Kapitel 41

III

Der Skandal mit dem General wäre zu jeder anderen Zeit spurlos im Sande verlaufen. Es waren bei ihm auch früher schon derartige Fälle von plötzlicher Störrigkeit vorgekommen, jedoch nur recht selten, da er im allgemeinen ein sehr friedlicher Mensch war und zur Gutherzigkeit neigte. Er hatte wohl hundertmal den Kampf mit der Verlotterung aufgenommen, die sich seiner in den letzten Jahren bemächtigt hatte. Er erinnerte sich dann plötzlich, daß er »der Vater der Familie« sei, versöhnte sich mit seiner Frau und vergoß aufrichtige Tränen. Er verehrte Nina Alexandrowna bis zur Vergötterung zum Dank dafür, daß sie ihm so vieles schweigend verzieh und ihn trotz seines clownhaften, unwürdigen Benehmens immer noch liebte. Aber dieser hochherzige Kampf mit der Verlotterung dauerte gewöhnlich nicht lange; der General war doch eine zu »impulsive« Natur, wenigstens in seiner Art; er konnte das ruhige Büßerleben in seiner Familie gewöhnlich nicht ertragen und revoltierte schließlich dagegen; er geriet dann in heftigen Zorn, über den er sich vielleicht selbst im gleichen Augenblick Vorwürfe machte, aber er konnte es eben nicht aushalten: er fing Streit an, begann hochmütige, pathetische Reden zu führen, verlangte seiner Person gegenüber einen maßlosen, ganz unmöglichen Respekt und verschwand schließlich aus dem Haus, manchmal sogar auf lange Zeit. In den letzten zwei Jahren hatte er von den Angelegenheiten seiner Familie nur ganz allgemein oder nur vom Hörensagen Kenntnis; sich näher darum zu kümmern, hatte er aufgegeben, da er dazu nicht die geringste Veranlagung verspürte.

Aber dieses Mal war bei dem »Skandal mit dem General« etwas Besonderes hervorgetreten; alle schienen etwas zu wissen, wovon sie sich zu reden fürchteten. Der General war erst drei Tage vorher bei der Familie, das heißt bei Nina Alexandrowna, »formell« wieder erschienen, aber nicht in der demütigen, reuigen Stimmung, in der er sich in früheren Fällen immer »zurückzumelden« pflegte, sondern im Gegenteil in außerordentlich reizbarer Verfassung. Er war redselig und unruhig, knüpfte mit jedem, der ihm in den Weg kam, ein eifriges Gespräch an und stürzte sich dabei geradezu auf die Menschen, redete aber immer über so bunte, unerwartete Themen, daß man gar nicht begreifen konnte, was ihn eigentlich jetzt so aufregte. Zeitweilig war er heiter, meist aber nachdenklich, ohne daß er übrigens selbst gewußt hätte, worüber er nachdachte; auf einmal begann er etwas zu erzählen, von Jepantschins, vom Fürsten, von Lebedew, brach dann aber plötzlich wieder ab, hörte gänzlich auf zu reden, antwortete auf weitere Fragen nur mit einem stumpfsinnigen Lächeln, ohne übrigens zu bemerken, daß man ihn fragte und er lächelte. Die letzte Nacht hatte er ächzend und stöhnend verbracht und seine Frau, die ihm die ganze Nacht über heiße Umschläge gemacht hatte, halbtot gequält; erst gegen Morgen war er eingeschlafen, hatte vier Stunden lang geschlafen und war in einem Anfall von sehr starker, seltsamer Hypochondrie erwacht, die dann dazu führte, daß er mit Ippolit in Streit geriet und einen »Fluch über dieses Haus« aussprach. Es war auch aufgefallen, daß er in diesen drei Tagen beständig ein sehr starkes Ehrgefühl bekundete und infolgedessen ungewöhnlich empfindlich war. Kolja allerdings behauptete der Mutter gegenüber beharrlich, das sei alles nur Sehnsucht nach dem Alkohol und vielleicht nach Lebedew, mit dem sich der General in letzter Zeit außerordentlich angefreundet hatte. Aber drei Tage vorher hatte er sich mit Lebedew auf einmal heftig gezankt und sich in schrecklicher Wut von ihm getrennt, und sogar mit dem Fürsten hatte es eine Szene gegeben. Kolja hatte den Fürsten um Aufklärung gebeten und war schließlich auf die Vermutung gekommen, daß auch dieser ihm irgend etwas nicht sagen wollte. Wenn wirklich, wie Ganja mit größter Bestimmtheit annahm, ein besonderes Gespräch zwischen Ippolit und Nina Alexandrowna stattgefunden hatte, so war es doch merkwürdig, daß dieser boshafte Herr, den Ganja so geradezu ein Klatschmaul nannte, kein Vergnügen daran gefunden hatte, auch Kolja in derselben Weise aufzuklären. Sehr möglich, daß er gar kein boshafter »Bube« von der Art war, wie ihn Ganja in seinem Gespräch mit der Schwester geschildert hatte, sondern in anderer Weise boshaft; und er hatte auch Nina Alexandrowna eine gewisse von ihm gemachte Beobachtung wohl kaum nur zu dem Zweck mitgeteilt, »ihr das Herz zu zerreißen«. Wir wollen nicht vergessen, daß die Motive der menschlichen Handlungen gewöhnlich unendlich komplizierter und mannigfaltiger sind, als wir nachher immer glauben, und sich nur selten mit Sicherheit angeben lassen. Für den Erzähler ist es manchmal das beste, sich auf die einfache Darlegung der Tatsachen zu beschränken. So wollen wir auch bei der weiteren Darstellung der über den General hereingebrochenen Katastrophe verfahren, denn trotz alles Widerstrebens sehen wir uns doch in die Notwendigkeit versetzt, auch dieser Nebenfigur unserer Erzählung etwas mehr Aufmerksamkeit und Platz zuzugestehen, als wir bisher beabsichtigten.

Die Ereignisse hatten sich in nachstehender Reihenfolge abgespielt.

Als Lebedew von seiner Fahrt nach Petersburg, bei der er Nachforschungen nach Ferdyschtschenko hatte anstellen wollen, noch an demselben Tage mit dem General zurückgekehrt war, hatte er dem Fürsten nichts Besonderes mitgeteilt. Wäre der Fürst in jener Zeit nicht durch andere für ihn sehr wichtige Dinge abgelenkt und in Anspruch genommen worden, so hätte er bald bemerken müssen, daß auch an den beiden darauffolgenden Tagen Lebedew ihm nicht nur keine Aufklärung gab, sondern sogar im Gegenteil aus irgendeinem Grund einem Zusammentreffen mit ihm aus dem Weg ging. Als der Fürst schließlich doch darauf aufmerksam wurde, wunderte er sich darüber, daß an diesen beiden Tagen Lebedew bei zufälligen Begegnungen, wie er sich erinnerte, stets in der heitersten Stimmung und fast immer mit dem General zusammen gewesen war. Die beiden Freunde trennten sich keine Minute mehr. Der Fürst hörte mitunter lautes, eifriges Gespräch, das zu ihm von oben herunterdrang, und lachendes, munteres Disputieren; einmal sehr spätabends schlugen sogar plötzlich und unerwartet die Töne eines feuchtfröhlichen Soldatenliedes an sein Ohr, und er erkannte sofort die heisere Baßstimme des Generals. Aber das angestimmte Lied kam nicht recht in Gang und verstummte plötzlich wieder. Dann setzte sich ungefähr noch eine Stunde ein sehr lebhaftes Gespräch fort; nach allen Anzeichen zu urteilen, waren die Redenden bereits betrunken. Man konnte erraten, daß die beiden Freunde, die sich da oben vergnügten, einander umarmten und schließlich einer von ihnen zu weinen anfing. Dann folgte auf einmal ein heftiger Streit, der ebenfalls bald wieder verstummte. Diese ganzen Tage befand sich Kolja in besonders sorgenvoller Stimmung. Der Fürst war größtenteils nicht zu Hause und kehrte manchmal erst sehr spät zurück; dann wurde ihm immer gemeldet, Kolja habe ihn den ganzen Tag gesucht und nach ihm gefragt. Aber bei Begegnungen vermochte Kolja nichts Besonderes zu sagen, außer daß er mit dem General und dessen jetziger Aufführung sehr unzufrieden sei: »Sie treiben sich herum, betrinken sich nicht weit von hier in einer Schenke, umarmen und zanken sich auf der Straße, ärgern sich gegenseitig und können sich doch nicht voneinander trennen.« Als der Fürst ihm erwiderte, daß das auch früher fast täglich dieselbe Geschichte gewesen sei, wußte Kolja nicht, was er darauf antworten und wie er erklären sollte, weswegen er sich eigentlich jetzt so beunruhigte.

An dem Morgen nach dem Trinklied und dem Streit wollte der Fürst gegen elf Uhr ausgehen, als plötzlich der General in großer Aufregung bei ihm erschien.

»Ich habe lange nach einer Gelegenheit gesucht, wo ich die Ehre haben könnte, Sie zu sprechen, hochverehrter Lew Nikolajewitsch, schon lange, sehr lange«, murmelte er und drückte dem Fürsten so kräftig die Hand, daß es diesem beinahe weh tat. »Schon sehr, sehr lange.«

Der Fürst bat ihn, Platz zu nehmen.

»Nein, ich wollte mich nicht hinsetzen, ich halte Sie überdies auf, ein andermal. Wie es scheint, kann ich bei dieser Gelegenheit Ihnen auch zu der… Erfüllung… Ihrer Herzenswünsche gratulieren.«

»Welcher Herzenswünsche?«

Der Fürst wurde verlegen. Er hatte, wie viele Leute in seiner Lage, die Vorstellung, daß bestimmt niemand etwas sehe, errate oder verstehe.

»Seien Sie ganz beruhigt, seien Sie ganz beruhigt! Ich werde Ihre zarten Gefühle nicht verletzen. Ich habe das selbst durchgemacht und weiß selbst, wie es ist, wenn ein Fremder… wie man sagt seine Nase… nach dem üblichen Ausdruck… da hineinsteckt, wo es nicht gewünscht wird. Ich mache diese Erfahrung jeden Morgen. Ich bin in einer andern, wichtigen Angelegenheit gekommen. In einer sehr wichtigen Angelegenheit, Fürst.«

Der Fürst bat ihn noch einmal, sich zu setzen, und setzte sich selbst.

»Nun, dann nur auf eine Sekunde… Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen. Ich habe jetzt bekanntlich keine praktische Tätigkeit; aber da ich mich selbst und meine den Russen im allgemeinen fehlende Geschäftstüchtigkeit wohl zu schätzen weiß… so möchte ich mich, meine Frau und meine Kinder in die Lage bringen… kurz gesagt, Fürst, ich möchte gern einen guten Rat haben.«

Der Fürst spendete seiner Absicht warmes Lob.

»Na, das ist alles nur dummes Zeug«, unterbrach ihn der General, »und, was die Hauptsache ist, ich will gar nicht davon, sondern von etwas anderem, Wichtigem reden. Und ich habe mich entschlossen, es gerade Ihnen auseinanderzusetzen, Lew Nikolajewitsch, als einem Menschen, von dessen Aufrichtigkeit und Edelsinn ich ebenso überzeugt bin wie… wie… Sie wundern sich doch nicht über meine Worte, Fürst?«

Der Fürst betrachtete seinen Gast, wenn nicht mit besonderer Verwunderung, so doch mit großer Aufmerksamkeit und Neugier. Der Alte war etwas blaß, seine Lippen zuckten mitunter leicht, seine Hände schienen keinen Ruhepunkt finden zu können. Er saß erst einige Minuten und hatte sich während dieser Zeit bereits ein paarmal ohne Anlaß vom Stuhle erhoben und wieder hingesetzt, offenbar ohne diesen seinen Bewegungen die geringste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auf dem Tisch lagen Bücher; er nahm eines, warf, ohne sich im Reden zu unterbrechen, einen Blick auf die aufgeschlagene Seite, klappte es sofort wieder zu und legte es auf den Tisch zurück, ergriff ein anderes Buch, das er gar nicht mehr aufschlug, sondern die ganze übrige Zeit in der rechten Hand behielt, wobei er es unaufhörlich in der Luft umherschwenkte.

»Genug!« rief er plötzlich. »Ich sehe, daß ich Sie sehr belästige.«

»Aber durchaus nicht, ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen, im Gegenteil, ich bin ganz Ohr und würde gern erfahren …«

»Fürst, ich möchte mich in eine geachtete Position bringen… ich möchte gern mich selbst und… meine Rechte achten können.«

»Wer einen solchen Wunsch hegt, verdient schon dafür alle Hochachtung.«

Der Fürst sagte diesen Satz, einen Satz, wie sie in Schönschreibheften als Vorlage dienen, in der festen Überzeugung, daß er eine gute Wirkung haben würde. Er fühlte fast instinktiv, daß man durch eine solche hohle, aber schönklingende Phrase, wenn sie zur rechten Zeit ausgesprochen wurde, das Herz eines Menschen wie des Generals gewinnen und besänftigen konnte, namentlich wenn der Betreffende sich in solcher Lage befand wie der General. Jedenfalls mußte er erreichen, daß ein solcher Gast sich beim Weggehen leichter ums Herz fühlte, das war die Aufgabe.

Die Redensart schmeichelte, rührte und gefiel sehr: der General wurde plötzlich gefühlvoll, änderte sofort seinen Ton und erging sich in langen, begeisterten Auseinandersetzungen. Aber wie sehr sich der Fürst auch beim Zuhören anstrengte, er konnte buchstäblich nichts verstehen. Der General redete etwa zehn Minuten lang eifrig und schnell, als wäre er gar nicht imstande, die sich massenhaft in seinem Kopf drängenden Gedanken zu bewältigen; gegen Ende blitzten sogar Tränen in seinen Augen, aber doch waren es nur Phrasen ohne Anfang und Ende, zusammenhanglose Worte und zusammenhanglose Gedanken, die rasch und in bunter Folge hervorstürzten und übereinander wegsprangen.

»Genug! Sie haben mich verstanden, und ich bin beruhigt«, schloß er plötzlich und stand auf. »Ein Herz wie das Ihrige muß einen Leidenden verstehen. Fürst, Sie sind von einem idealen Edelsinn! Was sind alle andern gegen Sie? Aber Sie sind noch jung, und so erteile ich Ihnen meinen Segen. Also zum Schluß: ich bin gekommen, um Sie zu bitten, mir eine Stunde für eine wichtige Unterredung zu bestimmen; auf diese Unterredung setze ich meine größte Hoffnung. Was ich suche, ist nur Freundschaft und ein Herz, Fürst; ich habe die Forderungen meines Herzens bisher nie erfüllt gesehen.«

»Aber warum nicht gleich jetzt? Ich bin bereit zuzuhören…«

»Nein, Fürst, nein«, unterbrach ihn der General eifrig. »Nicht gleich! Gleich, das wäre ein Traum! Und die Sache ist allzu, allzu wichtig, allzu wichtig! In der Stunde, die dieses Gespräch dauern wird, wird sich mein Schicksal entscheiden. Diese Stunde wird mir gehören, und ich möchte nicht, daß uns in einem so heiligen Augenblick der erste beste Eindringling unterbrechen könnte, der erste beste freche Mensch, wie es ein solcher frecher Mensch oft tut« (er beugte sich auf einmal zum Fürsten hin und sprach in einem sonderbaren, geheimnisvollen, beinah ängstlichen Flüsterton), »ein solcher frecher Mensch, der nicht so viel wert ist wie Ihr Stiefelabsatz, geliebter Fürst! Oh, ich sage nicht: wie mein Stiefelabsatz! Beachten Sie besonders, daß ich nicht meinen Stiefelabsatz erwähnt habe, denn ich achte mich selbst zu sehr, um das so ohne weiteres auszusprechen; aber nur Sie sind imstande, zu verstehen, daß ich, indem ich in einem solchen Fall meinen Stiefelabsatz unerwähnt lasse, vielleicht einen außerordentlichen Stolz auf meine Würde zum Ausdruck bringe. Außer Ihnen wird kein anderer dafür Verständnis haben, auch er nicht, er vor allem nicht. Er hat für nichts Verständnis, Fürst, er ist völlig, völlig unfähig, etwas zu begreifen! Man muß ein Herz haben, um etwas zu verstehen!«

Gegen Ende dieser Rede wurde der Fürst beinah ängstlich und setzte die Unterredung mit dem General für den folgenden Tag zur gleichen Stunde fest. Der General ging in mutiger Stimmung weg; er fühlte sich sehr getröstet und fast beruhigt. Am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ließ der Fürst auf einen Augenblick Lebedew zu sich bitten.

Lebedew erschien mit großer Eilfertigkeit, er hielt es für eine Ehre, wie er sofort beim Eintritt sagte; mit keiner Silbe redete er davon, daß er sich drei Tage lang gewissermaßen versteckt gehalten und offenbar eine Begegnung mit dem Fürsten vermieden hatte. Er setzte sich auf den Rand eines Stuhles, schnitt Grimassen, lächelte, kniff die lachenden, lauernden Augen zusammen, rieb sich die Hände und machte in der naivsten Weise ein Gesicht, als ob er eine sehr wichtige, längst erwartete und von allen bereits erratene Mitteilung zu hören erhoffte. Dem Fürsten war das wieder peinlich; ihm wurde klar, daß alle Leute auf einmal angefangen hatten, etwas von ihm zu erwarten, daß alle ihn unter Andeutungen, Lächeln und Augenzwinkern so anblickten, als ob sie ihm zu etwas gratulieren wollten. Keller war schon dreimal eilig hereingekommen, ebenfalls mit dem offensichtlichen Wunsch zu gratulieren; er begann jedesmal mit enthusiastischen, unklaren Redensarten, die er aber nie zu Ende brachte, und verschwand schnell wieder. (Er hatte in den letzten Tagen angefangen, in einer Wirtschaft besonders stark zu trinken, und in einem Billardlokal randaliert.) Selbst Kolja begann trotz seines Kummers ebenfalls ein paarmal ein unklar andeutendes Gespräch mit dem Fürsten.

Der Fürst fragte Lebedew geradeheraus und in etwas gereiztem Ton, was er über den jetzigen Zustand des Generals denke und warum sich dieser in solcher Unruhe befinde. Mit wenigen Worten erzählte er ihm die Szene, die am Vormittag stattgefunden hatte.

»Jeder Mensch hat seine Unruhe, Fürst, und … besonders in unserer seltsamen, unruhigen Zeit, jawohl!« antwortete Lebedew etwas trocken und verstummte dann gekränkt, mit der Miene eines Mannes, der sich in seinen Erwartungen arg getäuscht sieht.

»Was sprechen Sie für philosophische Gedanken aus!« sagte der Fürst lächelnd.

»Die Philosophie ist etwas Notwendiges; gerade für unser Zeitalter wäre es sehr notwendig, sie auf das praktische Leben anzuwenden, aber man schätzt diese Wissenschaft zu gering, das ist es. Ich meinerseits, hochgeehrter Fürst, bin zwar von Ihnen in einer gewissen, Ihnen bekannten Angelegenheit mit Ihrem Vertrauen beehrt worden, aber nur bis zu einem gewissen Grad, und nicht weiter, als es die mit dieser Angelegenheit zusammenhängenden Umstände mit sich brachten… Das begreife ich vollkommen und beklage mich in keiner Weise darüber.«

»Sie scheinen mir aus irgendeinem Grund Böse zu sein, Lebedew?«

»Ganz und gar nicht, nicht im geringsten, hochgeehrter, durchlauchtigster Fürst, nicht im geringsten!« rief Lebedew pathetisch und legte die Hand aufs Herz. »Im Gegenteil, ich habe sofort eingesehen, daß ich weder durch meine Stellung in der Welt noch durch Eigenschaften des Geistes und Herzens, noch durch angesammelte Reichtümer, noch durch mein früheres Benehmen, noch durch Kenntnisse, durch nichts Ihr geschätztes und meine Hoffnungen weit übersteigendes Vertrauen verdiene und daß, wenn ich Ihnen überhaupt dienen kann, ich das nur als Sklave und Tagelöhner vermag, nicht anders… ich bin nicht böse, aber traurig.«

»Aber ich bitte Sie, Lukjan Timofejitsch!«

»Es ist nicht anders! So auch jetzt, so auch im vorliegenden Fall! Als ich jetzt zu Ihnen kam und Sie mit meinem Herzen und meinen Gedanken anschaute, da sagte ich zu mir: ›Freundschaftlicher Mitteilungen bin ich unwürdig, aber vielleicht kann ich in meiner Eigenschaft als Hauswirt zur gegebenen Zeit, zu dem erwarteten Termin, sozusagen eine Instruktion erhalten oder, wenn’s hoch kommt, eine Benachrichtigung im Hinblick auf gewisse bevorstehende und zu erwartende Veränderungen …‹«

Während Lebedew so sprach, sog er sich mit seinen scharfen, zusammengekniffenen Augen geradezu an dem ihn erstaunt anblickenden Fürsten fest; er hoffte immer noch, seine Neugier befriedigt zu sehen.

»Ich begreife absolut nicht!« rief der Fürst beinah zornig. »Und… Sie sind ein schrecklicher Intrigant!« fügte er, auf einmal herzlich auflachend, hinzu.

Sofort fing auch Lebedew an zu lachen, und sein strahlender Blick ließ erkennen, daß seine Hoffnungen wieder lebendig geworden waren und sich sogar verdoppelt hatten.

»Ich werde Ihnen einmal etwas sagen, Lukjan Timofejitsch. Nehmen Sie es mir nur nicht übel, aber ich wundere mich über Ihre Naivität und nicht allein über die Ihrige! Sie erwarten gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick von mir etwas mit solcher Naivität, daß ich mich ordentlich vor Ihnen darüber schäme, daß ich nichts mitzuteilen habe, womit ich Ihre Wißbegierde befriedigen könnte; aber ich schwöre Ihnen, daß absolut nichts vorliegt, können Sie sich das vorstellen?«

Der Fürst fing wieder an zu lachen.

Lebedew nahm eine würdevolle Haltung an. Er war allerdings manchmal sehr naiv und zudringlich in seiner Neugier, aber gleichzeitig war er ein recht schlauer, geriebener Mensch und in manchen Fällen sogar von einer heimtückischen Schweigsamkeit; der Fürst hatte dadurch, daß er ihn fortwährend zurückstieß, ihn sich beinah zum Feind gemacht. Aber der Fürst stieß ihn nicht etwa deswegen zurück, weil er ihn geringgeschätzt hätte, sondern weil der Gegenstand seiner Neugier gar zu delikat war. Gewisse Zukunftsträume hatte der Fürst noch vor wenigen Tagen sozusagen wie ein Verbrechen betrachtet, aber Lukjan Timofejitsch faßte das ablehnende Verhalten des Fürsten lediglich als Widerwillen und Mißtrauen gegen sich persönlich auf, pflegte mit tief verwundetem Herzen fortzugehen und war nicht nur auf Kolja und Keller, sondern sogar auf seine eigene Tochter Wera Lukjanowna wegen des Fürsten eifersüchtig. Vielleicht hätte er sogar gerade in diesem Augenblick aufrichtig gewünscht, dem Fürsten eine für diesen höchst interessante Mitteilung zu machen, aber er schwieg finster und sagte nichts.

»Womit kann ich Ihnen denn nun dienen, hochgeehrter Fürst, da Sie mich doch jetzt haben rufen lassen?« fragte er endlich, nachdem das Stillschweigen eine Weil« gedauert hatte.

»Ich wollte Sie eigentlich nach dem General fragen«, versetzte der Fürst, der sich ebenfalls einen Augenblick seinen Gedanken überlassen hatte und nun zusammenfuhr, »und … wie es mit dem Diebstahl geworden ist, von dem Sie mir Mitteilung gemacht haben…«

»Wie es womit geworden ist?«

»Na aber! Als ob Sie mich jetzt nicht verstünden! Ach, mein Gott, was soll das nur bedeuten, Lukjan Timofejitsch, Sie schauspielern fortwährend! Ich rede von dem Geld, von dem Geld, von den vierhundert Rubel, die Sie damals mit der Brieftasche verloren hatten; Sie kamen an dem Morgen, ehe Sie nach Petersburg fuhren, hierher, um mir davon zu erzählen, haben Sie nun endlich verstanden?«

»Ach so, jene vierhundert Rubel meinen Sie!« erwiderte Lebedew gedehnt, als käme er erst jetzt auf das Richtige. »Ich danke Ihnen, Fürst, für Ihre aufrichtige Teilnahme, sie ist mir sehr schmeichelhaft, aber… ich habe das Geld wiedergefunden, schon längst.«

»Sie haben es wiedergefunden! Ach, Gott sei Dank!«

»Dieser Ausruf zeugt von Ihrer überaus edlen Denkungsart, denn vierhundert Rubel sind keine Kleinigkeit für einen armen Menschen, der von seiner schweren Arbeit leben muß und eine zahlreiche Familie von mutterlosen Kindern hat…«

»Das meine ich ja nicht! Gewiß, ich freue mich auch darüber, daß Sie das Geld wiedergefunden haben«, verbesserte sich der Fürst eilig, »aber… wie ist es denn zugegangen, daß Sie es wiedergefunden haben?«

»Ganz einfach, ich fand es unter dem Stuhl, auf dem der Rock gehangen hatte, so daß die Brieftasche offenbar aus der Tasche geglitten und auf den Fußboden gefallen war.«

»Unter den Stuhl? Das ist doch nicht möglich; Sie haben mir doch selbst gesagt, Sie hätten in allen Ecken und Winkeln nachgesucht; wie sollten Sie denn gerade diese wichtigste Stelle nicht revidiert haben?«

»Das ist es ja eben, daß ich sie revidiert habe! Daß ich das getan habe, darauf besinne ich mich ganz genau! Auf allen vieren bin ich herumgekrochen, habe den Stuhl weggerückt und an dieser Stelle mit den Händen umhergetastet, da ich meinen eigenen Augen nicht glaubte: ich sah, daß nichts da war, daß der Fleck leer und glatt war wie meine Handfläche da, aber dennoch fuhr ich fort umherzutasten. Solch ein törichtes Zweifeln an seinen eigenen Sinnen wiederholt sich immer beim Menschen, wenn er… bei wichtigen traurigen Verlusten den dringenden Wunsch hat, das Verlorene wiederzufinden: er sieht, daß nichts da und der Fleck leer ist, sieht aber doch fünfzehnmal nach ihm hin.«

»Ja, allerdings; aber wie hängt denn die Sache hier zusammen?… Ich verstehe es gar nicht«, murmelte der Fürst ganz verwirrt. »Sie sagen, es sei zuerst nicht dagewesen und Sie hätten an dieser Stelle gesucht, aber dann sei es plötzlich doch dagewesen!«

»Ja, dann war es plötzlich doch da.«

Der Fürst sah Lebedew mit einem sonderbaren Blick an.

»Und der General?« fragte er dann plötzlich.

»Wieso? Was ist mit dem General?« erwiderte Lebedew, der wieder nicht verstand.

»Ach, mein Gott! Ich frage, was der General dazu sagte, als Sie die Brieftasche unter dem Stuhl wiedergefunden hatten. Sie hatten ja doch zuerst beide zusammen danach gesucht.«

»Ja, wir hatten zuerst zusammen danach gesucht. Aber ich muß bekennen, diesmal schwieg ich still und zog es vor, ihm keine Mitteilung davon zu machen, daß ich die Brieftasche bereits allein wiedergefunden hatte.«

»Aber… warum denn das? War denn das Geld vollzählig darin?«

»Ich habe die Brieftasche geöffnet; das Geld war vollzählig darin, nicht ein einziger Rubel fehlte.«

»Aber Sie hätten doch wenigstens zu mir kommen und es mir sagen sollen«, bemerkte der Fürst nachdenklich.

»Ich fürchtete, Sie in Ihren persönlichen und vielleicht sozusagen ganz außerordentlichen Empfindungen zu stören, Fürst; zudem stellte ich mich überhaupt so, als ob ich nichts gefunden hätte. Ich machte die Brieftasche auf, revidierte den Inhalt, machte sie dann wieder zu und legte sie wieder unter den Stuhl.«

»Wozu denn das?«

»Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei, ich war nur neugierig, was nun weiter geschehen würde«, erwiderte Lebedew kichernd und sich die Hände reibend.

»Also liegt sie auch jetzt noch seit vorgestern da?«

»O nein, sie hat nur vierundzwanzig Stunden lang dagelegen. Sehen Sie, ich wünschte, daß auch der General sie finden möchte. Denn wenn ich sie schließlich gefunden hatte, warum sollte nicht auch der General einen Gegenstand bemerken, der unter dem Stuhl hervorsah und einem sozusagen in die Augen sprang? Ich hob diesen Stuhl zu wiederholten Malen auf und stellte ihn anders hin, so daß die Brieftasche nun ganz frei dalag, aber der General bemerkte sie absolut nicht, und so dauerte das einen ganzen Tag lang. Er ist jetzt offenbar sehr zerstreut, man kann gar nicht aus ihm klug werden: er redet, erzählt, lacht, aber auf einmal wird er dann auf mich furchtbar böse, ich weiß nicht weshalb. Als wir schließlich einmal aus dem Zimmer gingen, ließ ich die Tür absichtlich offenstehen; er schwankte ein Weilchen, als wollte er etwas sagen; wahrscheinlich war er um die Brieftasche mit dem vielen Geld besorgt, aber auf einmal wurde er furchtbar zornig und sagte nichts. Wir waren auf der Straße noch nicht zwei Schritte gegangen, als er mich im Stich ließ und nach der anderen Seite hinüberging. Erst am Abend trafen wir im Wirtshaus wieder zusammen.«

»Aber schließlich haben Sie doch wohl die Brieftasche unter dem Stuhl weggenommen?«

»Nein, sie ist noch in derselben Nacht von dort verschwunden.«

»Also wo ist sie denn jetzt?«

»Hier!« erwiderte Lebedew lachend, indem er vom Stuhl aufstand, sich ganz aufrichtete und den Fürsten vergnügt ansah. »Sie befand sich auf einmal hier, in meinem eigenen Rockschoß. Da! Sehen Sie selbst, und befühlen Sie sie!«

In der Tat hatte sich im linken vorderen Rockschoß, genau vorn, an einer sehr sichtbaren Stelle ein ordentlicher Bausch gebildet, und beim Befühlen konnte man ohne weiteres erraten, daß sich da eine lederne Brieftasche befand, die aus der zerrissenen Tasche dort hinuntergerutscht war.

»Ich habe sie herausgenommen und revidiert: der Inhalt war vollzählig. Ich ließ sie wieder hinuntergleiten und gehe so seit gestern morgen herum; ich trage sie im Rockschoß, sie schlägt sogar gegen mein Bein.«

»Und Sie bemerken das gar nicht?«

»Nein, ich bemerke es nicht, hehe! Und stellen Sie sich vor, hochgeehrter Fürst – obwohl der Gegenstand einer solchen besonderen Beachtung von Ihrer Seite gar nicht würdig ist – meine Taschen sind immer ganz und heil, und nun hatte diese Tasche auf einmal über Nacht ein solches Loch bekommen! Ich besah mir dieses Loch genauer; es macht den Eindruck, als ob es jemand mit einem Federmesser hineingeschnitten hätte; ist das nicht beinah unglaublich?«

»Und… der General?«

»Den ganzen Tag über war er böse, gestern und heute; er ist furchtbar verstimmt; bald ist er vergnügt und lustig und sagt mir sogar Schmeicheleien, bald ist er so gefühlvoll, daß ihm sogar die Tränen kommen, bald wieder wird er auf einmal zornig, so daß ich sogar Angst bekomme, wahrhaftig; ich bin ja doch kein Soldat, Fürst. Gestern saßen wir im Wirtshaus, und mein Rockschoß stand wie zufällig so recht sichtbar hervor mit der daran befindlichen Erhöhung; er schielte danach hin und ärgerte sich. Gerade in die Augen sieht er mir jetzt schon längst nicht mehr, außer wenn er sehr betrunken oder sehr gefühlvoll ist; aber gestern sah er mich ein paarmal so an, daß es mir ordentlich kalt den Rücken hinunterlief. Ich beabsichtige übrigens, morgen die Brieftasche zu finden; aber heute abend will ich noch meinen Spaß mit ihm haben.«

»Warum quälen Sie ihn so?« rief der Fürst.

»Ich quäle ihn nicht, Fürst, ich quäle ihn nicht«, erwiderte Lebedew lebhaft. »Ich habe ihn von Herzen gern und… schätze ihn hoch, und jetzt – Sie mögen es glauben oder nicht – ist er mir noch teurer geworden, ich schätze ihn noch höher!«

Lebedew sagte das alles so ernst und aufrichtig, daß der Fürst geradezu empört war.

»Sie haben ihn gern und quälen ihn so! Ich bitte Sie, schon allein dadurch, daß er Ihnen den verlorenen Gegenstand so offen unter den Stuhl legte und in den Rock steckte, schon dadurch allein beweist er Ihnen deutlich, daß er Ihnen gegenüber keine List anwenden will, sondern Sie schlicht und einfach um Verzeihung bittet. Hören Sie: er bittet Sie um Verzeihung! Er hofft also auf Ihr Zartgefühl, glaubt also an Ihre freundschaftliche Gesinnung. Und Sie demütigen ihn dermaßen … einen grundehrlichen Menschen!«

»Einen grundehrlichen Menschen, einen grundehrlichen Menschen, Fürst!« fiel Lebedew mit funkelnden Augen ein. »Und nur Sie, edelster Fürst, waren imstande, ein so gerechtes Wort auszusprechen! Darum bin ich Ihnen ja auch bis zur Vergötterung ergeben, obwohl ich von mancherlei Lastern angefault bin! Also abgemacht! Ich finde die Brieftasche jetzt gleich, sofort und nicht erst morgen; da, ich ziehe sie vor Ihren Augen heraus, da ist sie, und da ist auch das ganze bare Geld; hier, nehmen Sie es, edelster Fürst, nehmen Sie es, und heben Sie es mir bis morgen auf! Morgen oder übermorgen werde ich es mir wieder zurückerbitten; wissen Sie, Fürst, es hat offenbar in der ersten Nacht, nachdem es abhanden gekommen war, irgendwo in meinem Gärtchen unter einem Stein gelegen, meinen Sie nicht auch?«

»Sagen Sie es ihm nur nicht so gerade ins Gesicht, daß Sie die Brieftasche wiedergefunden haben. Mag er ganz einfach sehen, daß nichts mehr in Ihrem Rockfutter steckt; dann wird er es schon verstehen.«

»Also auf diese Art? Wäre es nicht besser, zu sagen, daß ich sie wiedergefunden habe, und so zu tun, als hätte ich sie bisher nicht bemerkt?«

»N-nein«, versetzte der Fürst nach einiger Überlegung, »n-nein, dazu ist es jetzt zu spät, das ist zu gefährlich; wirklich, sagen Sie lieber nichts! Und seien Sie freundlich zu ihm, aber… tragen Sie dabei nicht zu stark auf und… und… nun, Sie wissen schon…«

»Ich weiß, Fürst, ich weiß, das heißt, ich weiß, daß ich es vielleicht nicht werde durchführen können, denn dazu muß man ein Herz haben wie das Ihrige. Und überdies bin ich selbst reizbar und empfindlich; er behandelt mich aber jetzt manchmal auch gar zu sehr von oben herab; bald schluchzt er und umarmt mich, und dann auf einmal fängt er an, mich zu demütigen und zu schmähen; na, dann stelle ich gleich absichtlich den Rockschoß zur Schau, hehe! Auf Wiedersehen, Fürst, denn ich halte Sie offenbar auf und behindere Sie in den sozusagen interessantesten Gefühlen…« »Aber um Gottes willen: schweigen Sie von der Sache wie bisher!«

»Mit leisen Schritten, mit leisen Schritten!« Aber obgleich die Sache nun erledigt war, war der Fürst nach Lebedews Weggang doch in fast noch größerer Sorge als vorher. Ungeduldig sah er der morgigen Zusammenkunft mit dem General entgegen.

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Kapitel 42

IV

Die Zusammenkunft war auf zwölf Uhr festgesetzt, aber der Fürst verspätete sich ganz unerwartet. Bei seiner Heimkehr fand er in seiner Wohnung den General vor, der auf ihn wartete. Er bemerkte auf den ersten Blick, daß dieser unzufrieden war und vielleicht gerade darüber, daß er hatte warten müssen. Der Fürst bat um Entschuldigung und setzte sich schleunigst hin, aber in einer eigentümlich ängstlichen Art, als wäre sein Gast von Porzellan und als fürchte er jeden Augenblick, ihn zu zerbrechen. Früher war er dem General gegenüber niemals ängstlich gewesen, dergleichen war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Der Fürst erkannte bald, daß er da einen ganz andern Menschen vor sich hatte als tags zuvor: statt der Verwirrung und Zerstreutheit machte sich eine große Zurückhaltung bemerkbar; man konnte schließen, daß dies ein Mensch war, der irgendeinen endgültigen Entschluß gefaßt hatte. Übrigens war diese Ruhe mehr äußerlich als wirklich vorhanden. Aber jedenfalls zeigte der Gast eine vornehme Zwanglosigkeit, obwohl diese sich mit zurückhaltender Würde paarte; am Anfang behandelte er den Fürsten sogar mit einer Art von Herablassung; diese vornehme Zwanglosigkeit findet man ja oft bei stolzen, ungerecht gekränkten Leuten. Er sprach freundlich, wenn auch in seinem Ton etwas Trauriges lag.

»Da ist Ihr Buch, das ich neulich von Ihnen entliehen habe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung nach einem von ihm mitgebrachten Band, der auf dem Tisch lag. »Ich danke Ihnen.«

»Ach ja, haben Sie diesen Artikel gelesen, General? Wie hat er Ihnen gefallen? Ist er nicht interessant?« erwiderte der Fürst, erfreut über die Möglichkeit, schnell ein Gespräch über einen nebensächlichen Gegenstand anfangen zu können.

»Ja, interessant ist er, meinetwegen, aber plump und jedenfalls abgeschmackt. Vielleicht wimmelt er auch von Lügen.«

Der General sprach mit affektierter Würde und zog sogar die einzelnen Worte ein wenig in die Länge.

»Ach, es ist doch eine so schlichte Erzählung, die Erzählung eines alten Soldaten über das, was er während des Aufenthaltes der Franzosen in Moskau mit eigenen Augen gesehen hat, manches darin ist überaus reizvoll geschildert. Memoiren von Augenzeugen sind ja überhaupt wertvoll, wer auch immer diese Augenzeugen sind, nicht wahr?«

»An Stelle des Redakteurs hätte ich diesen Artikel nicht abgedruckt; was aber Memoiren von Augenzeugen im allgemeinen anlangt, so findet ein dreister, aber amüsanter Lügner leichter Glauben als ein würdiger, wohlverdienter Mann. Ich kenne gewisse Memoiren aus dem Jahre 1812, die… Ich habe meinen Entschluß gefaßt, Fürst, und verlasse dieses Haus, das Haus des Herrn Lebedew.«

Der General sah den Fürsten bedeutsam an.

»Sie wohnen ja auch eigentlich hier in Pawlowsk bei… bei Ihrer Tochter…«, antwortete der Fürst, der nicht recht wußte, was er sagen sollte.

Er erinnerte sich, daß der General ja gekommen war, um sich in einer wichtigen Angelegenheit Rat zu erbitten, in einer Angelegenheit, von der sein Schicksal abhänge.

»Bei meiner Frau; mit andern Worten in meiner eigenen Wohnung im Hause meiner Tochter.«

»Verzeihen Sie, ich …«

»Ich verlasse Lebedews Haus, lieber Fürst, weil ich mich von diesem Menschen losgesagt habe; ich habe mich gestern abend von ihm losgesagt und habe bereut, dies nicht schon früher getan zu haben. Ich verlange Respekt, Fürst, und möchte ihn mir auch von denjenigen Leuten ausbitten, denen ich sozusagen mein Herz schenke. Fürst, ich verschenke mein Herz häufig und werde dabei fast immer betrogen. Dieser Mensch ist meines Geschenkes unwürdig.«

»Er ist nicht frei von inneren Widersprüchen«, bemerkte der Fürst zurückhaltend, »und manche Züge seines Charakters… aber mitten in all dem kann man doch ein Herz wahrnehmen und einen schlauen, mitunter auch amüsanten Verstand.«

Daß der Fürst in gewählten Ausdrücken sprach und sich eines respektvollen Tones bediente, schmeichelte dem General offenbar, obgleich seine Miene manchmal immer noch ein plötzlich rege werdendes Mißtrauen bekundete. Aber der Ton des Fürsten klang so natürlich und aufrichtig, daß es unmöglich war zu zweifeln.

»Gewiß besitzt er auch gute Eigenschaften«, stimmte der General bei, »und ich bin der erste gewesen, der das offen aussprach, als ich diesem Individuum beinah meine Freundschaft schenkte. Sein Haus und seine Gastfreundschaft benötige ich nicht, da ich eine eigene Familie besitze. Ich will meine Laster nicht entschuldigen: ich bin unenthaltsam; ich habe mit ihm getrunken und vergieße jetzt vielleicht Tränen darüber. Aber ich hatte doch nicht allein des Suffs wegen (verzeihen Sie, Fürst, einem schwer gereizten Mann diese derbe Offenherzigkeit), nicht allein des Suffs wegen mich ihm angeschlossen. Was mich lockte, waren, wie Sie richtig sagen, seine guten Eigenschaften. Aber alles geht bis zu einer gewissen Grenze, auch die Wertschätzung der guten Eigenschaften, und wenn er auf einmal die Dreistigkeit hat, mir ins Gesicht zu behaupten, er habe im Jahre 1812 als Kind sein linkes Bein verloren und es auf dem Waganjkowschen Friedhof in Moskau begraben, so überschreitet das denn doch alle Grenzen und zeugt von einer Respektlosigkeit und Frechheit…«

»Vielleicht war das nur ein Scherz, der heiteres Gelächter hervorrufen sollte.«

»Ich verstehe. Eine unschuldige Lüge, die heiteres Gelächter hervorrufen soll, kann, auch wenn sie plump ist, ein Menschenherz nicht beleidigen. Mancher lügt auch sozusagen nur aus Freundschaft, um demjenigen, mit dem er sich unterhält, ein Vergnügen zu machen, aber wenn bei einem solchen Benehmen Respektlosigkeit durchschimmert und wenn namentlich der Erzähler durch eine solche Respektlosigkeit zeigen will, daß ihm der Umgang mit dem andern lästig wird, dann bleibt einem anständigen Mann nichts anderes übrig, als den Beleidiger in die Schranken zu weisen, sich von ihm abzuwenden und alle Beziehungen zu ihm abzubrechen.«

Der General war, während er sprach, ganz rot geworden.

»Aber Lebedew kann doch im Jahre 1812 gar nicht in Moskau gewesen sein, dazu ist er ja zu jung; das ist lächerlich.«

»Erstens das; aber selbst angenommen, daß er damals schon geboren war, wie kann er mir ins Gesicht behaupten, ein französischer Chasseur habe eine Kanone auf ihn abgefeuert und ihm so zum Vergnügen ein Bein abgeschossen; er habe dieses Bein aufgehoben, nach Hause getragen und nachher auf dem Waganjkowschen Friedhof begraben. Er sagt, er habe ein Denkmal darüber errichten lassen, mit einer Inschrift auf der einen Seite: ›Hier ruht ein Bein des Kollegiensekretärs Lebedew‹, und auf der andern: ›Ruhe sanft, liebe Asche, bis zum frohen Tage der Auferstehung!‹ und schließlich noch, er lasse jährlich für dieses Bein eine Seelenmesse lesen (so etwas zu sagen, ist geradezu ein Religionsfrevel) und fahre zu diesem Zweck jährlich nach Moskau. Und zum Beweis fordert er mich auf, nach Moskau mitzukommen; da wolle er mir das Grab zeigen und sogar im Kreml jene selbe französische Kanone, die nachher erbeutet worden sei; er behauptet, es sei die elfte vom Tor aus, ein französisches Falkonettgeschütz alter Konstruktion.«

»Und dabei sind, wie der Augenschein lehrt, seine beiden Beine heil und gesund!« sagte der Fürst lachend. »Ich versichere Ihnen, daß das ein harmloser Spaß ist, ärgern Sie sich doch nicht darüber!«

»Aber erlauben Sie auch mir, die Sache so aufzufassen, wie ich es für richtig halte. Was den augenscheinlichen Zustand seiner Beine anlangt, so ist seine Angabe freilich nicht ganz unwahrscheinlich; es wird versichert, daß das Tschernoswitowsche Bein…«

»Ach ja, mit einem Tschernoswitowschen Bein soll man ja sogar tanzen können.«

»Das weiß ich ganz genau; als Tschernoswitow sein Bein erfunden hatte, war das erste, was er tat, daß er schleunigst zu mir kam, um es mir zu zeigen. Aber das Tschernoswitowsche Bein ist erst viel später erfunden worden… Und außerdem behauptet er, daß sogar seine verstorbene Frau während ihrer ganzen Ehe nicht gewahr geworden sei, daß er, ihr Mann, ein Holzbein habe. ›Wenn du‹, sagte er, als ich ihn auf all diese Ungereimtheiten hinwies, ›wenn du im Jahre 1812 bei Napoleon Kammerpage warst, dann mußt du auch mir erlauben, mein Bein auf dem Waganjkowschen Friedhof zu begraben.‹«

»Aber sind Sie denn…«, begann der Fürst und wurde verlegen.

Der General schien ebenfalls beinah verlegen zu werden, sah aber gleich im selben Augenblick den Fürsten sehr von oben herab und fast spöttisch an.

»Sprechen Sie zu Ende, Fürst«, sagte er, indem er die Worte mit besonderer Ruhe dehnte, »sprechen Sie zu Ende! Ich bin großmütig; sagen Sie alles: bekennen Sie nur, daß es Ihnen komisch vorkommt, einen Menschen in seinem jetzigen Zustand der Erniedrigung und Unbrauchbarkeit vor sich zu sehen und zugleich zu hören, daß dieser Mensch persönlich ein Zeuge großer Ereignisse gewesen ist. Er hat Ihnen noch nichts davon hinterbracht?«

»Nein, ich habe von Lebedew nichts gehört… wenn Sie von Lebedew reden…«

»Hm, ich nahm das Gegenteil an. Eigentlich ging unser Gespräch gestern von diesem… sonderbaren Artikel im Archiv aus. Ich wies auf dessen Absurdität hin, und da ich selbst persönlich Zeuge gewesen bin … Sie lächeln, Fürst, Sie betrachten mein Gesicht?«

»N-nein, ich …«

»Ich habe noch ein jugendliches Äußeres«, sagte der General langsam, »aber ich bin erheblich älter, als ich aussehe. Im Jahre 1812 war ich zehn oder elf Jahre alt. Ich weiß mein Lebensalter selbst nicht ganz genau. In der Dienstliste ist es zu niedrig angegeben, und ich selbst hatte im Lauf meines Lebens die Schwäche, mir ein paar Jahre abzurechnen.«

»Ich versichere Ihnen, General, ich finde es durchaus nicht seltsam, daß Sie im Jahre 1812 in Moskau waren und… gewiß können Sie darüber mancherlei mitteilen… ebenso wie alle, die damals dort waren. Einer unserer Landsleute beginnt seine Selbstbiographie gerade mit der Erzählung, daß er im Jahre 1812 als Säugling in Moskau von französischen Soldaten mit Brot gefüttert worden sei.«

»Nun, da sehen Sie es!« bemerkte der General beifällig und herablassend. »Was mir begegnet ist, geht allerdings über die gewöhnlichen Erlebnisse hinaus, enthält aber nichts Unerhörtes. Sehr oft macht die Wahrheit den Eindruck des Unmöglichen. Kammerpage! Das hört sich freilich sonderbar an. Aber daß ein zehnjähriger Knabe ein solches Abenteuer erlebt hat, erklärt sich vielleicht gerade durch sein Alter. Mit fünfzehn Jahren hätte mir das nicht begegnen können, auf keinen Fall, da ich als Fünfzehnjähriger am Tage von Napoleons Einzug in Moskau nicht aus unserm Holzhaus in der Alten Basmannaja-Straße von meiner Mutter weggelaufen wäre, die sich mit der Abreise aus Moskau verspätet hatte und vor Furcht zitterte. Als Fünfzehnjähriger hätte auch ich Angst gehabt, aber als Zehnjähriger fürchtete ich mich nicht und drängte mich durch die Menge hindurch bis dicht an die Freitreppe des Palastes, als Napoleon gerade vom Pferd stieg.«

»Ohne Zweifel haben Sie sehr treffend bemerkt, daß sich Ihre Furchtlosigkeit gerade aus Ihrem Alter von zehn Jahren erklärt«, schaltete der Fürst schüchtern ein; ihn quälte der Gedanke, daß er gleich erröten würde.

»Ohne Zweifel, und alles vollzog sich so einfach und natürlich, wie es sich eben nur in der Wirklichkeit vollziehen kann; wenn ein Romanschriftsteller dasselbe vortrüge, würde er allerlei Unmögliches und Unwahrscheinliches zusammenspinnen.«

»Ja, so ist es!« rief der Fürst. »Das ist ein Gedanke, von dem auch ich einmal überrascht gewesen bin, und zwar erst neulich. Ich weiß von einem wirklich geschehenen Mord wegen einer Uhr; die Geschichte steht jetzt in den Zeitungen. Hätte das ein Schriftsteller ersonnen, so würden die Kenner unseres Volkslebens und die Kritiker sofort ein großes Geschrei erheben, das sei unglaublich; aber wenn man es in den Zeitungen als Tatsache liest, dann spürt man, daß man gerade aus solchen Tatsachen die russische Wirklichkeit kennenlernt. Das war eine sehr hübsche Bemerkung von Ihnen, General!« schloß der Fürst eifrig; er freute sich sehr, daß er auf diese Art die helle Röte seines Gesichtes motivieren konnte.

»Nicht wahr, nicht wahr?« rief der General, dessen Augen vor Vergnügen blitzten. »Ein Knabe, ein Kind, das für die Gefahr kein Verständnis hat, drängt sich durch die Menge, um den Glanz, die Uniformen, das Gefolge und schließlich den großen Mann zu sehen, von dem es schon soviel Geschrei gehört hatte. Denn damals redeten alle Leute jahrelang nur von ihm. Die Welt war voll von diesem Namen; ich hatte ihn sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Als Napoleon in einer Entfernung von zwei Schritten an mir vorüberging, fiel es ihm zufällig auf, wie ich ihn ansah; ich trug adlige Tracht und war gut gekleidet. Ich war der einzige von dieser Art in der großen Menge, Sie werden selbst zugeben…«

»Ohne Zweifel mußte ihm das auffallen und ein Beweis dafür sein, daß nicht alle geflüchtet, sondern daß auch Adlige mit ihren Kindern dageblieben waren.«

»Ganz richtig, ganz richtig! Er wollte die Bojaren für sich gewinnen! Als er seinen Adlerblick auf mich richtete, mochten ihm wohl auch meine Augen entgegenblitzen. ›Voilà un garçon bien éveillé!‹ sagte er. ›Qui est ton père?‹ Auf diese schnelle Frage antwortete ich ebenso schnell: ›Ein russisches Herz ist imstande, sogar in einem Feind seines Vaterlandes den großen Mann zu erkennen!‹ Das heißt, ich sogar um so peinlicher, je stärker die Besorgnis vor diesem Unheil war.«

»Ja, gewiß…«, murmelte der Fürst beinah fassungslos, »Ihre Memoiren würden… sehr interessant sein.«

Der General trug natürlich das vor, was er schon gestern Lebedew erzählt hatte, und trug es daher sehr geläufig vor, aber an dieser Stelle schielte er wieder mißtrauisch nach dem Fürsten hin.

»Meine Memoiren«, sagte er, indem er eine noch würdevollere Haltung annahm, »ich soll meine Memoiren schreiben? Das hat mich nicht verlocken können, Fürst! Indes, wenn Sie wollen, so sind meine Memoiren schon geschrieben; aber… sie liegen in meinem Schreibtisch. Wenn man mir die Augen mit Erde zugedeckt haben wird, dann mögen sie erscheinen, und dann werden sie ohne Zweifel auch in andere Sprachen übersetzt werden, nicht wegen ihres literarischen Wertes, nein, aber wegen der Wichtigkeit der gewaltigen Ereignisse, deren Augenzeuge ich, obwohl noch ein Kind, gewesen bin. Aber gerade das kam mir zustatten: eben weil ich nur ein Kind war, konnte ich sozusagen in das innerste Schlafgemach des ›großen Mannes‹ eindringen! Ich hörte nachts das Stöhnen dieses ›Riesen im Unglück‹; vor einem Kind brauchte er sich nicht zu schämen, daß er stöhnte und weinte, obgleich ich bereits verstand, daß die Ursache seiner Leiden das Stillschweigen des Kaisers Alexander war.«

»Aber er hat ja doch Briefe an ihn geschrieben… mit Friedensangeboten…«, schaltete der Fürst schüchtern ein.

»Wir wissen eigentlich nicht, was für Angebote er ihm geschrieben hat, aber er schrieb täglich, stündlich, einen Brief nach dem andern! Er regte sich furchtbar auf. Einmal in der Nacht, als wir beide allein waren, stürzte ich weinend zu ihm hin (oh, ich liebte ihn!) und rief: ›Bitten Sie den Kaiser Alexander um Verzeihung!‹ Ich hätte mich ja freilich so ausdrücken sollen: ›Versöhnen Sie sich mit dem Kaiser Alexander!‹, aber weil ich ein Kind war, sprach ich meinen Gedanken in jener naiven Weise aus. ›O mein Kind‹, antwortete er (er ging im Zimmer auf und ab), ›O mein Kind!‹ (er schien es damals öfter nicht zu beachten, daß ich erst zehn Jahre alt war, und unterhielt sich gern mit mir, ›o mein Kind, ich bin bereit, dem Kaiser Alexander die Füße zu küssen; dagegen werde ich den König von Preußen und den Kaiser von Österreich lebenslänglich hassen. Jedoch… du verstehst schließlich nichts von Politik!‹ Er schien sich plötzlich zu erinnern, mit wem er sprach, und verstummte, aber seine Augen sprühten noch lange Zeit Funken. Wollte ich all diese Tatsachen berichten – und ich war auch bei den allerwichtigsten Ereignissen Zeuge – und den Bericht jetzt herausgeben, dann all diese Kritiken, all diese verletzte literarische Eitelkeit, all dieser Neid, das Parteitreiben und… nein, dafür danke ich!«

»Was Sie von dem Parteitreiben gesagt haben, ist natürlich richtig, und ich kann Ihnen darin nur beistimmen«, antwortete der Fürst leise, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich habe vor kurzer Zeit das Buch von Charras über den Waterloo-Feldzug gelesen. Es ist offenbar ein ernstes Buch, und Fachmänner versichern, daß es mit außerordentlicher Sachkenntnis geschrieben sei. Aber auf jeder Seite schimmert die Freude des Verfassers über Napoleons Demütigung hindurch, und falls es möglich wäre, dem Kaiser auch bei den übrigen Feldzügen jede Spur von Talent abzusprechen, so würde Charras sich darüber wahrscheinlich höchlichst freuen; aber das macht bei einem so ernsten Werk einen schlechten Eindruck, weil es eine parteiische Denkungsart ist. Waren Sie damals durch Ihren Dienst beim Kaiser sehr in Anspruch genommen?

Der General war entzückt. Die Bemerkung des Fürsten hatte durch ihren Ernst und ihre Schlichtheit den letzten Rest seines Mißtrauens zerstreut.

»Charras! Oh, ich war selbst empört! Ich schrieb gleich damals an ihn, aber… ich kann mich jetzt eigentlich nicht mehr recht erinnern… Sie fragen, ob mich der Dienst sehr in Anspruch nahm. O nein! Ich hieß zwar Kammerpage, aber ich faßte das schon damals nicht als ein ernstes Amt auf. Zudem mußte Napoleon sehr bald alle Hoffnung aufgeben, daß es ihm gelingen würde, die Herzen der Russen für sich zu gewinnen, und so hätte er schließlich auch mich vergessen, den er aus politischen Erwägungen an sich herangezogen hatte, wenn… wenn er mich nicht persönlich liebgewonnen hätte; ich spreche das jetzt kühn aus. Mich zog mein Herz zu ihm. Dienst wurde nicht viel von mir verlangt: ich mußte manchmal im Palast erscheinen und… den Kaiser zu Pferd auf seinen Spazierritten begleiten, das war alles. Ich war ein ganz geschickter Reiter. Er pflegte vor Tische auszureiten; zur Suite gehörten gewöhnlich Davout, ich, der Mameluck Roustan…«

»Constant«, entfuhr es auf einmal dem Fürsten.

»N-nein, Constant war damals nicht da, er war damals mit einem Brief weggeschickt… zur Kaiserin Josephine; aber statt seiner waren zwei Ordonnanzen da und einige polnische Ulanen… na, das war das ganze Gefolge, abgesehen natürlich von den Generalen und Marschällen, die Napoleon mitnahm, um mit ihnen das Terrain und die Stellung der Truppen zu besichtigen und mit ihnen zu beraten… Am häufigsten befand sich Davout in seiner Umgebung, wie ich mich noch jetzt erinnere: ein sehr großer, kräftiger, kaltblütiger Mensch mit einer Brille und einem seltsamen Blick. Mit ihm beriet der Kaiser besonders oft. Er legte großen Wert auf seine Ansichten. Ich erinnere mich, daß sie schon mehrere Tage miteinander beraten hatten; Davout kam jeden Morgen und jeden Abend; oft stritten sie sogar; endlich schien Napoleon nachzugeben. Sie waren beide allein im Arbeitszimmer, als dritter ich, den sie kaum beachteten. Auf einmal fiel Napoleons Blick zufällig auf mich, ein seltsamer Gedanke leuchtete in seinen Augen auf. ›Kind!‹ sagte er plötzlich zu mir, ›wie denkst du darüber: wenn ich zur russischen Kirche übertrete und eure Sklaven befreie, werden mir dann die Russen folgen oder nicht?‹ – ›Niemals!‹ rief ich empört. Napoleon war überrascht. ›In den von Patriotismus glänzenden Augen dieses Kindes‹, sagte er, ›habe ich die Meinung des ganzen russischen Volkes gelesen. Genug davon, Davout! Das alles ist ein Hirngespinst! Entwickeln Sie Ihr zweites Projekt!‹«

»Ja, aber auch dieses Projekt war eine großartige Idee!« bemerkte der Fürst, augenscheinlich interessiert. »Sie führen also dieses Projekt auf Davout zurück?«

»Wenigstens berieten sie darüber zusammen. Die Idee rührte gewiß von Napoleon her und war dieses Adlers würdig, aber auch das andere Projekt war eine bedeutende Idee… Das war jener berühmte ›!‹ Und gleich am folgenden Tag wurde der Abmarsch angekündigt.«

»All das ist außerordentlich interessant«, sagte der Fürst sehr leise, »wenn das alles so zuging… das heißt, ich will sagen…«, suchte er sich schleunigst zu verbessern.

»O Fürst!« rief der General, der von seiner eigenen Erzählung so berauscht war, daß er vielleicht auch vor der größten Unvorsichtigkeit nicht mehr zurückgeschreckt wäre, »Sie sagen: ›All das‹, aber es war noch mehr; ich versichere Ihnen, daß ich noch weit mehr erlebte. All das waren nur armselige politische Ereignisse. Aber ich wiederhole Ihnen, ich war Zeuge der nächtlichen Tränen und Seufzer dieses großen Mannes, und das hat niemand gesehen und gehört außer mir! In der letzten Zeit weinte er allerdings nicht mehr, er hatte keine Tränen mehr, er stöhnte nur noch manchmal, aber sein Gesicht umwölkte sich immer düsterer. Die Ewigkeit umschattete ihn schon gleichsam mit ihren dunklen Flügeln. Manchmal verbrachten wir nachts ganze Stunden allein zusammen in Stillschweigen; der Mameluck Roustan schnarchte im Nebenzimmer; dieser Mensch hatte einen furchtbar festen Schlaf. ›Dafür ist er mir und der Dynastie treu‹, pflegte Napoleon von ihm zu sagen. Einmal war mir furchtbar schwer ums Herz, und er bemerkte plötzlich Tränen in meinen Augen; er blickte mich gerührt an: ›Du bemitleidest mich!‹ rief er. ›Du bemitleidest mich, mein Kind, und vielleicht bemitleidet mich noch ein anderes Kind, mein Sohn, ; alle übrigen hassen mich, und meine Brüder werden die ersten sein, die mich in meinem Unglück verraten!‹ Aufschluchzend stürzte ich zu ihm hin; da konnte auch er sich nicht mehr beherrschen, wir umarmten uns, und unsere Tränen vermischten sich miteinander. ›Schreiben Sie, schreiben Sie einen Brief an die Kaiserin Josephine!‹ rief ich ihm weinend zu. Napoleon fuhr zusammen, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu mir: ›Du erinnerst mich an ein drittes Herz, das mich liebt; ich danke dir, mein Freund!‹ Darauf setzte er sich hin und schrieb jenen Brief an Josephine, mit dem Constant am folgenden Tag weggeschickt wurde.«

»Das war schön von Ihnen gehandelt«, sagte der Fürst »Inmitten all der bösen Gedanken haben Sie ihn zu einem guten Gefühl hingeleitet.«

»Ganz richtig, Fürst! Und wie schön Sie das ausdrücken, ganz in Übereinstimmung mit Ihrem eigenen Herzen!« rief der General entzückt, und seltsamerweise blinkten wirkliche Tränen in seinen Augen. »Ja, Fürst, ja, das war ein großartiges Schauspiel! Und wissen Sie, ich wäre beinah mit ihm nach Paris gegangen und hätte dann schließlich sein Los auf der ›heißen Insel der Verbannung‹ geteilt, aber leider gingen unsere Lebenswege auseinander! Wir trennten uns: er ging nach der heißen Insel, wo er sich vielleicht in einem Augenblick tiefen Grams wenigstens einmal noch an die Tränen des armen Knaben erinnert haben mag, der ihn in Moskau umarmt und von ihm Abschied genommen hatte; ich dagegen kam in das Kadettenkorps, wo ich nichts fand als Drill, rohes Benehmen der Kameraden und… Ach, alles war zu Ende! ›Ich will dich deiner Mutter nicht entziehen und werde dich daher nicht mitnehmen!‹ sagte er zu mir an dem Tag, an dem der Rückzug begann; ›aber ich würde gern etwas für dich tun.‹ Er stieg schon zu Pferd. ›Schreiben Sie mir etwas zum Andenken in das Album meiner Schwester!‹ sagte ich schüchtern, denn er war sehr zerstreut und finster. Er drehte sich um, verlangte eine Feder und nahm das Album. ›Wie alt ist deine Schwester?‹ fragte er mich, die Feder schon in der Hand haltend. ›Drei Jahre‹, antwortete ich. ›.‹ Er schrieb in das Album:

Ne mentez jamais!
Napoléon, votre ami sincère
.

Ein solcher Rat und in einem solchen Augenblick, Sie müssen selbst sagen, Fürst …«

»Ja, das ist bedeutsam.«

»Dieses Blatt hing in einem goldenen Rahmen unter Glas bei meiner Schwester zeitlebens in ihrem Salon an der augenfälligsten Stelle, bis zu ihrem Tode (sie starb im Wochenbett); wo es jetzt ist, weiß ich nicht… Aber… ach, mein Gott! Es ist schon zwei Uhr! Wie ich Sie aufgehalten habe, Fürst! Es ist unverzeihlich!«

Der General stand von seinem Stuhl auf.

»Oh, im Gegenteil!« stammelte der Fürst. »Sie haben mich so schön unterhalten, und… Ihre Mitteilungen… waren so interessant, ich bin Ihnen so dankbar!«

»Fürst!« sagte der General, indem er ihm wieder die Hand drückte, so daß es fast schmerzte, und ihn mit glänzenden Augen unverwandt anblickte, als wäre er selbst auf einmal zur Besinnung gekommen und von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Fürst! Sie sind ein so guter, ein so harmloser Mensch, daß Sie mir manchmal geradezu leid tun. Ich sehe Sie mit inniger Rührung an, Gott segne Sie! Möge Ihr Leben… in Liebe beginnen und aufblühen! Das meine ist abgeschlossen! Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie!«

Er ging schnell hinaus, das Gesicht mit den Händen bedeckend. An der Aufrichtigkeit seiner Erregung konnte der Fürst nicht zweifeln. Er verstand auch, daß der Alte wie berauscht von seinem Erfolg wegging, aber er ahnte doch, daß dieser Mensch zu derjenigen Sorte von Lügnern gehörte, die zwar bis zur Wollust und Selbstvergessenheit schwindeln, aber sogar auf dem Gipfelpunkt ihres Rausches im stillen noch argwöhnen, daß man ihnen nicht glaubt und nicht glauben kann. Es war denkbar, daß der Alte in seiner jetzigen Lage zur Besinnung kommen, sich über die Maßen schämen und den Fürsten verdächtigen würde, er bemitleide ihn nur, was ihn natürlich tief kränken mußte. ›Habe ich auch nicht schlecht daran getan, daß ich ihn bis zu solcher Begeisterung kommen ließ?‹ fragte sich der Fürst beunruhigt, konnte sich aber im nächsten Augenblick nicht mehr halten und brach in ein gewaltiges, wohl zehn Minuten anhaltendes Gelächter aus. Er wollte sich wegen dieses Gelächters Selbstvorwürfe machen, sah aber sofort ein, daß er dazu keinen Anlaß habe, weil ihm ja der General unendlich leid tat.

Seine Ahnung ging in Erfüllung. Schon am Abend desselben Tages erhielt er einen sonderbaren Brief, der ebenso kurz wie energisch war. Der General teilte ihm darin mit, daß er sich auch von ihm für alle Zeiten trenne; er achte ihn und sei ihm dankbar, aber auch von ihm könne er nicht »Mitleidsbezeigungen annehmen, die die Würde eines ohnehin schon unglücklichen Mannes noch weiter herabdrücken«. Als der Fürst hörte, daß der Alte sich bei Nina Alexandrowna eingeschlossen habe, fühlte er sich seinetwegen beinahe beruhigt. Aber wir haben bereits gesehen, daß der General auch bei Lisaweta Prokofjewna Unheil anrichtete. Wir können hier keine Einzelheiten mitteilen, aber wir bemerken in aller Kürze, daß der Kernpunkt bei dieser Zusammenkunft darin bestand, daß der General Lisaweta Prokofjewna in Angst versetzte und durch seine bitteren Andeutungen über Ganja ihre Entrüstung erregte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gewiesen. Das war der Grund, weshalb er dann eine so schlechte Nacht und einen so schlechten Morgen hatte, allen Verstand verlor und zuletzt beinah geisteskrank auf die Straße lief.

Kolja begriff immer noch nicht, was eigentlich vorging, und hoffte sogar, durch Strenge etwas bei seinem Vater zu erreichen.

»Na, was denken Sie nun, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, General?« fragte er. »Zum Fürsten wollen Sie nicht, mit Lebedew haben Sie sich verzankt, Geld haben Sie nicht, und ich habe nie welches: da sitzen wir nun auf dem trockenen, mitten auf der Straße.«

»Man sitzt angenehmer im Trockenen als auf dem trockenen«, murmelte der General. »Mit diesem Wortspiel habe ich Begeisterung erregt… in einer Offiziersgesellschaft… im Jahre vierundvierzig… Im Jahre tausend… achthundert… vierundvierzig, ja!… Ich entsinne mich nicht… Oh, erinnere mich nicht daran, erinnere mich nicht daran! ›Wo ist meine Jugend, meine Frische!‹ wie jemand ausrief … Wer hat das doch ausgerufen, Kolja?«

»Das kommt bei Gogol in den ›Toten Seelen‹ vor, Papa«, antwortete Kolja und schielte ängstlich nach dem Vater hin.

»Tote Seelen! O ja, tote Seelen! Wenn du mich begraben läßt, dann schreib auf mein Grab: ›Hier ruht eine tote Seele!‹

Der Schande kann ich nicht entrinnen!

Wer hat das gesagt, Kolja?«

»Das weiß ich nicht, Papa.«

»Jeropegow soll nicht existiert haben? Jeroschka Jeropegow!…« rief er ganz außer sich und blieb auf der Straße stehen. »Und das ist mein Sohn, mein leiblicher Sohn! Jeropegow, ein Mann, der elf Monate lang wie ein Bruder mit mir zusammen gelebt hat, für den ich zu einem Duell gegangen bin … Fürst Wygorezkij, unser Hauptmann, sagte zu ihm, als wir bei der Flasche saßen: ›Du, Grischa, wo hast du denn deinen Anna-Orden erworben? Das möchte ich wirklich wissen.‹ – ›Auf den Schlachtfeldern meines Vaterlandes, da habe ich ihn erworben!‹ Ich rief: ›Bravo, Grischa!‹ Na, daraus entstand dann ein Duell. Und dann heiratete er Marja Petrowna Su… Sutugina und fiel auf dem Schlachtfeld… Die Kugel prallte von dem Kreuz ab, das ich auf der Brust trug, und fuhr ihm gerade in die Stirn. ›Ich werde dich in Ewigkeit nicht vergessen!‹ rief er und fiel tot nieder. Ich… ich habe mit Ehren gedient, Kolja, ich habe als anständiger Mann gedient, aber ›der Schande kann ich nicht entrinnen‹! Kommt ihr beide, du und Nina, zu meinem Grab… ›Arme Nina!‹ so habe ich sie früher genannt, Kolja; es ist schon lange her, noch in der ersten Zeit, und sie hörte das so gern!… Nina, Nina! Was habe ich dir für ein Schicksal bereitet! Wofür kannst du mich noch lieben, du geduldiges Herz? Deine Mutter hat das Herz eines Engels, Kolja, hörst du wohl? Das Herz eines Engels!«

»Das weiß ich, Papa. Papa, liebster Papa, lassen Sie uns nach Hause zurückkehren, zu Mama! Sie ist uns ja nachgelaufen! Aber was stehen Sie denn so da? Als ob Sie es nicht begreifen… Na, warum weinen Sie denn?«

Kolja weinte selbst und küßte seinem Vater die Hände.

»Du küßt mir die Hände, mir?«

»Nun ja, gewiß, gewiß. Was ist daran verwunderlich? Na, warum heulen Sie denn mitten auf der Straße? Und dabei nennen Sie sich General und wollen ein Soldat sein; na, nun kommen Sie!«

»Gott segne dich, lieber Junge, dafür, daß du dich gegen deinen mit Schande bedeckten Vater respektvoll benommen hast… ja, gegen einen mit Schande bedeckten alten Mann, deinen Vater… Mögest du einmal einen ebensolchen Sohn haben… le roi de Rome… Oh, mein Fluch, mein Fluch über dieses Haus!«

»Aber was soll denn dieser ganze Aufstand hier bedeuten?« brauste Kolja plötzlich auf. »Was ist denn passiert? Warum wollen Sie jetzt nicht nach Hause zurückkehren? Wieso sind Sie so verrückt geworden?«

»Ich werde es dir erklären, werde es dir erklären… ich werde dir alles sagen. Schrei nicht so, die Leute hören es… le roi de Rome… Ach, mir ist so übel, und ich bin so traurig!

Wo ist dein Grab, du alte Kinderfrau?

Wer hat so gerufen, Kolja?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig ist … Aber wo wollen Sie denn wieder hin?«

Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses.

»Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!«

Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran.

»Bück dich, bück dich!« murmelte er. »Ich will dir alles sagen… die Schande… bück dich… mit dem Ohr, mit dem Ohr, ich will es dir ins Ohr sagen…«

»Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin.

»Le roi de Rome…«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leibe zitterte.

»Was?… Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome?…«

»Ich… ich…«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich… will… ich will dir… alles… Marja, Marja… Petrowna Su-su-su…«

Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und blickte ihn an wie ein Irrsinniger. Der Alte wurde dunkelrot, seine Lippen färbten sich bläulich, leichte, krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in Koljas Arme zu sinken.

»Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte.

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Kapitel 43

V

Um die Wahrheit zu sagen, Warwara Ardalionowna hatte in dem Gespräch mit ihrem Bruder die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten über die Verlobung des Fürsten mit Aglaja Jepantschina ein wenig übertrieben. Vielleicht sah sie als scharfsichtige Frau das voraus, was in naher Zukunft geschehen mußte, vielleicht hatte sie sich auch darüber geärgert, daß der schöne Zukunftstraum (an den sie übrigens, um die Wahrheit zu sagen, selbst nicht geglaubt hatte) wie ein Rausch zerflattert war, und konnte sich nun, was ja nur menschlich ist, das Vergnügen nicht versagen, durch Übertreibung des Mißgeschicks noch mehr Gift in das Herz ihres Bruders zu gießen, den sie übrigens aufrichtig liebte und bemitleidete. Aber jedenfalls hatte sie unmöglich von ihren Freundinnen, den Fräulein Jepantschin, so bestimmte Nachrichten erhalten können; es lagen nur Andeutungen, halb ausgesprochene Worte, bedeutsames Stillschweigen und rätselhafte Redewendungen vor. Vielleicht hatten Aglajas Schwestern aber auch absichtlich ein Wörtchen zuviel gesagt, um selbst etwas von Warwara Ardalionowna in Erfahrung zu bringen; möglich war schließlich auch, daß auch sie sich das echt weibliche Vergnügen nicht hatten versagen wollen, ihre Freundin, und wenn es auch eine Freundin aus der Kinderzeit war, ein klein wenig zu necken, denn in dieser ganzen Zeit hatten sie doch wenigstens ein bißchen von den Absichten der Freundin merken müssen.

Andrerseits hatte sich vielleicht auch der Fürst geirrt, als er, in der Meinung, durchaus die Wahrheit zu sagen, Herrn Lebedew versicherte, er habe ihm nichts mitzuteilen und es habe sich mit ihm gar nichts Besonderes zugetragen. Tatsächlich war mit allen etwas sehr Seltsames vorgegangen: es hatte sich nichts zugetragen und gleichzeitig doch auch gewissermaßen sehr viel zugetragen. Letzteres hatte auch Warwara Ardalionowna mit ihrem zuverlässigen weiblichen Instinkt erraten.

Wie es aber zugegangen war, daß in der Familie Jepantschin alle einmütig auf ein und denselben Gedanken gekommen waren, daß sich nämlich mit Aglaja etwas Wichtiges ereignet habe und ihr Schicksal sich nun entscheide, dies in der richtigen Ordnung darzulegen, ist sehr schwer. Aber kaum war dieser Gedanke bei allen gleichzeitig aufgeblitzt, als sofort alle zusammen behaupteten, sie hätten das alles schon längst deutlich vorhergesehen; alles sei schon seit dem »armen Ritter«, ja schon früher klar gewesen, nur hätten sie damals an eine solche Abgeschmacktheit noch nicht glauben mögen. Das versicherten die Schwestern; natürlich hatte auch Lisaweta Prokofjewna früher als alle andern alles vorhergesehen und erkannt, und es hatte ihr schon längst ihres Gatten angehört hatte, durchbrach ihr Affekt alle Schranken.

Ihrer Meinung nach war alles, was vorgegangen war, ein unverzeihlicher, geradezu verbrecherischer Unsinn, ein dummes, abgeschmacktes Hirngespinst. »Erstens ist dieser Jammerfürst ein kranker Idiot, zweitens ein Dummkopf; er kennt weder die Welt, noch besitzt er eine Stellung in der Welt; wem soll man ihn präsentieren, wohin mit ihm? Er hat eine ganz unerlaubte demokratische Gesinnung und nicht den geringsten Dienstrang, und… und… was wird die alte Bjelokonskaja dazu sagen? Haben wir uns etwa einen solchen Mann für Aglaja gewünscht und in Aussicht genommen?« Das letzte Argument war selbstverständlich das wichtigste. Das Herz der Mutter zitterte bei diesem Gedanken und schwamm in Blut und Tränen, obwohl gleichzeitig im Innern dieses Herzens sich etwas regte und zu ihr sagte: ›In welcher Hinsicht ist eigentlich der Fürst kein solcher Schwiegersohn, wie ihr ihn braucht?‹ Und gerade diese Erwiderungen ihres eigenen Herzens waren es, die Lisaweta Prokofjewna am meisten zu schaffen machten.

Aglajas Schwestern gefiel der Gedanke an den Fürsten nicht übel; ja, dieser Gedanke schien ihnen nicht einmal besonders seltsam; kurz, es war nicht ausgeschlossen, daß sie plötzlich auf die Seite des Fürsten traten. Aber sie entschieden sich beide zu schweigen. Man hatte in der Familie ein für allemal die Beobachtung gemacht: je eigensinniger und hartnäckiger in einer die ganze Familie betreffenden Streitfrage Lisaweta Prokofjewnas Widerspruch und Widerstand war, um so mehr konnte dies allen als ein Anzeichen dafür dienen, daß sie vielleicht schon mit ihnen in dieser Streitfrage einverstanden war. Übrigens konnte Alexandra Iwanowna sich nicht völlig schweigsam verhalten. Die Mama, von der sie schon seit langer Zeit als Ratgeberin anerkannt war, rief sie jetzt alle Augenblicke zu sich und verlangte ihre Meinung zu hören; namentlich aber mußte Alexandra ihr mit ihrem Gedächtnis aushelfen. Die Mutter fragte zum Beispiel: wie das alles gekommen sei? Warum das niemand gesehen habe? Warum sie damals nichts gesagt hätten? Was damals dieser widerwärtige »arme Ritter« zu bedeuten gehabt habe? Warum sie, Lisaweta Prokofjewna, allein dazu verurteilt sei, für alle zu sorgen, auf alles aufzupassen und alles vorauszusehen, während alle übrigen nur Maulaffen feilhielten und so weiter und so weiter. Alexandra Iwanowna war anfangs vorsichtig und bemerkte nur, sie halte Papas Ansicht für ganz richtig, daß in den Augen der Welt die Wahl des Fürsten Myschkin zum Ehemann einer der Jepantschinschen Töchter möglicherweise als eine sehr vernünftige Handlung erscheinen werde. Allmählich redete sie sich in Eifer und fügte hinzu, der Fürst sei überhaupt kein »Dummkopf« und nie ein solcher gewesen, und was die Stellung in der Gesellschaft anlange, so könne noch kein Mensch wissen, was man in einigen Jahren bei uns in Rußland für die gesellschaftliche Stellung eines anständigen Menschen als notwendig erachten werde: die Bekleidung eines höheren Amtes, wie dies bisher erforderlich war, oder irgend etwas anderes. Auf all diese Bemerkungen antwortete die Mama sofort in aller Schärfe, Alexandra sei ein »Freigeist«, und all das komme von der »verdammten Frauenfrage« her. Eine halbe Stunde darauf begab sie sich in die Stadt und von dort nach dem »«, um die alte Bjelokonskaja zu besuchen, die zufällig gerade um diese Zeit nach Petersburg gekommen war, aber bald wieder abreisen wollte. Sie war Aglajas Patin.

Die »alte« Bjelokonskaja hörte Lisaweta Prokofjewnas fieberhafte, verzweifelte Bekenntnisse an, ohne sich durch die Tränen der fassungslosen Familienmutter im geringsten rühren zu lassen, ja sie blickte diese sogar recht spöttisch an. Sie war eine schreckliche Despotin; sie konnte sich nicht dazu herbeilassen, ihre Freundinnen, mochte die Freundschaft auch noch so alt sein, als ihr gleichstehende Personen zu behandeln, und auf Lisaweta Prokofjewna blickte sie, gerade wie vor dreißig Jahren, immer noch wie auf ihre protégée herab und konnte sich mit der Schroffheit und Selbständigkeit ihres Charakters nicht aussöhnen. Sie bemerkte unter anderm, sie schienen da alle nach ihrer ständigen Gewohnheit reichlich voreilig gewesen zu sein und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht zu haben; sie habe sich trotz genauesten Zuhörens nicht davon überzeugen können, daß bei ihnen tatsächlich etwas Ernsthaftes vorgegangen sei; ob es nicht das beste sei, noch ein Weilchen zu warten, bis sich etwas ereigne; der Fürst sei nach ihrer Meinung ein anständiger junger Mann, wenn er auch krank, sonderbar und recht unbedeutend sei. Das schlimmste sei, daß er sich ganz offen eine Geliebte halte. Lisaweta Prokofjewna merkte sehr wohl, daß die alte Bjelokonskaja auf sie ein bißchen böse war, weil der von ihr warm empfohlene Jewgenij Pawlowitsch bei der Familie keinen Erfolg gehabt hatte. Ihre Stimmung war bei der Rückkehr nach Pawlowsk noch gereizter als vor dieser Fahrt, und alle bekamen sofort gehörig etwas ab, vor allem, weil sie »ganz verrückt« geworden seien. In keiner Familie gehe es so zu wie bei ihnen. »Warum habt ihr es so eilig gehabt? Was ist denn vorgegangen? Soviel ich mich umsehe, ich kann nicht finden, daß wirklich etwas vorgegangen ist! Wartet erst einmal ab, bis sich etwas ereignet! Was Iwan Fjodorowitsch nicht alles vorschwebt! Aus einer Mücke soll man nicht gleich einen Elefanten machen.« Und so weiter.

Es lief darauf hinaus, man müsse sich beruhigen, kaltblütig beobachten und abwarten. Aber leider hielt die Ruhe keine zehn Minuten vor. Den ersten Stoß erhielt die Kaltblütigkeit durch die Nachrichten über das, was sich zugetragen hatte, während die Mama auf dem Kamennyj Ostrow gewesen war. (Lisaweta Prokofjewnas Fahrt hatte an dem Tag stattgefunden, an welchem der Fürst statt um zehn Uhr um ein Uhr gekommen war.) Die Schwestern antworteten auf die ungeduldigen Fragen der Mama sehr ausführlich. Es sei in ihrer Abwesenheit absolut nichts vorgefallen. Der Fürst sei gekommen; Aglaja sei lange, wohl eine halbe Stunde lang, nicht zu ihm hereingekommen; als sie dann endlich hereingekommen sei, habe sie dem Fürsten sofort eine Partie Schach angeboten; aber vom Schachspiel verstehe der Fürst so gut wie nichts, und Aglaja habe ihn sogleich besiegt; sie sei sehr lustig geworden, habe den Fürsten wegen seiner Unkenntnis schrecklich verspottet und ihn dermaßen ausgelacht, daß er einem habe leid tun können. Dann habe sie ihm den Vorschlag gemacht, mit ihr Karten zu spielen, und zwar Schafskopf. Aber dabei sei vorher überhaupt nicht mit ihm gezankt hätte; Kolja sei stehengeblieben und habe, ebenfalls, als ob er sich mit ihr nicht gezankt hätte, mit der größten Dienstbeflissenheit zurückgerufen: »Ich werde ihn schon nicht herausfallen lassen, Aglaja Iwanowna, seien Sie ganz unbesorgt!« und sei wieder spornstreichs weitergelaufen. Aglaja habe hierauf furchtbar gelacht, sei höchst zufrieden auf ihr Zimmer gegangen und dann den ganzen Tag über sehr lustig gewesen.

Durch diese Nachricht wurde Lisaweta Prokofjewna geradezu betäubt. Man könnte meinen: was war denn eigentlich vorgefallen? Aber sie war nun einmal in eine solche Stimmung hineingeraten. Ihre Unruhe stieg nun auf den höchsten Grad, und die Hauptsache war der Igel; was bedeutete der Igel? Was steckte dahinter? Was hatte das für einen geheimen Sinn? Was war das für ein Zeichen, was für ein Telegramm? Dazu kam noch, daß der arme Iwan Fjodorowitsch, der zufällig bei dem Verhör zugegen war, durch eine Antwort die ganze Sache vollständig verdarb. Seiner Meinung nach konnte von einem Telegramm überhaupt nicht die Rede sein, der Igel sei einfach ein Igel, weiter nichts, und bedeute vielleicht außerdem noch Freundschaft, Vergessen der Kränkungen, Versöhnung, kurz, das Ganze sei ein mutwilliger Streich, aber jedenfalls harmlos und verzeihlich.

In Klammern bemerken wir, daß er damit durchaus das Richtige getroffen hatte. Als der Fürst, von Aglaja verhöhnt und davongejagt, nach Hause zurückgekehrt war, hatte er schon eine halbe Stunde in der düstersten Verzweiflung dagesessen, als auf einmal Kolja mit dem Igel erschien. Sofort klärte sich der Himmel auf; der Fürst erstand gleichsam wieder von den Toten, fragte Kolja aus, klammerte sich an jedes Wort, das dieser sagte, erkundigte sich zehnmal nach derselben Sache, lachte wie ein Kind und drückte den beiden lachenden und ihn vergnügt anblickenden Knaben alle Augenblicke die Hände. Es war also klar, daß Aglaja ihm verzieh und er gleich heute abend wieder zu ihr gehen konnte, und das war für ihn nicht nur die Hauptsache, sondern geradezu alles.

»Was sind wir noch für Kinder, Kolja! Und… und… wie gut, daß wir noch Kinder sind!« rief er endlich entzückt aus.

»Es ist ganz einfach: sie ist in Sie verliebt, Fürst, weiter nichts!« antwortete Kolja nachdrücklich mit der Miene eines Sachverständigen.

Der Fürst wurde dunkelrot, erwiderte aber diesmal kein Wort, während Kolja nur lachte und in die Hände klatschte; einen Augenblick darauf fing auch der Fürst an zu lachen, und dann sah er bis zum Abend alle fünf Minuten nach der Uhr, ob schon viel Zeit vergangen und wieviel noch bis zum Abend übrig sei.

Aber für Lisaweta Prokofjewna war die Erregung doch zu stark; sie konnte sich schließlich nicht mehr beherrschen und überließ sich einer hysterischen Anwandlung. Trotz aller Einwände ihres Gatten und ihrer Töchter ließ sie unverzüglich Aglaja rufen, um ihr die entscheidende Frage vorzulegen und von ihr eine klare, entscheidende Antwort zu erhalten. »Die ganze Geschichte soll mit einemmal ein Ende nehmen«, erklärte sie, »wir müssen die Last von den Schultern loswerden, so daß künftig gar nicht mehr davon gesprochen wird! Sonst erlebe ich diesen Abend nicht mehr!« Erst in diesem Augenblick merkten alle, wie unsinnig weit sie die Sache hatten kommen lassen. Aber außer gekünstelter Verwunderung und Entrüstung sowie spöttischem Lachen über den Fürsten und alle Fragenden war von Aglaja nichts zu erreichen. Lisaweta Prokofjewna legte sich ins Bett und erschien erst wieder zum Tee, zu der Zeit, als der Fürst erwartet wurde. Sie erwartete den Fürsten mit großer Unruhe, und als er erschien, bekam sie beinahe wieder einen hysterischen Anfall.

Aber auch der Fürst selbst trat schüchtern ein, sozusagen tastend; er lächelte seltsam, blickte allen in die Augen und legte allen gewissermaßen eine Frage vor, weil Aglaja wieder nicht im Zimmer war, was ihn sofort beunruhigte. An diesem Abend war kein Fremder zugegen, sondern nur die Familienmitglieder. Fürst Schtsch. war noch in Petersburg wegen der Sache mit Jewgenij Pawlowitschs Onkel. ›Wenn doch wenigstens der da wäre und etwas redete!‹ dachte Lisaweta Prokofjewna bekümmert. Iwan Fjodorowitsch saß mit sehr sorgenvoller Miene da; die Schwestern waren ernsthaft und wie absichtlich schweigsam. Lisaweta Prokofjewna wußte nicht, womit sie ein Gespräch anfangen sollte. Endlich begann sie kräftig auf die Eisenbahn zu schimpfen und sah dabei den Fürsten herausfordernd an.

O weh! Aglaja erschien immer noch nicht, und dem Fürsten sank der Mut. Stammelnd und verwirrt äußerte er die Meinung, daß Reparaturen der Strecke allerdings sehr nützlich sein würden, aber Adelaida brach plötzlich in ein Gelächter aus, und der Fürst war wieder wie vernichtet. In dem gleichen Augenblick trat Aglaja ein, ruhig und würdevoll; sie erwiderte steif die Verbeugung des Fürsten und setzte sich feierlich auf den sichtbarsten Platz an dem runden Tisch. Sie blickte den Fürsten fragend an. Alle sagten sich, daß nun alle unklaren Fragen ihre Entscheidung finden würden.

»Haben Sie meinen Igel erhalten?« fragte sie ihn mit fester Stimme und beinah zornig.

»Ja, ich habe ihn erhalten«, antwortete der Fürst errötend und in ängstlicher Spannung.

»Sagen Sie unverzüglich, was Sie darüber denken! Das ist zur Beruhigung Mamas und unserer ganzen Familie unumgänglich notwendig.«

»Hör mal, Aglaja…«, begann der General beunruhigt.

»Das überschreitet ja alle Grenzen!« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken.

»Von Grenzen ist hier gar nicht die Rede, maman«, antwortete die Tochter sofort in sehr ernstem Ton. »Ich habe heute dem Fürsten einen Igel geschickt und wünsche seine Meinung kennenzulernen. Nun, reden Sie, Fürst!«

»Das heißt, was für eine Meinung, Aglaja Iwanowna?«

»Ihre Meinung über den Igel.«

»Das heißt… ich glaube, Aglaja Iwanowna, daß Sie wissen wollen, wie ich… den Igel aufgenommen habe… oder, besser gesagt, was ich über diese Zusendung… des Igels denke, das heißt… in diesem Fall nehme ich an, daß Sie… mit einem Wort…«

Der Atem ging ihm aus, und er verstummte.

»Nun, viel haben Sie gerade nicht gesagt«, bemerkte Aglaja, nachdem sie etwa fünf Sekunden gewartet hatte.

»Nun gut, ich bin einverstanden, daß wir den Igel beiseite lassen, aber ich freue mich sehr, daß ich endlich all den Unklarheiten, die sich angesammelt haben, ein Ende machen kann. Erlauben Sie also, daß ich Sie jetzt endlich ganz persönlich frage: halten Sie um meine Hand an oder nicht?«

»O Gott!« entfuhr es Lisaweta Prokofjewna.

Der Fürst zuckte zusammen und fuhr zurück. Iwan Fjodorowitsch war starr; die Schwestern machten finstere Gesichter.

»Lügen Sie nicht, Fürst! Sagen Sie die Wahrheit! Man verfolgt mich Ihretwegen mit seltsamen Fragen; haben diese Fragen irgendeine Begründung? Nun?«

»Ich habe nicht um Ihre Hand angehalten, Aglaja Iwanowna«, sagte der Fürst, der plötzlich lebhaft wurde, »aber… Sie wissen selbst, wie ich Sie liebe und an Sie glaube… sogar jetzt…«

»Ich fragte Sie: halten Sie um meine Hand an oder nicht?«

»Ja, ich tue es«, erwiderte der Fürst beklommen.

Auf diese Worte folgte eine allgemeine, starke Bewegung.

»So geht das nicht, mein Kind«, sagte Iwan Fjodorowitsch in starker Erregung. »Das…das ist beinah unerhört, Glascha… Verzeihen Sie, Fürst, verzeihen Sie, mein Teuerster!… Lisaweta Prokofjewna!« wandte er sich an seine Gattin um Hilfe, »es wird nötig sein… zu überlegen…«

»Ich weigere mich, ich weigere mich!« rief Lisaweta Prokofjewna mit abwehrenden Handbewegungen.

»Gestatten Sie auch mir zu reden, maman; ich bin in einer solchen Angelegenheit doch auch von einiger Wichtigkeit: dies ist der Augenblick, in dem sich mein Schicksal entscheidet« (genau so drückte Aglaja sich aus), »und ich will selbst Bescheid wissen und freue mich außerdem, daß es in Gegenwart aller geschieht… Wenn Sie also ›ernste Absichten haben‹, Fürst, so gestatten Sie mir die Frage, wodurch Sie mich eigentlich glücklich zu machen gedenken!«

»Ich weiß wirklich nicht, Aglaja Iwanowna, was ich Ihnen antworten soll; was… was soll ich da antworten? Und dann… ist es denn notwendig?«

»Sie scheinen verlegen geworden zu sein und keine Luft zu bekommen; erholen Sie sich ein wenig und sammeln Sie neue Kraft; trinken Sie ein Glas Wasser; übrigens wird auch gleich Tee gebracht.«

»Ich liebe Sie, Aglaja Iwanowna, ich liebe Sie sehr, ich liebe nur Sie allein und… bitte treiben Sie keinen Scherz, ich liebe Sie sehr.«

»Aber das ist doch schließlich eine wichtige Sache; wir sind keine Kinder und müssen es vom praktischen Standpunkt aus ansehen… Haben Sie jetzt die Güte anzugeben, worin Ihr Vermögen besteht!«

»Aber, aber, Aglaja! Was redest du! Das ist ja ungehörig, ganz ungehörig…«, murmelte Iwan Fjodorowitsch erschrocken.

»Eine Schande!« flüsterte Lisaweta Prokofjewna laut.

»Sie ist verrückt geworden!« flüsterte Alexandra ebenso laut.

»Mein Vermögen… das heißt mein Geld?« fragte der Fürst erstaunt.

»Ganz richtig.«

»Ich besitze… ich besitze jetzt hundertfünfunddreißigtausend Rubel«, murmelte der Fürst errötend.

»Mehr nicht?« fragte Aglaja laut und in aufrichtiger Verwunderung, ohne irgendwie zu erröten. »Übrigens, das macht nichts, namentlich bei sparsamer Wirtschaft… Beabsichtigen Sie, ein Amt anzunehmen?«

»Ich wollte die Hauslehrerprüfung ablegen…«

»Sehr schön, das wird natürlich unsere Mittel vermehren. Haben Sie vor, Kammerjunker zu werden?«

»Kammerjunker? Daran habe ich nie gedacht; aber…«

Aber hier konnten sich die beiden Schwestern nicht mehr halten und prusteten vor Lachen los. Adelaida hatte schon lange in Aglajas zuckenden Gesichtsmuskeln die Vorzeichen eines eilig nahenden, unbezwinglichen Gelächters bemerkt, das Aglaja vorläufig noch mit aller Kraft unterdrückte. Aglaja wollte den lachenden Schwestern einen drohenden Blick zuwerfen, konnte sich aber selbst keine Sekunde länger beherrschen und brach ebenfalls in ein tolles, fast hysterisches Gelächter aus; schließlich sprang sie auf und lief aus dem Zimmer.

»Das habe ich doch gewußt, daß es nur ein Spaß war und weiter nichts!« rief Adelaida. »Von Anfang an, schon mit dem Igel!«

»Nein, das kann ich nicht mehr dulden, das kann ich nicht mehr dulden!« rief Lisaweta Prokofjewna, in heftigem Zorn aufbrausend, und lief schnell hinter Aglaja her. Auch die Schwestern eilten sofort der Mutter nach. Im Zimmer blieben nur der Fürst und das Oberhaupt der Familie.

»Das, das ist ja… kannst du dir so etwas vorstellen, Lew Nikolajitsch?« rief der General heftig; er wußte offenbar selbst nicht, was er sagen wollte. »Nein, im Ernst, sage im Ernst!«

»Ich sehe, daß Aglaja Iwanowna sich über mich lustig gemacht hat«, antwortete der Fürst traurig.

»Warte einen Augenblick, Bruder; ich will hingehen, und du wartest hier… denn… erkläre wenigstens du mir, Lew Nikolajitsch, wie das alles gekommen ist und was das alles sozusagen für einen Zweck verfolgt! Du mußt selbst zugeben, Bruder, ich bin schließlich der Vater, aber obwohl ich der Vater bin, verstehe ich überhaupt nichts mehr. Also gib wenigstens du mir eine Erklärung!«

»Ich liebe Aglaja Iwanowna; das weiß sie und… ich meine, sie weiß es schon lange.«

Der General zuckte mit den Achseln.

»Seltsam, seltsam… du liebst sie sehr?«

»Ja, ich liebe sie sehr.«

»Das alles kommt mir so seltsam vor, so seltsam! Ich meine, es ist eine solche Überraschung, etwas so Unerwartetes, daß… Siehst du, mein Lieber, ich will nicht von deinem Vermögen reden (obwohl ich geglaubt hatte, daß du mehr besäßest), aber… das Glück meiner Tochter muß mir… und schließlich… bist du denn imstande, sie sozusagen… glücklich zu machen? Und… und… was war das? War das von ihrer Seite Spaß oder Ernst? Ich meine nicht von deiner Seite, sondern von ihrer Seite?«

Hinter der Tür ließ sich Alexandra Iwanownas Stimme vernehmen; sie rief den Papa.

»Warte einen Augenblick, Bruder, warte! Warte und denke über die Sache nach, ich komme gleich wieder…«, sagte er hastig und leistete eilig und beinah erschrocken dem Ruf seiner Tochter Folge.

Er fand folgende Gruppe vor: seine Gattin und Aglaja lagen sich in den Armen und zerflossen in Tränen. Es waren Tränen der Glückseligkeit, der Rührung und der Versöhnung. Aglaja küßte ihrer Mutter die Hände, die Wangen, die Lippen; beide hielten sich fest umschlungen.

»Also da ist sie, sieh sie dir an, Iwan Fjodorytsch! Da hast du sie jetzt ganz, wie sie ist!« sagte Lisaweta Prokofjewna.

Aglaja wandte ihr glückseliges, verweintes Gesichtchen von der Brust der Mama weg, blickte den Papa an, lachte laut auf, sprang zu ihm hin, umarmte ihn kräftig und küßte ihn mehrmals. Dann stürzte sie wieder zur Mutter und verbarg ihr Gesicht völlig an deren Brust, so daß es niemand mehr sehen konnte, und begann gleich wieder zu weinen. Lisaweta Prokofjewna bedeckte sie mit dem Ende ihres Schals.

»Aber was in aller Welt richtest du uns denn nur an, du grausames Mädchen; denn so muß man dich nach solchem Benehmen nennen!« sagte sie, aber in freudigem Ton, als ob sie jetzt leichter atme.

»Ich bin grausam, ja, grausam!« fiel Aglaja ein. »Ich bin unartig! Verwöhnt! Sagen Sie es Papa! Ach, er ist ja hier. Papa, sind Sie hier? Hören Sie doch!« rief sie, unter Tränen lachend.

»Mein liebes Kind, mein Abgott!« rief der General und küßte ihr strahlend vor Glückseligkeit die Hand, die Aglaja ihm nicht entzog. »Also du liebst diesen jungen Mann?«

»Nein, nein, nein! Ich kann… Ihren jungen Mann nicht leiden, ich kann ihn nicht leiden!« rief Aglaja plötzlich aufbrausend und hob den Kopf. »Und wenn Sie, Papa, es noch einmal wagen… ich sage Ihnen das ganz im Ernst; hören Sie: ganz im Ernst!«

Sie sprach wirklich im Ernst: sie war sogar ganz rot geworden, und ihre Augen blitzten. Der Papa schwieg erschrocken; aber Lisaweta Prokofjewna machte ihm, ohne daß Aglaja es merkte, ein Zeichen, und er verstand, was es bedeuten sollte: ›Frage nicht weiter!‹

»Wenn es so steht, mein Engel, nun, dann wie du willst, meinetwegen, er wartet dort allein; sollen wir ihm nicht auf zarte Weise andeuten, daß er fortgehen möchte?«

Dabei zwinkerte der General seinerseits Lisaweta Prokofjewna zu.

»Nein, nein, ganz unnötig, noch dazu, wenn es ›auf zarte Weise‹ geschieht: gehen Sie selbst zu ihm hin; ich werde dann auch gleich kommen. Ich will diesen … diesen jungen Mann um Entschuldigung bitten, denn ich habe ihn gekränkt.«

»Und sehr hast du ihn gekränkt«, bestätigte Iwan Fjodorowitsch ernst.

»Nun, dann… bleibt lieber alle hier, ich werde zuerst allein hingehen, kommt mir dann gleich nach, in einer Sekunde! So wird es das beste sein!«

Sie war schon zur Tür gegangen, drehte sich aber plötzlich wieder um.

»Ich werde loslachen! Ich werde vor Lachen sterben!« sagte sie traurig.

Aber in demselben Augenblick wandte sie sich um und lief zum Fürsten.

»Nun, was soll das alles heißen? Wie denkst du darüber?« fragte Iwan Fjodorowitsch rasch.

»Ich fürchte mich, es auszusprechen«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna ebenso schnell. »Aber meiner Ansicht nach ist die Sache klar.«

»Auch nach meiner Ansicht ist sie klar. Klar wie der Tag. Sie liebt.«

»Sie liebt nicht nur, sie ist restlos verliebt!« erklärte Alexandra Iwanowna. »Aber in wen denn nun eigentlich?«

»Gott segne sie, wenn das nun einmal ihr Schicksal ist!« sagte Lisaweta Prokofjewna, sich fromm bekreuzigend.

»Schicksal«, bestätigte der General, »und seinem Schicksal kann man nicht entgehen!«

Alle gingen in den Salon; dort erwartete sie eine neue Überraschung.

Aglaja lachte, als sie zu dem Fürsten trat, nicht los, wie sie das befürchtet hatte, sondern sagte im Gegenteil schüchtern zu ihm:

»Verzeihen Sie einem dummen, schlechten, verzogenen Mädchen« (sie ergriff seine Hand) »und seien Sie überzeugt, daß wir alle Sie außerordentlich hochschätzen! Und wenn ich Ihre schöne… gütige Herzenseinfalt zu verspotten wagte, so bitte ich Sie, es mir zu verzeihen, wie man einem Kind eine Unart verzeiht; verzeihen Sie, daß ich so auf einer Dummheit beharrte, die natürlich nicht die geringsten Folgen haben darf…«

Die letzten Worte sprach Aglaja mit besonderem Nachdruck.

Der Vater, die Mutter und die Schwestern kamen alle noch früh genug in den Salon, um dies alles zu sehen und mit anzuhören, und waren alle überrascht von der »Dummheit, die nicht die geringsten Folgen haben dürfe«, und noch mehr von der ernsten Stimmung, in der Aglaja von dieser Dummheit sprach. Alle sahen einander fragend an, aber der Fürst schien diese Worte gar nicht verstanden zu haben und war auf dem Gipfel der Glückseligkeit.

»Warum reden Sie so?« murmelte er. »Warum bitten Sie… um Verzeihung?…«

Er wollte sogar sagen, er sei dessen nicht würdig, um Verzeihung gebeten zu werden. Wer weiß, vielleicht hatte er auch den Sinn der Worte »eine Dummheit, die nicht die geringsten Folgen haben darf«, verstanden und freute sich, ein sonderbarer Mensch, wie er nun einmal war, über diese Worte. Unstreitig bildete es für ihn schon den Gipfel der Seligkeit, daß er wieder ungehindert zu Aglaja kommen, mit ihr reden, mit ihr Spazierengehen durfte, und wer weiß, vielleicht wäre er damit sein ganzes Leben lang zufrieden gewesen! (Gerade diese Genügsamkeit war es wohl, was Lisaweta Prokofjewna im stillen fürchtete; sie erriet sie und hegte im stillen viele Befürchtungen, die sie selbst nicht deutlich auszusprechen wußte.)

Man kann sich nur schwer eine Vorstellung davon machen, wie lebhaft und munter sich der Fürst an diesem Abend zeigte. Er war so heiter, daß man bei seinem Anblick selbst heiter wurde, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten. Er war gesprächig, und das hatte sich bei ihm seit jenem Vormittag, an dem er vor einem halben Jahre zuerst die Bekanntschaft der Familie Jepantschin gemacht hatte, nicht wiederholt; nach seiner Rückkehr nach Petersburg war er in auffälliger Weise betont schweigsam gewesen und hatte erst kürzlich in Gegenwart aller zum Fürsten Schtsch. gesagt, er müsse sich beherrschen und schweigen, da er eine Idee nicht dadurch entwürdigen dürfe, daß er sie darlege. An diesem Abend redete er fast allein und erzählte viel; auf Fragen antwortete er freudig, klar und eingehend. Aber in seinen Worten war nichts zu entdecken, was an die Sprache eines Verliebten erinnert hätte. Es waren lauter ernste, zum Teil sogar schwierige Gedanken. Der Fürst trug sogar einige eigene Ansichten, einige eigene heimliche Beobachtungen vor, so daß das alles sogar einen lächerlichen Eindruck gemacht hätte, wäre nicht die »schöne Darstellung« gewesen, wie nachher alle Zuhörer übereinstimmend erklärten. Zwar liebte der General ernste Gesprächsthemen, aber sowohl er als auch Lisaweta Prokofjewna fanden im stillen, daß das Gespräch doch gar zu gelehrt sei, so daß sie gegen Ende des Abends geradezu traurig wurden. Übrigens wurde der Fürst zuletzt so übermütig, daß er ein paar sehr komische Anekdoten erzählte, über die er selbst zuallererst lachte, so daß die andern dann schon mehr über sein fröhliches Lachen als über die Anekdoten lachten. Was Aglaja anlangte, so redete sie den ganzen Abend fast gar nicht; dafür hörte sie, wenn Lew Nikolajewitsch sprach, zu, ohne die Augen von ihm abzuwenden; es schien sogar, als wäre ihr das Ansehen noch wichtiger als das Zuhören.

»Sie sieht ihn fortwährend an und wendet kein Auge von ihm, sie hascht ordentlich nach jedem Wort von ihm und klammert sich daran fest!« sagte Lisaweta Prokofjewna nachher zu ihrem Gatten. »Aber wenn man ihr sagt, daß sie ihn liebt, dann ist der Teufel los!«

»Was ist zu machen? Es ist ihr Schicksal!« erwiderte der General achselzuckend. Noch mehrmals wiederholte er diese seine Lieblingsredensart. Wir wollen noch hinzufügen, daß ihm als Geschäftsmann an der augenblicklichen Lage der Dinge ebenfalls vieles sehr mißfiel, namentlich die herrschende Unklarheit, aber auch er entschied sich vorläufig dafür, zu schweigen und … nach Lisaweta Prokofjewnas Augen zu blicken.

Die freudige Stimmung der Familie hielt nicht lange an. Schon am folgenden Tag zankte sich Aglaja wieder mit dem Fürsten, und das setzte sich ohne Unterbrechung an allen folgenden Tagen fort. Ganze Stunden machte sie den Fürsten lächerlich und behandelte ihn beinah wie einen Hanswurst. Allerdings saßen sie manchmal eine oder zwei Stunden lang zusammen in der Laube des Hausgärtchens, aber die andern beobachteten, daß der Fürst während dieser Zeit Aglaja fast immer aus der Zeitung oder einem Buche vorlas.

»Wissen Sie«, sagte Aglaja einmal zu ihm, indem sie ihn beim Vorlesen der Zeitung unterbrach, »ich habe bemerkt, daß Sie furchtbar ungebildet sind; wenn man Sie nach etwas fragt, nichts wissen Sie ordentlich: weder wer was getan hat, noch in welchem Jahr etwas geschehen ist, noch auf Grund welches Vertrages. Das ist kläglich.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich keine große Gelehrsamkeit besitze«, erwiderte der Fürst.

»Was bleibt denn dann noch an Ihnen übrig? Wie kann ich Sie dann achten? Lesen Sie weiter; übrigens, es ist nicht nötig, hören Sie auf damit!«

Und an demselben Abend veranstaltete sie wieder ein für alle rätselhaftes Intermezzo. Fürst Schtsch. war zurückgekehrt. Aglaja benahm sich ihm gegenüber sehr freundlich und fragte ihn viel nach Jewgenij Pawlowitsch. (Fürst Lew Nikolajewitsch war noch nicht gekommen.) Auf einmal erlaubte sich Fürst Schtsch. auf »die nahe bevorstehende neue Umwälzung in der Familie« hinzudeuten, und zwar infolge einer Bemerkung, die Lisaweta Prokofjewna sich hatte entschlüpfen lassen, daß nämlich Adelaidas Hochzeit vielleicht nochmals verschoben werden müsse, damit beide Hochzeiten zusammen begangen werden könnten. Es war nicht zu fassen, in was für einen Zorn Aglaja über »all diese dummen Vermutungen« geriet, und unter anderm entfuhren ihr die Worte, sie habe »noch nicht die Absicht, die Nachfolgerin der Mätressen irgend jemandes zu werden«.

Durch diese Worte wurden alle und ganz besonders die Eltern in das höchste Erstaunen versetzt. Lisaweta Prokofjewna sprach in einer geheimen Beratung mit ihrem Mann das dringende Verlangen aus, es solle mit dem Fürsten eine endgültige Auseinandersetzung über sein Verhältnis zu Nastasja Filippowna stattfinden.

Iwan Fjodorowitsch erwiderte, er wolle darauf schwören, daß das alles nur eine durch Aglajas »Schamhaftigkeit« verursachte »Extravaganz« sei; hätte Fürst Schtsch. nicht angefangen, von der Hochzeit zu reden, so wäre es zu dieser Extravaganz gar nicht gekommen, denn Aglaja wisse selbst zuverlässig, daß das alles nur Klatsch schlechter Menschen sei und Nastasja Filippowna sich mit Rogoshin verheiraten werde; der Fürst habe, von einer Verbindung ganz zu schweigen, mit ihr überhaupt nichts zu schaffen und niemals etwas mit ihr zu schaffen gehabt, wenn man schon die reine Wahrheit sagen wolle.

Aber der Fürst ließ sich durch nichts irremachen und fuhr fort, in Seligkeit zu schwelgen. Freilich bemerkte auch er mitunter einen düsteren, ungeduldigen Ausdruck in Aglajas Blicken, aber er führte dies auf andere Gründe zurück, und der düstere Ausdruck verschwand dann auch von selbst wieder. Einmal überzeugt, ließ er sich in seiner Überzeugung durch nichts wankend machen. Vielleicht war er doch gar zu ruhig; wenigstens war Ippolit, der ihm zufällig einmal im Park begegnete, dieser Ansicht.

»Nun, habe ich Ihnen damals nicht die Wahrheit gesagt, als ich es aussprach, daß Sie verliebt seien?« begann er, indem er an den Fürsten herantrat und ihn anhielt. Dieser streckte ihm die Hand hin und beglückwünschte ihn zu seinem »guten Aussehen«. Der Kranke schien auch selbst mehr Mut zu haben, wie das Schwindsüchtigen eigen ist.

Er war auf den Fürsten mit der Absicht zugegangen, ihm eine giftige Bemerkung über seine glückselige Miene zu machen, jedoch kam er gleich wieder davon ab und begann von sich selbst zu reden. Er fing an zu klagen und klagte viel und lange und ziemlich zusammenhanglos.

»Sie glauben gar nicht«, sagte er zum Schluß, »was für reizbare, kleinliche, egoistische, eitle und gewöhnliche Menschen sie dort alle sind; können Sie sich vorstellen, daß sie mich nur unter der Bedingung aufgenommen haben, daß ich möglichst bald sterbe, und nun alle wütend sind, weil ich noch nicht sterbe, sondern mich im Gegenteil besser fühle? Es ist die reine Komödie! Ich möchte wetten, daß Sie es mir nicht glauben!«

Der Fürst mochte ihm nicht widersprechen.

»Ich denke sogar manchmal daran, wieder zu Ihnen überzusiedeln«, fügte Ippolit in lässigem Ton hinzu. »Sie halten also diese Leute doch nicht für fähig, einen Menschen unter der Bedingung aufzunehmen, daß er bestimmt und möglichst bald stirbt?«

»Ich glaubte, sie hätten Sie mit anderen Absichten zu sich eingeladen.«

»Aha! Sie sind gar nicht so einfältig, wie man von Ihnen behauptet! Ich habe jetzt nur keine Zeit, sonst würde ich Ihnen über diesen Ganja und seine Hoffnungen ein Licht aufstecken. Man wühlt gegen Sie, Fürst, wühlt gegen Sie erbarmungslos, und… es ist ordentlich zu bedauern, daß Sie dabei so ruhig sind. Aber das liegt leider in Ihrer Natur!«

»Nun sehen Sie einmal an, weswegen Sie mich bedauern!« erwiderte der Fürst lachend. »Würde ich denn etwa nach Ihrer Meinung glücklicher sein, wenn ich unruhiger wäre?«

»Es ist besser, unglücklich zu sein, aber zu wissen, als glücklich zu sein und… ein Narr zu sein. Wie es scheint, wollen Sie durchaus nicht glauben, daß Sie eine Nebenbuhlerschaft zu fürchten haben… und zwar von jener Seite?«

»Was Sie da über Nebenbuhlerschaft sagen, ist etwas zynisch, Ippolit; es tut mir leid, daß ich kein Recht habe, Ihnen darauf zu antworten. Was Gawrila Ardalionowitsch anlangt, so kann er ja nach einem so großen Verlust, wie er ihn erlitten hat, unmöglich ruhig bleiben; das werden Sie selbst zugeben müssen, selbst wenn Sie von seinen Angelegenheiten nur wenig wissen. Es scheint mir, daß man die Sache am besten von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet. Er hat noch Zeit, sich zu ändern, er hat noch ein langes Leben vor sich, und das Leben ist reich… Übrigens… übrigens« (hier geriet der Fürst in Verwirrung) »was das Wühlen betrifft… so verstehe ich nicht einmal, wovon Sie reden; lassen wir dieses Gespräch lieber, Ippolit.«

»Lassen wir es vorläufig; Sie bekommen es ja auch gar nicht fertig, sich anders als edelmütig zu benehmen. Ja, Fürst, Sie glauben so lange, bis Sie das Gegenteil mit eigenen Fingern fühlen, haha! Jetzt verachten Sie mich wohl sehr, nicht wahr?«

»Weswegen sollte ich das tun? Weil Sie mehr gelitten haben und leiden als wir?«

»Nein, weil ich meines Leidens nicht würdig bin.«

»Wer mehr hat leiden können, muß auch würdig sein, mehr zu leiden. Als Aglaja Iwanowna Ihre Beichte gelesen hatte, wünschte sie, Sie zu sehen, aber …«

»Sie schiebt es auf … sie darf es nicht, ich verstehe, ich verstehe …«, unterbrach ihn Ippolit, als wäre er bemüht, das Gespräch möglichst bald von diesem Gegenstand abzulenken. »Übrigens, man sagt, Sie selbst hätten ihr dieses ganze verrückte Zeug vorgelesen, es ist wirklich im Fieberwahn geschrieben und … fabriziert worden. Und ich verstehe nicht, was für eine, ich will nicht sagen Grausamkeit (das wäre für mich erniedrigend), aber was für eine kindische Eitelkeit und Rachsucht dazu gehört, mir diese Beichte zum Vorwurf zu machen und sie als Waffe gegen mich zu benutzen! Beunruhigen Sie sich nicht, ich sage das nicht mit Bezug auf Sie …«

»Aber es tut mir leid, daß Sie sich von diesem Heft lossagen, Ippolit, es ist mit großer Aufrichtigkeit geschrieben, und, wissen Sie, selbst seine komischsten Stellen, und es gibt ihrer viele« (Ippolit runzelte heftig die Stirn), »sind mit Leiden erkauft, denn schon das darin Mitgeteilte zu bekennen, war ebenfalls ein Leiden und… vielleicht die größte Mannhaftigkeit. Der Gedanke, von dem Sie sich dabei leiten ließen, hatte jedenfalls eine edle Grundlage, trotz allen gegenteiligen Scheins. Ich versichere Sie: ich erkenne das um so klarer, aus je weiterer Entfernung ich es betrachte. Ich fälle über Sie kein Urteil, ich sage das nur, um mich auszusprechen, und bedaure, daß ich damals geschwiegen habe…«

Ippolit wurde dunkelrot. In seinem Kopf blitzte für einen Augenblick der Gedanke auf, daß der Fürst sich nur verstelle und ihm eine Schlinge lege, aber als er ihm genauer ins Gesicht sah, konnte er doch nicht umhin, an seine Aufrichtigkeit zu glauben, und seine Miene hellte sich auf.

»Aber sterben muß ich dennoch!« sagte er und hätte beinah hinzugefügt: ›Ein Mensch wie ich!‹ »Und denken Sie sich nur, wie mich Ihr Ganjetschka zurechtweist; er hat sich diese Entgegnung ausgedacht: es würden von denen, die damals der Vorlesung meines Heftes beigewohnt hätten, drei oder vier am Ende vielleicht noch früher sterben als ich! Was sagen Sie dazu? Er meint, das werde für mich ein Trost sein, haha! Erstens sind sie noch nicht gestorben, und selbst wenn diese Leute bald wegsterben sollten, was ist das für mich für ein Trost, sagen Sie selbst! Er urteilt nach sich; übrigens ist er sogar noch weiter gegangen: er schimpft jetzt einfach und sagt, ein ordentlicher Mensch sterbe in solchem Falle schweigend, und hinter meinem ganzen Verhalten stecke weiter nichts als Egoismus! Was sagen Sie dazu! Nein, was ist das seinerseits für ein Egoismus! Wie raffiniert oder, richtiger gesagt, gleichzeitig wie stiermäßig roh ist der Egoismus dieser Leute, den sie trotzdem an sich gar nicht wahrzunehmen vermögen!… Haben Sie, Fürst, einmal etwas vom Tod Stepan Glebows im achtzehnten Jahrhundert gelesen? Ich las zufällig gestern etwas darüber…«

»Was für ein Stepan Glebow?«

»Er wurde unter Peter dem Großen gepfählt.«

»Ach mein Gott, ja, ich weiß! Er steckte fünfzehn Stunden lang am Pfahl, in der Kälte, nur mit einem Pelz bekleidet, und starb mit außerordentlichem Heldenmut; gewiß, ich habe es gelesen… Aber was soll das?«

»Manchem beschert Gott einen solchen Tod, aber unsereinem nicht! Sie meinen vielleicht, ich sei nicht imstande, so zu sterben wie Glebow?«

»Oh, das meine ich ganz und gar nicht«, erwiderte der Fürst verlegen, »ich wollte nur sagen, daß Sie… das heißt, nicht als ob Sie es Glebow nicht gleichtun würden, sondern… daß Sie… daß Sie dann vielmehr…«

»Ich errate es: Sie meinen, ich würde ein Osterman sein und kein Glebow? Das wollten Sie sagen?«

»Was für ein Osterman?« fragte der Fürst verwundert.

»Osterman, der Diplomat Osterman, der Zeitgenosse Peters«, murmelte Ippolit, der auf einmal etwas verlegen wurde. Der Fürst verstand ihn nicht sofort.

»O n-n-nein!« sagte er dann nach einigem Stillschweigen, indem er das Wort dehnte. »Ich möchte meinen… Sie würden nie ein Osterman sein.«

Ippolit machte ein finsteres Gesicht.

»Ich behaupte das übrigens deshalb«, fuhr der Fürst, offensichtlich bemüht, sich zu verbessern, fort, »weil die damaligen Menschen (ich kann versichern, daß mir das von jeher aufgefallen ist) sozusagen nicht dieselben Menschen waren wie die jetzigen, nicht derselbe Schlag wie jetzt in unserm Jahrhundert, wirklich wie eine andere Rasse… Damals waren die Menschen von einer einzigen Idee erfüllt; jetzt sind sie nervöser, mehr entwickelt, sensitiver, mit zwei, drei Ideen gleichzeitig beschäftigt… Der jetzige Mensch ist vielseitiger, und nach meiner Überzeugung hindert ihn das, ein so einheitlicher Mensch zu sein wie in jenen Jahrhunderten… Ich… ich habe das nur in diesem Sinne gesagt und nicht…«

»Ich verstehe; Sie versuchen jetzt, mich zu trösten, um die Naivität wiedergutzumachen, mit der sie anderer Meinung waren als ich, haha! Sie sind das reine Kind, Fürst! Ich bemerke jedoch, daß Sie alle mich wie… wie eine Porzellantasse behandeln… Nun, das tut nichts, das tut nichts, ich nehme es nicht übel. Jedenfalls hat sich das Gespräch zwischen uns recht komisch gestaltet; Sie sind manchmal noch das reinste Kind, Fürst. Lassen Sie sich übrigens sagen, daß ich vielleicht gewünscht habe, noch etwas Besseres zu sein als ein Osterman; um ein Osterman zu sein, würde es sich nicht lohnen, von den Toten aufzuerstehen… Aber ich sehe ein, daß ich guttun werde, möglichst bald zu sterben, sonst werde ich selbst… Lassen Sie mich nur in Ruhe! Auf Wiedersehn! Nun gut, dann sagen Sie mir einmal selbst, wie ich nach Ihrer Meinung am besten sterben würde… damit es recht… tugendhaft aussieht, meine ich. Nun, so reden Sie!«

»Gehen Sie an uns vorüber, und verzeihen Sie uns unser Glück!« sagte der Fürst mit leiser Stimme.

»Hahaha! Hatte ich es mir doch gedacht! Ich habe erwartet, daß unfehlbar so etwas kommen würde! Aber Sie… aber Sie… Nun ja, schöne Phrasen haben diese Leute immer zur Hand! Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!«

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Kapitel 44

VI

Was Warwara Ardalionowna ihrem Bruder von der Abendgesellschaft gesagt hatte, die im Jepantschinschen Landhaus stattfinden sollte und zu der die alte Bjelokonskaja erwartet wurde, erwies sich ebenfalls als völlig richtig; die Gäste wurden wirklich am Abend eben dieses Tages erwartet; aber auch bei dieser Mitteilung hätte sie sich etwas bestimmter ausgedrückt, als sie es hätte tun sollen. Allerdings war die Abendgesellschaft sehr eilig und sogar mit einer gewissen, anscheinend sehr unnötigen Erregung arrangiert worden, eben deshalb, weil in dieser Familie »alles anders zuging als bei andern Leuten«. Dies erklärte sich aus Lisaweta Prokofjewnas Ungeduld, die »aus dem Zustand des Zweifelns herauszukommen« wünschte, und aus der heißen Sorge der beiden Elternherzen um das Glück ihrer Lieblingstochter. Außerdem beabsichtigte die alte Bjelokonskaja tatsächlich, bald wieder abzureisen; da aber ihre Protektion in der vornehmen Welt wirklich viel bedeutete und die Eltern hofften, daß sie dem Fürsten wohlgesinnt sein werde, so rechneten sie darauf, daß die vornehme Welt Aglajas Bräutigam geradewegs aus den Händen der allmächtigen Alten entgegennehmen und daß folglich, wenn an ihm dies und das wunderlich sein sollte, es unter einer solchen Protektion weit weniger wunderlich erscheinen werde. Die Schwierigkeit bestand ja eben darin, daß die Eltern nicht imstande waren, selbst die Frage zu beantworten: »Ist bei dieser ganzen Sache etwas wunderlich und inwieweit? Oder ist dabei überhaupt nichts wunderlich?« Eine freundschaftliche, offenherzige Meinungsäußerung maßgebender und kompetenter Personen wäre ihnen gerade im gegenwärtigen Augenblick erwünscht gewesen, wo dank Aglajas Benehmen noch nichts definitiv entschieden war. Jedenfalls mußte man den Fürsten früher oder später in die vornehme Welt einführen, von der er auch nicht die geringste Ahnung hatte. Kurz und gut, sie beabsichtigten, ihn zu »zeigen«. Die in Aussicht genommene Gesellschaft sollte jedoch nur ganz einfach werden; es wurden nur »Freunde des Hauses« in ganz geringer Anzahl erwartet. Außer der alten Bjelokonskaja erwarteten sie noch eine Dame, die Frau eines sehr hohen Würdenträgers. Von jüngeren Leuten rechnete man fast nur auf Jewgenij Pawlowitsch; er sollte als Begleiter der alten Bjelokonskaja erscheinen.

Daß die alte Bjelokonskaja da sein würde, hatte der Fürst schon drei Tage vor der Abendgesellschaft gehört; von der Abendgesellschaft selbst aber erfuhr er erst tags zuvor. Er bemerkte selbstverständlich das geschäftige Gebaren der Familienmitglieder und durchschaute auch infolge einiger andeutender, besorgter Gespräche, die diese mit ihm führten, daß sie hinsichtlich des Eindrucks, den er machen würde, Befürchtungen hegten. Aber die Jepantschins hatten sich sämtlich eingebildet, daß er bei seiner Harmlosigkeit nicht imstande sei zu erraten, daß sie sich seinetwegen Sorge machten, was sie alle bei seinem Anblick innerlich taten. Übrigens legte er dem bevorstehenden Ereignis wirklich keinerlei Bedeutung bei; er war mit etwas ganz anderem beschäftigt: Aglaja wurde von Stunde zu Stunde launenhafter und düsterer, und das drückte ihn zu Boden. Als er erfuhr, daß auch Jewgenij Pawlowitsch erwartet wurde, freute er sich sehr und sagte, er habe ihn schon längst zu sehen gewünscht. Aus irgendeinem Grund mißfielen diese Worte allen; Aglaja verließ ärgerlich das Zimmer und benutzte erst spät am Abend, zwischen elf und zwölf Uhr, als der Fürst bereits fortging und sie ihn hinausbegleitete, die Gelegenheit, ihm ein paar Worte unter vier Augen zu sagen.

»Es wäre mir angenehm, wenn Sie morgen den ganzen Tag nicht zu uns kämen, sondern sich erst am Abend einfänden, wenn diese … Gäste sich schon versammeln. Sie wissen doch, daß wir Gäste haben werden?«

Sie sprach ungeduldig und außerordentlich mürrisch; es war das erstemal, daß sie diese Abendgesellschaft erwähnte. Für sie war der Gedanke an die Gäste fast unerträglich; das bemerkten alle. Vielleicht hatte sie große Lust, sich deswegen mit den Eltern zu zanken; aber ihr Stolz und ihre Schamhaftigkeit hinderten sie, davon anzufangen. Der Fürst erkannte sofort, daß auch sie seinetwegen ihre Befürchtungen hatte (und nicht zugeben wollte, daß dies der Fall war), und wurde nun auch seinerseits ängstlich.

»Ja, ich bin eingeladen«, antwortete er.

Es machte ihr offenbar Mühe, das Gespräch fortzusetzen.

»Kann man mit Ihnen einmal ernsthaft reden? Wenigstens einmal im Leben?« sagte sie, plötzlich in heftigen Zorn geratend, ohne selbst zu wissen worüber, und ohne sich beherrschen zu können.

»O ja, ich werde Ihnen aufmerksam zuhören; ich freue mich sehr«, murmelte der Fürst.

Aglaja schwieg wieder ein Weilchen und begann dann mit sichtlichem Widerwillen:

»Ich wollte mit den Meinigen nicht darüber streiten; in manchen Dingen sind sie nicht zur Vernunft zu bringen. Die Lebensanschauungen, die maman manchmal hat, sind mir von jeher zuwider gewesen. Von Papa will ich nicht reden, von dem ist nichts Besseres zu erwarten. Maman ist gewiß eine anständig denkende Frau; wagen Sie einmal, ihr etwas Unwürdiges zuzumuten, dann werden Sie sehen!

Na, aber vor diesem…Pack, da kriecht sie! Ich rede nicht von der alten Bjelokonskaja; sie ist ein böses Weib und hat einen schlechten Charakter, aber sie ist klug und versteht es, die andern alle im Zaum zu halten; das ist wenigstens ein Gutes an ihr. O diese unwürdige Erniedrigung! Und wie lächerlich das ist: wir haben in gesellschaftlicher Hinsicht immer der Mittelschicht angehört, der ausgesprochensten Mittelschicht, die man sich denken kann; wozu sollen wir uns jetzt in diesen vornehmen Kreis eindrängen? Die Schwestern hauen in dieselbe Kerbe; Fürst Schtsch. hat sie alle verdreht gemacht. Warum freuen Sie sich denn darüber, daß Jewgenij Pawlytsch kommen wird?«

»Hören Sie, Aglaja«, sagte der Fürst, »mir scheint, Sie sind um mich sehr besorgt, ich könnte morgen bei dieser Abendgesellschaft durchfallen?«

»Um Sie? Besorgt?« fuhr Aglaja auf und wurde dunkelrot. »Warum sollte ich um Sie besorgt sein, wenn Sie auch… wenn Sie sich auch völlig blamieren? Was geht das mich an? Und wie können Sie solche Ausdrücke gebrauchen? Was heißt das: ›durchfallen‹? Das ist ein häßlicher, gemeiner Ausdruck.«

»Das ist… ein Schulausdruck.«

»Na ja, ein Schulausdruck! Ein häßlicher Ausdruck! Sie beabsichtigen, wie es scheint, morgen in lauter solchen Ausdrücken zu reden. Suchen Sie sich doch zu Hause noch möglichst viel solche Ausdrücke aus Ihrem Wörterbuch heraus: damit werden Sie Effekt machen! Schade, daß Sie, wie es scheint, verstehen, mit Anstand ins Zimmer zu treten; wo haben Sie das nur gelernt? Verstehen Sie es, eine Tasse Tee mit Anstand in Empfang zu nehmen und auszutrinken, wenn alle absichtlich nach Ihnen hinsehen?«

»Ich meine, daß ich es verstehe.«

»Das ist schade; sonst hätte ich etwas zum Lachen. Zerbrechen Sie wenigstens die chinesische Vase im Salon! Sie ist sehr wertvoll: bitte zerbrechen Sie die; sie ist ein Geschenk, Mama wird den Verstand verlieren und in Gegenwart aller in Tränen ausbrechen, so ist sie ihr ans Herz gewachsen. Machen Sie irgendeine Handbewegung, wie Sie das zu tun pflegen, stoßen Sie dabei an die Vase und zerbrechen Sie sie! Setzen Sie sich absichtlich daneben!«

»Im Gegenteil, ich werde mich bemühen, mich möglichst weit davon zu setzen: ich danke Ihnen, daß Sie mich gewarnt haben.«

»Also fürchten Sie doch im voraus, daß Sie stark gestikulieren werden. Ich möchte wetten, daß Sie über irgendein ›Thema‹ sprechen werden, über irgend etwas Ernstes, Gelehrtes, Großartiges; das wird äußerst… wohlanständig sein!«

»Ich meine, es würde dumm herauskommen, wenn ich zu unpassender Zeit von dergleichen anfangen wollte.«

»Hören Sie ein für allemal«, Aglaja wurde es jetzt endlich zuviel, »wenn Sie wieder über solche Dinge Vorträge halten werden wie über die Todesstrafe oder über die wirtschaftliche Lage Rußlands oder darüber, daß ›die Welt durch die Schönheit erlöst wird‹, dann … werde ich mich natürlich freuen und sehr lachen, aber… ich sage Ihnen dann im voraus: kommen Sie mir dann nicht wieder unter die Augen! Hören Sie wohl: ich rede im Ernst! Diesmal rede ich wirklich im Ernst!«

Sie sprach diese Drohung tatsächlich in ernstem Ton aus, so daß aus ihren Worten und ihrem Blick sogar etwas Ungewöhnliches sprach, was der Fürst früher nie bemerkt hatte und was allerdings nicht nach Scherz aussah.

»Nun, Sie haben bewirkt, daß ich jetzt unfehlbar ›einen Vortrag halten‹ und vielleicht sogar die Vase zerbrechen werde. Vorhin hatte ich noch keine Befürchtungen, aber jetzt befürchte ich alles. Ich werde mit Sicherheit durchfallen.«

»Schweigen Sie also! Sitzen Sie still, und schweigen Sie!«

»Das wird nicht angehen; ich bin überzeugt, daß ich vor Angst anfangen werde zu reden und vor Angst die Vase zerbrechen werde. Vielleicht werde ich auch auf dem glatten Fußboden hinfallen, oder es wird sonst etwas passieren, denn dergleichen ist mir schon begegnet. Und nun werde ich die ganze Nacht davon träumen. Warum haben Sie auch davon zu reden angefangen!«

Aglaja blickte ihn finster an.

»Wissen Sie was?« fuhr der Fürst nach einer kleinen Pause endlich fort. »Das beste wird sein, wenn ich morgen gar nicht herkomme! Ich werde einen Zettel schicken, daß ich krank bin, und die Sache ist erledigt!«

Aglaja stampfte mit dem Fuß und wurde ganz blaß vor Zorn.

»Mein Gott! Hat man je so etwas erlebt! Er will nicht herkommen, wo doch alles eigens seinetwegen… o Gott! Ja, es ist ein Vergnügen, mit so einem… unvernünftigen Menschen zu tun zu haben wie Ihnen!«

»Nun, ich werde kommen, ich werde kommen!« unterbrach der Fürst sie schnell. »Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich den ganzen Abend dasitzen werde, ohne ein Wort zu sagen. Ich werde es ganz bestimmt so machen.«

»Daran werden Sie guttun. Sie sagten soeben ›krank melden‹; wo nehmen Sie eigentlich solche Ausdrücke her? Wie kommen Sie dazu, mir gegenüber solche Ausdrücke zu gebrauchen? Sie wollen mich wohl damit aufziehen?«

»Verzeihung! Das ist ebenfalls ein Schulausdruck; ich werde es nicht wieder tun. Ich begreife sehr wohl, daß Sie… Befürchtungen wegen meiner Person hegen… (aber werden Sie doch nicht böse!), und ich freue mich darüber sehr. Sie glauben gar nicht, wie ich mich jetzt vor Ihren Worten fürchte und – wie ich mich über Ihre Worte freue. Aber diese ganze Furcht ist nach meiner festen Überzeugung nur Torheit und dummes Zeug, wahrhaftig, Aglaja; aber die Freude wird bleiben. Ich habe es sehr gern, daß Sie ein solches Kind sind, ein so liebes, gutes Kind! Ach, wie schön Sie sein können, Aglaja!«

Aglaja wollte natürlich eine zornige Antwort geben und setzte schon dazu an, aber plötzlich erfüllte ein Gefühl, das für sie selbst überraschend war, in einem Augenblick ihre ganze Seele.

»Werden Sie mir auch meine jetzigen unartigen Reden nicht… später einmal… vorhalten?« fragte sie plötzlich.

»Was reden Sie da! Was reden Sie da! Und warum sind Sie wieder so rot geworden? Und jetzt sehen Sie wieder so finster aus! Sie machen jetzt manchmal ein so finsteres Gesicht, Aglaja, wie Sie es früher nie taten. Ich weiß, warum…«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!«

»Nein, es ist besser, wenn wir darüber reden. Ich wollte schon lange davon sprechen; ich habe schon früher einmal davon gesprochen, aber… das war zuwenig, denn Sie haben mir nicht geglaubt. Zwischen uns steht immer noch ein Wesen…«

»Schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie!« unterbrach ihn Aglaja; sie faßte ihn kräftig am Arm und sah ihn angstvoll an. In diesem Augenblick wurde sie gerufen; sie schien sich darüber zu freuen, ließ ihn stehen und lief davon.

Der Fürst lag die ganze Nacht im Fieber. Seltsamerweise hatte er schon mehrere Nächte hintereinander gefiebert. Diesmal kam ihm im halben Delirium der Gedanke: wenn er nun morgen in Gegenwart aller einen Anfall bekäme, was dann? Er hatte ja schon solche plötzlichen Anfälle gehabt. Bei diesem Gedanken überlief es ihn eiskalt; die ganze Nacht über sah er sich in einer wunderlichen, unerhörten Gesellschaft zwischen irgendwelchen sonderbaren Leuten. Die Hauptsache dabei war, daß er »einen Vortrag hielt«; er wußte, daß er nicht reden sollte, redete aber doch die ganze Zeit und suchte die Anwesenden zu etwas zu überreden. Jewgenij Pawlowitsch und Ippolit befanden sich ebenfalls unter den Gästen und schienen sehr gute Freunde zu sein.

Er erwachte zwischen acht und neun Uhr mit Kopfschmerzen, mit einer argen Verwirrung aller Gedanken und mit seltsamen Empfindungen. Aus irgendeinem Grunde fühlte er ein lebhaftes Verlangen, Rogoshin wiederzusehen, ihn wiederzusehen und viel mit ihm zu reden; worüber eigentlich, das wußte er selbst nicht; dann beschloß er, zu Ippolit zu gehen. In seinem Herzen herrschte eine gewisse Verworrenheit, so daß das, was er an diesem Vormittag erlebte, einen zwar sehr starken, aber dabei doch irgendwie unvollständigen Eindruck auf ihn machte. Eines dieser Erlebnisse war der Besuch Lebedews.

Lebedew erschien ziemlich früh, bald nach neun Uhr, und fast ganz betrunken. Obgleich der Fürst in der letzten Zeit auf seine Umgebung nicht viel geachtet hatte, war es ihm doch aufgefallen, daß, seitdem General Iwolgin vor drei Tagen von ihnen weggegangen war, Lebedew sich sehr schlecht aufführte. Er hatte auf einmal angefangen, sehr unsauber und schmutzig auszusehen; das Halstuch saß ihm schief, der Rockkragen war zerrissen. In seiner Wohnung tobte er nur so umher, so daß es über den Hof zu hören war; Wera kam einmal weinend zum Fürsten und erzählte ihm allerlei. Als er jetzt erschien, begann er in ganz seltsamer Weise zu reden, schlug sich gegen die Brust und beschuldigte sich selbst…

»Ich habe nun… ich habe nun den Lohn für meinen Verrat und für meine Gemeinheit erhalten… Ich habe eine Ohrfeige bekommen!« schloß er endlich mit tragischem Pathos.

»Eine Ohrfeige? Von wem?… Und so früh am Morgen?«

»So früh am Morgen?« versetzte Lebedew, sarkastisch lächelnd. »Die Zeit spielt dabei keine Rolle… nicht einmal bei einer physischen Bestrafung … aber ich habe eine moralische… eine moralische Ohrfeige erhalten und keine physische!«

Er setzte sich ungeniert hin und begann zu erzählen. Seine Erzählung war sehr unzusammenhängend; der Fürst wollte schon stirnrunzelnd weggehen, als ihn plötzlich einige Worte frappierten. Er war starr vor Verwunderung… Herr Lebedew erzählte seltsame Dinge.

Anfangs handelte es sich anscheinend um irgendeinen Brief; dabei kam Aglaja Iwanownas Name vor. Dann begann Lebedew auf einmal, sich bitter über den Fürsten selbst zu beklagen; man konnte erraten, daß er sich von dem Fürsten beleidigt fühlte. Zuerst habe der Fürst hinsichtlich seiner Beziehungen zu einer gewissen »Person« (zu Nastasja Filippowna) ihn seines Vertrauens gewürdigt, dann aber sich ganz von ihm losgesagt und ihn mit Schimpf und Schande weggejagt und sogar in so beleidigender Weise, daß er das letztemal »die harmlose Frage nach den nahe bevorstehenden Veränderungen im Hause« unhöflich zurückgewiesen habe. Mit Tränen, wie Betrunkene sie leicht vergießen, gestand Lebedew, nach alledem habe er es nicht mehr aushalten können, um so weniger, als er vieles wisse… sehr vieles… was ihm viele Personen mitgeteilt hätten: Rogoshin und Nastasja Filippowna und Nastasja Filippownas Freundin und Warwara Ardalionowna und… und sogar Aglaja Iwanowna selbst. »Können Sie sich das vorstellen? Durch Weras Vermittlung, durch Vermittlung meiner geliebten Tochter Wera, meiner einzigen Tochter… jawohl… übrigens nicht meiner einzigen, denn ich habe drei. Aber wer hat auf brieflichem Wege Lisaweta Prokofjewna Mitteilungen zugehen lassen, sogar unter dem Siegel des allertiefsten Geheimnisses, hehe? Wer hat sie von allen Beziehungen und Handlungen jener Person Nastasja Filippowna, in Kenntnis gesetzt, hehehe? Gestatten Sie die Frage: wer ist dieser Anonymus gewesen?«

»Sind das wirklich Sie gewesen?« rief der Fürst. »Allerdings«, antwortete der Betrunkene würdevoll; »und erst heute, um halb neun, erst vor einer halben Stunde… nein, es ist schon eine Dreiviertelstunde her, da habe ich die hochedle Mutter wissen lassen, ich hätte ihr ein sehr wichtiges Ereignis mitzuteilen. Durch ein Zettelchen habe ich sie es wissen lassen, durch das Dienstmädchen, von der Hintertür aus. Sie hat mich empfangen.«

»Sie haben soeben Lisaweta Prokofjewna gesehen?« fragte der Fürst, der kaum seinen Ohren traute.

»Ich habe sie soeben gesehen und eine Ohrfeige erhalten… eine moralische Ohrfeige. Sie gab mir den Brief zurück oder schleuderte ihn mir vielmehr hin, ungeöffnet… und jagte mich mit einem Fußtritt hinaus… übrigens nur im moralischen Sinne… beinah aber auch im physischen, es fehlte nicht viel daran!«

»Was war denn das für ein Brief, den sie Ihnen ungeöffnet hingeschleudert hat?«

»Habe ich es denn… Hehehe! Aber ich habe es Ihnen ja noch nicht gesagt! Ich glaubte, es Ihnen schon gesagt zu haben… Ich hatte so ein Briefchen zur Bestellung erhalten…«

»Von wem? An wen?«

Aber es war sehr schwer, aus manchen »Erklärungen« Lebedews klug zu werden oder auch nur etwas davon zu verstehen. Der Fürst konnte nur so viel begreifen, daß der Brief frühmorgens seiner Tochter Wera von einem Dienstmädchen eingehändigt sei zum Zweck der Bestellung an eine Adresse … »ebenso wie schon früher … ebenso wie schon früher ein Brief von derselben Dame an eine gewisse Person… (denn ich nenne die eine von ihnen eine Dame und die andere nur eine Person, um die letztere herabzusetzen und sie beide zu unterscheiden, denn es ist ein großer Unterschied zwischen einer unschuldigen, hochwohlgeborenen Generalstochter und… so einer Kameliendame); jener Brief war also von der Dame, deren Name mit dem Buchstaben A anfängt…«

»Wie ist das möglich? An Nastasja Filippowna? Unsinn!« rief der Fürst.

»Doch, doch, an die war er, und wenn nicht an sie, so an Rogoshin, das ist ganz dasselbe … und es ist sogar einmal ein Brief, den die Dame mit dem Buchstaben A an Herrn Terentjew geschrieben hatte, zur Bestellung abgegeben worden«, sagte Lebedew lächelnd und augenzwinkernd.

Da er häufig von einem Gegenstand zum andern sprang und vergaß, wovon er zu sprechen angefangen hatte, so schwieg der Fürst, um ihn sich aussprechen zu lassen. Aber es blieb dennoch sehr unklar, ob die Briefe eigentlich durch seine oder durch Weras Hände gegangen waren. Wenn er selbst versicherte, an Rogoshin und an Nastasja Filippowna, das sei ganz dasselbe, so war es danach wahrscheinlicher, daß die Briefe nicht durch seine Hände gegangen waren, vorausgesetzt, daß sie überhaupt existiert hatten. Auf welche Weise ihm jetzt ein Brief in die Hände gekommen war, blieb völlig ungeklärt; am wahrscheinlichsten war die Annahme, daß er ihn Wera irgendwie weggenommen… ihn ihr heimlich entwendet und in irgendwelcher Absicht zu Lisaweta Prokofjewna getragen hatte. Das war die Auffassung, zu der der Fürst schließlich gelangte.

»Sie sind verrückt geworden!« rief er ganz fassungslos.

»Nicht ganz, hochgeehrter Fürst«, erwiderte Lebedew nicht ohne Bosheit. »Allerdings wollte ich den Brief eigentlich Ihnen einhändigen, zu eigenen Händen, um Ihnen einen Dienst zu erweisen … aber ich entschied mich dann doch dafür, mich lieber dort verdient zu machen und der edelsten Mutter über alles Klarheit zu verschaffen… wie ich ja auch schon früher einmal ihr durch einen anonymen Brief eine Mitteilung hatte zugehen lassen; und als ich vorhin um acht Uhr zwanzig Minuten den Zettel schrieb, in dem ich bat, mich zu empfangen, unterzeichnete ich: ›Ihr geheimer Korrespondent‹; ich wurde sofort bei der hochedlen Mutter vorgelassen, unverzüglich, sogar mit ganz besonderer Eile, durch den hinteren Eingang…«

»Nun, und?«

»Aber da hat sie mich beinah geprügelt; es war nahe daran, ganz nahe daran, so daß sie mich so gut wie geprügelt hat. Und den Brief schleuderte sie mir hin. Allerdings wollte sie ihn zuerst behalten, das sah ich, das bemerkte ich, aber sie änderte ihre Absicht und schleuderte ihn mir hin: ›Wenn er dir, einem solchen Menschen, zur Bestellung anvertraut ist, dann bestell ihn auch…‹ Sie fühlte sich ordentlich beleidigt. Wenn sie sich nicht geschämt hat, in meiner Gegenwart so zu reden, so muß sie sich wohl beleidigt gefühlt haben. Was für einen jähzornigen Charakter sie hat!«

»Wo ist der Brief jetzt?«

»Ich habe ihn immer noch, da ist er.«

Er übergab dem Fürsten Aglajas Billett an Gawrila Ardalionowitsch, das dieser an demselben Vormittag zwei Stunden später triumphierend seiner Schwester zeigte.

»Diesen Brief dürfen Sie nicht behalten.«

»Ich gebe ihn Ihnen, Ihnen! Ihnen bringe ich ihn!« rief Lebedew eifrig. »Jetzt bin ich wieder nach einer vorübergehenden Untreue mit Kopf und Herz Ihr Diener! Bestrafen Sie das Herz, aber schonen Sie den Bart, wie Thomas Morus sagte… in England und in Großbritannien. , wie die römische Päpstin sagt… das heißt, er ist der römische Papst, aber ich nenne ihn die römische Päpstin.«

»Dieser Brief muß sogleich dem Adressaten eingehändigt werden«, sagte der Fürst eifrig. »Ich werde ihn ihm zustellen.«

»Aber wäre es nicht besser, wäre es nicht besser, besterzogener Fürst, wäre es nicht besser… so!«

Lebedew schnitt eine sonderbare, rührende Grimasse, bewegte sich unruhig auf seinem Platz hin und her, als stäche man ihn mit einer Nadel, zwinkerte schlau mit den Augen und suchte durch Gebärden, die er mit den Händen machte, etwas zu verdeutlichen.

»Was soll das heißen?« fragte der Fürst in strengem Ton.

»Man sollte ihn doch zunächst öffnen!« flüsterte Lebedew gerührt und gleichsam vertraulich.

Der Fürst sprang in solchem Zorn auf, daß Lebedew schon davonlaufen wollte; aber als er bis zur Tür gekommen war, blieb er stehen, um abzuwarten, ob der Fürst nicht wieder gnädig werden würde.

»Ach, Lebedew, wie kann nur jemand auf eine so unwürdige Handlung verfallen, wie Sie sie vorschlagen!« rief der Fürst traurig.

Lebedews Miene hellte sich auf.

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« sagte er und näherte sich dem Fürsten sofort wieder, indem er Tränen vergoß und sich gegen die Brust schlug.

»Das ist ja eine Schändlichkeit!«

»Gewiß, eine Schändlichkeit. Das ist der richtige Ausdruck.«

»Und was haben Sie für eine häßliche Angewohnheit, so… merkwürdige Dinge zu tun? Sie sind ja … der reine Spion! Warum haben Sie anonym geschrieben und eine so edeldenkende, gute Frau in Aufregung versetzt? Und endlich, warum soll Aglaja Iwanowna nicht das Recht haben, zu schreiben an wen sie will? Warum gingen Sie denn heute hin – etwa um sich zu beschweren? Was hofften Sie dort zu erreichen? Was veranlaßte Sie zu dieser Denunziation?«

»Einzig und allein eine angenehme Neugier und… die Dienstfertigkeit meines edlen Herzens, jawohl!« murmelte Lebedew. »Jetzt aber bin ich ganz der Ihrige, ganz wieder der Ihrige! Meinetwegen können Sie mich aufhängen lassen!«

»Sind Sie in dem Zustand, in dem Sie sich jetzt befinden, auch vor Lisaweta Prokofjewna erschienen?« erkundigte sich, von Ekel erfüllt, der Fürst.

»Nein… da war ich noch frischer… und anständiger; in diesen Zustand habe ich mich erst nach meiner Demütigung versetzt…«

»Nun gut, dann verlassen Sie mich jetzt!«

Übrigens mußte diese Aufforderung mehrmals wiederholt werden, bis der Besucher sich endlich entschloß wegzugehen. Sogar als er die Tür schon ganz geöffnet hatte, kehrte er noch einmal um, ging auf den Zehen bis in die Mitte des Zimmers zurück und begann von neuem mit den Fingern Zeichen zu machen, durch die er zeigen wollte, wie man einen Brief öffnet; seinen Rat in Worten auszusprechen, wagte er nicht; dann ging er mit leisem, freundlichem Lächeln hinaus.

Es war für den Fürsten überaus peinlich gewesen, dies alles anzuhören. Aus allem ergab sich die eine wichtige, bedeutsame Tatsache, daß Aglaja aus irgendeinem Grund (»aus Eifersucht«, flüsterte der Fürst vor sich hin) sich in großer Unruhe, in großer Unentschlossenheit und in großer Pein befand. Es ergab sich ferner, daß schlechte Menschen sie in Verwirrung brachten, und es war sehr seltsam, daß sie ihnen soviel Vertrauen schenkte. Offenbar reiften in diesem unerfahrenen, aber hitzigen und stolzen Köpfchen besondere Pläne, vielleicht verderbliche und… ganz unerhörte Pläne. Der Fürst war in höchstem Grade erschrocken und wußte in seiner Verwirrung nicht, wozu er sich entschließen sollte. Unter allen Umständen mußte er etwas verhindern; das fühlte er. Er blickte noch einmal auf die Adresse des versiegelten Briefes: oh, hier gab es für ihn keine Zweifel und keine Beunruhigung, weil er glaubte und vertraute; was ihn bei diesem Brief beunruhigte, war etwas anderes: er traute Gawrila Ardalionowitsch nicht. Und doch war er bereits entschlossen, ihm diesen Brief persönlich zu übergeben, und hatte schon zu diesem Zweck das Haus verlassen, aber unterwegs änderte er seine Absicht. Beinah bei Ptizyns Haus begegnete ihm, wie gerufen, Kolja, und der Fürst beauftragte ihn, den Brief seinem Bruder persönlich zu übergeben, als wenn derselbe direkt von Aglaja Iwanowna selbst käme. Kolja fragte nicht weiter und gab ihn ab, so daß Ganja gar nicht ahnte, daß der Brief so viele Zwischenstationen passiert hatte. Als der Fürst nach Hause zurückgekehrt war, ließ er Wera Lukjanowna zu sich bitten, erzählte ihr, was erforderlich war, und beruhigte sie, denn sie hatte bis dahin immer nach dem Brief gesucht und geweint. Sie bekam einen großen Schreck, als sie erfuhr, daß ihr Vater den Brief weggetragen habe. (Der Fürst erfuhr von ihr erst später, daß sie zu wiederholten Malen bei der geheimen Korrespondenz zwischen Rogoshin und Aglaja Iwanowna behilflich gewesen war; es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß dem Fürsten daraus irgendein Nachteil erwachsen könnte…)

Der Fürst war schließlich in solche Verwirrung geraten, daß, als zwei Stunden darauf ein von Kolja abgeschickter Bote mit der Nachricht von der Erkrankung des Vaters zu ihm gelaufen kam, er im ersten Augenblick nicht begriff, um was es sich handelte. Aber dieser Vorfall brachte ihn wieder zur Besinnung, da er ihn von seinen eigenen Sorgen stark ablenkte. Er verbrachte bei Nina Alexandrowna, zu der der Kranke selbstverständlich gebracht worden war, fast die ganze Zeit bis zum Abend. Er konnte sich fast gar nicht nützlich machen; aber es gibt Menschen, die man in gewissen schweren Augenblicken gern um sich sieht. Kolja war furchtbar ergriffen und weinte krampfhaft, rannte aber doch die ganze Zeit herum: er lief nach einem Arzt und mit Gästen gefüllt hatte, begann Lisaweta Prokofjewna ihn sofort teilnahmsvoll und eingehend nach dem Kranken auszufragen und beantwortete mit ruhigem Ernst die Fragen der alten Bjelokonskaja, was das für ein Kranker und für eine Nina Alexandrowna sei. Dem Fürsten gefiel das sehr. Er selbst redete bei seinem Gespräch mit Lisaweta Prokofjewna »sehr schön«, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten: »Bescheiden, leise, ohne überflüssige Worte, ohne Gestikulationen und mit Würde; in den Salon ist er sehr gewandt eingetreten, sein Anzug war tadellos«; er fiel keineswegs auf dem glatten Fußboden hin, wie er tags zuvor befürchtet hatte, sondern machte sogar offenbar auf alle einen recht angenehmen Eindruck.

Seinerseits bemerkte er, nachdem er sich hingesetzt und um sich geblickt hatte, sofort, daß diese ganze Gesellschaft durchaus nicht den Schreckgespenstern glich, mit denen ihm Aglaja gestern hatte bange machen wollen, oder den Traumgestalten, die er in der Nacht im Schlaf gesehen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein Stückchen von dem, was man mit dem furchtbaren Namen »die vornehme Welt« bezeichnet. Er hatte infolge gewisser besonderer Absichten, Pläne und Neigungen sich schon längst danach gesehnt, in diesen Zauberkreis einzudringen, und war daher sehr gespannt auf den ersten Eindruck, den dies alles auf ihn machen würde. Dieser erste Eindruck war geradezu zauberhaft. Es kam ihm so vor, als seien alle diese Menschen dazu geboren, miteinander zusammen zu sein; als gebe es bei Jepantschins an diesem Abend keine »Gesellschaft« und keine geladenen Gäste, sondern Leute aus dem engsten Bekanntenkreis, und als sei er selbst schon lange ihr ergebener Freund und Gesinnungsgenosse und jetzt nach kurzer Abwesenheit zu ihnen zurückgekehrt. Die eleganten Manieren, die Schlichtheit und scheinbare Offenherzigkeit übten auf ihn eine faszinierende Wirkung aus. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß alle diese Treuherzigkeit und Vornehmheit, diese geistreiche Redeweise und dieses würdevolle Wesen vielleicht nur ein prächtiges Kunstprodukt seien. Die Mehrzahl der Gäste bestand sogar trotz ihres blendenden Äußern aus ziemlich hohlen Menschen, die übrigens in ihrer Selbstzufriedenheit selbst nicht einmal wußten, daß manches, was sie Gutes an sich hatten, nur ein Kunstprodukt war, das ihnen zudem gar nicht als Verdienst angerechnet werden konnte, da es ihnen unbewußt und als Erbteil zugefallen war. Dem Fürsten, der ganz im Bann des bezaubernden ersten Eindrucks stand, lag es fern, so etwas zu vermuten. Er sah zum Beispiel, daß dieser alte Herr, dieser hohe Würdenträger, der dem Lebensalter nach sein Großvater hätte sein können, sogar sein eigenes Gespräch abbrach, um ihm, einem so jungen, unerfahrenen Menschen, zuzuhören, und daß er ihm nicht nur zuhörte, sondern auch offenbar auf seine Meinung Wert legte und ihn mit solcher Freundlichkeit, mit solcher aufrichtigen Herzlichkeit behandelte, obwohl sie doch einander fremd waren und sich zum erstenmal sahen. Vielleicht wirkte gerade das Raffinement dieser Höflichkeit auf die warme Empfänglichkeit des Fürsten am allermeisten. Vielleicht hatte auch von vornherein seine persönliche Stimmung ihn für einen günstigen Eindruck geneigt gemacht und ihn gewissermaßen bestochen.

Und dabei waren alle diese Menschen, wenn sie auch natürlich »Freunde des Hauses« und untereinander befreundet waren, doch keineswegs mit der Familie und unter sich in der Weise befreundet, wie es der Fürst annahm, nachdem er ihnen soeben vorgestellt war und ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Es waren Leute darunter, die nie und um keinen Preis zugegeben hätten, daß die Jepantschins mit ihnen auch nur annähernd auf gleicher Stufe stünden. Es waren auch Leute anwesend, die einander bitter haßten; die alte Bjelokonskaja empfand lebenslänglich nur »Verachtung« für die Gemahlin des »alten Würdenträgers«, und diese war ihrerseits weit davon entfernt, Lisaweta Prokofjewna zu lieben. Dieser »Würdenträger«, ihr Mann, der das Jepantschinsche Ehepaar seit dessen jungen Jahren aus irgendeinem Grund protegiert hatte und jetzt bei der Abendgesellschaft als der vornehmste Gast galt, war in Iwan Fjodorowitschs Augen eine so hochgestellte Persönlichkeit, daß er in dessen Gegenwart kein anderes Gefühl als Ehrerbietung und Furcht empfinden konnte und sich sogar selbst aufrichtig verachtet hätte, wenn er sich auch nur einen Augenblick ihm gleichgestellt und ihn nicht für einen glauben mußte!) Er redete wenig und nur, wenn er gefragt wurde, und verstummte schließlich ganz, saß da und hörte immer nur zu, schwamm aber offenbar in Wonne. Allmählich wuchs in ihm selbst eine Art von Begeisterung, die sich anschickte, im gegebenen Moment zum Ausbruch zu kommen … Da wollte es der Zufall, daß er ins Reden kam, und zwar ebenfalls durch Beantwortung einer Frage und, wie es schien, ganz ohne besondere Absichten…

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Kapitel 45

VII

Während er mit Genuß Aglaja betrachtete, die munter mit dem Fürsten N. und Jewgenij Pawlowitsch plauderte, nannte auf einmal der bejahrte Anglomane, der in einer anderen Ecke den »Würdenträger« unterhielt und ihm mit großer Lebhaftigkeit etwas erzählte, den Namen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew. Der Fürst wandte sich schnell nach ihrer Seite hin und begann zuzuhören.

Es war von der neuen Ordnung der Dinge die Rede und von gewissen Tumulten auf Gütern im Gouvernement ***. Die Erzählungen des Anglomanen mußten wohl ein heiteres Element enthalten, da der Alte schließlich über den galligen Eifer des Erzählers zu lachen anfing. Dieser erzählte flüssig, die Worte griesgrämig in die Länge ziehend und auf die Vokale einen leisen Nachdruck legend, wie er sich, speziell durch die jetzige Ordnung der Dinge, genötigt gesehen habe, ein ihm gehöriges prächtiges Gut im Gouvernement *** für den halben Preis zu verkaufen, obwohl er sich gar nicht in Geldverlegenheit befunden habe, und gleichzeitig ein heruntergekommenes, ertragloses, mit einem Prozeß belastetes Gut zu behalten, bei dem er sogar noch zuzahlen müsse. »Um noch einem Prozeß auch wegen des Pawlischtschewschen Landes zu entgehen, habe ich Reißaus genommen. Noch eine oder zwei solche Erbschaften und ich bin ruiniert. Ich habe dort übrigens dreitausend vorzüglichen Bodens hinzubekommen.«

»Siehst du… Iwan Petrowitsch ist mit dem verstorbenen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew verwandt… du suchtest ja wohl nach dessen Verwandten«, sagte Iwan Fjodorowitsch halblaut zum Fürsten; er hatte bemerkt, mit welcher Aufmerksamkeit der Fürst das Gespräch verfolgte, und war nun schnell zu ihm getreten. Er hatte bisher seinen Vorgesetzten, den General, unterhalten, aber schon längst die Isolierung Lew Nikolajewitschs bemerkt und wurde unruhig; nun wollte er ihn bis zu einem gewissen Grad in das Gespräch hineinziehen und ihn auf diese Weise zum zweitenmal den hohen Persönlichkeiten vorführen und präsentieren.

»Lew Nikolajewitsch ist nach dem Tod seiner Eltern ein Zögling Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews gewesen«, schaltete er ein, als er Iwan Petrowitschs Blick auf sich gerichtet sah.

»Se-ehr angene-ehm«, versetzte dieser, »ich erinnere mich sehr gut. Als Iwan Fjodorowitsch uns vorhin einander vorstellte, habe ich Sie sofort wiedererkannt, sogar am Gesicht. Sie haben sich wirklich äußerlich nur wenig verändert, obwohl Sie damals, als ich Sie sah, noch ein Kind waren; Sie mochten etwa zehn oder elf Jahre alt sein. Es ist in Ihren Gesichtszügen etwas, was bei mir eine Erinnerung wachruft…«

»Sie haben mich gesehen, als ich noch Kind war?« fragte der Fürst sehr erstaunt.

»Oh, es ist schon recht lange her«, fuhr Iwan Petrowitsch fort, »in Slatowerchowo, wo Sie damals bei meinen Kusinen lebten. Ich kam früher ziemlich oft nach Slatowerchowo, Sie erinnern sich meiner nicht? Se-ehr leicht möglich, daß Sie sich nicht erinnern… Sie hatten damals… Sie hatten damals irgendeine Krankheit, so daß ich einmal sogar Ihretwegen einen Schreck bekam…«

»Ich kann mich an nichts erinnern!« antwortete der Fürst eifrig.

Beide stellten nun mit noch ein paar Worten die Sache klar, Iwan Petrowitsch sehr ruhig, der Fürst sehr aufgeregt, und es ergab sich, daß die beiden alten Fräulein, die mit dem verstorbenen Pawlischtschew verwandt waren und auf seinem Gute Slatowerchowo lebten und seinerzeit von ihm mit der Erziehung des Fürsten betraut wurden, zugleich Iwan Petrowitschs Kusinen waren. Iwan Petrowitsch hatte ebensowenig wie alle andern Leute eine Erklärung dafür, weshalb Pawlischtschew so für den kleinen Fürsten, sein Pflegekind, gesorgt hatte. »Ich habe damals vergessen, mich danach zu erkundigen«, sagte er, aber es stellte sich doch heraus, daß er ein vorzügliches Gedächtnis hatte; denn er erinnerte sich, wie streng seine ältere Kusine, Marfa Nikitischna, gegen den kleinen Pflegling gewesen sei, »so daß ich einmal sogar mit ihr um Ihretwillen wegen des Erziehungssystems in Streit geriet, denn immer Schläge und Schläge für ein krankes Kind… das ist doch… das müssen Sie selbst sagen…«, und mit welcher Zärtlichkeit ganz im Gegensatz dazu die jüngere Kusine, Natalja Nikitischna, den armen Knaben behandelt habe… »Sie leben jetzt beide«, berichtete er weiter, »im Gouvernement *** (ich weiß nur nicht, ob sie zur Zeit wirklich noch leben), wo ihnen von Pawlischtschew ein sehr nettes kleines Gut durch Erbschaft zugefallen ist. Marfa Nikitischna beabsichtigte, wenn ich mich recht entsinne, in ein Kloster zu gehen; übrigens will ich es nicht behaupten, vielleicht habe ich es von jemand gehört… ja, ich hörte es neulich von der Frau eines Arztes…«

Die Augen des Fürsten glänzten vor Entzücken und Rührung, als er das hörte. Er erklärte seinerseits sehr eifrig, er werde es sich nie verzeihen, daß er in den sechs Monaten, während er in den inneren Gouvernements herumgereist sei, nicht die Gelegenheit benutzt habe, um seine früheren Pflegerinnen ausfindig zu machen und zu besuchen. Er habe alle Tage hinfahren wollen und sei immer durch Abhaltungen daran gehindert worden … aber jetzt nehme er es sich fest vor… unbedingt… wenn es auch im Gouvernement *** sei… »Also Sie kennen Natalja Nikitischna? Was ist das für eine prächtige, fromme Seele! Aber auch Marfa Nikitischna… verzeihen Sie, aber Sie irren sich wohl in bezug auf Marfa Nikitischna! Sie war ja streng, aber… man mußte ja mit einem solchen Idioten, wie ich es damals war, notwendig die Geduld verlieren (hihi!). Ich war ja damals vollständig ein Idiot, Sie werden es kaum glauben können (haha!). Übrigens… übrigens, Sie haben mich damals gesehen und… sagen Sie nur, wie geht es zu, daß ich mich an Sie nicht erinnere? Also Sie… ach, mein Gott, also Sie sind wirklich ein Verwandter Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschews?«

»Ja, ich ver-si-che-re es Ihnen!« erwiderte Iwan Petrowitsch, indem er den Fürsten lächelnd anblickte.

»Oh, ich sagte es ja nicht in dem Sinne, als ob ich… als ob ich daran zweifelte… und kann man denn etwa irgendwie daran zweifeln (hehe!)… auch nur im geringsten zweifeln? (Hehe!) Ich sagte es deshalb, weil der verstorbene Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew ein so vortrefflicher Mensch war! Ein hochherziger Mensch, wahrhaftig, ich versichere Sie!«

Der Fürst war nicht nur außer Atem, sondern »erstickte sozusagen an seinen schönen Empfindungen«, wie sich über ihn am andern Morgen Adelaida im Gespräch mit ihrem Bräutigam, dem Fürsten Schtsch., ausdrückte.

»Ach, mein Gott!« erwiderte Iwan Petrowitsch lachend, »warum sollte ich denn nicht sogar mit einem hoch-her-zi-gen Menschen verwandt sein können?«

»Ach, mein Gott!« rief der Fürst verlegen und hastig, er wurde immer lebhafter. »Ich… ich habe wieder eine Dummheit gesagt; aber… es ist eben nicht anders möglich, weil ich… ich… ich… Übrigens, das gehört wieder nicht hierher! Und was liegt auch jetzt an mir, sagen Sie selbst, angesichts solcher Interessen… angesichts so gewaltiger Interessen!… Und im Vergleich mit einem so hochherzigen Menschen, nicht wahr? Nicht wahr?«

Der Fürst zitterte am ganzen Leibe. Warum er sich auf einmal so aufregte, warum er ohne äußeren Anlaß in eine solche Rührung und in ein solches Entzücken hineingeriet, die anscheinend gar nicht im richtigen Verhältnis zu dem Gegenstand des Gesprächs standen, das wäre schwer zu sagen. Er war nun einmal in solcher Stimmung und empfand sogar in diesem Augenblick für irgend jemand und irgend etwas die heißeste, innigste Dankbarkeit, vielleicht sogar für Iwan Petrowitsch und beinah auch für alle anderen Gäste. Er war nun einmal zu glücklich. Iwan Petrowitsch begann schließlich, ihn weit genauer zu betrachten als vorher; auch der Würdenträger musterte ihn sehr genau. Die alte Bjelokonskaja richtete einen zornigen Blick auf den Fürsten und preßte die Lippen aufeinander. Fürst N., Jewgenij Pawlowitsch, Fürst Schtsch. und die jungen Mädchen unterbrachen sämtlich ihre Gespräche und hörten zu. Aglaja schien erschrocken zu sein, Lisaweta Prokofjewna es geradezu mit der Angst zu bekommen. Das Verhalten der Jepantschinschen Damen, der Mutter wie der Töchter, war recht sonderbar: sie waren selbst der Ansicht gewesen, es sei am besten, wenn der Fürst den Abend über schweigend dasitze, und hatten ihm dies auch anempfohlen; aber sowie sie gesehen hatten, daß er völlig vereinsamt und mit seinem Schicksal ganz zufrieden in einer Ecke saß, waren sie auch sofort in Aufregung geraten. Alexandra hatte gerade vorgehabt, zu ihm hinzugehen und ihn vorsichtig quer durch das ganze Zimmer zur Gesellschaft heranzuholen, das heißt genauer zum Fürsten N., der neben der alten Bjelokonskaja saß. Und kaum hatte der Fürst von selbst zu reden angefangen, als sie noch unruhiger wurden.

»Daß er ein vortrefflicher Mensch war, darin haben Sie recht«, sagte Iwan Petrowitsch mit Nachdruck und nunmehr ohne zu lächeln, »ja, ja, er war ein prächtiger Mensch! Ein prächtiger, wertvoller Mensch!« fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu. »Man kann sagen, ein höchst achtenswerter Mensch«, fuhr er nach einer neuen Pause mit noch größerem Nachdruck fort, »und… und es ist eine Freude zu sehen, daß Sie Ihrerseits…«

»Hatte dieser Pawlischtschew nicht so eine Affäre… eine sonderbare Affäre… mit einem Abbé… mit einem Abbé… ich habe vergessen, mit was für einem Abbé, aber es sprachen damals alle davon«, sagte der Würdenträger, indem er in seinem Gedächtnis nachsuchte.

»Mit dem Abbé Gouraud, einem Jesuiten«, kam ihm Iwan Petrowitsch zu Hilfe. »Ja, so geht es mit unsern vortrefflichsten, würdigsten Männern! Denn er war doch von guter Familie, besaß Vermögen, hatte den Rang eines Kammerherrn, und wenn er… im Dienst geblieben wäre… Und da ließ er nun Dienst und alles im Stich, um zum Katholizismus überzutreten und Jesuit zu werden, und noch dazu beinah ganz offen, mit einer Art von Begeisterung. Wirklich, er ist gerade zur rechten Zeit gestorben… ja, das wurde damals allgemein gesagt.«

Der Fürst war außer sich.

»Pawlischtschew… Pawlischtschew zum Katholizismus übergetreten? Das ist unmöglich!« rief er erschrocken.

»Nun, nun, ›unmöglich‹!« lispelte Iwan Petrowitsch gelassen. »Das ist denn doch zuviel gesagt, mein lieber Fürst, das müssen Sie selbst zugeben… Übrigens, Sie schätzen den Verstorbenen so außerordentlich hoch … und er war auch wirklich der beste Mensch, und gerade diesem Umstand schreibe ich es in der Hauptsache zu, daß dieser Gauner Gouraud mit seinen Bemühungen Erfolg hatte. Aber ich könnte Ihnen ein Lied davon singen, wieviel Mühe und Schererei ich damals von dieser Geschichte gehabt habe… und besonders mit diesem Gouraud! Stellen Sie sich vor«, wandte er sich plötzlich zu dem Würdenträger, »sie wollten sogar Ansprüche auf die Hinterlassenschaft erheben, und ich mußte damals sogar zu den allerenergischsten Maßregeln greifen… um sie zur Räson zu bringen… denn auf solche Dinge verstehen sie sich meisterhaft! Geradezu mei-ster-haft! Aber die Geschichte spielte, Gott sei Dank, in Moskau, so daß ich mich gleich an den Grafen wenden konnte, und da haben wir sie… zur Räson gebracht…«

»Sie glauben nicht, was Sie mir für eine schmerzliche Überraschung bereitet haben!« rief der Fürst wieder.

»Das tut mir leid, aber im Grunde sind das alles, streng genommen, harmlose Dinge, die auch einen harmlosen Ausgang genommen hätten, wie immer; davon bin ich überzeugt. Im vorigen Sommer«, wandte er sich wieder an den Würdenträger, »ist die Gräfin K., wie man sagt, ebenfalls im Ausland in ein katholisches Kloster gegangen; unsere Landsleute haben eben keine Widerstandskraft, wenn sie sich einmal mit diesen… geriebenen Kunden einlassen… namentlich im Ausland.«

»Ich meine, das ist alles eine Folge unserer… Schlaffheit«, murmelte unter Kaubewegungen der Alte in überlegenem Ton. »Na ja, sie haben so eine eigene Manier zu predigen… eine elegante Manier… und verstehen es, die Leute einzuschüchtern. Auch mich haben sie, als ich einunddreißig Jahre alt war, in Wien eingeschüchtert, das kann ich Ihnen sagen; nur ergab ich mich nicht, sondern lief ihnen davon, haha!«

»Ich habe gehört, Väterchen, daß Sie damals mit der schönen Gräfin Lewizkaja von Wien nach Paris durchgingen und Ihren Posten verließen und nicht vor einem Jesuiten flohen«, bemerkte die alte Bjelokonskaja.

»Na, eigentlich doch vor einem Jesuiten, es kommt doch so heraus, daß ich vor einem Jesuiten floh!« erwiderte der Alte, bei der angenehmen Erinnerung lächelnd. »Sie sind, wie es scheint, sehr religiös, was man jetzt bei einem jungen Menschen so selten findet«, wandte er sich freundlich an den Fürsten Lew Nikolajewitsch, der mit offenem Mund zuhörte und immer noch ganz überrascht war; der Alte wünschte offenbar, den Fürsten näher kennenzulernen; dieser begann ihn aus gewissen Gründen sehr zu interessieren.

»Pawlischtschew war ein heller Geist und ein Christ, ein wahrer Christ«, sagte der Fürst plötzlich, »wie konnte er nur einen unchristlichen Glauben annehmen? Der Katholizismus, das ist genauso schlimm wie ein unchristlicher Glaube!« fügte er mit blitzenden Augen hinzu, indem er vor sich hin schaute und alle Anwesenden gleichsam mit einem Blick zusammenfaßte.

»Na, das geht zu weit«, murmelte der Alte und blickte Iwan Fjodorowitsch erstaunt an.

»Wieso soll denn der Katholizismus ein unchristlicher Glaube sein?« fragte Iwan Petrowitsch, sich auf seinem Stuhl umwendend. »Und was für ein Glaube ist er denn?«

»Erstens ist er ein unchristlicher Glaube!« erwiderte der Fürst in großer Erregung und mit übermäßiger Schärfe. »Das ist das erste, und zweitens ist der römische Katholizismus sogar schlimmer als der Atheismus selbst, das ist meine Meinung! Ja, das ist meine Meinung! Der Atheismus predigt nur das Nichts, aber der Katholizismus geht weiter: er predigt einen entstellten Christus, einen von ihm verleumdeten und beschimpften Christus, das reine Gegenteil von Christus! Er predigt den Antichrist, das schwöre ich Ihnen, das versichere ich Ihnen! Das ist meine persönliche, langgehegte Überzeugung, die mir schon viel Qual bereitet hat… Der römische Katholizismus glaubt, daß ohne eine universale Herrschaft die Kirche auf Erden nicht bestehen kann, und ruft: ›‹ Meiner Ansicht nach ist der römische Katholizismus überhaupt kein Glaube, sondern einfach eine Fortsetzung des weströmischen Kaisertums, und es ist bei ihm alles, vom Glauben angefangen, dieser Idee untergeordnet. Der Papst hat die Erde in Besitz genommen, einen irdischen Thron bestiegen und das Schwert ergriffen; seitdem geht alles in dieser Art weiter, nur haben sie zum Schwert noch die Lüge, die Intrige, den Betrug, den Fanatismus, den Aberglauben und das Verbrechen hinzugefügt; sie haben mit den heiligsten, aufrichtigsten, schlichtesten, wärmsten Empfindungen des Volkes gespielt, alles, alles haben sie für Geld, für gemeine weltliche Macht hingegeben. Und das wäre nicht die Lehre des Antichrists?! Wie hätte da nicht der Atheismus von ihnen ausgehen sollen? Der Atheismus ist von ihnen ausgegangen, direkt vom römischen Katholizismus! Der Atheismus hat zuallererst bei ihnen selbst angefangen: konnten sie denn auch sich selbst Glauben schenken? Er gewann dann Kraft aus dem gegen sie bestehenden Widerwillen; er ist ein Produkt ihrer Lüge und geistigen Kraftlosigkeit! Der Atheismus! Bei uns sind es bisher nur exklusive Schichten, die ihre Wurzel verloren haben und nicht mehr glauben, wie Jewgenij Pawlowitsch neulich sehr schön gesagt hat, aber dort in Westeuropa hören schon gewaltige Massen des eigentlichen Volkes auf zu glauben, vormals aus Unwissenheit und Unwahrhaftigkeit, aber jetzt schon aus Fanatismus und aus Haß gegen die Kirche und gegen das Christentum.«

Der Fürst hielt inne, um Atem zu schöpfen. Er hatte furchtbar schnell gesprochen. Er war blaß und rang nach Luft. Alle wechselten Blicke miteinander; aber endlich begann der Alte ganz offen zu lachen. Fürst N. nahm seine Lorgnette heraus und betrachtete den Fürsten unablässig. Der deutsche Dichter kam aus seiner Ecke hervorgekrochen und näherte sich mit einem unangenehmen Lächeln dem Tisch.

»Sie ü-ber-trei-ben sehr«, sagte Iwan Petrowitsch, dieses Wort in die Länge ziehend, in etwas gelangweiltem Ton; es klang sogar so, als ob ihm etwas unangenehm wäre, »auch in der dortigen Kirche gibt es höchst achtenswerte, tu-gend-hafte Vertreter…«

»Ich habe nie von einzelnen Vertretern der Kirche gesprochen. Ich rede von dem, was das Wesen des römischen Katholizismus ausmacht, ich rede von Rom. Kann denn eine Kirche vollständig verschwinden? Ich habe das nie gesagt!«

»Einverstanden, aber all das ist bekannt und braucht daher nicht gesagt zu werden, und… es gehört zur Theologie…«

»O nein, o nein! Nicht nur zur Theologie, ich versichere Sie, nein! Das geht uns weit mehr an, als Sie meinen. Gerade darin besteht unser ganzer Irrtum, daß wir noch nicht einsehen können, daß das nicht ausschließlich nur eine theologische Angelegenheit ist! Auch der Sozialismus ist ja eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ebenso wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen, als Gegensatz zum Katholizismus im moralischen Sinne, um einen Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion zu bilden, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten, nicht durch Christus, sondern ebenfalls durch Gewalt! Das ist ebenfalls eine Freiheit durch Gewalt, das ist ebenfalls eine Vereinigung durch Schwert und Blut! ›Erdreiste dich nicht, an Gott zu glauben, erdreiste dich nicht, Eigentum zu besitzen, erdreiste dich nicht, eine Persönlichkeit zu haben, . zwei Millionen Köpfe!‹ An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, heißt es in der Schrift. Und glauben Sie nicht, daß das alles so harmlos und für uns ungefährlich wäre; o nein, wir müssen Widerstand leisten, und auf das schnellste, auf das schnellste! Unser Christus muß als Schild dem Westen entgegenstrahlen, unser Christus, den wir uns bewahrt und den sie nicht gekannt haben! Wir dürfen uns nicht sklavisch von den Jesuiten angeln lassen, sondern müssen ihnen jetzt entgegentreten, indem wir ihnen unsere russische Zivilisation bringen, und man darf bei uns nicht sagen, daß ihre Predigt elegant sei, wie sich soeben jemand geäußert hat…«

»Aber erlauben Sie, erlauben Sie«, unterbrach ihn Iwan Petrowitsch, der sich unruhig umblickte und sogar ordentlich Angst bekam, »alle Gedanken, die Sie da vortragen, sind ja gewiß sehr löblich und patriotisch, aber es ist doch alles in höchstem Grade übertrieben, und… es wäre das beste, wenn wir dieses Gespräch abbrächen…«

»Nein, übertrieben ist es nicht, eher zu schwach ausgedrückt, ja, zu schwach ausgedrückt, weil ich nicht imstande bin, die richtigen Worte zu finden, aber…«

»Er-lau-ben Sie!«

Der Fürst schwieg. Er saß, gerade aufgerichtet, auf seinem Stuhl und blickte, ohne sich zu regen, Iwan Petrowitsch mit flammendem Blick an.

»Mir scheint, daß der Vorfall mit Ihrem Wohltäter Sie gar zu sehr beeindruckt hat«, bemerkte der Alte freundlich und ohne seine Ruhe zu verlieren. »Sie sind etwas hitzig… vielleicht infolge Ihres einsamen Lebens. Wenn Sie mehr unter Menschen lebten – und ich hoffe, daß man sich in der guten Gesellschaft über Sie als über einen beachtenswerten jungen Mann freuen wird –, so wird sich Ihre Lebhaftigkeit gewiß mildern, und Sie werden sehen, daß das alles weit einfacher ist… und zudem gehen solche seltenen Fälle meiner Ansicht nach teils aus unserer Übersättigung hervor, teils aus… einem inneren Unfrieden.«

»Ganz richtig, ganz richtig!« rief der Fürst. »Ein vortrefflicher Gedanke! Jawohl, aus einem inneren Unfrieden, aus unserem inneren Unfrieden! Nicht aus Übersättigung, sondern im Gegenteil aus Durst… nicht aus Übersättigung, darin haben Sie sich geirrt! Aus Durst ist noch zuwenig gesagt: aus brennendem, fieberhaftem Durst! Und… und glauben Sie nicht, das geschehe in so geringem Ausmaß, daß man darüber lachen dürfe; verzeihen Sie, man muß verstehen vorauszufühlen! Wenn unsere Landsleute das Ufer erreicht haben und zu der Überzeugung gelangt sind, daß das das Ufer ist, dann freuen sie sich darüber gleich dermaßen, daß sie sofort weitergehen, so weit wie nur irgend möglich; woher kommt das? Da wundern Sie sich über Pawlischtschew und schreiben alles seiner Verdrehtheit oder seiner Herzensgüte zu, aber seinen Augen bisher in der Erde verborgen ist! Man zeige ihm, wie sich in der Zukunft die Erneuerung und Auferstehung der ganzen Menschheit vielleicht einzig und allein durch den russischen Gedanken, durch den russischen Gott und den russischen Christus vollziehen wird, und man wird sehen, welch ein starker, wahrheitsliebender, weiser, sanfter Riese vor den Augen der erstaunten Welt heranwachsen wird; erstaunt und erschrocken wird die Welt allerdings sein, weil sie von uns nur das Schwert erwartet, das Schwert und die Gewalt, denn da sie nach sich selbst urteilt, kann sie sich uns nicht ohne Barbarentum vorstellen. So ist das bisher gewesen, und dieses Sehnen wird, je länger es dauert, immer stärker! Und…«

Aber hier trat plötzlich ein Ereignis ein, und die Rede des Fürsten wurde in einer ganz unerwarteten Weise unterbrochen.

Diese ganze wilde Tirade, dieser ganze Schwall seltsamer, aufgeregter Worte und ungeordneter, enthusiastischer Gedanken, die in wirrem Durcheinander sich drängten und übereinander hinwegsprangen, alles dies ließ ahnen, daß in der Verfassung des so plötzlich und anscheinend ohne jeden Anlaß in Hitze geratenen jungen Mannes eine besondere Gefahr lauerte. Von den im Salon Anwesenden waren alle, die den Fürsten kannten, von ängstlichem (bei manchen sogar mit Scham gepaartem) Erstaunen über seine Extravaganz ergriffen, die so gar nicht zu seiner ständigen, geradezu schüchtern zu nennenden Zurückhaltung, zu dem in manchen Fällen von ihm bewiesenen besonders feinen Takt und zu seinem instinktiven Gefühl für die höchsten Anstandsregeln passen wollte. Es war unbegreiflich, woher das gekommen war: die Mitteilung über Pawlischtschew konnte doch nicht die Ursache sein. Die Damen blickten aus ihrer Ecke auf ihn hin wie auf einen Irrsinnigen, und die alte Bjelokonskaja gestand später, wenn die Sache noch eine Minute länger gedauert hätte, so hätte sie sich durch die Flucht gerettet. Die alten Herren waren zuerst vor Staunen ganz fassungslos; Iwan Fjodorowitschs Vorgesetzter, der General, sah den Fürsten von seinem Stuhl aus mit unzufriedener, strenger Miene an. Der Oberst saß völlig regungslos da. Der Deutsche war ganz blaß geworden, lächelte aber immer noch heuchlerisch und betrachtete die andern, wie sie jetzt wohl reagieren würden. Übrigens hätte die ganze Sache und der »ganze Skandal« durch ein sehr gewöhnliches, natürliches Mittel erledigt werden können, vielleicht sogar in einem Augenblick; Iwan Fjodorowitsch nämlich, der sehr erstaunt war, aber sich schneller als die übrigen gefaßt hatte, hatte schon mehrmals den Fürsten zu hemmen versucht; da seine Bemühungen keinen Erfolg gehabt hatten, so ging er jetzt mit einer entschiedenen und festen Absicht auf ihn zu. Noch ein Augenblick, und er hätte nötigenfalls vielleicht den Fürsten in freundschaftlicher Weise unter dem Vorwand seiner Krankheit hinausgeführt, was vielleicht sogar wirklich die Wahrheit war und wovon auch Iwan Fjodorowitsch im stillen fest überzeugt war… Aber die Sache nahm eine andere Wendung.

Gleich zu Anfang, als der Fürst in den Salon getreten war, hatte er sich möglichst weit entfernt von der chinesischen Vase hingesetzt, mit der ihm Aglaja eine solche Angst eingejagt hatte. Konnte man wohl glauben, daß nach Aglajas gestrigen Worten sich bei ihm eine unauslöschliche Überzeugung, eine sonderbare, wunderliche Ahnung festgesetzt hatte, er werde unbedingt morgen diese Vase zerbrechen, möge er sich auch noch so sehr von ihr fernhalten und das Unglück zu vermeiden suchen? Und doch war es so. Im Laufe des Abends hatten sich andere starke, aber lichte Empfindungen in seine Seele eingedrängt; wir haben davon bereits gesprochen. Er hatte seine Ahnung vergessen. Als er von Pawlischtschew reden hörte und Iwan Fjodorowitsch ihn von neuem zu Iwan Petrowitsch führte und diesen auf ihn aufmerksam machte, da hatte er sich näher an den Tisch herangesetzt und zufällig gerade auf den Sessel neben der gewaltigen, schönen chinesischen Vase, die auf einem Sockel stand, beinah neben seinem Ellbogen, ganz dicht hinter ihm.

Bei seinen letzten Worten erhob er sich plötzlich von seinem Platz, machte eine unvorsichtige Bewegung mit dem Arm und mit der Schulter, und … es ertönte ein allgemeiner Schrei! Die Vase schwankte, anfangs gleichsam noch unschlüssig, ob sie nicht einem der alten Herren auf den Kopf fallen sollte, aber auf einmal neigte sie sich nach der entgegengesetzten Seite, nach der Seite des im letzten Augenblick entsetzt wegspringenden Deutschen, und fiel zu Boden. Ein Gepolter, ein Aufschrei, die kostbaren Scherben zerstreut auf dem Teppich, Bestürzung, Erstaunen, – oh, und was in der Seele des Fürsten vorging, das läßt sich schwer schildern, doch ist eine solche Schilderung auch kaum nötig! Aber wir dürfen eine sonderbare Empfindung nicht unerwähnt lassen, die ihn gerade in diesem Augenblick überkam und ihm auf einmal aus der Menge all der anderen unklaren und seltsamen Empfindungen mit aller Deutlichkeit entgegentrat: weder das Gefühl der Scham noch der Verdruß über das erregte Ärgernis, noch die Furcht vor den Folgen, noch die Plötzlichkeit des Ereignisses, nichts wirkte auf ihn so stark wie der Gedanke, daß die Prophezeiung nun doch eingetroffen sei! Was eigentlich an diesem Gedanken ihn so sehr packte, das hätte er sich selbst nicht klarmachen können; er fühlte nur, daß er im tiefsten Herzen ergriffen war, und stand da wie von einer mystischen Angst erfaßt. Noch ein Augenblick, und es war ihm, als ob sich alles vor ihm weitete und an die Stelle der Angst Licht und Freude und Entzücken träten; sein Atem stockte, und… aber der kritische Augenblick ging vorüber. Gott sei Dank, das Befürchtete war nicht eingetreten! Er schöpfte wieder Atem und blickte rings um sich.

Lange schien es, als verstünde er das wirre Treiben nicht, das um ihn herum entstanden war, das heißt, er verstand es vollkommen und sah alles, aber er stand da, als sei er dabei ganz unbeteiligt, als gehe ihn die Sache in keiner Weise etwas an, als sei er wie der Unsichtbare im Märchen in das Zimmer getreten und beobachtete dort ihm fremde, aber interessante Menschen. Er sah, wie die Scherben weggeräumt wurden, hörte hastige Gespräche, sah Aglaja, die blaß war und ihn sonderbar anblickte, sehr sonderbar: in ihren Augen war gar kein Haß, gar kein Zorn sichtbar; sie schaute ihn mit einem erschrockenen, aber von freundlicher Teilnahme zeugenden Blick an, während sie den andern einen funkelnden Blick zuwarf… sein Herz wurde plötzlich von einem seligen Schmerz erfüllt. Endlich sah er mit befremdetem Erstaunen, daß alle sich wieder hingesetzt hatten und sogar lachten, als ob nichts geschehen wäre! Noch ein Augenblick und das Gelächter steigerte sich: sie lachten jetzt über ihn, wie er stumm und starr dastand, aber sie lachten gutmütig und heiter; viele begannen mit ihm zu reden und redeten so freundlich, vor allem Lisaweta Prokofjewna: sie sprach lachend und sagte etwas sehr, sehr Herzliches. Auf einmal fühlte er, daß Iwan Fjodorowitsch ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte; auch Iwan Petrowitsch lachte; aber noch netter, reizender und liebenswürdiger benahm sich der Alte, er faßte den Fürsten bei der Hand, drückte sie sanft und schlug mit der flachen andern Hand leise darauf, wobei er ihm zuredete, wieder zu sich zu kommen, wie man das mit einem erschrockenen kleinen Jungen macht, was dem Fürsten sehr gefiel, und endlich forderte er ihn auf, sich unmittelbar neben ihn zu setzen. Der Fürst blickte ihm mit einem seligen Gefühl ins Gesicht und war immer noch nicht imstande, etwas herauszubringen, da ihm der Atem stockte; das Gesicht des Alten gefiel ihm außerordentlich.

»Wie?« murmelte er endlich, »Sie verzeihen mir wirklich? Auch… auch Sie, Lisaweta Prokofjewna?«

Das Gelächter nahm zu; dem Fürsten kamen die Tränen in die Augen; er traute seinen Augen nicht und war wie verzaubert.

»Gewiß, es war eine schöne Vase. Ich erinnere mich, sie hier schon seit ungefähr fünfzehn Jahren gesehen zu haben, ja… seit fünfzehn Jahren…«, begann Iwan Petrowitsch.

»Ach was! Was ist das schon für ein Unglück! Ein Mensch lebt auch nicht ewig, wie wird man da um einen irdenen Topf viel Wesens machen!« sagte Lisaweta Prokofjewna laut. »Hast du denn wirklich einen solchen Schreck bekommen, Lew Nikolajitsch?« fügte sie in besorgtem Ton hinzu. »Laß es gut sein, mein Täubchen, laß es gut sein! Du ängstigst mich sonst wirklich.«

»Und Sie verzeihen mir alles? Alles, auch abgesehen von der Vase?« sagte der Fürst und wollte sich von seinem Platz erheben, aber der Alte zog ihn sogleich an der Hand wieder nieder. Er wollte ihn nicht loslassen.

»« flüsterte er über den Tisch Iwan Petrowitsch zu, übrigens ziemlich laut. Der Fürst konnte es durchaus gehört haben.

»Ich habe also niemand von Ihnen beleidigt? Sie glauben gar nicht, wie glücklich mich dieser Gedanke macht! Aber es konnte ja auch nicht anders sein! Konnte sich denn hier jemand durch mich beleidigt fühlen? Ich beleidige Sie wieder, indem ich so etwas auch nur denke.«

»Beruhigen Sie sich, mein Freund, das ist Übertreibung. Sie haben auch gar keinen Grund, sich so zu bedanken; das ist ein schönes, aber übertriebenes Gefühl.«

»Ich danke Ihnen auch gar nicht, ich sehe Sie nur… voller Freude an und fühle mich bei Ihrem Anblick so glücklich. Vielleicht rede ich dumm, aber… ich muß reden, ich muß Ihnen alles erklären … wenn auch nur aus Selbstachtung.«

Alles an ihm war aufgeregt, unklar und fieberhaft; sehr möglich, daß die Worte, die er herausbrachte, oft nicht die waren, die er hatte sagen wollen. Er schien mit seinen Augen zu fragen, ob er reden dürfe. Sein Blick fiel auf die alte Bjelokonskaja.

»Meinetwegen, lieber Freund, fahr nur fort, fahr nur fort, nur komm nicht außer Atem!« bemerkte diese. »Du hast auch vorhin schon Atemnot gehabt, und du siehst ja, wie arg es damit geworden ist. Aber fürchte dich nicht zu reden: diese Herren haben schon wunderlichere Käuze gesehen, als du einer bist; du setzt sie weiter nicht in Erstaunen. Und du bist ja auch gar nicht Gott weiß was für ein Sonderling, du hast nur eine Vase zerbrochen und uns einen Schreck eingejagt.«

Der Fürst lächelte, als er sie das sagen hörte.

»Sie waren es doch«, wandte er sich plötzlich an den Alten, »Sie waren es doch, der vor drei Monaten den Studenten Podkumow und den Beamten Schwabrin vor der Verschickung rettete?«

Der Alte errötete sogar ein wenig und murmelte, er möge sich doch beruhigen.

»Und über Sie habe ich im Gouvernement *** gehört«, wandte er sich sofort an Iwan Petrowitsch, »daß Sie Ihren abgebrannten Bauern, obwohl sie schon freigelassen waren und Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hatten, umsonst Holz zum Bauen gegeben haben?«

»Nun, das ist eine Ü-ber-treibung«, murmelte Iwan Petrowitsch, nahm aber, angenehm berührt, eine würdevolle Haltung an. Diesmal jedoch hatte er vollkommen recht damit, daß das »eine Übertreibung« sei, es war nur ein falsches Gerücht gewesen, das dem Fürsten zu Ohren gekommen war.

»Und Sie, Fürstin«, wandte er sich auf einmal mit strahlendem Lächeln an die alte Bjelokonskaja, »haben Sie mich nicht vor einem halben Jahr in Moskau auf Lisaweta Prokofjewnas Brief hin wie einen leiblichen Sohn aufgenommen und mir wirklich wie einem leiblichen Sohn einen Rat gegeben, den ich nie vergessen werde? Erinnern Sie sich?«

»Was redest du für tolles Zeug zusammen?« erwiderte die alte Bjelokonskaja ärgerlich. »Du bist ein guter, aber komischer Mensch: wenn man dir zwei Groschen schenkt, bist du so dankbar, als ob man dir das Leben gerettet hätte. Du denkst, das sei lobenswert, aber es ist widerwärtig.«

Sie wollte schon ernstlich zornig werden, brach aber plötzlich in ein Gelächter aus, und es war diesmal ein gutmütiges Gelächter. Auch Lisaweta Prokofjewnas Gesicht glänzte; nicht minder strahlte Iwan Fjodorowitsch.

»Ich habe es ja gesagt, Lew Nikolajitsch ist ein Mensch… ein Mensch… mit einem Wort, wenn er nur nicht außer Atem käme, wie die Fürstin richtig bemerkt hat…«, murmelte der General in einer Art von Freudenrausch, indem er die Worte der alten Bjelokonskaja, die ihn frappiert hatten, wiederholte.

Nur Aglaja schien traurig zu sein, aber ihr Gesicht glühte immer noch, vielleicht vor Unwillen.

»Er ist wirklich sehr liebenswürdig«, sagte der Alte wieder leise zu Iwan Petrowitsch.

»Ich kam hierher mit tiefem Weh im Herzen«, fuhr der Fürst fort, mit immer wachsender Erregung, immer schneller und schneller, mit immer seltsamerer Begeisterung, »ich… fürchtete mich vor Ihnen, fürchtete mich vor mir selbst. Am meisten vor mir selbst. Als ich hierher nach Petersburg zurückkehrte, hatte ich mir vorgenommen, jedenfalls unsere ersten, ältesten Familien kennenzulernen, zu denen ich selbst gehöre, unter denen ich selbst durch meine Herkunft einer der ersten Vertreter bin. Nun sitze ich ja jetzt mit ebensolchen Fürsten zusammen, wie ich einer bin, nicht wahr? Ich wollte Sie kennenlernen, und das war notwendig, sehr, sehr notwendig!… Ich hatte über Sie immer sehr viel Schlechtes gehört, mehr als Gutes: über die Kleinlichkeit und Exklusivität Ihrer Interessen, über Ihre Rückständigkeit, über Ihre geringe Bildung, über Ihre lächerlichen Gewohnheiten – oh, es wird ja so viel über Sie geschrieben und geredet! Ich bin voller Neugier und Erregung heute hierhergekommen: ich wollte mich persönlich davon überzeugen, ob wirklich diese ganze obere Schicht des russischen Volkes nichts mehr taugt, sich überlebt hat, keine Kraft zum Leben mehr besitzt, zu weiter nichts mehr fähig ist, als zu sterben, aber doch immer noch in kleinlichem Neid einen Kampf gegen die Männer… der Zukunft führt, sich ihnen in den Weg stellt, ohne zu merken, daß sie selbst im Absterben begriffen ist. Ich habe diese Meinung auch früher nicht ganz für richtig gehalten, weil es bei uns eine höhere Gesellschaftsklasse eigentlich nie gegeben hat, außer etwa der Hofgesellschaft, zu der mancher durch seine Uniform oder… durch irgendwelche Zufälle gehörte, und jetzt ist auch die ganz verschwunden, nicht wahr, nicht wahr?«

»Nun, das verhält sich ganz und gar nicht so!« bemerkte Iwan Petrowitsch spöttisch lachend.

»Na, nun ist er richtig wieder in Zug gekommen!« sagte die alte Bjelokonskaja verdrießlich.

», er zittert ja am ganzen Leibe«, sagte der Alte wieder halblaut in warnendem Ton.

Der Fürst hatte sich augenscheinlich nicht mehr in der Gewalt.

»Und was fand ich? Ich sah elegante, gutherzige, verständige Menschen; ich sah einen alten Herrn, der einen jungen Menschen wie mich freundlich anhört; ich sehe Menschen, die imstande sind zu verstehen und zu verzeihen, gute, echte russische Menschen, die fast ebenso gut und herzlich sind wie die, mit denen ich in andern Schichten zusammengekommen bin, fast in gleichem Maße. Urteilen Sie selbst, wie freudig ich erstaunt sein mußte! Oh, erlauben Sie mir, diesem Gefühl Ausdruck zu geben! Ich habe oft gehört und selbst fest geglaubt, in der vornehmen Welt sei alles nur Schein, alles nur abgelebte Form, der eigentliche Kern sei vertrocknet; aber nun sehe ich ja selbst, daß das bei uns nicht zutrifft; anderswo mag das so sein, bei uns ist es nicht so. Sind Sie denn sämtlich jetzt Jesuiten und Betrüger? Ich habe vorhin den Fürsten N. etwas erzählen hören: war das nicht gutherziger, sprudelnder Humor? War das nicht wahre Herzensgüte? Können denn solche Worte von den Lippen eines… geistig gestorbenen Menschen kommen, dessen Herz eingeschrumpft, dessen Talent versiegt ist? Könnten denn gestorbene Menschen mit mir so umgehen, wie Sie mit mir umgegangen sind? Ist das nicht Material… für die Zukunft, ein Material, auf das man seine Hoffnungen setzen darf? Können etwa solche Menschen verständnislos und rückständig sein?«

»Ich bitte Sie noch einmal, sich zu beruhigen, mein Lieber«, sagte der Würdenträger lächelnd. »Wir wollen über all das ein andermal reden, und ich werde mit dem größten Vergnügen…«

Iwan Petrowitsch räusperte sich und drehte sich auf seinem Sessel um; Iwan Fjodorowitsch wurde unruhig; sein hoher Vorgesetzter, der General, unterhielt sich mit der Gemahlin des Würdenträgers, ohne dem Fürsten auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken; aber die Gemahlin des Würdenträgers hörte häufig nach diesem hin und blickte zu ihm herüber.

»Nein, wissen Sie, es wird schon das beste sein, wenn ich rede!« fuhr der Fürst in einem neuen fieberhaften Impuls fort, indem er sich besonders zutunlich und geradezu mit einer gewissen Vertraulichkeit an den Alten wandte. »Aglaja Iwanowna hat mir gestern verboten zu reden und mir sogar die Themen genannt, über die ich nicht reden dürfe; sie weiß, daß ich bei Erörterung dieser Themen lächerlich werde! Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, aber ich weiß ja, daß ich noch wie ein Kind bin. Ich habe kein Recht, meine Gedanken auszusprechen, das habe ich schon immer gesagt; ich habe nur in Moskau mit Rogoshin ganz offenherzig gesprochen … Wir haben zusammen Puschkin gelesen, ihn ganz durchgelesen; er kannte nichts davon, nicht einmal den Namen Puschkin… Ich fürchte immer, durch mein komisches Wesen den Gedanken und die Hauptidee zu kompromittieren. Ich verstehe mich nicht auf Gesten. Ich mache immer Handbewegungen, die den richtigen entgegengesetzt sind, und das ruft Gelächter hervor und schadet der Idee. Ich habe auch kein Gefühl für das rechte Maß, und das ist das wichtigste; das ist sogar das allerwichtigste… Ich weiß, daß ich am besten täte, stillzusitzen und zu schweigen. Wenn ich das durchsetze und schweige, dann mache ich sogar den Eindruck eines ganz vernünftigen Menschen und denke außerdem im stillen über dies und jenes nach. Aber jetzt ist es doch besser, wenn ich rede. Ich habe zu reden angefangen, weil Sie mich so nett ansehen; Sie haben ein so nettes Gesicht! Ich habe gestern Aglaja Iwanowna mein Wort darauf gegeben, heute den ganzen Abend zu schweigen.«

»« fragte der Alte lächelnd.

»Aber in manchen Augenblicken denke ich, daß ich unrecht tue, wenn ich so denke: Offenherzigkeit ist doch wohl ebensoviel wert wie eine schöne Geste, nicht wahr? Nicht wahr?«

»Manchmal.«

»Ich will Ihnen alles erklären, alles, alles, alles! O ja! Sie denken, ich sei ein Utopist, ein Ideologe? O nein, weiß Gott, meine Gedanken sind immer ganz einfach… Sie glauben es nicht? Sie lächeln? Wissen Sie, ich bin manchmal ein gemeiner Mensch, weil ich den Glauben verliere. Vorhin ging ich hierher und dachte: Na, wie werde ich mit ihnen reden? Womit muß ich anfangen, damit sie wenigstens etwas verstehen?‘ Was hatte ich für Furcht; aber ich fürchtete in der Hauptsache für Sie; es war schrecklich, ganz schrecklich! Aber durfte ich denn Furcht haben? Mußte ich mich nicht schämen, Furcht zu haben? Was tut es denn, daß auf einen Vorgeschrittenen eine solche Menge von Zurückgebliebenen, Schlechten kommt? Und das ist für mich nun gerade ein Grund zur Freude, daß ich jetzt die Überzeugung gewonnen habe, daß es sich gar nicht um eine solche tote Menge handelt, sondern daß das lauter lebensvolles Material ist! Wir dürfen uns auch dadurch nicht beirren lassen, daß wir komisch sind, nicht wahr? Es ist ja freilich wirklich so: wir sind komisch, leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu sehen, verstehen nicht zu begreifen, wir sind ja alle von dieser Art, alle, Sie und ich und alle andern! Sie fühlen sich doch nicht beleidigt dadurch, daß ich Ihnen ins Gesicht sage, Sie seien komisch? Wenn dem aber so ist, sind Sie denn dann nicht lebensvolles Material? Wissen Sie, meiner Ansicht nach ist es manchmal sogar gut, komisch zu sein, sogar das beste: man kann einander leichter verzeihen und sich leichter miteinander versöhnen; man kann doch auch nicht alles auf einmal verstehen, nicht gleich mit der Vollkommenheit anfangen! Um Vollkommenheit zu erreichen, muß man vorher gar vieles nicht verstanden haben! Und wenn man etwas gar zu schnell versteht, so ist Gefahr, daß man es nicht ordentlich versteht. Das sage ich Ihnen, die Sie es schon fertiggebracht haben, so vieles zu verstehen und… nicht zu verstehen. Ich fürchte jetzt nicht für Sie; Sie sind ja doch nicht böse darüber, daß ein so junger Mensch solche Worte zu Ihnen spricht? Sie lachen, Iwan Petrowitsch? Sie denken, ich fürchtete für die andern Schichten, sei ihr Advokat, ein Demokrat, ein Gleichheitsapostel?« Hier lachte er krampfhaft (er stieß alle Augenblicke ein kurzes, entzücktes Lachen aus). »Ich fürchte für Sie, für Sie alle, für Sie alle zusammen. Ich bin ja selbst ein Fürst aus einem alten Geschlecht und sitze hier unter Fürsten. Ich rede hier, um uns alle zu retten; ich rede, damit nicht unser Stand, ohne etwas gewirkt zu haben, im Dunkel verschwindet, weil er nichts begriffen, sich um alles herumgestritten und alles verspielt hat. Wozu sollen wir verschwinden und andern unsern Platz einräumen, wenn wir die Vordersten und Obersten bleiben können? Wenn wir die Vordersten sein werden, dann werden wir auch die Obersten sein. Wir wollen Diener sein, um die Obersten zu werden.«

Er versuchte wieder, von seinem Sessel aufzuspringen, aber der Alte hielt ihn beständig fest, betrachtete ihn jedoch mit wachsender Unruhe.

»Hören Sie! Ich weiß, daß es nicht gut ist, bloß zu sprechen: besser ist es, wenn man einfach ein gutes Beispiel gibt und einfach selbst den Anfang macht… ich habe bereits den Anfang gemacht… und… und ist es denn wirklich möglich, unglücklich zu sein? Oh, was will mein Kummer und mein Leid besagen, wenn ich imstande bin, glücklich zu sein? Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorbeigehen kann, ohne darüber glücklich zu sein, daß man ihn sieht, wie man mit einem Menschen reden und nicht darüber glücklich sein kann, daß man ihn liebt! Oh, ich verstehe nur nicht, es auszudrücken… aber wie viele schöne Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die sogar der verkommenste Mensch schön findet! Sehen Sie ein Kind an, sehen Sie die Morgen- und Abendröte an, betrachten Sie ein Gräschen, wie es wächst, schauen Sie in Augen, die liebevoll auf Sie blicken…«

Er war schon längst während des Redens aufgestanden. Der Alte sah ihn jetzt erschrocken an. Lisaweta Prokofjewna, die früher als alle andern merkte, was vorging, rief: »Ach, mein Gott!« und schlug die Hände zusammen. Aglaja lief schnell zu ihm hin, fing ihn noch gerade in ihren Armen auf und hörte voller Angst mit schmerzverzerrtem Gesicht den wilden Schrei des Dämons, der den Unglücklichen schüttelte und niederwarf. Der Kranke lag auf dem Teppich. Jemand hatte noch Zeit gefunden, ihm schnell ein Kissen unter den Kopf zu schieben.

Das hatte niemand erwartet. Eine Viertelstunde darauf versuchten Fürst N., Jewgenij Pawlowitsch und der Alte das Zusammensein wieder etwas lebendiger zu gestalten, aber schon nach einer weiteren halben Stunde brachen alle Gäste auf. Dabei erfolgten zahlreiche Äußerungen der Teilnahme und des Bedauerns, manche sprachen auch ihre Meinung über den Vorfall aus. Iwan Petrowitsch sagte unter anderm, der junge Mann sei ein Sla-wo-philer oder etwas Ähnliches, indes sei das nicht weiter gefährlich. Der Alte äußerte sich gar nicht. Nachher allerdings, am nächsten und übernächsten Tage, waren alle in etwas ärgerlicher Stimmung; Iwan Petrowitsch fühlte sich sogar beleidigt, wenn auch nur ein wenig. Der General, der Iwan Fjodorowitschs Chef war, benahm sich eine Zeitlang gegen diesen etwas kühl. Der »Patron« der Familie, der Würdenträger, murmelte dem Oberhaupt der Familie unter Kaubewegungen ein paar tröstende Worte zu, wobei er in schmeichelhafter Weise zum Ausdruck brachte, daß er an Aglajas Geschick sehr, sehr großen Anteil nehme. Er war wirklich ein ganz gutherziger Mensch; aber unter den Gründen, aus denen er bei der Abendgesellschaft dem Fürsten seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, spielte eine besondere Rolle das Verhältnis, in dem der Fürst unlängst zu Nastasja Filippowna gestanden hatte; er hatte davon etwas gehört, interessierte sich sehr dafür und wollte sogar danach fragen.

Die alte Bjelokonskaja sagte, als sie am Abend wegfuhr, zu Lisaweta Prokofjewna:

»Na ja, er hat sein Gutes und sein Schlechtes; aber wenn du meine Meinung wissen willst, so muß ich sagen: das Schlechte überwiegt. Du siehst ja selbst, was er für ein Mensch ist, ein kranker Mensch!«

Lisaweta Prokofjewna kam zu der endgültigen Überzeugung, daß er als Bräutigam »unmöglich« sei, und nahm sich beim Schlafengehen vor, solange sie lebe, solle der Fürst nicht der Mann ihrer Aglaja werden. Mit diesem Entschluß stand sie auch am Morgen auf. Aber noch an demselben Vormittag, zwischen zwölf und ein Uhr, beim Frühstück, setzte sie sich in einen wunderlichen Widerspruch zu sich selbst.

Auf eine übrigens sehr behutsame Frage der Schwestern antwortete Aglaja kalt und hochmütig, als wolle sie die Sache damit abtun: »Ich habe ihm nie mein Wort gegeben und ihn nie in meinem Leben als meinen Bräutigam betrachtet. Er steht mir ebenso fern wie jeder andere.«

Da fuhr Lisaweta Prokofjewna plötzlich auf.

»Das hatte ich nicht von dir erwartet«, sagte sie gekränkt. »Daß er als Bräutigam unmöglich ist, weiß ich, und Gott sei Dank, daß es so gekommen ist; aber von dir hätte ich solche Reden nicht erwartet. Ich hatte geglaubt, du würdest dich anders dazu stellen. Ich würde am liebsten alle, die gestern hier waren, fortjagen und ihn allein dabehalten, so ein Mensch ist das!…«

Hier brach sie plötzlich ab, da sie über das, was sie gesagt hatte, selbst einen Schreck bekam. Aber wenn sie gewußt hätte, wie sehr sie ihrer Tochter in diesem Augenblick unrecht tat! Aglaja hatte sich in ihrem Kopf schon alles zurechtgelegt; auch sie wartete auf ihre Stunde, die alles entscheiden sollte, und jede Andeutung, jede unvorsichtige Berührung schlug ihrem Herzen eine tiefe Wunde.

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Kapitel 46

VIII

Auch für den Fürsten begann dieser Tag damit, daß er sich von schlimmen Ahnungen bedrückt fühlte; diese ließen sich zwar durch seinen krankhaften Zustand erklären, aber seine Traurigkeit hatte doch einen gar zu unbestimmten Charakter, und das war für ihn das qualvollste. Gewiß standen ihm bestimmte Tatsachen deutlich vor Augen, schmerzliche, peinliche Tatsachen, aber seine Traurigkeit ging doch über alles hinaus, was ihm Gedächtnis und Denkkraft als Stoff dafür boten; er sah ein, daß er sich nicht beruhigen würde, wenn er allein bliebe. Allmählich setzte sich in seinem Kopf die Erwartung fest, daß noch an diesem Tag mit ihm etwas Besonderes und Entscheidendes geschehen würde. Der Anfall, den er tags zuvor gehabt hatte, war leichter gewesen: außer einer starken Niedergeschlagenheit, einer gewissen Schwere im Kopf und Schmerzen in den Gliedern fühlte er keine andere gesundheitliche Störung. Sein Kopf arbeitete durchaus normal, obgleich die Seele krank war. Er stand sehr spät auf und erinnerte sich sofort mit aller Deutlichkeit an den gestrigen Abend; auch daran erinnerte er sich, freilich nicht ganz klar, daß man ihn eine halbe Stunde nach dem Anfall nach Hause gebracht hatte. Er erfuhr, daß bereits ein Bote von Jepantschins bei ihm erschienen war, um nach seinem Befinden zu fragen. Um halb zwölf erschien ein zweiter; das war ihm angenehm. Wera Lebedewa war die erste, die ihn besuchte und für ihn sorgte. Im ersten Augenblick, als sie ihn erblickte, fing sie plötzlich an zu weinen; aber als der Fürst sie gleich beruhigte, lachte sie. Ihn überraschte das starke Mitgefühl, das dieses Mädchen für ihn empfand; er ergriff ihre Hand und küßte sie. Wera errötete.

»Ach, was tun Sie, was tun Sie!« rief sie erschrocken und zog schnell ihre Hand weg.

Sie ging in seltsamer Aufregung bald wieder weg. Unter anderm hatte sie ihm erzählt, ihr Vater sei an diesem Tage schon ganz frühmorgens zu dem »Dahingeschiedenen« gelaufen, wie er den General nannte, um nachzufragen, ob er in der Nacht gestorben sei; es verlaute, er werde wahrscheinlich bald sterben. Kurz vor zwölf Uhr kam auch Lebedew selbst nach Hause und zum Fürsten, aber eigentlich »nur auf einen Augenblick, um sich nach dem kostbaren Befinden zu erkundigen«, und so weiter und außerdem dem »Schränkchen« einen Besuch abzustatten. Da er nichts anderes tat als ächzen und stöhnen, so machte der Fürst, daß er ihn bald wieder loswurde, aber Lebedew versuchte doch noch, sich nach dem gestrigen Anfall zu erkundigen, obgleich er offenbar darüber bereits in allen Einzelheiten orientiert war. Nach ihm kam Kolja angelaufen, ebenfalls nur auf einen Augenblick; er hatte es wirklich eilig und befand sich in einer starken, düsteren Unruhe. Er begann damit, daß er den Fürsten geradeheraus und inständig bat, ihm alles mitzuteilen, was man ihm noch verberge; das meiste habe er schon am gestrigen Tag erfahren. Er war tief und heftig erschüttert.

Mit aller Teilnahme, deren er nur fähig war, erzählte ihm der Fürst den ganzen Hergang, indem er die Tatsachen mit größter Genauigkeit wiedergab; sein Bericht traf den armen Jungen wie ein Donnerschlag. Er vermochte kein Wort herauszubringen und weinte schweigend. Der Fürst fühlte, daß dies einer jener Eindrücke war, die sich nie wieder verwischen und im Leben eines Jünglings einen Wendepunkt bilden. Er beeilte sich, ihm seine Ansicht über die Angelegenheit mitzuteilen, und fügte hinzu, daß seiner Ansicht nach auch der Tod des alten Mannes seine Ursache vielleicht hauptsächlich in dem Gefühl des Schreckens gehabt habe, das in seinem Herzen nach dem Vergehen zurückgeblieben sei, und daß zu so etwas nicht jeder Mensch fähig wäre. Koljas Augen funkelten, als er den Fürsten so reden hörte.

»Abscheuliche Menschen sind Ganja und Warja und Ptizyn! Ich werde mich nicht mit ihnen herumstreiten, aber unsere Wege gehen von nun an auseinander! Ach, Fürst, ich habe seit gestern sehr viel neue Empfindungen durchgemacht; das ist eine schwere Prüfung für mich! Auch für meine Mutter glaube ich jetzt selbst sorgen zu müssen; sie befindet sich zwar in Warjas Pflege, aber das ist doch nicht das Richtige…«

Er sprang auf, da er sich erinnerte, daß er erwartet wurde, fragte noch schnell nach dem Gesundheitszustand des Fürsten und fügte, als er die Antwort gehört hatte, plötzlich eilig hinzu:

»Gibt es sonst nichts Neues? Ich hörte, daß gestern… (übrigens habe ich kein Recht, davon zu reden), aber wenn Sie jemals in irgendeiner Sache einen treuen Diener nötig haben, so steht ein solcher vor Ihnen. Es scheint, daß wir beide nicht ganz glücklich sind, nicht wahr? Aber… ich stelle keine Fragen, ich stelle keine Fragen…«

Er ging weg, der Fürst aber versank noch mehr in seine Gedanken: alle Leute prophezeiten ihm Unheil, alle hatten bereits aus dem Geschehenen ihre Schlüsse gezogen, alle sahen so aus, als ob sie etwas wüßten, etwas, was er nicht wußte; Lebedew fragte ihn aus, Kolja machte direkte Andeutungen, Wera weinte. Zuletzt machte er ärgerlich eine Handbewegung, als würfe er alles hinter sich: ›Weg mit der verdammten krankhaften Zweifelsucht!‹ dachte er. Sein Gesicht hellte sich auf, als er zwischen ein und zwei Uhr die Jepantschinschen Damen eintreten sah, die ihm »auf ein Augenblickchen« einen Besuch machen wollten. Lisaweta Prokofjewna hatte, als sie vom Frühstückstisch aufstand, erklärt, sie würden jetzt alle Spazierengehen, und zwar alle zusammen. Diese Mitteilung war kurz, trocken, ohne Erläuterungen in Form eines Befehls erfolgt. Alle hatten sich aufgemacht, das heißt die Mama, die jungen Mädchen und Fürst Schtsch. Lisaweta Prokofjewna hatte ohne weiteres die den gewohnten täglichen Spaziergängen entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Alle hatten sogleich gemerkt, um was es sich handelte, und alle hatten geschwiegen, da sie sich fürchteten, die Mama zu reizen; diese aber war, als wollte sie einen Vorwurf und die Erwiderung darauf vermeiden, allen vorangegangen, ohne sich umzudrehen. Schließlich hatte Adelaida bemerkt, auf einem Spaziergange brauche man doch nicht so zu laufen, und sie könnten mit der Mama gar nicht mitkommen.

Da hatte sich Lisaweta Prokofjewna auf einmal umgedreht und gesagt: »Also wir kommen jetzt bei ihm vorbei. Wie nun auch Aglaja darüber denken und was sich auch weiter ereignen mag, jedenfalls ist er kein Fremder, und jetzt ist er obendrein unglücklich und krank; ich wenigstens werde jetzt zu ihm gehen und ihn besuchen. Wer mit mir kommen will, kann es tun, wer es nicht will, kann vorbeigehen; der Weg ist nicht versperrt.«

Alle waren selbstverständlich mitgekommen. Der Fürst beeilte sich, wie es sich gehörte, noch einmal wegen der gestrigen Vase und… wegen des Skandals um Verzeihung zu bitten.

»Na, es hat nichts auf sich«, antwortete Lisaweta Prokofjewna. »Um die Vase ist es nicht weiter schade, sondern um dich. Also merkst du jetzt selbst, daß es ein Skandal war; da sieht man, was es bedeutet: ›sich eine Sache beschlafen‹. Aber auch das macht nichts, da jeder jetzt sieht, daß du dafür nicht verantwortlich gemacht werden kannst. Nun aber auf Wiedersehen; wenn du dazu imstande bist, so geh ein bißchen spazieren und lege dich dann wieder schlafen – das ist mein Rat. Und wenn du magst, so besuche uns wie früher; sei ein für allemal versichert, daß, was sich auch ereignen und begeben mag, du doch immer ein Freund unseres Hauses bleibst, wenigstens mein Freund. Für mich wenigstens kann ich einstehen …«

Auf diese Herausforderung reagierten alle und stimmten der Mama bei. Sie gingen fort, aber in Lisaweta Prokofjewnas gutmütiger Eile, etwas Freundliches und Ermutigendes zu sagen, hatte doch eine arge Grausamkeit verborgen gelegen, was ihr gar nicht zum Bewußtsein gekommen war. In der Einladung, »wie früher« zu kommen, und den Worten »wenigstens mein Freund« wiederum hatte eine Art Voraussagung gelegen. Der Fürst rief sich Aglajas Verhalten ins Gedächtnis zurück; gewiß, sie hatte ihm sehr freundlich zugelächelt, beim Kommen und beim Abschied, hatte aber kein Wort gesagt, nicht einmal da, als alle ihm ihre Freundschaft versicherten, obgleich sie ihn zweimal unverwandt angesehen hatte. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blaß gewesen, als hätte sie die Nacht schlecht geschlafen. Der Fürst nahm sich vor, am Abend unbedingt »wie früher« zu ihnen zu gehen, und blickte in fieberhafter Erregung nach der Uhr. Da trat, gerade drei Minuten, nachdem Jepantschins weggegangen waren, Wera ins Zimmer.

»Lew Nikolajewitsch, Aglaja Iwanowna hat mir soeben heimlich eine Bestellung an Sie aufgetragen.«

Der Fürst begann ordentlich zu zittern.

»Ein Billett?«

»Nein, eine mündliche Bestellung; auch dazu hatte sie nur knapp Zeit. Sie läßt Sie dringend bitten, heute den ganzen Tag das Haus auch nicht eine Minute zu verlassen, bis sieben Uhr abends oder sogar bis neun Uhr, das habe ich nicht ganz deutlich gehört.«

»Ja… warum denn? Was bedeutet das?«

»Das weiß ich nicht; aber sie hat mir aufs strengste befohlen, es auszurichten.«

»Hat sie den Ausdruck ›aufs strengste‹ gebraucht?«

»Nein, so geradezu hat sie es nicht gesagt: sie hatte kaum Zeit, sich umzudrehen und es mir zu sagen; es war ein Glück, daß ich gleich selbst herbeisprang. Aber schon an ihrem Gesicht war zu sehen, wie sie es befahl: ob aufs strengste oder nicht. Sie sah mich an, daß mir beinah das Herz stehenblieb…«

Der Fürst richtete noch einige Fragen an Wera, und obgleich er nichts weiter erfuhr, wurde er nun noch unruhiger. Als er allein geblieben war, legte er sich auf das Sofa und fing wieder an nachzudenken. ›Vielleicht ist heute jemand bis neun Uhr bei ihnen, und sie fürchtet wieder, daß ich in Gegenwart der Gäste etwas anrichte‹, dachte er endlich und begann wieder ungeduldig auf den Abend zu warten und nach der Uhr zu sehen. Aber die Auflösung des Rätsels erfolgte lange vor Abend und ebenfalls in Form eines neuen Besuches, und diese Auflösung hatte die Gestalt eines neuen qualvollen Rätsels: genau eine halbe Stunde, nachdem Jepantschins weggegangen waren, trat Ippolit bei ihm ein, dermaßen müde und erschöpft, daß er beim Eintritt, ohne ein Wort zu sagen, wie besinnungslos auf einen Sessel niederfiel und sofort einen entsetzlichen Hustenanfall bekam. Er hustete so, daß er Blut ausspie. Seine Augen funkelten, und rote Flecke brannten auf seinen Wangen. Der Fürst murmelte ihm etwas zu, aber er antwortete nicht und winkte noch lange, ohne zu antworten, nur mit der Hand ab, der Fürst möchte ihn vorläufig in Ruhe lassen. Endlich kam er wieder zu sich.

»Ich werde gleich gehen!« brachte er endlich unter großen Anstrengungen mit heiserer Stimme heraus.

»Wenn Sie wollen, werde ich Sie nach Hause bringen«, sagte der Fürst und erhob sich von seinem Platz, aber er verstummte schnell, da ihm einfiel, daß ihm soeben verboten war, das Haus zu verlassen.

Ippolit lachte.

»Ich meine nicht, daß ich von Ihnen weggehen will«, fuhr er, beständig hüstelnd und mit Atemnot kämpfend, fort. »Ich habe es vielmehr nötig gefunden, zu Ihnen zu kommen, in einer ernsten Angelegenheit… sonst hätte ich Sie nicht belästigt. Ich werde nach drüben gehen, und diesmal scheint es ernst zu sein. Ich bin kaputt! Glauben Sie mir, ich sage das nicht, um mich bedauern zu lassen… ich hatte mich heute gegen zehn Uhr schon hingelegt, um vor dem Jüngsten Tag überhaupt nicht mehr aufzustehen, aber ich habe meine Absicht geändert und bin noch einmal aufgestanden, um zu Ihnen zu kommen… also muß es wohl etwas Dringliches sein.«

»Es ist mir schmerzlich, Sie anzusehen; Sie hätten mich doch lieber rufen lassen sollen, statt sich selbst herzubemühen.«

»Na, nun lassen Sie es genug sein! Sie haben mich bedauert und somit der gesellschaftlichen Höflichkeit Genüge getan… Ja, das hatte ich vergessen: wie steht es mit Ihrer Gesundheit?«

»Ich bin gesund. Ich befand mich gestern… nicht ganz…«

»Ich habe davon gehört, ich habe davon gehört! Die chinesische Vase hat dran glauben müssen; schade, daß ich nicht dabei war! Ich bin in einer ernsten Angelegenheit gekommen. Erstens hatte ich heute das Vergnügen, Gawrila Ardalionowitsch bei einem Rendezvous mit Aglaja Iwanowna an der grünen Bank zu sehen. Ich bin erstaunt gewesen, was für ein dummes Gesicht ein Mensch machen kann. Ich sagte das zu Aglaja Iwanowna selbst, nachdem Gawrila Ardalionowitsch weggegangen war… Es scheint, Sie wundern sich über nichts, Fürst«, fügte er hinzu, indem er mißtrauisch das ruhige Gesicht des Fürsten ansah. »Man sagt, sich über nichts zu wundern, sei ein Kennzeichen von großem Verstand; meiner Ansicht nach könnte es in gleichem Maße als Kennzeichen großer Dummheit dienen… Ich spiele übrigens damit nicht auf Sie an; entschuldigen Sie… Ich bin heute in der Wahl meiner Ausdrücke sehr unglücklich.« »Ich habe schon gestern erfahren, daß Gawrila Ardalionowitsch…« Der Fürst verstummte, sichtlich verlegen, obwohl Ippolit sich darüber ärgerte, daß er sich nicht wunderte.

»Sie haben es gewußt! Das ist eine Neuigkeit! Übrigens brauchen Sie mir meinetwegen nichts zu erzählen … Aber Zeuge des Rendezvous sind Sie heute nicht gewesen?«

»Wenn Sie selbst dort waren, werden Sie ja gesehen haben, daß ich nicht da war.«

»Na, Sie könnten ja in einem Busch gesessen haben. Übrigens freue ich mich jedenfalls über den Ausgang, selbstverständlich für Sie; sonst hätte ich schon geglaubt, Gawrila Ardalionowitsch liefe Ihnen den Rang ab!«

»Ich bitte Sie, Ippolit, mit mir darüber nicht zu reden, und schon gar nicht in solchen Ausdrücken.«

»Das ist um so weniger nötig, als Sie bereits alles wissen.«

»Sie irren sich. Ich weiß fast nichts, und Aglaja Iwanowna weiß sicherlich, daß ich nichts weiß. Ich habe auch von diesem Rendezvous nicht das geringste gewußt. Sie sagen, es habe ein Rendezvous stattgefunden? Nun gut, verlassen wir dieses Thema …«

»Aber was heißt denn das? Bald haben Sie es gewußt, bald haben Sie es nicht gewußt! Sie sagen: ›Gut, verlassen wir dieses Thema‹? Aber seien Sie doch nicht so vertrauensselig! Besonders, wenn Sie nichts wissen. Ebendarum sind Sie so vertrauensselig, weil Sie nichts wissen. Aber wissen Sie wohl, was für Pläne diese beiden Menschen, der Bruder und die Schwester, verfolgen? Haben Sie nicht vielleicht einen Verdacht?… Gut, gut, ich verlasse dieses Thema …«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß der Fürst eine ungeduldige Handbewegung machte. »Aber ich bin in einer eigenen Angelegenheit hergekommen und möchte Ihnen in dieser Hinsicht eine … Erklärung abgeben. Hol’s der Teufel, man kann absolut nicht sterben ohne Erklärungen; es ist schrecklich, wieviel Erklärungen ich abgebe. Wollen Sie mich anhören?«

»Reden Sie, ich höre.«

»Ich ändere aber doch wieder meine Absicht: ich fange doch mit Ganja an. Können Sie sich vorstellen, daß auch ich heute angewiesen wurde, nach der grünen Bank zu kommen? Übrigens, ich will nicht lügen: ich selbst habe um ein Rendezvous ersucht, habe dringend darum gebeten; ich versprach, ein Geheimnis zu enthüllen. Ich weiß nicht, ob ich zu früh hinkam (wie es scheint, kam ich tatsächlich zu früh), aber kaum hatte ich meinen Platz neben Aglaja Iwanowna eingenommen, da sehe ich, daß Gawrila Ardalionowitsch und Warwara Ardalionowna erscheinen, beide Arm in Arm, als ob sie spazierengingen. Sie mochten wohl beide sehr überrascht sein, mich dort zu finden; das hatten sie nicht erwartet, sie wurden ganz verlegen. Aglaja Iwanowna wurde dunkelrot und, mögen Sie es nun glauben oder nicht, kam sogar aus der Fassung, ob nun deswegen, weil ich da war, oder einfach, weil sie Gawrila Ardalionowitsch sah, der ja ein sehr schöner Mann ist. Jedenfalls wurde sie dunkelrot und brachte die Sache in einem Augenblick auf sehr komische Art zum Abschluß: sie stand auf, erwiderte Gawrila Ardalionowitschs Verbeugung und Warwara Ardalionownas schmeichlerisches Lächeln und sagte kurz: ›Ich bin nur deshalb hergekommen, um Ihnen meine persönliche Befriedigung über Ihre aufrichtigen freundschaftlichen Gefühle gegen mich auszusprechen, und wenn ich derselben bedürfen sollte, so seien Sie überzeugt…‹ Hier machte sie ihnen eine Abschiedsverbeugung, und beide gingen weg, ich weiß nicht, ob mit dem Gefühl, zum Narren gehalten zu sein, oder mit einem Gefühl des Triumphes; Ganja jedenfalls mit dem ersteren; er verstand überhaupt nichts und wurde rot wie ein Krebs (er hat manchmal einen ganz wunderlichen Gesichtsausdruck!); aber Warwara Ardalionowna hatte wohl verstanden, daß sie sich möglichst schnell davonmachen mußten und von Aglaja Iwanowna nichts mehr zu erwarten hatten, und zog den Bruder mit sich fort. Sie ist klüger als er und triumphiert jetzt, davon bin ich überzeugt. Ich meinerseits war zu dem Gespräch mit Aglaja Iwanowna hingegangen, um mit ihr alles wegen ihrer Zusammenkunft mit Nastasja Filippowna zu verabreden.«

»Mit Nastasja Filippowna!« rief der Fürst.

»Aha! Jetzt, scheint es, verlieren Sie Ihre Kaltblütigkeit und fangen an, sich zu wundern? Ich freue mich sehr, daß Sie endlich einem Menschen ähnlich sehen wollen. Zum Lohn dafür will ich Ihnen auch etwas Interessantes erzählen. Das hat man davon, wenn man jungen, hochmütigen Mädchen Dienste erweist: ich habe heute von ihr eine Ohrfeige bekommen!«

»Eine… eine moralische?« fragte der Fürst unwillkürlich.

»Ja, nicht im physischen Sinne. Ich glaube, gegen einen solchen Menschen wie mich kann niemand die Hand aufheben; nicht einmal eine Frau wird jetzt nach mir schlagen; nicht einmal Ganja würde es tun! Obwohl ich gestern eine Zeitlang dachte, er würde sich auf mich stürzen… Ich möchte wetten, daß ich weiß, woran Sie jetzt denken. Sie denken: ›Schlagen darf man ihn allerdings nicht, aber dafür könnte man ihn mit einem Kissen ersticken oder im Schlaf mit einem nassen Lappen… und das müßte man sogar tun…‹ Es steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, daß Sie das denken, in eben dieser Sekunde.«

»Das habe ich nie gedacht!« versetzte der Fürst voll Widerwillen.

»Ich weiß nicht, mir hat heut nacht geträumt, daß mich jemand… mit einem nassen Lappen erstickte… na, ich will Ihnen auch sagen wer: denken Sie sich – Rogoshin! Was meinen Sie, kann man einen Menschen mit einem nassen Lappen ersticken?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich habe gehört, daß das möglich sei. Nun gut, verlassen wir dieses Thema! Na, wieso bin ich ein Klatschmaul? Warum hat sie mich heute ein Klatschmaul gescholten? Wohlgemerkt: erst nachdem sie alles bis auf das letzte Pünktchen angehört und sogar ihrerseits Fragen gestellt hatte… Aber so sind die Weiber! Ihr zu Gefallen bin ich zu Rogoshin in Beziehung getreten, zu diesem interessanten Menschen; in ihrem Interesse habe ich eine persönliche Zusammenkunft zwischen ihr und Nastasja Filippowna arrangiert. Vielleicht trägt sie es mir nach, daß ich ihr Ehrgefühl verletzt habe, indem ich darauf hindeutete, daß sie sich an einem von Nastasja Filippowna abgenagten Knochen vergnüge. Und ich will nicht leugnen, daß ich ihr das in ihrem eigenen Interesse die ganze Zeit über klarzumachen suchte, indem ich ihr zwei Briefe dieses Inhalts schrieb und dann an dritter Stelle dieses Rendezvous mit ihr hatte… Ich habe auch bei dem Rendezvous mit ihr das Gespräch mit dem Hinweis begonnen, daß dies für sie erniedrigend sei… Und dabei rührt die Wendung vom abgenagten Knochen eigentlich nicht von mir her, sondern von einem andern; wenigstens bedienten sich bei Ganjetschka alle dieses Ausdrucks, und sogar sie selbst hat ihn in den Mund genommen. Na also, warum nennt sie mich da ein Klatschmaul? Ich sehe, ich sehe: es ist Ihnen jetzt bei meinem Anblick sehr lächerlich zumute, und ich möchte wetten, daß Sie auf mich die dummen Verse anwenden:

›Und auf mein Ende glänzt, obgleich es trübe,
Vielleicht ein holder Abschiedsblick der Liebe.‹

Hahaha!« Er brach plötzlich in ein krampfhaftes Lachen aus und bekam einen Hustenanfall. »Beachten Sie auch«, fuhr er, noch immer hustend, mit heiserer Stimme fort, »was für ein Mensch Ganjetschka ist: er redet vom abgenagten Knochen, aber was will er sich jetzt selbst zunutzemachen?«

Der Fürst schwieg lange; er war sehr erschrocken.

»Sie sprachen von einer Zusammenkunft mit Nastasja Filippowna?« murmelte er endlich.

»Ja, ist Ihnen denn das wirklich nicht bekannt, daß heute eine Zusammenkunft Aglaja Iwanownas mit Nastasja Filippowna stattfinden wird, zu welchem Zweck Nastasja Filippowna eigens durch Rogoshin, auf Aglaja Iwanownas Einladung hin und infolge meiner Bemühungen, brieflich aus Petersburg herberufen ist, und daß sie sich jetzt, ebenso wie Rogoshin selbst, gar nicht weit von Ihnen in ihrer früheren Wohnung befindet, bei jener Dame, Darja Alexejewna heißt sie … einer sehr zweideutigen Dame, ihrer Freundin, und daß ebendorthin, in dieses zweideutige Haus, sich heute auch Aglaja Iwanowna zu einem freundschaftlichen Gespräch mit Nastasja Filippowna und zur Lösung verschiedener schwieriger Probleme begeben wird? Die beiden wollen sich wohl mit Mathematik beschäftigen. Das haben Sie nicht gewußt? Ehrenwort?«

»Das ist unglaublich!«

»Na, das ist ja schön, wenn es unglaublich ist. Übrigens, woher hätten Sie es auch wissen sollen? Allerdings, wenn hier nur eine Fliege vorbeifliegt, wird das gleich allgemein bekannt: so ein Nest ist Pawlowsk! Aber ich wollte Ihnen doch vorher davon Mitteilung machen, und Sie können mir dankbar sein. Nun, auf Wiedersehen – wahrscheinlich in jener Welt. Und noch eins: ich habe mich zwar Ihnen gegenüber gemein benommen, aber sagen Sie freundlichst selbst: warum hätte ich meine Chancen verlieren sollen? Etwa zu Ihrem Vorteil? Ich habe ihr ja meine Beichte gewidmet (wußten Sie das nicht?). Und wie hat sie diese Widmung aufgenommen! Hehe! Aber ihr gegenüber habe ich mich nicht gemein benommen, ihr gegenüber habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen; und doch hat sie mich beschimpft und verhöhnt… Übrigens habe ich mich auch Ihnen gegenüber nicht schuldig gemacht; wenn ich auch zu ihr das von dem abgenagten Knochen und noch manches in dieser Art gesagt habe, so teile ich Ihnen doch zum Entgelt jetzt Tag, Stunde und Ort der Zusammenkunft mit und decke dieses ganze Spiel auf… selbstverständlich aus Ärger und nicht aus Edelmut. Verzeihen Sie, ich bin redselig wie ein Stotterer oder wie ein Schwindsüchtiger. Seien Sie also auf der Hut, und ergreifen Sie baldigst die erforderlichen Maßnahmen, wenn Sie den Namen Mensch verdienen! Die Zusammenkunft findet heute abend statt, das ist sicher.«

Ippolit ging zur Tür, aber der Fürst rief ihm nach, und er blieb in der Tür stehen.

»Also Aglaja Iwanowna wird Ihrer Ansicht nach heute selbst zu Nastasja Filippowna gehen?« fragte der Fürst. Auf seinen Wangen und auf seiner Stirn traten rote Flecke hervor.

»Genau weiß ich es nicht, aber wahrscheinlich wird es so sein«, antwortete Ippolit, sich halb umwendend. »Es kann ja übrigens auch nicht anders sein. Nastasja Filippowna kann doch nicht zu ihr kommen! Und bei Ganja ist es auch unmöglich; der hat ja fast einen Toten bei sich in der Wohnung. Wie geht es denn dem General?«

»Schon aus dem einen Grunde ist es unmöglich!« rief der Fürst. »Wie kann sie denn dorthin gehen, selbst wenn sie es wollte? Sie kennen die Sitten in dieser Familie nicht; sie kann nicht allein zu Nastasja Filippowna gehen. Das ist Unsinn!«

»Sehen Sie mal, Fürst: für gewöhnlich springt niemand aus dem Fenster, aber wenn eine Feuersbrunst ausbricht, dann springt am Ende auch der vornehmste Gentleman und die vornehmste Dame aus dem Fenster. Wenn es nötig ist, dann ist eben nichts zu machen, und unser Fräulein geht zu Nastasja Filippowna. Oder verwehrt man es etwa Ihrem Fräulein überhaupt, auszugehen?«

»Nein, das meine ich nicht…«

»Nun, wenn das nicht der Fall ist, dann braucht sie nur die Stufen vor der Haustür hinabzusteigen und geradewegs hinzugehen, nötigenfalls unter Verzicht auf die Rückkehr nach Hause. Es gibt manchmal Fälle, in denen man die Schiffe hinter sich verbrennt und sich die Rückkehr nach Hause versagt; das Leben besteht doch nicht allein aus Frühstücken und Diners und Männern wie Fürst Schtsch. Mir scheint, Sie halten Aglaja Iwanowna für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; ich habe darüber schon mit ihr gesprochen, und sie schien meiner Ansicht zu sein. Passen Sie um sieben oder acht Uhr auf… Ich würde an Ihrer Stelle jemand als Wache dorthin schicken, damit Sie genau den Augenblick abpassen, wo sie aus der Haustür tritt. Schicken Sie doch Kolja hin; Sie können sicher sein, daß er mit Vergnügen spionieren wird, das heißt für Sie … denn diese moralischen Dinge haben alle nur einen relativen Wert… Haha!«

Ippolit ging hinaus. Der Fürst sah keinen Anlaß, jemand zum Spionieren hinzuschicken, selbst wenn er dazu fähig gewesen wäre. Aglajas Befehl, er solle zu Hause bleiben, war jetzt beinah aufgeklärt: vielleicht wollte sie ihn abholen. Denkbar war allerdings auch, daß sie nicht wünschte, daß er durch irgendeinen Zufall dorthin geriet, und ihm deshalb befohlen hatte, zu Hause zu bleiben … Auch das war möglich. Ihm schwindelte; das ganze Zimmer drehte sich um ihn. Er legte sich auf das Sofa und schloß die Augen.

So oder so, jedenfalls kam die Sache jetzt zur Entscheidung, zum Abschluß. Nein, der Fürst hielt Aglaja nicht für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; er fühlte jetzt, daß er schon längst gerade etwas Derartiges gefürchtet hatte; aber zu welchem Zweck wollte sie mit Nastasja Filippowna zusammenkommen? Ein kalter Schauder lief ihm über den ganzen Leib; er fieberte wieder.

Nein, er hielt sie nicht für ein Kind! Manche ihrer Blicke, manche ihrer Worte hatten ihn in der letzten Zeit erschreckt. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als ob sie sich zu sehr Zwang antat, sich zu sehr zurückhielt, und er erinnerte sich, daß ihn das geängstigt hatte. Allerdings hatte er sich alle diese Tage bemüht, nicht daran zu denken, hatte die bedrückenden Gedanken verscheucht, aber was lag in dieser Seele verborgen? Diese Frage hatte ihn schon lange gequält, obgleich er an diese Seele glaubte. Und nun sollte dies alles sich heute entscheiden und aufgedeckt werden! Ein entsetzlicher Gedanke! Und dann auf der andern Seite »diese Frau«! Warum hatte er nur immer die Vorstellung gehabt, daß diese Frau gerade im letzten Augenblick erscheinen und sein ganzes Schicksal wie einen mürben Faden zerreißen würde? Daß er immer diese Vorstellung gehabt hatte, das hätte er jetzt beschworen mögen, obgleich seine Gedanken fast so wirr waren wie im Fieber. Wenn er sich in letzter Zeit bemüht hatte, sie zu vergessen, so hatte er das einzig und allein getan, weil er sie fürchtete. Wie stand es: liebte er diese Frau oder haßte er sie? Diese Frage legte er sich heute kein einziges Mal vor; in dieser Hinsicht war sein Herz rein: er wußte, wen er liebte … Er fürchtete nicht sosehr die Zusammenkunft der beiden, nicht die Seltsamkeit und den ihm unbekannten Grund dieser Zusammenkunft, nicht die Entscheidung, wie auch immer sie fallen mochte, – er fürchtete Nastasja Filippowna selbst. Er erinnerte sich sogar später, nach einigen Tagen, daß ihm in diesen fieberhaften Stunden fast die ganze Zeit über ihre Augen und ihr Blick vor der Seele gestanden hatten, daß er ihre Worte, seltsame Worte, zu hören geglaubt hatte, obgleich nach diesen fieberhaften, gramvollen Stunden ihm nachher nur sehr wenig in Erinnerung blieb. Er erinnerte sich zum Beispiel kaum daran, daß Wera ihm das Mittagessen gebracht und er gegessen hatte; er wußte nicht mehr, ob er nach dem Essen geschlafen hatte oder nicht. Er wußte nur, daß er an diesem Abend alles erst von dem Augenblick an völlig klar zu unterscheiden angefangen hatte, als Aglaja auf einmal zu ihm auf die Veranda gekommen und er vom Sofa aufgesprungen und in die Mitte des Raumes getreten war, um sie zu begrüßen: es war drei Viertel acht. Aglaja war ganz allein, sie trug einfache Kleidung, die sie anscheinend in Hast angelegt hatte, darüber einen leichten Burnus. Ihr Gesicht war blaß wie vorhin, aber ihre Augen funkelten in einem hellen, trockenen Glanz; einen solchen Ausdruck der Augen hatte er bisher nie bei ihr kennengelernt. Sie blickte ihn aufmerksam an.

»Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig, »angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?«

»Ja, er hat es mir gesagt …«, murmelte der Fürst, halbtot vor Aufregung.

»Nun, dann kommen Sie: Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten müssen. Ich meine, Sie sind doch wohl soweit bei Kräften, daß Sie ausgehen können?«

»Ja, das bin ich, aber… ist es denn möglich?«

Er stockte sofort wieder und vermochte kein Wort mehr herauszubringen. Dies war sein einziger Versuch, die Wahnsinnige zurückzuhalten, dann folgte er ihr selbst wie ein Sklave. Wie unklar auch seine Gedanken waren, so begriff er doch, daß sie auch ohne ihn dorthin gehen würde und er ihr daher unter allen Umständen folgen müsse. Er ahnte, wie stark ihre Entschlossenheit war; er war außerstande, diesen wilden Drang zu hemmen. Sie gingen schweigsam und redeten auf dem ganzen Weg kaum ein Wort. Es fiel ihm nur auf, daß sie den Weg genau kannte, und als er einen Umweg einschlagen wollte, weil da nicht so viele Menschen gingen, und ihr dies vorschlug, hörte sie, sich anscheinend zur Aufmerksamkeit zwingend, zu und antwortete kurz: »Es ist ja ganz gleich!« Als sie schon ganz nahe bei Darja Alexejewnas Haus waren (einem großen, alten Holzhaus), kam eine luxuriös gekleidete Dame in Begleitung eines jungen Mädchens aus der Haustür; beide stiegen in eine dort wartende elegante Equipage, sie lachten und redeten laut und warfen den beiden Ankömmlingen keinen Blick zu, als bemerkten sie sie gar nicht. Kaum war die Equipage weggefahren, als die Haustür sich sofort zum zweitenmal öffnete und Rogoshin, der schon gewartet hatte, den Fürsten und Aglaja hereinließ und hinter ihnen die Tür zuriegelte.

»Im ganzen Haus ist jetzt niemand außer uns vieren«, bemerkte er laut und sah den Fürsten seltsam an.

Im ersten Zimmer erwartete sie Nastasja Filippowna, gleichfalls sehr einfach und ganz in Schwarz gekleidet; sie stand auf und kam ihnen einige Schritte entgegen, aber sie lächelte nicht und reichte dem Fürsten nicht einmal die Hand.

Ungeduldig hielt sie ihren unruhigen Blick auf Aglaja gerichtet. Beide setzten sich in einiger Entfernung voneinander – Aglaja in einer Ecke des Zimmers auf das Sofa, Nastasja Filippowna am Fenster. Der Fürst und Rogoshin setzten sich nicht und wurden auch gar nicht aufgefordert, sich zu setzen. Der Fürst blickte wieder erstaunt und, wie es schien, mit tiefem Schmerz Rogoshin an, aber dieser lächelte immer noch ganz in seiner alten Art. Das Schweigen dauerte noch einige Augenblicke.

Dann trat endlich ein unheilverkündender Ausdruck auf Nastasja Filippownas Gesicht; ihr Blick wurde starr, fest und haßerfüllt; sie wandte ihn nicht einen Augenblick von ihrer Besucherin ab. Aglaja war offenbar verwirrt, aber nicht schüchtern. Beim Eintritt hatte sie ihrer Nebenbuhlerin kaum einen Blick zugeworfen und dann die ganze Zeit mit niedergeschlagenen Augen dagesessen, als wäre sie in Gedanken versunken. Ein paarmal ließ sie wie von ungefähr ihren Blick durch das Zimmer gleiten; auf ihrem Gesicht malte sich deutlich der Widerwille, den sie empfand, als ob sie sich hier zu beschmutzen fürchtete. Mechanisch brachte sie ihre Kleidung in Ordnung und wechselte sogar einmal unruhig ihren Platz, indem sie in die Sofaecke rückte. Sie war sich kaum selbst aller ihrer Bewegungen bewußt, aber gerade durch diese Unbewußtheit wurde das Beleidigende, das in ihnen lag, noch gesteigert. Endlich blickte sie Nastasja Filippowna fest und gerade in die Augen und las sogleich klar alles, was in deren nichts Gutes verheißendem Blick funkelte. Das Weib hatte das Weib verstanden; Aglaja fuhr zusammen.

»Sie wissen sicher, warum ich Sie zu einer Zusammenkunft eingeladen habe«, sagte sie endlich, aber sehr leise; ja sie stockte sogar ein paarmal in diesem kurzen Satz.

»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Nastasja Filippowna kurz und trocken.

Aglaja errötete. Vielleicht kam es ihr auf einmal sehr seltsam und wunderlich vor, daß sie jetzt bei dieser Frau, im Hause »dieses Weibes«, saß und auf deren Antwort wartete. Beim ersten Ton von Nastasja Filippownas Stimme ging es wie ein Zittern durch ihren Körper. Das alles bemerkte »dieses Weib« natürlich sehr genau.

»Sie verstehen alles… aber Sie stellen sich absichtlich, als verstünden Sie es nicht«, sagte Aglaja so leise, daß es beinahe nur ein Flüstern war, und blickte mit finsterer Miene zu Boden.

»Was könnte ich für Grund haben, das zu tun?« erwiderte Nastasja Filippowna leise lächelnd.

»Sie wollen aus meiner Lage Vorteil ziehen… daß ich in Ihrem Hause bin«, fuhr Aglaja mit komischer Ungeschicklichkeit fort.

»An dieser Lage sind Sie schuld und nicht ich!« fuhr Nastasja Filippowna auf einmal auf. »Nicht ich habe Sie eingeladen, sondern Sie mich, und ich weiß bis zu diesem Augenblick noch nicht warum.«

Aglaja hob hochmütig den Kopf.

»Halten Sie Ihre Zunge im Zaum; ich bin nicht hergekommen, mit dieser Ihrer Waffe zu kämpfen…«

»Ah! Also sind Sie doch hergekommen, ›um zu kämpfen‹? Denken Sie sich, ich hatte geglaubt, Sie wären… geistreicher…« Beide blickten einander schon mit unverhohlenem Zorn an. Die eine dieser Frauen war dieselbe, die noch vor kurzem so bewegte Briefe an die andere geschrieben hatte. Und das alles war bei der ersten Begegnung und den ersten Worten wie vom Winde weggeblasen. Ja es schien, daß niemand von den vier Menschen, die sich in diesem Augenblick im Zimmer befanden, dies seltsam fand. Der Fürst, der es noch gestern nicht für möglich gehalten hätte, so etwas auch nur zu träumen, stand jetzt da, sah und hörte, als hätte er das alles schon längst vorhergesehen. Der phantastischste Traum hatte sich auf einmal in grelle, aufdringliche Wirklichkeit verwandelt. Die eine dieser Frauen empfand in diesem Augenblick für die andere bereits eine solche Verachtung und wünschte so lebhaft, ihr das zu zeigen (vielleicht war sie auch nur zu diesem Zweck gekommen, wie Rogoshin am nächsten Tag äußerte), daß, mochte auch diese andere mit ihrem zerrütteten Geist und ihrem kranken Herzen noch so phantasiebegabt sein, doch wohl keine vorher gebildete Meinung der giftigen, echt weiblichen Verachtung von Seiten ihrer Rivalin standhalten konnte. Der Fürst war überzeugt, daß Nastasja Filippowna nicht selbst anfangen würde, von den Briefen zu reden; aus ihren funkelnden Blicken konnte er entnehmen, wie sehr sie es jetzt bereuen mochte, diese Briefe geschrieben zu haben; aber er hätte die Hälfte seines Lebens dafür hingegeben, wenn Aglaja jetzt nicht von ihnen gesprochen hätte.

Aber Aglaja schien sich plötzlich zusammenzunehmen und sich mit einemmal wieder in die Gewalt zu bekommen.

»Sie haben mich mißverstanden«, sagte sie, »ich bin nicht hergekommen, um… mit Ihnen zu streiten, obgleich ich Sie nicht liebe. Ich… ich bin zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen menschlich zu sprechen. Als ich Sie hierherbat, hatte ich schon meinen Entschluß gefaßt, worüber ich mit Ihnen reden wollte, und von meinem Entschluß werde ich nicht abgehen, auch wenn Sie mich gar nicht verstehen sollten. Das würde Ihr Schade sein, nicht der meinige. Ich wollte Ihnen auf das antworten, was Sie mir geschrieben haben, und zwar persönlich, weil mir das zweckmäßiger Fürsten wiedersah, ging mir sein Schicksal tief zu Herzen. Lachen Sie nicht; wenn Sie darüber lachen, sind Sie nicht wert, es anzuhören…«

»Sie sehen, daß ich nicht lache«, versetzte Nastasja Filippowna traurig und finster.

»Übrigens ist es mir ganz gleich, lachen Sie, soviel Sie wollen! Als ich ihn selbst fragte, sagte er mir, er liebe Sie schon längst nicht mehr, schon die bloße Erinnerung an Sie sei ihm eine Qual, aber Sie täten ihm leid, und sooft er an Sie denke, sei es ihm, als habe er einen Stich ins Herz bekommen, der lebenslänglich blute. Ich muß Ihnen noch sagen, daß ich noch nie in meinem Leben einem Menschen begegnet bin, der ihm an edler Schlichtheit und grenzenlosem Vertrauen gleichkäme. Aus allem, was er sagte, konnte ich entnehmen, daß ihn jeder, der es will, betrügen kann und daß er jedem, der ihn betrogen hat, nachher verzeihen wird, und das war der Grund, weshalb ich ihn liebgewann…«

Aglaja hielt einen Augenblick inne, sie schien erschrocken zu sein und ihren eigenen Ohren nicht zu glauben, daß sie ein solches Wort hatte aussprechen können; aber zu gleicher Zeit funkelte ein grenzenloser Stolz in ihrem Blick auf; es machte den Eindruck, als sei ihr jetzt alles gleich; mochte selbst »dieses Weib« über das ihr soeben entschlüpfte Bekenntnis lachen.

»Ich habe Ihnen alles gesagt, und jetzt haben Sie gewiß verstanden, was ich von Ihnen will?«

»Vielleicht habe ich es verstanden; aber sprechen Sie es selbst aus!« antwortete Nastasja Filippowna leise.

Der helle Zorn flammte in Aglajas Gesicht auf.

»Ich wollte von Ihnen erfahren«, sagte sie fest und deutlich, »mit welchem Recht Sie sich in seine Gefühle für mich einmischen. Mit welchem Recht haben Sie es gewagt, an mich Briefe zu schreiben? Mit welchem Recht erklären Sie alle Augenblicke ihm und mir, daß Sie ihn lieben, und das, nachdem Sie ihn selbst verlassen haben und ihm in so beleidigender und… schmachvoller Weise weggelaufen sind?«

»Ich habe weder ihm noch Ihnen erklärt, daß ich ihn liebe«, sagte Nastasja Filippowna mit sichtlicher Anstrengung. »Und… Sie haben recht darin, daß ich ihm weggelaufen bin…,« fügte sie kaum hörbar hinzu.

»Wie können Sie sagen, Sie hätten es weder ihm noch mir erklärt?« rief Aglaja. »Und Ihre Briefe? Wer hat Sie gebeten, bei uns die Rolle der Heiratsvermittlerin zu übernehmen und mir zuzureden, daß ich ihn nehmen soll? Ist das nicht eine deutliche Erklärung Ihrer eigenen Empfindungen? Warum drängen Sie sich uns auf? Ich dachte zuerst schon, Sie wollten im Gegenteil dadurch, daß Sie sich in unsere Angelegenheiten einmischten, bei mir eine Abneigung gegen ihn erwecken, damit ich mich von ihm abwandte, und erst nachher habe ich verstanden, was dahintersteckte: Sie bildeten sich einfach ein, daß Sie mit all diesen Narrenspossen eine große Heldentat vollführten… Aber konnten Sie ihn denn überhaupt lieben, wenn Sie in Ihre eigene Eitelkeit so sehr verliebt sind? Warum sind Sie nicht einfach von hier fortgereist, statt mir lächerliche Briefe zu schreiben? Warum heiraten Sie jetzt nicht den edlen Mann, der Sie so liebt und Ihnen die Ehre erwiesen hat, Ihnen seine Hand anzubieten? Der Grund ist nur zu klar: wenn Sie Rogoshin heiraten, wo bleibt dann die Ihnen angetane Schmach? Man erweist Ihnen sogar zuviel Ehre! Jewgenij Pawlowitsch hat von Ihnen gesagt, Sie hätten zuviel Gedichte gelesen und seien ›zu gebildet für Ihre… Stellung‹; Sie seien ein gelehrtes Frauenzimmer und eine Müßiggängerin; nehmen Sie noch Ihre Eitelkeit hinzu, da haben Sie all Ihre Motive…«

»Und Sie sind keine Müßiggängerin?«

Gar zu rasch und gar zu offen war das Gespräch zu dieser unerwarteten Tonart gelangt, unerwartet insofern, als Nastasja Filippowna noch auf der Fahrt nach Pawlowsk von einem glücklichen Ausgang geträumt hatte, obwohl sie natürlich eher Schlechtes als Gutes erwartete. Aglaja aber hatte sich in einem Augenblick von ihrem Affekt völlig hinreißen lassen, wie wenn sie von einem steilen Berge hinabfuhr, und konnte der süßen Lockung, sich zu rächen, nicht widerstehen. Für Nastasja Filippowna war es eine seltsame Überraschung, Aglaja in einem solchen Zustand zu sehen; sie betrachtete sie, als traute sie ihren Augen nicht, und wußte sich im ersten Augenblick überhaupt nicht zurechtzufinden. Mochte ihr nun, wie Jewgenij Pawlowitsch meinte, die Lektüre von Gedichten den Kopf ein bißchen verdreht haben, oder mochte sie, wovon der Fürst überzeugt war, einfach eine Irrsinnige sein: jedenfalls war diese Frau, obwohl sie manchmal so zynische, dreiste Manieren herauskehrte, in Wirklichkeit weit schamhafter, zartfühlender und vertrauensvoller, als man es von ihr hätte denken sollen. Allerdings waren Bücherwissen, ein Hang zur Träumerei, eine große Verschlossenheit und eine zügellose Phantasie hervorstechende Eigenschaften an ihr, aber dafür besaß sie auch eine bedeutende seelische Kraft und Tiefe…

Der Fürst hatte dafür Verständnis; sein Gesicht verriet, wie sehr er litt. Aglaja bemerkte dies und zitterte vor Haß.

»Wie können Sie sich erdreisten, so mit mir zu reden?« rief sie in Erwiderung auf Nastasja Filippownas Bemerkung in unbeschreiblich hochmütigem Tone.

»Sie haben sich gewiß verhört«, versetzte Nastasja Filippowna erstaunt. »Wie soll ich denn mit Ihnen geredet haben?«

»Wenn Sie eine ehrenhafte Frau sein wollten, warum haben Sie sich dann von Ihrem Verführer Tozkij nicht einfach losgesagt… ohne alles Komödienspielen?« sagte Aglaja auf einmal ohne äußeren Anlaß.

»Was wissen Sie von meiner Lage, daß Sie über mich zu Gericht zu sitzen wagen?« rief Nastasja Filippowna zusammenfahrend; sie war erschreckend blaß geworden.

»Ich weiß soviel davon, daß Sie nicht arbeiten gegangen, sondern mit dem reichen Rogoshin davongefahren sind, um den gefallenen Engel zu spielen. Ich wundere mich nicht, daß Tozkij sich um des gefallenen Engels willen erschießen wollte!«

»Hören Sie auf damit!« erwiderte Nastasja Filippowna voll Abscheu und wie in tiefem Schmerz. »Sie haben für mich ebensoviel Verständnis wie… Darja Alexejewnas Stubenmädchen, das neulich mit seinem Bräutigam vor dem Friedensrichter prozessierte. Und die hätte noch eher Verständnis…«

»Wahrscheinlich ist sie ein ehrbares Mädchen, das von seiner Arbeit lebt. Warum reden Sie von einem Stubenmädchen mit solcher Geringschätzung?«

»Meine Geringschätzung gilt nicht der Arbeit, sondern Ihnen, wenn Sie von der Arbeit reden.«

»Wenn Sie hätten ehrbar leben wollen, dann wären Sie Wäscherin geworden.«

Beide standen auf und blickten einander mit bleichen Gesichtern an.

»Aglaja, halten Sie ein! Sie sind ungerecht!« rief der Fürst fassungslos. Rogoshin lächelte nicht mehr, sondern hörte mit zusammengepreßten Lippen und verschränkten Armen zu.

»Da, seht sie an!« sagte Nastasja Filippowna, zitternd vor zorniger Erregung. »Seht dieses Fräulein an! Und ich hatte sie für einen Engel gehalten! Sind Sie denn ohne Gouvernante zu mir gekommen, Aglaja Iwanowna? … Aber wenn Sie wollen… wenn Sie wollen, so werde ich Ihnen sofort geradeheraus, ungeschminkt sagen, warum Sie zu mir gekommen sind. Sie haben Angst gehabt, darum sind Sie gekommen!«

»Angst vor Ihnen?« fragte Aglaja, ganz außer sich vor naivem, hemmungslosem Erstaunen darüber, daß die andere so mit ihr zu reden wagte.

»Allerdings, vor mir! Wenn Sie sich entschlossen, zu mir zu kommen, so geschah das aus Furcht. Und wen man fürchtet, den verachtet man nicht. Nein, wenn ich jetzt daran denke, daß ich Sie hochgeschätzt habe, sogar noch bis zu diesem Augenblick! Und wollen Sie wissen, warum Sie vor mir Angst haben und welches jetzt Ihre Hauptabsicht ist? Sie wollten persönlich feststellen, wen von uns beiden er mehr liebt, mich oder Sie, denn Sie sind schrecklich eifersüchtig…«

»Er hat mir bereits gesagt, daß er Sie haßt…«, flüsterte Aglaja kaum vernehmbar.

»Vielleicht; vielleicht bin ich seiner nicht wert, nur… nur glaube ich, Sie haben gelogen! Er kann mich nicht hassen, und er hat das nicht sagen können! Ich bin übrigens bereit, Ihnen… in Anbetracht Ihrer Lage zu verzeihen… aber ich habe doch eine bessere Meinung von Ihnen gehabt; ich glaubte, Sie wären klüger… und auch schöner, bei Gott!… Nun, dann nehmen Sie Ihren Schatz hin… da ist er, er blickt nach Ihnen hin und kann sich gar nicht fassen; nehmen Sie ihn für sich, aber unter einer Bedingung: machen Sie augenblicklich, daß Sie hinauskommen! Augenblicklich!«

Sie sank in einen Sessel und brach in Tränen aus. Aber auf einmal leuchtete ein neuer Gedanke in ihren Augen auf; sie blickte Aglaja fest und unverwandt an und stand von ihrem Sitz auf.

»Willst du, daß ich ihm jetzt gleich be-feh-le, hörst du wohl? Ich be-feh-le ihm, und er wird sich sofort von dir lossagen und für immer bei mir bleiben und mich heiraten, und du wirst allein nach Hause laufen. Willst du, willst du?« schrie sie wie eine Wahnsinnige, vielleicht ohne selbst daran zu glauben, daß sie solche Worte sprechen konnte.

Aglaja stürzte erschrocken zur Tür, aber in der Tür blieb sie wie angenagelt stehen und hörte weiter zu.

»Willst du, daß ich Rogoshin fortjage? Du glaubtest wohl, ich würde mich dir zuliebe schon mit Rogoshin trauen lassen? Gleich diesen Augenblick werde ich in deiner Gegenwart rufen: ›Mach, daß du wegkommst, Rogoshin!‹ und zum Fürsten werde ich sagen: ›Denkst du noch an das, was du mir versprochen hast?‹ O Gott, warum habe ich mich nur so vor ihnen allen erniedrigt? Und du, Fürst, hast du mir nicht beteuert, du würdest an meiner Seite bleiben, was auch mit mir geschehen möge, und mich niemals verlassen, und du hättest mich lieb und würdest mir alles verzeihen und würdest mich a… achten…? Ja, auch das hast du gesagt! Und ich bin damals von dir weggelaufen, nur um dir deine Freiheit wiederzugeben, aber jetzt will ich nicht mehr! Warum hat sie mich auch wie eine Dirne behandelt? Frag Rogoshin, ob ich eine Dirne bin, er wird es dir sagen! Was wirst du jetzt tun, wo sie mich beschimpft hat und noch dazu in deiner Gegenwart? Wirst auch du dich von mir abwenden, ihr deinen Arm bieten und sie mit dir fortnehmen? Dann sollst du verflucht sein, denn du bist der einzige Mensch gewesen, an den ich geglaubt habe. Geh weg, Rogoshin, dich kann ich nicht brauchen!« schrie sie fast besinnungslos; sie preßte die Worte mit Anstrengung hervor; ihr Gesicht war verzerrt, ihre Lippen trocken. Offenbar glaubte sie selbst nicht im geringsten an einen Erfolg ihrer Prahlerei, wünschte aber doch, diese Situation noch um einen Augenblick zu verlängern und sich selbst zu täuschen. Ihre Erregung war so stark, daß sie vielleicht den Tod zur Folge haben konnte, wenigstens glaubte das der Fürst. »Da steht er! Sieh hin!« rief sie endlich Aglaja zu und wies mit der Hand auf den Fürsten. »Wenn er nicht sofort zu mir herantritt und mich nimmt und dich verläßt, dann kannst du ihn behalten; ich trete ihn dir ab, ich kann ihn nicht brauchen…«

Sie sowohl wie Aglaja standen nun schweigend da, wie wenn sie auf etwas warteten, und blickten beide wie geistesgestört nach dem Fürsten hin. Aber der verstand die ganze Bedeutung dieser Herausforderung vielleicht nicht; ja man kann sogar sagen: er verstand sie gewiß nicht. Er sah nur das verzweifelte, irrsinnige Gesicht vor sich, das, wie er sich einmal Aglaja gegenüber ausgedrückt hatte, bei ihm immer die Empfindung hervorrief, als ob ihm das Herz von einem tiefen Stich blute. Er konnte diesen Anblick nicht länger ertragen, wandte sich an Aglaja und sagte, auf Nastasja Filippowna weisend, im Ton vorwurfsvoller Bitte:

»Wie ist es nur möglich! Sie ist doch… so unglücklich!«

Aber kaum hatte er das gesagt, als er unter Aglajas furchtbarem Blick verstummte. In diesem Blick lag so viel Schmerz und gleichzeitig ein so grenzenloser Haß, daß er die Hände zusammenschlug, aufschrie und zu ihr hinstürzte, aber es war bereits zu spät. Sie hatte auch den kurzen Augenblick seines Schwankens nicht ertragen können, schlug die Hände vor das Gesicht, rief: »Ach, mein Gott!« und stürzte aus dem Zimmer. Rogoshin eilte ihr nach, um ihr die Haustür aufzuriegeln.

Auch der Fürst lief ihr nach, aber als er zur Schwelle gelangt war, umfingen ihn zwei Arme. Nastasja Filippownas gramvolles, entstelltes Gesicht blickte ihn starr an, die bläulichen Lippen bewegten sich und fragten:

»Willst du ihr nach? Willst du ihr nach?«

Sie fiel ihm bewußtlos in die Arme. Er hob sie auf, trug sie ins Zimmer, legte sie auf einen Lehnsessel und stand über sie gebeugt in stumpfer Erwartung da. Auf einem Tischchen stand ein Glas mit Wasser; der zurückkehrende Rogoshin ergriff es und spritzte ihr Wasser ins Gesicht; sie schlug die Augen auf und war eine Weile noch völlig verständnislos; aber auf einmal blickte sie um sich, zuckte zusammen, schrie auf und stürzte zum Fürsten hin.

»Mein! Mein!« schrie sie. »Ist das stolze Fräulein weg? Hahaha!« lachte sie krampfhaft. »Hahaha! Ich habe ihn diesem Fräulein abtreten wollen! Aber warum? Wozu? Ich Wahnsinnige!… Geh weg, Rogoshin! Hahaha!«

Rogoshin blickte die beiden starr an, ohne ein Wort zu sagen, nahm seinen Hut und ging hinaus. Zehn Minuten darauf saß der Fürst neben Nastasja Filippowna, blickte sie unverwandt an und streichelte ihr mit beiden Händen Kopf und Gesicht wie einem kleinen Kind. Er lachte mit ihr und war bereit, Tränen zu vergießen, wenn sie weinte. Er sprach nicht, sondern hörte geduldig ihr leidenschaftliches, glückseliges, unzusammenhängendes Gestammel an, verstand kaum etwas davon, lächelte aber leise, und sobald es ihm schien, als wolle sie wieder anfangen, traurig zu werden oder zu weinen, Vorwürfe zu erheben oder sich zu beklagen, begann er sogleich wieder, ihr den Kopf zu streicheln und zärtlich die Hände über ihre Wangen zu führen und ihr wie einem Kinde tröstend zuzureden.

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Kapitel 47

IX

Nach dem Ereignis, das wir im letzten Kapitel erzählt haben, waren zwei Wochen vergangen, und die Situation der handelnden Personen unserer Erzählung hatte sich dermaßen verändert, daß es uns außerordentlich schwer wird, ohne besondere Erläuterungen an die Fortsetzung zu gehen. Und doch fühlen wir, daß wir uns auf eine einfache Darlegung der Tatsachen beschränken müssen, unter möglichster Vermeidung besonderer Erläuterungen, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: weil wir selbst in vielen Fällen in Verlegenheit sind, wie wir die Vorgänge erklären sollen. Ein solches Bekenntnis unsererseits muß dem Leser notwendigerweise sonderbar und unverständlich erscheinen, denn wie kann man etwas erzählen, wenn man selbst keine klare Vorstellung davon und keine persönliche Meinung darüber hat? Um uns nicht in eine noch schiefere Lage zu bringen, wollen wir lieber versuchen, das Gesagte an einem Beispiel klarzumachen; vielleicht wird dann der wohlgeneigte Leser verstehen, worin für uns eigentlich die Schwierigkeit liegt, und dieses Verfahren empfiehlt sich um so mehr, als dieses Beispiel keine Abschweifung, sondern im Gegenteil die unmittelbare, direkte Fortsetzung der Erzählung sein wird.

Zwei Wochen waren vergangen, das heißt, der Juli hatte bereits begonnen, und während dieser beiden Wochen war die Geschichte unseres Helden und besonders das letzte Ereignis dieser Geschichte allmählich in allen Straßen, die in der Nachbarschaft der Landhäuser Lebedews, Ptizyns, Darja Alexejewnas und der Familie Jepantschin lagen, kurz gesagt, fast im ganzen Ort und sogar in dessen Umgegend bekannt geworden und hatte dabei eine seltsame, sehr erheiternde, beinah unglaubliche und gleichzeitig beinah zum Greifen anschauliche Fassung erhalten. Fast die ganze Gesellschaft, Einheimische, Sommerfrischler, Residenzler, die zu den Konzerten herauskamen, alle erzählten ein und dieselbe Geschichte, aber mit tausend Variationen: ein Fürst habe in einer ehrenwerten, bekannten Familie einen Skandal herbeigeführt, sich von einer Tochter dieser Familie, die schon seine Braut gewesen sei, losgesagt, sich von einer bekannten Dame der Halbwelt betören lassen, alle seine früheren Beziehungen abgebrochen und beabsichtige nun, ohne sich um etwas zu kümmern, trotz aller Drohungen und trotz der allgemeinen Entrüstung des Publikums, sich in nächster Zeit mit dem ehrlosen Frauenzimmer hier in Pawlowsk in aller Öffentlichkeit, erhobenen Hauptes und allen gerade ins Gesicht blickend trauen zu lassen. Dieses Geschichtchen wurde durch skandalöse Züge dermaßen ausgeschmückt, und es wurden so viele bekannte, bedeutende Persönlichkeiten hineingemischt und so viele mannigfache phantastische und rätselhafte Details hinzugetan, und es stützte sich andrerseits auf so unwiderlegliche, feststehende Tatsachen, daß die allgemeine Neugier und die entstehenden Klatschereien gewiß sehr entschuldbar waren. Die feinste, schlauste und gleichzeitig am wahrscheinlichsten klingende Interpretation wurde diesem Geschichtchen Welt eine Gefallene zu heiraten und dadurch zu beweisen, daß es in seiner Ideenwelt weder gefallene noch tugendhafte Frauen gebe, sondern nur einzig und allein die freie Frau, und daß er die herkömmliche, übliche Einteilung nicht anerkenne, sondern ausschließlich die »Frauenfrage« auf den Schild erhebe. Ja die gefallene Frau stehe in seinen Augen sogar noch etwas höher als die nicht gefallene. Diese Darstellung erschien sehr glaubwürdig und wurde von der Mehrzahl der Sommerfrischler akzeptiert, um so mehr, als sie durch die Ereignisse, die nun jeder weitere Tag brachte, ihre Bestätigung fand. Allerdings blieb eine Menge von Dingen unaufgeklärt: es wurde erzählt, das arme Mädchen habe ihren Bräutigam – oder nach anderen: ihren »Verführer« – so innig geliebt, daß sie gleich am nächsten Tag, nachdem er sich von ihr losgesagt habe, zu ihm hingelaufen sei, als er sich gerade bei seiner Geliebten befunden habe; andere behaupteten dagegen, er selbst habe sie absichtlich zu seiner Geliebten hingelockt, lediglich aus Nihilismus, um sie zu beschimpfen und zu beleidigen. Wie dem nun auch sein mochte, das Interesse an diesem Ereignis wuchs von Tag zu Tag, zumal nicht der geringste Zweifel aufkommen konnte, daß die skandalöse Hochzeit wirklich stattfinden würde.

Und wenn uns nun jemand eine Erklärung abverlangte, nicht hinsichtlich der nihilistischen Färbung, die man dem Ereignis verliehen hatte, o nein, sondern nur darüber, inwieweit die in Aussicht genommene Hochzeit den wirklichen Wünschen des Fürsten entsprochen habe, worin eigentlich in diesem Augenblick seine Wünsche bestanden hätten, wie eigentlich der Seelenzustand unseres Helden im vorliegenden Zeitpunkt zu charakterisieren sei, und über andere Punkte dieser Art – dann müßten wir bekennen, daß wir uns in großer Verlegenheit befinden, was wir darauf antworten sollen. Wir wissen nur das eine, daß die Hochzeit wirklich angesetzt wurde und daß der Fürst selbst Lebedew, Keller und einem Bekannten Lebedews, den letzterer ihm bei dieser Gelegenheit vorstellte, Vollmacht gab, alle erforderlichen Besorgungen sowohl kirchlicher als auch wirtschaftlicher Art zu erledigen; daß sie angewiesen wurden, dabei nicht mit Geld zu sparen; daß Nastasja Filippowna zur Hochzeit drängte und sie zu beschleunigen wünschte; daß zum Bräutigamsmarschall des Fürsten Keller auf seine eigene dringende Bitte ernannt wurde und zu Nastasja Filippownas Brautmarschall Burdowskij, der dieses Amt mit Begeisterung übernahm, und daß der Hochzeitstag auf Anfang Juli festgesetzt wurde. Aber außer diesen durchaus sicheren Details sind uns noch einige Tatsachen bekannt, die uns entschieden wieder irremachen, nämlich deswegen, weil sie den vorhergehenden widersprechen. Wir hegen zum Beispiel starken Verdacht, daß der Fürst, nachdem er Lebedew und die andern mit der Erledigung aller Geschäfte betraut hatte, gleich am selben Tag die erfolgte Ernennung eines Zeremonienmeisters und der beiden Marschälle und das Bevorstehen der Hochzeit fast ganz vergaß und daß, wenn er die Sache durch Überlassung der Geschäfte an andere möglichst schnell ordnete, er es einzig und allein in der Absicht tat, nun selbst nicht mehr daran denken zu müssen und dies alles vielleicht sogar so schnell wie möglich ganz zu vergessen. Woran dachte er aber in diesem Falle selbst, woran wollte er sich erinnern und wonach strebte er? Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß ihm hierbei keinerlei Gewalt angetan wurde (etwa von seiten Nastasja Filippownas). Nastasja Filippowna hatte allerdings den dringenden Wunsch, daß die Hochzeit möglichst bald stattfinden möge, und sie war es, die sich den Plan mit der Hochzeit ausgedacht hatte, und nicht der Fürst; aber der Fürst hatte doch aus freien Stücken eingewilligt, freilich etwas zerstreut und wie wenn man von ihm etwas ganz Alltägliches verlangte. Solche merkwürdigen Tatsachen liegen uns in beträchtlicher Zahl vor, aber weit entfernt, zur Aufhellung zu dienen, verdunkeln sie vielmehr unserer Ansicht nach die Erklärung des Hergangs, auch wenn wir ihrer noch so viele beibringen würden; aber doch wollen wir hier noch ein Beispiel anführen.

Es ist uns genau bekannt, daß während dieser beiden Wochen der Fürst ganze Tage und Abende mit Nastasja Filippowna zusammen verbrachte; daß sie ihn zum Spaziergang und zu den Konzerten mitnahm; daß er täglich mit ihr in der Equipage ausfuhr; daß er anfing, sich ihretwegen zu beunruhigen, wenn er sie nur eine Stunde lang nicht alle zusammen sofort zu Nina Alexandrowna, gefolgt vom Oberhaupt der Familie, Iwan Fjodorowitsch selbst, der soeben nach Hause zurückgekehrt war, und hinter ihnen schlich auch Fürst Lew Nikolajewitsch her, trotz der gekündigten Freundschaft und der harten Worte; aber auf Warwara Ardalionownas Anordnung wurde er auch dort nicht zu Aglaja gelassen. Die Sache endete übrigens damit, daß Aglaja, als sie sah, wie die Mutter und die Schwestern um sie weinten und daß sie ihr keinerlei Vorwürfe machten, sich in ihre Arme warf und sogleich mit ihnen nach Hause zurückkehrte. Man erzählte, obgleich diese Gerüchte nicht sehr zuverlässig waren, Gawrila Ardalionowitsch habe auch diesmal sehr wenig Glück gehabt; er habe, als Warwara Ardalionowna zu Lisaweta Prokofjewna gelaufen und er mit Aglaja allein geblieben sei, die Gelegenheit benutzen wollen und angefangen, von seiner Liebe zu reden; als Aglaja das gehört habe, sei sie trotz all ihres Kummers und ihrer Tränen auf einmal in lautes Gelächter ausgebrochen und habe ihm die seltsame Frage vorgelegt, ob er wohl zum Beweis seiner Liebe auf der Stelle seinen Finger über einer Kerze verbrennen wolle. Gawrila Ardalionowitsch sei über dieses Ansinnen ganz verdutzt und fassungslos gewesen und habe ein so verblüfftes Gesicht gemacht, daß Aglaja über ihn krampfhaft gelacht, ihn stehengelassen habe und zu Nina Alexandrowna nach oben gelaufen sei, wo ihre Eltern sie dann vorgefunden hätten. Diese Geschichte gelangte am darauffolgenden Tag durch Ippolit zur Kenntnis des Fürsten. Da Ippolit nicht mehr vom Bett aufstand, ließ er den Fürsten eigens zu sich rufen, um ihm diese Nachricht mitzuteilen. Wie dieses Gerücht zu Ippolits Ohren gelangt war, ist uns unbekannt, aber als der Fürst die Geschichte von der Kerze und dem Finger hörte, mußte er so lachen, daß sogar Ippolit sich wunderte, aber dann fuhr er auf einmal zusammen und brach in Tränen aus… Überhaupt befand er sich in diesen Tagen in großer Unruhe und in einer außerordentlichen, undefinierbaren und qualvollen Verwirrung. Ippolit behauptete geradezu, er sei von Sinnen, aber darüber ließ sich noch nichts Sicheres sagen.

Wenn wir all diese Tatsachen anführen, es jedoch ablehnen, sie zu erklären, beabsichtigen wir nicht, unsern Helden in den Augen unserer Leser zu rechtfertigen. Wir sind im Gegenteil durchaus bereit, die Entrüstung zu teilen, die er sogar bei seinen Freunden durch sein Verhalten erweckte. Selbst Wera Lebedewa war eine Zeitlang über ihn empört; sogar Kolja war empört, desgleichen Keller, solange er noch nicht zum Bräutigamsmarschall erwählt war, ganz zu schweigen von Lebedew selbst, der sogar gegen den Fürsten zu intrigieren anfing, und zwar ebenfalls aus Empörung, die sogar ganz aufrichtig war. Aber davon werden wir noch später zu reden haben. Allgemein gesehen sind wir völlig und in höchstem Grade mit einigen sehr kräftigen und in psychologischer Hinsicht sogar sehr tiefsinnigen Bemerkungen einverstanden, die Jewgenij Pawlowitsch offen und ohne Umschweife dem Fürsten gegenüber in einem freundschaftlichen Gespräch aussprach, und zwar am sechsten oder siebenten Tag nach dem Vorfall bei Nastasja Filippowna. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß nicht nur Jepantschins selbst, sondern auch alle, die direkt oder indirekt mit der Familie in Verbindung standen, es für notwendig hielten, alle Beziehungen zum Fürsten vollständig abzubrechen. Fürst Schtsch. zum Beispiel wandte sich sogar weg, als er dem Fürsten begegnete, und erwiderte seinen Gruß nicht. Aber Jewgenij Pawlowitsch fürchtete nicht, sich dadurch zu kompromittieren, daß er den Fürsten besuchte, obwohl er selbst wieder angefangen hatte, täglich bei Jepantschins zu verkehren, und dort mit sichtlich erhöhter Freundlichkeit aufgenommen wurde. Er kam zum Fürsten gleich an dem Tage, nachdem die Jepantschins alle aus Pawlowsk abgereist waren. Als er bei dem Fürsten eintrat, kannte er bereits alle im Publikum verbreiteten Gerüchte, ja er hatte vielleicht selbst teilweise bei ihrer Verbreitung mitgewirkt. Der Fürst freute sich sehr über sein Kommen und begann sogleich von Jepantschins zu reden; dieses schlichte, offenherzige Verhalten löste auch dem Gast die Zunge, so daß auch er ohne Umschweife geradewegs zur Sache kam.

Der Fürst wußte noch nicht, daß Jepantschins abgereist waren; er war überrascht und wurde blaß; aber einen Augenblick darauf nickte er verwirrt und nachdenklich mit dem Kopf und gestand, daß es wohl habe so kommen müssen; dann erkundigte er sich schnell danach, wohin sie denn abgereist seien. Jewgenij Pawlowitsch beobachtete ihn unterdessen aufmerksam, und alles, was er wahrnahm, das heißt die Schnelligkeit der Fragen, ihre Direktheit, die Verwirrung des Fürsten und gleichzeitig eine gewisse sonderbare Offenherzigkeit, Unruhe und Aufregung, alles dies versetzte ihn in nicht geringe Verwunderung. Er machte übrigens in liebenswürdiger Weise dem Fürsten von allem eingehende Mitteilung; dieser wußte vieles noch nicht, und sein Besuch war der erste Bote, der von jener Familie zu ihm kam. Jewgenij Pawlowitsch bestätigte, daß Aglaja tatsächlich krank gewesen sei und drei Nächte hintereinander fast gar nicht geschlafen, sondern immer gefiebert habe; jetzt gehe es ihr besser, und sie befinde sich außer aller Gefahr, aber in einem nervösen, hysterischen Zustand. Ein Glück sei nur, daß in der Familie der vollste Friede herrsche. Aglajas Angehörige seien darauf bedacht, alle Andeutungen über das Geschehene zu vermeiden, sogar wenn sie unter sich seien, nicht nur in Aglajas Gegenwart. Die Eltern hätten schon miteinander über eine Reise ins Ausland gesprochen, die im Herbst, gleich nach Adelaidas Hochzeit, stattfinden solle; Aglaja habe die ersten Mitteilungen darüber schweigend entgegengenommen. Er, Jewgenij Pawlowitsch, werde vielleicht ebenfalls ins Ausland reisen. Sogar Fürst Schtsch. habe vor, dies mit Adelaida zusammen für ungefähr zwei Monate zu tun, wenn seine Geschäfte es ihm erlauben sollten. Der General selbst werde in Petersburg bleiben. Jetzt seien sie alle nach ihrem Gut Kolmino, etwa zwanzig Werst von Petersburg, übergesiedelt, wo sich ein herrschaftliches Gutshaus befinde. Die alte Bjelokonskaja sei noch nicht nach Moskau zurückgereist und, wie es scheine, sogar absichtlich noch dageblieben. Lisaweta Prokofjewna habe energisch erklärt, es sei nach allem Vorgefallenen unmöglich, in Pawlowsk zu bleiben; er, Jewgenij Pawlowitsch, habe ihr täglich von den im Ort umlaufenden Gerüchten Mitteilung gemacht. Nach ihrem auf der Jelagin-Insel gelegenen Landhaus überzusiedeln, hätten sie ebenfalls nicht für möglich gehalten.

»Na ja, und in der Tat«, fügte Jewgenij Pawlowitsch hinzu, »das müssen Sie selbst zugeben: war das etwa auszuhalten?… Zumal man wußte, was bei Ihnen hier in Ihrem Hause stündlich vorging, Fürst, und Sie, trotz der Zurückweisung, dort täglich einen Besuch machten …«

»Ja, ja, ja, Sie haben recht, ich wollte Aglaja Iwanowna sprechen…«, erwiderte der Fürst und nickte wieder mit dem Kopf.

»Ach, lieber Fürst«, rief Jewgenij Pawlowitsch mit großer Lebhaftigkeit und Betrübnis, »wie konnten Sie nur damals zulassen, daß das alles geschah? Gewiß, gewiß, das kam für Sie alles so unerwartet… Ich gebe zu, daß Sie die Geistesgegenwart verlieren mußten und… außerstande waren, das von Sinnen gekommene Mädchen zurückzuhalten, das ging über Ihre Kräfte. Aber das mußten Sie doch begreifen, wie ernst und stark die Empfindungen dieses Mädchens Ihnen gegenüber waren. Sie wollte nicht mit einer andern teilen, und Sie… und Sie haben einen solchen Schatz weggeworfen und zerstört!«

»Ja, ja, Sie haben recht; ja, ich habe mich schuldig gemacht«, sagte der Fürst wieder in tiefem Kummer. »Aber wissen Sie: sie war die einzige, Aglaja war die einzige, die so über Nastasja Filippowna urteilte… Alle übrigen Menschen urteilten anders über sie.«

»Ja, das ist ja eben das Empörende, daß gar nichts Ernstes vorlag!« rief Jewgenij Pawlowitsch, der ganz in Eifer geriet. »Verzeihen Sie mir, Fürst, aber… ich… ich habe darüber nachgedacht, Fürst, habe viel darüber nachgedacht; ich weiß genau, was früher vorgegangen ist; ich weiß alles, was vor einem halben Jahre geschehen ist, alles, und… all das war nichts Ernstes! All das war nur ein leichter Rausch, eine phantastische Laune, ein verwehender Rauch, und nur die ängstliche Eifersucht eines ganz unerfahrenen Mädchens konnte das für etwas Ernstes halten!…«

Und nun ließ Jewgenij Pawlowitsch ganz ungeniert seiner Entrüstung freien Lauf. Verständig und klar und – wir wiederholen es – sogar mit außerordentlicher psychologischer Einsicht entwarf er dem Fürsten ein Bild der gesamten früheren Beziehungen desselben zu Nastasja Filippowna. Jewgenij Pawlowitsch hatte von jeher die Gabe des Wortes besessen; jetzt aber bewies er geradezu ein Frau! An demselben Tag sehen Sie diese Frau; Sie sind bezaubert von ihrer Schönheit, einer phantastischen, dämonischen Schönheit (ich gebe ja zu, daß sie schön ist). Nehmen Sie Ihre Nervosität hinzu, Ihre Epilepsie, unser Petersburger die Nerven schwächendes Tauwetter; nehmen Sie hinzu, daß Sie diesen ganzen Tag in einer Ihnen bisher unbekannten, für Sie beinah märchenhaften Stadt zubrachten, mit allerlei Menschen zusammenkamen, die verschiedensten Szenen erlebten, unerwartete Bekanntschaften machten, einer ganz unerwarteten Wirklichkeit gegenübertraten, die drei schönen Fräulein Jepantschin und darunter Aglaja kennenlernten; nehmen Sie Ihre Ermüdung und Ihr Schwindelgefühl hinzu; nehmen Sie Nastasja Filippownas Salon und den dort herrschenden Ton hinzu, und… was meinen Sie: was konnten Sie von sich selbst in einem solchen Augenblick erwarten?«

»Ja, ja; ja, ja«, sagte der Fürst, nickte wieder mit dem Kopfe und begann zu erröten, »ja, so ist das ungefähr gewesen, und wissen Sie, ich hatte wirklich die ganze vorhergehende Nacht im Zug nicht geschlafen und ebenso die zweitletzte nicht und war sehr zerstreut…«

»Nun ja, gewiß, das ist es ja eben, worauf ich hinauswill«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch eifrig fort. »Es ist klar, daß Sie sozusagen in einem Wonnerausch sich auf die Möglichkeit stürzten, öffentlich eine hochherzige Anschauung zu äußern, nämlich die, daß Sie, ein geborener Fürst und ein reiner Mensch, eine nicht durch eigene Schuld, sondern durch die Schuld eines abscheulichen, vornehmen Wüstlings entehrte Frau nicht für ehrlos halten. O Gott, das ist ja so begreiflich! Aber darum handelt es sich nicht, lieber Fürst, sondern darum, ob dieses Ihr Gefühl wahr und echt und natürlich oder nur ein auf einem Denkprozeß beruhendes Entzücken war. Was meinen Sie: im Tempel ist einst einer Frau verziehen worden, einer ebensolchen Frau, aber es wurde ihr nicht gesagt, daß sie recht handle und aller Ehren und aller Achtung wert sei. Hat Ihnen selbst denn nicht nach drei Monaten Ihr gesunder Verstand zugeflüstert, wie die Sache zusammenhing? Mag sie jetzt auch schuldlos sein (behaupten werde ich das nicht, denn soweit will ich nicht gehen), aber kann denn alles, was ihr widerfahren ist, ihren unerträglichen, dämonischen Stolz und ihren frechen, gierigen Egoismus rechtfertigen? Verzeihen Sie, Fürst, ich lasse mich hinreißen; aber…« »Ja, alles das ist vielleicht richtig; vielleicht haben Sie recht…«, murmelte der Fürst wieder. »Sie ist wirklich sehr reizbar, und Sie haben recht, gewiß, aber…«

»Sie verdient Mitleid? Das wollten Sie sagen, lieber Fürst? Aber durften Sie denn aus Mitleid mit ihr und zu ihrem Vergnügen ein anderes hochgesinntes, reines Mädchen schmählich kränken und vor den Augen jener hochmütigen, haßerfüllten Nebenbuhlerin erniedrigen? Da geht denn doch das Mitleid zu weit! Das ist denn doch eine arge Übertreibung! Durften Sie denn ein Mädchen, das Sie liebten, so vor seiner eigenen Rivalin demütigen und sich um der andern willen und vor den Augen ebendieser andern von ihm abwenden, nachdem Sie ihm schon selbst einen ehrlichen Antrag gemacht hatten… und das hatten Sie doch getan, und zwar in Gegenwart der Eltern und Schwestern! Gestatten Sie die Frage, Fürst: sind Sie bei einer solchen Handlungsweise noch ein ehrenhafter Mensch? Und haben Sie nicht das herrliche Mädchen betrogen, als Sie ihr versicherten, daß Sie sie liebten?«

»Ja, ja, Sie haben recht, ich fühle, daß ich eine Schuld auf mich geladen habe!« sagte der Fürst in unbeschreiblichem Gram.

»Aber genügt denn das?« rief Jewgenij Pawlowitsch ganz entrüstet. »Genügt denn das, einfach auszurufen: ›Ach, ich habe eine Schuld auf mich geladen!‹ Sie sind schuldig und bleiben dabei doch hartnäckig! Und wo hatten Sie denn damals Ihr Herz, Ihr ›christliches‹ Herz? Sie haben ja ihr Gesicht in jenem Augenblick gesehen: was meinen Sie, hat sie etwa weniger gelitten als jene andere, um derentwillen Sie sich von ihr trennten? Wie konnten Sie nur das alles mit ansehen und zugeben? Wie war es nur möglich?«

»Aber… ich habe es ja gar nicht zugegeben…«, murmelte der unglückliche Fürst.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe bei Gott nichts zugegeben. Ich weiß bis auf den heutigen Tag noch nicht, wie das alles gekommen ist… ich… ich lief damals Aglaja Iwanowna nach, und Nastasja Filippowna fiel in Ohnmacht, und nachher hat man mir bis jetzt den Zutritt zu Aglaja Iwanowna verwehrt.«

»Ganz gleich! Sie hätten hinter Aglaja herlaufen sollen, wenn auch die andere in Ohnmacht lag!«

»Ja… ja, das hätte ich tun müssen… aber sie wäre gestorben! Sie hätte sich das Leben genommen, Sie kennen sie nicht, und… ich wollte ja doch nachher Aglaja Iwanowna alles erzählen, und … Sehen Sie, Jewgenij Pawlowitsch, ich sehe, daß Sie doch wohl nicht alles wissen. Sagen Sie, warum läßt man mich nicht zu Aglaja Iwanowna? Ich würde ihr alles erklären. Sehen Sie: die beiden haben damals gar nicht über den richtigen Punkt gesprochen, gar nicht über den richtigen Punkt, darum hat ihre Zusammenkunft auch diesen Ausgang genommen… Ich kann Ihnen das nicht erklären, aber ich würde es vielleicht Aglaja erklären können… Ach, mein Gott, mein Gott! Sie sprechen von ihrem Gesicht in jenem Augenblick, als sie weglief… o mein Gott, ich erinnere mich!… Kommen Sie, kommen Sie!« rief er, indem er eilig aufsprang und Jewgenij Pawlowitsch am Ärmel mitzog.

»Wohin?«

»Gehen wir zu Aglaja Iwanowna, gehen wir jetzt gleich!…«

»Aber sie ist ja gar nicht in Pawlowsk, ich habe es Ihnen ja schon gesagt, und wozu sollten wir auch hingehen?«

»Sie wird es verstehen, sie wird es verstehen!« murmelte der Fürst und faltete wie betend die Hände. »Sie wird verstehen, daß das alles sich nicht so verhält, sondern ganz, ganz anders!«

»Wieso ganz anders? Sie wollen ja doch jene Frau heiraten? Also bleiben Sie hartnäckig… Wollen Sie sie heiraten oder nicht?«

»Nun ja, ich werde sie heiraten; ja, ich werde sie heiraten!«

»Also wie können Sie dann sagen, es verhielte sich nicht so?«

»O nein, es verhält sich nicht so, es verhält sich nicht so! Daß ich sie heirate, ist ganz unerheblich, das hat nichts zu bedeuten!«

»Wie kann denn das unerheblich sein und nichts zu bedeuten haben? Das sind doch keine Lappalien? Sie heiraten eine geliebte Frau, um sie glücklich zu machen, und Aglaja Iwanowna sieht und weiß das; also wie kann das unerheblich sein?«

»Um sie glücklich zu machen? O nein! Ich heirate einfach; sie will es so, und was liegt auch daran, daß ich sie heirate: ich… Nun, das ist ja ganz unerheblich! Aber sie würde sonst sicherlich sterben. Ich sehe jetzt, daß diese Ehe mit Rogoshin ein Wahnsinn war! Ich habe jetzt alles verstanden, was ich früher nicht verstand, und sehen Sie: als die beiden Frauen damals einander gegenüberstanden, da konnte ich Nastasja Filippownas Gesicht nicht ertragen… Sie wissen nicht, Jewgenij Pawlowitsch« (hier dämpfte er seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern), »ich habe das noch nie zu jemandem gesagt, auch zu Aglaja nicht: aber ich kann Nastasja Filippownas Gesicht nicht ertragen… Sie hatten vorhin ganz recht mit dem, was Sie über den damaligen Abend bei Nastasja Filippowna sagten; aber da war noch ein Moment, das Sie ausgelassen haben, weil Sie nichts davon wissen: ich habe ihr Gesicht angeschaut! Schon an jenem Vormittag auf dem Bild hatte ich es nicht ertragen können… Sehen Sie, Wera, Wera Lebedewa, die hat ganz andere Augen; ich… ich fürchte mich vor ihrem Gesicht!« fügte er in großer Angst hinzu.

»Sie fürchten sich?«

»Ja; sie ist wahnsinnig!« flüsterte er erbleichend.

»Sie wissen das bestimmt?« fragte Jewgenij Pawlowitsch höchst interessiert.

»Ja, bestimmt; jetzt weiß ich es bereits bestimmt; jetzt, in diesen Tagen, bin ich mir darüber völlig klargeworden!«

»Aber was tun Sie sich denn da an?« rief Jewgenij Pawlowitsch erschrocken. »Also heiraten Sie aus Angst? Das ist ja gar nicht zu begreifen… Vielleicht lieben Sie sie auch gar nicht einmal?«

»O doch, ich liebe sie von ganzem Herzen! Sie ist ja ein Kind, jetzt ist sie ein Kind, ganz und gar ein Kind! Oh, Sie wissen nur nichts davon!«

»Und gleichzeitig haben Sie Aglaja Iwanowna Ihre Liebe beteuert?«

»Ja, ja!«

»Wie ist das möglich? Also wollen Sie alle beide lieben?«

»Ja, ja.«

»Ich bitte Sie, Fürst, was reden Sie! Kommen Sie zur Besinnung!«

»Ich kann ohne Aglaja nicht leben… ich muß unbedingt mit ihr sprechen! Ich… ich werde bald im Schlaf sterben, ich dachte schon, ich würde in dieser Nacht im Schlaf sterben. Oh, wenn Aglaja es wüßte, alles wüßte, das heißt unbedingt alles. Denn hierbei muß man alles wissen, das ist die erste Bedingung! Warum können wir niemals alles über einen andern erfahren, wenn es doch nötig ist, wenn der andere sich schuldig gemacht hat!… Ich weiß übrigens nicht, was ich rede; ich bin ganz verwirrt; Sie haben mich furchtbar aufgeregt… Hat sie denn wirklich auch jetzt noch ein solches Gesicht wie damals, als sie weglief? O ja, ich habe eine Schuld auf mich geladen! Höchstwahrscheinlich bin ich an allem schuld. Ich weiß noch nicht inwiefern, aber ich bin schuld. Es liegt da etwas vor, was ich Ihnen nicht erklären kann, Jewgenij Pawlowitsch, ich finde nicht die richtigen Ausdrücke, aber … Aglaja Iwanowna wird es verstehen! Oh, ich habe immer geglaubt, daß sie es verstehen wird.«

»Nein, Fürst, sie wird es nicht verstehen! Aglaja Iwanowna hat wie eine Frau, wie ein Mensch geliebt, und nicht wie… wie ein abstrakter Geist. Wissen Sie was, mein armer Fürst: das wahrscheinlichste ist, daß Sie weder die eine noch die andere jemals geliebt haben!«

»Ich weiß es nicht… vielleicht haben Sie in vielem recht, Jewgenij Pawlowitsch. Sie sind ein sehr verständiger Mensch, Jewgenij Pawlowitsch; ach, ich bekomme wieder Kopfschmerzen, lassen Sie uns zu ihr gehen! Um Gottes willen, um Gottes willen!«

»Aber ich sage Ihnen ja, daß sie nicht in Pawlowsk ist, sie ist in Kolmino.«

»Dann wollen wir nach Kolmino fahren, gleich, gleich!«

»Das ist un-mög-lich!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch gedehnt und stand auf.

»Hören Sie, ich werde einen Brief schreiben; bringen Sie den Brief hin!«

»Nein, Fürst, nein! Verschonen Sie mich mit solchen Aufträgen, ich kann sie nicht ausführen!«

Sie trennten sich. Jewgenij Pawlowitsch ging mit sonderbaren Eindrücken fort: auch er war zu der Überzeugung gekommen, daß der Fürst nicht ganz bei Sinnen sei. Und was hatte es eigentlich mit diesem Gesicht auf sich, das er fürchtete und das er so liebte? Und gleichzeitig würde er vielleicht wirklich ohne Aglaja sterben, so daß Aglaja vielleicht niemals erfahren würde, wie sehr er sie geliebt hatte! Haha! Und wie konnte er zwei zugleich lieben? Etwa mit zwei verschiedenen Lieben? Interessant… Der arme Idiot! Und was sollte nun aus ihm werden?

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Kapitel 38

X

Der Fürst starb jedoch nicht vor seiner Hochzeit, weder im Wachen noch »im Schlaf«, wie er es im Gespräch mit Jewgenij Pawlowitsch prophezeit hatte. Vielleicht schlief er wirklich schlecht und hatte schlimme Träume; aber bei Tage, im Verkehr mit Menschen, schien er gesund und sogar zufrieden zu sein, nur manchmal sehr nachdenklich, aber dies nur, wenn er allein war. Mit der Hochzeit hatte man es eilig; sie sollte etwa eine Woche nach Jewgenij Pawlowitschs Besuch stattfinden. Bei solcher Eile hätten selbst die besten Freunde des Fürsten, wenn er solche gehabt hätte, sich in ihren Bemühungen, den unglücklichen Verrückten zu »retten«, getäuscht gesehen. Es ging ein Gerücht, Jewgenij Pawlowitschs Besuch sei teilweise von dem General Iwan Fjodorowitsch und seiner Gattin Lisaweta Prokofjewna veranlaßt worden. Aber wenn sie auch beide in ihrer maßlosen Herzensgüte wünschen mochten, den bedauernswerten Irren vom Abgrund zurückzuhalten, so mußten sie sich natürlich doch auf diesen schwachen Versuch beschränken; weder ihre Lage noch auch vielleicht ihre Herzensstimmung (was nur natürlich war) konnten sie zu ernsthafteren Anstrengungen anregen. Wir haben erwähnt, daß sogar die Personen aus der nächsten Umgebung des Fürsten sich teilweise gegen ihn erklärten. Wera Lebedewa beschränkte sich übrigens darauf, im stillen für sich zu weinen und mehr als früher in ihrer eigenen Wohnung zu sitzen und weniger zum Fürsten hereinzukommen. Kolja verlor in dieser Zeit seinen Vater; der Alte war infolge eines zweiten Schlaganfalles acht Tage nach dem ersten gestorben. Der Fürst nahm großen Anteil an dem Kummer der Familie und brachte in der ersten Zeit täglich einige Stunden bei Nina Alexandrowna zu; er war auch bei der Beerdigung und in der Kirche. Vielen fiel es auf, daß das in der Kirche anwesende Publikum das Erscheinen und Weggehen des Fürsten mit unwillkürlichem Geflüster begleitete; dasselbe geschah auch oft auf der Straße und im Park: wenn er vorbeiging oder vorbeifuhr, fing man an, von ihm zu reden, nannte seinen Namen und zeigte auf ihn; auch Nastasja Filippownas Name war aus diesen Gesprächen herauszuhören. Auch bei der Beerdigung sahen sich die Leute nach ihr um, aber sie war nicht anwesend. Auch die Hauptmannsfrau war nicht bei der Beerdigung; es war Lebedew gelungen, sie rechtzeitig zurückzuhalten. Die Seelenmesse machte auf den Fürsten einen starken, ergreifenden Eindruck; er flüsterte Lebedew in Erwiderung auf eine an ihn gerichtete Frage noch in der Kirche zu, daß dies fast die erste rechtgläubige Seelenmesse sei, der er beiwohne; er erinnere sich nur, einmal in seiner Kindheit bei einer Seelenmesse in einer Dorfkirche zugegen gewesen zu sein.

»Ja, es kommt einem vor, als ob da im Sarg gar nicht derselbe Mensch vor einem läge, den wir noch vor kurzem zu unserm Vorsitzenden ernannt haben, erinnern Sie sich?« flüsterte Lebedew dem Fürsten zu. »Wen suchen Sie denn?«

»Ich sehe mich nur so um, mir schien …«

»Suchen Sie Rogoshin?«

»Ist er etwa hier?«

»Ja, er ist in der Kirche.«

»Darum war mir auch, als ob seine Augen auftauchten«, murmelte der Fürst in starker Verwirrung. »Aber… warum ist er denn hier? Ist er eingeladen worden?«

»Das ist niemandem in den Sinn gekommen. Er ist ja mit der Familie überhaupt nicht bekannt. Hier sind ja allerlei Leute, ein buntes Publikum. Aber warum wundern Sie sich darüber so? Ich treffe ihn jetzt häufig; in der letzten Woche bin ich ihm schon ungefähr viermal hier in Pawlowsk begegnet.«

»Ich habe ihn seitdem noch nicht ein einziges Mal gesehen«, murmelte der Fürst.

Da auch Nastasja Filippowna ihm nicht mitgeteilt hatte, daß sie Rogoshin »seitdem« gesehen hatte, gelangte der Fürst jetzt zu der Ansicht, daß Rogoshin sich aus irgendeinem Grunde absichtlich nicht zeige. Diesen ganzen Tag über war er sehr nachdenklich, während Nastasja Filippowna den ganzen Tag und den ganzen Abend sich in überaus heiterer Stimmung befand.

Kolja, der sich mit dem Fürsten noch vor dem Tod seines Vaters versöhnt hatte, schlug ihm, da die Sache nötig und unaufschiebbar war, als Marschälle Keller und Burdowskij vor. Er verbürgte sich dafür, daß Keller sich anständig benehmen und vielleicht sogar »von Nutzen« sein würde; von Burdowskij brauchte man gar nicht erst zu reden; der war ein stiller, bescheidener Mensch. Nina Alexandrowna und Lebedew bemerkten dem Fürsten, wenn die Hochzeit nun einmal beschlossene Sache sei, warum sie dann gerade in Pawlowsk und noch dazu in der Hochsaison der Sommerfrische so öffentlich gefeiert werden solle? Ob es nicht besser sei, sie in Petersburg und zu Hause zu veranstalten? Dem Fürsten war es durchaus klar, worauf all diese Befürchtungen hinzielten, aber er antwortete kurz und schlicht, dies sei Nastasja Filippownas dringender Wunsch.

Am nächsten Tag erschien bei dem Fürsten auch Keller, der benachrichtigt worden war, daß er Hochzeitsmarschall sein solle. Bevor er eintrat, blieb er in der Tür stehen, hob, sobald er den Fürsten erblickte, die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe und rief, als leiste er einen Eid:

»Ich werde nicht trinken!«

Dann trat er an den Fürsten heran, schloß ihn kräftig in die Arme, schüttelte ihm beide Hände und erklärte, er habe allerdings zu Anfang, als er von der Sache gehört habe, eine feindliche Stellung dagegen eingenommen und das auch beim Billard ausgesprochen, und zwar aus keinem andern Grunde, als weil er dem Fürsten keine andere als die Prinzessin de Rohan zugedacht und mit der Ungeduld eines Freundes täglich auf die Verwirklichung dieses Planes gewartet habe; aber jetzt sehe er selbst, daß der Fürst eine mindestens zwölfmal so edle Gesinnung habe als sie »alle zusammengenommen«! Denn er strebe nicht nach Glanz, nicht nach Reichtum, nicht einmal nach äußerer Ehre, sondern nur nach der Wahrheit! Die Herzensneigungen hochgestellter Persönlichkeiten würden eben durchschaut, und der Fürst stehe durch seine Bildung zu hoch, als daß man ihn, allgemein gesagt, nicht zu den hochgestellten Persönlichkeiten rechnen müßte! »Aber der Pöbel und dieses ganze Gesindel urteilen anders; in der Stadt, in den Häusern, in den Gesellschaften, in den Villen, beim Konzert, in den Trinkstuben und beim Billard hört man über nichts anderes reden und spektakeln als über das bevorstehende Ereignis. Ich habe gehört, daß man Ihnen sogar unter den Fenstern eine Katzenmusik machen will, und zwar in der Hochzeitsnacht! Wenn Sie, Fürst, die Pistole eines ehrenhaften Mannes nötig haben, so bin ich bereit, ein halb Dutzend Schüsse mit diesem Volk zu wechseln, bevor Sie sich noch am nächsten Morgen vom Hochzeitslager erheben.« Er riet auch, um dem großen Andrang Neugieriger entgegenzuwirken, bei der Rückkehr von der Kirche auf, dem Hof eine Feuerspritze bereitzuhalten, aber Lebedew protestierte dagegen: »Wenn wir die Feuerspritze in Gang setzen, schlagen sie mir das ganze Haus zusammen.«

»Dieser Lebedew intrigiert gegen Sie, Fürst, bei Gott! Man will Sie unter staatliche Vormundschaft stellen, können Sie sich das denken? Sie mit allem, was drum und dran ist, mit Ihrem freien Willen und mit Ihrem Geld, das heißt mit den beiden Dingen, durch die sich ein jeder von uns von einem Vierfüßler unterscheidet! Ich habe es gehört, aus zuverlässiger Quelle gehört! Es ist die reine Wahrheit!«

Der Fürst erinnerte sich, selbst schon etwas Derartiges gehört zu haben, hatte es aber selbstverständlich nicht weiter beachtet. Auch jetzt lachte er nur darüber und vergaß es sofort wieder. Lebedew war wirklich eine Zeitlang in dieser Richtung tätig gewesen; die Spekulationen dieses Menschen gingen immer sozusagen aus einer plötzlichen verblieb er nun und bemerkte dem Fürsten gegenüber am Ende seiner Beichte: »Jetzt werden Sie von mir nichts anderes zu sehen bekommen als Ergebenheit und Bereitschaft, mein Blut für Sie zu vergießen; deswegen bin ich hergekommen.«

Auch Ippolit trug in diesen letzten Tagen dazu bei, die Aufmerksamkeit des Fürsten von dessen eigenen Angelegenheiten abzulenken; er ließ ihn sehr oft zu sich rufen. Sie wohnten nicht weit entfernt in einem kleinen Häuschen; die kleinen Kinder, Ippolits Bruder und Schwester, freuten sich wenigstens insofern über die Sommerfrische, als sie sich vor dem Kranken in den Garten retten konnten; die arme Hauptmannsfrau aber hatte er sich gänzlich Untertan gemacht und zum Opfer seiner Launen erkoren: der Fürst hatte täglich genug zu tun, die Streitenden auseinanderzubringen und zu versöhnen; der Kranke nannte ihn immer noch wie früher seine Kinderfrau, wagte dabei jedoch nicht, über ihn wegen seiner Vermittlerrolle zu spötteln. Er war auf Kolja sehr schlecht zu sprechen, weil dieser fast gar nicht zu ihm kam, da er in der ersten Zeit bei seinem im Sterben liegenden Vater und dann bei seiner verwitweten Mutter blieb. Schließlich machte er die nahe bevorstehende Hochzeit des Fürsten mit Nastasja Filippowna zum Ziel seiner Spöttereien, wodurch er zuletzt den Fürsten tief kränkte und gegen sich aufbrachte; dieser hörte denn auch auf, ihn zu besuchen. Zwei Tage darauf kam morgens die Hauptmannsfrau zu dem Fürsten geschlichen und bat ihn unter Tränen, doch zu ihnen zu kommen; sonst quäle jener sie zu Tode. Sie fügte hinzu, er wünsche, dem Fürsten ein großes Geheimnis mitzuteilen. Der Fürst ging hin. Ippolit wollte sich mit ihm versöhnen, fing an zu weinen, wurde nach den Tränen selbstverständlich noch boshafter, wagte aber nicht, seine Bosheit zum Ausdruck zu bringen. Es ging ihm sehr schlecht, und an allen Anzeichen war zu sehen, daß er jetzt bald sterben würde. Ein Geheimnis hatte er gar nicht mitzuteilen; er sprach nur in dringendem Ton, sozusagen atemlos vor Aufregung (die aber vielleicht gekünstelt war), die Bitte aus, der Fürst möge sich »vor Rogoshin in acht nehmen«. »Das ist ein Mensch, der von seinem Recht niemandem etwas abtritt; der ist von anderer Art, Fürst, als Sie und ich; wenn der etwas will, schrickt er vor nichts zurück…«, und so weiter und so weiter. Der Fürst fing an, eingehendere Fragen zu stellen, und wünschte, irgendwelche Tatsachen zu hören; aber Tatsachen waren keine vorhanden, nur persönliche Gefühle und Empfindungen Ippolits. Zu seiner großen Genugtuung gelang es Ippolit schließlich, den Fürsten in große Angst zu versetzen. Anfangs wollte der Fürst auf einige besondere Fragen des Kranken nicht antworten und lächelte nur über seine Ratschläge, davonzugehen, nötigenfalls sogar ins Ausland; russische Geistliche gebe es überall, und man könne sich auch dort trauen lassen. Zum Schluß aber sprach Ippolit folgenden Gedanken aus: »Ich fürchte ja nur für Aglaja Iwanowna; Rogoshin weiß, wie Sie sie lieben; eine Liebe ist der andern wert; Sie haben ihm Nastasja Filippowna weggenommen; er wird Aglaja Iwanowna töten; obgleich sie jetzt nicht mehr die Ihrige ist, wird das doch für Sie ein großer Schmerz sein, nicht wahr?« Er erreichte damit seine Absicht: der Fürst war, als er von ihm wegging, wie von Sinnen.

Diese Warnungen vor Rogoshin erfolgten am Vorabend der Hochzeit. Diesen Abend war der Fürst zum letztenmal vor der Trauung mit Nastasja Filippowna zusammen; aber Nastasja Filippowna war nicht imstande, ihn zu beruhigen, und steigerte sogar im Gegenteil in dieser letzten Zeit seine Unruhe mehr und mehr. Früher, das heißt einige Tage vorher, hatte sie beim Zusammensein mit ihm alle Anstrengungen gemacht, um ihn aufzuheitern, da seine traurige Miene ihr Angst machte; sie hatte sogar versucht, ihm etwas vorzusingen; am häufigsten aber hatte sie ihm aus ihren Erinnerungen allerlei Komisches erzählt. Der Fürst stellte sich dann immer so, als ob er lache, und lachte auch manchmal wirklich über ihren glänzenden Verstand und den frischen Affekt, mit dem sie manchmal erzählte, wenn sie sich hinreißen ließ, und sie ließ sich oft hinreißen. Wenn sie den Fürsten lachen sah und wahrnahm, welchen Eindruck ihre Erzählungen auf ihn machten, geriet sie in Entzücken und wurde stolz auf sich selbst. Jetzt aber wuchs ihre Traurigkeit und Nachdenklichkeit fast mit jeder Stunde. Sein Urteil über Nastasja Filippowna stand bereits fest; sonst wäre ihm natürlich alles an ihr jetzt rätselhaft und unbegreiflich erschienen. Aber er glaubte aufrichtig, daß sie noch gleichsam eine Auferstehung durchmachen könne. Er hatte ganz wahrheitsgemäß zu Jewgenij Pawlowitsch gesagt, daß er sie aufrichtig und herzlich liebe, und in seiner Liebe zu ihr lag wirklich eine Zuneigung wie zu einem bedauernswerten, kranken Kind, das man schwer oder geradezu unmöglich sich selbst überlassen kann. Er legte niemandem seine Gefühle für sie dar und mochte selbst dann nicht davon sprechen, wenn ein solches Gespräch sich nicht ganz vermeiden ließ. Wenn er mit Nastasja Filippowna selbst zusammen war, redeten sie niemals »von ihren Gefühlen«, gerade als hätten sie sich beide das Wort darauf gegeben. An ihrem gewöhnlichen, heiteren und lebhaften Gespräch konnte jeder teilnehmen. Darja Alexejewna erzählte später, es sei ihr diese ganze Zeit eine Freude und ein Genuß gewesen, die beiden anzusehen.

Aber dieses sein Urteil über Nastasja Filippownas seelischen und geistigen Zustand befreite ihn zum Teil auch von vielen andern Zweifeln. Jetzt war sie eine ganz andere Frau als jene, die er vor drei Monaten gekannt hatte. Er dachte zum Beispiel jetzt nicht mehr darüber nach, warum sie damals vor der Ehe mit ihm unter Tränen, Verwünschungen und Vorwürfen geflohen war und jetzt selbst auf eine baldige Hochzeit drang. Der Fürst meinte, sie fürchte also nicht mehr wie damals, daß die Ehe mit ihr ihn unglücklich machen werde. Ein so schnell wieder erwachtes Selbstvertrauen konnte seiner Ansicht nach bei ihr nicht natürlich sein. Andrerseits konnte dieses Selbstvertrauen nicht allein aus Haß gegen Aglaja hervorgehen: Nastasja Filippowna vermochte doch etwas tiefer zu empfinden. War es etwa die Furcht vor ihrem Schicksal an Rogoshins Seite? Mit einem Wort: hier mochten alle diese Ursachen, mit noch andern vereint, zusammenwirken; aber ganz klar war ihm, daß hier gerade dasjenige Übel vorlag, das er schon lange geahnt hatte, ein Übel, dem die arme, kranke Seele keinen Widerstand mehr leisten konnte. All dies befreite ihn zwar bis zu einem gewissen Grade von Zweifeln, vermochte ihm aber in dieser ganzen Zeit nicht zu seelischer Ruhe und Erholung zu verhelfen. Manchmal bemühte er sich, an nichts zu denken; die Ehe schien er tatsächlich als eine unwichtige Formalität zu betrachten; auf sein eigenes Schicksal legte er dabei sehr wenig Wert. Was Erörterungen und Gespräche von der Art anlangte, wie er sie mit Jewgenij Pawlowitsch gehabt hatte, so hätte er dabei schlechterdings nichts zu antworten gewußt und fühlte sich dazu völlig unfähig; er ging daher allen derartigen Gesprächen aus dem Weg.

Er hatte übrigens bemerkt, daß Nastasja Filippowna sehr wohl wußte und verstand, was Aglaja für ihn bedeutete. Sie sprach nicht darüber, aber er sah, welchen Ausdruck ihr Gesicht annahm; wenn sie ihn manchmal, noch in der ersten Zeit, in dem Augenblick überraschte, wo er sich fertigmachte, um zu Jepantschins zu gehen. Als Jepantschins abreisten, strahlte sie ordentlich. Wie unaufmerksam und achtlos er auch war, so hatte ihn doch der Gedanke beunruhigt, Nastasja Filippowna könne absichtlich einen Skandal herbeiführen, um Aglaja aus Pawlowsk zu vertreiben. Das Gerede und Geklatsch über die Hochzeit in allen Landhäusern war sicherlich zum Teil von Nastasja Filippowna selbst genährt, um ihre Nebenbuhlerin zu reizen. Da es schwer war, der Familie Jepantschin auf der Straße zu begegnen, so ließ Nastasja Filippowna einmal den Fürsten zu sich in den Wagen steigen und gab Befehl, unmittelbar an den Fenstern des Jepantschinschen Landhauses vorbeizufahren. Das war für den Fürsten eine höchst peinliche Überraschung; er merkte es nach seiner Gewohnheit erst, als sich schon nichts mehr daran ändern ließ und der Wagen bereits dicht vor den Fenstern vorbeifuhr. Er sagte nichts, war aber nachher zwei Tage lang krank; Nastasja Filippowna wiederholte dieses Experiment dann nicht zum zweitenmal. In den letzten Tagen vor der Hochzeit wurde sie sehr nachdenklich; sie überwand schließlich jedesmal ihre Traurigkeit und wurde wieder heiter; aber es war eine stillere Heiterkeit, nicht so laut und glückselig wie zuvor und noch vor kurzem. Der Fürst verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Auffallend war ihm, daß sie mit ihm nie von Rogoshin sprach. Nur einmal, etwa fünf Tage vor der Hochzeit, schickte Darja Alexejewna plötzlich zu ihm, er möchte sofort kommen, Nastasja Filippowna befinde sich sehr schlecht. Er fand sie in einem Zustand, der mit völliger Geistesstörung Ähnlichkeit hatte: sie schrie und zitterte und rief, Rogoshin habe sich im Garten bei ihrem Haus versteckt, sie habe ihn soeben gesehen, er werde sie in der Nacht ermorden… ihr den Hals abschneiden! Den ganzen Tag konnte sie sich nicht wieder beruhigen. Aber als an demselben Abend der Fürst auf einen Augenblick zu Ippolit ging, erzählte ihm die Hauptmannsfrau, die soeben von Petersburg zurückgekehrt war, wo sie verschiedene Geschäfte zu erledigen gehabt hatte, es sei dort an diesem Tage Rogoshin zu ihr in die Wohnung gekommen und habe sie über Pawlowsk ausgefragt. Auf die Frage des Fürsten nach der genaueren Zeit, zu welcher Rogoshin bei ihr gewesen sei, gab die Hauptmannsfrau fast dieselbe Stunde an, zu welcher Nastasja Filippowna ihn am gleichen Tage in ihrem Garten gesehen zu haben glaubte. Die Sache erwies sich also als eine einfache Sinnestäuschung: Nastasja Filippowna ging selbst zu der Hauptmannsfrau, um sie genauer zu befragen, und fühlte sich außerordentlich beruhigt.

Am Tage vor der Hochzeit befand sich Nastasja Filippowna, als der Fürst sie verließ, in sehr angeregter Stimmung: aus Petersburg war von der Modistin der Hochzeitsstaat für den nächsten Tag eingetroffen, das Hochzeitskleid, der Kopfschmuck und so weiter und so weiter. Der Fürst hatte gar nicht erwartet, daß der Putz auf sie eine so belebende Wirkung ausüben Würde; er selbst lobte alles, und sein Lob erhöhte noch ihre Glückseligkeit. Aber dabei sagte sie etwas mehr, als sie eigentlich gewollt hatte: sie habe bereits gehört, daß im Ort Entrüstung herrsche und wirklich von einigen Taugenichtsen eine Katzenmusik vorbereitet werde, mit eigens für diesen Zweck gedichteten Spottversen, und daß alles dies auch von der übrigen Gesellschaft gutgeheißen werde. Und nun habe sie gerade Lust, den Kopf vor all diesen Leuten noch höher zu tragen und alle durch den Geschmack und Reichtum ihrer Toilette in den Schatten zu stellen, – »mögen sie schreien, mögen sie pfeifen, wenn sie es wagen!« Bei dem bloßen Gedanken daran funkelten ihre Augen. Sie hatte noch eine geheime Hoffnung, sprach sie aber nicht laut aus: sie hoffte, Aglaja oder wenigstens ein Abgesandter von ihr werde ebenfalls inkognito unter dem Publikum in der Kirche sein und die Trauung mit ansehen, und sie bereitete sich darauf im stillen vor. Sie trennte sich gegen elf Uhr abends vom Fürsten, ganz mit diesen Gedanken beschäftigt; aber es hatte noch nicht zwölf geschlagen, als ein Bote von Darja Alexejewna zum Fürsten gelaufen kam: er möchte schnell hinkommen; es stehe sehr schlecht. Als der Fürst hinkam, hatte sich seine Braut im Schlafzimmer eingeschlossen und weinte verzweifelt und krampfhaft; sie wollte lange Zeit nicht auf das hören, was man ihr durch die verschlossene Tür sagte; endlich öffnete sie, ließ nur den Fürsten herein, schloß hinter ihm die Tür wieder zu und fiel vor ihm auf die Knie. (So stellte es wenigstens Darja Alexejewna nachher dar, die einiges hatte erspähen können).

»Was tue ich! Was tue ich! Was tue ich dir an!« rief sie, indem sie krampfhaft seine Füße umklammerte.

Der Fürst blieb eine ganze Stunde bei ihr; wir wissen nicht, wovon sie miteinander gesprochen haben. Darja Alexejewna erzählte, sie hätten sich nach einer Stunde in beruhigter, glücklicher Stimmung voneinander getrennt. Der Fürst schickte noch einmal in dieser Nacht hin, um sich zu erkundigen, aber Nastasja Filippowna war bereits eingeschlafen. Am Morgen, noch ehe sie aufgewacht war, erschienen noch zwei Boten vom Fürsten bei Darja Alexejewna, und erst der dritte Abgesandte erhielt den Auftrag, zu melden, Nastasja Filippowna sei jetzt von einem ganzen Schwarm von Modistinnen und Friseuren aus Petersburg umgeben, von der gestrigen Aufregung sei auch nicht die Spur mehr vorhanden, sie sei mit ihrer Toilette beschäftigt, wie nur eine so schöne Frau vor der Trauung beschäftigt sein könne, und jetzt, gerade in diesem Augenblick, finde eine wichtige Beratung darüber statt, was von Brillanten angelegt werden solle und wie. Der Fürst beruhigte sich vollständig.

Der ganze nachstehende Bericht über diese Hochzeit ist den Erzählungen von Leuten entnommen, die über diese Ereignisse Bescheid wußten, und scheint zuverlässig zu sein.

Die Trauung war auf acht Uhr abends angesetzt; Nastasja Filippowna war schon um sieben Uhr fertig. Schon von sechs Uhr an begannen sich allmählich Scharen von faßten ihn an und zogen ihn mit Gewalt in die Wohnung hinein. Keller befand sich in gereizter Stimmung und drängte zur Eile. Nastasja Filippowna erhob sich, blickte noch einmal in den Spiegel, bemerkte »mit einem schiefen Lächeln«, wie Keller nachher erzählte, daß sie »leichenblaß« aussehe, verbeugte sich andächtig vor dem Heiligenbild und trat aus der Haustür. Ein dumpfes Gemurmel begrüßte ihr Erscheinen. Im ersten Augenblick erscholl Gelächter, Beifallklatschen, vereinzeltes Pfeifen; einen Augenblick darauf ließen sich auch mündliche Äußerungen vernehmen:

»So eine Schönheit!« wurde in der Menge gerufen.

»Sie ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein!«

»Der Brautkranz deckt alles zu, ihr Dummköpfe!«

»Nein, so eine Schönheit kann man lange suchen, hurra!« riefen die Nächststehenden.

»Eine Fürstin! Um einer solchen Fürstin willen würde ich meine Seele verkaufen!« schrie ein Kanzlist. »Mein Leben gäbe ich hin für eine Nacht!…«

Nastasja Filippowna war, als sie heraustrat, wirklich bleich wie Leinwand; aber ihre großen schwarzen Augen funkelten die Menge an wie glühende Kohlen; diesem Blick konnte die Menge nicht widerstehen; die Entrüstung verwandelte sich in ein enthusiastisches Geschrei. Schon war der Wagenschlag geöffnet, schon bot Keller der Braut den Arm, als sie plötzlich aufschrie und sich von den Stufen vor der Haustür gerade in die Volksmenge hineinstürzte. Alle ihre Begleiter standen starr vor Staunen, die Menge trat vor ihr auseinander, und fünf oder sechs Schritte von der Haustür entfernt erschien plötzlich Rogoshin. Sein Blick war es gewesen, den Nastasja Filippowna in der Menge aufgefangen hatte. Sie lief wie ein Wahnsinnige zu ihm hin und ergriff seine beiden Hände.

»Rette mich! Schaffe mich weg! Wohin du willst, sofort!«

Rogoshin nahm sie beinahe auf die Arme und trug sie fast zum Wagen hin. Darauf zog er in einem Augenblick aus seinem Portemonnaie einen Hundertrubelschein und reichte ihn dem Kutscher hin.

»Nach dem Bahnhof, und wenn du noch zum Zuge hinkommst, bekommst du noch einen Hunderter!«

Damit sprang er selbst hinter Nastasja Filippowna in den Wagen und warf den Schlag zu. Der Kutscher überlegte nicht einen Augenblick und schlug auf die Pferde los. Keller schob nachher alles auf das Überraschende des Vorgangs: »Noch eine Sekunde, und ich hätte mich gefaßt gehabt, dann hätte ich es nicht geschehen lassen!« erklärte er, als er über das Geschehene berichtete. Er nahm sich schnell mit Burdowskij einen andern Wagen, der zufällig dort stand, und machte sich an die Verfolgung, aber unterwegs änderte er seine Absicht. »Es ist jedenfalls zu spät!« sagte er. »Mit Gewalt kann man sie nicht wiederholen!«

»Auch der Fürst würde es nicht wollen!« bemerkte der tief ergriffene Burdowskij.

Rogoshin und Nastasja Filippowna kamen noch rechtzeitig zum Bahnhof. Nachdem sie aus dem Wagen ausgestiegen waren, fand Rogoshin, fast schon im Begriff, in den Zug zu steigen, doch noch Zeit, ein vorübergehendes Mädchen in einem alten, aber anständigen, dunklen Umhang und einem Kopftuch anzuhalten.

»Wollen Sie mir für fünfzig Rubel Ihren Umhang überlassen?« fragte er, indem er dem Mädchen das Geld hinhielt. Während das Mädchen noch staunte und vergeblich den Zusammenhang zu begreifen suchte, hatte er ihr schon einen Fünfzigrubelschein in die Hand geschoben, ihr den Umhang nebst dem Tuch abgenommen und beides Nastasja Filippowna über die Schultern und den Kopf geworfen. Ihre allzu prächtige Toilette fiel in die Augen und würde im Eisenbahnwagen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, und erst nachher verstand das Mädchen, warum ihr jemand ihre alten, wertlosen Kleidungsstücke mit solchem Profit für sie abgekauft hatte.

Das Gerücht von dem merkwürdigen Ereignis gelangte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der Kirche. Als Keller zum Fürsten kam, stürzten eine Menge ihm ganz unbekannter Leute auf ihn zu, um ihn auszufragen. Man redete laut über die Sache, schüttelte den Kopf und lachte sogar; niemand verließ die Kirche; alle warteten sie darauf, wie der Bräutigam die Nachricht aufnehmen würde. Er wurde etwas blaß, hörte aber die Mitteilung mit Ruhe an und sagte kaum hörbar: »Befürchtungen hatte ich; aber ich gleichzeitig in so würdevoller Weise, mit solchem Vertrauen auf die Anständigkeit seiner Gäste, daß die unbescheidenen Fragen ganz von selbst verstummten. Allmählich begann das Gespräch beinah einen ernsten Charakter anzunehmen. Ein etwas streitsüchtiger Herr beteuerte plötzlich mit großer Entrüstung, er werde sein Gut jetzt nicht verkaufen, was auch immer geschehen möge; er werde vielmehr den richtigen Zeitpunkt abpassen, Unternehmungen seien besser als Geld: »Sehen Sie, mein Herr, darin besteht meine wirtschaftliche Methode, ich mache kein Geheimnis daraus.« Da er sich mit seiner Bemerkung an den Fürsten gewandt hatte, spendete dieser ihm lebhaften Beifall, obwohl Lebedew ihm ins Ohr flüsterte, daß dieser Herr weder Haus noch Hof besitze und niemals ein Gut gehabt habe. So war beinah eine Stunde vergangen, der Tee war ausgetrunken, und nun wurde es den Gästen doch endlich peinlich, noch länger dazubleiben. Der Arzt und der grauhaarige Herr nahmen von dem Fürsten bewegt Abschied, und auch alle andern empfahlen sich freundlich und geräuschvoll. Gute Wünsche wurden ausgesprochen sowie Ansichten folgender Art: »Deswegen braucht man den Kopf noch nicht hängen zu lassen, vielleicht ist es so auch am besten«, und so weiter. Es wurden allerdings auch Versuche gemacht, Champagner zu verlangen, aber die älteren unter den Gästen hielten die jüngeren zurück. Als alle weggegangen waren, beugte sich Keller zu Lebedew hin und sagte zu ihm: »Wir beide, du und ich, hätten ein großes Geschrei erhoben, eine Schlägerei veranstaltet, uns unwürdig benommen und uns die Polizei auf den Hals geholt; aber er, siehst du wohl, hat sich neue Freunde erworben, und noch dazu was für welche; ich kenne sie!« Lebedew, der ziemlich »fertig« war, seufzte und erwiderte: »Er hat es den Weisen und Klugen verborgen und den Kindlein offenbaret; das habe ich schon früher über ihn gesagt, und jetzt füge ich hinzu: Gott hat auch dieses Kindlein selbst bewahrt und vom Abgrund errettet. Er und alle seine Heiligen!«

Endlich, um halb elf, ließen alle den Fürsten allein; der Kopf tat ihm weh; als letzter ging Kolja weg, nachdem er ihm noch behilflich gewesen war, den Hochzeitsanzug mit der Hauskleidung zu vertauschen. Sie nahmen voneinander sehr herzlich Abschied. Kolja redete nicht über das Geschehene, versprach aber, morgen recht früh wiederzukommen. Er bezeugte später, der Fürst habe ihm bei diesem letzten Abschied nichts angedeutet, also auch vor ihm seine Absichten geheimgehalten. Bald war im ganzen Hause fast niemand mehr zurückgeblieben: Burdowskij war zu Ippolit gegangen; Keller und Lebedew hatten sich zusammen irgendwohin begeben. Nur Wera Lebedewa blieb noch einige Zeit in den Zimmern und brachte sie schleunigst aus dem festtäglichen wieder in ihren gewöhnlichen Zustand. Als sie wegging, blickte sie zum Fürsten hinein. Er saß am Tisch, auf beide Ellbogen gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie trat leise an ihn heran und berührte ihn an der Schulter; der Fürst blickte sie verständnislos an und schien sich eine ganze Weile zu besinnen; als er dann aber zu sich kam und sich an alles erinnerte, geriet er plötzlich in große Erregung. Das Ende war übrigens, daß er Wera dringend bat, sie möchte doch morgen früh zum ersten Zug um sieben Uhr an seine Tür klopfen. Wera versprach es; der Fürst bat sie inständig, niemandem etwas davon mitzuteilen; sie versprach auch dies, und zuletzt, als sie schon die Tür geöffnet hatte, um hinauszugehen, hielt der Fürst sie noch ein drittes Mal zurück, ergriff ihre beiden Hände, küßte sie, küßte dann auch Wera selbst auf die Stirn und sagte mit einem »ganz besonderen« Gesichtsausdrucke zu ihr: »Bis morgen!« So wenigstens berichtete Wera nachher. Sie ging in großer Angst um ihn fort. Am Morgen fühlte sie sich einigermaßen beruhigt, als sie um sieben Uhr der Verabredung gemäß an seine Tür geklopft und ihn benachrichtigt hatte, daß der Zug nach Petersburg in einer Viertelstunde abgehe; es schien ihr, er habe, als er die Tür öffnete, ganz frisch ausgesehen und sogar gelächelt. Er hatte sich in der Nacht fast gar nicht ausgekleidet, aber doch geschlafen. Er äußerte, möglicherweise werde er noch am gleichen Tag zurückkommen. Somit war sie die einzige, der er in diesem Augenblick für möglich und notwendig befunden hatte mitzuteilen, daß er nach der Stadt fahre.

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Kapitel 39

Vierter Teil

I

Es war ungefähr eine Woche seit dem Tage vergangen, an dem die beiden Personen, von denen unsere Erzählung handelt, das Rendezvous auf der grünen Bank gehabt hatten. An einem heiteren Vormittag gegen halb elf Uhr kehrte Warwara Ardalionowna Ptizyna, die ausgegangen war, um eine ihrer Bekannten zu besuchen, in sehr nachdenklicher, trüber Stimmung nach Hause zurück.

Es gibt Leute, von denen man schwer etwas aussagen kann, das uns diese Menschen mit einemmal und vollständig in ihrer charakteristischen Erscheinung vor Augen stellt; das sind diejenigen, die man meist als die »üblichen«, als »Masse« bezeichnet und die tatsächlich in jeder Gesellschaft die weitaus überwiegende Mehrheit bilden. Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Aber, o Gott, wie viele millionen- und billionenmal ist von den Männern der ganzen Welt dieser Aufschrei des Herzens nach den Flitterwochen, ja, wer weiß, vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit wiederholt worden!

Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist und daß alle diese George Dandins und Podkolessins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen. Der Vollständigkeit halber wollen wir schließlich noch bemerken, daß einem auch ein ganzer George Dandin, wie ihn Molière geschaffen hat, in der Wirklichkeit begegnen kann, wenn auch nur selten, und wir wollen damit unsere Betrachtung abschließen, die einem Artikel in einer Monatsschrift ähnlich zu werden beginnt. Indes bleibt immer noch die Frage zu beantworten: was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen, den ganz »gewöhnlichen« Leuten, anfangen und wie soll er sie dem Leser vorführen, um sie ihm einigermaßen interessant zu machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist unmöglich, weil die Alltagsmenschen immer und überall das unumgängliche Bindeglied der Ereignisse des Lebens bilden. Wollte man einen Roman, um Interesse zu erregen, nur mit scharf ausgeprägten Charakteren oder gar nur mit seltsamen, nie dagewesenen Persönlichkeiten anfüllen, so würde man damit gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen und vielleicht sogar uninteressant werden. Unserer Ansicht nach muß sich der Schriftsteller bemühen, auch bei den Alltagsmenschen interessante und lehrreiche Seiten herauszufinden. Wenn zum Beispiel das eigentliche Wesen gewisser Alltagsmenschen gerade in ihrer steten, unveränderlichen Alltäglichkeit besteht oder (was noch besser ist) wenn sie trotz all ihrer außerordentlichen Anstrengungen, um jeden Preis aus dem Geleise des Gewöhnlichen und Herkömmlichen herauszukommen, doch schließlich ihr lebelang unverändert Alltagsmenschen bleiben, dann erhalten solche Personen dadurch sogar einen gewissen eigenartig ausgeprägten Charakter: den einer Alltäglichkeit, die um keinen Preis das, was sie ist, bleiben und um jeden Preis Originalität und Selbständigkeit werden möchte, obwohl sie nicht die geringste Befähigung zur Selbständigkeit besitzt.

Zu der Kategorie der gewöhnlichen oder Alltagsmenschen gehören auch einige Personen unserer Erzählung, die dem Leser bisher, wie ich recht wohl weiß, noch nicht mit hinreichender Klarheit geschildert worden sind. Solche Personen sind namentlich Warwara Ardalionowna Ptizyna sowie ihr Gatte, Herr Ptizyn, und ihr Bruder Gawrila Ardalionowitsch.

In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein »wie alle Menschen«. Reichtum ist vorhanden, aber nicht der eines Rothschild; die Familie ist ehrenhaft, hat sich aber nie durch irgend etwas hervorgetan; das Äußere ist hübsch, aber sehr wenig ausdrucksvoll; die Bildung entspricht den gewöhnlichen Anforderungen, aber man weiß nicht, wozu man sie verwenden soll; Verstand besitzt man, aber ohne eigene Ideen; ein gutes Herz hat man, aber ohne eigentlichen Edelmut, und so weiter und so weiter in allen Beziehungen. Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und sich sagen, man habe ihn zum General befördert, wie solle er da kein Feldherr sein! Und wie viele solcher Leute erleiden dann auf dem Schlachtfeld ein schreckliches Fiasko! Und wie viele Pirogows hat es unter unseren Literaten, Gelehrten und Propagandisten gegeben! Ich sage »hat es gegeben«, aber natürlich gibt es sie auch jetzt…

Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, daß ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet. Übrigens haben wir in jedem Fall die Extreme angeführt: bei den allermeisten Mitgliedern dieser klugen Menschengruppe verläuft die Sache keineswegs so tragisch; gegen Ende des Lebens hat sich vielleicht ein mehr oder minder starkes Leberleiden entwickelt, das ist alles. Aber doch vollführen diese Leute, bevor sie sich beruhigen und in ihr Los fügen, manchmal sehr lange, von der Jugend bis zu dem Lebensalter der Fügsamkeit, recht tolle Streiche, und immer in der Sucht nach Originalität. Es kommen sogar seltsame Fälle vor: mancher ehrliche Mensch ist aus Originalitätssucht bereit, sich zu einer gemeinen Handlung herbeizulassen. Auch folgendes kommt vor: mancher dieser unglücklichen, nicht nur ehrlichen, sondern auch herzensguten Menschen ist der Beschützer und Versorger seiner Familie und unterhält und ernährt durch seine Arbeit nicht nur die Seinigen, sondern sogar Fremde, aber was ist das Resultat? Er kann trotzdem sein ganzes Leben lang nicht zur Ruhe gelangen! Für ihn ist es keineswegs ein beruhigender, tröstlicher Gedanke, daß er seine menschlichen Pflichten so gut erfüllt hat; dieser Gedanke hat sogar im Gegenteil für ihn etwas Aufreizendes: ›Also das ist es‹, sagt er sich, ›worauf ich mein ganzes Leben verwandt habe, das ist es, was mich an Händen und Füßen gebunden hat, das ist es, was mich gehindert hat, das Pulver zu erfinden! Wäre dieses Hindernis nicht gewesen, dann hätte ich vielleicht sicher entweder das Pulver erfunden oder Amerika entdeckt; ich weiß noch nicht genau, was, aber erfunden oder entdeckt hätte ich sicherlich etwas!‹ Das Charakteristische bei diesen Herren ist, daß sie tatsächlich ihr ganzes Leben lang sich nicht recht darüber klarwerden können, was sie eigentlich so eifrig zu erfinden und zu entdecken wünschen und was für eine Großtat sie eigentlich das ganze Leben hindurch auszuführen bereit waren, ob die Erfindung des Pulvers oder die Entdeckung Amerikas. Aber ihre schmerzliche Sehnsucht nach einer solchen Großtat hätte wirklich für einen Kolumbus oder Galilei ausgereicht.

Gawrila Ardalionowitsch begann sich gerade in dieser Weise zu entwickeln; aber, wie gesagt, er stand erst am Anfang. Er hatte noch die lange Periode der tollen Streiche vor sich. Das tiefe, stetige Bewußtsein seiner Talentlosigkeit und gleichzeitig das unüberwindliche Verlangen, sich davon zu überzeugen, daß er ein durchaus selbständiger Mensch sei, hatten sein Herz tief verwundet, fast schon von seiner Knabenzeit an. Er war ein junger Mensch mit neidischen und heftigen Wünschen und hatte anscheinend schon bei der Geburt ein reizbares Nervensystem mitbekommen. Die Heftigkeit seiner Wünsche hielt er für Stärke. Bei seinem leidenschaftlichen Wunsch, sich hervorzutun, war er manchmal zu den sinnlosesten Sprüngen bereit; aber sowie die Ausführung eines solchen sinnlosen Sprunges heranrückte, war unser Held doch immer zu klug, als daß er sich dazu hätte entschließen mögen. Das drückte ihn nieder. Vielleicht hätte er sich bei Gelegenheit sogar zu einer recht gemeinen Handlung bereit gefunden, falls er dadurch etwas von seinen erträumten Zielen hätte erreichen können, aber gerade, wenn es an den entscheidenden Punkt kam, war er jedesmal für die recht gemeine Handlung doch zu ehrlich. (Zu einer gemeinen Handlung kleineren Kalibers war er übrigens jederzeit bereit.) Mit hinausgehen, und damit wird die Sache für Ptizyn ihren Abschluß finden.

Eine ganz andersartige Persönlichkeit war Gawrila Ardalionowitschs Schwester. Auch sie war von einem kräftigen Streben erfüllt, das aber mehr den Charakter der Beharrlichkeit als den der Heftigkeit trug. Sie bewies viel Verstand, wenn eine Sache zum entscheidenden Punkt gelangt war, aber daran mangelte es ihr auch schon vorher nicht. Freilich gehörte auch sie zu der Kategorie der »gewöhnlichen« Leute, die von Originalität träumen, aber sie erkannte doch sehr bald, daß sie keine Spur von besonderer Originalität besaß, und grämte sich darüber nicht allzusehr – wer weiß, vielleicht aus einer eigenen Art von Stolz. Ihren ersten Schritt ins praktische Leben führte sie mit großer Entschlossenheit aus, als sie Herrn Ptizyn heiratete, aber indem sie das tat, sagte sie ganz und gar nicht zu sich selbst: ›Will man gemein handeln, dann gründlich, wenn man nur sein Ziel erreicht‹, wie Gawrila Ardalionowitsch sich in solchem Falle unbedingt ausgedrückt hätte (er war nahe daran, sich vor ihren Ohren so auszudrücken, als er als älterer Bruder seine Billigung ihres Entschlusses aussprach). Vielmehr heiratete Warwara Ardalionowna ganz im Gegenteil erst, nachdem sie zu der wohlbegründeten Überzeugung gelangt war, daß ihr künftiger Gatte ein bescheidener, angenehmer, beinah gebildeter Mann sei und größere Gemeinheiten nie und um keinen Preis begehen würde. Nach kleineren Gemeinheiten fragte Warwara Ardalionowna nicht; das waren eben Kleinigkeiten, und solche Kleinigkeiten kamen ja in der Welt überall vor. Wozu ein Ideal suchen! Zudem wußte sie, daß sie durch diese Heirat ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern zu einem Unterkommen verhalf. Da sie ihren Bruder Ganja im Unglück sah, wünschte sie, trotz aller früheren Zwistigkeiten in der Familie, ihm zu helfen. Ptizyn drängte seinen Schwager Ganja manchmal, natürlich freundschaftlich, wieder eine Stelle anzunehmen. »Da verachtest du nun die Generale und den Generalsrang«, sagte er mitunter scherzend zu ihm, »aber paß einmal auf, ›sie‹ werden alle schließlich, wenn die Reihe an sie kommt, Generale werden; wenn du lange genug lebst, wirst du es schon sehen.«

›Wie kommen manche Leute nur zu dem Glauben, ich sei ein Verächter der Generale und des Generalsranges?‹ dachte Ganja im stillen bitter und spöttisch. Um ihrem Bruder behilflich zu sein, entschloß sich Warwara Ardalionowna, den Bereich ihrer Tätigkeit zu erweitern: sie verschaffte sich Zutritt bei der Familie Jepantschin, wobei ihr Erinnerungen an die Kinderzeit halfen, denn sowohl sie selbst als auch ihr Bruder hatten als Kinder mit den Jepantschinschen Töchtern gespielt. Wir bemerken hier, daß Warwara Ardalionowna, wenn sie mit ihren Besuchen bei den Jepantschinschen Damen irgendein phantastisches Ziel vor Augen gehabt hätte, vielleicht eben dadurch sofort aus jener Menschenklasse ausgeschieden wäre, zu der sie sich selbst rechnete; aber sie hatte kein phantastisches Ziel vor Augen, sondern es lag ihrerseits sogar eine sehr wohlbegründete Spekulation vor, wobei sie den Charakter dieser Familie als Ausgangspunkt benutzte. Aglajas Charakter studierte sie unermüdlich. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die beiden jungen Leute, ihren Bruder und Aglaja, wieder zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie tatsächlich einiges erreicht; vielleicht hatte sie auch Fehler begangen, indem sie zum Beispiel zu sehr auf ihren Bruder rechnete und von ihm etwas erwartete, was er nie und auf keine Weise hätte leisten können. Jedenfalls operierte sie bei Jepantschins sehr geschickt: sie erwähnte wochenlang ihren Bruder mit keinem Wort, war immer sehr wahrheitsliebend und aufrichtig und benahm sich schlicht, aber würdig. Was aber ihr innerstes Gewissen anlangt, so fürchtete sie sich nicht, in dasselbe hineinzublicken, und machte sich nicht den geringsten Vorwurf. Und dadurch wuchs ihre Kraft noch mehr. Nur eins, was ihr mißfiel, bemerkte sie manchmal an sich: daß auch sie sehr viel Ehrgeiz besaß, sich gelegentlich ärgerte und in ihrer Eitelkeit verletzt fühlte; besonders bemerkte sie das zu bestimmten Zeiten, und zwar fast jedesmal, wenn sie von Jepantschins fortging.

So kehrte sie auch jetzt von ihnen heim und, wie wir schon gesagt haben, in nachdenklicher, trüber Stimmung. In dieser trüben Stimmung lag auch eine gewisse spöttische Bitterkeit. Ptizyn bewohnte in Pawlowsk ein unansehnliches, aber geräumiges Holzhaus, das an einer staubigen Straße gelegen war und demnächst in seinen vollen Besitz übergehen sollte, so daß er seinerseits es schon wieder einem Dritten zum Kauf angeboten hatte. Als Warwara Ardalionowna die Freitreppe hinaufstieg, hörte sie oben im Haus einen ungewöhnlichen Lärm und unterschied die schreienden Stimmen ihres Bruders und ihres Vaters. In den Salon eintretend, sah sie Ganja, der, ganz blaß vor Wut, im Zimmer auf und ab lief und sich beinah die Haare ausriß; sie runzelte bei diesem Anblick die Stirn und ließ sich mit müder Miene auf das Sofa sinken, ohne den Hut abzunehmen. Sie wußte ganz genau, daß, wenn sie noch ungefähr eine Minute lang schwieg und ihren Bruder nicht fragte, warum er so umherlaufe, dieser mit Sicherheit darüber in Zorn geraten würde; daher beeilte sie sich schließlich, in Form einer Frage zu sagen:

»Immer noch die alte Geschichte?«

»Ach was, die alte Geschichte!« rief Ganja. »Die alte Geschichte! Nein, weiß der Teufel, was jetzt hier vorgeht! Etwas Neues! Der Alte ist ganz rasend geworden… die Mutter heult. Wahrhaftig, Warja, rede, was du willst, aber ich werde ihn aus dem Hause jagen oder… oder selbst von euch wegziehen«, fügte er hinzu, wahrscheinlich weil ihm einfiel, daß man aus einem fremden Haus niemand wegjagen kann.

»Man muß doch Nachsicht haben«, murmelte Warja.

»Nachsicht womit? Mit wem?« fuhr Ganja auf. »Mit seinen Gemeinheiten? Nein, da kannst du reden, was du willst, aber das geht so nicht länger! Unmöglich, unmöglich, unmöglich! Und was ist das für eine Manier: er ist schuld und trumpft dabei noch auf. Wie ein störrisches Tier: ›Ich will nicht ins Tor, reiß den Zaun nieder!‹ Warum sitzt du so da? Was machst du denn für ein Gesicht?«

»Mein Gesicht ist wie immer«, erwiderte Warja mißvergnügt.

Ganja sah sie genauer an.

»Bist du dort gewesen?« fragte er plötzlich.

»Ja.«

»Warte, da schreit er wieder! Es ist eine Schande, und noch dazu um diese Zeit!«

»Was meinst du damit: ›um diese Zeit‹? Es ist doch keine besondere Zeit.«

Ganja betrachtete seine Schwester noch aufmerksamer.

»Hast du etwas erfahren?« fragte er.

»Nein, wenigstens nichts Überraschendes. Ich habe erfahren, daß das alles seine Richtigkeit hat. Mein Mann hat gegen uns beide recht behalten; es ist so gekommen, wie er es gleich von Anfang an vorhergesagt hat. Wo ist er eigentlich?«

»Er ist nicht zu Hause. Was ist geschehen?«

»Der Fürst ist regulärer Bräutigam, die Sache ist entschieden. Die beiden älteren Schwestern haben mir gesagt, Aglaja habe eingewilligt; sie verheimlichen es nicht einmal mehr. (Vorher haben sie immer sehr geheimnisvoll getan.) Adelaidas Hochzeit wird von neuem verschoben, damit beide Hochzeiten gleichzeitig gefeiert werden können, an demselben Tag, – sehr romantisch! Es mutet einen ganz poetisch an. Du solltest lieber ein Hochzeitsgedicht verfassen, statt so unnütz im Zimmer umherzulaufen. Heute abend wird die alte Bjelokonskaja bei ihnen sein, sie ist gerade zur rechten Zeit angekommen; es werden auch noch mehr Gäste da sein. Sie werden ihn der alten Bjelokonskaja vorstellen, obwohl er schon mit ihr bekannt ist; es scheint, daß die Verlobung bekanntgemacht werden soll. Sie fürchten nur, daß er irgend etwas hinfallen läßt oder zerschlägt, wenn er zu den Gästen ins Zimmer kommt, oder auch, daß er selbst hinplumpst, denn auf so etwas kann man sich gefaßt machen.«

Ganja hörte sehr aufmerksam zu, aber zur Verwunderung seiner Schwester übte diese ihrer Meinung nach für ihn überraschende Nachricht anscheinend auf ihn gar keine besonders überraschende Wirkung aus.

»Nun gut, das war ja schon lange klar«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Also nun ist das zu Ende!« fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu, indem er seiner Schwester verschmitzt ins Gesicht sah und immer noch fortfuhr, im Zimmer auf und ab zu gehen, allerdings viel langsamer.

»Es ist nur gut, daß du es mit philosophischer Ruhe aufnimmst, ich freue mich darüber wirklich«, sagte Warja.

»Nun sind wir eine Last von den Schultern los, wenigstens du.«

»Ich glaube, dir aufrichtig gedient zu haben, ohne mich mit meinem eigenen Urteil einzumischen und ohne dich mit Fragen zu belästigen; ich habe dich nicht gefragt, welches Glück du an Aglajas Seite zu finden hofftest.«

»Aber habe ich denn überhaupt… ein Glück an Aglajas Seite zu finden gehofft?«

»Na, laß dich bitte nicht auf philosophische Betrachtungen ein! Jedenfalls ist es jetzt so. Wir haben verspielt und ziehen mit langer Nase ab. Ich muß dir gestehen, ich habe diese Sache nie als etwas Ernstes betrachten können, ich habe sie nur so ›für alle Fälle‹ betrieben und dabei auf den komischen Charakter des Mädchens gebaut, vor allen Dingen aber wollte ich dir eine Freude machen; die Wahrscheinlichkeit, daß es mißlingen würde, betrug neunzig Prozent. Ich für meine Person weiß sogar jetzt nicht einmal, was du eigentlich angestrebt hast.«

»Jetzt werdet ihr, du und dein Mann, mich dazu drängen, wieder in den Dienst zu treten, und werdet mir Predigten über Beharrlichkeit und Willenskraft halten, und daß man das Kleine nicht geringschätzen dürfe und so weiter. Ich weiß es schon auswendig!« sagte Ganja lachend.

›Er hat irgend etwas Neues im Sinn!‹ dachte Warja.

»Nun, wie steht es jetzt dort? Die Eltern freuen sich wohl?« fragte Ganja plötzlich.

»Es scheint nicht. Übrigens kannst du dir das ja selbst zurechtlegen. Iwan Fjodorowitsch ist zufrieden; die Mutter ist ängstlich; sie hat bekanntlich von jeher einen Widerwillen gegen die Vorstellung gehabt, daß er der Bräutigam ihrer Tochter werden könnte.«

»Danach frage ich nicht; er ist ein unmöglicher, undenkbarer Bräutigam, das ist klar. Ich frage nach der jetzigen Situation, wie es jetzt dort steht. Hat sie ihr formelles Jawort gegeben?«

»Sie hat bis jetzt nicht nein gesagt, das ist alles, aber etwas anderes war ja von ihr auch nicht zu erwarten. Du weißt, daß sie von jeher bis zur Verdrehtheit blöde und schüchtern war: als Kind stieg sie in einen Schrank und saß da zwei, drei Stunden lang, um nur nicht zu den Gästen hineingehen zu müssen; nun ist sie eine große Göre geworden, aber es ist mit ihr immer noch dieselbe Geschichte. Weißt du, ich denke, daß es sich da wirklich auch von ihrer Seite um ein ernsthaftes Gefühl handelt. Allerdings macht sie sich, wie mir gesagt wird, über den Fürsten vom Morgen bis zum Abend aus Leibeskräften lustig, um sich nichts anmerken zu lassen; aber gewiß weiß sie ihm täglich im stillen etwas Angenehmes zu sagen, denn er geht umher wie im Himmel und strahlt ordentlich… Er soll furchtbar komisch aussehen. Das habe ich von den beiden älteren Schwestern gehört. Es schien mir auch, als ob diese sich direkt über mich lustig machten.«

Ganja machte endlich ein finsteres Gesicht; vielleicht vertiefte sich Warja absichtlich in dieses Thema, um in seine wahren Gedanken einzudringen. Aber jetzt erscholl oben wieder Geschrei.

»Ich werde ihn aus dem Hause jagen!« brüllte Ganja, als freute er sich, seinem Ärger Luft machen zu können.

»Dann wird er wieder hingehen und uns überall blamieren wie gestern.«

»Was meinst du mit ›wie gestern‹? Was soll das heißen: ›wie gestern‹? Ist er etwa …«, fragte Ganja, der plötzlich einen gewaltigen Schreck bekam.

»Ach, mein Gott, weißt du es denn nicht?« fragte Warja erschrocken.

»Wie… also ist es wirklich wahr, daß er dort gewesen ist?« rief Ganja, der vor Scham und Wut ganz rot wurde. »O Gott, du kommst ja von dort! Hast du etwas erfahren? Ist der Alte dagewesen? War er da oder nicht?«

Ganja stürzte nach der Tür; Warja lief zu ihm hin und ergriff ihn mit beiden Händen.

»Was hast du? Wo willst du hin?« sagte sie. »Wenn du ihn jetzt hinausläßt, wird er bei allen Menschen herumlaufen und noch schlimmere Dinge anrichten!«

»Was hat er denn dort angerichtet? Was hat er gesagt?«

»Sie haben es selbst nicht recht begriffen und konnten es mir nicht ordentlich wiedererzählen; nur hat er alle in Angst versetzt. Er wollte zu Iwan Fjodorowitsch, aber der war nicht zu Hause; dann verlangte er Lisaweta Prokofjewna zu sprechen. Zuerst bat er sie um eine Stelle, er wolle wieder in den Dienst treten, und dann fing er an, sich über uns zu beklagen, über mich, über meinen Mann, namentlich aber über dich… er hat alles mögliche zusammengeredet.«

»Du hast es nicht erfahren können?« fragte Ganja, krampfhaft zitternd.

»Wie wäre das möglich! Er hat selbst kaum verstanden, was er redete; und vielleicht haben sie mir auch nicht alles wiedererzählt.«

Ganja griff sich an den Kopf und lief zum Fenster; Warja setzte sich an das andere Fenster.

»Wie komisch Aglaja ist«, bemerkte sie plötzlich. »Als ich weggehen wollte, hielt sie mich noch zurück und sagte zu mir: ›Übermitteln Sie Ihren Eltern den Ausdruck meiner besonderen persönlichen Hochachtung; ich werde in diesen Tagen gewiß Gelegenheit finden, mit Ihrem Papa zu sprechen.‹ Und das sagte sie ganz ernst. Es war sehr merkwürdig …«

»Nicht spöttisch? Nicht spöttisch?«

»Das ist es eben, daß sie es nicht spöttisch sagte; darum war es so merkwürdig.«

»Weiß sie, was der Alte gemacht hat, oder nicht? Was meinst du?«

»Daß es bei ihnen nicht die ganze Familie weiß, scheint mir sicher, aber du bringst mich da auf einen Gedanken: vielleicht weiß es Aglaja. Und sie wird die einzige sein, die es weiß, denn auch die Schwestern waren verwundert, als sie mir mit solchem Ernst eine Empfehlung an den Vater auftrug. Und warum gerade an ihn? Wenn sie es weiß, dann muß es ihr der Fürst gesagt haben!«

»Es wird kein Kunststück sein, herauszubringen, wer es ihr gesagt hat! Ein Dieb! Das fehlte noch! Ein Dieb in unserer Familie, das ›Oberhaupt der Familie‹!«

»Ach, dummes Zeug!« rief Warja ganz ärgerlich. »Gerede Betrunkener, weiter nichts! Und wer hat es aufgebracht? Lebedew und der Fürst … selbst eine nette Sorte; gerade die rechten Kirchenlichter. Ich mache mir auch nicht so viel daraus.«

»Der Alte ein Dieb und Trunkenbold«, fuhr Ganja bitter fort, »ich ein Bettler, der Mann meiner Schwester ein Wucherer – das wäre etwas für Aglaja gewesen! Das muß man sagen: eine angenehme Sippschaft!«

»Und doch ist es dieser Mann deiner Schwester, der Wucherer, der dich…«

»Ernährt, nicht wahr? Bitte geniere dich nicht!«

»Warum bist du denn so ärgerlich?« erwiderte Warja. »Du verstehst auch gar nichts, du bist wie ein Schuljunge. Du meinst, all das hätte dir in Aglajas Augen schaden können? Da kennst du ihren Charakter schlecht; die wäre imstande, sich von dem besten Bewerber abzuwenden und mit Vergnügen zu irgendeinem Studenten auf die Dachkammer zu laufen, um da Hungers zu sterben, – das ist ihr Traum! Du hast nie begreifen können, wie interessant du in ihren Augen geworden wärest, wenn du es verstanden hättest, unsere kümmerliche Lage mit Festigkeit und Stolz zu ertragen. Bei dem Fürsten hat sie angebissen, erstens weil er es nicht darauf angelegt hatte, sie zu fangen, und zweitens weil er in den Augen aller ein Idiot ist. Schon allein, daß sie um seinetwillen ihre Familie in Aufregung versetzt, schon das ist ihr jetzt eine Freude. Ach, ihr versteht aber auch gar nichts!«

»Nun, das wollen wir noch sehen, ob wir etwas verstehen oder nicht«, murmelte Ganja rätselhaft. »Aber ich möchte doch nicht, daß sie das von dem Alten erfährt. Ich hatte gemeint, der Fürst würde sich beherrschen und es nicht weitererzählen. Er hat auch Lebedew veranlaßt, darüber zu schweigen, und wollte auch mir nicht alles sagen, als ich in ihn drang…«

»Also siehst du selbst, daß auch auf anderen Wegen alles schon bekanntgeworden ist. Was willst du jetzt noch weiter? Worauf hoffst du noch? Wenn dir überhaupt noch eine Hoffnung bliebe, so würde gerade dieser Vorfall dir nützen, indem er dir in ihren Augen das Ansehen eines Märtyrers verleihen würde.«

»Na, vor einem Skandal würde wohl auch sie zurückschrecken, trotz all ihrer Romantik. Es hat alles seine Grenzen, und alle Menschen gehen nur bis zu einem bestimmten Punkt, so seid ihr alle.«

»Aglaja würde zurückschrecken?« versetzte Warja heftig und blickte ihren Bruder geringschätzig an. »Hast du eine niedrige Denkungsart! Ihr seid allesamt nichts wert. Mag sie auch eine komische, wunderliche Person sein, aber dafür hat sie eine tausendmal anständigere Gesinnung als wir alle zusammen!«

»Na, schon gut, schon gut, ärgere dich nur nicht!« murmelte Ganja wieder selbstzufrieden.

»Mir tut nur die Mutter leid«, fuhr Warja fort. »Ich fürchte, daß diese Geschichte mit dem Vater ihr zu Ohren kommt. Ach ja, das fürchte ich!«

»Das ist gewiß schon geschehen«, bemerkte Ganja.

Warja stand auf, um zu Nina Alexandrowna nach oben zu gehen, blieb aber dann noch stehen und blickte ihren Bruder aufmerksam an.

»Wer kann es aber gewesen sein, der es ihr gesagt hat?«

»Wahrscheinlich Ippolit. Ich denke mir, er hat sich sofort, nachdem er zu uns übergesiedelt ist, eine Freude daraus gemacht, es der Mutter zu berichten.«

»Aber woher weiß er es denn? Das sag mir bitte! Der Fürst und Lebedew haben sich vorgenommen, es niemandem zu sagen, sogar Kolja weiß nichts davon.«

»Ippolit? Der hat es von selbst erfahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine listige Kreatur ist, was für ein Klatschweib, und was er für eine feine Nase hat, um alles Schlechte und Skandalöse zu wittern. Na, du magst es glauben oder nicht, ich bin überzeugt, daß er Aglaja schon ganz in seinen Händen hat! Und wenn es ihm noch nicht gelungen ist, so wird es ihm bald gelingen! Auch Rogoshin ist zu ihm in Beziehung getreten. Wie ist es nur möglich, daß der Fürst das nicht merkt! Und jetzt hat er die größte Lust, mich hineinzulegen! Er hält mich für seinen persönlichen Feind, das habe ich längst durchschaut. Warum nur? Und was hat er hier noch vor? Er wird ja bald sterben, – ich kann es nicht begreifen! Aber ich werde ihn hinters Licht führen; du wirst sehen, daß nicht er mich hineinlegt, sondern ich ihn.«

»Warum hast du ihn denn zu uns herübergelockt, wenn du ihn so haßt? Und ist er das überhaupt wert, daß du ihn hineinlegst?«

»Du bist es ja gewesen, die mir geraten hat, ihn zu uns herüberzulocken.«

»Ich glaubte, er würde uns nützlich sein; aber weißt du, daß er sich jetzt selbst in Aglaja verliebt und an sie geschrieben hat? Sie haben mich danach gefragt… fast hätte er auch noch an Lisaweta Prokofjewna geschrieben.«

»In dieser Hinsicht ist er nicht gefährlich!« sagte Ganja, boshaft lachend. »Übrigens ist da sicherlich etwas nicht in Ordnung. Daß er verliebt ist, ist sehr wohl möglich, denn er ist ein unreifes Bürschchen! Aber… anonyme Briefe wird er der Alten nicht schreiben. Eine boshafte, wertlose, selbstzufriedene Mittelmäßigkeit, das ist seine Charakteristik… Ich bin überzeugt, ja ich weiß sicher, daß er mich ihr als Intriganten geschildert hat; das ist das erste gewesen, was er getan hat. Ich muß bekennen, ich bin zuerst dumm genug gewesen, ihm zuviel von mir zu erzählen; ich meinte, er werde, schon um sich an dem Fürsten zu rächen, für meine Interessen eintreten; er ist eine so listige Kreatur! Oh, ich habe ihn jetzt völlig durchschaut. Von diesem Diebstahl aber hat er durch seine Mutter, die Hauptmannsfrau, gehört. Wenn der Alte sich zu einer solchen Tat hat entschließen können, so hat er es wegen der Hauptmannsfrau getan. Der Junge hat mir auf einmal ohne äußeren Anlaß mitgeteilt, der General habe seiner Mutter vierhundert Rubel versprochen; das hat er mir ohne äußeren Anlaß gesagt und ohne alle Umschweife. Da ist mir alles klargeworden. Und dabei hat er mir mit einem ganz besonderen Genuß in die Augen gesehen, und unserer Mama hat er es sicherlich ebenfalls gesagt, nur weil es ihm Vergnügen macht, ihr das Herz zu zerreißen. Und sage mir um alles in der Welt, warum stirbt er nicht? Er hat sich doch verpflichtet, in drei Wochen zu sterben, und nun hat er hier noch angefangen, dick zu werden! Er hört auf zu husten; gestern abend hat er selbst gesagt, er habe seit zwei Tagen kein Blut mehr gehustet.«

»Jag ihn weg!«

»Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn«, erwiderte Ganja stolz. »Nun ja, ja, ich gebe zu, daß ich ihn auch hasse!« rief er dann plötzlich in maßloser Wut. »Und das werde ich ihm ins Gesicht sagen, wenn er auf seinem Sterbebett in den letzten Zügen liegen wird! Wenn du seine Beichte gelesen hättest – o Gott, was für eine naive Frechheit! Das ist ja der Leutnant Pirogow, das ist Nosdrjow in einer Tragödie, und vor allen Dingen ein unreifer Bube! Oh, mit welchem Genuß hätte ich ihn damals durchgeprügelt, namentlich um ihn in Erstaunen zu versetzen! Jetzt rächt er sich an allen dafür, daß ihm sein Selbstmord damals nicht gelungen ist… Aber was ist das? Das ist ja schon wieder Spektakel! Ja, was hat denn das zu bedeuten? Ich kann das schließlich doch nicht länger dulden. Ptizyn!« rief er dem ins Zimmer tretenden Ptizyn zu. »Was ist denn das? Wie weit wird denn dieser Unfug bei uns noch gehen? Das… das …«

Aber der Lärm kam schnell näher; die Tür wurde aufgerissen, und der alte Iwolgin, vor Zorn dunkelrot und zitternd, stürzte ganz außer sich ebenfalls auf Ptizyn los. Dem Alten folgten Nina Alexandrowna, Kolja und hinter allen Ippolit.

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Kapitel 4

IV

Die Jepantschinschen Töchter waren alle drei gesunde, blühende, wohlgewachsene junge Damen mit gut entwickelter Brust und kräftigen, beinah männlichen Armen, und infolge ihrer Kraft und Gesundheit liebten sie es natürlich auch, manchmal tüchtig zu essen, was sie gar nicht zu verbergen suchten. Ihre Mama, die Generalin Lisaweta Prokofjewna, schnitt über den unverhohlenen Appetit der Töchter mitunter ein Gesicht; aber da viele ihrer Ansichten trotz allen äußeren Respekts, mit dem sie von den Kindern aufgenommen wurden, schon längst ihre ursprüngliche, unbestrittene Autorität bei diesen verloren hatten, und zwar in einem Maße, daß ein sich konstituierendes einmütiges Konklave der drei Töchter jedesmal den Sieg davontrug, so fand auch die Generalin im Interesse ihrer eigenen Würde es zweckmäßiger, nicht erst zu streiten, sondern gleich nachzugeben. Allerdings hatte sie ihrem ganzen Charakter nach oft keine Neigung, sich den Geboten der Vernunft unterzuordnen und sich zu fügen, denn Lisaweta Prokofjewna wurde von Jahr zu Jahr launischer und ungeduldiger, ja sogar ein wenig wunderlich; aber da immer noch der sehr gehorsame und wohldressierte Ehemann unter ihrer Herrschaft blieb, so ergoß sich, was an überschüssigem Mißmut sich bei ihr angesammelt hatte, gewöhnlich über sein Haupt, und damit war dann die Harmonie in der Familie wiederhergestellt, und alles ging den denkbar besten Gang.

Übrigens erfreute sich auch die Generalin selbst eines guten Appetits und nahm gewöhnlich um halb eins mit ihren Töchtern zusammen an einem reichlichen Frühstück teil, das bald einer Mittagsmahlzeit gleichkam. Eine Tasse Kaffee tranken die jungen Damen schon vorher, Punkt zehn Uhr, im Bett gleich nach dem Aufwachen. Das war ihnen eine liebe Gewohnheit und ein für allemal so festgesetzt. Um halb eins aber wurde der Tisch in dem kleinen Eßzimmer, neben den Zimmern der Mutter, gedeckt, und zu diesem Frühstück im engsten Familienkreise erschien manchmal auch der General selbst, wenn seine Zeit es erlaubte. Außer Tee, Kaffee, Käse, Honig, Butter, Koteletts und einer besonderen Art von Pfannkuchen, die die Generalin selbst sehr gern aß, wurde starke, heiße Bouillon serviert. An dem Morgen, an dem unsere Erzählung begonnen hat, war die ganze Familie im Eßzimmer versammelt und wartete auf den General, der versprochen hatte, um halb eins zu erscheinen. Hätte er sich auch nur um eine Minute verspätet, so wäre sofort nach ihm geschickt worden; aber er erschien pünktlich. Als er an seine Frau herantrat, um sie zu begrüßen und ihr die Hand zu küssen, bemerkte er diesmal in ihrem Gesicht etwas ganz Besonderes. Und obgleich er schon am vorhergehenden Abend ein Vorgefühl gehabt hatte, daß heute wegen einer gewissen »Geschichte« (so pflegte er selbst sich auszudrücken) etwas kommen werde, und schon gestern beim Einschlafen unruhig gewesen war, so bekam er es doch jetzt wieder mit der Angst zu tun. Die Töchter traten an ihn heran, um ihn zu küssen, und obwohl sie ihn keineswegs böse ansahen, so glaubte er doch auch in ihren Gesichtern einen eigentümlichen Ausdruck wahrzunehmen. Allerdings war der General infolge gewisser früherer Vorfälle allzu argwöhnisch geworden, aber als erfahrener und lebenskluger Vater und Gatte ergriff er sofort seine Maßnahmen.

Vielleicht verderben wir das Relief unserer Erzählung nicht allzusehr, wenn wir jetzt haltmachen und durch einige hilfreiche Bemerkungen eine wahrhafte und genaue Erklärung der gegenseitigen Beziehungen und der Verhältnisse geben, in denen wir die Familie des Generals Jepantschin beim Beginn unserer Geschichte vorfinden. Wir haben bereits oben gesagt, daß der General zwar kein sehr gebildeter, sondern, wie er selbst sich ausdrückte, nur ein »selbstunterrichteter« Mann, dabei aber doch ein erfahrener Gatte und lebenskluger Vater war. Unter anderm hatte er es sich zum Grundsatz gemacht, seine Töchter nicht zum Heiraten zu drängen, also ihnen nicht ständig zuzusetzen und sie mit seiner väterlichen Sorge um ihr Lebensglück zu quälen, wie das unwillkürlich und natürlicherweise fortwährend selbst in den verständigsten Familien geschieht, in denen sich erwachsene Töchter ansammeln. Er hatte es sogar erreicht, daß Lisaweta Prokofjewna sein System akzeptierte, obgleich es ihm schwer genug geworden war, schwer deswegen, weil dieses Verfahren eben ein unnatürliches ist; aber die Argumente des Generals waren doch äußerst gewichtig und stützten sich auf greifbare Tatsachen. Er sagte, Mädchen, die man in dieser Hinsicht völlig unbehelligt lasse, müßten naturgemäß einmal zu ernstem Nachdenken kommen, und dann gehe die Sache schnell vonstatten, weil sie sie mit Eifer betrieben und alle Launen und überflüssigen Mäkeleien beiseite ließen. Die Eltern hätten dann weiter nichts zu tun, als unablässig und möglichst unmerkbar darüber zu wachen, daß es nicht zu einer absonderlichen Wahl oder unnatürlichen Neigung komme, und dann nach Abpassung des richtigen Augenblicks mit einemmal kräftig nachzuhelfen und die Sache unter Aufbietung aller Hilfsmittel in Ordnung zu bringen. Schließlich war auch zu erwägen, daß das Vermögen und die gesellschaftliche Stellung der Generalsfamilie von Jahr zu Jahr in geometrischer Progression stieg: je mehr Zeit also verging, um so günstiger gestalteten sich auch die Heiratsaussichten der Töchter. Aber mitten unter all diese unbestreitbaren Tatsachen trat noch eine andere Tatsache: die älteste Tochter Alexandra vollendete plötzlich und fast ganz unerwartet (wie das immer so zu geschehen pflegt) das fünfundzwanzigste Lebensjahr. Fast zu derselben Zeit sprach Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ein Mann aus den höchsten Gesellschaftskreisen, mit vortrefflichen Verbindungen und außerordentlich reich, wieder seinen langgehegten Wunsch aus zu heiraten. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und besaß einen ausgezeichneten Charakter sowie einen ungewöhnlich feinen Geschmack. Er wollte sich gut verheiraten; er war ein vorzüglicher Kenner weiblicher Schönheit. Da er seit einiger Zeit mit dem General Jepantschin eng befreundet war, wozu ihre beiderseitige Teilnahme an gewissen finanziellen Unternehmungen wesentlich beitrug, so richtete er an diesen, gewissermaßen mit der Bitte um freundschaftlichen Rat und Anleitung, die Frage, ob er einer seiner Töchter einen Heiratsantrag machen dürfe. Dies führte in dem bisher so still und schön verlaufenen Familienleben des Generals Jepantschin einen sichtbaren Umschwung herbei.

Unbestritten die Schönste in der Familie war, wie schon gesagt, die Jüngste, Aglaja. Aber sogar Tozkij selbst mußte sich trotz seines starken Selbstgefühls sagen, daß er hier nicht anklopfen dürfe und daß Aglaja vom Schicksal nicht für ihn bestimmt sei. Vielleicht ging die blinde Liebe und allzu glühende Freundschaft der Schwestern hier allzu weit, jedenfalls waren sie sich schon im voraus in aufrichtiger Überzeugung darüber einig, daß Aglajas Schicksal nicht von gewöhnlicher Art, sondern das denkbar schönste Ideal eines irdischen Paradieses sein müsse. Aglajas künftiger Mann müsse, vom Reichtum ganz abgesehen, alle erdenklichen Vorzüge und Erfolge in sich vereinigen. Die Schwestern hatten sich sogar, und zwar ohne viel Worte zu machen, dahin geeinigt, wenn es nötig sein sollte, ihrerseits zu Aglajas Gunsten ein Opfer zu bringen: Aglaja sollte eine kolossale Mitgift erhalten, eine erheblich größere als sie beide. Die Eltern wußten von dieser Übereinkunft der beiden älteren Schwestern und hegten daher, als Tozkij jene Bitte um Rat aussprach, fast keinen Zweifel, daß eine der beiden älteren Schwestern die elterlichen Wünsche erfüllen würde, um so mehr, als von Afanassij Iwanowitschs Seite Schwierigkeiten bezüglich der Mitgift unmöglich zu erwarten waren. Tozkijs Antrag hatte der General selbst mit der ihm eigenen Lebensklugheit sofort als außerordentlich wertvoll erkannt. Da aber Tozkij selbst vorläufig aus gewissen besonderen Gründen in seinem Vorgehen die allergrößte Vorsicht beobachtete und zunächst nur den Boden sondierte, so hatten auch die Eltern den Töchtern bisher nur ganz vage Andeutungen gemacht. Als Antwort hatten sie von ihnen die gleichfalls nicht ganz bestimmte, aber doch wenigstens beruhigende Erklärung erhalten, daß die Älteste, Alexandra, wohl nicht nein sagen würde. Sie war ein zwar charakterfestes, aber dabei doch gutherziges, verständiges und sehr verträgliches Mädchen; sie wäre sogar ganz gern Tozkijs Frau geworden, und wenn sie einmal ihr Wort gegeben hätte, so hätte sie es ehrlich gehalten. Glanz und Pracht liebte sie nicht; ihr Mann hatte von ihr keine steten Sorgen, keine schroffe Sinnesänderung zu befürchten; sie konnte ihm sogar ein angenehmes, ruhiges Leben verschaffen. Ihre äußere Erscheinung war sehr hübsch, wenn auch nicht gerade aufsehenerregend. Wo konnte es für Tozkij eine bessere Frau geben?

Und doch kam die Sache nur äußerst langsam vom Fleck. Tozkij und der General waren beiderseits in aller Freundschaft zu dem Entschluß gelangt, vorläufig jeden formellen, unwiderruflichen Schritt zu unterlassen. Selbst die Eltern sprachen mit den Töchtern immer noch nicht ganz offen über die Angelegenheit, vielmehr hatte sich eine Art von Dissonanz herausgebildet: die Mutter, die Generalin Jepantschina, war aus einem gewissen Grunde unzufrieden geworden, und das war doch von großer Wichtigkeit. Es lag da ein hinderlicher Umstand vor, eine verwickelte, widerwärtige Sache, durch die das ganze Projekt möglicherweise unwiederbringlich zum Scheitern gebracht wurde.

Dieser verwickelte, widerwärtige »Kasus« (wie Tozkij selbst sich ausdrückte) reichte in seinen Anfängen sehr weit, zwei, selbst drei Monate lang. So verging eine ziemlich lange Zeit, wohl vier Jahre, ruhigen und glücklichen, schönen und genußreichen Lebens.

Eines Tages – es war zu Anfang des Winters, ungefähr vier Monate, nachdem Afanassij Iwanowitsch im Sommer wieder in »Otradnoje« zu Besuch gewesen war, wo er sich jedoch diesmal nur vierzehn Tage aufgehalten hatte – ereignete es sich, daß irgendwie zu Nastasja Filippownas Ohren ein Gerücht drang, daß Afanassij Iwanowitsch in Petersburg im Begriff sei, eine schöne, reiche, vornehme Dame zu heiraten, kurz, eine solide, glänzende Partie zu machen. Es stellte sich dann heraus, daß dieses Gerücht nicht in allen Einzelheiten mit der Wirklichkeit übereinstimmte: die Heirat war erst in Aussicht genommen und alles noch sehr unbestimmt, aber in Nastasja Filippownas Wesen ging seitdem doch eine gewaltige Wandlung vor. Sie zeigte auf einmal eine große Entschlossenheit und legte eine ganz unerwartete Energie an den Tag. Ohne sich lange zu besinnen, verließ sie ihr kleines Gutshaus, reiste völlig allein nach Petersburg und begab sich dort geradeswegs zu Tozkij. Dieser war äußerst erstaunt und fing an, mit ihr zu reden; aber fast vom ersten Wort an stellte es sich heraus, daß er die ganze Art, in der er sonst mit ihr geredet hatte, ändern mußte: die Ausdrucksweise, den Stimmklang, die bisher so erfolgreich benutzten Themen netter, angenehmer Gespräche, die Form der logischen Schlußfolgerungen, kurz alles, alles, alles! Vor ihm saß ein ganz anderes weibliches Wesen, das keinerlei Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, das er bisher gekannt und erst im Juli in »Otradnoje« verlassen hatte.

Erstens wußte und verstand dieses neue Weib, wie sich herausstellte, außerordentlich viel, so viel, daß man höchst erstaunt sein mußte, wie sie es möglich gemacht hatte, sich ein solches Wissen anzueignen und sich so klare Anschauungen zu erarbeiten. (Hatte ihr wirklich ihre Mädchenbibliothek dazu verholfen?) Und damit nicht genug: sie verstand auch sehr viel von juristischen Dingen und besaß sichere Kenntnisse, wenn auch nicht von der menschlichen Gesellschaft, so doch von dem Gang, den gewisse Dinge in der menschlichen Gesellschaft nehmen. Zweitens aber hatte sich ihr Charakter gegen früher vollständig geändert: es war keine Rede mehr von jenem schüchternen, unsicheren Mädchentyp, der bald durch seine originelle Munterkeit und Naivität bezaubert, bald trüb und melancholisch, erstaunt und mißtrauisch, unruhig und zum Weinen geneigt ist.

Nein, diejenige, die ihm da ins Gesicht lachte und ihn mit beißendem Spott verwundete, war ein fremdes, überraschendes Wesen. Nastasja erklärte ihm geradezu, sie habe ihm gegenüber in ihrem Herzen nie etwas anderes empfunden als tiefste Verachtung; dieses bis zum Ekel gesteigerte Gefühl sei bei ihr gleich nach dem ersten Erstaunen eingetreten. Dieses neue Weib erklärte ihm, es sei ihr eigentlich vollständig gleichgültig, ob er sich jetzt verheirate und mit wem; aber doch sei sie hergekommen, um ihm diese Heirat zu verbieten, und zwar einfach aus Bosheit, einzig und allein, weil es ihr so gefalle, und folglich müsse es nun so sein. »Und wär’s auch nur, damit ich über dich lachen kann, soviel ich will«, sagte sie, »denn jetzt habe auch ich schließlich Lust bekommen zu lachen.«

So wenigstens drückte sie sich aus; vielleicht hatte sie damit nicht einmal alles, was sie dachte, ausgesprochen. Aber während die neue Nastasja Filippowna höhnisch lachte und ihm all dies auseinandersetzte, überdachte Afanassij Iwanowitsch diese Angelegenheit für sich und brachte seine ein wenig durcheinandergeworfenen Gedanken nach Möglichkeit wieder in Ordnung. Diese Erwägungen dauerten ziemlich lange; er brauchte zu seinen Überlegungen und zum Fassen eines endgültigen Entschlusses fast zwei Wochen: aber nach zwei Wochen hatte er sich auch entschieden. Afanassij Iwanowitsch war damals schon ungefähr fünfzig Jahre alt und ein höchst solider, gesetzter Mann. Seine Stellung in der Welt und in der Gesellschaft war schon seit langer Zeit auf die festesten Fundamente gegründet. Sich selbst sowie seine Ruhe und Bequemlichkeit liebte und schätzte er über alles in der Welt, wie sich das auch für einen im höchsten Grad anständigen Menschen schickte. Diesen Zustand, der sich durch sein ganzes bisheriges Leben konsolidiert und eine so schöne Form angenommen hatte, war er nicht gewillt, auch nur im geringsten sich selbst auf häßliche Weise, etwa durch Sibirien und Zuchthaus, unwiederbringlich zugrunde zu richten, nur um den Menschen zu beschimpfen, gegen den sie einen so unmenschlichen Haß nährte. Afanassij Iwanowitsch hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er ein wenig feige oder, besser ausgedrückt, in höchstem Grade konservativ war. Hätte er zum Beispiel gewußt, daß man ihn auf seiner Hochzeit ermorden würde oder sich dabei sonst etwas sehr Unpassendes, Lächerliches und in der Gesellschaft nicht Übliches ereignen würde, so hätte er gewiß einen großen Schreck bekommen, aber nicht so sehr darüber, daß man ihn ermorden, ihn schwer verwunden oder ihm vor aller Augen ins Gesicht speien würde und so weiter und so weiter, als vielmehr darüber, daß ihm dies unter Verletzung allen Brauches und Anstandes widerfahren würde. Und gerade so etwas war von Nastasja Filippowna zu erwarten, obwohl sie noch darüber schwieg; aber er wußte, daß sie ihn durch und durch kannte und folglich wußte, wie sie ihn am empfindlichsten treffen konnte. Und da die Heirat in der Tat bisher nur in Aussicht genommen war, so gab Afanassij Iwanowitsch nach und fügte sich der Forderung Nastasja Filippownas.

Zu seinem Entschluß wirkte auch noch ein anderer Umstand mit: man konnte kaum begreifen, wie wenig das Gesicht dieser neuen Nastasja Filippowna noch dem früheren glich. Früher war sie nur ein recht hübsches Mädchen gewesen, aber jetzt … Tozkij konnte es sich lange Zeit nicht verzeihen, daß er sie vier Jahre lang angesehen hatte, ohne ihr Gesicht richtig zu erfassen. Allerdings fällt es in solchen Fällen auch sehr ins Gewicht, wenn auf beiden Seiten eine plötzliche innere Umwandlung vorgeht. Übrigens erinnerte er sich auch an einzelne Momente in der Vergangenheit, wo ihm manchmal sonderbare Gedanken gekommen waren, wenn er zum Beispiel in diese Augen blickte: man konnte in ihnen sozusagen eine tiefe, geheimnisvolle Finsternis ahnen. Diese Augen blickten, als ob sie einem ein Rätsel aufgäben. In den letzten zwei Jahren hatte er sich oft über die Veränderung gewundert, die mit Nastasja Filippownas Gesichtsfarbe vorgegangen war: sie war erschreckend blaß, merkwürdigerweise aber dadurch sogar noch schöner geworden. Tozkij, der wie alle Lebemänner anfangs mit Geringschätzung daran gedacht hatte, wie billig ihm dieses lebensunkundige Wesen zugefallen war, war in der letzten Zeit an der Richtigkeit seiner Ansicht einigermaßen irre geworden. Jedenfalls hatte er noch im letzten Frühjahr beabsichtigt, Nastasja Filippowna in Bälde mit irgendeinem verständigen, ordentlichen, in einem anderen Gouvernement angestellten Beamten gut zu verheiraten und ihr eine hübsche Summe als Mitgift zu geben. (Oh, wie schrecklich und boshaft lachte Nastasja Filippowna jetzt über diesen Plan!) Aber jetzt war Afanassij Iwanowitsch, entzückt über ihren neuen Reiz, sogar auf den Gedanken gekommen, ob er aus diesem Weib nicht von neuem Vorteil ziehen könne. Er beschloß, Nastasja Filippowna in Petersburg wohnen zu lassen und mit allem Komfort und Luxus zu umgeben. Konnte er das eine nicht haben, so wenigstens das andere: mit einer Nastasja Filippowna konnte man sich schon sehen lassen und sich in gewissen Kreisen sogar ein feines Renommee erwerben. In diesem Punkt aber legte Afanassij Iwanowitsch auf sein Renommee großen Wert.

Jetzt wohnte nun Nastasja Filippowna schon fünf Jahre in Petersburg, und natürlich hatte in diesem langen Zeitraum vieles sich geklärt und eine bestimmtere Gestalt angenommen. Afanassij Iwanowitschs Lage war wenig tröstlich; das schlimmste war dabei, daß er, nachdem er sich einmal feige gezeigt hatte, sich gar nicht wieder beruhigen konnte. Er fürchtete sich – und wußte selbst nicht einmal wovor; er fürchtete sich einfach vor Nastasja Filippowna. Eine Zeitlang, nämlich während der beiden ersten Jahre, hatte er geargwöhnt, daß Nastasja Filippowna selbst den Wunsch hege, ihn zu heiraten, aber infolge ihres außergewöhnlichen Hochmuts schweige und beharrlich auf seinen Antrag warte. Das wäre ja von ihrer Seite ein sonderbares Ansinnen gewesen, aber Afanassij Iwanowitsch war argwöhnisch geworden: er runzelte die Stirn und überließ sich seinen trüben Gedanken. Zu seiner großen und (so ist das Menschenherz nun einmal!) ihm einigermaßen unangenehmen Überraschung überzeugte er sich jedoch bei einer bestimmten Gelegenheit davon, daß, auch wenn er ihr seine Hand anböte, sie sie nicht annehmen würde. Lange Zeit Familie und hatte sich bis zum Pfandleiher hinaufgearbeitet. Schließlich wurde auch Gawrila Ardalionowitsch mit ihr bekannt … Das Resultat war, daß Nastasja Filippowna eine eigenartige Berühmtheit erlangte: jedermann wußte von ihrer Schönheit, aber das war auch alles: niemand konnte sich rühmen, etwas bei ihr erreicht zu haben, niemand Nachteiliges über sie erzählen. Durch dieses Renommee und durch ihre Bildung, ihr feines Benehmen und ihren scharfen Verstand, durch alles dies ließ sich Afanassij Iwanowitsch in der Absicht bestärken, einen gewissen Plan durchzuführen. Bis zu diesem Punkt hatten sich die Dinge entwickelt, als General Jepantschin selbst daran tätigen, hervorragenden Anteil zu nehmen begann.

Tozkij legte, als er sich in so liebenswürdiger Weise an ihn mit der Bitte um seinen Rat hinsichtlich einer seiner Töchter wandte, ihm durchaus ehrenhaft ein vollständiges und offenherziges Bekenntnis ab. Er eröffnete ihm, daß er entschlossen sei, vor keinem Mittel zurückzuschrecken, um seine Freiheit wiederzuerlangen; er werde sich nicht damit zufriedengeben, wenn sogar Nastasja Filippowna selbst ihm die Versicherung geben sollte, ihn künftig ganz in Ruhe lassen zu wollen; mit Worten werde er sich nicht zufriedengeben; er brauche eine vollständige Garantie. So verbündeten sich denn die beiden und beschlossen, gemeinsam vorzugehen. Sie entschieden sich dafür, es zuerst mit den mildesten Mitteln zu versuchen und sozusagen nur die »edelsten Saiten« in Nastasja Filippownas Herzen anzurühren. Beide fuhren zu ihr, und Tozkij begann geradeheraus mit der Erklärung, seine Lage sei ihm unerträglich geworden; er gestand, daß er selbst an allem schuld sei, sprach es offen aus, daß er nicht umhin könne, sein früheres Verhalten gegen sie zu bereuen; aber er sei eben ein eingefleischter Genußmensch und habe sich selbst nicht in der Gewalt. Jetzt aber wolle er heiraten, und das ganze Schicksal dieser im höchsten Grade wohlanständigen, noblen Ehe liege in ihren Händen; kurz, er erwarte alles von ihrem Edelmut. Dann begann in seiner Eigenschaft als Vater General Jepantschin zu reden; er sprach verstandesmäßig, unter Vermeidung des rührenden Elements, erwähnte nur, daß er seinerseits durchaus ihr Recht anerkenne, über Afanassij So, wie sie jetzt lebe, werde sie ihre vielleicht glänzenden Fähigkeiten zugrunde richten; sie liebäugle aus freien Stücken mit ihrem Grame und gebe sich einer romantischen Überspannung hin, die weder ihres klaren Verstandes noch ihres edlen Herzens würdig sei. Er wiederholte noch einmal, niemandem könne es peinlicher sein, davon zu reden, als ihm, und schloß, er könne nicht die Hoffnung aufgeben, daß Nastasja Filippowna ihm nicht mit Verachtung antworten werde, wenn er ihr seinen aufrichtigen Wunsch ausspreche, ihr Geschick für die Zukunft sicherzustellen, und ihr eine Summe von fünfundsiebzigtausend Rubel anbiete. Er fügte zur Erklärung hinzu, die Summe sei ihr unter allen Umständen bereits in seinem Testament zugedacht; kurz, es handle sich hier ganz und gar nicht um irgendwelche Entschädigung… Warum wolle sie schließlich nicht glauben, daß er den menschlich verständlichen Wunsch habe, wenigstens irgendwie sein Gewissen zu erleichtern und so weiter und so weiter. Und so brachte er alles vor, was eben in ähnlichen Fällen über dieses Thema gesagt zu werden pflegt. Afanassij Iwanowitsch sprach lange und mit Aufgebot seiner ganzen Redekunst; dabei ließ er noch so beiläufig die interessante Bemerkung einfließen, daß er von diesen fünfundsiebzigtausend Rubel jetzt zum erstenmal habe ein Wort fallenlassen und daß selbst der hier danebensitzende Iwan Fjodorowitsch bisher nichts davon gewußt habe; kurz, daß überhaupt niemand etwas davon wisse.

Nastasja Filippownas Antwort setzte die beiden Freunde in Erstaunen.

Da war nicht die geringste Spur von ihrer früheren Spottlust, Feindseligkeit und haßerfüllten Gesinnung, keine Spur von jenem früheren Lachen, von dem immer noch bei der bloßen Erinnerung dem armen Tozkij ein kalter Schauder über den Rücken lief. Nein, ganz im Gegenteil: sie schien sich sogar darüber zu freuen, daß sie endlich mit jemand offenherzig und freundschaftlich reden könne. Sie gestand, daß sie selbst schon lange gewünscht habe, um einen freundschaftlichen Rat zu bitten; nur ihr Stolz habe sie davon zurückgehalten, aber jetzt, wo das Eis gebrochen sei, könne ihr nichts erwünschter sein. Anfangs mit einem Frage, ob diese sie freudig in ihre Familie aufnehmen würden. Alles in allem sage sie nichts gegen die Möglichkeit dieser Ehe; aber das bedürfe noch längerer Überlegung, und sie wünsche nicht, daß man sie dränge. Was die fünfundsiebzigtausend Rubel anlange, so habe sich Afanassij Iwanowitsch unnötigerweise soviel Mühe gegeben, darüber zu reden. Sie kenne selbst den Wert des Geldes und werde die Summe natürlich annehmen. Sie danke Afanassij Iwanowitsch für sein Zartgefühl, daß er nicht nur Gawrila Ardalionowitsch, sondern auch dem General gegenüber nicht davon gesprochen habe, wiewohl eigentlich kein Grund vorhanden sei, weshalb der erstere davon nicht vorher Kenntnis haben solle. Wenn sie in seine Familie eintrete, so habe sie keinen Anlaß, sich dieses Geldes zu schämen. Jedenfalls beabsichtige sie nicht, irgend jemand wegen irgend etwas um Verzeihung zu bitten, und wünsche, daß alle dies wüßten. Sie werde Gawrila Ardalionowitsch nicht eher heiraten, als bis sie die Überzeugung gewonnen habe, daß weder er noch seine Angehörigen irgendwelche heimlichen Ansichten über sie hegten. Jedenfalls meine sie, daß sie an nichts eine Schuld trage; und es wäre sehr gut, wenn Gawrila Ardalionowitsch erführe, in welcher Art sie diese ganzen fünf Jahre hindurch in Petersburg gelebt, in welchen Beziehungen sie während dieser Zeit zu Afanassij Iwanowitsch gestanden und ob sie viel Vermögen angesammelt habe. Wenn sie schließlich das Kapital jetzt annehme, so sehe sie es durchaus nicht als Bezahlung für den Verlust ihrer jungfräulichen Ehre an, an dem sie keine Schuld trage, sondern einfach als eine Entschädigung für das Leben, das ihr dadurch verdorben worden sei.

Sie geriet sogar (was übrigens nur natürlich war) bei all diesen Darlegungen so in Hitze und Erregung, daß General Jepantschin sehr zufrieden war und die Sache für erledigt hielt; aber Tozkij, der nun einmal ängstlich geworden war, traute dem Frieden auch jetzt noch nicht ganz und fürchtete immer noch, es könnte unter den Blumen eine Schlange verborgen sein. Dennoch begannen die Unterhandlungen; derjenige Punkt, auf dem das ganze Manöver der beiden Freunde beruhte, nämlich die Möglichkeit, Nastasja für Ganja zu interessieren, gewann allmählich eine klarere, liederliche Frauenzimmer« zu heiraten, aber sich selbst im stillen geschworen habe, sich später dafür bitter an ihr zu rächen und sie schwer »büßen zu lassen«, wie er sich selbst ausgedrückt habe. Alles dies wisse Nastasja Filippowna und bereite im geheimen irgend etwas vor. Tozkij war dermaßen beängstigt, daß er nicht einmal dem General Jepantschin etwas von seinen Befürchtungen mitteilte; aber es kamen auch Augenblicke vor, in denen er, wie das schwachherzige Menschen zu tun pflegen, den Kopf wieder aufrichtete und schnell neuen Mut faßte; so ermutigte es ihn zum Beispiel außerordentlich, als Nastasja Filippowna endlich den beiden Freunden das Versprechen gab, sie werde am Abend ihres Geburtstages das entscheidende Wort sprechen.

Aber dagegen erwies sich ein ganz seltsames und ganz unglaubliches Gerücht, das den achtenswerten Iwan Fjodorowitsch selbst betraf, leider mehr und mehr als richtig. Auf den ersten Blick erschien dabei alles als der barste Unsinn. Es war schwer zu glauben, daß Iwan Fjodorowitsch bei seinem würdigen Alter, bei seinem vortrefflichen Verstand und seiner praktischen Lebenskenntnis und so weiter und so weiter sich in Nastasja Filippowna verliebt haben sollte, und zwar gleich dermaßen, daß diese wunderliche Verirrung fast zu einer Leidenschaft wurde. Worauf er dabei seine Hoffnungen gründete, das war schwer auszudenken; vielleicht sogar auf Ganjas eigenen Beistand. Tozkij vermutete wenigstens etwas Derartiges; er vermutete, daß eine beinahe ohne Worte abgeschlossene, auf gegenseitigem Verständnis beruhende Verabredung zwischen dem General und Ganja bestehe. Übrigens ist bekannt, daß ein Mensch, der in den Bann einer Leidenschaft gerät, namentlich wenn er schon bei Jahren ist, vollständig blind wird und sich Hoffnungen macht, wo für ihn nicht die geringste Aussicht ist, ja alles gesunde Urteil verliert und, obwohl sonst ein Ausbund von Klugheit, nun wie ein törichtes Kind handelt. Man wußte, daß der General vorhatte, Nastasja Filippowna zu ihrem Geburtstage einen wundervollen Perlenschmuck zu schenken, der ein gewaltiges Geld kostete, und sich von diesem Geschenk viel versprach, obgleich er Nastasja Filippownas Uneigennützigkeit kannte. Am Abend vor ihrem Geburtstag war er wie im Fieber, obwohl er sich geschickt beherrschte. Von eben diesem Perlenschmuck hatte auch die Generalin Jepantschina gehört. Allerdings hatte Lisaweta Prokofjewna schon seit längerer Zeit Proben von der Flatterhaftigkeit ihres Gatten gehabt und sich sogar zum Teil daran gewöhnt, aber eine solche Gelegenheit durfte sie nicht unbenutzt vorübergehen lassen: das Gerücht von dem Perlenschmuck regte sie außerordentlich auf. Der General merkte das zum Glück noch rechtzeitig, da die Generalin schon am Abend vor dem Geburtstag ein paar Anspielungen darauf machte; er ahnte, daß die eigentliche Auseinandersetzung ihm noch bevorstand, und fürchtete sich davor. Dies war der Grund, weshalb er an dem Morgen, mit dem wir unsere Erzählung begonnen haben, schlechterdings keine Lust verspürte, im Kreise der Familie sein Frühstück einzunehmen. Noch bis zur Ankunft des Fürsten war er entschlossen gewesen, sich mit dringenden Geschäften zu entschuldigen und der Sache aus dem Wege zu gehen. Aus dem Wege gehen bedeutete bei dem General manchmal nichts anderes als die Flucht ergreifen. Er wollte wenigstens diesen einen Tag und namentlich den heutigen Abend ohne Unannehmlichkeiten genießen. Da stellte sich plötzlich, wie gerufen, der Fürst ein. ›Den hat mir Gott gesandt!‹ dachte der General im stillen, als er zu seiner Gemahlin ins Zimmer trat.

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