist nicht frei von inneren Widersprüchen«, bemerkte der Fürst zurückhaltend, »und manche Züge seines Charakters… aber mitten in all dem kann man doch ein Herz wahrnehmen und einen schlauen, mitunter auch amüsanten Verstand.«

Daß der Fürst in gewählten Ausdrücken sprach und sich eines respektvollen Tones bediente, schmeichelte dem General offenbar, obgleich seine Miene manchmal immer noch ein plötzlich rege werdendes Mißtrauen bekundete. Aber der Ton des Fürsten klang so natürlich und aufrichtig, daß es unmöglich war zu zweifeln.

»Gewiß besitzt er auch gute Eigenschaften«, stimmte der General bei, »und ich bin der erste gewesen, der das offen aussprach, als ich diesem Individuum beinah meine Freundschaft schenkte. Sein Haus und seine Gastfreundschaft benötige ich nicht, da ich eine eigene Familie besitze. Ich will meine Laster nicht entschuldigen: ich bin unenthaltsam; ich habe mit ihm getrunken und vergieße jetzt vielleicht Tränen darüber. Aber ich hatte doch nicht allein des Suffs wegen (verzeihen Sie, Fürst, einem schwer gereizten Mann diese derbe Offenherzigkeit), nicht allein des Suffs wegen mich ihm angeschlossen. Was mich lockte, waren, wie Sie richtig sagen, seine guten Eigenschaften. Aber alles geht bis zu einer gewissen Grenze, auch die Wertschätzung der guten Eigenschaften, und wenn er auf einmal die Dreistigkeit hat, mir ins Gesicht zu behaupten, er habe im Jahre 1812 als Kind sein linkes Bein verloren und es auf dem Waganjkowschen Friedhof in Moskau begraben, so überschreitet das denn doch alle Grenzen und zeugt von einer Respektlosigkeit und Frechheit…«

»Vielleicht war das nur ein Scherz, der heiteres Gelächter hervorrufen sollte.«

»Ich verstehe. Eine unschuldige Lüge, die heiteres Gelächter hervorrufen soll, kann, auch wenn sie plump ist, ein Menschenherz nicht beleidigen. Mancher lügt auch sozusagen nur aus Freundschaft, um demjenigen, mit dem er sich unterhält, ein Vergnügen zu machen, aber wenn bei einem solchen Benehmen Respektlosigkeit durchschimmert und wenn namentlich der Erzähler durch eine solche Respektlosigkeit zeigen will, daß ihm der Umgang mit dem andern lästig wird, dann bleibt einem anständigen Mann nichts anderes übrig, als den Beleidiger in die Schranken zu weisen, sich von ihm abzuwenden und alle Beziehungen zu ihm abzubrechen.«

Der General war, während er sprach, ganz rot geworden.

»Aber Lebedew kann doch im Jahre 1812 gar nicht in Moskau gewesen sein, dazu ist er ja zu jung; das ist lächerlich.«

»Erstens das; aber selbst angenommen, daß er damals schon geboren war, wie kann er mir ins Gesicht behaupten, ein französischer Chasseur habe eine Kanone auf ihn abgefeuert und ihm so zum Vergnügen ein Bein abgeschossen; er habe dieses Bein aufgehoben, nach Hause getragen und nachher auf dem Waganjkowschen Friedhof begraben. Er sagt, er habe ein Denkmal darüber errichten lassen, mit einer Inschrift auf der einen Seite: ›Hier ruht ein Bein des Kollegiensekretärs Lebedew‹, und auf der andern: ›Ruhe sanft, liebe Asche, bis zum frohen Tage der Auferstehung!‹ und schließlich noch, er lasse jährlich für dieses Bein eine Seelenmesse lesen (so etwas zu sagen, ist geradezu ein Religionsfrevel) und fahre zu diesem Zweck jährlich nach Moskau. Und zum Beweis fordert er mich auf, nach Moskau mitzukommen; da wolle er mir das Grab zeigen und sogar im Kreml jene selbe französische Kanone, die nachher erbeutet worden sei; er behauptet, es sei die elfte vom Tor aus, ein französisches Falkonettgeschütz alter Konstruktion.«

»Und dabei sind, wie der Augenschein lehrt, seine beiden Beine heil und gesund!« sagte der Fürst lachend. »Ich versichere Ihnen, daß das ein harmloser Spaß ist, ärgern Sie sich doch nicht darüber!«

»Aber erlauben Sie auch mir, die Sache so aufzufassen, wie ich es für richtig halte. Was den augenscheinlichen Zustand seiner Beine anlangt, so ist seine Angabe freilich nicht ganz unwahrscheinlich; es wird versichert, daß das Tschernoswitowsche Bein…«

»Ach ja, mit einem Tschernoswitowschen Bein soll man ja sogar tanzen können.«

»Das weiß ich ganz genau; als Tschernoswitow sein Bein erfunden hatte, war das erste, was er tat, daß er schleunigst zu mir kam, um es mir zu zeigen. Aber das Tschernoswitowsche Bein ist erst viel später erfunden worden… Und außerdem behauptet er, daß sogar seine verstorbene Frau während ihrer ganzen Ehe nicht gewahr geworden sei, daß er, ihr Mann, ein Holzbein habe. ›Wenn du‹, sagte er, als ich ihn auf all diese Ungereimtheiten hinwies, ›wenn du im Jahre 1812 bei Napoleon Kammerpage warst, dann mußt du auch mir erlauben, mein Bein auf dem Waganjkowschen Friedhof zu begraben.‹«

»Aber sind Sie denn…«, begann der Fürst und wurde verlegen.

Der General schien ebenfalls beinah verlegen zu werden, sah aber gleich im selben Augenblick den Fürsten sehr von oben herab und fast spöttisch an.

»Sprechen Sie zu Ende, Fürst«, sagte er, indem er die Worte mit besonderer Ruhe dehnte, »sprechen Sie zu Ende! Ich bin großmütig; sagen Sie alles: bekennen Sie nur, daß es Ihnen komisch vorkommt, einen Menschen in seinem jetzigen Zustand der Erniedrigung und Unbrauchbarkeit vor sich zu sehen und zugleich zu hören, daß dieser Mensch persönlich ein Zeuge großer Ereignisse gewesen ist. Er hat Ihnen noch nichts davon hinterbracht?«

»Nein, ich habe von Lebedew nichts gehört… wenn Sie von Lebedew reden…«

»Hm, ich nahm das Gegenteil an. Eigentlich ging unser Gespräch gestern von diesem… sonderbaren Artikel im Archiv aus. Ich wies auf dessen Absurdität hin, und da ich selbst persönlich Zeuge gewesen bin … Sie lächeln, Fürst, Sie betrachten mein Gesicht?«

»N-nein, ich …«

»Ich habe noch ein jugendliches Äußeres«, sagte der General langsam, »aber ich bin erheblich älter, als ich aussehe. Im Jahre 1812 war ich zehn oder elf Jahre alt. Ich weiß mein Lebensalter selbst nicht ganz genau. In der Dienstliste ist es zu niedrig angegeben, und ich selbst hatte im Lauf meines Lebens die Schwäche, mir ein paar Jahre abzurechnen.«

»Ich versichere Ihnen, General, ich finde es durchaus nicht seltsam, daß Sie im Jahre 1812 in Moskau waren und… gewiß können Sie darüber mancherlei mitteilen… ebenso wie alle, die damals dort waren. Einer unserer Landsleute beginnt seine Selbstbiographie gerade mit der Erzählung, daß er im Jahre 1812 als Säugling in Moskau von französischen Soldaten mit Brot gefüttert worden sei.«

»Nun, da sehen Sie es!« bemerkte der General beifällig und herablassend. »Was mir begegnet ist, geht allerdings über die gewöhnlichen Erlebnisse hinaus, enthält aber nichts Unerhörtes. Sehr oft macht die Wahrheit den Eindruck des Unmöglichen. Kammerpage! Das hört sich freilich sonderbar an. Aber daß ein zehnjähriger Knabe ein solches Abenteuer erlebt hat, erklärt sich vielleicht gerade durch sein Alter. Mit fünfzehn Jahren hätte mir das nicht begegnen können, auf keinen Fall, da ich als Fünfzehnjähriger am Tage von Napoleons Einzug in Moskau nicht aus unserm Holzhaus in der Alten Basmannaja-Straße von meiner Mutter weggelaufen wäre, die sich mit der Abreise aus Moskau verspätet hatte und vor Furcht zitterte. Als Fünfzehnjähriger hätte auch ich Angst gehabt, aber als Zehnjähriger fürchtete ich mich nicht und drängte mich durch die Menge hindurch bis dicht an die Freitreppe des Palastes, als Napoleon gerade vom Pferd stieg.«

»Ohne Zweifel haben Sie sehr treffend bemerkt, daß sich Ihre Furchtlosigkeit gerade aus Ihrem Alter von zehn Jahren erklärt«, schaltete der Fürst schüchtern ein; ihn quälte der Gedanke, daß er gleich erröten würde.

»Ohne Zweifel, und alles vollzog sich so einfach und natürlich, wie es sich eben nur in der Wirklichkeit vollziehen kann; wenn ein Romanschriftsteller dasselbe vortrüge, würde er allerlei Unmögliches und Unwahrscheinliches zusammenspinnen.«

»Ja, so ist es!« rief der Fürst. »Das ist ein Gedanke, von dem auch ich einmal überrascht gewesen bin, und zwar erst neulich. Ich weiß von einem wirklich geschehenen Mord wegen einer Uhr; die Geschichte steht jetzt in den Zeitungen. Hätte das ein Schriftsteller ersonnen, so würden die Kenner unseres Volkslebens und die Kritiker sofort ein großes Geschrei erheben, das sei unglaublich; aber wenn man es in den Zeitungen als Tatsache liest, dann spürt man, daß man gerade aus solchen Tatsachen die russische Wirklichkeit kennenlernt. Das war eine sehr hübsche Bemerkung von Ihnen, General!« schloß der Fürst eifrig; er freute sich sehr, daß er auf diese Art die helle Röte seines Gesichtes motivieren konnte.

»Nicht wahr, nicht wahr?« rief der General, dessen Augen vor Vergnügen blitzten. »Ein Knabe, ein Kind, das für die Gefahr kein Verständnis hat, drängt sich durch die Menge, um den Glanz, die Uniformen, das Gefolge und schließlich den großen Mann zu sehen, von dem es schon soviel Geschrei gehört hatte. Denn damals redeten alle Leute jahrelang nur von ihm. Die Welt war voll von diesem Namen; ich hatte ihn sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Als Napoleon in einer Entfernung von zwei Schritten an mir vorüberging, fiel es ihm zufällig auf, wie ich ihn ansah; ich trug adlige Tracht und war gut gekleidet. Ich war der einzige von dieser Art in der großen Menge, Sie werden selbst zugeben…«

»Ohne Zweifel mußte ihm das auffallen und ein Beweis dafür sein, daß nicht alle geflüchtet, sondern daß auch Adlige mit ihren Kindern dageblieben waren.«

»Ganz richtig, ganz richtig! Er wollte die Bojaren für sich gewinnen! Als er seinen Adlerblick auf mich richtete, mochten ihm wohl auch meine Augen entgegenblitzen. ›Voilà un garçon bien éveillé!‹ sagte er. ›Qui est ton père?‹ Auf diese schnelle Frage antwortete ich ebenso schnell: ›Ein russisches Herz ist imstande, sogar in einem Feind seines Vaterlandes den großen Mann zu erkennen!‹ Das heißt, ich sogar um so peinlicher, je stärker die Besorgnis vor diesem Unheil war.«

»Ja, gewiß…«, murmelte der Fürst beinah fassungslos, »Ihre Memoiren würden… sehr interessant sein.«

Der General trug natürlich das vor, was er schon gestern Lebedew erzählt hatte, und trug es daher sehr geläufig vor, aber an dieser Stelle schielte er wieder mißtrauisch nach dem Fürsten hin.

»Meine Memoiren«, sagte er, indem er eine noch würdevollere Haltung annahm, »ich soll meine Memoiren schreiben? Das hat mich nicht verlocken können, Fürst! Indes, wenn Sie wollen, so sind meine Memoiren schon geschrieben; aber… sie liegen in meinem Schreibtisch. Wenn man mir die Augen mit Erde zugedeckt haben wird, dann mögen sie erscheinen, und dann werden sie ohne Zweifel auch in andere Sprachen übersetzt werden, nicht wegen ihres literarischen Wertes, nein, aber wegen der Wichtigkeit der gewaltigen Ereignisse, deren Augenzeuge ich, obwohl noch ein Kind, gewesen bin. Aber gerade das kam mir zustatten: eben weil ich nur ein Kind war, konnte ich sozusagen in das innerste Schlafgemach des ›großen Mannes‹ eindringen! Ich hörte nachts das Stöhnen dieses ›Riesen im Unglück‹; vor einem Kind brauchte er sich nicht zu schämen, daß er stöhnte und weinte, obgleich ich bereits verstand, daß die Ursache seiner Leiden das Stillschweigen des Kaisers Alexander war.«

»Aber er hat ja doch Briefe an ihn geschrieben… mit Friedensangeboten…«, schaltete der Fürst schüchtern ein.

»Wir wissen eigentlich nicht, was für Angebote er ihm geschrieben hat, aber er schrieb täglich, stündlich, einen Brief nach dem andern! Er regte sich furchtbar auf. Einmal in der Nacht, als wir beide allein waren, stürzte ich weinend zu ihm hin (oh, ich liebte ihn!) und rief: ›Bitten Sie den Kaiser Alexander um Verzeihung!‹ Ich hätte mich ja freilich so ausdrücken sollen: ›Versöhnen Sie sich mit dem Kaiser Alexander!‹, aber weil ich ein Kind war, sprach ich meinen Gedanken in jener naiven Weise aus. ›O mein Kind‹, antwortete er (er ging im Zimmer auf und ab), ›O mein Kind!‹ (er schien es damals öfter nicht zu beachten, daß ich erst zehn Jahre alt war, und unterhielt sich gern mit mir, ›o mein Kind, ich bin bereit, dem Kaiser Alexander die Füße zu küssen; dagegen werde ich den König von Preußen und den Kaiser von Österreich lebenslänglich hassen. Jedoch… du verstehst schließlich nichts von Politik!‹ Er schien sich plötzlich zu erinnern, mit wem er sprach, und verstummte, aber seine Augen sprühten noch lange Zeit Funken. Wollte ich all diese Tatsachen berichten – und ich war auch bei den allerwichtigsten Ereignissen Zeuge – und den Bericht jetzt herausgeben, dann all diese Kritiken, all diese verletzte literarische Eitelkeit, all dieser Neid, das Parteitreiben und… nein, dafür danke ich!«

»Was Sie von dem Parteitreiben gesagt haben, ist natürlich richtig, und ich kann Ihnen darin nur beistimmen«, antwortete der Fürst leise, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich habe vor kurzer Zeit das Buch von Charras über den Waterloo-Feldzug gelesen. Es ist offenbar ein ernstes Buch, und Fachmänner versichern, daß es mit außerordentlicher Sachkenntnis geschrieben sei. Aber auf jeder Seite schimmert die Freude des Verfassers über Napoleons Demütigung hindurch, und falls es möglich wäre, dem Kaiser auch bei den übrigen Feldzügen jede Spur von Talent abzusprechen, so würde Charras sich darüber wahrscheinlich höchlichst freuen; aber das macht bei einem so ernsten Werk einen schlechten Eindruck, weil es eine parteiische Denkungsart ist. Waren Sie damals durch Ihren Dienst beim Kaiser sehr in Anspruch genommen?

Der General war entzückt. Die Bemerkung des Fürsten hatte durch ihren Ernst und ihre Schlichtheit den letzten Rest seines Mißtrauens zerstreut.

»Charras! Oh, ich war selbst empört! Ich schrieb gleich damals an ihn, aber… ich kann mich jetzt eigentlich nicht mehr recht erinnern… Sie fragen, ob mich der Dienst sehr in Anspruch nahm. O nein! Ich hieß zwar Kammerpage, aber ich faßte das schon damals nicht als ein ernstes Amt auf. Zudem mußte Napoleon sehr bald alle Hoffnung aufgeben, daß es ihm gelingen würde, die Herzen der Russen für sich zu gewinnen, und so hätte er schließlich auch mich vergessen, den er aus politischen Erwägungen an sich herangezogen hatte, wenn… wenn er mich nicht persönlich liebgewonnen hätte; ich spreche das jetzt kühn aus. Mich zog mein Herz zu ihm. Dienst wurde nicht viel von mir verlangt: ich mußte manchmal im Palast erscheinen und… den Kaiser zu Pferd auf seinen Spazierritten begleiten, das war alles. Ich war ein ganz geschickter Reiter. Er pflegte vor Tische auszureiten; zur Suite gehörten gewöhnlich Davout, ich, der Mameluck Roustan…«

»Constant«, entfuhr es auf einmal dem Fürsten.

»N-nein, Constant war damals nicht da, er war damals mit einem Brief weggeschickt… zur Kaiserin Josephine; aber statt seiner waren zwei Ordonnanzen da und einige polnische Ulanen… na, das war das ganze Gefolge, abgesehen natürlich von den Generalen und Marschällen, die Napoleon mitnahm, um mit ihnen das Terrain und die Stellung der Truppen zu besichtigen und mit ihnen zu beraten… Am häufigsten befand sich Davout in seiner Umgebung, wie ich mich noch jetzt erinnere: ein sehr großer, kräftiger, kaltblütiger Mensch mit einer Brille und einem seltsamen Blick. Mit ihm beriet der Kaiser besonders oft. Er legte großen Wert auf seine Ansichten. Ich erinnere mich, daß sie schon mehrere Tage miteinander beraten hatten; Davout kam jeden Morgen und jeden Abend; oft stritten sie sogar; endlich schien Napoleon nachzugeben. Sie waren beide allein im Arbeitszimmer, als dritter ich, den sie kaum beachteten. Auf einmal fiel Napoleons Blick zufällig auf mich, ein seltsamer Gedanke leuchtete in seinen Augen auf. ›Kind!‹ sagte er plötzlich zu mir, ›wie denkst du darüber: wenn ich zur russischen Kirche übertrete und eure Sklaven befreie, werden mir dann die Russen folgen oder nicht?‹ – ›Niemals!‹ rief ich empört. Napoleon war überrascht. ›In den von Patriotismus glänzenden Augen dieses Kindes‹, sagte er, ›habe ich die Meinung des ganzen russischen Volkes gelesen. Genug davon, Davout! Das alles ist ein Hirngespinst! Entwickeln Sie Ihr zweites Projekt!‹«

»Ja, aber auch dieses Projekt war eine großartige Idee!« bemerkte der Fürst, augenscheinlich interessiert. »Sie führen also dieses Projekt auf Davout zurück?«

»Wenigstens berieten sie darüber zusammen. Die Idee rührte gewiß von Napoleon her und war dieses Adlers würdig, aber auch das andere Projekt war eine bedeutende Idee… Das war jener berühmte ›!‹ Und gleich am folgenden Tag wurde der Abmarsch angekündigt.«

»All das ist außerordentlich interessant«, sagte der Fürst sehr leise, »wenn das alles so zuging… das heißt, ich will sagen…«, suchte er sich schleunigst zu verbessern.

»O Fürst!« rief der General, der von seiner eigenen Erzählung so berauscht war, daß er vielleicht auch vor der größten Unvorsichtigkeit nicht mehr zurückgeschreckt wäre, »Sie sagen: ›All das‹, aber es war noch mehr; ich versichere Ihnen, daß ich noch weit mehr erlebte. All das waren nur armselige politische Ereignisse. Aber ich wiederhole Ihnen, ich war Zeuge der nächtlichen Tränen und Seufzer dieses großen Mannes, und das hat niemand gesehen und gehört außer mir! In der letzten Zeit weinte er allerdings nicht mehr, er hatte keine Tränen mehr, er stöhnte nur noch manchmal, aber sein Gesicht umwölkte sich immer düsterer. Die Ewigkeit umschattete ihn schon gleichsam mit ihren dunklen Flügeln. Manchmal verbrachten wir nachts ganze Stunden allein zusammen in Stillschweigen; der Mameluck Roustan schnarchte im Nebenzimmer; dieser Mensch hatte einen furchtbar festen Schlaf. ›Dafür ist er mir und der Dynastie treu‹, pflegte Napoleon von ihm zu sagen. Einmal war mir furchtbar schwer ums Herz, und er bemerkte plötzlich Tränen in meinen Augen; er blickte mich gerührt an: ›Du bemitleidest mich!‹ rief er. ›Du bemitleidest mich, mein Kind, und vielleicht bemitleidet mich noch ein anderes Kind, mein Sohn, ; alle übrigen hassen mich, und meine Brüder werden die ersten sein, die mich in meinem Unglück verraten!‹ Aufschluchzend stürzte ich zu ihm hin; da konnte auch er sich nicht mehr beherrschen, wir umarmten uns, und unsere Tränen vermischten sich miteinander. ›Schreiben Sie, schreiben Sie einen Brief an die Kaiserin Josephine!‹ rief ich ihm weinend zu. Napoleon fuhr zusammen, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu mir: ›Du erinnerst mich an ein drittes Herz, das mich liebt; ich danke dir, mein Freund!‹ Darauf setzte er sich hin und schrieb jenen Brief an Josephine, mit dem Constant am folgenden Tag weggeschickt wurde.«

»Das war schön von Ihnen gehandelt«, sagte der Fürst »Inmitten all der bösen Gedanken haben Sie ihn zu einem guten Gefühl hingeleitet.«

»Ganz richtig, Fürst! Und wie schön Sie das ausdrücken, ganz in Übereinstimmung mit Ihrem eigenen Herzen!« rief der General entzückt, und seltsamerweise blinkten wirkliche Tränen in seinen Augen. »Ja, Fürst, ja, das war ein großartiges Schauspiel! Und wissen Sie, ich wäre beinah mit ihm nach Paris gegangen und hätte dann schließlich sein Los auf der ›heißen Insel der Verbannung‹ geteilt, aber leider gingen unsere Lebenswege auseinander! Wir trennten uns: er ging nach der heißen Insel, wo er sich vielleicht in einem Augenblick tiefen Grams wenigstens einmal noch an die Tränen des armen Knaben erinnert haben mag, der ihn in Moskau umarmt und von ihm Abschied genommen hatte; ich dagegen kam in das Kadettenkorps, wo ich nichts fand als Drill, rohes Benehmen der Kameraden und… Ach, alles war zu Ende! ›Ich will dich deiner Mutter nicht entziehen und werde dich daher nicht mitnehmen!‹ sagte er zu mir an dem Tag, an dem der Rückzug begann; ›aber ich würde gern etwas für dich tun.‹ Er stieg schon zu Pferd. ›Schreiben Sie mir etwas zum Andenken in das Album meiner Schwester!‹ sagte ich schüchtern, denn er war sehr zerstreut und finster. Er drehte sich um, verlangte eine Feder und nahm das Album. ›Wie alt ist deine Schwester?‹ fragte er mich, die Feder schon in der Hand haltend. ›Drei Jahre‹, antwortete ich. ›.‹ Er schrieb in das Album:

Ne mentez jamais!
Napoléon, votre ami sincère
.

Ein solcher Rat und in einem solchen Augenblick, Sie müssen selbst sagen, Fürst …«

»Ja, das ist bedeutsam.«

»Dieses Blatt hing in einem goldenen Rahmen unter Glas bei meiner Schwester zeitlebens in ihrem Salon an der augenfälligsten Stelle, bis zu ihrem Tode (sie starb im Wochenbett); wo es jetzt ist, weiß ich nicht… Aber… ach, mein Gott! Es ist schon zwei Uhr! Wie ich Sie aufgehalten habe, Fürst! Es ist unverzeihlich!«

Der General stand von seinem Stuhl auf.

»Oh, im Gegenteil!« stammelte der Fürst. »Sie haben mich so schön unterhalten, und… Ihre Mitteilungen… waren so interessant, ich bin Ihnen so dankbar!«

»Fürst!« sagte der General, indem er ihm wieder die Hand drückte, so daß es fast schmerzte, und ihn mit glänzenden Augen unverwandt anblickte, als wäre er selbst auf einmal zur Besinnung gekommen und von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Fürst! Sie sind ein so guter, ein so harmloser Mensch, daß Sie mir manchmal geradezu leid tun. Ich sehe Sie mit inniger Rührung an, Gott segne Sie! Möge Ihr Leben… in Liebe beginnen und aufblühen! Das meine ist abgeschlossen! Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie!«

Er ging schnell hinaus, das Gesicht mit den Händen bedeckend. An der Aufrichtigkeit seiner Erregung konnte der Fürst nicht zweifeln. Er verstand auch, daß der Alte wie berauscht von seinem Erfolg wegging, aber er ahnte doch, daß dieser Mensch zu derjenigen Sorte von Lügnern gehörte, die zwar bis zur Wollust und Selbstvergessenheit schwindeln, aber sogar auf dem Gipfelpunkt ihres Rausches im stillen noch argwöhnen, daß man ihnen nicht glaubt und nicht glauben kann. Es war denkbar, daß der Alte in seiner jetzigen Lage zur Besinnung kommen, sich über die Maßen schämen und den Fürsten verdächtigen würde, er bemitleide ihn nur, was ihn natürlich tief kränken mußte. ›Habe ich auch nicht schlecht daran getan, daß ich ihn bis zu solcher Begeisterung kommen ließ?‹ fragte sich der Fürst beunruhigt, konnte sich aber im nächsten Augenblick nicht mehr halten und brach in ein gewaltiges, wohl zehn Minuten anhaltendes Gelächter aus. Er wollte sich wegen dieses Gelächters Selbstvorwürfe machen, sah aber sofort ein, daß er dazu keinen Anlaß habe, weil ihm ja der General unendlich leid tat.

Seine Ahnung ging in Erfüllung. Schon am Abend desselben Tages erhielt er einen sonderbaren Brief, der ebenso kurz wie energisch war. Der General teilte ihm darin mit, daß er sich auch von ihm für alle Zeiten trenne; er achte ihn und sei ihm dankbar, aber auch von ihm könne er nicht »Mitleidsbezeigungen annehmen, die die Würde eines ohnehin schon unglücklichen Mannes noch weiter herabdrücken«. Als der Fürst hörte, daß der Alte sich bei Nina Alexandrowna eingeschlossen habe, fühlte er sich seinetwegen beinahe beruhigt. Aber wir haben bereits gesehen, daß der General auch bei Lisaweta Prokofjewna Unheil anrichtete. Wir können hier keine Einzelheiten mitteilen, aber wir bemerken in aller Kürze, daß der Kernpunkt bei dieser Zusammenkunft darin bestand, daß der General Lisaweta Prokofjewna in Angst versetzte und durch seine bitteren Andeutungen über Ganja ihre Entrüstung erregte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gewiesen. Das war der Grund, weshalb er dann eine so schlechte Nacht und einen so schlechten Morgen hatte, allen Verstand verlor und zuletzt beinah geisteskrank auf die Straße lief.

Kolja begriff immer noch nicht, was eigentlich vorging, und hoffte sogar, durch Strenge etwas bei seinem Vater zu erreichen.

»Na, was denken Sie nun, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, General?« fragte er. »Zum Fürsten wollen Sie nicht, mit Lebedew haben Sie sich verzankt, Geld haben Sie nicht, und ich habe nie welches: da sitzen wir nun auf dem trockenen, mitten auf der Straße.«

»Man sitzt angenehmer im Trockenen als auf dem trockenen«, murmelte der General. »Mit diesem Wortspiel habe ich Begeisterung erregt… in einer Offiziersgesellschaft… im Jahre vierundvierzig… Im Jahre tausend… achthundert… vierundvierzig, ja!… Ich entsinne mich nicht… Oh, erinnere mich nicht daran, erinnere mich nicht daran! ›Wo ist meine Jugend, meine Frische!‹ wie jemand ausrief … Wer hat das doch ausgerufen, Kolja?«

»Das kommt bei Gogol in den ›Toten Seelen‹ vor, Papa«, antwortete Kolja und schielte ängstlich nach dem Vater hin.

»Tote Seelen! O ja, tote Seelen! Wenn du mich begraben läßt, dann schreib auf mein Grab: ›Hier ruht eine tote Seele!‹

Der Schande kann ich nicht entrinnen!

Wer hat das gesagt, Kolja?«

»Das weiß ich nicht, Papa.«

»Jeropegow soll nicht existiert haben? Jeroschka Jeropegow!…« rief er ganz außer sich und blieb auf der Straße stehen. »Und das ist mein Sohn, mein leiblicher Sohn! Jeropegow, ein Mann, der elf Monate lang wie ein Bruder mit mir zusammen gelebt hat, für den ich zu einem Duell gegangen bin … Fürst Wygorezkij, unser Hauptmann, sagte zu ihm, als wir bei der Flasche saßen: ›Du, Grischa, wo hast du denn deinen Anna-Orden erworben? Das möchte ich wirklich wissen.‹ – ›Auf den Schlachtfeldern meines Vaterlandes, da habe ich ihn erworben!‹ Ich rief: ›Bravo, Grischa!‹ Na, daraus entstand dann ein Duell. Und dann heiratete er Marja Petrowna Su… Sutugina und fiel auf dem Schlachtfeld… Die Kugel prallte von dem Kreuz ab, das ich auf der Brust trug, und fuhr ihm gerade in die Stirn. ›Ich werde dich in Ewigkeit nicht vergessen!‹ rief er und fiel tot nieder. Ich… ich habe mit Ehren gedient, Kolja, ich habe als anständiger Mann gedient, aber ›der Schande kann ich nicht entrinnen‹! Kommt ihr beide, du und Nina, zu meinem Grab… ›Arme Nina!‹ so habe ich sie früher genannt, Kolja; es ist schon lange her, noch in der ersten Zeit, und sie hörte das so gern!… Nina, Nina! Was habe ich dir für ein Schicksal bereitet! Wofür kannst du mich noch lieben, du geduldiges Herz? Deine Mutter hat das Herz eines Engels, Kolja, hörst du wohl? Das Herz eines Engels!«

»Das weiß ich, Papa. Papa, liebster Papa, lassen Sie uns nach Hause zurückkehren, zu Mama! Sie ist uns ja nachgelaufen! Aber was stehen Sie denn so da? Als ob Sie es nicht begreifen… Na, warum weinen Sie denn?«

Kolja weinte selbst und küßte seinem Vater die Hände.

»Du küßt mir die Hände, mir?«

»Nun ja, gewiß, gewiß. Was ist daran verwunderlich? Na, warum heulen Sie denn mitten auf der Straße? Und dabei nennen Sie sich General und wollen ein Soldat sein; na, nun kommen Sie!«

»Gott segne dich, lieber Junge, dafür, daß du dich gegen deinen mit Schande bedeckten Vater respektvoll benommen hast… ja, gegen einen mit Schande bedeckten alten Mann, deinen Vater… Mögest du einmal einen ebensolchen Sohn haben… le roi de Rome… Oh, mein Fluch, mein Fluch über dieses Haus!«

»Aber was soll denn dieser ganze Aufstand hier bedeuten?« brauste Kolja plötzlich auf. »Was ist denn passiert? Warum wollen Sie jetzt nicht nach Hause zurückkehren? Wieso sind Sie so verrückt geworden?«

»Ich werde es dir erklären, werde es dir erklären… ich werde dir alles sagen. Schrei nicht so, die Leute hören es… le roi de Rome… Ach, mir ist so übel, und ich bin so traurig!

Wo ist dein Grab, du alte Kinderfrau?

Wer hat so gerufen, Kolja?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig ist … Aber wo wollen Sie denn wieder hin?«

Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses.

»Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!«

Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran.

»Bück dich, bück dich!« murmelte er. »Ich will dir alles sagen… die Schande… bück dich… mit dem Ohr, mit dem Ohr, ich will es dir ins Ohr sagen…«

»Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin.

»Le roi de Rome…«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leibe zitterte.

»Was?… Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome?…«

»Ich… ich…«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich… will… ich will dir… alles… Marja, Marja… Petrowna Su-su-su…«

Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und blickte ihn an wie ein Irrsinniger. Der Alte wurde dunkelrot, seine Lippen färbten sich bläulich, leichte, krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in Koljas Arme zu sinken.

»Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte.

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Kapitel 43

V

Um die Wahrheit zu sagen, Warwara Ardalionowna hatte in dem Gespräch mit ihrem Bruder die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten über die Verlobung des Fürsten mit Aglaja Jepantschina ein wenig übertrieben. Vielleicht sah sie als scharfsichtige Frau das voraus, was in naher Zukunft geschehen mußte, vielleicht hatte sie sich auch darüber geärgert, daß der schöne Zukunftstraum (an den sie übrigens, um die Wahrheit zu sagen, selbst nicht geglaubt hatte) wie ein Rausch zerflattert war, und konnte sich nun, was ja nur menschlich ist, das Vergnügen nicht versagen, durch Übertreibung des Mißgeschicks noch mehr Gift in das Herz ihres Bruders zu gießen, den sie übrigens aufrichtig liebte und bemitleidete. Aber jedenfalls hatte sie unmöglich von ihren Freundinnen, den Fräulein Jepantschin, so bestimmte Nachrichten erhalten können; es lagen nur Andeutungen, halb ausgesprochene Worte, bedeutsames Stillschweigen und rätselhafte Redewendungen vor. Vielleicht hatten Aglajas Schwestern aber auch absichtlich ein Wörtchen zuviel gesagt, um selbst etwas von Warwara Ardalionowna in Erfahrung zu bringen; möglich war schließlich auch, daß auch sie sich das echt weibliche Vergnügen nicht hatten versagen wollen, ihre Freundin, und wenn es auch eine Freundin aus der Kinderzeit war, ein klein wenig zu necken, denn in dieser ganzen Zeit hatten sie doch wenigstens ein bißchen von den Absichten der Freundin merken müssen.

Andrerseits hatte sich vielleicht auch der Fürst geirrt, als er, in der Meinung, durchaus die Wahrheit zu sagen, Herrn Lebedew versicherte, er habe ihm nichts mitzuteilen und es habe sich mit ihm gar nichts Besonderes zugetragen. Tatsächlich war mit allen etwas sehr Seltsames vorgegangen: es hatte sich nichts zugetragen und gleichzeitig doch auch gewissermaßen sehr viel zugetragen. Letzteres hatte auch Warwara Ardalionowna mit ihrem zuverlässigen weiblichen Instinkt erraten.

Wie es aber zugegangen war, daß in der Familie Jepantschin alle einmütig auf ein und denselben Gedanken gekommen waren, daß sich nämlich mit Aglaja etwas Wichtiges ereignet habe und ihr Schicksal sich nun entscheide, dies in der richtigen Ordnung darzulegen, ist sehr schwer. Aber kaum war dieser Gedanke bei allen gleichzeitig aufgeblitzt, als sofort alle zusammen behaupteten, sie hätten das alles schon längst deutlich vorhergesehen; alles sei schon seit dem »armen Ritter«, ja schon früher klar gewesen, nur hätten sie damals an eine solche Abgeschmacktheit noch nicht glauben mögen. Das versicherten die Schwestern; natürlich hatte auch Lisaweta Prokofjewna früher als alle andern alles vorhergesehen und erkannt, und es hatte ihr schon längst ihres Gatten angehört hatte, durchbrach ihr Affekt alle Schranken.

Ihrer Meinung nach war alles, was vorgegangen war, ein unverzeihlicher, geradezu verbrecherischer Unsinn, ein dummes, abgeschmacktes Hirngespinst. »Erstens ist dieser Jammerfürst ein kranker Idiot, zweitens ein Dummkopf; er kennt weder die Welt, noch besitzt er eine Stellung in der Welt; wem soll man ihn präsentieren, wohin mit ihm? Er hat eine ganz unerlaubte demokratische Gesinnung und nicht den geringsten Dienstrang, und… und… was wird die alte Bjelokonskaja dazu sagen? Haben wir uns etwa einen solchen Mann für Aglaja gewünscht und in Aussicht genommen?« Das letzte Argument war selbstverständlich das wichtigste. Das Herz der Mutter zitterte bei diesem Gedanken und schwamm in Blut und Tränen, obwohl gleichzeitig im Innern dieses Herzens sich etwas regte und zu ihr sagte: ›In welcher Hinsicht ist eigentlich der Fürst kein solcher Schwiegersohn, wie ihr ihn braucht?‹ Und gerade diese Erwiderungen ihres eigenen Herzens waren es, die Lisaweta Prokofjewna am meisten zu schaffen machten.

Aglajas Schwestern gefiel der Gedanke an den Fürsten nicht übel; ja, dieser Gedanke schien ihnen nicht einmal besonders seltsam; kurz, es war nicht ausgeschlossen, daß sie plötzlich auf die Seite des Fürsten traten. Aber sie entschieden sich beide zu schweigen. Man hatte in der Familie ein für allemal die Beobachtung gemacht: je eigensinniger und hartnäckiger in einer die ganze Familie betreffenden Streitfrage Lisaweta Prokofjewnas Widerspruch und Widerstand war, um so mehr konnte dies allen als ein Anzeichen dafür dienen, daß sie vielleicht schon mit ihnen in dieser Streitfrage einverstanden war. Übrigens konnte Alexandra Iwanowna sich nicht völlig schweigsam verhalten. Die Mama, von der sie schon seit langer Zeit als Ratgeberin anerkannt war, rief sie jetzt alle Augenblicke zu sich und verlangte ihre Meinung zu hören; namentlich aber mußte Alexandra ihr mit ihrem Gedächtnis aushelfen. Die Mutter fragte zum Beispiel: wie das alles gekommen sei? Warum das niemand gesehen habe? Warum sie damals nichts gesagt hätten? Was damals dieser widerwärtige »arme Ritter« zu bedeuten gehabt habe? Warum sie, Lisaweta Prokofjewna, allein dazu verurteilt sei, für alle zu sorgen, auf alles aufzupassen und alles vorauszusehen, während alle übrigen nur Maulaffen feilhielten und so weiter und so weiter. Alexandra Iwanowna war anfangs vorsichtig und bemerkte nur, sie halte Papas Ansicht für ganz richtig, daß in den Augen der Welt die Wahl des Fürsten Myschkin zum Ehemann einer der Jepantschinschen Töchter möglicherweise als eine sehr vernünftige Handlung erscheinen werde. Allmählich redete sie sich in Eifer und fügte hinzu, der Fürst sei überhaupt kein »Dummkopf« und nie ein solcher gewesen, und was die Stellung in der Gesellschaft anlange, so könne noch kein Mensch wissen, was man in einigen Jahren bei uns in Rußland für die gesellschaftliche Stellung eines anständigen Menschen als notwendig erachten werde: die Bekleidung eines höheren Amtes, wie dies bisher erforderlich war, oder irgend etwas anderes. Auf all diese Bemerkungen antwortete die Mama sofort in aller Schärfe, Alexandra sei ein »Freigeist«, und all das komme von der »verdammten Frauenfrage« her. Eine halbe Stunde darauf begab sie sich in die Stadt und von dort nach dem »«, um die alte Bjelokonskaja zu besuchen, die zufällig gerade um diese Zeit nach Petersburg gekommen war, aber bald wieder abreisen wollte. Sie war Aglajas Patin.

Die »alte« Bjelokonskaja hörte Lisaweta Prokofjewnas fieberhafte, verzweifelte Bekenntnisse an, ohne sich durch die Tränen der fassungslosen Familienmutter im geringsten rühren zu lassen, ja sie blickte diese sogar recht spöttisch an. Sie war eine schreckliche Despotin; sie konnte sich nicht dazu herbeilassen, ihre Freundinnen, mochte die Freundschaft auch noch so alt sein, als ihr gleichstehende Personen zu behandeln, und auf Lisaweta Prokofjewna blickte sie, gerade wie vor dreißig Jahren, immer noch wie auf ihre protégée herab und konnte sich mit der Schroffheit und Selbständigkeit ihres Charakters nicht aussöhnen. Sie bemerkte unter anderm, sie schienen da alle nach ihrer ständigen Gewohnheit reichlich voreilig gewesen zu sein und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht zu haben; sie habe sich trotz genauesten Zuhörens nicht davon überzeugen können, daß bei ihnen tatsächlich etwas Ernsthaftes vorgegangen sei; ob es nicht das beste sei, noch ein Weilchen zu warten, bis sich etwas ereigne; der Fürst sei nach ihrer Meinung ein anständiger junger Mann, wenn er auch krank, sonderbar und recht unbedeutend sei. Das schlimmste sei, daß er sich ganz offen eine Geliebte halte. Lisaweta Prokofjewna merkte sehr wohl, daß die alte Bjelokonskaja auf sie ein bißchen böse war, weil der von ihr warm empfohlene Jewgenij Pawlowitsch bei der Familie keinen Erfolg gehabt hatte. Ihre Stimmung war bei der Rückkehr nach Pawlowsk noch gereizter als vor dieser Fahrt, und alle bekamen sofort gehörig etwas ab, vor allem, weil sie »ganz verrückt« geworden seien. In keiner Familie gehe es so zu wie bei ihnen. »Warum habt ihr es so eilig gehabt? Was ist denn vorgegangen? Soviel ich mich umsehe, ich kann nicht finden, daß wirklich etwas vorgegangen ist! Wartet erst einmal ab, bis sich etwas ereignet! Was Iwan Fjodorowitsch nicht alles vorschwebt! Aus einer Mücke soll man nicht gleich einen Elefanten machen.« Und so weiter.

Es lief darauf hinaus, man müsse sich beruhigen, kaltblütig beobachten und abwarten. Aber leider hielt die Ruhe keine zehn Minuten vor. Den ersten Stoß erhielt die Kaltblütigkeit durch die Nachrichten über das, was sich zugetragen hatte, während die Mama auf dem Kamennyj Ostrow gewesen war. (Lisaweta Prokofjewnas Fahrt hatte an dem Tag stattgefunden, an welchem der Fürst statt um zehn Uhr um ein Uhr gekommen war.) Die Schwestern antworteten auf die ungeduldigen Fragen der Mama sehr ausführlich. Es sei in ihrer Abwesenheit absolut nichts vorgefallen. Der Fürst sei gekommen; Aglaja sei lange, wohl eine halbe Stunde lang, nicht zu ihm hereingekommen; als sie dann endlich hereingekommen sei, habe sie dem Fürsten sofort eine Partie Schach angeboten; aber vom Schachspiel verstehe der Fürst so gut wie nichts, und Aglaja habe ihn sogleich besiegt; sie sei sehr lustig geworden, habe den Fürsten wegen seiner Unkenntnis schrecklich verspottet und ihn dermaßen ausgelacht, daß er einem habe leid tun können. Dann habe sie ihm den Vorschlag gemacht, mit ihr Karten zu spielen, und zwar Schafskopf. Aber dabei sei vorher überhaupt nicht mit ihm gezankt hätte; Kolja sei stehengeblieben und habe, ebenfalls, als ob er sich mit ihr nicht gezankt hätte, mit der größten Dienstbeflissenheit zurückgerufen: »Ich werde ihn schon nicht herausfallen lassen, Aglaja Iwanowna, seien Sie ganz unbesorgt!« und sei wieder spornstreichs weitergelaufen. Aglaja habe hierauf furchtbar gelacht, sei höchst zufrieden auf ihr Zimmer gegangen und dann den ganzen Tag über sehr lustig gewesen.

Durch diese Nachricht wurde Lisaweta Prokofjewna geradezu betäubt. Man könnte meinen: was war denn eigentlich vorgefallen? Aber sie war nun einmal in eine solche Stimmung hineingeraten. Ihre Unruhe stieg nun auf den höchsten Grad, und die Hauptsache war der Igel; was bedeutete der Igel? Was steckte dahinter? Was hatte das für einen geheimen Sinn? Was war das für ein Zeichen, was für ein Telegramm? Dazu kam noch, daß der arme Iwan Fjodorowitsch, der zufällig bei dem Verhör zugegen war, durch eine Antwort die ganze Sache vollständig verdarb. Seiner Meinung nach konnte von einem Telegramm überhaupt nicht die Rede sein, der Igel sei einfach ein Igel, weiter nichts, und bedeute vielleicht außerdem noch Freundschaft, Vergessen der Kränkungen, Versöhnung, kurz, das Ganze sei ein mutwilliger Streich, aber jedenfalls harmlos und verzeihlich.

In Klammern bemerken wir, daß er damit durchaus das Richtige getroffen hatte. Als der Fürst, von Aglaja verhöhnt und davongejagt, nach Hause zurückgekehrt war, hatte er schon eine halbe Stunde in der düstersten Verzweiflung dagesessen, als auf einmal Kolja mit dem Igel erschien. Sofort klärte sich der Himmel auf; der Fürst erstand gleichsam wieder von den Toten, fragte Kolja aus, klammerte sich an jedes Wort, das dieser sagte, erkundigte sich zehnmal nach derselben Sache, lachte wie ein Kind und drückte den beiden lachenden und ihn vergnügt anblickenden Knaben alle Augenblicke die Hände. Es war also klar, daß Aglaja ihm verzieh und er gleich heute abend wieder zu ihr gehen konnte, und das war für ihn nicht nur die Hauptsache, sondern geradezu alles.

»Was sind wir noch für Kinder, Kolja! Und… und… wie gut, daß wir noch Kinder sind!« rief er endlich entzückt aus.

»Es ist ganz einfach: sie ist in Sie verliebt, Fürst, weiter nichts!« antwortete Kolja nachdrücklich mit der Miene eines Sachverständigen.

Der Fürst wurde dunkelrot, erwiderte aber diesmal kein Wort, während Kolja nur lachte und in die Hände klatschte; einen Augenblick darauf fing auch der Fürst an zu lachen, und dann sah er bis zum Abend alle fünf Minuten nach der Uhr, ob schon viel Zeit vergangen und wieviel noch bis zum Abend übrig sei.

Aber für Lisaweta Prokofjewna war die Erregung doch zu stark; sie konnte sich schließlich nicht mehr beherrschen und überließ sich einer hysterischen Anwandlung. Trotz aller Einwände ihres Gatten und ihrer Töchter ließ sie unverzüglich Aglaja rufen, um ihr die entscheidende Frage vorzulegen und von ihr eine klare, entscheidende Antwort zu erhalten. »Die ganze Geschichte soll mit einemmal ein Ende nehmen«, erklärte sie, »wir müssen die Last von den Schultern loswerden, so daß künftig gar nicht mehr davon gesprochen wird! Sonst erlebe ich diesen Abend nicht mehr!« Erst in diesem Augenblick merkten alle, wie unsinnig weit sie die Sache hatten kommen lassen. Aber außer gekünstelter Verwunderung und Entrüstung sowie spöttischem Lachen über den Fürsten und alle Fragenden war von Aglaja nichts zu erreichen. Lisaweta Prokofjewna legte sich ins Bett und erschien erst wieder zum Tee, zu der Zeit, als der Fürst erwartet wurde. Sie erwartete den Fürsten mit großer Unruhe, und als er erschien, bekam sie beinahe wieder einen hysterischen Anfall.

Aber auch der Fürst selbst trat schüchtern ein, sozusagen tastend; er lächelte seltsam, blickte allen in die Augen und legte allen gewissermaßen eine Frage vor, weil Aglaja wieder nicht im Zimmer war, was ihn sofort beunruhigte. An diesem Abend war kein Fremder zugegen, sondern nur die Familienmitglieder. Fürst Schtsch. war noch in Petersburg wegen der Sache mit Jewgenij Pawlowitschs Onkel. ›Wenn doch wenigstens der da wäre und etwas redete!‹ dachte Lisaweta Prokofjewna bekümmert. Iwan Fjodorowitsch saß mit sehr sorgenvoller Miene da; die Schwestern waren ernsthaft und wie absichtlich schweigsam. Lisaweta Prokofjewna wußte nicht, womit sie ein Gespräch anfangen sollte. Endlich begann sie kräftig auf die Eisenbahn zu schimpfen und sah dabei den Fürsten herausfordernd an.

O weh! Aglaja erschien immer noch nicht, und dem Fürsten sank der Mut. Stammelnd und verwirrt äußerte er die Meinung, daß Reparaturen der Strecke allerdings sehr nützlich sein würden, aber Adelaida brach plötzlich in ein Gelächter aus, und der Fürst war wieder wie vernichtet. In dem gleichen Augenblick trat Aglaja ein, ruhig und würdevoll; sie erwiderte steif die Verbeugung des Fürsten und setzte sich feierlich auf den sichtbarsten Platz an dem runden Tisch. Sie blickte den Fürsten fragend an. Alle sagten sich, daß nun alle unklaren Fragen ihre Entscheidung finden würden.

»Haben Sie meinen Igel erhalten?« fragte sie ihn mit fester Stimme und beinah zornig.

»Ja, ich habe ihn erhalten«, antwortete der Fürst errötend und in ängstlicher Spannung.

»Sagen Sie unverzüglich, was Sie darüber denken! Das ist zur Beruhigung Mamas und unserer ganzen Familie unumgänglich notwendig.«

»Hör mal, Aglaja…«, begann der General beunruhigt.

»Das überschreitet ja alle Grenzen!« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken.

»Von Grenzen ist hier gar nicht die Rede, maman«, antwortete die Tochter sofort in sehr ernstem Ton. »Ich habe heute dem Fürsten einen Igel geschickt und wünsche seine Meinung kennenzulernen. Nun, reden Sie, Fürst!«

»Das heißt, was für eine Meinung, Aglaja Iwanowna?«

»Ihre Meinung über den Igel.«

»Das heißt… ich glaube, Aglaja Iwanowna, daß Sie wissen wollen, wie ich… den Igel aufgenommen habe… oder, besser gesagt, was ich über diese Zusendung… des Igels denke, das heißt… in diesem Fall nehme ich an, daß Sie… mit einem Wort…«

Der Atem ging ihm aus, und er verstummte.

»Nun, viel haben Sie gerade nicht gesagt«, bemerkte Aglaja, nachdem sie etwa fünf Sekunden gewartet hatte.

»Nun gut, ich bin einverstanden, daß wir den Igel beiseite lassen, aber ich freue mich sehr, daß ich endlich all den Unklarheiten, die sich angesammelt haben, ein Ende machen kann. Erlauben Sie also, daß ich Sie jetzt endlich ganz persönlich frage: halten Sie um meine Hand an oder nicht?«

»O Gott!« entfuhr es Lisaweta Prokofjewna.

Der Fürst zuckte zusammen und fuhr zurück. Iwan Fjodorowitsch war starr; die Schwestern machten finstere Gesichter.

»Lügen Sie nicht, Fürst! Sagen Sie die Wahrheit! Man verfolgt mich Ihretwegen mit seltsamen Fragen; haben diese Fragen irgendeine Begründung? Nun?«

»Ich habe nicht um Ihre Hand angehalten, Aglaja Iwanowna«, sagte der Fürst, der plötzlich lebhaft wurde, »aber… Sie wissen selbst, wie ich Sie liebe und an Sie glaube… sogar jetzt…«

»Ich fragte Sie: halten Sie um meine Hand an oder nicht?«

»Ja, ich tue es«, erwiderte der Fürst beklommen.

Auf diese Worte folgte eine allgemeine, starke Bewegung.

»So geht das nicht, mein Kind«, sagte Iwan Fjodorowitsch in starker Erregung. »Das…das ist beinah unerhört, Glascha… Verzeihen Sie, Fürst, verzeihen Sie, mein Teuerster!… Lisaweta Prokofjewna!« wandte er sich an seine Gattin um Hilfe, »es wird nötig sein… zu überlegen…«

»Ich weigere mich, ich weigere mich!« rief Lisaweta Prokofjewna mit abwehrenden Handbewegungen.

»Gestatten Sie auch mir zu reden, maman; ich bin in einer solchen Angelegenheit doch auch von einiger Wichtigkeit: dies ist der Augenblick, in dem sich mein Schicksal entscheidet« (genau so drückte Aglaja sich aus), »und ich will selbst Bescheid wissen und freue mich außerdem, daß es in Gegenwart aller geschieht… Wenn Sie also ›ernste Absichten haben‹, Fürst, so gestatten Sie mir die Frage, wodurch Sie mich eigentlich glücklich zu machen gedenken!«

»Ich weiß wirklich nicht, Aglaja Iwanowna, was ich Ihnen antworten soll; was… was soll ich da antworten? Und dann… ist es denn notwendig?«

»Sie scheinen verlegen geworden zu sein und keine Luft zu bekommen; erholen Sie sich ein wenig und sammeln Sie neue Kraft; trinken Sie ein Glas Wasser; übrigens wird auch gleich Tee gebracht.«

»Ich liebe Sie, Aglaja Iwanowna, ich liebe Sie sehr, ich liebe nur Sie allein und… bitte treiben Sie keinen Scherz, ich liebe Sie sehr.«

»Aber das ist doch schließlich eine wichtige Sache; wir sind keine Kinder und müssen es vom praktischen Standpunkt aus ansehen… Haben Sie jetzt die Güte anzugeben, worin Ihr Vermögen besteht!«

»Aber, aber, Aglaja! Was redest du! Das ist ja ungehörig, ganz ungehörig…«, murmelte Iwan Fjodorowitsch erschrocken.

»Eine Schande!« flüsterte Lisaweta Prokofjewna laut.

»Sie ist verrückt geworden!« flüsterte Alexandra ebenso laut.

»Mein Vermögen… das heißt mein Geld?« fragte der Fürst erstaunt.

»Ganz richtig.«

»Ich besitze… ich besitze jetzt hundertfünfunddreißigtausend Rubel«, murmelte der Fürst errötend.

»Mehr nicht?« fragte Aglaja laut und in aufrichtiger Verwunderung, ohne irgendwie zu erröten. »Übrigens, das macht nichts, namentlich bei sparsamer Wirtschaft… Beabsichtigen Sie, ein Amt anzunehmen?«

»Ich wollte die Hauslehrerprüfung ablegen…«

»Sehr schön, das wird natürlich unsere Mittel vermehren. Haben Sie vor, Kammerjunker zu werden?«

»Kammerjunker? Daran habe ich nie gedacht; aber…«

Aber hier konnten sich die beiden Schwestern nicht mehr halten und prusteten vor Lachen los. Adelaida hatte schon lange in Aglajas zuckenden Gesichtsmuskeln die Vorzeichen eines eilig nahenden, unbezwinglichen Gelächters bemerkt, das Aglaja vorläufig noch mit aller Kraft unterdrückte. Aglaja wollte den lachenden Schwestern einen drohenden Blick zuwerfen, konnte sich aber selbst keine Sekunde länger beherrschen und brach ebenfalls in ein tolles, fast hysterisches Gelächter aus; schließlich sprang sie auf und lief aus dem Zimmer.

»Das habe ich doch gewußt, daß es nur ein Spaß war und weiter nichts!« rief Adelaida. »Von Anfang an, schon mit dem Igel!«

»Nein, das kann ich nicht mehr dulden, das kann ich nicht mehr dulden!« rief Lisaweta Prokofjewna, in heftigem Zorn aufbrausend, und lief schnell hinter Aglaja her. Auch die Schwestern eilten sofort der Mutter nach. Im Zimmer blieben nur der Fürst und das Oberhaupt der Familie.

»Das, das ist ja… kannst du dir so etwas vorstellen, Lew Nikolajitsch?« rief der General heftig; er wußte offenbar selbst nicht, was er sagen wollte. »Nein, im Ernst, sage im Ernst!«

»Ich sehe, daß Aglaja Iwanowna sich über mich lustig gemacht hat«, antwortete der Fürst traurig.

»Warte einen Augenblick, Bruder; ich will hingehen, und du wartest hier… denn… erkläre wenigstens du mir, Lew Nikolajitsch, wie das alles gekommen ist und was das alles sozusagen für einen Zweck verfolgt! Du mußt selbst zugeben, Bruder, ich bin schließlich der Vater, aber obwohl ich der Vater bin, verstehe ich überhaupt nichts mehr. Also gib wenigstens du mir eine Erklärung!«

»Ich liebe Aglaja Iwanowna; das weiß sie und… ich meine, sie weiß es schon lange.«

Der General zuckte mit den Achseln.

»Seltsam, seltsam… du liebst sie sehr?«

»Ja, ich liebe sie sehr.«

»Das alles kommt mir so seltsam vor, so seltsam! Ich meine, es ist eine solche Überraschung, etwas so Unerwartetes, daß… Siehst du, mein Lieber, ich will nicht von deinem Vermögen reden (obwohl ich geglaubt hatte, daß du mehr besäßest), aber… das Glück meiner Tochter muß mir… und schließlich… bist du denn imstande, sie sozusagen… glücklich zu machen? Und… und… was war das? War das von ihrer Seite Spaß oder Ernst? Ich meine nicht von deiner Seite, sondern von ihrer Seite?«

Hinter der Tür ließ sich Alexandra Iwanownas Stimme vernehmen; sie rief den Papa.

»Warte einen Augenblick, Bruder, warte! Warte und denke über die Sache nach, ich komme gleich wieder…«, sagte er hastig und leistete eilig und beinah erschrocken dem Ruf seiner Tochter Folge.

Er fand folgende Gruppe vor: seine Gattin und Aglaja lagen sich in den Armen und zerflossen in Tränen. Es waren Tränen der Glückseligkeit, der Rührung und der Versöhnung. Aglaja küßte ihrer Mutter die Hände, die Wangen, die Lippen; beide hielten sich fest umschlungen.

»Also da ist sie, sieh sie dir an, Iwan Fjodorytsch! Da hast du sie jetzt ganz, wie sie ist!« sagte Lisaweta Prokofjewna.

Aglaja wandte ihr glückseliges, verweintes Gesichtchen von der Brust der Mama weg, blickte den Papa an, lachte laut auf, sprang zu ihm hin, umarmte ihn kräftig und küßte ihn mehrmals. Dann stürzte sie wieder zur Mutter und verbarg ihr Gesicht völlig an deren Brust, so daß es niemand mehr sehen konnte, und begann gleich wieder zu weinen. Lisaweta Prokofjewna bedeckte sie mit dem Ende ihres Schals.

»Aber was in aller Welt richtest du uns denn nur an, du grausames Mädchen; denn so muß man dich nach solchem Benehmen nennen!« sagte sie, aber in freudigem Ton, als ob sie jetzt leichter atme.

»Ich bin grausam, ja, grausam!« fiel Aglaja ein. »Ich bin unartig! Verwöhnt! Sagen Sie es Papa! Ach, er ist ja hier. Papa, sind Sie hier? Hören Sie doch!« rief sie, unter Tränen lachend.

»Mein liebes Kind, mein Abgott!« rief der General und küßte ihr strahlend vor Glückseligkeit die Hand, die Aglaja ihm nicht entzog. »Also du liebst diesen jungen Mann?«

»Nein, nein, nein! Ich kann… Ihren jungen Mann nicht leiden, ich kann ihn nicht leiden!« rief Aglaja plötzlich aufbrausend und hob den Kopf. »Und wenn Sie, Papa, es noch einmal wagen… ich sage Ihnen das ganz im Ernst; hören Sie: ganz im Ernst!«

Sie sprach wirklich im Ernst: sie war sogar ganz rot geworden, und ihre Augen blitzten. Der Papa schwieg erschrocken; aber Lisaweta Prokofjewna machte ihm, ohne daß Aglaja es merkte, ein Zeichen, und er verstand, was es bedeuten sollte: ›Frage nicht weiter!‹

»Wenn es so steht, mein Engel, nun, dann wie du willst, meinetwegen, er wartet dort allein; sollen wir ihm nicht auf zarte Weise andeuten, daß er fortgehen möchte?«

Dabei zwinkerte der General seinerseits Lisaweta Prokofjewna zu.

»Nein, nein, ganz unnötig, noch dazu, wenn es ›auf zarte Weise‹ geschieht: gehen Sie selbst zu ihm hin; ich werde dann auch gleich kommen. Ich will diesen … diesen jungen Mann um Entschuldigung bitten, denn ich habe ihn gekränkt.«

»Und sehr hast du ihn gekränkt«, bestätigte Iwan Fjodorowitsch ernst.

»Nun, dann… bleibt lieber alle hier, ich werde zuerst allein hingehen, kommt mir dann gleich nach, in einer Sekunde! So wird es das beste sein!«

Sie war schon zur Tür gegangen, drehte sich aber plötzlich wieder um.

»Ich werde loslachen! Ich werde vor Lachen sterben!« sagte sie traurig.

Aber in demselben Augenblick wandte sie sich um und lief zum Fürsten.

»Nun, was soll das alles heißen? Wie denkst du darüber?« fragte Iwan Fjodorowitsch rasch.

»Ich fürchte mich, es auszusprechen«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna ebenso schnell. »Aber meiner Ansicht nach ist die Sache klar.«

»Auch nach meiner Ansicht ist sie klar. Klar wie der Tag. Sie liebt.«

»Sie liebt nicht nur, sie ist restlos verliebt!« erklärte Alexandra Iwanowna. »Aber in wen denn nun eigentlich?«

»Gott segne sie, wenn das nun einmal ihr Schicksal ist!« sagte Lisaweta Prokofjewna, sich fromm bekreuzigend.

»Schicksal«, bestätigte der General, »und seinem Schicksal kann man nicht entgehen!«

Alle gingen in den Salon; dort erwartete sie eine neue Überraschung.

Aglaja lachte, als sie zu dem Fürsten trat, nicht los, wie sie das befürchtet hatte, sondern sagte im Gegenteil schüchtern zu ihm:

»Verzeihen Sie einem dummen, schlechten, verzogenen Mädchen« (sie ergriff seine Hand) »und seien Sie überzeugt, daß wir alle Sie außerordentlich hochschätzen! Und wenn ich Ihre schöne… gütige Herzenseinfalt zu verspotten wagte, so bitte ich Sie, es mir zu verzeihen, wie man einem Kind eine Unart verzeiht; verzeihen Sie, daß ich so auf einer Dummheit beharrte, die natürlich nicht die geringsten Folgen haben darf…«

Die letzten Worte sprach Aglaja mit besonderem Nachdruck.

Der Vater, die Mutter und die Schwestern kamen alle noch früh genug in den Salon, um dies alles zu sehen und mit anzuhören, und waren alle überrascht von der »Dummheit, die nicht die geringsten Folgen haben dürfe«, und noch mehr von der ernsten Stimmung, in der Aglaja von dieser Dummheit sprach. Alle sahen einander fragend an, aber der Fürst schien diese Worte gar nicht verstanden zu haben und war auf dem Gipfel der Glückseligkeit.

»Warum reden Sie so?« murmelte er. »Warum bitten Sie… um Verzeihung?…«

Er wollte sogar sagen, er sei dessen nicht würdig, um Verzeihung gebeten zu werden. Wer weiß, vielleicht hatte er auch den Sinn der Worte »eine Dummheit, die nicht die geringsten Folgen haben darf«, verstanden und freute sich, ein sonderbarer Mensch, wie er nun einmal war, über diese Worte. Unstreitig bildete es für ihn schon den Gipfel der Seligkeit, daß er wieder ungehindert zu Aglaja kommen, mit ihr reden, mit ihr Spazierengehen durfte, und wer weiß, vielleicht wäre er damit sein ganzes Leben lang zufrieden gewesen! (Gerade diese Genügsamkeit war es wohl, was Lisaweta Prokofjewna im stillen fürchtete; sie erriet sie und hegte im stillen viele Befürchtungen, die sie selbst nicht deutlich auszusprechen wußte.)

Man kann sich nur schwer eine Vorstellung davon machen, wie lebhaft und munter sich der Fürst an diesem Abend zeigte. Er war so heiter, daß man bei seinem Anblick selbst heiter wurde, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten. Er war gesprächig, und das hatte sich bei ihm seit jenem Vormittag, an dem er vor einem halben Jahre zuerst die Bekanntschaft der Familie Jepantschin gemacht hatte, nicht wiederholt; nach seiner Rückkehr nach Petersburg war er in auffälliger Weise betont schweigsam gewesen und hatte erst kürzlich in Gegenwart aller zum Fürsten Schtsch. gesagt, er müsse sich beherrschen und schweigen, da er eine Idee nicht dadurch entwürdigen dürfe, daß er sie darlege. An diesem Abend redete er fast allein und erzählte viel; auf Fragen antwortete er freudig, klar und eingehend. Aber in seinen Worten war nichts zu entdecken, was an die Sprache eines Verliebten erinnert hätte. Es waren lauter ernste, zum Teil sogar schwierige Gedanken. Der Fürst trug sogar einige eigene Ansichten, einige eigene heimliche Beobachtungen vor, so daß das alles sogar einen lächerlichen Eindruck gemacht hätte, wäre nicht die »schöne Darstellung« gewesen, wie nachher alle Zuhörer übereinstimmend erklärten. Zwar liebte der General ernste Gesprächsthemen, aber sowohl er als auch Lisaweta Prokofjewna fanden im stillen, daß das Gespräch doch gar zu gelehrt sei, so daß sie gegen Ende des Abends geradezu traurig wurden. Übrigens wurde der Fürst zuletzt so übermütig, daß er ein paar sehr komische Anekdoten erzählte, über die er selbst zuallererst lachte, so daß die andern dann schon mehr über sein fröhliches Lachen als über die Anekdoten lachten. Was Aglaja anlangte, so redete sie den ganzen Abend fast gar nicht; dafür hörte sie, wenn Lew Nikolajewitsch sprach, zu, ohne die Augen von ihm abzuwenden; es schien sogar, als wäre ihr das Ansehen noch wichtiger als das Zuhören.

»Sie sieht ihn fortwährend an und wendet kein Auge von ihm, sie hascht ordentlich nach jedem Wort von ihm und klammert sich daran fest!« sagte Lisaweta Prokofjewna nachher zu ihrem Gatten. »Aber wenn man ihr sagt, daß sie ihn liebt, dann ist der Teufel los!«

»Was ist zu machen? Es ist ihr Schicksal!« erwiderte der General achselzuckend. Noch mehrmals wiederholte er diese seine Lieblingsredensart. Wir wollen noch hinzufügen, daß ihm als Geschäftsmann an der augenblicklichen Lage der Dinge ebenfalls vieles sehr mißfiel, namentlich die herrschende Unklarheit, aber auch er entschied sich vorläufig dafür, zu schweigen und … nach Lisaweta Prokofjewnas Augen zu blicken.

Die freudige Stimmung der Familie hielt nicht lange an. Schon am folgenden Tag zankte sich Aglaja wieder mit dem Fürsten, und das setzte sich ohne Unterbrechung an allen folgenden Tagen fort. Ganze Stunden machte sie den Fürsten lächerlich und behandelte ihn beinah wie einen Hanswurst. Allerdings saßen sie manchmal eine oder zwei Stunden lang zusammen in der Laube des Hausgärtchens, aber die andern beobachteten, daß der Fürst während dieser Zeit Aglaja fast immer aus der Zeitung oder einem Buche vorlas.

»Wissen Sie«, sagte Aglaja einmal zu ihm, indem sie ihn beim Vorlesen der Zeitung unterbrach, »ich habe bemerkt, daß Sie furchtbar ungebildet sind; wenn man Sie nach etwas fragt, nichts wissen Sie ordentlich: weder wer was getan hat, noch in welchem Jahr etwas geschehen ist, noch auf Grund welches Vertrages. Das ist kläglich.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich keine große Gelehrsamkeit besitze«, erwiderte der Fürst.

»Was bleibt denn dann noch an Ihnen übrig? Wie kann ich Sie dann achten? Lesen Sie weiter; übrigens, es ist nicht nötig, hören Sie auf damit!«

Und an demselben Abend veranstaltete sie wieder ein für alle rätselhaftes Intermezzo. Fürst Schtsch. war zurückgekehrt. Aglaja benahm sich ihm gegenüber sehr freundlich und fragte ihn viel nach Jewgenij Pawlowitsch. (Fürst Lew Nikolajewitsch war noch nicht gekommen.) Auf einmal erlaubte sich Fürst Schtsch. auf »die nahe bevorstehende neue Umwälzung in der Familie« hinzudeuten, und zwar infolge einer Bemerkung, die Lisaweta Prokofjewna sich hatte entschlüpfen lassen, daß nämlich Adelaidas Hochzeit vielleicht nochmals verschoben werden müsse, damit beide Hochzeiten zusammen begangen werden könnten. Es war nicht zu fassen, in was für einen Zorn Aglaja über »all diese dummen Vermutungen« geriet, und unter anderm entfuhren ihr die Worte, sie habe »noch nicht die Absicht, die Nachfolgerin der Mätressen irgend jemandes zu werden«.

Durch diese Worte wurden alle und ganz besonders die Eltern in das höchste Erstaunen versetzt. Lisaweta Prokofjewna sprach in einer geheimen Beratung mit ihrem Mann das dringende Verlangen aus, es solle mit dem Fürsten eine endgültige Auseinandersetzung über sein Verhältnis zu Nastasja Filippowna stattfinden.

Iwan Fjodorowitsch erwiderte, er wolle darauf schwören, daß das alles nur eine durch Aglajas »Schamhaftigkeit« verursachte »Extravaganz« sei; hätte Fürst Schtsch. nicht angefangen, von der Hochzeit zu reden, so wäre es zu dieser Extravaganz gar nicht gekommen, denn Aglaja wisse selbst zuverlässig, daß das alles nur Klatsch schlechter Menschen sei und Nastasja Filippowna sich mit Rogoshin verheiraten werde; der Fürst habe, von einer Verbindung ganz zu schweigen, mit ihr überhaupt nichts zu schaffen und niemals etwas mit ihr zu schaffen gehabt, wenn man schon die reine Wahrheit sagen wolle.

Aber der Fürst ließ sich durch nichts irremachen und fuhr fort, in Seligkeit zu schwelgen. Freilich bemerkte auch er mitunter einen düsteren, ungeduldigen Ausdruck in Aglajas Blicken, aber er führte dies auf andere Gründe zurück, und der düstere Ausdruck verschwand dann auch von selbst wieder. Einmal überzeugt, ließ er sich in seiner Überzeugung durch nichts wankend machen. Vielleicht war er doch gar zu ruhig; wenigstens war Ippolit, der ihm zufällig einmal im Park begegnete, dieser Ansicht.

»Nun, habe ich Ihnen damals nicht die Wahrheit gesagt, als ich es aussprach, daß Sie verliebt seien?« begann er, indem er an den Fürsten herantrat und ihn anhielt. Dieser streckte ihm die Hand hin und beglückwünschte ihn zu seinem »guten Aussehen«. Der Kranke schien auch selbst mehr Mut zu haben, wie das Schwindsüchtigen eigen ist.

Er war auf den Fürsten mit der Absicht zugegangen, ihm eine giftige Bemerkung über seine glückselige Miene zu machen, jedoch kam er gleich wieder davon ab und begann von sich selbst zu reden. Er fing an zu klagen und klagte viel und lange und ziemlich zusammenhanglos.

»Sie glauben gar nicht«, sagte er zum Schluß, »was für reizbare, kleinliche, egoistische, eitle und gewöhnliche Menschen sie dort alle sind; können Sie sich vorstellen, daß sie mich nur unter der Bedingung aufgenommen haben, daß ich möglichst bald sterbe, und nun alle wütend sind, weil ich noch nicht sterbe, sondern mich im Gegenteil besser fühle? Es ist die reine Komödie! Ich möchte wetten, daß Sie es mir nicht glauben!«

Der Fürst mochte ihm nicht widersprechen.

»Ich denke sogar manchmal daran, wieder zu Ihnen überzusiedeln«, fügte Ippolit in lässigem Ton hinzu. »Sie halten also diese Leute doch nicht für fähig, einen Menschen unter der Bedingung aufzunehmen, daß er bestimmt und möglichst bald stirbt?«

»Ich glaubte, sie hätten Sie mit anderen Absichten zu sich eingeladen.«

»Aha! Sie sind gar nicht so einfältig, wie man von Ihnen behauptet! Ich habe jetzt nur keine Zeit, sonst würde ich Ihnen über diesen Ganja und seine Hoffnungen ein Licht aufstecken. Man wühlt gegen Sie, Fürst, wühlt gegen Sie erbarmungslos, und… es ist ordentlich zu bedauern, daß Sie dabei so ruhig sind. Aber das liegt leider in Ihrer Natur!«

»Nun sehen Sie einmal an, weswegen Sie mich bedauern!« erwiderte der Fürst lachend. »Würde ich denn etwa nach Ihrer Meinung glücklicher sein, wenn ich unruhiger wäre?«

»Es ist besser, unglücklich zu sein, aber zu wissen, als glücklich zu sein und… ein Narr zu sein. Wie es scheint, wollen Sie durchaus nicht glauben, daß Sie eine Nebenbuhlerschaft zu fürchten haben… und zwar von jener Seite?«

»Was Sie da über Nebenbuhlerschaft sagen, ist etwas zynisch, Ippolit; es tut mir leid, daß ich kein Recht habe, Ihnen darauf zu antworten. Was Gawrila Ardalionowitsch anlangt, so kann er ja nach einem so großen Verlust, wie er ihn erlitten hat, unmöglich ruhig bleiben; das werden Sie selbst zugeben müssen, selbst wenn Sie von seinen Angelegenheiten nur wenig wissen. Es scheint mir, daß man die Sache am besten von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet. Er hat noch Zeit, sich zu ändern, er hat noch ein langes Leben vor sich, und das Leben ist reich… Übrigens… übrigens« (hier geriet der Fürst in Verwirrung) »was das Wühlen betrifft… so verstehe ich nicht einmal, wovon Sie reden; lassen wir dieses Gespräch lieber, Ippolit.«

»Lassen wir es vorläufig; Sie bekommen es ja auch gar nicht fertig, sich anders als edelmütig zu benehmen. Ja, Fürst, Sie glauben so lange, bis Sie das Gegenteil mit eigenen Fingern fühlen, haha! Jetzt verachten Sie mich wohl sehr, nicht wahr?«

»Weswegen sollte ich das tun? Weil Sie mehr gelitten haben und leiden als wir?«

»Nein, weil ich meines Leidens nicht würdig bin.«

»Wer mehr hat leiden können, muß auch würdig sein, mehr zu leiden. Als Aglaja Iwanowna Ihre Beichte gelesen hatte, wünschte sie, Sie zu sehen, aber …«

»Sie schiebt es auf … sie darf es nicht, ich verstehe, ich verstehe …«, unterbrach ihn Ippolit, als wäre er bemüht, das Gespräch möglichst bald von diesem Gegenstand abzulenken. »Übrigens, man sagt, Sie selbst hätten ihr dieses ganze verrückte Zeug vorgelesen, es ist wirklich im Fieberwahn geschrieben und … fabriziert worden. Und ich verstehe nicht, was für eine, ich will nicht sagen Grausamkeit (das wäre für mich erniedrigend), aber was für eine kindische Eitelkeit und Rachsucht dazu gehört, mir diese Beichte zum Vorwurf zu machen und sie als Waffe gegen mich zu benutzen! Beunruhigen Sie sich nicht, ich sage das nicht mit Bezug auf Sie …«

»Aber es tut mir leid, daß Sie sich von diesem Heft lossagen, Ippolit, es ist mit großer Aufrichtigkeit geschrieben, und, wissen Sie, selbst seine komischsten Stellen, und es gibt ihrer viele« (Ippolit runzelte heftig die Stirn), »sind mit Leiden erkauft, denn schon das darin Mitgeteilte zu bekennen, war ebenfalls ein Leiden und… vielleicht die größte Mannhaftigkeit. Der Gedanke, von dem Sie sich dabei leiten ließen, hatte jedenfalls eine edle Grundlage, trotz allen gegenteiligen Scheins. Ich versichere Sie: ich erkenne das um so klarer, aus je weiterer Entfernung ich es betrachte. Ich fälle über Sie kein Urteil, ich sage das nur, um mich auszusprechen, und bedaure, daß ich damals geschwiegen habe…«

Ippolit wurde dunkelrot. In seinem Kopf blitzte für einen Augenblick der Gedanke auf, daß der Fürst sich nur verstelle und ihm eine Schlinge lege, aber als er ihm genauer ins Gesicht sah, konnte er doch nicht umhin, an seine Aufrichtigkeit zu glauben, und seine Miene hellte sich auf.

»Aber sterben muß ich dennoch!« sagte er und hätte beinah hinzugefügt: ›Ein Mensch wie ich!‹ »Und denken Sie sich nur, wie mich Ihr Ganjetschka zurechtweist; er hat sich diese Entgegnung ausgedacht: es würden von denen, die damals der Vorlesung meines Heftes beigewohnt hätten, drei oder vier am Ende vielleicht noch früher sterben als ich! Was sagen Sie dazu? Er meint, das werde für mich ein Trost sein, haha! Erstens sind sie noch nicht gestorben, und selbst wenn diese Leute bald wegsterben sollten, was ist das für mich für ein Trost, sagen Sie selbst! Er urteilt nach sich; übrigens ist er sogar noch weiter gegangen: er schimpft jetzt einfach und sagt, ein ordentlicher Mensch sterbe in solchem Falle schweigend, und hinter meinem ganzen Verhalten stecke weiter nichts als Egoismus! Was sagen Sie dazu! Nein, was ist das seinerseits für ein Egoismus! Wie raffiniert oder, richtiger gesagt, gleichzeitig wie stiermäßig roh ist der Egoismus dieser Leute, den sie trotzdem an sich gar nicht wahrzunehmen vermögen!… Haben Sie, Fürst, einmal etwas vom Tod Stepan Glebows im achtzehnten Jahrhundert gelesen? Ich las zufällig gestern etwas darüber…«

»Was für ein Stepan Glebow?«

»Er wurde unter Peter dem Großen gepfählt.«

»Ach mein Gott, ja, ich weiß! Er steckte fünfzehn Stunden lang am Pfahl, in der Kälte, nur mit einem Pelz bekleidet, und starb mit außerordentlichem Heldenmut; gewiß, ich habe es gelesen… Aber was soll das?«

»Manchem beschert Gott einen solchen Tod, aber unsereinem nicht! Sie meinen vielleicht, ich sei nicht imstande, so zu sterben wie Glebow?«

»Oh, das meine ich ganz und gar nicht«, erwiderte der Fürst verlegen, »ich wollte nur sagen, daß Sie… das heißt, nicht als ob Sie es Glebow nicht gleichtun würden, sondern… daß Sie… daß Sie dann vielmehr…«

»Ich errate es: Sie meinen, ich würde ein Osterman sein und kein Glebow? Das wollten Sie sagen?«

»Was für ein Osterman?« fragte der Fürst verwundert.

»Osterman, der Diplomat Osterman, der Zeitgenosse Peters«, murmelte Ippolit, der auf einmal etwas verlegen wurde. Der Fürst verstand ihn nicht sofort.

»O n-n-nein!« sagte er dann nach einigem Stillschweigen, indem er das Wort dehnte. »Ich möchte meinen… Sie würden nie ein Osterman sein.«

Ippolit machte ein finsteres Gesicht.

»Ich behaupte das übrigens deshalb«, fuhr der Fürst, offensichtlich bemüht, sich zu verbessern, fort, »weil die damaligen Menschen (ich kann versichern, daß mir das von jeher aufgefallen ist) sozusagen nicht dieselben Menschen waren wie die jetzigen, nicht derselbe Schlag wie jetzt in unserm Jahrhundert, wirklich wie eine andere Rasse… Damals waren die Menschen von einer einzigen Idee erfüllt; jetzt sind sie nervöser, mehr entwickelt, sensitiver, mit zwei, drei Ideen gleichzeitig beschäftigt… Der jetzige Mensch ist vielseitiger, und nach meiner Überzeugung hindert ihn das, ein so einheitlicher Mensch zu sein wie in jenen Jahrhunderten… Ich… ich habe das nur in diesem Sinne gesagt und nicht…«

»Ich verstehe; Sie versuchen jetzt, mich zu trösten, um die Naivität wiedergutzumachen, mit der sie anderer Meinung waren als ich, haha! Sie sind das reine Kind, Fürst! Ich bemerke jedoch, daß Sie alle mich wie… wie eine Porzellantasse behandeln… Nun, das tut nichts, das tut nichts, ich nehme es nicht übel. Jedenfalls hat sich das Gespräch zwischen uns recht komisch gestaltet; Sie sind manchmal noch das reinste Kind, Fürst. Lassen Sie sich übrigens sagen, daß ich vielleicht gewünscht habe, noch etwas Besseres zu sein als ein Osterman; um ein Osterman zu sein, würde es sich nicht lohnen, von den Toten aufzuerstehen… Aber ich sehe ein, daß ich guttun werde, möglichst bald zu sterben, sonst werde ich selbst… Lassen Sie mich nur in Ruhe! Auf Wiedersehn! Nun gut, dann sagen Sie mir einmal selbst, wie ich nach Ihrer Meinung am besten sterben würde… damit es recht… tugendhaft aussieht, meine ich. Nun, so reden Sie!«

»Gehen Sie an uns vorüber, und verzeihen Sie uns unser Glück!« sagte der Fürst mit leiser Stimme.

»Hahaha! Hatte ich es mir doch gedacht! Ich habe erwartet, daß unfehlbar so etwas kommen würde! Aber Sie… aber Sie… Nun ja, schöne Phrasen haben diese Leute immer zur Hand! Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!«

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