10. Kapitel

10. Kapitel

Überhaupt kann man sagen, daß die Ereignisse des gestrigen Tages Herrn Goljadkin bis auf den tiefsten Grund seiner Seele erschüttert hatten. Unser Held schlief sehr schlecht, d. h. er konnte nicht einmal auf fünf Minuten widerwärtige Herr Goljadkin der zweite sich bei jeder geeigneten Gelegenheit zu rühmen pflegte. Ganz vernichtet und vor Scham und Verzweiflung von sich selbst nicht wissend, stürzte der durchaus wahre Herr Goljadkin blindlings davon, wohin der Wille des Schicksals ihn führte; aber bei jedem Schritte, den er tat, bei jedem Aufschlagen seines Fußes auf den Granit des Trottoirs sprang aus der Erde ein Herr Goljadkin heraus, der jenem verworfenen, widerwärtigen Menschen vollkommen ähnlich war. Und alle diese vollkommen ähnlichen Gestalten begannen sofort nach ihrem Erscheinen einer hinter dem andern her zu laufen und wackelten in langer Kette wie eine Reihe von Gänsen hinter Herrn Goljadkin dem älteren her, so daß dieser ihnen nirgendhin entfliehen konnte und dem in jeder Hinsicht bedauernswerten Herrn Goljadkin vor Angst der Atem stockte und zuletzt eine furchtbare Menge solcher vollkommenen Ebenbilder entstanden war und die ganze Residenz zuletzt von ihnen wimmelte und ein Polizist angesichts einer solchen Störung der Ordnung sich genötigt sah, sie alle beim Kragen zu nehmen und in sein zufällig in der Nähe befindliches Schilderhaus zu sperren … Starr und eiskalt vor Angst erwachte unser Held und hatte die Empfindung, daß er auch im Wachen die Zeit kaum heiterer verbringen werde … Er fühlte sich bedrückt und gequält … Es befiel ihn eine Traurigkeit, als ob ihm jemand das Herz in der Brust mit den Zähnen zerfleischte …

Schließlich konnte Herr Goljadkin es nicht länger ertragen. »Das darf nicht sein!« rief er aus, richtete sich entschlossen im Bette auf und wurde nun nach diesem Ausrufe völlig wach.

Es war anscheinend schon lange Tag geworden. Im Zimmer war es auffällig hell; die Sonnenstrahlen drangen kräftig durch die vom Froste mit Reif überzogenen Fensterscheiben und breiteten sich in Fülle im Zimmer aus, was Herrn Goljadkin in nicht geringe Verwunderung versetzte; denn die Sonne pflegte nur um Mittag zu ihm hereinzublicken, und früher waren solche Ausnahmen im Laufe des himmlischen Gestirnes, soviel sich wenigstens Herr Goljadkin selbst erinnern konnte, niemals vorgekommen. Kaum war unser Held sich dessen mit Verwunderung bewußt geworden, als hinter der Scheidewand die Wanduhr zu summen anfing und sich auf diese Weise zum Schlagen fertig machte. »Nun also!« dachte Herr Goljadkin und schickte sich in ängstlicher Erwartung an zu hören … Aber zu seinem größten Erstaunen tat die Uhr nach ihrer großen Anstrengung nur einen einzigen Schlag. »Was stellt das vor?« rief unser Held und sprang völlig aus dem Bette. Seinen Ohren nicht trauend, lief er so, wie er war, hinter die Scheidewand. Die Uhr zeigte tatsächlich eins. Herr Goljadkin warf einen Blick nach Petruschkas Bett; aber im Zimmer war von Petruschka nicht die Spur zu sehen: sein Bett war anscheinend schon längst verlassen und in Ordnung gebracht; auch seine Stiefel waren nirgends vorhanden, ein unzweifelhaftes Anzeichen dafür, daß Petruschka wirklich nicht zu Hause war. Herr Goljadkin stürzte zur Tür hin: die Tür war verschlossen. »Aber wo mag nur Petruschka sein?« fuhr er flüsternd fort; er befand sich in furchtbarer Aufregung und fühlte ein starkes Zittern in allen Gliedern … Auf einmal fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf … Herr Goljadkin lief zu seinem Tische, überblickte ihn, suchte rings umher – richtig: sein gestriger Brief an Wachramejew war nicht da … Petruschka war ebenfalls nicht hinter der Scheidewand; die Wanduhr zeigte eins, und in Wachramejews gestrigem Briefe waren einige neue Punkte angeführt gewesen, die zwar auf den ersten Blick sehr unklar erschienen waren, aber jetzt ihre vollständige Aufklärung gefunden hatten. Also auch Petruschka, auch Petruschka war augenscheinlich erkauft! Ja, ja, so war es!

»Also so haben sie den wichtigsten Knoten geschürzt!« rief Herr Goljadkin, indem er sich vor die Stirn schlug und die Augen immer weiter öffnete; »also im Hause dieses greulichen deutschen Frauenzimmers laufen jetzt alle Fäden dieses höllischen Komplotts zusammen! Also hat sie nur eine strategische Diversion gemacht, indem sie mich nach der Ismailowski-Brücke hinwies; sie hat mir Sand in die Augen gestreut, mich wirr gemacht, die nichtswürdige Hexe, und auf diese Art ihre unterirdischen Minen gelegt!!! Ja, so ist es! Wenn man die Sache von dieser Seite betrachtet, dann sieht man, daß sich alles genau so verhält! Auch das Erscheinen jenes Schurken erklärt sich jetzt vollkommen: da hängt eins mit dem andern zusammen. Sie hatten ihn schon lange beschafft, ihn zurechtgemacht und hielten ihn für den Unglückstag in Bereitschaft. So also hat sich jetzt alles herausgestellt! Wie hat nur alles diese Wendung nehmen können? Nun, es macht nichts! Noch ist das Spiel nicht verloren! …« Hier erinnerte sich Herr Goljadkin mit Schrecken daran, daß es bereits zwischen ein und zwei Uhr nachmittags war. »Aber wenn es ihnen nun inzwischen gelungen ist …« Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust … »Aber nein, sie lügen, es ist ihnen noch nicht gelungen, – wir wollen sehen …« Er kleidete sich notdürftig an, ergriff Papier und Feder und schrieb den folgenden Brief:

»Geehrter Herr,
Jakow Petrowitsch!

»Entweder Sie oder ich; aber nebeneinander haben wir nicht Platz! Und darum erkläre ich Ihnen, daß Ihr sonderbares, lächerliches und zugleich ganz unglaubliches Bemühen, als mein Zwillingsbruder zu erscheinen und sich für einen solchen auszugeben, zu nichts anderem führen kann als zu Ihrer vollständigen Beschämung und Niederlage. Deshalb ersuche ich Sie in Ihrem eigenen Interesse, den Weg freizugeben und wahrhaft anständigen Leuten, welche moralisch gute Ziele verfolgen, den Platz zu räumen. Andernfalls bin ich entschlossen, auch vor den äußersten Maßregeln nicht zurückzuschrecken. Ich lege die Feder hin und werde warten … Im übrigen verbleibe ich zu Ihren Diensten … auch mit der Pistole.

J. Goljadkin.«

Als unser Held dieses Schreiben beendet hatte, rieb er sich energisch die Hände. Dann zog er sich den Mantel an, setzte sich den Hut auf, schloß mit seinem Reserveschlüssel die Entreetür auf und machte sich auf den Weg nach der Kanzlei. Er gelangte auch bis zum Amtsgebäude; aber hineinzugehen konnte er sich nicht entschließen; es war in der Tat schon zu spät; Herrn Goljadkins Uhr zeigte halb drei. Plötzlich löste ein anscheinend geringfügiger Umstand einige Zweifel des Herrn Goljadkin: um eine Ecke des Amtsgebäudes herum kam auf einmal schwer atmend und mit gerötetem Gesicht eine Gestalt, huschte heimlich wie eine Ratte die Stufen vor der Haustür hinan und verschwand im Flur. Dies war der Schreiber Ostafjew, ein Mensch, der Herrn Goljadkin sehr wohlbekannt war, ein Mensch, den man mitunter brauchen konnte, und der sich für ein Zehnkopekenstück zu allem bereit finden ließ. Da er Ostafjews schwache Seite kannte und wußte, daß dieser nach einer kurzen Abwesenheit »wegen eines dringenden Bedürfnisses« wahrscheinlich noch größeres Verlangen nach Zehnkopekenstücken tragen werde als sonst, so entschloß sich unser Held, das Geld nicht zu sparen, und lief sofort hinter Ostafjew her die Stufen hinan und dann auf den Flur, rief ihn an und forderte ihn mit geheimnisvoller Miene auf, mit ihm zur Seite zu treten, in ein stilles Winkelchen hinter einem gewaltigen eisernen Ofen. Nachdem er ihn dorthin geführt hatte, begann unser Held ihn auszufragen:

»Nun, mein Freund, wie steht es dort damit? … Du verstehst mich doch?«

»Ich stehe zu Ihren Diensten, Euer Wohlgeboren, und wünsche Euer Wohlgeboren eine gute Gesundheit.«

»Gut, mein Freund, gut; ich danke dir, lieber Freund. Nun also, siehst du, wie steht es denn, mein Freund?«

»Was wünschen Sie zu wissen?« Hier hielt sich Ostafjew ein wenig die Hand vor den Mund, den er beim Reden öffnen mußte.

»Ich … siehst du, mein Freund, ich wollte … hm … denke nur nichts Schlimmes … Also, ist Andrei Filippowitsch da?«

»Jawohl, er ist da.«

»Sind auch die Beamten da?«

»Ja, auch die Beamten sind da, wie es in der Ordnung ist.«

»Und Seine Exzellenz auch?«

»Ja, Seine Exzellenz auch.« Hier verdeckte der Schreiber zum zweitenmal den geöffneten Mund mit der Hand und richtete einen eigentümlichen, neugierigen Blick auf Herrn Goljadkin. Wenigstens kam es unserem Helden so vor.

»Und gibt es da nichts Besonderes, mein Freund?«

»Nein, gar nichts.«

»Ich meine, etwas, was mich betrifft, lieber Freund; wird da etwas geredet? Ich meine nur so, lieber Freund; verstehst du?«

»Nein, bis jetzt ist nichts zu hören gewesen.« Der Schreiber hielt wieder die Hand vor den Mund und blickte Herrn Goljadkin wieder seltsam an. Unser Held bemühte sich nämlich jetzt, Ostafjews Miene zu durchschauen, auf seinem Gesichte zu lesen, ob sich da auch nicht etwas verberge. Und es machte wirklich den Eindruck, als ob sich da etwas verbarg: Ostafjew wurde nämlich immer weniger höflich, redete in immer trockenerem Tone und ging nicht mehr mit solchem Interesse wie bei Beginn des Gespräches auf Herrn Goljadkins Fragen ein. »Er hat ja bis zu einem gewissen Grade recht,« dachte Herr Goljadkin; »was gehe ich ihn an? Vielleicht hat er auch schon von der Gegenseite etwas bekommen und hat sich darum wegen eines dringenden Bedürfnisses entfernt. Aber ich will ihm doch auch etwas …« Herr Goljadkin sagte sich, daß der richtige Zeitpunkt für die Zehnkopekenstücke gekommen sei.

»Hier ist etwas für dich, lieber Freund …«

»Ich danke Euer Wohlgeboren von ganzem Herzen.«

»Ich werde dir noch mehr geben.«

»Zu Diensten, Euer Wohlgeboren.«

»Jetzt gleich werde ich dir noch mehr geben, und wenn die Sache erledigt ist, noch einmal die gleiche Summe. Verstehst du?«

Der Schreiber schwieg, nahm eine militärisch stramme Haltung an und hielt seinen Blick unbeweglich auf Herrn Goljadkin gerichtet.

»Nun, dann rede jetzt: hat über mich nichts verlautet?«

»Es scheint, daß bis jetzt, vorläufig … hm … daß vorläufig noch nichts verlautet hat.« Ostafjew antwortete in einzelnen Absätzen, machte ebenso wie Herr Goljadkin eine etwas geheimnisvolle Miene, zuckte ein wenig mit den Augenbrauen, blickte zu Boden, bemühte sich, den richtigen Ton zu treffen, kurz, er war mit aller Kraft bestrebt, die versprochene Belohnung zu verdienen; denn das, was ihm bereits gegeben war, hielt er schon für sein wohlerworbenes Eigentum.

»Und es ist nichts bekannt?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Aber höre … hm … es wird vielleicht etwas bekannt werden?«

»Später natürlich wird vielleicht etwas bekannt werden.«

»Schlimm!« dachte unser Held. »Hör mal: hier hast du noch etwas, mein Lieber.«

»Ich danke Euer Wohlgeboren von ganzem Herzen.«

»War Wachramejew gestern hier?«

»Jawohl.«

»Sonst aber war niemand hier? Besinne dich einmal, Brüderchen!«

Der Schreiber wühlte ein Weilchen in seinem Gedächtnisse herum, konnte sich aber auf nichts hierher Gehöriges besinnen.

»Nein, sonst war niemand da.«

»Hm!« Es trat Stillschweigen ein.

»Hör mal, Brüderchen, hier hast du noch etwas; sag mir alles, das ganze Geheimnis!«

»Zu Diensten.« Ostafjew war jetzt wie um den Finger zu wickeln; das hatte Herr Goljadkin bezweckt.

»Nun sage mir, Brüderchen: wie steht er sich mit den andern?«

»Es geht, ganz gut,« antwortete der Schreiber und blickte Herrn Goljadkin mit großen Augen an.

»Was meinst du mit ›ganz gut‹?«

»Ich meine nur so!« Hier zuckte Ostafjew bedeutsam mit den Brauen. Übrigens war er vollkommen verblüfft und wußte nicht, was er sagen sollte. »Schlimm!« dachte Herr Goljadkin.

»Hat sich mit Wachramejew noch etwas Weiteres begeben?«

»Es ist alles wie bisher.«

»Besinn dich mal!«

»Ja, man sagt so etwas.«

»Also was denn nun?«

Ostafjew hielt die Hand vor den Mund.

»Ist nicht ein Brief von ihm an mich da?«

»Heute ist der Kanzleidiener Michejew zu Wachramejew in dessen Wohnung gegangen, zu der deutschen Dame; ich kann ja hingehen und mich erkundigen, wenn Sie es wünschen.«

»Tu mir den Gefallen, Brüderchen, um Gottes willen! … Ich habe keine besondere Absicht dabei … Denke nichts Übles, Bruder; ich habe dabei keine besondere Absicht. Und erkundige dich doch, Brüderchen, bring doch in Erfahrung, ob da etwas gegen mich im Werke ist. Und er, was wird er unternehmen? Das ist es, was ich gern wissen möchte; das bring in Erfahrung, lieber Freund; ich werde es dir dann danken, lieber Freund …«

»Zu Diensten, Euer Wohlgeboren. Und auf Ihren Platz hat sich heute Iwan Semjonowitsch gesetzt.«

»Iwan Semjonowitsch? Ah! So! Wirk-lich?«

»Andrei Filippowitsch wies ihn an, sich dahin zu setzen.«

»Wirk-lich? Wie ist das zugegangen? Das bring heraus, Brüderchen! um Gottes willen bring das heraus, Brüderchen; bring das alles heraus, – ich werde mich dir dankbar zeigen, mein Lieber; das ist es, was ich wissen möchte … Denke aber nichts Übles, Brüderchen …«

»Zu Diensten, zu Diensten, ich werde gleich hingehen. Aber Sie, Euer Wohlgeboren, kommen heute nicht herein?«

»Nein, mein Freund, ich bin nur für ein Augenblickchen gekommen, nur für ein Augenblickchen; ich wollte nur einmal sehen, wie es steht, lieber Freund. Und nachher werde ich dir erkenntlich sein, mein Lieber.«

»Zu Diensten.« Der Schreiber lief schnell und eifrig die Treppe hinauf, und Herr Goljadkin blieb allein zurück.

»Schlimm!« dachte er. »Ach, schlimm, schlimm! Ach, wie schlimm steht jetzt meine Sache! Was hatte das alles nur zu bedeuten? Was bedeuteten z. B. namentlich einige Andeutungen dieses Trunkenboldes, und von wem rührt dieser Streich her? Ah, ich weiß jetzt, von wem dieser Streich herrührt! Ein netter Streich! Sie haben es gewiß erfahren und ihn darum hingesetzt… Übrigens, was sage ich? Sie haben ihn da hingesetzt? Andrei Filippowitsch ist es gewesen, der ihn da hingesetzt hat, diesen Iwan Semjonowitsch. Ja, übrigens, warum hat er ihn denn da hingesetzt, und mit welcher Absicht hat er ihn eigentlich da hingesetzt? Wahrscheinlich haben sie erfahren… Da arbeitet Wachramejew gegen mich, d. h. nicht Wachramejew; der ist dumm wie ein einfacher espener Balken, dieser Wachramejew; sondern all diese Menschen stehen hinter ihm und arbeiten gegen mich, und auch jenen Halunken haben sie zu diesem selben Zwecke hierher geholt, und die einäugige Deutsche hat sich über mich beschwert! Ich habe immer geargwöhnt, daß diese ganze Intrige nicht von so einfacher Art ist, Herr Goljadkin das Gesicht, wie wenn er in eine Zitrone gebissen hätte, wahrscheinlich in Erinnerung an etwas sehr Unangenehmes. »Na, übrigens macht es nichts!« dachte er. »Es ist nur dies: ich muß alles allein schaffen. Warum kommt nur Ostafjew nicht wieder? Wahrscheinlich ist er irgendwo hängen geblieben oder aufgehalten worden. Das ist gut, daß ich so intrigiere und auch meinerseits Minen lege. Diesem Ostafjew brauche ich nur ein Zehnkopekenstück zu geben, dann … hm … dann habe ich ihn auf meiner Seite. Die Frage ist nur: ist er auch wirklich ganz auf meiner Seite? Vielleicht haben sie ihrerseits ihm ebenfalls etwas gegeben und intrigieren nun ihrerseits mit ihm unter einer Decke. Er sieht ja aus wie ein Gauner, der Halunke, wie ein reiner Gauner! Er verstellt sich, der Racker! ›Es ist nichts zu hören‹ sagt er und ›Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Euer Wohlgeboren!‹ So ein Gauner!«

Es wurde Geräusch hörbar… Herr Goljadkin krümmte sich zusammen und sprang hinter den Ofen. Jemand kam die Treppe herunter und ging auf die Straße hinaus. »Wer kann denn da jetzt weggehen?« dachte unser Held im stillen. Einen Augenblick darauf wurden wieder Schritte vernehmbar … Jetzt konnte Herr Goljadkin sich nicht beherrschen und steckte die Nasenspitze ein ganz klein wenig aus seinem Versteck heraus, – aber sofort zuckte er auch wieder zurück, als ob ihn jemand mit einer Nadel hineingestochen hätte. Diesmal war es ein Bekannter, der vorbeiging, nämlich der Halunke, der Intrigant, der verworfene Mensch; er ging wie gewöhnlich mit seinen nichtswürdigen, kleinen Schrittchen, trippelnd und mit den Beinen ausschlagend, als ob er jemandem damit einen Schlag versetzen wollte. »Schurke!« sagte unser Held vor sich hin. Übrigens konnte Herr Goljadkin nicht umhin zu bemerken, daß der Schurke unter dem Arm ein großes grünes Portefeuille trug, das Seiner Exzellenz gehörte. »Er hat wieder einen besonderen Auftrag,« dachte Herr Goljadkin; er errötete und krümmte sich vor Ärger noch mehr zusammen als vorher. Kaum war Herr Goljadkin der jüngere an Herrn Goljadkin dem älteren, ohne diesen überhaupt zu bemerken, vorbeigehuscht, als sich zum dritten Male Schritte hören ließen, und diesmal erriet Herr Goljadkin, daß es die Schritte eines Schreibers waren. Wirklich blickte der pomadisierte Kopf eines Schreibers zu ihm hinter den Ofen; es war indes nicht Ostafjew, sondern ein anderer Schreiber, namens Pisarenko. Das setzte Herrn Goljadkin in Erstaunen. »Warum hat er denn andere in das Geheimnis eingeweiht?« dachte unser Held. »Diese Heiden! Nichts ist ihnen heilig!« –

»Nun, was gibt es, mein Freund,« sagte er, sich zu Pisarenko wendend. »Von wem kommst du, mein Freund?«

»Ich komme in Ihrer Angelegenheit. Bis jetzt ist noch nichts zu erfahren gewesen. Aber sobald wir etwas erfahren, werden wir es Ihnen mitteilen.«

»Und Ostafjew?«

»Der kann jetzt absolut nicht abkommen, Euer Wohlgeboren. Seine Exzellenz ist schon zweimal durch unser Bureau hindurchgegangen, und auch ich habe jetzt keine Zeit.«

»Ich danke dir, mein Lieber, ich danke dir … Sage mir nur noch …« »Wahrhaftig, ich habe keine Zeit… Alle Augenblicke werden wir gerufen … Bitte, bleiben Sie hier noch ein Weilchen stehen; wenn sich dann in betreff Ihrer Angelegenheit etwas begibt, wollen wir Sie benachrichtigen…«

»Nein, mein Freund, sage mir…«

»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit,« sagte Pisarenko, indem er sich von Herrn Goljadkin, der ihn am Rockschoß gefaßt hatte, loszureißen suchte; »ich habe wirklich keine Zeit. Bleiben Sie hier noch ein Weilchen stehen; dann wollen wir Sie benachrichtigen.«

»Gleich, gleich lasse ich dich weg, mein Freund! Gleich, gleich, lieber Freund! Aber jetzt… Hier ist ein Brief, mein Freund; ich werde mich dir dankbar zeigen, mein Lieber.«

»Zu Diensten.«

»Gib ihn an Herrn Goljadkin ab, mein Lieber; sei damit recht sorgsam!«

»An Herrn Goljadkin?«

»Ja, mein Freund, an Herrn Goljadkin.«

»Schön; sowie ich fertig bin, will ich ihn bestellen. Bleiben Sie hier nur solange stehen! Hier sieht Sie niemand …«

»Nein, ich… denke nur nichts Übles, mein Freund… ich stehe hier nicht, um von niemand gesehen zu werden. Aber ich werde jetzt nicht länger hierbleiben, mein Freund … ich werde hier in die Seitengasse gehen. Da ist ein Kaffeehaus; da werde ich warten; und wenn sich etwas zuträgt, so benachrichtige mich von allem, verstehst du?«

»Schön, lassen Sie mich jetzt nur weg; ich verstehe…«

»Ich werde dir dankbar sein, mein Lieber!« rief Herr Goljadkin dem Schreiber Pisarenko nach, dem es nun endlich gelungen war, sich frei zu machen. »Der Halunke wurde, wie es scheint, zuletzt gröber,« dachte unser Held, während er verstohlen hinter dem Ofen hervorkam. »Da hat die Sache noch einen Haken. Das ist klar … Zuerst war er anders … Übrigens mochte er es wirklich eilig haben; vielleicht ist bei ihnen viel zu tun. Und Seine Exzellenz ist zweimal durch das Bureau gegangen … Was mag dazu für Anlaß gewesen sein?… Ach was, das tut nichts! Das hat vielleicht nichts zu bedeuten; nun, jetzt wollen wir sehen…«

Hier war Herr Goljadkin schon im Begriff, die Haustür zu öffnen und auf die Straße hinauszugehen, als plötzlich gerade in diesem Augenblicke die Equipage Seiner Exzellenz mit donnerähnlichem Lärm vorfuhr. Herr Goljadkin war noch nicht zur Besinnung gekommen, als der Wagenschlag von innen geöffnet wurde und der darin sitzende Herr auf die Stufen vor der Haustür hinaussprang. Der Ankömmling war kein anderer als eben jener Herr Goljadkin der jüngere, der zehn Minuten vorher weggegangen war. Herr Goljadkin der ältere erinnerte sich, daß die Wohnung des Direktors nur einige Schritte entfernt lag. »Er hat einen besonderen Auftrag,« dachte unser Held bei sich. Unterdessen hatte Herr Goljadkin der jüngere aus dem Wagen das dicke grüne Portefeuille und noch einige andere Papiere herausgenommen, dem Kutscher eine Weisung gegeben und öffnete nun die Haustür; dabei versetzte er Herrn Goljadkin dem älteren mit ihr beinah einen Stoß, bemerkte ihn aber vorsätzlich nicht, so daß seine Absicht, ihn zu ärgern, deutlich war; dann lief er schnell die Treppe zur Kanzlei hinauf. »Schlimm!« dachte Herr Goljadkin; »meine Sache geht jetzt schief! Nun sehe mal einer den an, Herr du mein Gott!« Etwa eine halbe Minute lang stand unser Held noch da, ohne sich zu rühren; endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt. Ohne sich lange zu bedenken, aber mit starkem Herzklopfen und an allen Gliedern zitternd, lief er seinem Freunde die Treppe hinauf nach. »Ach was! In Gottes Namen! Was geht es mich an? Ich kann nichts dafür,« dachte er, während er den Hut, den Mantel und die Überschuhe im Vorzimmer ablegte.

Als Herr Goljadkin in sein Bureau trat, war schon völlige Dämmerung eingetreten. Weder Andrei Filippowitsch noch Anton Antonowitsch waren im Zimmer. Sie befanden sich beide zum Zwecke der Berichterstattung im Arbeitszimmer des Direktors; der Direktor aber hatte sich, wie man hörte, seinerseits eilig zu Seiner Hohen Exzellenz begeben. Infolge dieser Umstände und auch weil es bereits Dämmerung war und die Bureauzeit zu Ende ging, trieben manche Beamten, namentlich die jüngeren, in dem Augenblicke, als unser Held eintrat, allerlei Allotria: sie gingen umher, führten Gespräche, plauderten, lachten, und einige der jüngsten, d. h. der im Range am niedrigsten stehenden, spielten sogar in einer Ecke am Fenster still und heimlich Schrift und Adler. Da Herr Goljadkin die Gebote des Anstandes kannte und gerade jetzt besonders wünschte, sie sich gegenüber beobachtet zu sehen, so trat er schnell zu einigen heran, mit denen er noch am ehesten harmonierte, um ihnen Guten Tag zu sagen usw. Aber die Kollegen erwiderten Herrn Goljadkins Gruß in ganz seltsamer Weise. Er war unangenehm überrascht durch die kalte, trockene, ja man kann sagen schroffe Art, in der sie ihn alle empfingen. Keiner reichte ihm die Hand. Manche sagten einfach: »Guten Tag« und gingen von ihm weg; andere nickten nur mit dem Kopfe; dieser und jener wandte sich einfach ab und tat, als ob er nichts bemerkt hätte; einige endlich (und das war für Herrn Goljadkin am allerverletzendsten), einige junge Leute von der untersten Rangstufe, Burschen, die, wie Herr Goljadkin sich ganz richtig im stillen über sie ausdrückte, weiter nichts verstanden als gelegentlich Schrift und Adler zu spielen und sich irgendwo umher zutreiben, diese umringten Herrn Goljadkin allmählich und umdrängten ihn so, daß sie ihm beinah den Ausweg versperrten. Alle blickten sie ihn mit einer Art von beleidigender Neugier an.

Das war ein übles Zeichen. Herr Goljadkin fühlte das und entschied sich seinerseits verständigerweise dafür, nichts zu bemerken. Plötzlich trat ein ganz unerwartetes Ereignis ein, das Herrn Goljadkin, wie man zu sagen pflegt, den Rest gab und den Garaus machte.

In dem Haufen der jungen Kollegen, die ihn umgaben, erschien plötzlich, und zwar gerade in dem für Herrn Goljadkin peinlichsten Augenblicke, Herr Goljadkin der jüngere, heiter wie immer, mit einem Lächeln auf dem Gesicht wie immer, beweglich, zungengewandt und leichtfüßig wie immer, kurz, als derselbe Schalk, Springinsfeld, Schäker und Spaßmacher wie immer, wie früher, wie z. B. gestern, wo er in einem für Herrn Goljadkin den älteren so unangenehmen Augenblicke aufgetaucht war. Schmunzelnd, sich hin und her drehend, trippelnd, mit einem Lächeln, das allen Anwesenden Guten Abend zu sagen schien, drängte er sich in den Haufen der Beamten hinein, drückte diesem die Hand, klopfte jenem auf die Schulter, umarmte flüchtig einen dritten, erklärte einem vierten, in welcher Angelegenheit Seine Exzellenz seine Dienste in Anspruch genommen habe, wohin er gefahren sei, was er getan und was er mitgebracht habe; einen fünften, wahrscheinlich seinen besten Freund, küßte er auf den Mund, – mit einem Worte: alles ging genau so vor sich wie in Herrn Goljadkins des älteren Traume. Nachdem er genugsam herumgehüpft, einen jeden auf seine Weise begrüßt, um die Gunst aller mit oder ohne Anlaß gebuhlt und sich bei allen gehörig lieb Kind gemacht hatte, streckte Herr Goljadkin der jüngere auch seinem älteren Freunde, Herrn Goljadkin dem älteren, den er bis dahin noch nicht bemerkt hatte, plötzlich und wahrscheinlich aus Versehen die Hand hin. Wahrscheinlich ebenfalls aus Versehen, obwohl er den unedlen Herrn Goljadkin den jüngeren schon längst sehr wohl bemerkt hatte, ergriff unser Held sofort eifrig die ihm so unerwartet hingestreckte Hand und drückte sie kräftig und in der freundschaftlichsten Art, ja mit einer seltsamen, ganz unerwarteten, innerlichen Bewegung, mit einer weinerlichen Empfindung. Ob unser Held sich durch die von seinem unwürdigen Feinde ergriffene Initiative täuschen ließ oder einfach der Geistesgegenwart ermangelte, oder in tiefster Seele seine Hilflosigkeit in ihrem ganzen Umfange erkannte und empfand, das ist schwer zu sagen. Tatsache ist, daß Herr Goljadkin der ältere bei vollem des jüngeren Herrn Goljadkin sprang, zerstörte und vernichtete die letzten Hoffnungen unseres Helden und bewirkte, daß die Wage sich wieder zugunsten seines schändlichen Todfeindes neigte.

»Das ist unser russischer Faublas, meine Herren; gestatten Sie, daß ich Ihnen den jungen Faublas vorstelle,« quiekte Herr Goljadkin der jüngere, während er mit der ihm eigenen Frechheit zwischen den Beamten geschäftig umhertrippelte und auf den ganz starr gewordenen echten Herrn Goljadkin hinwies. »Küssen wir uns, mein Herzchen,« fuhr er mit unerträglicher Familiarität fort, indem er sich dem so verräterisch von ihm Beleidigten näherte. Das Späßchen des schändlichen Herrn Goljadkin des jüngeren schien da, wo es wirken sollte, Anklang zu finden, um so mehr, da darin eine tückische Anspielung auf einen Umstand lag, der anscheinend allen bereits bekannt war. Unser Held fühlte, daß die Hand seiner Feinde schwer auf seinen Schultern lastete. Übrigens hatte er seinen Entschluß bereits gefaßt. Mit flammendem Blicke, mit bleichem Gesichte und mit einem starren Lächeln arbeitete er sich mühsam aus dem Haufen heraus und schlug mit schnellen, ungleichmäßigen Schritten geradeswegs die Richtung nach dem Arbeitszimmer Seiner Exzellenz ein. In dem vorletzten Zimmer traf er mit Andrei Filippowitsch zusammen, der soeben von Seiner Exzellenz kam, und obgleich sich in diesem Zimmer eine Menge verschiedenartiger Personen befanden, die zu Herrn Goljadkin im gegenwärtigen Augenblicke gar keine Beziehungen hatten, so beachtete unser Held doch diesen Umstand nicht im geringsten. Ohne Umschweife, entschlossen und kühn, beinahe über sich selbst verwundert und sich innerlich wegen seiner Kühnheit lobend, fiel er ohne Zeitverlust über Andrei Filippowitsch her, der über diesen plötzlichen Anfall nicht wenig erstaunt war.

»Ah!… Was wünschen Sie? … Was ist Ihnen gefällig?« fragte der Abteilungschef, ohne auf Herrn Goljadkins stockend vorgebrachte Anrede zu hören.

»Andrei Filippowitsch, ich … könnte ich wohl jetzt gleich mit Seiner Exzellenz ein Gespräch unter vier Augen haben, Andrei Filippowitsch?« sagte unser Held nunmehr klar und deutlich und richtete einen sehr entschlossenen Blick auf Andrei Filippowitsch.

»Was? Das geht natürlich nicht.« Andrei Filippowitsch maß mit seinem Blicke Herrn Goljadkin vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ich sage nämlich das alles deswegen, Andrei Filippowitsch, weil ich mich darüber wundere, daß hier niemand diesen Usurpator eines fremden Namens, diesen Schurken entlarvt.«

»Wa–a–as?«

»Diesen Schurken, Andrei Filippowitsch.«

»Wen belieben Sie denn mit diesem Titel zu bezeichnen?«

»Ich meine eine gewisse Person, Andrei Filippowitsch. Ich ziele damit auf eine gewisse Person, Andrei Filippowitsch; ich bin im Rechte … Ich meine, Andrei Filippowitsch, die vorgesetzte Behörde sollte derartige Bestrebungen ermuntern,« fügte Herr Goljadkin, der offenbar von sich selbst nichts mehr wußte, hinzu. »Andrei Filippowitsch … aber Sie sehen wahrscheinlich selbst, Andrei Filippowitsch, daß dies eine wohlanständige Bestrebung ist, und daß sich darin meine in verschiedener Hinsicht löbliche Absicht bekundet, den Chef als meinen Vater zu betrachten, Andrei Filippowitsch … ich betrachte die edeldenkende vorgesetzte Behörde als meinen Vater und vertraue ihr blind mein Schicksal an. So und so … Sie sehen, wie …« Hier begann Herrn Goljadkins Stimme zu zittern, sein Gesicht rötete sich, und zwei Tränen traten auf seine Wimpern.

Als Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin so reden hörte, erstaunte er dermaßen, daß er unwillkürlich ein paar Schritte zurücktrat. Dann blickte er unruhig um sich … Es ist schwer zu sagen, wie die Sache geendet hätte … Aber plötzlich öffnete sich die Tür, die zum Arbeitszimmer des Chefs führte, und dieser selbst kam in Begleitung mehrerer Beamten heraus. Alle, die im Zimmer waren, schlossen sich an und gingen hinter ihm her. Seine Exzellenz rief Andrei Filippowitsch heran, ließ ihn neben sich gehen und unterredete sich mit ihm über irgendwelche Gegenstände. Als sich alle in Bewegung gesetzt und das Zimmer verlassen hatten, kam auch Herr Goljadkin wieder zur Besinnung. Demütig suchte er Schutz unter den Fittichen seines Tischvorstehers Anton Antonowitsch Sjetotschkin, der hinter allen herschlich und, wie es Herrn Goljadkin schien, eine sehr ernste, sorgenvolle Miene machte. »Auch hier habe ich töricht geredet; auch hier habe ich meiner Sache geschadet,« dachte er bei sich; »nun aber, es macht nichts.« Dann sagte er zu dem Tischvorsteher leise mit einer Stimme, die vor Aufregung noch ein wenig zitterte: »Ich hoffe, daß wenigstens Sie, Anton Antonowitsch, sich werden bereitfinden lassen, mir Gehör zu schenken und von meiner Lage Kenntnis zu nehmen. Von allen zurückgewiesen, wende ich mich an Sie. Ich bin bis jetzt noch im unklaren darüber, was Andrei Filippowitschs Worte bedeuteten, Anton Antonowitsch. Erklären Sie sie mir, wenn es möglich ist …«

»Es wird alles zur rechten Zeit klar werden,« erwiderte Anton Antonowitsch nach einer Pause in ernstem Tone und, wie es Herrn Goljadkin schien, mit einer Miene, die deutlich zu verstehen gab, daß Anton Antonowitsch überhaupt nicht wünschte, das Gespräch fortzusetzen. »Sie werden in kurzer Zeit alles erfahren. Noch heute werden Sie formell von allem unterrichtet werden.«

»Was meinen Sie denn mit ›formell‹, Anton Antonowitsch? Warum denn gerade formell?« fragte unser Held schüchtern.

»Es steht uns beiden nicht zu, über das zu urteilen, Jakow Petrowitsch, was die Behörde für gut findet.«

»Warum denn die Behörde, Anton Antonowitsch?« fragte Herr Goljadkin, der noch zaghafter geworden war, »warum denn die Behörde? Ich sehe keine Ursache, weshalb die Behörde damit belästigt werden sollte, Anton Antonowitsch … Sie wollen mir vielleicht etwas über das gestrige Vorkommnis sagen, Anton Antonowitsch?«

»Nein, um das gestrige Vorkommnis handelt es sich nicht; aber es ist sonst noch dies und das bei Ihnen nicht in Ordnung.« »Was ist denn bei mir nicht in Ordnung, Anton Antonowitsch? Mir scheint, Anton Antonowitsch, daß bei mir alles in Ordnung ist.«

»Aber warum wollten Sie denn schlaue Pfiffe und Kniffe zur Anwendung bringen?« unterbrach Anton Antonowitsch scharf den ganz bestürzten Herrn Goljadkin. Dieser fuhr zusammen und wurde bleich wie Leinewand.

»Freilich, Anton Antonowitsch,« sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme, »wenn man die Stimme der Verleumdung beachtet und auf unsere Feinde hört, ohne eine Rechtfertigung von der anderen Seite anzunehmen, dann muß unsereiner leiden, Anton Antonowitsch, schuldlos, und ohne etwas begangen zu haben, leiden.«

»Hm, hm; und Ihr unwürdiges Benehmen, durch das Sie dem Rufe eines anständigen Mädchens, der Tochter jener wohlbekannten, humanen, hochgeachteten Familie, geschadet haben, einer Familie, die Ihnen so viel Gutes erwiesen hatte?«

»Was meinen Sie denn für ein Benehmen, Anton Antonowitsch?«

»Hm, hm. Und da ist dann noch ein anderes Mädchen, das zwar arm, aber von ehrenhafter, ausländischer Herkunft ist; an Ihr löbliches Verhalten diesem Mädchen gegenüber erinnern Sie sich wohl auch nicht?«

»Gestatten Sie, Anton Antonowitsch … haben Sie die Güte, mich anzuhören, Anton Antonowitsch …«

»Und Ihr treuloses Benehmen einer andern Person gegenüber, die Sie verleumdet und eines Vergehens bezichtigt haben, das Sie sich selbst haben zuschulden kommen lassen? Nun, wie nennt man das?«

»Anton Antonowitsch, ich habe ihn nicht aus dem Hause getrieben,« erwiderte unser Held zitternd, »und habe auch Petruschka, meinem Diener, keine derartige Instruktion gegeben … Er hat von meinem Tische gegessen, Anton Antonowitsch; er hat meine Gastfreundschaft genossen,« fügte unser Held ausdrucksvoll und mit tiefem Gefühl hinzu, so daß sein Kinn ein wenig zu hüpfen begann und ihm die Tränen wieder in die Augen kamen.

»Das reden Sie nur so hin, Jakow Petrowitsch, daß er von Ihrem Tische gegessen habe,« antwortete Anton Antonowitsch, den Mund zum Lächeln verziehend, und seinem Tone war eine gewisse Verschmitztheit anzuhören, so daß es Herrn Goljadkin war, als würde ihm ein Stich ins Herz versetzt.

»Gestatten Sie mir, Sie noch ganz bescheiden zu fragen, Anton Antonowitsch: ist denn all dies Seiner Exzellenz bekannt?«

»Aber natürlich! Lassen Sie mich aber jetzt in Ruhe; ich habe jetzt für Sie keine Zeit mehr … Noch heute werden Sie alles erfahren, was Sie zu wissen brauchen.«

»Erlauben Sie noch einen Augenblick, um Gottes willen, Anton Antonowitsch …«

»Sie können es mir ein andermal erzählen …«

»Nein, Anton Antonowitsch: ich bin, sehen Sie, hören Sie nur, Anton Antonowitsch … Ich bin durchaus nicht für die Freigeisterei, Anton Antonowitsch; ich lehne die Freigeisterei ab; ich bin meinerseits völlig bereit … und es ist mir sogar der Gedanke gekommen …«

»Schon gut, schon gut. Ich habe das schon einmal gehört …«

»Nein, das haben Sie noch nicht gehört, Anton Antonowitsch. Das ist etwas anderes, Anton Antonowitsch; das ist etwas Gutes, wirklich etwas Gutes und angenehm zu hören … Es ist mir, wie ich schon gesagt habe, der Gedanke gekommen, Anton Antonowitsch, daß da die göttliche Vorsehung zwei ganz ähnliche Menschen geschaffen und die edeldenkende Behörde im Hinblick auf diese Tat der göttlichen Vorsehung den beiden Zwillingen Obdach gewährt hat. Das ist ein guter Gedanke, Anton Antonowitsch. Sie sehen, daß das ein sehr guter Gedanke ist, Anton Antonowitsch, und daß ich fern von aller Freigeisterei bin. Ich betrachte die edeldenkende Behörde als meinen Vater. Jawohl, die edeldenkende Behörde und Sie, hm… Ein junger Mensch muß ein Amt haben … Unterstützen Sie mich, Anton Antonowitsch … treten Sie für mich ein, Anton Antonowitsch … Ich will weiter nichts … Anton Antonowitsch, um Gottes willen, nur noch ein Wörtchen … Anton Antonowitsch …«

Aber Anton Antonowitsch war schon weit von Herrn Goljadkin entfernt … Unser Held wußte nicht, wo er stand, was er hörte, was er tat, was mit ihm geschah, und was mit ihm noch geschehen werde, so hatte ihn alles, was er gehört und erlebt hatte, verwirrt und erschüttert.

Mit stehenden Blicken suchte er unter der Schar der Beamten nach Anton Antonowitsch, um sich noch weiter vor ihm zu rechtfertigen und ihm etwas sehr Schönes von sich selbst zu sagen: was für ein wohlgesinnter und anständiger Mensch er sei… Indessen begann allmählich ein neues Licht durch Herrn Goljadkins Verwirrung hindurchzudringen, ein neues, schreckliches Licht, das ihm plötzlich mit einem Schlage eine ganze lange Reihe völlig unbekannter und sogar nicht einmal geahnter Umstände erhellte … In diesem Augenblicke stieß jemand unseren ganz fassungslosen Helden in die Seite. Er blickte sich um. Vor ihm stand Pisarenko.

»Ein Brief, Euer Wohlgeboren!«

»Ah! … Du bist schon dagewesen, mein Lieber?«

»Nein, dieser ist schon heute morgen um zehn hergebracht. Der Kanzleidiener Sergej Michejew hat ihn von der Wohnung des Gouvernementssekretärs Wachramejew hergebracht.«

»Schön, mein Freund, schön; ich danke dir, mein Lieber.«

Nachdem Herr Goljadkin dies gesagt hatte, steckte er den Brief in die Seitentasche seines Uniformrocks und knöpfte diesen bis oben hinauf zu; dann blickte er um sich und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er sich schon im Hausflur des Amtsgebäudes befand, mitten in einem Schwarm von Beamten, die sich zum Ausgang drängten, da die Bureaustunden zu Ende waren. Herr Goljadkin hatte diesen letzteren Umstand bisher nicht bemerkt, ja er hatte nicht einmal bemerkt und erinnerte sich nicht, auf welche Weise er sich auf einmal in Mantel und Überschuhen befand und seinen Hut in der Hand hielt. Alle Beamten standen regungslos und in respektvoller Erwartung. Die Sache war die, daß Seine Exzellenz am Fuße der Treppe stehen geblieben war, auf seinen Wagen wartete, der sich aus irgendwelcher Ursache verspätete, und ein sehr interessantes Gespräch mit zwei Räten und mit Andrei Filippowitsch führte. Ein wenig entfernt von den beiden Räten und Andrei Filippowitsch stand Anton Antonowitsch Sjetotschkin und einige andere Beamten, die sehr beflissen lächelten, da sie sahen, daß Seine Exzellenz zu scherzen und zu lachen beliebte. Diejenigen Beamten, die sich am oberen Ende der Treppe zusammendrängten, lächelten ebenfalls und warteten darauf, daß Seine Exzellenz von neuem lachen werde. Nur der dickbäuchige Portier Fedosjeitsch lächelte nicht; er hatte den Türgriff gefaßt, stand hochaufgerichtet da und wartete ungeduldig auf seine tägliche Portion Vergnügen, die darin bestand, daß er auf einmal, mit einem einzigen Schwunge des Arms, den einen Türflügel weit zurückschlug und dann, zu einem Bogen zusammengekrümmt, respektvoll Seine Exzellenz an sich vorbeipassieren ließ. Aber die größte Freude und das größte Vergnügen von allen schien Herrn Goljadkins unwürdiger und unedler Feind zu empfinden. Er vergaß in diesem Augenblicke sogar alle Beamten und unterließ es, nach seiner nichtswürdigen Gewohnheit geschäftig unter ihnen umherzutrippeln und, die Gelegenheit benutzend, sich bei diesem und jenem beliebt zu machen. Er war ganz Auge und Ohr, krümmte sich in einer eigentümlichen Weise zusammen, wahrscheinlich um besser zu hören, und verwandte kein Auge von Seiner Exzellenz; nur bisweilen bewegten sich seine Hände, seine Füße und sein Kopf in leisen, kaum bemerkbaren Zuckungen, die die innerliche, verborgene Aufregung seiner Seele verrieten.

»Er ist ordentlich wie berauscht!« dachte unser Held; »er sieht aus wie ein Günstling, der Schurke! Ich möchte nur wissen, wodurch er eigentlich so viele hochgestellte Personen für sich einnimmt. Er besitzt weder Verstand, noch Charakter, noch Bildung, noch Gefühl; er hat eben Glück, der Racker! Herr du mein Gott! Wenn man das so bedenkt, wie schnell kann ein Mensch vorwärts kommen und sich mit allen Leuten befreunden! Und er wird vorwärts kommen, dieser Mensch; ich möchte darauf schwören, daß er es weit bringen wird, der Racker, daß er viel erreichen wird; er hat Glück, der Racker! Auch das möchte ich gern wissen, was er ihnen allen eigentlich zuzuflüstern pflegt. Was hat er nur mit all diesem Volke für Geheimnisse, und von was für geheimen Dingen reden sie miteinander? Herr du mein Gott! Ich sollte auch so, hm … und mit ihnen auch ein bißchen … so und so … ich sollte ihn vielleicht bitten … ›So und so, und ich werde es nicht wieder tun. Ich trage die Schuld, und ein junger Mensch muß in unserer Zeit ein Amt haben, Exzellenz; über meine unklare Lage rege ich mich durchaus nicht auf‹, so müßte ich reden! Irgendwie dort Einspruch erheben, das werde ich auch nicht tun; alles werde ich mit Geduld und Demut ertragen; so müßte ich es machen! Soll ich so vorgehen? Ja, übrigens kommt man mit Worten dem Racker nicht bei und kriegt ihn nicht unter; Vernunft kann man ihm in seinen leichtfertigen Kopf nicht hineinhämmern … Aber ich will es versuchen. Wenn ich eine günstige Stunde abpassen kann, will ich es versuchen …«

In seiner Unruhe, seiner Angst und Verwirrung fühlte unser Held, daß es so nicht bleiben könne, daß der entscheidende Augenblick herannahe, daß er sich mit irgend jemand aussprechen müsse, und so begann er denn sich allmählich nach der Stelle hin zu bewegen, wo sein unwürdiger, rätselhafter Freund stand. Aber gerade in diesem Augenblicke fuhr die langerwartete Equipage Seiner Exzellenz am Portal vor. Fedosjeitsch riß die Tür auf und ließ, sich bogenförmig zusammenkrümmend, Seine Exzellenz an sich vorbei. Alle Wartenden strömten mit einem Male zum Ausgang hin und drängten für einen Augenblick Herrn Goljadkin den älteren von Herrn Goljadkin dem jüngeren ab. »Du entgehst mir nicht!« sagte unser Held, sich durch die Menge schiebend und den Betreffenden nicht aus den Augen lassend. Endlich zerstreute sich die Menge. Unser Held fühlte sich wieder im Freien und machte sich schleunigst an die Verfolgung seines Feindes.

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11. Kapitel

11. Kapitel

Keuchend flog Herr Goljadkin hinter seinem sich schnell entfernenden Feinde her. Er fühlte in sich eine gewaltige Energie. Übrigens konnte Herr Goljadkin trotz des Vorhandenseins dieser gewaltigen Energie ganz sicher sein, daß in diesem Augenblicke sogar eine gewöhnliche Mücke, wenn eine solche in dieser Jahreszeit in Petersburg hätte leben können, durchaus imstande sein würde, ihn mit ihren Flügeln niederzuschlagen. Er fühlte, daß er ganz matt und kraftlos wurde, daß die Beine unter ihm einknickten und den Dienst versagten; es kam ihm vor, als ob er überhaupt nicht selbst gehe, sondern von einer besonderen, fremden Kraft vorwärtsgetragen werde. Indessen konnte sich das alles noch gut gestalten. »Ob es sich nun gut gestaltet oder nicht,« dachte Herr Goljadkin, atemlos von dem schnellen Laufen, »daran, daß die Sache verloren ist, besteht jetzt auch nicht der leiseste Zweifel; daß ich völlig verloren bin, das ist sicher, bestimmt, unterschrieben und besiegelt.« Aber trotzdem war unserm Helden zumute, wie wenn er von den Toten erstanden wäre oder eine Schlacht durchgekämpft und den Sieg errungen hätte, als es ihm gelang, seinen Feind am Mantel festzuhalten in dem Augenblicke, wo dieser schon den einen Fuß auf eine Droschke setzte, die er soeben genommen hatte. »Mein Herr, mein Herr!« rief er dem endlich eingeholten unedlen Herrn Goljadkin dem jüngeren zu. »Mein Herr, ich hoffe, daß Sie …«

»Nein, bitte, hoffen Sie nichts!« antwortete Herrn Goljadkins gefühlloser Feind ablehnend; er stand mit dem einen Beine auf einer Trittstufe der Droschke und strebte aus Leibeskräften danach, mit dem andern Beine auf die zweite Stufe zu gelangen, wobei er mit ihm vergeblich in der Luft herumarbeitete und sich aus aller Kraft bemühte, Herrn Goljadkin dem älteren seinen Mantel aus den Händen zu reißen, den dieser seinerseits mit aller Kraft, die ihm die Natur verliehen hatte, festhielt.

»Jakow Petrowitsch! Nur zehn Minuten …«

»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit.«

»Sie müssen selbst zugeben, Jakow Petrowitsch … bitte, Jakow Petrowitsch … um Gottes willen, Jakow Petrowitsch … ich muß mich notwendigerweise mit Ihnen aussprechen … offen und ehrlich … Nur eine Sekunde, Jakow Petrowitsch!«

»Mein Täubchen, ich habe keine Zeit,« versetzte Herrn Goljadkins heuchlerischer Feind mit unhöflicher Vertraulichkeit, aber mit scheinbarer Gutherzigkeit; »ein andermal will ich mich gern mit Ihnen aus tiefster Seele offen und ehrlich aussprechen, glauben Sie mir; aber jetzt ist es mir wirklich unmöglich.«

»Du Schurke!« dachte unser Held. »Jakow Petrowitsch!« rief er voll Kummer, »ich bin nie Ihr Feind gewesen. Böse Menschen haben eine falsche Schilderung von mir gemacht … Meinerseits bin ich bereit … Jakow Petrowitsch, wenn es Ihnen gefällig ist, so könnten wir beide sogleich hier hineingehen … Und da könnten wir offen und ehrlich, wie Sie soeben so schön sagten, und in einfacher, edler Sprache … hier in dieses Kaffeehaus; dann wird sich alles von selbst aufklären; sehen Sie wohl, Jakow Petrowitsch! Dann wird sich unfehlbar alles von selbst aufklären …«

»In das Kaffeehaus? Nun schön! Ich habe nichts dagegen; gehen wir in das Kaffeehaus; aber nur unter der Bedingung, mein Teuerster, unter der einzigen Bedingung, daß sich dort alles von selbst aufklärt. Na ja, mein Herzchen,« sagte Herr Goljadkin der jüngere, während er von der Droschke wieder herunterstieg und unserm Helden in unverschämter Manier auf die Schulter klopfte, »Sie sind mir ein so lieber Freund; für Sie, Jakow Petrowitsch, bin ich bereit, auch in eine Seitengasse zu gehen (wie Sie einmal sehr richtig bemerkten, Jakow Petrowitsch). Sie sind doch wirklich ein schlauer Mensch; was er will, dazu bringt er einen auch!« fuhr Herrn Goljadkins lügnerischer Freund fort, indem er, leise lächelnd, sich um ihn herumdrehte und um ihn herumscherwenzelte. Das von den großen Straßen entfernt gelegene Kaffeehaus, in welches die beiden Herren Goljadkin eintraten, war in diesem Augenblicke ganz leer. Eine ziemlich dicke Deutsche erschien am Büfett, sobald der Ton der Türklingel sich vernehmen ließ. Herr Goljadkin und sein unwürdiger Feind gingen hindurch in ein zweites Zimmer, wo ein aufgedunsener, über den Kamm geschorener Junge sich am Ofen mit einem Bündel Späne abmühte, das ausgegangene Feuer wieder anzuzünden. Auf Herrn Goljadkins des jüngeren Verlangen wurde Schokolade gebracht.

»Ein schön fleischiges Frauchen!« sagte Herr Goljadkin der jüngere und blinzelte Herrn Goljadkin dem älteren schlau zu.

Unser Held errötete und schwieg.

»Ach ja, ich hatte vergessen; entschuldigen Sie! Ich kenne ja Ihren Geschmack. Wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, mein Herr; ja, ja, Sie redliche Seele, Jakow Petrowitsch, wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, wenn sie nur sonst nicht der Reize bar sind; wir mieten uns bei ihnen ein, verderben ihre Moralität, weihen ihnen zum Dank für ihre Bier- und Milchsuppen unser Herz und geben ihnen allerlei Unterschriften – so machen wir’s, Sie Faublas, Sie Verräter!« Mit diesen Reden machte Herr Goljadkin der jüngere eine ganz unnötige, aber boshaft schlaue Anspielung auf eine gewisse Person weiblichen Geschlechts; dabei benahm er sich sehr betulich gegen Herrn Goljadkin, lächelte ihm mit anscheinender Liebenswürdigkeit zu und kehrte heuchlerisch eine schöne Treuherzigkeit und eine lebhafte Freude über das Zusammensein mit ihm heraus. Als er jedoch merkte, daß Herr Goljadkin der ältere durchaus nicht so dumm und ungebildet und guter Manieren unkundig war, daß er ihm ohne weiteres getraut hätte, da beschloß der unedle Mensch seine Taktik zu ändern und sich eines offenen Verfahrens zu bedienen. Sogleich nachdem er jene abscheulichen Reden geführt hatte, schloß der falsche Herr Goljadkin damit, daß er mit empörender Schamlosigkeit und Familiarität dem gesetzten Herrn Goljadkin auf die Schulter klopfte und, damit nicht zufrieden, in einer Weise, die in guter Gesellschaft als ganz unanständig gilt, mit ihm sein Spiel zu treiben begann. Er beabsichtigte nämlich, seine frühere Ungezogenheit zu wiederholen, d. h. er kniff trotz des Widerstandes und leichten Aufschreiens des empörten älteren Herrn Goljadkin diesen in die Backe. Bei diesem abscheulichen Benehmen kochte unser Held innerlich; aber er schwieg … wenigstens zunächst.

»So reden meine Feinde,« antwortete er endlich, sich verständigerweise beherrschend, mit zitternder Stimme. Gleichzeitig sah sich unser Held unruhig nach der Tür um. Denn Herr Goljadkin der jüngere war anscheinend vorzüglicher Laune und zu allerlei Späßchen aufgelegt, die an einem öffentlichen Orte unerlaubt und überhaupt nach den Gesetzen des Umgangs, namentlich in den Kreisen der besseren Gesellschaft, nicht gestattet sind.

»Nun, dann also, wie Sie wollen,« erwiderte Herr Goljadkin der jüngere ernsthaft auf die Bemerkung des älteren Herrn Goljadkin und stellte seine geleerte Tasse, die er mit unanständiger Gier ausgetrunken hatte, auf den Tisch. »Nun, wir beide sind schon lange nicht mehr zusammen gewesen. Also wie geht es Ihnen denn jetzt, Jakow Petrowitsch?«

»Ich kann Ihnen nur eins sagen, Jakow Petrowitsch,« erwiderte unser Held kaltblütig und mit Würde, »ich bin niemals Ihr Feind gewesen.«

»Hm … Nun, und Petruschka? Wie hieß er doch? Doch wohl Petruschka? Ja, ja! Also wie geht es ihm? Gut? Wie früher?«

»Auch dem geht es wie früher, Jakow Petrowitsch,« antwortete Herr Goljadkin der ältere etwas befremdet. »Ich weiß nicht, Jakow Petrowitsch … von meiner Seite… ich als anständig denkender, aufrichtiger Mensch, Jakow Petrowitsch … Sie müssen selbst zugeben, Jakow Petrowitsch …«

»Ja. Aber Sie wissen selbst, Jakow Petrowitsch,« versetzte Herr Goljadkin der jüngere leise und in wehmütigem Tone, indem er sich dadurch lügnerischerweise als einen betrübten, von Reue und Bedauern erfüllten würdigen Menschen darstellte, »Sie wissen selbst, die Zeit, in der wir leben, ist eine schwere Zeit… Ich berufe mich auf Sie selbst, Jakow Petrowitsch; Sie sind ein verständiger Mensch und haben ein gerechtes Urteil,« schloß Herr Goljadkin der jüngere mit einer gemeinen Schmeichelei gegen Herrn Goljadkin den älteren. »Das Leben ist kein Spiel; das wissen Sie selbst, Jakow Petrowitsch,« fügte Herr Goljadkin der jüngere noch vielsagend hinzu und stellte sich auf diese Weise als einen klugen, gebildeten Menschen hin, der über hohe Gegenstände philosophieren könne.

»Ich meinerseits, Jakow Petrowitsch,« antwortete unser Held begeistert, »ich meinerseits verachte Schleichwege und spreche kühn und offen; ich bediene mich einer ungeschminkten, wohlanständigen Redeweise und nehme in jeder Sache einen hohen Standpunkt ein; und ich sage Ihnen und kann es Ihnen offen und ehrlich versichern, Jakow Petrowitsch, daß mein Gewissen völlig rein ist, und daß, wie Sie selbst wissen, Jakow Petrowitsch, nur eine beiderseitige Verirrung (es ist ja alles möglich), das Urteil der Welt, die Meinung der sklavischen Menge … Ich spreche offen, Jakow Petrowitsch; es ist ja alles möglich. Und ich möchte auch noch dies sagen, Jakow Petrowitsch: wenn man in dieser Weise urteilt, wenn man die Sache von einem edlen, hohen Gesichtspunkte aus betrachtet, dann sage ich kühn, ohne falsche Scham sage ich es, Jakow Petrowitsch, es wird mir sogar angenehm sein zu bekennen, daß ich auf Irrwege geraten bin; es wird mir sogar angenehm sein, dies einzugestehen. Sie werden das selbst wissen; Sie sind ein kluger und überdies ein edeldenkender Mensch. Ohne Scham, ohne falsche Scham bin ich bereit, dies einzugestehen … in würdiger, edler Gesinnung,« schloß unser Held.

»Das ist nun einmal so Schicksal, Verhängnis, Jakow Petrowitsch … aber lassen wir das alles beiseite,« versetzte Herr Goljadkin der jüngere mit einem Seufzer. »Lassen Sie uns die wenigen Minuten unseres Zusammenseins lieber zu einem nützlicheren und angenehmeren Gespräche gebrauchen, wie sich das unter zwei Kollegen schickt… Es ist mir sonderbarerweise diese ganze Zeit über nicht gelungen, ein paar Worte mit Ihnen zu reden … Ich bin daran nicht schuld, Jakow Petrowitsch …«

»Ich auch nicht,« unterbrach ihn unser Held mit Wärme, »ich auch nicht! Mein Herz sagt mir, Jakow Petrowitsch, daß ich an alledem nicht schuld bin. Lassen Sie uns die ganze Schuld daran dem Schicksal beimessen, Jakow Petrowitsch!« fügte Herr Goljadkin der ältere in ganz versöhnlichem Tone hinzu. Seine Stimme begann allmählich matt zu werden und zu zittern.

»Nun also, wie steht es denn überhaupt mit Ihrer Gesundheit?« fragte der auf Irrwegen befindlich Gewesene in freundlichem Tone.

»Ich huste ein wenig,« antwortete unser Held noch freundlicher.

»Nehmen Sie sich in acht! Es ist jetzt immer eine solche Witterung, daß man sich nicht wundern kann, wenn man sich eine Halsentzündung holt; ich muß Ihnen bekennen, daß auch ich schon angefangen habe, flanellne Unterkleidung zu tragen.«

»In der Tat, Jakow Petrowitsch, man kann sich nicht wundern, wenn man sich eine Halsentzündung holt… Jakow Petrowitsch!« sagte unser Held nach einem kurzen Stillschweigen. »Ich sehe, Jakow Petrowitsch, daß ich mich geirrt habe… Ich gedenke mit Vergnügen jener glücklichen Stunden, die wir unter meinem armen, aber, wie ich zu sagen wage, gastfreundlichen Dache zusammen verleben durften…«

»In Ihrem Briefe haben Sie übrigens etwas anderes geschrieben,« bemerkte einigermaßen vorwurfsvoll der völlig wahrheitsliebende (allerdings nur in diesem einen Punkte völlig wahrheitsliebende) Herr Goljadkin der jüngere.

»Jakow Petrowitsch! Ich habe mich geirrt… Ich erkenne jetzt klar, daß ich mich auch in diesem meinem unglücklichen Briefe geirrt habe. Jakow Petrowitsch, ich schäme mich, Sie anzusehen, Jakow Petrowitsch, Sie glauben es gar nicht … Geben Sie mir diesen Brief zurück, damit ich ihn vor Ihren Augen zerreiße, Jakow Petrowitsch; oder wenn das nicht mehr möglich ist, bitte ich Sie inständigst, ihn umgekehrt aufzufassen, ganz umgekehrt, d. h. absichtlich in freundschaftlicher Weise, indem Sie allen Worten meines Briefes den entgegengesetzten Sinn beilegen. Ich habe mich geirrt. Verzeihen Sie mir, Jakow Petrowitsch; ich habe mich völlig … ich habe mich traurig geirrt, Jakow Petrowitsch.«

»Was sagten Sie?« fragte ziemlich zerstreut und gleichgültig Herrn Goljadkins des älteren treuloser Freund.

»Ich sagte, daß ich mich völlig geirrt habe, Jakow Petrowitsch, und daß ich meinerseits ganz ohne falsche Scham …«

»Ach, nun schön! Das ist ja sehr schön, daß Sie sich geirrt haben,« antwortete Herr Goljadkin der jüngere in grobem Tone.

»Ich habe sogar schon gedacht, Jakow Petrowitsch,« fügte edelmütig unser offenherziger Held hinzu, der die schreckliche Treulosigkeit seines falschen Freundes gar nicht bemerkte, »ich habe schon gedacht, daß zwei ganz ähnliche Wesen erschaffen worden sind …

»Ah, das haben Sie gedacht!…«

Hier stand der durch seine Nichtswürdigkeit bekannte Herr Goljadkin der jüngere auf und griff nach seinem Hute. Auch Herr Goljadkin der ältere, der die Tücke immer noch nicht merkte, erhob sich, lächelte seinem falschen Freunde gutherzig und edelmütig zu und bemühte sich in seiner Unschuld, freundlich gegen ihn zu sein, ihn zu ermutigen und auf diese Weise von neuem mit ihm Freundschaft zu schließen…

»Leben Sie wohl, Exzellenz!« rief auf einmal Herr Goljadkin der jüngere. Unser Held fuhr zusammen, bemerkte in dem Gesichte seines Feindes den spöttischen Zug und schob, lediglich um von ihm loszukommen, in die ihm hingestreckte Hand des Verworfenen zwei Finger der seinigen hinein; aber nun … nun überstieg die Unverschämtheit Herrn Goljadkins des jüngeren alles Maß. Nachdem er die beiden Finger des älteren Herrn Goljadkin ergriffen und zunächst gedrückt hatte, erlaubte sich der Unwürdige, unmittelbar vor den Augen des älteren Herrn Goljadkin seinen schamlosen Scherz vom Vormittag zu wiederholen. Das Maß der menschlichen Geduld war erschöpft…

Er hatte das Taschentuch, mit dem er sich die Finger abgewischt hatte, bereits wieder in die Tasche gesteckt, als Herr Goljadkin der ältere endlich zur Besinnung kam und ihm in das anstoßende Zimmer nachstürzte, wohin sein unversöhnlicher Feind nach seiner häßlichen Gewohnheit schleunigst geflüchtet war. Als ob nicht das geringste geschehen wäre, stand er am Büfett, aß Pastetchen und sagte wie der tugendhafteste Mensch der deutschen und ermöglichte es trotz dieses Aufenthaltes doch, obgleich wieder nur mit größter Eile, seinen Feind zu erreichen. Indem er sich mit aller Kraft, die ihm die Natur gegeben hatte, an den Schmutzflügel der Droschke anklammerte, lief unser Held eine Weile auf der Straße mit und suchte dabei auf den Wagen heraufzuklettern, den der jüngere Herr Goljadkin aus aller Kraft wie eine Festung verteidigte. Unterdes trieb der Kutscher mit der Peitsche, den Zügeln, dem Fuße und mit Zurufen seinen steifbeinigen Klepper an, der ganz unerwartet in Galopp fiel, wobei er auf das Mundstück biß und nach seiner schlechten Gewohnheit bei jedem dritten Schritte mit den Hinterbeinen ausschlug. Endlich gelang es unserem Helden, sich auf die Droschke hinaufzuschwingen, das Gesicht seinem Feinde zugewandt, mit dem Rücken gegen den Kutscher gestemmt, Knie an Knie mit dem Schamlosen; mit der rechten Hand hielt er den schäbigen Pelzkragen an dem Mantel seines verworfenen, erbitterten Feindes fest gepackt.

So fuhren die beiden Feinde eine Weile schweigend dahin. Unser Held konnte kaum Luft bekommen; der Weg war sehr schlecht, und er hüpfte bei jedem Schritte in die Höhe, in Gefahr, den Hals zu brechen. Überdies wollte sein erbitterter Feind sich immer noch nicht überwunden geben, sondern bemühte sich, seinen Gegner in den Schmutz hinunterzustoßen. Um das Maß der Unannehmlichkeiten voll zu machen, war ein greuliches Wetter. Der Schnee fiel in dichten Flocken und versuchte auf jede Weise unter den offenstehenden Mantel des wirklichen Herrn Goljadkin zu dringen. Ringsherum war es so dunkel, auf den Kellner zu hören, der herantrat, um seine Bestellung entgegenzunehmen, erbrach er das Siegel und begann den untenstehenden Brief zu lesen, der ihn in das allerhöchste Erstaunen versetzte:

»Edler, für mich leidender, meinem Herzen lebenslänglich teurer Mann!

»Ich leide, ich gehe zugrunde, – rette mich! Jener verleumderische, intrigante und durch seine nichtswürdige Denkweise bekannte Mensch hat mich mit seinen Netzen umstrickt und zugrunde gerichtet! Ich bin gefallen! Aber er ist mir zuwider, während Du … Man hat uns getrennt, meine Briefe an Dich abgefangen, – und all das hat der sittenlose Mensch getan, indem er seine einzige gute Eigenschaft ausnutzte, die Ähnlichkeit mit Dir. Jedenfalls kann man ein häßliches Äußeres besitzen und doch durch Geist, starke Empfindung und angenehme Manieren fesseln … Ich gehe zugrunde! Man wird mich gewaltsam verheiraten, und am allermeisten intrigiert hier mein Vater und Wohltäter, der Staatsrat Olsufi Iwanowitsch, wahrscheinlich in der Absicht, meinen Platz in der vornehmen Gesellschaft einzunehmen und sich meiner Konnexionen zu bedienen … Aber ich habe meinen Entschluß gefaßt und sträube mich mit allen Mitteln, die mir die Natur verliehen hat. Erwarte mich mit Deinem Wagen heute Punkt neun Uhr vor den Fenstern von Olsufi Iwanowitschs Wohnung. Bei uns ist heute Ball, und der schöne Leutnant wird da sein. Ich werde herauskommen, und wir werden fliehen. Es gibt ja auch noch andere Stellen im Staatsdienst, wo man dem Vaterlande Nutzen bringen kann. In jedem Falle denke daran, mein Freund, daß die Unschuld schon durch ihre Unschuld stark ist. Lebewohl! Erwarte mich mit dem Wagen vor der Haustür! Pünktlich um zwei Uhr nachts werde ich mich in den Schutz Deiner Umarmung flüchten.

»Dein bis zum Grabe!

Klara Olsufjewna.«

Nachdem unser Held den Brief gelesen hatte, war er einige Minuten lang wie betäubt. In furchtbarer Pein, in schrecklicher Aufregung, bleich wie Leinewand, ging er mit dem Briefe in der Hand mehrmals im Zimmer auf und ab; um die Mißlichkeit seiner Lage voll zu machen, bemerkte unser Held nicht, daß er in diesem Augenblicke der Gegenstand ausschließlicher Aufmerksamkeit aller im Zimmer Anwesenden war. Seine unordentliche Kleidung, die Aufregung, die er nicht zu unterdrücken vermochte, die Art, wie er im Zimmer hin und her ging oder, richtiger gesagt, lief, die Gestikulationen, die er mit beiden Händen ausführte, vielleicht auch einige rätselhafte Worte, die er selbstvergessen vor sich hin sprach, alles diente wahrscheinlich sehr wenig zu Herrn Goljadkins Empfehlung bei den Besuchern des Lokals, und sogar der Kellner begann ihn mißtrauisch zu betrachten. Als unser Held wieder zur Besinnung gekommen war, bemerkte er, daß er mitten im Zimmer stand und in beinah unanständiger, unhöflicher Art einen ältlichen Herrn von sehr achtbarem Äußern anstarrte, der sein Mittagessen verzehrt, sein Gebet vor dem Heiligenbilde verrichtet, sich dann wieder hingesetzt hatte und seinerseits

»Wieviel bin ich schuldig, lieber Freund?« fragte unser Held mit zitternder Stimme.

Ein lautes Gelächter erscholl rings um Herrn Goljadkin; sogar der Kellner lächelte. Herr Goljadkin merkte, daß er sich auch hiermit blamiert und eine furchtbare Dummheit gemacht hatte. Infolge dieser Erkenntnis wurde er so verlegen, daß er genötigt war, nach seinem Taschentuche in die Tasche zu greifen, wahrscheinlich um nur irgend etwas zu tun und nicht so zwecklos dazustehen; aber zu seinem und aller Anwesenden Erstaunen zog er statt des Taschentuches ein Fläschchen mit der Arznei heraus, die ihm Krestjan Iwanowitsch vor vier Tagen verschrieben hatte. »Medizin aus derselben Apotheke,« ging es Herrn Goljadkin durch den Kopf… Plötzlich fuhr er zusammen und schrie beinah auf vor Schreck. Ein neues Licht ergoß sich vor seinem geistigen Blicke … Die dunkelrote, widerliche Flüssigkeit schimmerte in unheilverkündendem Glanze vor Herrn Goljadkins Augen … Das Fläschchen fiel ihm aus den Händen und zerbrach. Unser Held schrie auf und sprang vor der umherspritzenden Flüssigkeit ein paar Schritte zurück … er zitterte an allen Gliedern, und der Schweiß brach ihm an den Schläfen und auf der Stirn aus. »Also ist mein Leben in Gefahr!« Unterdessen war im Zimmer eine Bewegung und Verwirrung entstanden; alle umringten Herrn Goljadkin, alle redeten zu ihm, einige faßten ihn sogar an. Aber unser Held stand stumm und regungslos; er sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts … Endlich riß er sich von dem Flecke, wo er stand, los, stürzte aus dem Restaurant hinaus, stieß alle, die sich bemühten, ihn festzuhalten, zurück, warf sich beinah besinnungslos in die erste beste Droschke und fuhr eilig nach Hause.

Im Flur seiner Wohnung traf er den Kanzleidiener Michejew mit einem amtlichen Schreiben in der Hand. »Ich weiß, mein Freund, ich weiß alles,« antwortete unser Held, der völlig erschöpft war, mit matter, trauriger Stimme; »das ist etwas Amtliches…« Das Schreiben enthielt in der Tat die von Andrei Filippowitsch unterzeichnete Anweisung für Herrn Goljadkin, die in seinen Händen befindlichen Akten an Iwan Semjonowitsch abzuliefern. Nachdem er den Brief in Empfang genommen und dem Kanzleidiener ein Zehnkopekenstück gegeben hatte, ging Herr Goljadkin in seine Wohnung hinein und sah, daß Petruschka in seinem Verschlage dabei war, all seine Sachen auf einen Haufen zusammenzulegen, offenbar in der Absicht, Herrn Goljadkin zu verlassen und als Jewstafis Nachfolger in Karolina Iwanownas Dienst zu treten, die ihn seinem Herrn abwendig gemacht hatte.

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12. Kapitel

12. Kapitel

Petruschka trat, sich hin und her wiegend, ins Zimmer; seine Haltung hatte etwas sonderbar Nachlässiges, sein Gesicht zeigte die triumphierende Miene eines Knechtes. Man konnte ihm ansehen, daß er etwas vorhatte und sich in seinem Rechte fühlte; er sah aus wie ein Fremder, d. h. wie der Diener eines andern Herrn, nicht wie Herrn Goljadkins bisheriger Diener.

»Nun, siehst du, mein Lieber,« begann unser Held, immer noch außer Atem, »was ist jetzt die Uhr, mein Lieber?«

Petruschka ging schweigend hinter die Scheidewand, kam zurück und meldete in einem wenig dienermäßig klingenden Tone, es sei bald halb acht.

»Nun schön, mein Lieber, schön! Nun, siehst du, mein Lieber … Dann möchte ich dir sagen, mein Lieber, daß unser wechselseitiges Verhältnis jetzt zu Ende ist.«

Petruschka schwieg.

»Also da nun jetzt unser wechselseitiges Verhältnis zu Ende ist, so sage mir doch jetzt aufrichtig, sage mir wie ein Freund dem Freunde, wo du gewesen bist, mein Lieber!«

»Wo ich gewesen bin? Bei guten Leuten bin ich gewesen.«

»Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Ich bin mit dir stets zufrieden gewesen, mein Lieber, und werde dir auch ein gutes Zeugnis ausstellen … Nun, bist du denn jetzt bei denen im Dienst?«

»Nun ja, Herr! Sie wissen es ja selbst. Ein guter Mensch lehrt einen nichts Schlechtes.«

»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß. Heutzutage sind gute Leute selten, mein Freund; die mußt du zu schätzen wissen, mein Freund. Nun, wie sind sie denn?«

»Das wissen Sie ja … Aber bei Ihnen, Herr, kann ich jetzt nicht länger dienen; das werden Sie ja selbst wissen.«

»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß; ich kenne deinen Eifer und deine Dienstwilligkeit; ich habe das alles gesehen, mein Freund, habe das alles bemerkt. Ich schätze dich hoch, mein Freund. Ich schätze einen guten, ehrenhaften Menschen hoch, wenn er auch ein Diener ist.«

»Nun ja, das weiß ich. Unsereiner muß natürlich dahin gehen, wo es besser ist; das wissen Sie selbst. Das ist nun einmal nicht anders. Was soll ich machen? Sie wissen, Herr, einen guten Menschen muß man haben.«

»Nun schön, mein Lieber, schön! Ich kann dir das nachfühlen… Nun also, da hast du dein Geld und dein Zeugnis. Jetzt wollen wir uns küssen, lieber Freund, und voneinander Abschied nehmen …«

»Jetzt, mein Lieber, bitte ich dich noch um einen einzigen Dienst, um einen letzten Dienst,« sagte Herr Goljadkin in feierlichem Tone. »Siehst du, mein Lieber, es kommt alles mögliche vor. Kummer verbirgt sich auch in vergoldeten Palästen, mein Freund; dem kann man nirgendhin entfliehen. Du weißt, mein Freund, ich bin, wie ich meine, immer freundlich gegen dich gewesen…«

Petruschka schwieg.

»Ich bin, meine ich, immer freundlich gegen dich gewesen, mein Lieber … Nun, wieviel Wäsche haben wir denn jetzt, mein Lieber?«

»Es ist alles ordnungsmäßig vorhanden. Sechs Stück leinene Hemden; drei Paar Socken; vier Vorhemdchen; eine flanellene Unterjacke; zwei Unterhosen. Sie wissen ja selbst alles. Ich habe nichts von Ihren Sachen, Herr … Ich hüte das Eigentum meines Herrn mit aller Sorgfalt. Sie haben mich manchmal gescholten, Herr, wegen … hm… gewiß… aber solche Sünde habe ich niemals auf mein Gewissen geladen, Herr; das wissen Sie selbst, Herr …«

»Ich glaube dir, mein Freund, ich glaube dir. Aber ich meine das auch gar nicht, mein Freund, ich meine das gar nicht, siehst du. Es handelt sich um etwas anderes, mein Freund …«

»Ja, Herr, das kennen wir schon. Als ich noch beim General Stolbnjakow in Dienst stand und entlassen wurde, weil die Herrschaft nach Saratow reiste … sie hatten da ein Gut …«

»Nein, mein Freund, ich meine das gar nicht; ich sage nichts Derartiges … Glaube so etwas nicht, mein lieber Freund …«

»Jawohl. Sie wissen ja selbst: unsereinen kann man auf das leichteste fälschlich beschuldigen. Aber mit mir ist man überall zufrieden gewesen. Da waren Minister, Generale, Senatoren, Grafen. Ich bin bei allen möglichen Herren gewesen, beim Fürsten Swinjatschkin, beim Obersten Pereborkin, beim General Njedobarow; der verreiste auch, auf sein Stammgut reiste er, zu unsern Bauern. Jawohl …«

»Ja, mein Freund, ja, schön, mein Freund, schön. Siehst du, ich verreise jetzt auch, mein Freund … Jeder hat seinen verschiedenen Lebensweg, mein Lieber, und kein Mensch weiß, auf was für einen Weg er geraten wird. Nun, mein Freund, sei mir jetzt beim Umkleiden behilflich; lege mir meinen Uniformrock zurecht … auch andere Beinkleider, Bettlaken, Bettdecken, Kissen …«

»Soll ich alles in ein Bündel zusammenbinden?«

»Ja, mein Freund, ja; meinetwegen binde es in ein Bündel zusammen … Wer weiß, was uns noch begegnen kann. Und jetzt, mein Lieber, geh und hole mir einen Wagen …«

»Einen Wagen?«

»Ja, mein Freund, einen Wagen, einen recht geräumigen, und auf bestimmte Zeit. Aber denke nur nichts Schlimmes, mein Freund …«

»Wollen Sie weit wegfahren?«

»Ich weiß es nicht, mein Freund; das weiß ich selbst noch nicht. Ich glaube, es wird auch nötig sein, ein Federbett mit dazu zu legen. Was meinst du, mein Freund? Ich will deinem Rate folgen, mein Lieber …«

»Wollen Sie denn gleich wegfahren?«

»Ja, mein Freund, ja. Es ist ein Umstand eingetreten, der es erforderlich macht … so ist das, mein Freund, so ist das …«

»Ich weiß Bescheid, Herr; da bei uns im Regimente kam mit einem Leutnant dasselbe vor; er entführte eine Gutsbesitzertochter …«

»Entführte? … Wie! Mein Lieber, du …«

»Ja, er entführte sie, und in einem andern Dorfe ließen sie sich trauen. Alles war im voraus vorbereitet. Es fand eine Verfolgung statt; aber der Fürst nahm für sie Partei, der selige Fürst; na, und da wurde die Sache gütlich beigelegt …«

»Sie ließen sich trauen, ja … wie kommst du denn darauf, mein Lieber? Woher weißt du denn das, mein Lieber?«

»Na, das kann man schon wissen! Die ganze Welt ist voll von Gerüchten, Herr. Wir wissen alles, Herr … Natürlich, wer wäre ohne Sünde? Aber ich möchte Ihnen jetzt sagen, Herr … erlauben Sie, daß ich Ihnen das ganz einfach, so auf Dienerart sage: wenn die Sache nun einmal so weit gekommen ist, dann möchte ich Ihnen sagen, Herr: Sie haben einen Feind, einen Nebenbuhler, Herr; und es ist ein starker Nebenbuhler, das können Sie glauben!«

»Ich weiß, mein Freund, ich weiß; du weißt es selbst, mein Lieber … Nun also, ich verlasse mich auf dich. Was sollen wir nun tun, mein Freund? Was rätst du mir?«

»Sehen Sie, Herr, wenn Sie also jetzt sozusagen auf diese Manier vorgegangen sind, Herr, dann müssen Sie nun noch einiges kaufen, – na, also Bettlaken, Kissen, ein anderes, zweischläfriges Federbett, eine gute Bettdecke, – sehen Sie, gleich hier unten bei unserer Nachbarin; sie ist eine Bürgerfrau, Herr; die hat einen guten Damen-Fuchspelz zu verkaufen; den könnte man sich ansehen und kaufen; man könnte gleich hinuntergehen und ihn sich ansehen. Sie werden so etwas jetzt brauchen, Herr; es ist ein guter Damenpelz, ein Fuchspelz mit Atlas überzogen …«

»Nun schön, mein Freund, schön; ich bin einverstanden, mein Freund; ich verlasse mich auf dich, verlasse mich vollständig auf dich; meinetwegen auch den Fuchspelz, mein Lieber … Nur recht schnell, recht schnell! Um Gottes willen recht schnell! Ich will auch den Fuchspelz kaufen; nur, bitte, recht schnell! Es ist bald acht Uhr, schneller, um Gottes willen, mein Freund! Beeile dich, schnell mein Freund! …«

Petruschka ließ das noch nicht ganz fertiggestellte Bündel mit Wäsche, Kissen, einer Bettdecke, Laken und allerlei Kram, das er zusammensuchte und zusammenband, im Stich und rannte Hals über Kopf aus dem Zimmer. Unterdessen griff Herr Goljadkin noch einmal nach dem Briefe; aber er vermochte nicht, ihn zu lesen. Seinen armen Kopf in beiden Händen haltend, lehnte er sich gegen die Wand. Er war nicht imstande, an irgend etwas zu denken oder irgend etwas zu tun; er wußte selbst nicht, was mit ihm vorging. Endlich, da er sah, daß die Zeit verging und weder Petruschka noch der Damenpelz erschien, entschloß sich Herr Goljadkin, selbst hinzugehen. Als er die Flurtür öffnete, hörte er unten Lärm, Reden, Streiten … Einige Nachbarinnen schwatzten, schrien und räsonierten über etwas, – und Herr Goljadkin wußte schon worüber. Dann wurde Petruschkas Stimme vernehmbar, und darauf hörte man jemandes Schritte. »Mein Gott, sie rufen noch die ganze Welt her!« stöhnte Herr Goljadkin, in Verzweiflung die Hände ringend, und stürzte in sein Zimmer zurück. Dort sank er fast besinnungslos auf das Sofa nieder und drückte das Gesicht in das Kissen. Ein Weilchen lag er so da; dann sprang er auf, zog, ohne auf Petruschka zu warten, die Überschuhe und den Mantel an, setzte den Hut auf, ergriff seine Brieftasche und lief Hals über Kopf die Treppe hinunter. »Du brauchst nichts zu tun, mein Lieber, gar nichts! Ich werde es selbst besorgen, werde alles selbst besorgen. Deiner bedarf ich vorläufig nicht, und inzwischen wird sich die Sache vielleicht gut gestalten,« sagte Herr Goljadkin murmelnd zu Petruschka, dem er auf der Treppe begegnete; dann lief er auf den Hof und aus dem Hause hinaus; der Herzschlag stockte ihm; er hatte noch keinen Entschluß gefaßt … Wie sollte er sich verhalten, was sollte er tun, wie sollte er in der jetzigen kritischen Lage vorgehen? …

»Das ist die Frage: wie soll ich vorgehen, Herr du mein Gott? Mußte auch das alles noch passieren!« rief er endlich verzweifelt, während er ziellos aufs Geratewohl die Straße entlang schlich. »Mußte auch das alles noch passieren! Wäre das nicht passiert, wäre gerade das nicht passiert, dann hätte sich noch alles in Ordnung bringen lassen; mit einem Mal, mit einem Schlage, mit einem einzigen geschickten, energischen, festen Schlage hätte es sich in Ordnung bringen lassen. Ich lasse mir einen Finger abschneiden, wenn es sich nicht hätte in Ordnung bringen lassen! Und ich weiß sogar, auf welche Weise das gegangen wäre. Das hätte ich so gemacht: ich hätte … hm … ich hätte gesagt: ›So und so, mein Herr; ich weiß mir, mit Erlaubnis zu sagen, nicht anders zu helfen; aber solche Sachen gehen hier nicht, mein Herr, mein geehrter Herr; solche Sachen gehen hier nicht, und mit Aneignung eines fremden Namens ist bei uns nichts zu erreichen; wer sich einen fremden Namen aneignet, mein Herr, der ist ein … hm … ein Nichtswürdiger und bringt dem Vaterlande keinen Nutzen. Verstehen Sie wohl? Verstehen Sie wohl, mein geehrter Herr?‹; So müßte das gemacht werden … Aber nein, was sage ich da? … das ist ja gar nicht das Richtige, ganz und gar nicht das Richtige … Was schwatze ich denn da für Unsinn, ich Dummkopf! Ich bin ja geradezu ein Selbstmörder! Du bist ja geradezu ein Selbstmörder; Das kommt alles von Ihnen her, gnädiges Fräulein; das kommt alles nicht von der Deutschen her, ganz und gar nicht von der Hexe, sondern einfach von Ihnen; denn die Hexe ist eine gute Person und ist an nichts schuld; aber Sie, mein gnädiges Fräulein, sind daran schuld, – so ist das! Sie, gnädiges Fräulein, bringen mich fälschlich in schlechten Ruf … Da geht ein Mensch zugrunde, da verschwindet ein Mensch vollständig und vermag sich nicht zu behaupten, – wie kann da von Hochzeit die Rede sein! Und wie wird das alles enden? Und wie soll ich das alles jetzt einrichten? Ich würde viel darum geben, wenn ich das wüßte!«

So überlegte unser Held in seiner Verzweiflung. Als er auf einmal zur Besinnung kam, bemerkte er, daß er irgendwo in der Liteinaja-Straße stand. Es war schauderhaftes Wetter, Tauwetter mit Schnee und Regen, genau so wie in jenem unvergeßlichen Augenblicke, als in der furchtbaren mitternächtlichen Stunde alle Leiden des Herrn Goljadkin begannen. »Wie kann man jetzt reisen?« dachte Herr Goljadkin im Hinblick auf das Wetter; »da holt sich ja jeder Mensch den Tod … Herr du mein Gott! Na, und wo soll ich jetzt z. B. einen Wagen herbekommen? Da an der Ecke ist, wie es scheint, etwas Schwärzliches zu sehen. Wir wollen mal zusehen und es untersuchen … Herr du mein Gott!« fuhr unser Held fort, indem er seine schwachen, wankenden Schritte nach der Seite hin lenkte, wo er etwas Wagenähnliches sah. »Nein, ich werde es so machen: ich werde hingehen, ihm, wenn es möglich ist, zu Füßen fallen und ihn untertänigst bitten: ›So und so‹, werde ich sagen; ›in Ihre Hände lege ich mein Schicksal, in die Hände meiner vorgesetzten Behörde. Exzellenz, beschützen Sie einen Unglücklichen, und erweisen Sie ihm eine Wohltat! So und so, und dies und das, es ist eine gesetzwidrige Handlung; richten Sie mich nicht zugrunde; ich nehme Sie zu meinem Vater an; verlassen Sie mich nicht … retten Sie meine Ehre und meinen guten Namen … retten Sie mich vor diesem Bösewicht, diesem verworfenen Menschen … Er ist ein anderer Mensch, Exzellenz, und ich bin auch ein anderer Mensch; er ist eine Person für sich, und ich bin ebenfalls ein Mensch für mich, wahrhaftig, ich bin ein Mensch für mich, Exzellenz, wahrhaftig, ein Mensch für mich; so ist das. Ihm gleichen kann ich nicht; haben Sie die Güte, das zu ändern; befehlen Sie, daß das geändert und diese gottlose, eigenmächtige Namensaneignung aufgehoben werde … Das ist kein gutes Beispiel für andere, Exzellenz. Ich nehme Sie zu meinem Vater an; gewiß muß eine Behörde, eine humane Behörde, die für ihre Untergebenen sorgt, solche Bestrebungen unterstützen … Es liegt darin sogar etwas Ritterliches. Ich nehme Sie, die humane Behörde, zu meinem Vater an, lege mein Schicksal in Ihre Hände und werde gegen Ihre Entscheidung keinen Widerspruch erheben; ich vertraue mich Ihnen an und werde mich selbst von dieser Angelegenheit ganz zurückziehen.‹ So will ich sagen.«

»Nun, mein Lieber, bist du Droschkenkutscher?«

»Jawohl.«

»Ich möchte einen Wagen für den Abend haben, mein Freund.«

»Wollen Sie weit fahren?«

»Für den Abend, für den Abend. Wohin es nötig sein wird, mein Lieber, wohin es nötig sein wird.«

»Wollen Sie vielleicht aus der Stadt fahren?«

»Ja, mein Freund, vielleicht auch aus der Stadt. Ich weiß es selbst noch nicht sicher, mein Freund; ich kann es dir nicht bestimmt sagen, mein Lieber. Siehst du, mein Lieber, vielleicht gestaltet sich alles gut. Man weiß ja, wie das so geht, mein Freund …«

»Jawohl, Herr, gewiß. Gott gebe jedem Gutes!«

»Ja, mein Freund, ja; ich danke dir, mein Lieber. Nun, wieviel bekommst du denn, mein Lieber?«

»Wollen Sie jetzt gleich fahren?«

»Ja, jetzt gleich, d. h. nein, an einer Stelle mußt du ein Weilchen warten … nur ein kleines Weilchen mußt du warten, nicht lange, mein Lieber …«

»Ja, wenn Sie mich für die ganze Zeit nehmen, dann kann ich es bei dem Wetter nicht unter sechs Rubeln machen …«

»Nun gut, mein Freund, gut; ich werde dir dankbar sein, mein Lieber. Na also, dann fahre mich jetzt, mein Lieber!«

»Steigen Sie ein; erlauben Sie, ich will den Sitz hier noch ein bißchen zurechtmachen; so, jetzt, bitte, steigen Sie ein! Wohin befehlen Sie, daß ich fahren soll?«

»Nach der Ismailowski-Brücke, mein Freund.«

Der Kutscher kletterte auf den Bock und hatte bereits seine beiden mageren Gäule, die er mit Gewalt von dem Futterkasten mit Heu weggerissen hatte, in der Richtung nach der Ismailowski-Brücke in Bewegung gesetzt, als auf einmal Herr Goljadkin die Schnur zog, den Wagen halten ließ und den Kutscher flehentlich bat, umzuwenden und nicht nach der Ismailowski-Brücke, sondern nach einer anderen Straße zu fahren. Der Kutscher wendete nach der angegebenen Straße hin um, und nach zehn Minuten hielt Herrn Goljadkins neu angenommener Wagen vor dem Hause, in dem Seine Exzellenz wohnte. Herr Goljadkin stieg aus dem Wagen, bat den Kutscher dringend, ein Weilchen zu warten, lief selbst mit angstvollem Herzklopfen nach der zweiten Etage hinauf und zog die Klingel; die Tür öffnete sich, und unser Held befand sich im Vorzimmer Seiner Exzellenz.

»Ist Seine Exzellenz zu Hause?« fragte Herr Goljadkin den Diener, der ihm geöffnet hatte.

»Was wünschen Sie?« fragte der Diener, indem er Herrn Goljadkin vom Kopf bis zu den Füßen musterte.

»Ich möchte, mein Freund, hm … Mein Name ist Goljadkin, Titularrat Goljadkin. Ich möchte mich aussprechen …«

»Da müssen Sie warten; das geht jetzt nicht …«

»Mein Freund, ich kann nicht warten; meine Angelegenheit ist wichtig und duldet keinen Aufschub …«

»Von wem kommen Sie denn? Haben Sie Akten?«

»Nein, mein Freund, ich komme in einer persönlichen Angelegenheit … Melde mich, mein Freund; sage nur, ich wollte mich aussprechen. Ich werde dir dankbar sein, mein Lieber …«

»Es geht nicht; ich darf niemand annehmen; es ist Besuch da. Bitte, kommen Sie am Vormittag um zehn Uhr!«

»Melde mich doch, mein Lieber; ich kann nicht warten; es ist unmöglich … Du wirst es zu verantworten haben, mein Lieber …«

»Na, geh doch und melde ihn! Du willst wohl die Stiefelsohlen schonen, was?« sagte ein anderer Diener, der sich auf einer Wandbank herumrekelte und bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte.

»Die Stiefelsohlen werde ich mir dabei nicht ablaufen. Aber er hat befohlen, niemand anzunehmen, weißt du das? Für den Herrn da ist der Vormittag die richtige Zeit.«

»Melde ihn nur! Du denkst wohl, die Zunge wird dir davon abfallen?«

»Na, dann werde ich ihn melden; die Zunge wird mir davon nicht abfallen. Aber er hat es verboten; wie gesagt, er hat es verboten. Kommen Sie in das Zimmer dort!«

Herr Goljadkin trat in das erste Zimmer; auf dem Tische stand eine Uhr. Er blickte danach hin: es war halb neun. Das Herz in der Brust schmerzte ihn. Er wollte schon umkehren; aber gerade in diesem Augenblicke rief der langaufgeschossene Diener, auf der Schwelle des folgenden Zimmers stehend, mit lauter Stimme Herrn Goljadkins Namen aus. »Hat der eine Kehle!« dachte unser Held in unbeschreiblicher Beklemmung. »Er hätte doch sagen sollen: ›So und so, er ist gekommen, um sich untertänigst und ganz ergebenst auszusprechen… hm… haben Sie die Güte ihn zu empfangen!‹ Aber jetzt ist die Sache verdorben; meine ganze Angelegenheit ist zunichte geworden. Übrigens… ja… nun, es macht nichts…« Indes war zu Überlegungen keine Zeit. Der Diener wandte sich um, sagte: »Bitte, treten Sie näher!« und führte Herrn Goljadkin in das Arbeitszimmer.

Als unser Held eintrat, hatte er eine Empfindung, als sei er blind geworden; denn er sah absolut nichts … Nur zwei oder drei Gestalten flimmerten undeutlich vor seinen Augen. »Na ja, das sind die Gäste,« fuhr es ihm durch den Kopf. Endlich begann unser Held den Stern auf dem schwarzen Fracke Seiner Exzellenz deutlich zu unterscheiden; dann gelangte er stufenweise dazu, auch den schwarzen Frack zu erkennen; schließlich gewann er die volle Sehkraft wieder …

»Was gibt es?« sagte eine bekannte Stimme über dem gebeugt dastehenden Herrn Goljadkin.

»Titularrat Goljadkin, Exzellenz.«

»Nun? …«

»Ich bin gekommen, um mich auszusprechen …«

»Wie? … Was?«

»Ja, so ist es. Hm … ich bin gekommen, um mich auszusprechen, Exzellenz …«

»Aber Sie … wer sind Sie doch?«

»Herr Gol-gol-goljadkin, Exzellenz, Titularrat.«

»Nun, also was wünschen Sie?«

»Nämlich … hm … ich nehme die Behörde zu meinem Vater an; ich selbst werde mich von dieser Angelegenheit ganz zurückziehen, und beschützen Sie mich vor meinem Feinde … Das wollte ich sagen.«

»Was bedeutet das?«

»Es ist bekannt …«

»Was ist bekannt?«

Herr Goljadkin schwieg; sein Kinn begann ein wenig zu zucken.

»Nun?«

»Ich hielt es für ritterlich, Exzellenz … Ich meinte, das sei hier ritterlich, und nehme meinen hohen Vorgesetzten zu meinem Vater an … ja, hm … beschützen Sie mich, ich fl-flehe darum mit Trä-änen, und daß solche Be-bestrebungen unter-unter-unterstützt werden mü-müßten …«

Seine Exzellenz wandte sich ab. Unser Held konnte eine kurze Zeit mit den Augen nichts unterscheiden. Die Brust war ihm wie zusammengepreßt. Er konnte kaum atmen. Er wußte nicht, wo er stand … Scham und Trauer erfüllten sein Herz. Dann war er eine Weile ganz benommen … Als unser Held wieder zu sich kam, bemerkte er, daß Seine Exzellenz mit seinen Gästen sprach und mit ihnen anscheinend in entschiedenem, energischem Tone etwas erörterte. Einen von den Gästen erkannte Herr Goljadkin sofort. Das war Andrei Filippowitsch; den andern erkannte er nicht, indessen kam ihm das Gesicht ebenfalls bekannt vor; es war eine hohe, kräftige Gestalt, ziemlich bejahrt, mit sehr dichten Augenbrauen, starkem Backenbart und scharfem, ausdrucksvollem Blicke. Am Halse trug der Unbekannte einen Orden; im Munde hatte er eine Zigarre stecken. Der Unbekannte rauchte und nickte, ab und zu nach Herrn Goljadkin hinblickend, bedeutsam mit dem Kopfe, ohne die Zigarre aus dem Munde zu nehmen. Herrn Goljadkin wurde das einigermaßen unbehaglich; er wandte seine Augen zur Seite und erblickte dort noch einen sehr sonderbaren Gast. In einer Tür, die unser Held bis dahin für einen Spiegel gehalten hatte, wie ihm das manchmal begegnete, erschien er, – der Leser weiß schon, wer: der sehr nahe Bekannte und Freund des Herrn Goljadkin. Herr Goljadkin der jüngere hatte sich wirklich bisher in einem anderen, kleinen Zimmer befunden und war damit beschäftigt gewesen, schnell etwas zu schreiben; jetzt erschien er, weil dies offenbar nötig geworden war, mit Papieren unter dem Arme, trat zu Seiner Exzellenz heran, und in der Absicht, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf seine Person zu lenken, brachte er es fertig, sich in das Gespräch und die Beratung einzudrängen. Seinen Platz hatte er nicht weit hinter Andrei Filippowitschs Rücken genommen, zum Teil verdeckt durch den Unbekannten, der eine Zigarre rauchte. Anscheinend interessierte sich Herr Goljadkin der jüngere außerordentlich lebhaft für das Gespräch, bei dem er zunächst den wohlgesitteten Zuhörer spielte, indem er mit dem Kopfe nickte, mit den Füßen trippelte, lächelte und alle Augenblicke Seine Exzellenz ansah, wie wenn er mit seinem Blicke um die Erlaubnis bitten wollte, ebenfalls ein Wörtchen dazugeben zu dürfen. »Du Schurke!« dachte Herr Goljadkin und trat unwillkürlich einen Schritt weiter vor. In diesem Augenblicke wandte sich der Chef um und trat selbst in ziemlich unentschlossener Haltung auf Herrn Goljadkin zu.

»Nun gut, gut; gehen Sie in Gottes Namen! Ich werde Ihre Angelegenheit untersuchen; ich werde Ihnen jetzt einen Begleiter mitgeben …« Hier blickte der Chef den Unbekannten mit dem starken Backenbarte an. Dieser nickte zum Zeichen der Beistimmung mit dem Kopfe.

Herr Goljadkin fühlte und verstand deutlich, daß man von seiner Person ganz und gar nicht die Meinung hatte, die man von ihr hätte haben sollen. »Auf die eine oder die andere Weise muß ich mich jedenfalls aussprechen,« dachte er; »›so und so;‹ werde ich sagen, ›Exzellenz‹.« Hier schlug er in seiner Ratlosigkeit die Augen zu Boden und sah zu seinem äußersten Erstaunen auf den Stiefeln Seiner Exzellenz einen weißen Fleck von beträchtlicher Größe. »Sind sie wirklich geplatzt?« dachte Herr Goljadkin. Bald indes kam er zu der Erkenntnis, daß die Stiefel Seiner Exzellenz keineswegs geplatzt waren, sondern nur das Licht stark zurückwarfen, ein Phänomen, das sich vollständig daraus erklärte, daß es stark glänzende Lackstiefel waren. »Das nennt man einen ›Blick‹,« dachte unser Held; »besonders hat sich diese Bezeichnung in den Ateliers der Künstler gehalten; an andern Stellen nennt man diesen Widerschein Lichtreflex.« Hier schlug Herr Goljadkin die Augen in die Höhe und sah, daß es Zeit war zu reden, weil die Sache sonst sehr leicht einen schlimmen Ausgang nehmen konnte… Unser Held trat einen Schritt vor.

»Also … ja … Exzellenz,« sagte er, »durch Annahme eines fremden Namens kann man in unserm Zeitalter nicht mehr obenauf kommen.«

Der Chef antwortete nichts, sondern zog stark an der Klingelschnur. Unser Held trat noch einen Schritt vor.

»Er ist ein gemeiner, verworfener Mensch, Exzellenz,« sagte unser Held; er wußte nicht von sich selbst, war halbtot vor Angst, wies aber dabei doch kühn und entschlossen auf seinen unwürdigen Zwillingsbruder, der in diesem Augenblicke neben Seiner Exzellenz herumtrippelte. »Nämlich… ja… ich deute auf eine bestimmte Person hin.«

Herrn Goljadkins Worten folgte eine allgemeine Bewegung. Andrei Filippowitsch und der Unbekannte nickten mit den Köpfen; Seine Exzellenz riß ungeduldig aus Leibeskräften am Klingelzuge, um seine Leute herbeizurufen. Jetzt trat Herr Goljadkin der jüngere seinerseits vor.

»Exzellenz,« sagte er, »ich bitte untertänigst um Ihre Erlaubnis, reden zu dürfen.« In der Stimme des jüngeren Herrn Goljadkin lag eine außerordentliche Entschlossenheit; sein ganzes Benehmen zeigte, daß er sich vollständig in seinem Rechte fühlte.

»Gestatten Sie mir die Frage,« begann er von neuem, indem er in seinem Eifer der Antwort Seiner Exzellenz zuvorkam und sich diesmal an Herrn Goljadkin wandte, »gestatten Sie mir die Frage, ob Sie wohl auch wissen, in wessen Gegenwart Sie solche Ausdrücke gebrauchen. Vor wem stehen Sie, und in wessen Arbeitszimmer befinden Sie sich? …« Herr Goljadkin der jüngere war in höchster Erregung, ganz rot und heiß vor Empörung und Zorn; es wurden sogar Tränen in seinen Augen sichtbar.

»Die Herren Bassawrjukow!« schrie der Diener, der in der Tür des Arbeitszimmers erschien, aus voller Kehle. »Das ist eine gute Adelsfamilie, die aus Kleinrußland stammt,« dachte Herr Goljadkin und fühlte gleichzeitig, daß ihm jemand in sehr freundschaftlicher Weise die Hand auf den Rücken legte; dann legte sich ihm noch eine andere Hand auf den Rücken; Herrn Goljadkins nichtswürdiger Zwillingsbruder lief geschäftig voran und zeigte den Weg, und unser Held sah klar, daß man ihn nach der großen Tür des Arbeitszimmers hinführte. »Genau so wie bei Olsufi Iwanowitsch,« dachte er und fand sich schon im Vorzimmer. Um sich blickend, sah er neben sich zwei Diener Seiner Exzellenz und seinen Zwillingsbruder.

»Den Mantel, den Mantel, den Mantel, den Mantel meines Freundes! Den Mantel meines besten Freundes!« schnatterte der verworfene Mensch, indem er einem der Diener den Mantel aus den Händen riß und ihn mit diesen gemeinen, unanständigen Spottworten Herrn Goljadkin geradezu auf den Kopf warf. Während Herr Goljadkin der ältere sich aus seinem Mantel herauswickelte, hörte er deutlich das Gelächter der beiden Diener. Aber ohne auf etwas hinzuhören und Nebendinge zu beachten, verließ er das Vorzimmer und befand sich nun auf der erleuchteten Treppe. Herr Goljadkin der jüngere war ihm nachgekommen.

»Leben Sie wohl, Exzellenz!« rief er Herrn Goljadkin dem älteren nach.

»Schurke!« antwortete unser Held ganz außer sich.

»Na, ich lasse mir diese Bezeichnung gefallen …«

»Verworfener Mensch! …«

»Na, meinetwegen auch das …« erwiderte dem würdigen Herrn Goljadkin sein unwürdiger Feind spöttisch und blickte mit der ihm eigenen Niederträchtigkeit von der Höhe der Treppe gerade und ohne mit den Augen zu zwinkern Herrn Goljadkin in die Augen, wie wenn er ihn bäte fortzufahren. Unser Held spie vor Empörung aus und lief vor die Haustür; er war so zerschmettert, daß ihm gar nicht zum Bewußtsein kam, wer ihm beim Einsteigen in den Wagen half, und wie es dabei zuging. Als er seine Gedanken wieder gesammelt hatte, sah er, daß er an der Fontanka entlangfuhr. »Also wohl nach der Ismailowski-Brücke?« dachte er. Er hätte jetzt gern über noch etwas nachgedacht; aber das war ihm nicht möglich; es war etwas so Schreckliches, daß es sich gar nicht sagen läßt … »Nun, es macht nichts!« sagte sich unser Held schließlich und fuhr nach der Ismailowski-Brücke.

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Kapitel 9

IX

Ein allgemeines Stillschweigen folgte; alle blickten den Fürsten an, wie wenn sie ihn nicht recht verstanden hätten und nicht verstehen wollten. Ganja war vor Schreck ganz starr.

Die Ankunft Nastasja Filippownas, und dazu noch in diesem Augenblick, war für alle eine sehr seltsame, besorgniserregende Überraschung. Schon allein der Umstand, daß Nastasja Filippowna zum ersten Male hinkam; bisher hatte sie sich so hochmütig benommen, daß sie in den Gesprächen mit Ganja nicht einmal den Wunsch, mit seinen Angehörigen bekannt zu werden, ausgesprochen und in der letzten Zeit ihrer überhaupt nie mehr Erwähnung getan hatte, als ob sie gar nicht auf der Welt wären. Ganja war zwar zum Teil froh darüber, daß ihm dieses für ihn so mißliche Thema erspart blieb, im stillen aber kreidete er ihr diesen Hochmut doch an. Jedenfalls hätte er von ihrer Seite eher Spottreden und Sticheleien über seine Familie als einen Besuch bei derselben erwartet; er wußte zuverlässig, daß ihr alles bekannt war, was bei ihm zu Hause anläßlich seiner Bewerbung um ihre Hand vorging, und daß sie sich keinen Illusionen darüber hingab, wie seine Angehörigen über sie dachten. Ihr Besuch, jetzt, nach der Schenkung des Bildes und an ihrem Geburtstage, an dem sie sein Schicksal zu entscheiden versprochen hatte, schloß eigentlich schon beinahe die Entscheidung selbst in sich.

Die Verständnislosigkeit, mit der alle den Fürsten ansahen, dauerte nicht lange: Nastasja Filippowna erschien in eigener Person in der Tür des Salons und schob wieder beim Eintritt ins Zimmer den Fürsten mit einem leichten Stoß beiseite.

»Endlich ist es mir gelungen hereinzukommen … Warum binden Sie denn Ihre Klingel fest?« fragte sie munter und reichte Ganja, der eilig zu ihr hinstürzte, die Hand. »Warum machen Sie denn ein so betrübtes Gesicht? Bitte, machen Sie mich doch bekannt…«

Ganja, der ganz die Besinnung verloren hatte, stellte sie zuerst seiner Schwester Warja vor, und die beiden Frauen maßen einander, bevor sie sich die Hände reichten, mit sonderbaren Blicken. Nastasja Filippowna lachte übrigens und spielte die Heitere, Warja dagegen wollte sich nicht verstellen und blickte düster und starr; nicht einmal eine Spur von Lächeln, wie es schon die einfache Höflichkeit verlangt, zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ganja fuhr erschrocken zusammen; seine Schwester zu bitten, dazu war es zu spät, so warf er ihr denn einen so drohenden Blick zu, daß sie begriff, was dieser Augenblick für ihren Bruder bedeutete. Da entschloß sie sich, wie es schien, ihm nachzugeben, und lächelte Nastasja Filippowna ein ganz klein wenig an. (Im Grunde liebten in der Familie alle einander doch noch.) Nina Alexandrowna verbesserte die Situation ein bißchen; sie hatte der völlig verwirrte Ganja erst nach seiner Schwester vorgestellt und dabei sogar seine Mutter zu Nastasja Filippowna hingeführt, statt umgekehrt. Aber kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, von ihrer »ganz besonderen Freude« zu reden, als Nastasja Filippowna, ohne weiter zuzuhören, sich schnell zu Ganja wandte und, während sie unaufgefordert auf einem kleinen Sofa in der Ecke am Fenster Platz nahm, ihm zurief:

»Wo ist denn Ihr Arbeitszimmer? Und … und wo sind Ihre Untermieter? Sie geben ja wohl Zimmer ab?«

Ganja wurde dunkelrot und begann eine Antwort zu stottern, aber Nastasja Filippowna fügte sogleich hinzu:

»Wo haben Sie denn hier noch Raum, um Untermieter zu halten? Sie haben ja nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ist denn das Weitervermieten einträglich?« wandte sie sich plötzlich an Nina Alexandrowna.

»Es macht einige Mühe und Umstände«, antwortete diese. »Natürlich muß es auch etwas einbringen. Wir sind indessen eben erst …«

Aber Nastasja Filippowna hörte sie wieder nicht zu Ende, sie blickte Ganja an, lachte und rief:

»Nein, was machen Sie nur für ein Gesicht? O mein Gott, was machen Sie in diesem Augenblick für ein Gesicht!«

Dieses Lachen dauerte einige Sekunden. Ganjas Gesicht sah allerdings arg entstellt aus: die Starrheit und die komische, ängstliche Fassungslosigkeit waren zwar von ihm gewichen, aber er war schrecklich blaß geworden, seine Lippen hatten sich krampfhaft verzogen, und er blickte schweigend, forschend und mit einem bösen Ausdruck unverwandt seiner Besucherin ins Gesicht, die immer noch fortfuhr zu lachen.

Es war noch ein Beobachter da, der sich ebenfalls noch nicht hatte von der Betäubung frei machen können, die ihn bei Nastasja Filippownas Anblick überkommen hatte; aber obgleich er immer noch wie eine Bildsäule an seinem früheren Platz in der Tür des Salons stand, hatte er doch bemerkt, wie Ganja blaß wurde und sein Gesicht einen bösartigen Ausdruck annahm. Beinahe erschrocken darüber, trat er plötzlich unwillkürlich vor.

»Trinken Sie Wasser«, flüsterte er Ganja zu, »und blicken Sie nicht so…«

Es war klar, daß er das ohne allen Vorbedacht, ohne jede besondere Absicht, nur so im ersten Impuls gesagt hatte, aber seine Worte brachten eine ganz merkwürdige Wirkung hervor. Ganjas ganze Wut schien sich auf einmal gegen den Fürsten zu richten, er faßte ihn an der Schulter und blickte ihn schweigend, rachsüchtig und haßerfüllt an, wie wenn er nicht imstande wäre, ein Wort herauszubringen. Es entstand eine allgemeine Bewegung: Nina Alexandrowna stieß sogar einen leisen Schrei aus. Ptizyn trat beunruhigt einige Schritte vor; Kolja und Ferdyschtschenko, die in der Tür erschienen waren, blieben erstaunt stehen; nur Warja behielt ihren finsteren Blick unverändert bei, beobachtete aber aufmerksam, was vorging. Sie hatte sich nicht hingesetzt, sondern stand seitwärts neben der Mutter, die Arme über der Brust verschränkt.

Ganja gewann jedoch schnell die Herrschaft über sich zurück, unmittelbar nachdem er sich so hatte hinreißen lassen, und lachte nervös auf. Er war nun vollständig wieder zu sich gekommen.

»Ja, Fürst, sind Sie denn ein Arzt?« rief er in möglichst heiterem, treuherzigem Tone. »Sie haben mich geradezu erschreckt! Nastasja Filippowna, ich möchte Ihnen da diesen ganz köstlichen Menschen empfehlen, obwohl ich selbst ihn erst seit heute morgen kenne.«

Nastasja Filippowna blickte den Fürsten verwundert an.

»Ein Fürst? Er ist Fürst? Denken Sie nur, ich habe ihn vorhin im Vorzimmer für einen Bedienten gehalten und ihn hergeschickt, um mich anzumelden! Hahaha!«

»Das tut ja nichts, das tut ja nichts!« fiel Ferdyschtschenko ein, der eilig näher trat und sich freute, daß man zu lachen anfing. »Das tut ja nichts, …«

»Und ich hätte Sie beinahe noch ausgeschimpft, Fürst! Bitte, verzeihen Sie mir! … Aber, Ferdyschtschenko, wie kommt es denn, daß Sie zu dieser Tageszeit hier sind? Ich dachte, Sie würde ich hier gewiß nicht treffen … Wer ist der Herr nun? Was für ein Fürst? Myschkin?« fragte sie Ganja, der ihr inzwischen den Fürsten, den er noch immer an der Schulter gefaßt hielt, vorgestellt hatte.

»Unser Untermieter«, wiederholte Ganja.

Sie waren offenbar bemüht, den Fürsten als eine Art von seltener Kuriosität hinzustellen (alle sahen darin einen Ausweg aus der unerquicklichen Situation), und schoben ihn förmlich zu Nastasja Filippowna hin; der Fürst hörte sogar deutlich das Wort »Idiot«, das jemand, wahrscheinlich Ferdyschtschenko, hinter seinem Rücken zur Erklärung für Nastasja Filippowna flüsterte.

»Sagen Sie, warum haben Sie mich denn vorhin nicht aufgeklärt, als ich mich in Ihnen so schrecklich … irrte?« fragte Nastasja Filippowna weiter und musterte den Fürsten vom Kopf bis zu den Füßen in der ungeniertesten Weise. Sie wartete ungeduldig auf seine Antwort, als wäre sie im voraus völlig überzeugt, daß die Antwort unfehlbar so dumm sein werde, daß sie darüber werde lachen müssen.

»Ich war erstaunt, Sie so plötzlich vor mir zu sehen …«, murmelte der Fürst.

»Aber woher wußten Sie denn, daß ich es war? Wo haben Sie mich früher gesehen? Wie geht es nur zu: mir ist tatsächlich, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen! Und gestatten Sie die Frage: warum blieben Sie vorhin so starr auf Ihrem Fleck stehen? Was habe ich denn an mir, das eine solche Wirkung hervorbringen könnte?«

»Nun los! Los!« trieb Ferdyschtschenko, der fortfuhr, Gesichter zu schneiden, den Fürsten an. »Los doch! O mein Gott, was für schöne Dinge würde ich auf eine solche Frage antworten! Nun los doch!… Wenn Sie da nicht reden, sind Sie ja der reine Tölpel, Fürst!«

»Auch ich würde eine Menge reden, wenn ich Sie wäre«, antwortete der Fürst lachend. »Ihr Bild, das ich vor kurzem sah, hat auf mich einen starken Eindruck gemacht«, fuhr er, zu Nastasja Filippowna gewendet, fort. »Dann habe ich mit Jepantschins von Ihnen gesprochen… und schon heute früh, noch ehe ich in Petersburg ankam, hat mir Parfen Rogoshin viel von Ihnen erzählt… Gerade in dem Augenblick, als ich Ihnen die Tür öffnete, hatte ich an Sie gedacht, und da standen Sie plötzlich vor mir.«

»Aber woher wußten Sie denn, wer ich war?«

»Nach dem Bilde und …«

»Und woher noch?«

»Außerdem deswegen, weil ich Sie mir gerade so vorgestellt habe… Auch mir ist, als hätte ich Sie schon irgendwo gesehen.«

»Wo denn? Wo denn?«

»Ich habe die Empfindung, als hätte ich Ihre Augen schon einmal irgendwo gesehen… aber es ist unmöglich! Ich bilde es mir nur ein … Ich bin nie hier gewesen. Vielleicht daß ich im Traume…«

»Bravo, Fürst!« rief Ferdyschtschenko. »Nein, ich nehme mein se non é vero zurück. Übrigens… übrigens sagt er das ja alles in reiner Unschuld!« fügte er bedauernd hinzu.

Der Fürst hatte jene wenigen Sätze mit unruhiger Stimme gesprochen, mehrfach stockend und häufig dazwischen Atem holend. Sein ganzes Wesen bekundete eine hochgradige Erregung. Nastasja Filippowna blickte ihn neugierig an, lachte aber nicht mehr. In diesem Augenblick ertönte plötzlich hinter der Gruppe, die dicht geschart um den Fürsten und Nastasja Filippowna herumstand, eine neue kräftige Stimme, schob sozusagen die Gruppe in zwei Hälften auseinander und schuf in ihr eine Gasse. Vor Nastasja Filippowna stand das Oberhaupt der Familie selbst, General Iwolgin. Er hatte den Frack und ein reines Vorhemd angelegt und sich den Schnurrbart frisch gefärbt.

Das war mehr, als Ganja ertragen konnte.

Selbstsüchtig und eitel bis zur Nervosität, bis zur Hysterie, hatte er diese ganzen zwei Monate nach Mitteln gesucht, sich ein anständigeres, vornehmeres Renommee zu geben. Er fühlte, daß er auf dem gewählten Wege noch ein Neuling war und vielleicht nicht imstande sein werde, ihn dauernd einzuhalten. In seiner Verzweiflung war er schließlich dazu gelangt, bei sich zu Hause, wo er der reine Despot war, sich ganz brutal zu benehmen, wagte dies aber nicht in Gegenwart Nastasja Filippownas zu tun, die ihn bis zu diesem Augenblick immer in Verwirrung gesetzt und erbarmungslos tyrannisiert hatte. Einen »ungeduldigen Bettler« hatte sie selbst ihn genannt, eine Bezeichnung, die ihm hinterbracht worden war, und er hatte sich hoch und heilig geschworen, ihr das alles später einmal heimzuzahlen, obwohl er gleichzeitig manchmal kindlich davon geträumt hatte, alles in Ordnung zu bringen und alle Gegensätze zu versöhnen. So stand die Sache, und nun mußte er jetzt noch diesen schrecklichen Becher leeren, und noch dazu gerade in einem solchen Augenblick! Eine unvorhergesehene, aber für einen eitlen Menschen ganz besonders furchtbare Folter sollte er erdulden: die Qual, für seine Angehörigen im eigenen Hause erröten zu müssen! In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ›Ist denn überhaupt der in Aussicht stehende Preis all diese Mühe und diese Schmerzen wert?‹

Jetzt vollzog sich das, was ihm während dieser zwei Monate nur nachts in beängstigenden Träumen vor das geistige Auge getreten war und ihn mit eisigem Schreck, mit glühender Scham erfüllt hatte: es fand endlich im Familienkreis ein Zusammentreffen zwischen seinem Vater und Nastasja Filippowna statt. Er hatte manchmal in spöttischer Selbstverhöhnung versucht, es sich auszumalen, was für eine Figur der General bei dem Trauakt machen würde, hatte aber nie vermocht, sich das qualvolle Bild vollständig zu vergegenwärtigen, sondern es immer rasch wieder beiseite geschoben. Vielleicht machte er sich von dem ihm erwachsenden Schaden maßlos übertriebene Vorstellungen, aber so geht es eitlen Menschen stets. In diesen zwei Monaten hatte er sich die Sache überlegt, seinen Entschluß gefaßt und sich fest vorgenommen, seinen Vater um jeden Preis irgendwie wegzuschaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche überhaupt nicht gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade in dem Augenblick, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. (Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt.) Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, die beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen wie entehrt abseits, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden … Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht!

Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran.

»Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß …«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen Gebärde ihre feinen Finger langsam und effektvoll an seine Lippen. Überhaupt war es recht schwer, den General in Verlegenheit zu bringen. Sein Äußeres war, von einer gewissen Nachlässigkeit abgesehen, immer noch ziemlich anständig, was er selbst recht wohl wußte. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, in sehr guter Gesellschaft zu verkehren, aus der er erst vor zwei, drei Jahren endgültig ausgeschlossen worden war. Seitdem hatte er sich allerdings widerstandslos seinen Schwächen hingegeben, aber seine gewandten, angenehmen Manieren hatte er sich immer noch bewahrt. Nastasja Filippowna schien über das Erscheinen Ardalion Alexandrowitschs, über den sie natürlich schon manches gehört hatte, außerordentlich erfreut zu sein.

»Ich habe gehört, daß mein Sohn …«, begann der General.

»Ja, Ihr Sohn! Aber Sie sind mir auch nett, Papachen! Warum lassen Sie sich nie bei mir sehen? Verstecken Sie sich selbst, oder versteckt Sie Ihr Sohn? Sie wenigstens können doch zu mir kommen, ohne jemand zu kompromittieren.«

»Die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Väter …«, fing der General wieder an.

»Nastasja Filippowna«, sagte Nina Alexandrowna laut, »lassen Sie doch bitte meinen Mann für einen Augenblick fortgehen, es fragt jemand nach ihm.«

»Fortgehen lassen? Aber ich bitte Sie, ich habe so viel von ihm gehört und schon so lange gewünscht, ihn persönlich kennenzulernen! Und was kann er denn zu tun haben? Er befindet sich doch im Ruhestande? Sie werden mich doch nicht verlassen, General, werden doch nicht fortgehen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß er Ihnen bald einen Besuch machen wird, aber jetzt bedarf er dringend der Ruhe.«

»Ardalion Alexandrowitsch, es wird behauptet, Sie bedürften dringend der Ruhe!« rief Nastasja Filippowna mit unzufriedener, schmollender Miene, wie ein launisches kleines Mädchen, dem man sein Spielzeug wegnimmt. Der General benutzte die Gelegenheit, sich noch närrischer zu gebärden.

»Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte.

»Wollen Sie nicht hinausgehen, Mamachen«, fragte Warja laut.

»Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.«

Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben, aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.

Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.

»Führen doch Sie ihn weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganjka!« fügte er für sich hinzu.

»Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach zwanzigjähriger Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie . Aber leider liegt der eine von uns im Grabe, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen …«

»Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.

»Sie sitzen hier in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«

»Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn! …« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen.

»Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja, aber … es lohnt nicht die Mühe, es zu erzählen.«

»Aber unbedingt müssen Sie es erzählen!« rief Nastasja Filippowna lustig.

»Auch ich habe diese Geschichte noch nicht gehört«, bemerkte Ferdyschtschenko. »«

»Ardalion Alexandrowitsch!« rief Nina Alexandrowna wieder in flehendem Tone.

»Papachen, es fragt jemand nach Ihnen«, sagte Kolja.

»Es ist eine dumme Geschichte, und sie läßt sich in wenigen Worten erzählen«, begann der General sehr selbstzufrieden. »Vor zwei Jahren, ja, vor noch nicht ganz zwei Jahren, die Eröffnung der neuen ***skischen Eisenbahn hatte soeben stattgefunden, mußte ich in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit – es handelte sich um den Austritt aus meiner dienstlichen Stellung – eine Reise machen; ich war schon in Zivil und nahm mir ein Billett erster Klasse. Ich steige ein, setze mich hin und rauche. Das heißt, ich fahre fort zu rauchen, angesteckt hatte ich mir die Zigarre schon vorher. Ich war in dem Abteil ganz allein. Das Rauchen ist nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, es ist so halb erlaubt und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, steigen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzen sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören, aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoße der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie meine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es trug ein silbernes Halsband, mit einer Inschrift darauf. Ich kümmere mich um nichts, merke aber, daß die Damen sich ärgern, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern, denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können, wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schweigen … Auf einmal – und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug saust dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das muß ein tolles Frauenzimmer gewesen sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster. Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.«

»Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.

»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!«

»Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.«

»Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!«

»Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig.

»Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!«

»Und Sie?«

Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann:

»Ich ließ mich hinreißen!«

»Haben Sie ihr weh getan? Ja?«

»Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben, aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst seine Hand im Spiel: es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja, und die im schwarzen Kleide, das war die älteste Prinzessin Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskij sehen Hause steht. Alle Prinzessinnen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Prinzessinnen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf!«

»Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich, »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ – ich lese die Indépendance ständig – genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Abteil zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!«

Der General wurde sehr rot, auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen, Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte unsagbare, unerträgliche Qualen durch.

»Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der General, »daß auch mir ganz dasselbe begegnet ist …«

»Papa hat wirklich Unannehmlichkeiten mit Mrs. Smith, der Gouvernante bei Bjelokonskijs gehabt«, rief Kolja. »Daran erinnere ich mich.« »Wie! Genau ebenso? Ein und dieselbe Geschichte sollte sich an zwei weit auseinanderliegenden Stellen Europas zugetragen haben, genau übereinstimmend in allen Einzelheiten einschließlich des hellblauen Kleides?« sagte Nastasja Filippowna, unbarmherzig bei diesem Gegenstand beharrend. »Ich werde Ihnen die ›Indépendance Belge‹ zuschicken.

»Aber beachten Sie wohl«, erwiderte der General, der sich immer noch standhaft verteidigte, »daß es mir zwei Jahre früher passiert ist.«

»Ja, das ist entscheidend!«

Nastasja Filippowna brach in ein geradezu hysterisches Lachen aus.

»Papachen, ich bitte Sie, auf ein paar Worte mit mir hinauszukommen«, sagte Ganja mit zitternder Stimme, der man seine Seelenqual anhörte, und faßte den Vater mechanisch an der Schulter.

Ein grenzenloser Haß loderte in seinem Blicke.

In diesem Augenblick ertönte außerordentlich laut die Klingel im Vorzimmer. Bei so gewaltsamem Läuten konnte die Klingel abreißen. Man konnte sich auf einen ungewöhnlichen Besuch gefaßt machen, Kolja lief hin, um zu öffnen.

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Kapitel 49

XI

Eine Stunde darauf war er bereits in Petersburg, und zwischen neun und zehn Uhr klingelte er bei Rogoshin. Er hatte das Haus durch den Haupteingang betreten, und es wurde ihm lange nicht geöffnet. Endlich öffnete sich die Tür zur Wohnung der alten Rogoshina, und es erschien die alte, würdig aussehende Dienerin.

»Parfen Semjonowitsch ist nicht zu Hause«, meldete sie, in der Tür stehend. »Zu wem wollten Sie?«

»Zu Parfen Semjonowitsch.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Die Dienerin betrachtete den Fürsten mit sonderbarer Neugier.

»Sagen Sie mir wenigstens, ob er die Nacht über zu Hause gewesen ist! Und… ist er gestern allein zurückgekommen?«

Die Dienerin fuhr fort, ihn anzusehen, gab aber keine Antwort.

»War nicht gestern … gegen Abend … Nastasja Filippowna mit ihm zusammen hier?«

»Gestatten Sie die Frage, wer Sie selbst sind!«

»Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, wir sind sehr gut miteinander bekannt.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Die Dienerin schlug die Augen nieder.

»Und Nastasja Filippowna?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Warten Sie, warten Sie! Wann wird er denn wiederkommen?«

»Das weiß ich auch nicht.«

Die Tür schloß sich.

Der Fürst beschloß, nach einer Stunde wiederzukommen. Als er in den Hof hineinschaute, fand er dort den Hausknecht.

»Ist Parfen Semjonowitsch zu Hause?«

»Jawohl.«

»Wie kommt es denn, daß mir soeben gesagt wurde, er wäre nicht zu Hause?«

»Ist Ihnen das in seiner Wohnung gesagt worden?«

»Nein, es war die Dienerin seiner Mutter; bei Parfen Semjonowitsch habe ich geklingelt, aber es wurde nicht geöffnet.«

»Vielleicht ist er auch ausgegangen«, meinte der Hausknecht. »Er meldet das nicht an. Manchmal nimmt er auch den Schlüssel mit, dann bleibt die Wohnung drei Tage lang verschlossen.«

»Daß er gestern zu Hause war, weißt du bestimmt?«

»Ja, er war zu Hause. Manchmal kommt er vom Haupteingang her; dann sieht ihn unsereiner gar nicht.«

»Und Nastasja Filippowna war gestern nicht bei ihm?«

»Das weiß ich nicht. Sie geruht nicht oft zu kommen; man würde es doch wohl wissen, wenn sie gekommen wäre.«

Der Fürst ging hinaus und wanderte eine Weile in Gedanken versunken auf dem Gehsteig hin und her. Die Fenster der von Rogoshin bewohnten Zimmer waren sämtlich geschlossen; die Fenster der von seiner Mutter bewohnten Seite standen fast alle offen. Es war ein heller, heißer Tag; der Fürst ging quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig, stellte sich dort hin und blickte noch einmal nach den Fenstern: sie waren nicht nur geschlossen, sondern es waren auch fast bei allen die weißen Vorhänge heruntergelassen.

Er stand ein Weilchen da, und – seltsam – auf einmal schien es ihm, als ob der Rand eines Vorhangs ein wenig zur Seite geschoben und Rogoshins Gesicht sichtbar würde und in demselben Augenblick wieder verschwände. Er wartete noch eine kurze Zeit und wollte schon hingehen und noch einmal klingeln, änderte aber dann seine Absicht und verschob es um eine Stunde: ›Wer weiß, vielleicht ist es mir nur so vorgekommen…‹

Vor allen Dingen eilte er jetzt zum Ismailowskij Polk, nach der Wohnung, die Nastasja Filippowna noch unlängst innegehabt hatte. Es war ihm bekannt, daß sie, als sie auf seine Bitte vor drei Wochen aus Pawlowsk weggezogen war, sich im Ismailowskij Polk bei einer früheren guten Bekannten von ihr einquartiert hatte, einer Lehrerwitwe, einer achtbaren und kinderreichen Dame, die einen Teil ihrer Wohnung gut möbliert weitervermietete und davon fast ganz lebte. Das wahrscheinlichste war, daß Nastasja Filippowna, als sie wieder nach Pawlowsk übersiedelte, die Wohnung behalten hatte; wenigstens war sehr wahrscheinlich, daß sie jetzt in dieser Wohnung, in die sie gestern wohl von Rogoshin gebracht worden war, übernachtet hatte. Der Fürst nahm eine Droschke. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß er hier hätte anfangen sollen, da es unwahrscheinlich sei, daß sie in der Nacht direkt zu Rogoshin gefahren wäre. Dabei mußte er auch an die Bemerkung des Hausknechts denken, daß Nastasja Filippowna nicht häufig ins Haus gekommen sei. Wenn sie überhaupt nur selten hinkam, aus welchem Grund sollte sie dann gerade jetzt bei Rogoshin eingekehrt sein? Sich mit diesen Tröstungen ermutigend, gelangte der Fürst endlich mehr tot als lebendig zum Ismailowskij Polk.

Zu seiner großen Überraschung hatte man bei der Lehrerwitwe weder am vorhergehenden noch an diesem Tage etwas von Nastasja Filippowna gehört, aber alle kamen herausgelaufen, um ihn wie ein Wundertier anzustaunen. Die ganze zahlreiche Familie der Lehrerwitwe, lauter Mädchen, immer ein Jahr auseinander, im Alter von fünfzehn bis zu sieben Jahren, kam hinter der Mutter her und umringte ihn mit offenem Mund. Hinter ihnen erschien auch ihre hagere, gelbe Tante mit einem schwarzen Kopftuch, und endlich die Großmutter der Familie, eine alte Dame mit einer Brille. Die Lehrerwitwe bat ihn dringend, einzutreten und sich zu setzen, was der Fürst auch tat. Er merkte sofort, daß ihnen durchaus bekannt war, wer er war, und daß sie genau wußten, daß gestern seine Hochzeit hatte sein sollen, und nun den brennenden Wunsch hatten, ihn sowohl nach der Hochzeit zu fragen als auch eine Erklärung des wunderlichen Umstandes zu erhalten, daß er sich jetzt bei ihnen nach derjenigen erkundigte, die jetzt nirgends sonst als in Pawlowsk mit ihm hätte zusammensein sollen, daß aber ihr Taktgefühl sie von diesen Fragen zurückhielt. In kurzen Zügen befriedigte er ihre Neugier hinsichtlich der Hochzeit. Nun fingen sie an, ihr Erstaunen zu äußern und »ach!« und »oh!« zu rufen, so daß er sich genötigt sah, auch fast alles übrige zu erzählen, natürlich mit Beschränkung auf die Hauptpunkte. Endlich kam der Rat der weisen, aufgeregten Damen zu dem Schluß, der Fürst müsse unter allen Umständen und vor allen Dingen sich den Zutritt zu Rogoshin erzwingen und sich von ihm über alles positive Auskunft geben lassen. Wenn Rogoshin nicht zu Hause sei (was zuverlässig festgestellt werden müsse) oder nichts sagen wolle, so müsse der Fürst zum Semjonowskij Polk fahren, zu einer deutschen Dame, einer Bekannten von Nastasja Filippowna, die dort mit ihrer Mutter wohne: vielleicht habe Nastasja Filippowna in ihrer Aufregung und in dem Wunsch, sich verborgen zu halten, bei denen übernachtet. Der Fürst erhob sich in sehr bedrückter Stimmung; die Damen erzählten später, er sei »furchtbar blaß« geworden; tatsächlich konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Endlich hörte er aus dem schrecklichen Stimmengewirr heraus, daß sie sich verabredeten, ihm behilflich zu sein, und ihn nach seiner Adresse in der Stadt fragten. Eine Adresse, unter der er zu erreichen gewesen wäre, hatte er gar nicht, und so rieten sie ihm denn, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen. Der Fürst überlegte ein Weilchen und gab ihnen dann die Adresse seines früheren Gasthauses an, desselben, wo er vor fünf Wochen den Anfall gehabt hatte. Dann begab er sich wieder zu Rogoshin. Dieses Mal wurde nicht nur bei Rogoshin nicht geöffnet, sondern auch die Tür zur Wohnung der alten Mutter blieb geschlossen. Der Fürst begab sich zum Hausknecht und fand ihn mit Mühe auf dem Hof; der Hausknecht war irgendwie beschäftigt und antwortete kaum, er sah den Fürsten sogar kaum an, aber er erklärte doch mit Bestimmtheit, Parfen Semjonowitsch sei ganz früh weggegangen, er sei nach Pawlowsk gefahren und werde heute nicht mehr nach Hause kommen.

»Ich werde warten; vielleicht kommt er am Abend?«

»Vielleicht bleibt er auch eine Woche weg, wer kann das wissen?«

»Also hat er doch heute hier übernachtet?«

»Übernachtet hat er hier schon …«

All dies war verdächtig und unheimlich. Sehr möglich, daß der Hausknecht in der Zwischenzeit neue Instruktionen erhalten hatte: vorhin war er geradezu redselig gewesen, und jetzt wandte er sich einfach vom Fürsten ab. Aber der Fürst beschloß, nach zwei Stunden noch einmal wiederzukommen und, wenn nötig, sogar bei dem Haus Wache zu halten; jetzt aber blieb noch die Hoffnung auf die Deutsche, und er fuhr eiligst zum Semjonowskij Polk.

Aber bei der Deutschen fand er überhaupt kein Verständnis für seine Wünsche. Aus einigen flüchtigen Andeutungen konnte er sogar entnehmen, daß die schöne Deutsche sich vor ungefähr vierzehn Tagen mit Nastasja Filippowna überworfen hatte, so daß sie alle diese Tage von ihr nichts gehört hatte und jetzt ausdrücklich zu verstehen gab, es interessiere sie gar nicht, wieder von ihr zu hören, »und wenn sie alle Fürsten der Welt heiratet«. Der Fürst beeilte sich, wieder wegzugehen. Es kam ihm unter anderm der Gedanke, sie sei vielleicht wie damals nach Moskau gefahren und Rogoshin selbstverständlich hinter ihr her, vielleicht aber auch mit ihr zusammen. ›Wenn man wenigstens irgendwelche Spuren finden könnte!‹ dachte er. Er erinnerte sich jedoch, daß er in dem Gasthaus Quartier nehmen mußte, und eilte nach der Litejnaja-Straße; dort wies man ihm sogleich ein Zimmer an. Der Kellner fragte ihn, ob er etwas essen wolle; er bejahte in seiner Zerstreutheit und war, als er dann seine Gedanken gesammelt hatte, sehr ärgerlich auf sich selbst, weil das Essen ihn unnötigerweise eine halbe Stunde aufhielt; erst nachher fiel ihm ein, daß ihn ja nichts gehindert hätte, das bestellte Essen im Stich zu lassen. Eine sonderbare Empfindung bemächtigte sich seiner in diesem halbdunklen, heißen Korridor, eine Empfindung, die qualvoll danach strebte, sich in einen Gedanken zu verwandeln; aber er konnte absolut nicht erraten, worin dieser neue, sich aufdrängende Gedanke eigentlich bestand. Als er endlich das Gasthaus verließ, war er kaum bei Sinnen; ihn schwindelte, aber wohin sollte er fahren? Er eilte wieder zu Rogoshin.

Rogoshin war nicht zurückgekehrt; auf sein Klingeln wurde nicht geöffnet; er klingelte bei der alten Rogoshina; es wurde geöffnet und ihm gesagt, Parfen Semjonowitsch sei nicht da und werde vielleicht drei Tage wegbleiben. Auffällig war dem Fürsten, daß die Dienerin ihn wie früher mit einer seltsamen Neugier musterte. Den Hausknecht fand er diesmal überhaupt nicht. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ging er wie das vorige Mal auf den gegenüberliegenden Gehsteig, sah nach den Fenstern und wanderte in der drückenden Hitze eine halbe Stunde, vielleicht auch noch länger, auf und ab; aber dieses Mal bewegte sich nichts; die Fenster öffneten sich nicht; die weißen Vorhänge waren unbeweglich. Er sagte sich endgültig, daß es ihm gewiß auch vorhin nur so vorgekommen sei und daß die Fenster allem Anschein nach so trübe und so lange nicht geputzt seien, daß man es schwer erkennen könne, wenn wirklich jemand durch die Scheiben sähe. Erfreut über diesen Gedanken, fuhr er wieder zum Ismailowskij Polk zu der Lehrerwitwe.

Dort erwartete man ihn bereits. Die Lehrerwitwe war schon an drei, vier Stellen gewesen und sogar selbst zu Rogoshin gefahren, hatte aber nicht die geringste Spur gefunden. Der Fürst hörte schweigend zu, trat ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte alle an, als verstünde er gar nicht, wovon sie redeten. Sonderbar: bald war er außerordentlich aufmerksam, bald wurde er auf einmal wieder in unglaublichem Maße zerstreut. Die ganze Familie erklärte später, er sei an diesem Tag »ein ganz erstaunlich sonderbarer Mensch« gewesen, so daß sich vielleicht damals schon alles bei ihm »angedeutet« habe. Er stand schließlich auf und bat, man möchte ihm die früher von Nastasja Filippowna bewohnten Zimmer zeigen. Dies waren zwei große, helle, hohe, sehr anständig möblierte Zimmer, deren Mietspreis ziemlich hoch war. Alle diese Damen erzählten später, der Fürst habe in den Zimmern jeden Gegenstand betrachtet, er habe auf einem Tischchen ein aufgeschlagenes Buch aus der Leihbibliothek gesehen, den französischen Roman »Madame Bovary«, habe an der aufgeschlagenen Stelle die Ecke eines Blattes umgebogen, um die Erlaubnis gebeten, das Buch mitnehmen zu dürfen, und ohne auf den Einwand zu hören, daß es Eigentum der Leihbibliothek sei, es sofort in die Tasche gesteckt. Er habe sich an das offene Fenster gesetzt und, als er den mit Kreide vollgeschriebenen Spieltisch bemerkt habe, gefragt, wer da gespielt habe. Sie hätten ihm erzählt, Nastasja Filippowna habe jeden Abend mit Rogoshin Schafskopf, Préférence, Müller, Whist, Eigentrumpf und alle möglichen Spiele gespielt, das Kartenspielen sei bei ihnen erst in der letzten Zeit, nach der Übersiedlung von Pawlowsk nach Petersburg, aufgekommen, denn Nastasja Filippowna habe immer geklagt, sie langweile sich, und Rogoshin sitze die ganzen Abende schweigend da und wisse über nichts zu reden, und sie habe sogar häufig darüber geweint; da habe Rogoshin eines Abends auf einmal ein Spiel Karten aus der Tasche gezogen; Nastasja Filippowna habe laut aufgelacht, und sie hätten angefangen zu spielen. Der Fürst fragte, wo die Karten seien, mit denen sie gespielt hätten. Aber die Karten waren nicht zu finden; die Karten hatte Rogoshin immer selbst in der Tasche mitgebracht, jeden Tag ein neues Spiel, und dann wieder mit fortgenommen.

Die Damen rieten ihm, noch einmal zu Rogoshin zu fahren und noch einmal möglichst stark zu klingeln und zu klopfen, aber nicht sogleich, sondern erst am Abend: »Vielleicht findet er sich doch noch ein.« Die Lehrerwitwe erbot sich, inzwischen selbst vor Abend nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna zu fahren, ob dort irgend etwas bekannt sei. Sie baten den Fürsten, jedenfalls um zehn Uhr abends noch einmal zu ihnen zu kommen, damit sie für den nächsten Tag Verabredungen treffen könnten. Obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten und ihm Hoffnung zu machen suchten, hatte sich doch völlige Verzweiflung der Seele des Fürsten bemächtigt. In unbeschreiblichem Kummer ging er zu Fuß nach seinem Gasthaus zurück. In dem sommerlichen, staubigen, stickigen Petersburg fühlte er sich wie in einem Schraubstock; er drängte sich zwischen grobem oder betrunkenem Volk durch, blickte ziellos in allerlei Gesichter und machte vielleicht einen weiten Umweg; es war schon beinahe Abend, als er im Gasthaus in sein Zimmer trat. Er beschloß, sich ein Weilchen zu erholen und dann wieder zu Rogoshin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach.

Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Ihm fiel Wera Lebedewa ein; dann dachte er, daß Lebedew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoshin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoshin selbst: an dessen Anwesenheit neulich bei der Seelenmesse, dann an die Begegnung im Park, dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als Rogoshin sich in dem Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf.

Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoshin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen würde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoshin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoshin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen würde, ihn hier zu finden… wenn er ihn sehr brauchte. Und wie konnte man wissen, vielleicht brauchte er ihn wirklich schon sehr nötig.

So dachte er, und dieser Gedanke schien ihm durchaus möglich. Er wäre, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen, manche Fragen befriedigend zu beantworten: ›Warum soll Rogoshin mich plötzlich so dringend brauchen, und warum ist es sogar ausgeschlossen, daß wir nicht schließlich zusammenkommen?‹ Aber der Fürst sagte sich in sehr bedrückter Stimmung weiter: ›Wenn es ihm gut geht, wird er nicht kommen; eher wenn es ihm schlecht geht, und es wird ihm gewiß schlecht gehen…‹

Bei dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoshin zu Hause, im Hotelzimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen, er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. ›Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?‹ ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging durch das Tor, trat auf den Gehsteig hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr:

»Lew Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich brauche dich.«

Es war Rogoshin.

Sonderbar: der Fürst begann auf einmal, vor Freude stammelnd und die Worte kaum zu Ende sprechend, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe.

»Ich war dort«, erwiderte Rogoshin zu seiner Überraschung. »Komm mit!«

Der Fürst wunderte sich über diese Antwort, aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoshin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt voraus, er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus.

»Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht… wenn du doch im Gasthaus warst?« fragte der Fürst auf einmal.

Rogoshin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, als verstünde er die Frage nicht:

»Weißt du was, Lew Nikolajewitsch, geh du hier geradeaus bis dicht an unser Haus, verstehst du? Ich gehe auf der anderen Seite. Aber paß auf, daß wir nicht auseinanderkommen!…«

Nach diesen Worten ging er quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig hinüber, sah sich um, ob der Fürst auch weitergehe, und als er bemerkte, daß dieser stehengeblieben war und mit weitgeöffneten Augen nach ihm hinblickte, machte er ihm mit der Hand ein Zeichen nach der Gorochowaja-Straße zu und ging dann weiter, indem er sich alle Augenblicke nach dem Fürsten hinwandte und ihn zum Nachkommen aufforderte. Er war augenscheinlich beruhigt, als er sah, daß der Fürst ihn verstanden hatte und nicht von dem andern Gehsteig zu ihm herüberkam. Dem Fürsten ging der Gedanke durch den Kopf, daß Rogoshin wohl nach jemand Ausschau halten und ihn nicht auf der Straße unbemerkt vorbeigehen lassen wolle und darum nach dem andern Gehsteig hinübergegangen sei. ›Aber warum hat er denn nicht gesagt, nach wem er Ausschau hält?‹ fragte er sich. So gingen sie etwa fünfhundert Schritte, und auf einmal begann der Fürst aus irgendeinem Grund zu zittern; Rogoshin sah sich immer noch um, wenn auch jetzt seltener; der Fürst konnte seine Angst nicht mehr ertragen und winkte ihm mit der Hand. Der kam sofort über die Straße zu ihm herüber.

»Ist Nastasja Filippowna etwa bei dir?«

»Ja, sie ist bei mir.«

»Hast du vorhin hinter dem Vorhang nach mir durchs Fenster gesehen?«

»Ja…«

»Warum hast du denn …«

Aber der Fürst wußte nicht, was er weiter fragen und wie er seine Frage schließen sollte; auch schlug ihm das Herz so heftig, daß ihm das Sprechen schwerfiel. Rogoshin schwieg ebenfalls und blickte ihn wie früher an, das heißt wie in Gedanken versunken.

»Nun, dann werde ich wieder gehen«, sagte er auf einmal, indem er sich anschickte, wieder hinüberzugehen, »und du geh für dich! Wir wollen auf der Straße getrennt gehen… es ist besser so… auf verschiedenen Seiten… du wirst schon sehen.«

Als sie endlich auf den zwei verschiedenen Gehsteigen in die Gorochowaja-Straße einbogen und sich dem Haus Rogoshins näherten, wurden dem Fürsten wieder die Beine so schwach, daß er nur mit großer Mühe weitergehen konnte. Es war schon gegen zehn Uhr abends. Die Fenster in der Wohnungshälfte der alten Mutter standen wie vorhin offen, in der Rogoshinschen Hälfte waren sie geschlossen, und in der Abenddämmerung waren die heruntergelassenen weißen Vorhänge noch auffälliger. Der Fürst näherte sich dem Haus auf dem gegenüberliegenden Gehsteig; Rogoshin trat von seinem Gehsteig auf die Stufen vor der Haustür und winkte ihm mit der Hand. Der Fürst ging zu ihm hinüber und stieg die Stufen hinan.

»Daß ich nach Hause zurückgekommen bin, weiß jetzt nicht einmal der Hausknecht. Ich habe ihm vorhin gesagt, ich führe nach Pawlowsk, und bei meiner Mutter habe ich es ebenfalls gesagt«, flüsterte er mit einem schlauen, selbstzufriedenen Lächeln. »Wenn wir hineingehen, wird es niemand hören.«

Er hatte schon den Schlüssel in der Hand. Während er die Treppe hinaufstieg, drehte er sich um und machte dem Fürsten eine drohende Gebärde, er solle leiser gehen, schloß leise die Tür zu seiner Wohnung auf, ließ den Fürsten hinein, folgte ihm vorsichtig, schloß die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

»Komm!« sagte er flüsternd.

Schon von dem Gehsteig in der Litejnaja-Straße an hatte er im Flüsterton gesprochen. Trotz all seiner äußeren Ruhe befand er sich in tiefer innerer Erregung. Als sie in den vor seinem Arbeitszimmer gelegenen Saal traten, ging er ans Fenster und winkte den Fürsten geheimnisvoll zu sich heran.

»Als du vorhin bei mir klingeltest, dachte ich mir gleich, daß du es selbst wärest; ich ging auf den Zehen an die Tür und hörte, daß du mit der alten Pafnutjewna sprachst. Aber ich hatte der schon ganz früh am Morgen aufgetragen: wenn du oder irgendein Abgesandter von dir oder sonst jemand bei mir klopfen sollte, dann soll sie mich unter allen Umständen verleugnen, und besonders wenn du selbst kämst und nach mir fragtest und ihr deinen Namen angäbest. Aber als du dann weggegangen warst, kam mir der Gedanke: wie, wenn er jetzt dasteht und hersieht oder auf der Straße Wache hält? Ich ging zu ebendiesem Fenster hier, schob den Vorhang ein wenig zurück, sah hinaus, und da standest du und sahst mich gerade an … So ist das gewesen.«

»Wo ist aber … Nastasja Filippowna?« fragte der Fürst, nur mühsam atmend.

»Sie ist… hier«, erwiderte Rogoshin langsam, nachdem er einen Augenblick mit der Antwort gezögert hatte.

»Wo denn?«

Rogoshin hob die Augen zum Fürsten und blickte ihn fest an.

»Komm…«

Er sprach immer flüsternd und ohne sich zu beeilen, langsam und wie früher seltsam nachdenklich. Selbst als er die Geschichte von dem Vorhang erzählte, machte es den Eindruck, als wolle er mit seiner Erzählung trotz aller Mitteilsamkeit etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen.

Sie gingen in das Arbeitszimmer. In diesem Zimmer hatte sich, seit der Fürst darin gewesen war, eine gewisse Veränderung vollzogen: quer durch das ganze Zimmer war ein grünseidner Vorhang gezogen, mit zwei Eingängen, je einem an jedem Ende; er teilte von dem Zimmer einen Alkoven ab, in dem Rogoshins Bett stand. Der schwere Vorhang war heruntergelassen und die Eingänge geschlossen. Aber im Zimmer war es sehr dunkel; die »weißen« Petersburger Sommernächte begannen schon dunkler zu werden, und wäre nicht Vollmond gewesen, so hätte man in Rogoshins Wohnung mit den heruntergelassenen Vorhängen nur schwer etwas erkennen können. Allerdings konnte man noch die Gesichter unterscheiden, wenn auch nicht gerade deutlich. Rogoshins Gesicht war blaß wie gewöhnlich; die Augen blickten den Fürsten fest an, sie glänzten stark, waren aber unbeweglich.

»Willst du nicht Licht anzünden?« fragte der Fürst.

»Nein, das ist nicht nötig«, antwortete Rogoshin, faßte den Fürsten bei der Hand und zog ihn auf einen Stuhl nieder; er selbst setzte sich ihm gegenüber, indem er seinen Stuhl so heranzog, daß seine Knie fast gegen die des Fürsten stießen. Zwischen ihnen stand, etwas seitwärts, ein kleines rundes Tischchen. »Setz dich! Wir wollen ein Weilchen sitzen«, sagte er, als müßte er ihm zureden. Etwa eine Minute lang schwiegen sie. »Ich wußte, daß du dich in diesem selben Gasthaus einquartieren würdest«, begann er, wie manchmal die Leute zu Beginn eines bedeutsamen Gespräches mit unwichtigen Details anfangen, die in keinem direkten Bezug zur Sache stehen. »Als ich auf den Korridor kam, da dachte ich: ›Vielleicht sitzt auch er jetzt da und wartet auf mich, wie ich auf ihn, in diesem selben Augenblick.‹ Bist du bei der Lehrerwitwe gewesen?«

»Ja, ich war dort«, versetzte der Fürst; er konnte vor starkem Herzklopfen kaum reden.

»Ich habe auch daran gedacht. ›Es wird noch ein Gerede geben‹, dachte ich … und dann dachte ich noch: ›Ich werde ihn zum Übernachten hierherbringen, damit wir diese Nacht zusammen …‹«

»Rogoshin! Wo ist Nastasja Filippowna?« flüsterte der Fürst und stand, an allen Gliedern zitternd, auf.

Auch Rogoshin erhob sich.

»Dort«, flüsterte er und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Vorhang.

»Schläft sie?« flüsterte der Fürst.

Rogoshin blickte ihn wieder starr an wie vorher.

»Wollen wir hingehen?… Aber du… Na, gehen wir!«

Er hob die Portiere in die Höhe, blieb stehen und wandte sich wieder zum Fürsten.

»Geh hinein!« sagte er, mit dem Kopf auf die Portiere deutend und ihn zum Vorangehen einladend. Der Fürst ging unter dem Vorhang durch.

»Es ist hier dunkel«, sagte er.

»Man kann schon sehen!« murmelte Rogoshin.

»Ich sehe kaum … das Bett.«

»Tritt nur näher heran!« forderte ihn Rogoshin leise auf.

Der Fürst trat noch näher, einen Schritt, einen zweiten, dann blieb er stehen. Er stand da und blickte eine oder zwei Minuten lang hin; beide schwiegen während der ganzen Zeit, wo sie an dem Bett standen; dem Fürsten klopfte das Herz so, daß er meinte, es müßte im Zimmer bei der herrschenden Totenstille zu hören sein. Aber seine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er das ganze Bett erkennen konnte; auf ihm schlief jemand, ganz ohne sich zu rühren; man hörte nicht das leiseste Rascheln, nicht das leiseste Atemholen. Der Schlafende war bis über den Kopf mit einem weißen Leinentuch zugedeckt, aber die Glieder hoben sich nur undeutlich ab; man sah nur an der Erhöhung, daß da lang ausgestreckt ein Mensch lag. Ringsherum war auf dem Fußende des Bettes, auf den beim Bett stehenden Sesseln, sogar auf dem Fußboden die abgelegte Kleidung unordentlich hingeworfen: ein reiches weißseidenes Kleid, Blumen, Bänder. Auf einem kleinen Tischchen am Kopfende blitzten die abgelegten und durcheinandergeworfenen Brillanten. Am Fußende waren Spitzen zu einem Klumpen zusammengeknüllt, und auf den weißen Spitzen wurde, unter dem Leinentuch hervorschauend, eine nackte Fußspitze sichtbar; sie sah wie aus Marmor gemeißelt aus und war von einer erschreckenden Regungslosigkeit. Der Fürst blickte hin und fühlte, daß, je länger er hinblickte, die Totenstille im Zimmer immer drückender wurde. Auf einmal fing eine erwachte Fliege zu summen an, flog über das Bett hin und verstummte am Kopfende. Der Fürst fuhr zusammen.

»Gehen wir!« sagte Rogoshin, indem er seine Hand berührte.

Sie gingen hinaus und setzten sich wieder auf dieselben Stühle, wieder einander gegenüber. Der Fürst zitterte immer stärker und wendete seinen fragenden Blick nicht von Rogoshins Gesicht ab.

»Du zitterst ja, wie ich sehe, Lew Nikolajewitsch«, sagte Rogoshin endlich. »Fast wie in den Zeiten, wo du schwer leidend warst, erinnerst du dich, es war in Moskau? Oder wie einmal vor einem Anfall. Und ich weiß gar nicht, was ich mit dir jetzt anfangen sollte…«

Der Fürst strengte beim Zuhören alle seine Kräfte an, um das Gesagte zu verstehen, sein Blick hatte noch immer denselben fragenden Ausdruck.

»Hast du das getan?« sagte er endlich, mit dem Kopf nach der Portiere deutend.

»Ja … ich habe es getan…«, flüsterte Rogoshin und schlug die Augen nieder.

Sie schwiegen etwa fünf Minuten lang.

»Denn«, fuhr Rogoshin fort, als hätte er seine Rede nicht unterbrochen, »denn wenn du deine Krankheit und einen Anfall bekämest und zu schreien anfingest, dann könnte es womöglich jemand von der Straße oder vom Hof aus hören, und man würde merken, daß Leute in der Wohnung übernachten; man würde anklopfen und hereinkommen… denn sie denken alle, daß ich nicht zu Hause bin. Ich habe auch kein Licht angesteckt, damit man es von der Straße oder vom Hof aus nicht bemerkt. Denn wenn ich nicht hier bin, nehme ich auch die Schlüssel mit, und es kommt in meiner Abwesenheit drei, vier Tage lang niemand herein, auch nicht zum Reinmachen; so habe ich das angeordnet. Also damit sie nicht merken, daß wir die Nacht über hier sind…«

»Warte«, unterbrach ihn der Fürst, »ich habe vorhin sowohl den Hausknecht als auch die alte Frau gefragt, ob Nastasja Filippowna die Nacht hier zugebracht hätte. Also wissen sie es schon.«

»Ich weiß, daß du danach gefragt hast. Ich habe der alten Pafnutjewna gesagt, Nastasja Filippowna sei gestern mit hergekommen und gleich gestern nach Pawlowsk gefahren, sie habe sich bei mir nur zehn Minuten aufgehalten. Sie wissen also nicht, daß sie die Nacht über hiergewesen ist, niemand. Gestern sind wir ebenso hereingekommen wie heute du und ich, ganz leise. Ich dachte noch unterwegs im stillen, sie würde nicht leise hereinkommen mögen, aber nein! Sie flüsterte, ging auf den Zehenspitzen, raffte das Kleid hoch, damit es nicht raschelte, hielt es mit der Hand fest und drohte mir auf der Treppe selbst mit dem Finger solche Angst hatte sie vor dir. Im Zug war sie rein wie eine Wahnsinnige vor lauter Furcht und sprach selbst den Wunsch aus, hier in meiner Wohnung die Nacht über zu bleiben; ich hatte anfangs daran gedacht, sie in ihre alte Wohnung zu der Lehrerwitwe zu bringen, aber nein! ›Da wird er mich gleich frühmorgens suchen‹, sagte sie; ›aber du wirst mich verstecken, und morgen bei Tagesanbruch wollen wir nach Moskau‹, und dann wollte sie weiter nach Orjol. Auch beim Hinlegen redete sie immerzu davon, daß wir nach Orjol fahren wollten …«

»Warte, was willst du denn jetzt tun, Parfen, was hast du vor?«

»Siehst du, ich habe Sorge deinetwegen, weil du immer so zitterst. Die Nacht wollen wir hier zusammen verbringen. Betten sind außer dem da hier nicht vorhanden, ich habe gedacht, ich wollte von den beiden Sofas die Kissen herunternehmen und hier bei dem Vorhang für uns beide, für dich und mich, eine Lagerstatt herrichten, so daß wir nebeneinander liegen können. Denn wenn sie hereinkommen und anfangen, sich umzusehen oder zu suchen, werden sie sie gleich sehen und forttragen. Sie werden mich befragen, und ich werde erzählen, daß ich es gewesen bin, und sie werden mich sofort abführen. Also mag sie jetzt hier liegenbleiben, neben uns, neben mir und dir …«

»Ja, ja!« stimmte ihm der Fürst lebhaft zu.

»Also wir wollen jetzt nichts verraten und sie nicht forttragen lassen.«

»Um keinen Preis!« versetzte der Fürst. »Ja nicht, ja nicht!«

»Das war auch meine Meinung, daß wir das um keinen Preis tun und sie niemandem herausgeben wollten! Die Nacht wollen wir hier ganz still verbringen. Ich bin heute nur eine Stunde lang von Hause weggewesen, am Vormittag; die übrige Zeit war ich immer bei ihr. Und dann ging ich am Abend fort, um dich zu holen. Ich fürchte nun noch, daß es bei der Hitze riechen wird. Spürst du einen Geruch oder nicht?«

»Vielleicht spüre ich etwas, ich weiß es nicht, aber morgen früh wird es gewiß riechen.«

»Ich habe sie mit Wachstuch zugedeckt, mit gutem amerikanischem Wachstuch, und über dem Wachstuch mit einem Leinentuch, und vier offene Flaschen mit Shdanowscher Flüssigkeit habe ich danebengestellt, die stehen jetzt noch da.«

»Du hast das genauso gemacht wie … wie der in Moskau?«

»Weil man es riechen wird, Bruder. Aber wie sie daliegt… Am Morgen, wenn es hell wird, dann sieh sie dir an! Was ist mit dir? Du kannst wohl gar nicht aufstehen?« fragte Rogoshin erstaunt und ängstlich, als er sah, daß der Fürst so zitterte, daß er nicht imstande war, sich zu erheben.

»Die Beine sind mir schwach«, murmelte der Fürst. »Das kommt von der Angst, ich kenne das … Wenn die Angst vorübergeht, werde ich wieder aufstehen können …«

»Warte noch, ich werde inzwischen das Lager für uns zurechtmachen, dann kannst du dich hinlegen… und ich werde mich zu dir legen… und dann wollen wir hören… denn, mein Junge, ich weiß noch nicht… ich weiß jetzt noch nicht alles; das sage ich dir im voraus, damit du alles darüber im voraus weißt…«

Während Rogoshin diese unklaren Worte murmelte, begann er, die Lagerstatt herzurichten. Offenbar hatte er sich eine solche schon vorher im stillen ausgedacht, vielleicht schon am Morgen. In der vorhergehenden Nacht hatte er selbst auf dem Sofa gelegen. Aber zwei Personen konnten nicht nebeneinander auf dem Sofa liegen, und er wollte jetzt durchaus zwei Lager nebeneinander herrichten; deshalb schleppte er jetzt mit großer Anstrengung von den beiden Sofas allerlei verschieden große Kissen durch das ganze Zimmer bis dicht an den einen Eingang des Vorhanges.

Es wurde eine leidliche Lagerstatt; er trat zum Fürsten, faßte ihn zärtlich und behutsam unter den Arm, half ihm auf und führte ihn zu dem Lager; es stellte sich heraus, daß der Fürst auch allein gehen konnte; denn »die Angst war vorübergegangen«; aber er zitterte doch noch immer.

»Weißt du, Bruder«, begann Rogoshin auf einmal, nachdem er den Fürsten sich auf das linke, bessere Lager hatte legen lassen und sich selbst, ohne die Kleider abzulegen, rechts von ihm hingestreckt und beide Hände hinter den Kopf gelegt hatte, »es ist heute heiß, und da wird es natürlich riechen… Die Fenster zu öffnen, fürchte ich mich; aber meine Mutter hat Töpfe mit Blumen, viele Blumen, und die duften sehr schön; ich habe daran gedacht, sie herüberzuholen, aber die alte Pafnutjewna würde etwas merken, denn sie ist sehr neugierig.«

»Ja, das ist sie«, bestätigte der Fürst.

»Soll ich vielleicht Blumen kaufen und sie ganz mit Sträußen bedecken? Aber ich glaube, sie würde mir gar zu leid tun, wenn sie so unter den Blumen daläge!«

»Hör mal…«, begann der Fürst, als wäre er verwirrt und überlegte, wonach er eigentlich fragen wollte, und vergäße es immer gleich wieder. »Hör mal, sage mir doch: womit hast du sie getötet? Mit einem Messer? Mit eben jenem Messer?«

»Ja, mit eben jenem…«

»Warte noch! Ich will dich noch etwas fragen, Parfen… ich werde dich noch nach vielem fragen, nach allem… aber sage mir lieber zuerst, zuallererst, damit ich das weiß: wolltest du sie vor meiner Hochzeit töten, vor der Trauung, an der Kirchentür, mit dem Messer? Wolltest du das oder nicht?«

»Ich weiß nicht, ob ich es wollte oder nicht…«, antwortete Rogoshin trocken, als wäre er sogar über die Frage einigermaßen verwundert und verstünde sie nicht.

»Hast du das Messer niemals nach Pawlowsk mitgenommen?«

»Nein, niemals. Ich kann dir über dieses Messer nur soviel sagen, Lew Nikolajewitsch«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »ich habe es heute früh aus einem verschlossenen Schubkasten herausgenommen, denn die ganze Sache geschah heute morgen zwischen drei und vier Uhr.

Es hat bei mir immer in einem Buch gelegen… Und… und… und da ist noch etwas, was mir wunderbar vorkommt: das Messer ist anderthalb oder sogar zwei Werschok tief eingedrungen … dicht unter der linken Brust… aber Blut ist nur so etwa ein halber Eßlöffel voll auf das Hemd herausgelaufen, nicht mehr …«

»Das, das, das«, stammelte der Fürst und richtete sich in furchtbarer Erregung auf, »das, das kenne ich, das habe ich gelesen… das nennt man innere Verblutung… Es kommt vor, daß kein einziger Tropfen herausfließt. Das ist so, wenn der Stoß gerade ins Herz gegangen ist…«

»Halt, hörst du?« unterbrach ihn auf einmal Rogoshin hastig und setzte sich erschrocken auf dem Lager aufrecht. »Hörst du?«

»Nein!« erwiderte ebenso hastig und erschrocken der Fürst und sah Rogoshin an.

»Es geht jemand! Hörst du? Im Saal…«

Beide begannen zu horchen.

»Ich höre es«, flüsterte der Fürst in festem Ton.

»Geht jemand?«

»Ja.«

»Wollen wir die Tür zuschließen oder nicht?«

»Wir wollen sie zuschließen….«

Sie schlossen die Tür zu und legten sich beide wieder hin. Sie schwiegen lange.

»Ach ja!« flüsterte der Fürst auf einmal aufgeregt, hastig wie vorhin, als hätte er wieder einen Gedanken erhascht und befürchtete ängstlich, ihn wieder zu verlieren; er richtete sich sogar auf seinem Lager hastig ein wenig in die Höhe. »Ja… ich wollte ja … diese Karten! Die Karten! Ich höre, du hast mit ihr Karten gespielt?«

»Ja, das habe ich getan«, erwiderte Rogoshin nach einigem Stillschweigen.

»Wo sind denn… die Karten?«

»Die Karten sind hier…«, versetzte Rogoshin, nachdem er noch länger geschwiegen hatte. »Da …«

Er zog ein gebrauchtes, in Papier gewickeltes Spiel Karten aus der Tasche und reichte es dem Fürsten. Dieser nahm es, aber mit einer Art von Befremden. Ein neues, trauriges, trostloses Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen; er wurde sich auf einmal bewußt, daß er in diesem Augenblick und schon längst immer nicht von dem redete, wovon er reden mußte, und immer nicht das tat, was er tun mußte, und daß dies Kartenspiel, das er in den Händen hielt und über das er sich so freute, jetzt zu nichts helfen konnte, zu gar nichts. Er stand auf und schlug die Hände zusammen. Rogoshin lag da, ohne sich zu rühren, und schien seine Bewegung weder zu hören noch zu sehen; aber seine Augen leuchteten hell durch die Dunkelheit und waren weit geöffnet und starr. Der Fürst setzte sich auf einen Stuhl und begann ihn angstvoll anzusehen. So verging etwa eine halbe Stunde; auf einmal fing Rogoshin an, laut und stoßweise zu schreien und zu lachen, als hätte er vergessen, daß sie nur flüsternd reden durften:

»Den Offizier, den Offizier … erinnerst du dich, wie sie den Offizier beim Konzert mit dem Spazierstöckchen ins Gesicht schlug, erinnerst du dich? Hahaha! Und wie der Leutnant hinzusprang … Der Leutnant… der Leutnant…«

Der Fürst sprang in neuem Schrecken vom Stuhl auf. Als Rogoshin verstummt war (und das geschah plötzlich), beugte sich der Fürst leise zu ihm herab, setzte sich neben ihn und begann ihn mit stark klopfendem Herzen und nur mühsam atmend zu betrachten. Rogoshin drehte den Kopf nicht zu ihm hin und schien seine Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Der Fürst sah ihn an und wartete; die Zeit verging, es begann hell zu werden. Rogoshin fing mitunter plötzlich an zu murmeln, laut, scharf und unzusammenhängend; er schrie und lachte; der Fürst streckte dann seine zitternde Hand nach ihm aus und berührte leise seinen Kopf und sein Haar, streichelte dieses und streichelte seine Wangen… mehr vermochte er nicht zu tun! Er selbst begann wieder zu zittern, und seine Beine waren auf einmal wieder wie gelähmt. Eine ganz neue Empfindung quälte sein Herz mit grenzenlosem Schmerz. Unterdessen war es ganz hell geworden; er legte sich endlich ganz kraftlos und verzweifelt auf das Kissen und schmiegte sein Gesicht an das blasse, regungslose Gesicht Rogoshins. Tränen strömten aus seinen Augen auf Rogoshins Wangen, aber vielleicht bemerkte er damals schon seine eigenen Tränen nicht mehr und wußte nichts mehr von ihnen …

Als viele Stunden nachher die Tür geöffnet wurde und Leute hereinkamen, fanden sie den Mörder in voller Bewußtlosigkeit und in starkem Fieber. Der Fürst saß, ohne sich zu rühren, neben ihm auf dem Lager und fuhr jedesmal, wenn der Kranke aufschrie oder zu phantasieren begann, ihm mit zitternder Hand eilig über das Haar und die Wangen, als wollte er ihn liebkosen und beruhigen. Aber er verstand nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte nicht mehr die Leute, die hereingekommen waren und ihn umringten. Und wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, um sich seinen ehemaligen Schüler und Patienten anzusehen, so würde er in Erinnerung an den Zustand, in dem sich der Fürst manchmal im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz befunden hatte, jetzt eine verzweifelte Handbewegung gemacht und wie damals gesagt haben: »Ein Idiot!«

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Kapitel 5

V

Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechtes, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken und ihre Gedanken irgendwie in eine andere Richtung zu lenken.

Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber noch dichtem Haar, etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Effekt mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben.

»Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?« Dabei riß die Generalin die Augen auf, soweit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an.

»Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Büro eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist…«

»Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?«

»Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens macht er den Eindruck eines gebildeten Menschen. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.«

»Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Tone und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Manne und umgekehrt hin und her rollen.

»Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen… übrigens ganz, wie es dir beliebt; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen, denn das ist beinahe ein gutes Werk.«

»Bei uns verkehren lassen? Aus der Schweiz kommt er?

»Die Schweiz kann dabei nicht hinderlich sein; übrigens noch einmal: ganz, wie du willst. Ich wünschte es deswegen, weil er erstens dein Namensvetter und vielleicht sogar ein Verwandter von dir ist und weil er zweitens nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Ich dachte sogar, du würdest dich für ihn ein wenig interessieren, da er ja doch zu unserer Familie gehört.«

»Selbstverständlich, maman, wenn wir mit ihm keine Umstände zu machen brauchen«, sagte Alexandra, die Älteste. »Überdies wird er von seiner Reise hungrig sein; warum sollen wir ihm da nicht etwas zu essen geben, wenn er nicht weiß, wo er bleiben soll?«

»Und obendrein ist er das reine Kind; man kann mit ihm noch Blindekuh spielen.«

»Blindekuh spielen? Wieso?«

»Ach, maman, hören Sie doch bitte auf, sich so anzustellen!« unterbrach Aglaja sie ärgerlich.

Die Mittlere, Adelaida, ein lachlustiges Ding, konnte sich nicht länger halten und lachte los.

»Rufen Sie ihn her, Papa, maman erlaubt es«, entschied Aglaja.

Der General klingelte und gab Befehl, den Fürsten zu rufen.

»Aber nur unter der Bedingung, daß ihm jedenfalls eine Serviette um den Hals gebunden wird, wenn er sich an den Tisch setzt«, erklärte die Generalin. »Ruft Fjodor oder Mawra … es soll einer hinter ihm stehen und auf ihn aufpassen, wenn er ißt. Verhält er sich denn wenigstens ruhig, wenn er seine Anfälle bekommt? Schlägt er nicht mit den Armen um sich?«

»Er ist sogar im Gegenteil sehr wohlerzogen und hat sehr gute Manieren. Etwas zu naiv ist er manchmal… Aber da ist er ja selbst! Hier stelle ich euch den Fürsten Myschkin vor, den Letzten dieses Geschlechtes, einen Namensvetter und vielleicht sogar Verwandten; nehmt ihn freundlich auf! Es findet gleich das Frühstück statt, Fürst; erweisen Sie uns also die Ehre… Mich aber entschuldigen Sie bitte; ich habe mich schon verspätet und muß mich beeilen…«

»Man weiß schon, wohin Sie es so eilig haben«, sagte die Generalin würdevoll.

»Ich muß eilen, ich muß eilen, liebe Frau; ich habe mich schon verspätet. Gebt ihm auch eure Albums, mesdames, damit er euch etwas hineinschreibt; er ist ein Kalligraph, wie man ihn selten findet! Dort bei mir in meinem Arbeitszimmer hat er in altertümlicher Schrift geschrieben: ›Der Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ … Nun, auf Wiedersehen!«

»Pafnutij? Abt? So warten Sie doch, warten Sie doch, wohin wollen Sie denn, und was ist das für ein Pafnutij?« rief die Generalin eigensinnig, ärgerlich und beinah in Aufregung ihrem davoneilenden Gatten nach.

»Ja, ja, liebe Frau, das war so ein Abt in alten Zeiten … Aber ich muß zum Grafen; er wartet auf mich, schon lange, und vor allen Dingen: er hat mir die Zeit selbst bestimmt… Auf Wiedersehen, Fürst!«

Der General entfernte sich mit schnellen Schritten.

»Ich weiß, zu welchem Grafen er es so eilig hat!« bemerkte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton und lenkte gereizt ihre Blicke auf den Fürsten. »Ja, was war doch gleich?« begann sie, indem sie sich mürrisch und ärgerlich zu erinnern suchte. »Wovon redeten wir nur? Ach ja: was war das für ein Abt?«

»Maman!« begann Alexandra, und Aglaja stampfte sogar mit dem Füßchen.

»Stören Sie mich nicht, Alexandra Iwanowna!« schalt die Generalin. »Ich will das auch wissen. Setzen Sie sich, Fürst, da auf diesen Sessel mir gegenüber; nein, hierher, rücken Sie mehr in die Sonne, ins Licht, damit ich Sie sehen kann! Nun also, was war das für ein Abt?«

»Der Abt Pafnutij«, antwortete der Fürst aufmerksam und ernst.

»Pafnutij? Das ist interessant; also was war mit ihm?«

Die Generalin fragte ungeduldig, schnell, in scharfem Ton, ohne die Augen von dem Fürsten wegzuwenden, und als der Fürst antwortete, nickte sie zu jedem seiner Worte mit dem Kopfe.

»Der Abt Pafnutij lebte im vierzehnten Jahrhundert«, begann der Fürst. »Er stand einem Kloster an der Wolga vor, in unserem jetzigen Gouvernement Kostroma. Er war durch sein frommes Leben weit und breit bekannt; er reiste auch zur Goldenen Horde, half die damals schwebenden Angelegenheiten ordnen und unterzeichnete ein Schriftstück; von dieser Unterschrift habe ich ein Faksimile gesehen. Die Schrift gefiel mir, und ich übte mich in ihr. Als der General vorhin sehen wollte, wie ich schreibe, um mir eine passende Stellung anzuweisen, schrieb ich einige Sätze in verschiedenen Schriftgattungen nieder und unter anderm auch den Satz: ›Der Abt Pafnutij hat dies eigenhändig unterzeichnet‹ in der Schrift des Abtes Pafnutij. Das gefiel dem General sehr, und so hat er es denn jetzt erwähnt.«

»Aglaja«, sagte die Generalin, »merk es dir: Pafnutij! Oder notier es dir lieber; ich vergesse dergleichen sonst immer. Übrigens hatte ich gedacht, die Sache würde interessanter sein. Wo ist denn diese Unterschrift?«

»Ich glaube, sie ist im Arbeitszimmer des Generals geblieben, auf dem Tisch.«

»Schickt doch gleich jemand hin und laßt sie herholen!«

»Ich werde sie Ihnen lieber noch einmal schreiben, wenn es Ihnen recht ist.«

»Gewiß, maman«, sagte Alexandra, »aber jetzt wäre es das beste, wenn wir frühstückten, wir sind hungrig.«

»Auch das«, erwiderte die Generalin. »Kommen Sie, Fürst, haben Sie großen Hunger?«

»Ja, ich habe jetzt allerdings großen Hunger und sage Ihnen meinen besten Dank.«

»Das ist sehr nett, daß Sie so höflich sind, und ich finde, daß Sie überhaupt nicht so ein … Sonderling sind, wie man Sie uns geschildert hat. Kommen Sie! Setzen Sie sich hierher, mir gegenüber!« sagte sie, als sie ins Eßzimmer gekommen waren, geschäftig und nötigte den Fürsten zum Sitzen. »Ich möchte Sie gern ansehen können. Alexandra, Adelaida, sorgt ihr beide für den Fürsten! Nicht wahr, er ist gar nicht so … krank? Vielleicht ist auch die Vorsichtsmaßregel mit der Serviette nicht nötig… Hat man Ihnen beim Essen eine Serviette umgebunden, Fürst?«

»Früher, als ich etwa sieben Jahre alt war, hat man das wohl getan, aber jetzt lege ich mir die Serviette gewöhnlich auf die Knie, wenn ich esse.«

»So ist das auch in der Ordnung. Und Ihre Anfälle?«

»Anfälle?« fragte der Fürst ein wenig verwundert. »Anfälle kommen jetzt bei mir nur sehr selten vor. Übrigens, ich weiß nicht, es wird mir gesagt, das hiesige Klima werde mir schädlich sein.«

»Er spricht gut«, bemerkte die Generalin zu ihren Töchtern, sie nickte immer noch zu jedem Worte des Fürsten mit dem Kopf, »ich hatte das gar nicht erwartet. Es war also wie gewöhnlich nur dummes Zeug und Unwahrheit. Essen Sie, Fürst, und erzählen Sie, wo Sie geboren und wo Sie erzogen sind! Ich möchte alles wissen; Sie interessieren mich ganz außerordentlich.«

Der Fürst bedankte sich, und während er mit großem Appetit aß, begann er von neuem all das mitzuteilen, wovon er an diesem Morgen schon mehrmals zu reden Anlaß gehabt hatte. Die Generalin zeigte sich immer mehr befriedigt. Auch die jungen Damen hörten recht aufmerksam zu. Man suchte die Verwandtschaft festzustellen, wobei sich herausstellte, daß der Fürst seinen Stammbaum ziemlich gut im Kopf hatte; aber trotz aller Bemühung wollte sich zwischen ihm und der Generalin keinerlei Verwandtschaft ergeben. Nur zwischen den beiderseitigen Großvätern und Großmüttern hätte sich allenfalls eine entfernte Verwandtschaft annehmen lassen. Dieser trockene Gesprächsstoff gefiel der Generalin ganz ausnehmend, da sie fast nie Gelegenheit hatte, von ihrem Stammbaum zu sprechen, obwohl sie das sehr gern tat, und als sie vom Tisch aufstand, befand sie sich in angeregter Stimmung.

»Wir wollen jetzt alle in unser Gesellschaftszimmer gehen«, sagte sie, »und auch der Kaffee soll dorthin gebracht werden. Wir haben ein solches gemeinsames Zimmer«, wandte sie sich an den Fürsten, den sie führte. »Es ist ganz einfach mein kleiner Salon, wo wir, wenn kein Besuch da ist, uns zusammenfinden und jede von uns sich in ihrer Weise beschäftigt; Alexandra hier, meine älteste Tochter, spielt Klavier oder liest oder stickt; Adelaida malt Landschaften und Porträts (sie wird nur mit nichts fertig), und Aglaja sitzt da und tut nichts. Mir geht die Arbeit ebenfalls nicht vonstatten: es kommt nichts Ordentliches heraus. Nun, sehen Sie, da sind wir, setzen Sie sich hierher, Fürst, an den Kamin, und erzählen Sie! Ich möchte gern wissen, wie Sie zu erzählen verstehen. Ich möchte ganz genaue Kenntnis von allem erlangen, und wenn ich dann mit der alten Fürstin Bjelokonskaja zusammenkomme, will ich ihr viel von Ihnen erzählen. Ich möchte, daß alle Leute ebenfalls für Sie Interesse gewinnen. Nun also, reden Sie!«

»Aber maman, es ist doch sehr sonderbar, so auf Befehl erzählen zu müssen«, bemerkte Adelaida, die unterdessen ihre Staffelei zurechtgerückt, Pinsel und Palette zur Hand genommen hatte und nun anfing, eine schon vor längerer Zeit begonnene Landschaft nach einem Kupferstich zu kopieren.

Alexandra und Aglaja setzten sich nebeneinander auf ein kleines Sofa, legten die Hände zusammen und machten sich bereit, das Gespräch mit anzuhören. Der Fürst bemerkte, daß sich von allen Seiten eine gespannte Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

»Ich würde nichts erzählen, wenn es mir auf solche Weise befohlen würde«, bemerkte Aglaja.

»Warum denn? Was ist denn dabei weiter sonderbar? Warum soll er nicht erzählen? Wozu hat er denn seine Zunge? Ich will wissen, wie er zu reden versteht. Sprechen Sie also, worüber Sie wollen! Erzählen Sie, wie Ihnen die Schweiz gefallen hat, welches der erste Eindruck gewesen ist! Ihr werdet sehen, er wird unverzüglich anfangen und sehr hübsch erzählen.«

»Der erste Eindruck war sehr stark…«, begann der Fürst.

»Seht ihr wohl«, unterbrach ihn die ungeduldige Lisaweta Prokofjewna, zu ihren Töchtern gewendet, »er hat schon angefangen.«

»Lassen Sie ihn doch wenigstens sprechen, maman!« schalt Alexandra. »Dieser Fürst ist vielleicht ein arger Schelm und gar kein Idiot«, flüsterte sie ihrer Schwester Aglaja zu.

»Höchstwahrscheinlich verhält es sich so, ich merke das schon lange«, versetzte Aglaja. »Es ist häßlich von ihm, uns so eine Rolle vorzuspielen. Hofft er etwa, dadurch in unseren Augen zu gewinnen?«

»Der erste Eindruck war sehr stark«, sagte der Fürst noch einmal. »Als man mich aus Rußland wegbrachte und wir durch verschiedene deutsche Städte fuhren, blickte ich alles nur schweigend an und erkundigte mich, soviel ich mich erinnern kann, nach nichts. Das war nach einer Reihe starker, qualvoller Anfälle meiner Krankheit; jedesmal aber, wenn die Krankheit sich in dieser Weise steigerte und die Anfälle mehrmals hintereinander erfolgten, verfiel ich in vollständigen Stumpfsinn, verlor gänzlich das Gedächtnis, und wenn auch der Verstand noch weiterarbeitete, so war doch die logische Aufeinanderfolge der Gedanken anscheinend unterbrochen. Mehr als zwei oder drei Gedanken vermochte ich nicht folgerichtig miteinander zu verknüpfen. So ist mir das in Erinnerung. Als dann aber die Anfälle nachließen, wurde ich wieder gesund und kräftig wie jetzt. Ich weiß noch, daß die Traurigkeit, die mich erfüllte, ganz unerträglich war; ich hätte am liebsten losgeweint, ich befand mich dauernd in größter Erregung und Unruhe. Einen furchtbaren Eindruck machte es auf mich, daß dies alles mir fremd war; denn soviel begriff ich. Das Fremde drückte mich nieder. Aber (daran erinnere ich mich aufs deutlichste) ich erwachte eines Abends in Basel bei der Ankunft in der Schweiz völlig aus dieser geistigen Umnachtung, und was mich erweckte, das war das Geschrei eines Esels auf dem Marktplatz. Dieser Esel war für mich eine großartige Überraschung und gefiel mir aus nicht recht verständlichen Gründen außerordentlich, und gleichzeitig wurde in meinem Kopfe sozusagen alles auf einmal wieder hell.«

»Ein Esel? Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin. »Übrigens, eigentlich ist dabei nichts Sonderbares, die eine oder die andere von uns wird sich noch in einen Esel verlieben«, fügte sie hinzu und blickte die lachenden Mädchen zornig an. »Das ist alles schon in der Mythologie vorgekommen. Fahren Sie fort, Fürst!«

»Seitdem liebe ich Esel sehr. Ich habe sogar eine gewisse Sympathie für sie. Ich begann, mich nach ihnen zu erkundigen, denn ich hatte früher noch nie welche gesehen, und überzeugte mich auch bald selbst davon, daß sie höchst nützliche, arbeitsame, kräftige, geduldige, billig zu unterhaltende, ausdauernde Tiere sind, und wegen dieses Esels fing mir auf einmal die ganze Schweiz zu gefallen an, so daß meine frühere Traurigkeit vollständig verschwand.«

»Das alles ist ja sehr seltsam, aber das von dem Esel konnte auch wegbleiben; gehen wir nun zu einem anderen Thema über! Warum lachst du denn fortwährend, Aglaja? Und du, Adelaida? Der Fürst hat die Geschichte von dem Esel sehr schön erzählt. Er hat selbst einen gesehen; aber du, was hast du gesehen? Du bist doch nicht im Ausland gewesen.«

»Ich habe schon einen Esel gesehen, maman«, versetzte Adelaida.

»Und ich habe schon einen gehört«, fügte Aglaja hinzu. Alle drei brachen wieder in ein Gelächter aus, in das der Fürst einstimmte.

»Das ist sehr häßlich von euch«, schalt die Generalin. »Nehmen Sie es ihnen nicht übel, Fürst, sie sind sonst gute Mädchen. Ich zanke fortwährend mit ihnen, habe sie aber doch sehr lieb. Sie sind nur flatterhaft, leichtsinnig und ein bißchen verdreht.«

»Aber was sollte ich denn übelnehmen?« erwiderte der Fürst lachend. »Auch ich hätte die Gelegenheit zu lachen nicht unbenutzt gelassen. Aber ich trete trotzdem für den Esel ein: der Esel ist ein gutherziges, nützliches Geschöpf.«

»Sind Sie denn auch gutherzig, Fürst? Ich frage aus wirklichem Interesse«, fragte die Generalin.

Alle lachten wieder los.

»Da ist ihnen wieder dieser nichtswürdige Esel eingefallen; ich hatte gar nicht an ihn gedacht!« rief die Generalin. »Bitte glauben Sie mir, Fürst, ich beabsichtigte keinerlei…«

»Keinerlei Anspielung? Oh, das glaube ich Ihnen gern, ohne Zweifel!«

Der Fürst lachte, ohne aufzuhören.

»Das ist sehr nett von Ihnen, daß Sie lachen. Ich sehe, daß Sie ein recht gutherziger junger Mann sind«, sagte die Generalin.

»Manchmal bin ich nicht gutherzig«, erwiderte der Fürst.

»Aber ich habe ein gutes Herz«, bemerkte die Generalin überraschenderweise, »ich kann sogar sagen, daß ich immer gutherzig bin, und das ist mein einziger Fehler; denn man darf nicht immer gutherzig sein. Ich ärgere mich sehr oft, über meine Töchter da, und besonders über Iwan Fjodorowitsch; aber es ist scheußlich, daß ich gerade, wenn ich mich ärgere, am allergutherzigsten bin. Ich war vorhin, vor Ihrer Ankunft, recht böse geworden und stellte mich, als verstünde ich nicht, was man zu mir sagte, und wolle es nicht verstehen. Das kommt bei mir öfter vor, ich bin darin wie ein Kind. Aglaja hat mich deswegen ausgescholten, und ich danke dir, Aglaja. Übrigens ist das alles Unsinn. Ich bin nicht so dumm, wie ich scheine und wie mich meine lieben Töchter gern darstellen möchten. Ich habe einen energischen Charakter und halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. Ich sage das übrigens alles ohne Groll. Komm her, Aglaja, und gib mir einen Kuß… nun, nun, genug der Zärtlichkeit!« bemerkte sie, als Aglaja ihr herzlich den Mund und die Hand küßte. »Fahren Sie nur fort, Fürst. Vielleicht erinnern Sie sich noch an etwas, was interessanter ist als der Esel.«

»Ich kann trotz alledem nicht begreifen, wie jemand so geradezu loserzählen kann«, sagte Adelaida noch einmal. »Ich brächte das nicht fertig.«

»Aber der Fürst bringt es fertig, weil der Fürst eben überaus verständig, mindestens zehnmal oder vielleicht zwölfmal so verständig ist wie du. Hoffentlich fühlst du das nun selbst. Liefern Sie ihnen den Beweis, Fürst, fahren Sie fort! Den Esel können wir nun aber wirklich endlich beiseite lassen. Nun, was haben Sie außer dem Esel im Ausland gesehen?«

»Auch das von dem Esel war verständig«, sagte Alexandra. »Der Fürst hat sehr interessant seinen Krankheitszustand geschildert, und wie ihm infolge eines äußeren Anstoßes alles wieder zu gefallen anfing. Mir ist es immer interessant gewesen, wie Menschen den Verstand verlieren und dann wieder gesund werden. Namentlich wenn das plötzlich erfolgt.«

»Nicht wahr, nicht wahr?« sagte die Generalin eifrig. »Ich sehe, daß auch Du manchmal verständig bist. Na, nun hast du aber genug gelacht! Sie blieben ja wohl bei dem landschaftlichen Eindruck der Schweiz stehen. Fürst. Also bitte!«

»Wir kamen in Luzern an und fuhren dann über den See. Ich empfand, wie schön er war, fühlte mich aber dabei entsetzlich bedrückt«, sagte der Fürst.

»Warum?« fragte Alexandra.

»Ich verstehe es nicht. Ich fühle mich beim ersten Anblick solcher Naturschönheiten jedesmal bedrückt und unruhig; es ist eine aus Vergnügen und Unruhe gemischte Empfindung. Übrigens hing das alles noch mit meiner Krankheit zusammen.«

»Ach, ich möchte das zu gern einmal sehen«, sagte Adelaida. »Und ich begreife nicht, warum wir nicht endlich einmal ins Ausland reisen. Ich kann schon seit zwei Jahren keinen Vorwurf für ein Bild finden:

›Ost und Süd sind längst geschildert…‹

Suchen Sie mir doch einen Vorwurf für ein Bild, Fürst!«

»Ich verstehe davon nichts. Aber ich möchte meinen: es ist weiter nichts erforderlich, als zu sehen und dann zu malen.«

»Zu sehen verstehe ich eben nicht.«

»Aber in was für Rätseln sprecht ihr denn da? Ich verstehe euch ja gar nicht!« unterbrach sie die Generalin. »Was heißt das: ›Zu sehen verstehe ich nicht?‹ Du hast doch Augen, nun, dann sieh doch! Wenn du hier nicht zu sehen verstehst, wirst du es auch im Ausland nicht lernen. Erzählen Sie lieber, was Sie selbst gesehen haben, Fürst!«

»Ja, das wird das beste sein«, stimmte ihr Adelaida bei. »Der Fürst hat ja im Ausland sehen gelernt.«

»Das weiß ich nicht, ich habe dort nur meine Gesundheit gebessert; ich weiß nicht, ob ich da auch sehen gelernt habe. Ich bin übrigens dort fast die ganze Zeit über sehr glücklich gewesen.«

»Glücklich! Sie verstehen es, glücklich zu sein?« rief Aglaja. »Warum sagen Sie dann, daß Sie da nicht sehen gelernt haben? Sie werden in dieser Kunst noch unser Lehrer werden!«

»Ach ja, bitte, lehren Sie uns!« rief Adelaida lachend.

»Ich kann Sie nichts lehren«, versetzte der Fürst, gleichfalls lachend. »Ich habe fast die ganze Zeit meines Aufenthalts im Auslande in diesem Schweizer Dorf verlebt; nur selten machte ich einen kleinen Ausflug; was kann ich Sie da lehren? Anfangs beschränkte sich die Besserung darauf, daß das Gefühl des Mißmuts aufhörte, aber bald fing ich an zu genesen; dann wurde mir jeder Tag lieber und teurer, so daß ich dies selbst zu bemerken begann. Ich legte mich immer sehr zufrieden schlafen und fühlte mich noch glücklicher beim Aufstehen. Aber woher das kam, das ist allerdings recht schwer zu erklären.«

»Sie waren also so zufrieden, daß Sie an keinen anderen Ort wollten, sich sonst nirgendwo hingezogen fühlten?« fragte Alexandra.

»Zuerst, ganz am Anfang, sehnte ich mich weg, ja, und ich verfiel in große Unruhe. Ich dachte immer darüber nach, wie ich mir mein Leben einrichten könnte, und suchte mein künftiges Schicksal zu erkennen, besonders zu gewissen Zeiten war ich sehr unruhig. Sie wissen, es gibt solche Augenblicke, namentlich wenn man ganz allein ist. Wir hatten dort einen kleinen Wasserfall; er fiel hoch vom Berge herab wie ein dünner Faden, fast senkrecht, weiß, geräuschvoll, schäumend; er fiel hoch herunter und schien doch ziemlich niedrig zu sein; er war eine halbe Werst entfernt, und es kam einem vor, als ob es bis zu ihm nur fünfzig Schritte wären. Ich horchte bei Nacht gern auf sein Rauschen; das waren die Augenblicke, in denen ich manchmal in sehr große Unruhe geriet. Ebenso ging es mir manchmal um die Mittagszeit; ich stieg irgendwohin in die Berge und stand dort dann allein, ringsum alte, große, harzige Tannen, oben auf einem Felsen die Ruinen einer alten mittelalterlichen Burg, unser Dörfchen unten in der Ferne kaum sichtbar; die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau, es herrschte eine furchtbare Stille. In solchen Augenblicken zog es mich mitunter weg, und ich hatte immer die Vorstellung, wenn ich nur immer geradeaus gehen könnte, immer weiter und weiter, und die Linie überschreiten könnte, wo Himmel und Erde einander berühren, da würde sich jedes Rätsel lösen, und ich würde sofort ein neues Leben erblicken, ein Leben, das tausendmal frischer und lärmender ist als das unsere; ich malte mir eine große Stadt aus wie Neapel und darin lauter Paläste, Lärm, Getöse, Leben… Ja, in was für Phantasien erging ich mich da! Aber dann schien es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein reiches Leben führen könne.«

»Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja.

»Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu belehren.«

»Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren… Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.«

»Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlage wie Jewlampija Nikolajewnas Philosophie«, warf Aglaja wieder ein. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken, aber wohlgemerkt, sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Geradeso ist es auch mit Ihrem reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorfe, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Gewinn, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.«

»Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war sehr traurig gewesen, kann hierfür zwei Minuten angesetzt; dann habe er noch zwei Minuten dazu bestimmt, zum letztenmal über sich selbst nachzudenken, und die dann noch verbleibende, um zum letztenmal um sich zu schauen. Er hatte es sehr gut im Gedächtnis, daß er gerade in dieser Weise über seine Zeit verfügt und sie so berechnet hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gesund und kräftig gewesen, als er dem Tode so nahe war. Er erinnerte sich, daß er beim Abschiede von seinen Kameraden an einen derselben eine ziemlich nebensächliche Frage gerichtet und die Antwort mit großem Interesse gehört hatte. Dann, nachdem er von seinen Kameraden Abschied genommen hatte, kamen die beiden Minuten, die er dazu bestimmt hatte, über sich selbst nachzudenken; er wußte von vornherein, worüber er nachdenken würde: er wollte sich möglichst schnell und klar eine Vorstellung davon machen, wie das zugehe, daß er jetzt existiere und lebe und in drei Minuten bereits irgend etwas sein werde, ein jemand oder ein etwas, also wer denn? Und wo? Über all diese Fragen gedachte er in diesen zwei Minuten ins klare zu kommen! Nicht weit entfernt stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt hatte; er hatte sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er hatte die Vorstellung gehabt, als gehörten sie zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen… Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich eintreten würde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte – welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.«

Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen würde.

»Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja.

»Wie? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam.

»Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?«

»Nur so … es ist mir eingefallen… zur Unterhaltung…«

»Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Gold. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt; was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?«

»O nein, er hat mir selbst gesagt (ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.«

»Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, über das Leben vollständig ›Rechnung zu führen‹. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.«

»Ja, es muß aus irgendeinem Grund unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt… Aber irgendwie kann ich es doch nicht glauben…«

»Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja.

»Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.«

»Und Sie glauben es noch?«

»Und… ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder und blickte sie fröhlich an.

»Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.

»Wie tapfer Sie doch alle sind! Sie lachen, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten …«

Er ließ seinen Blick noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.

»Sie zürnen mir doch nicht aus irgendeinem Grund?« fragte er plötzlich; er war anscheinend verlegen, blickte aber doch gerade allen in die Augen.

»Aber weswegen denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.

»Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele…«

Alle lachten.

»Wenn Sie mir zürnen, dann seien Sie mir doch bitte wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle anderen vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich…«

Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.

»Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, herausforderndem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«

»Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön, nur ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.«

»Ach was, maman! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.«

»Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst.

»Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?«

»Fanden denn Hinrichtungen in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.

»Ich habe ihr in Lyon beigewohnt, ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, kamen wir darüber zu.«

»Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.

»Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank, aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht abwenden konnte.«

»Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.

»Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«

»Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen (und wohl gar rechtfertigen), daß es für Männer schicklich sei. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«

»Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida.

»Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.

»Sie wollen es wohl unterlassen, um uns zu schonen?« fragte Aglaja spöttisch.

»Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser selben Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«

»Wem haben Sie denn davon erzählt?«

»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete…«

»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten.

»Nun dem, der im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«

»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.

»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz. »Nun, wenn Sie es Alexej erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«

»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida.

»Als Sie mich vorhin nach einem Vorwurf für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und vertrauensvoll wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beils der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«

»Das Gesicht? Nur das Gesicht? fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Vorwurf sein, was soll denn dabei für ein Bild herauskommen?«

»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben… Ich werde es auch ein andermal tun… Es hat auf mich einen starken Eindruck gemacht.«

»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber erklären Sie mir bitte das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«

»Es war genau eine Minute vor dem Tode«, begann der Fürst sehr bereitwillig – er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen, »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und als beeile er sich, auf jeden Fall eine Art Reisevorrat mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war… Es ist merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil, der Kopf ist sehr lebendig und arbeitet wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine im Gange befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche, fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf verrostet …‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles, und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun bedenkt, daß das so bis zur letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt und wartet und… weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich daläge, ich würde absichtlich darauf achten und danach hinhören! Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines Augenblicks, aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß man noch bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn er es gar fünf Sekunden lang weiß!… Zeichnen Sie das Schafott so, daß nur die oberste Stufe deutlich und nahe zu sehen ist; der Verurteilte hat sie betreten: man sieht seinen Kopf, das Gesicht ist weiß wie ein Blatt Papier, der Geistliche hält ihm das Kruzifix hin, er streckt begierig seine bläulichen Lippen danach aus und sieht, was vor ihm ist, und – weiß alles. Das Kruzifix und der Kopf, die bilden den eigentlichen Gegenstand des Bildes, die Gesichter des Geistlichen, des Scharfrichters und seiner beiden Gehilfen und ein paar Köpfe und Augen weiter unten, das alles braucht nur im Hintergrunde dargestellt zu sein, wie im Nebel, nur als Beiwerk… So denke ich mir das Bild.«

Der Fürst schwieg und blickte die Damen alle an.

»Das sieht nun freilich nicht wie Quietismus aus«, sagte Alexandra vor sich hin.

»Und jetzt, bitte, erzählen Sie uns, wie Sie verliebt waren!« sagte Adelaida.

Der Fürst blickte sie erstaunt an.

»Hören Sie!« fuhr Adelaida schnell fort. »Sie sind uns auch noch die Beschreibung des Baseler Bildes schuldig, aber jetzt möchte ich hören, wie Sie verliebt waren; leugnen Sie nicht, Sie sind verliebt gewesen! Zudem werden Sie, sobald Sie zu erzählen anfangen, aufhören, Philosoph zu sein.«

»Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie sich sofort dessen, was Sie erzählt haben«, bemerkte Aglaja plötzlich. »Woher kommt das?«

»Was redest du da für dummes Zeug«, schalt die Generalin und blickte Aglaja mißbilligend an.

»Ja, das war sehr unverständig«, stimmte Alexandra ihr bei.

»Glauben Sie nicht, daß sie das wirklich meint, Fürst«, wandte sich die Generalin an diesen, »sie redet absichtlich so, aus irgendwelcher Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.«

»Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung.

»Wieso?« fragte Adelaida neugierig.

»Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung.

Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort.

»Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst.

»Sie wollen sich durchaus interessant machen«, rief Aglaja. »Und was Sie dabei für ein feierliches Gesicht machen!«

»Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon.«

»Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher, »ich… war auf andere Weise glücklich.«

»Wie denn? Wodurch denn?«

»Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

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Kapitel 50

XII Schluß

Als die Lehrerwitwe eilig in einem Wagen nach Pawlowsk gefahren war, hatte sie sich direkt zu der durch die Ereignisse des vorhergehenden Tages sehr ergriffenen Darja Alexejewna begeben, ihr alles erzählt, was sie wußte, und dadurch deren Angst noch erhöht. Die beiden Damen hatten dann beschlossen, mit Lebedew in Verbindung zu treten, der als Freund seines Mieters und als Hauswirt ebenfalls sehr aufgeregt war. Wera Lebedewa hatte alles mitgeteilt, was sie wußte. Auf Lebedews Rat hatten sie sich dann dafür entschieden, alle drei nach Petersburg zu fahren, um aufs schnellste das zu verhüten, »was sehr leicht geschehen könnte«. So war es gekommen, daß bereits am andern Vormittag gegen elf Uhr Rogoshins Wohnung von der Polizei in Gegenwart Lebedews, der Damen und des Bruders von Rogoshin, Semjon Semjonowitsch Rogoshins, der im Nebengebäude wohnte, geöffnet wurde. Zu diesem Vorgehen hatte besonders auch die Angabe des Hausknechtes mitgewirkt, er habe am Abend des vorhergehenden Tages Parfen Semjonowitsch mit einem Gast von der Haupttür ganz leise hereinkommen sehen. Nach dieser Aussage trug man kein Bedenken, die Tür, die auf Klingeln nicht geöffnet wurde, aufzubrechen.

Rogoshin lag zwei Monate an Gehirnentzündung krank, und als er genesen war, folgte die Untersuchung und die Gerichtsverhandlung. Er machte über alles unumwundene, genaue und völlig befriedigende Aussagen, so daß von einer Hinzuziehung des Fürsten zu dem Gerichtsverfahren von vornherein abgesehen werden konnte. Rogoshin zeigte sich bei seinem Prozeß schweigsam. Er widersprach seinem geschickten, redegewandten Verteidiger nicht, der klar und logisch bewies, daß das begangene Verbrechen eine Folge der Gehirnentzündung sei, die infolge der von dem Angeklagten erlittenen Unbilden schon lange vorher sich herauszubilden begonnen habe. Aber er fügte von sich aus nichts zur Bekräftigung dieser Ansicht hinzu und bestätigte und erwähnte wie bisher klar und deutlich alle, auch die kleinsten Umstände des stattgefundenen Ereignisses. Er wurde unter Zubilligung mildernder Umstände zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und hörte sein Urteil finster, schweigend und »nachdenklich« an. Sein ganzes gewaltiges Vermögen, außer dem verhältnismäßig sehr geringen Teil, den er bei den anfänglichen Zechereien vergeudet hatte, ging auf seinen Bruder Semjon Semjonowitsch zu dessen großer Befriedigung über. Die alte Rogoshina lebt noch und scheint sich manchmal an ihren Lieblingssohn Parfen zu erinnern, aber nicht deutlich: Gott hat ihren Geist und ihr Herz vor der Erkenntnis des schrecklichen Verhängnisses bewahrt, von dem ihr unglückliches Haus heimgesucht worden ist.

Lebedew, Keller, Ganja, Ptizyn und viele andere Personen unserer Erzählung leben wie früher und haben sich wenig verändert, so daß wir fast nichts über sie mitzuteilen haben. Ippolit starb in schrecklicher Aufregung und etwas früher, als er erwartet hatte, etwa zwei Wochen nach Nastasja Filippownas Tode. Kolja war von allem Geschehenen tief erschüttert; er schloß sich seitdem eng an seine Mutter an. Nina Alexandrowna ist nicht frei von Sorge um ihn, da er für sein Alter zu nachdenklich ist; er wird vielleicht einmal ein tüchtiger Geschäftsmann werden. Unter anderm ist großenteils durch seine Bemühungen auch das weitere Schicksal des Fürsten geordnet worden: schon lange hatte er unter allen Personen, mit denen er in der letzten Zeit bekannt geworden war, Jewgenij Pawlowitsch Radomskij besonders schätzen gelernt; er ging aus eigener Initiative zu ihm, teilte ihm alle ihm bekannten Einzelheiten des Geschehenen mit und sprach mit ihm über die derzeitige Lage des Fürsten. Er hatte sich nicht geirrt: Jewgenij Pawlowitsch nahm selbst warmen Anteil an dem Schicksal des unglücklichen »Idioten«, und durch seine Bemühungen und seine Fürsorge gelangte der Fürst wieder ins Ausland, nach der Schweiz, in das Schneidersche Institut. Jewgenij Pawlowitsch selbst ist ins Ausland gereist, beabsichtigt in Westeuropa sehr lange zu bleiben und nennt sich selbst mit völliger Aufrichtigkeit einen in Rußland ganz überflüssigen Menschen; ziemlich oft, mindestens alle paar Monate einmal, besucht er seinen kranken Freund bei Schneider; aber Schneider macht ein immer finstereres Gesicht das Beichtkind eines berühmten katholischen Paters geworden war, der ihren Verstand ganz in Fesseln geschlagen und sie zu seiner fanatischen Anhängerin gemacht hatte. Das kolossale Vermögen des Grafen, von dem er Lisaweta Prokofjewna und dem Fürsten Schtsch. beinah unwiderlegliche Beweise beigebracht hatte, stellte sich als gar nicht existierend heraus. Und nicht genug damit: ein halbes Jahr nach der Eheschließung hatten der Graf und sein Freund, der berühmte Beichtvater, es schon fertiggebracht, Aglaja mit ihrer Familie gänzlich zu entzweien, so daß diese sie schon seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen hatte … Mit einem Worte, es wäre viel zu erzählen gewesen, aber Lisaweta Prokofjewna, ihre Töchter und selbst Fürst Schtsch. waren von all diesen schrecklichen Ereignissen so ergriffen, daß sie sich sogar fürchteten, manche Dinge im Gespräch mit Jewgenij Pawlowitsch überhaupt nur zu erwähnen, obwohl sie wußten, daß er auch aus anderer Quelle über Aglajas letzte Schwärmerei gut unterrichtet war. Die arme Lisaweta Prokofjewna sehnte sich nach Rußland zurück und kritisierte, wie Jewgenij Pawlowitsch bezeugte, im Gespräch mit ihm bitter und parteiisch das ganze Ausland: »Nirgends verstehen sie ordentlich Brot zu backen, und im Winter frieren sie wie die Mäuse im Keller«, sagte sie. »Wenigstens habe ich hier über diesen Armen auf russische Art weinen können«, fügte sie hinzu, indem sie aufgeregt auf den Fürsten zeigte, der sie überhaupt nicht erkannte. »Nun haben wir uns genug durch Schwärmereien fortreißen lassen; es wird Zeit, daß wir auch auf die Stimme der Vernunft hören. Und all das, dieses ganze Ausland und dieses euer ganzes Westeuropa, das ist alles bloße Phantasie, und wir selbst sind im Ausland auch nur Phantasie … denken Sie an mein Wort; Sie werden selbst sehen, daß es so ist!« schloß sie ordentlich zornig, als sie sich von Jewgenij Pawlowitsch verabschiedete.

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Kapitel 6

VI

»Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er, »daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem Lächeln hinzu. »Dort… dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, o nein, dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt, größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder kennen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den schwierigsten fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich. Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen, sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei … Geküßt hatte ich Marie zwei Wochen vor dem Tode ihrer Mutter, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort, wie sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie empört, einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht war, aber im Dorfe hatte man sofort alles erfahren und beschuldigte mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren auch alle, daß die Kinder Marie liebhatten, und bekamen einen gewaltigen Schreck; Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit, fast eine halbe Werst vom Dorfe entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›‹ und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glückes fast den Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche.

etwas gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern, und was ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an einen heran, verstehen es aber auch, das Herz schnell zu erkennen. So denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein schönes und sehr liebes Gesicht, aber vielleicht haben Sie einen geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch über Ihr Gesicht; kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder Hinsicht, in allem Guten und allem Schlechten, obwohl Sie bereits in einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich Kinder halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre Gesichter soeben lediglich aus Naivität so freiheraus gesagt habe, o nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht dabei.«

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Kapitel 7

VII

Als der Fürst nun schwieg, blickten alle, selbst Aglaja, namentlich aber Lisaweta Prokofjewna ihn vergnügt an.

»Da habt ihr ihn ja nett examiniert!« rief sie. »Ja, meine verehrten Damen, ihr dachtet, ihr würdet ihn wie einen armen Schlucker protegieren, und nun hat er selbst euch nur gerade noch für eine seiner würdige Gesellschaft erklärt und noch dazu gleich vorher angekündigt, daß er nur selten herkommen werde. Seht ihr wohl, da sind wir nun – worüber ich mich freue – die Blamierten, und am allermeisten Iwan Fjodorowitsch. Bravo, Fürst! Wir hatten vorhin die Weisung erhalten, wir sollten Sie examinieren. Was Sie aber von meinem Gesicht sagten, das ist durchaus richtig: ich bin ein Kind und weiß das. Ich habe es schon früher gewußt als Sie, und Sie haben nur meine eigene Ansicht in knapper Form zum Ausdruck gebracht. Ich meine, daß Ihr Charakter mit dem meinigen völlig übereinstimmt, und freue mich sehr darüber; die beiden sind sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Nur sind Sie ein Mann und ich eine Frau, auch bin ich nicht in der Schweiz gewesen, das ist der ganze Unterschied.«

»Sachte, sachte, maman!« rief Aglaja. »Der Fürst sagt ja, daß er bei all seinen freimütigen Auseinandersetzungen eine besondere Absicht hatte und nicht ohne Hintergedanken gesprochen hat.«

»Ja, ja!« stimmten ihr die andern lachend bei.

»Zieht ihn nicht auf, liebe Kinder, es wird vielleicht noch so herauskommen, daß er schlauer ist als ihr alle drei zusammen. Ihr werdet ja sehen. Aber warum haben Sie nichts von Aglaja gesagt, Fürst? Aglaja wartet darauf, und ich ebenfalls.«

»Ich kann im Augenblick nichts über sie sagen. Ich werde es später tun.«

»Warum denn? Sie scheint doch eine eigenartige Persönlichkeit zu sein.«

»O ja, das ist sie. Sie sind eine hervorragende Schönheit, Aglaja Iwanowna. Sie sind so schön, daß man sich ordentlich fürchtet, Sie anzusehen.«

»Ist das alles? Und ihre Eigenschaften?« setzte ihm die Generalin hartnäckig zu.

»Über die Schönheit ist schwer zu urteilen; ich bin noch nicht so weit, daß ich meine Ansicht aussprechen könnte. Die Schönheit ist ein Rätsel.«

»Damit haben Sie Aglaja ein Rätsel aufgegeben«, sagte Adelaida. »Nun rate einmal, Aglaja! Aber schön ist sie, Fürst, nicht wahr?«

»Außerordentlich schön!« antwortete der Fürst lebhaft und blickte Aglaja ganz entzückt an. »Fast so schön wie Nastasja Filippowna, obwohl das Gesicht von ganz anderer Art ist! …«

Alle sahen einander erstaunt an.

»Wie we-er?« fragte die Generalin gedehnt. »Wie Nastasja Filippowna? Wo haben Sie Nastasja Filippowna gesehen? Was für eine Nastasja Filippowna?«

»Gawrila Ardalionowitsch hat vorhin ihr Bild Iwan Fjodorowitsch gezeigt.«

»Wie? Er hat meinem Manne ihr Porträt gebracht?«

»Nur, um es ihm zu zeigen. Nastasja Filippowna hatte ihm heute ihr Bild geschenkt, und da brachte er es her, um es zu zeigen.«

»Ich will es sehen!« rief die Generalin heftig. »Wo ist dieses Bild? Wenn sie es ihm geschenkt hat, so muß er es haben, und er ist gewiß noch im Arbeitszimmer. Er kommt mittwochs immer her, um hier zu arbeiten, und geht nie vor vier Uhr weg. Laßt Gawrila Ardalionowitsch sogleich herrufen! Oder nein! Ich sehne mich nicht übermäßig danach, ihn zu sehen. Tun Sie mir den Gefallen, bester Fürst, gehen Sie in das Arbeitszimmer, lassen Sie sich von ihm das Bild geben, und bringen Sie es her! Sagen Sie, ich wolle es gern einmal sehen! Seien Sie so freundlich!«

»Er ist ein guter Mensch, aber doch gar zu einfältig«, sagte Adelaida, als der Fürst hinausgegangen war.

»Ja, gar zu einfältig«, stimmte Alexandra ihr bei, »so daß er sogar ein bißchen komisch erscheint.«

Die eine wie die andere schien das, was sie dachte, nicht vollständig auszusprechen.

»Mit unseren Gesichtern hat er sich übrigens gut aus der Affäre gezogen«, bemerkte Aglaja. »Er hat uns allen geschmeichelt, sogar maman.«

»Bitte, keine Spötteleien!« rief die Generalin. »Er hat nicht geschmeichelt, sondern ich fühle mich geschmeichelt.« »Meinst du, daß er sich nur aus der Affäre ziehen wollte?« fragte Adelaida.

»Mir scheint, er ist gar nicht so einfältig«, versetzte Aglaja.

»Was redet ihr da!« ereiferte sich die Generalin. »Meiner Ansicht nach seid ihr noch komischer als er. Er ist ein schlichter Mensch und hat seinen Kopf für sich, selbstverständlich im besten Sinne. Ganz wie ich.«

›Es war gewiß eine Dummheit, daß ich mir das von dem Bilde entschlüpfen ließ‹, sagte sich der Fürst, während er nach dem Arbeitszimmer ging, und fühlte dabei einige Gewissensbisse. ›Aber … vielleicht habe ich gut daran getan, daß ich davon anfing …‹

Es ging ihm ein sonderbarer, noch nicht ganz klarer Gedanke durch den Kopf.

Gawrila Ardalionowitsch saß noch im Arbeitszimmer und war in seine Papiere vertieft. Er schien in der Tat sein Gehalt von der Aktiengesellschaft nicht ohne Gegenleistung zu beziehen. Er wurde furchtbar verlegen, als der Fürst nach dem Bild fragte und erzählte, auf welche Weise die Damen von diesem Bild etwas erfahren hatten.

»Donnerwetter! Wozu mußten Sie davon schwatzen?« rief er in grimmigem Ärger. »Sie verstehen ja nichts davon … Idiot!« murmelte er vor sich hin.

»Verzeihung, ich habe es gesagt, ohne mir etwas dabei zu denken. Das Gespräch kam zufällig darauf. Ich sagte, Aglaja sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna.«

Ganja bat ihn, ihm über das Gespräch Genaueres mitzuteilen, und der Fürst erzählte. Ganja sah ihn wieder spöttisch an.

»Ich möchte wissen, was Sie sich um Nastasja Filippowna …«, murmelte er, versank aber, ohne den Satz zu beenden, in Gedanken.

Er war in sichtlicher Unruhe. Der Fürst erinnerte ihn an das Bild.

»Hören Sie, Fürst«, sagte Ganja auf einmal, wie wenn ein plötzlicher Gedanke in seinem Kopf aufleuchtete, »ich habe eine große Bitte an Sie … Aber ich weiß wirklich nicht …«

Er wurde verwirrt und sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende. Es schien, als ob er einen Entschluß fassen wolle, aber mit sich selbst kämpfe. Der Fürst wartete schweigend. Ganja sah ihn noch einmal mit einem forschenden, durchdringenden Blick an.

»Fürst«, begann er von neuem, »man ist dort auf mich augenblicklich … infolge eines ganz sonderbaren Umstandes … an dem ich keine Schuld trage … nun kurz, das gehört nicht hierher … man ist dort auf mich, wie es scheint, ein wenig böse, so daß ich für einige Zeit nicht ohne besondere Aufforderung hingehen möchte. Ich muß jetzt aber ganz notwendig mit Aglaja Iwanowna sprechen. Ich habe hier für alle Fälle ein paar Worte an sie geschrieben« (er hatte auf einmal einen kleinen, zusammengefalteten Zettel in der Hand) »und weiß nun nicht, wie ich sie ihr zugehen lassen soll. Möchten Sie es nicht übernehmen, Fürst, dieses Blättchen Aglaja Iwanowna abzugeben, jetzt gleich, aber nur Aglaja Iwanowna allein, das heißt so, daß es niemand sieht, verstehen Sie? Es handelt sich nicht um irgendwelche arge Heimlichkeit, es ist nichts Derartiges … aber … wollen Sie es tun?«

»Die Sache ist mir nicht sehr angenehm«, antwortete der Fürst.

»Ach, Fürst, ich bin in der äußersten Notlage!« bat Ganja. »Sie wird vielleicht antworten … Seien Sie versichert, daß nur die dringende Notwendigkeit, die allerdringendste Notwendigkeit mich veranlaßt, mich an Sie zu wenden! … Durch wen sollte ich es sonst hinschicken? … Die Sache ist sehr wichtig … außerordentlich wichtig für mich …«

Ganja war in größter Angst, der Fürst könnte es ihm abschlagen, und blickte ihm, furchtsam bittend, in die Augen.

»Nun, meinetwegen, ich werde es übergeben.«

»Aber nur so, daß niemand es bemerkt!« bat der erfreute Ganja. »Und noch eins, Fürst: ich kann mich doch wohl auf Ihr Ehrenwort verlassen, nicht wahr?«

»Ich werde es niemandem zeigen«, erwiderte der Fürst.

»Das Billett ist nicht versiegelt, aber …« Ganja merkte, daß er in seiner übergroßen Sorge zuviel sagte, und hielt verlegen inne.

»Oh, ich werde es nicht lesen«, versetzte der Fürst ganz schlicht, nahm das Bild und verließ das Arbeitszimmer.

Als Ganja allein geblieben war, griff er sich an den Kopf.

»Ein Wort von ihr, und ich … und ich breche vielleicht wirklich diese Beziehung ab! …«

Vor Aufregung und gespannter Erwartung war er nicht imstande, sich wieder an seine Papiere zu setzen, sondern schritt im Arbeitszimmer von einer Ecke in die andere.

Der Fürst ging sehr nachdenklich zurück; der Auftrag war ihm unangenehm, unangenehm war ihm auch der Gedanke, daß Ganja mit Aglaja in Korrespondenz stand. Aber als er noch zwei Zimmer zu passieren hatte, um wieder in den Salon zu gelangen, blieb er plötzlich stehen, als ob ihm etwas einfiele, blickte sich um, trat ans Fenster, recht nahe an das Licht, und begann Nastasja Filippownas Bild zu betrachten.

Er hätte gern etwas enträtselt, was in diesem Gesicht verborgen lag und ihn vorhin frappiert hatte. Der Eindruck von vorhin war in ihm haftengeblieben, und er beeilte sich jetzt, ihn von neuem nachzuprüfen. Dieses durch seine Schönheit und noch durch etwas anderes auffallende Gesicht übte jetzt auf ihn eine noch stärkere Wirkung aus. Ein grenzenloser Stolz, eine grenzenlose Verachtung, die fast wie Haß aussah, lagen in diesem Gesicht und zu gleicher Zeit etwas Zutrauliches, erstaunlich Offenherziges; dieser Kontrast erweckte bei dem, der diese Züge betrachtete, sogar ein gewisses Mitleid. Diese blendende Schönheit war geradezu unerträglich, die Schönheit des blassen Gesichts, der fast eingefallenen Wangen und glühenden Augen – eine seltsame Schönheit! Der Fürst betrachtete das Bild wohl eine Minute lang; dann zuckte er auf einmal zusammen, blickte rings um sich, führte das Bild eilig an seine Lippen und küßte es. Als er einen Augenblick darauf in den Salon trat, war sein Gesicht wieder vollkommen ruhig.

Aber als er in das Eßzimmer gelangte, das noch durch ein Zimmer vom Salon getrennt war, stieß er in der Tür beinahe mit der herauskommenden Aglaja zusammen. Sie war allein.

»Gawrila Ardalionowitsch hat mich gebeten, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte der Fürst, indem er ihr das Billett hinreichte.

Aglaja blieb stehen, nahm das Billett und blickte den Fürsten seltsam an. In ihrem Blick lag nicht die geringste Verlegenheit, nur ein gewisses Erstaunen mochte daraus hervorschimmern, und auch dieses Erstaunen schien sich nur auf den Fürsten zu beziehen. Aglaja forderte durch ihren Blick von ihm gleichsam Rechenschaft darüber, wie es zugehe, daß er in dieser Angelegenheit mit Ganja im Bunde sei, und sie benahm sich dabei mit aller Ruhe und von oben herab. Zwei oder drei Sekunden lang standen sie einander gegenüber; endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht etwas wie Spott; sie lächelte leise und ging vorüber.

Die Generalin betrachtete eine Zeitlang schweigend und mit einem leisen Ausdruck von Geringschätzung Nastasja Filippownas Bild, das sie mit ausgestrecktem Arm sehr weit von den Augen hielt.

»Ja, schön ist sie«, sagte sie endlich, »sogar sehr schön. Ich habe sie zweimal gesehen, aber nur von weitem. Also eine solche Schönheit bewundern Sie?« wandte sie sich plötzlich an den Fürsten.

»Eine solche … ja …«, antwortete der Fürst mit einiger Überwindung.

»Gerade eine solche?«

Ja.«

»Warum denn?«

»In diesem Gesicht … liegt soviel Leid …«, sagte der Fürst; es schien, als kämen diese Worte unwillkürlich aus seinem Munde und als antwortete er nicht auf die Frage, sondern spräche für sich.

»Das ist übrigens vielleicht nur eine Phantasie von Ihnen«, bemerkte die Generalin kurz und warf mit einer hochmütigen Gebärde das Bild von sich weg auf den Tisch.

Alexandra nahm es, Adelaida trat zu ihr, und beide begannen es zu betrachten. In diesem Augenblick kehrte Aglaja wieder in den Salon zurück.

»Das ist eine gewaltige Macht!« rief auf einmal Adelaida, die über die Schulter ihrer Schwester hinweg das Bild mit größtem Interesse ansah.

»Wieso? Inwiefern eine Macht?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton.

»Eine solche Schönheit ist eine Macht«, erwiderte Adelaida enthusiastisch. »Mit einer solchen Schönheit kann man die Welt umdrehen!«

In Gedanken versunken ging sie zu ihrer Staffelei. Aglaja sah das Bild nur flüchtig an, kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe vor, ging zur Seite und setzte sich da mit zusammengelegten Händen hin.

Die Generalin klingelte.

»Rufe Gawrila Ardalionowitsch her, er ist im Arbeitszimmer«, befahl sie dem eintretenden Diener.

»Aber maman!« rief Alexandra mit bedeutsamer Betonung.

»Ich will ihm nur ein paar Worte sagen, und damit basta!« erklärte die Generalin schnell in bestimmtem, scharfem Ton, der jede Widerrede abschnitt. Sie befand sich offenbar in gereizter Stimmung. »Sehen Sie, Fürst, bei uns hier gibt es jetzt lauter Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Die Etikette verlangt das, obwohl es eine Dummheit ist. Und noch dazu bei einer Sache, bei der die größte Offenheit, Klarheit und Ehrlichkeit erforderlich ist. Es sind Eheschließungen im Werke; aber diese Ehen wollen mir gar nicht gefallen …«

»Maman, was reden Sie da?« unterbrach Alexandra sie wieder eilig, um sie von weiteren Äußerungen zurückzuhalten.

»Was willst du, liebe Tochter? Gefallen sie denn dir? Daß der Fürst dabei zuhört, tut nichts, wir sind ja Freunde. Ich und er wenigstens. Es heißt: ›Gott sucht sich Menschen‹, aber natürlich gute Menschen; schlechte und launische, die sich heute so entscheiden und morgen wieder anders reden, kann er nicht gebrauchen. Verstehen Sie wohl, Alexandra Iwanowna? Meine Töchter sagen, Fürst, ich sei wunderlich, aber ich habe ein klares, gesundes Urteil. Denn das Herz ist die Hauptsache, und alles übrige ist dummes Zeug. Verstand ist freilich auch nötig, gewiß … vielleicht ist der Verstand sogar die allergrößte Hauptsache. Lache nicht, Aglaja, ich widerspreche mir nicht: ein Weib mit Herz ohne Verstand ist ebenso unglücklich wie ein Weib mit Verstand ohne Herz. Das ist eine alte Wahrheit. Ich bin ein Weib mit Herz ohne Verstand und du eins mit Verstand ohne Herz; wir sind beide unglücklich und müssen beide viel leiden.«

»Inwiefern sind Sie denn so unglücklich, maman?« konnte Adelaida sich nicht enthalten zu fragen; sie war anscheinend von der ganzen Gesellschaft die einzige, die ihre heitere Stimmung nicht verloren hatte.

»Erstens, weil ich so gelehrte Töchter habe«, schnitt ihr die Generalin das Wort ab. »Und da dies eine schon ganz hinreichend ist, so brauche ich das übrige nicht erst lange aufzuzählen. Aber nun genug des Geredes! Wir wollen einmal sehen, wie ihr beide (von Aglaja rede ich nicht) mit eurem Verstand und mit eurer Redekunst euch herauswickeln werdet, und ob Sie, verehrte Alexandra Iwanowna, mit Ihrem geschätzten Herrn Gemahl glücklich sein werden… Ah!…«, rief sie, als sie den eintretenden Ganja erblickte, »da kommt noch so ein Ehekandidat. Guten Morgen!« erwiderte sie auf Ganjas Verbeugung, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern. »Sie wollen eine Ehe eingehen?«

»Eine Ehe?… Wieso?… Was für eine Ehe?…«, murmelte Gawrila Ardalionowitsch ganz verblüfft. Er war schrecklich verlegen.

»Sie wollen heiraten? frage ich, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist.«

»N-nein… ich… n-nein«, log Gawrila Ardalionowitsch, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht. Er warf eilig einen Blick auf die abseits sitzende Aglaja und ließ seine Augen schnell wieder weitergleiten. Aglaja sah ihn kalt, gerade und ruhig an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, und beobachtete seine Verwirrung.

»Nein? Sie haben nein gesagt?« setzte die unerbittliche Lisaweta Prokofjewna das Verhör beharrlich fort. »Gut, ich werde es mir merken, daß Sie heute, Mittwoch vormittag, auf meine Frage mit Nein geantwortet haben. Was haben wir heute für einen Tag – Mittwoch?«

»Ich glaube, Mittwoch, maman«, antwortete Adelaida.

»Ihr wißt doch nie die Wochentage. Und was für ein Datum?«

»Den Siebenundzwanzigsten«, antwortete Ganja.

»Den Siebenundzwanzigsten? Das ist nützlich zu wissen, wegen einer gewissen Berechnung. Leben Sie wohl, Sie haben sicher viel zu tun, und für mich ist es Zeit, daß ich mich anziehe und ausfahre; nehmen Sie Ihr Bild wieder mit! Empfehlen Sie mich der unglücklichen Nina Alexandrowna!… Auf Wiedersehen, mein lieber Fürst! Kommen Sie recht oft wieder her; ich will jetzt eiligst zu der alten Bjelokonskaja fahren, um ihr von Ihnen zu erzählen. Und hören Sie, mein Lieber: ich glaube, daß Gott Sie speziell meinetwegen aus der Schweiz nach Petersburg geführt hat. Vielleicht haben Sie hier auch noch anderes zu tun; aber hauptsächlich sind Sie meinetwegen hergekommen. Gott hat es mit Absicht so eingerichtet … Auf Wiedersehen, liebe Kinder! Liebe Alexandra, komm du mit mir!«

Die Generalin ging hinaus. Ganja, ganz verstört, fassungslos, wütend, nahm das Bild vom Tisch und wandte sich mit einem schiefen Lächeln zum Fürsten:

»Fürst, ich gehe jetzt gleich nach Hause. Wenn Sie Ihre Absicht, bei uns zu wohnen, nicht aufgegeben haben, so werde ich Sie hinführen; sonst kennen Sie ja nicht einmal Straße und Haus.«

»Warten Sie, Fürst«, sagte Aglaja, die sich plötzlich von ihrem Stuhl erhob, »Sie sollen mir noch etwas in mein Album schreiben. Papa hat gesagt, Sie seien ein Kalligraph. Ich werde es Ihnen gleich bringen.«

Sie verließ das Zimmer.

»Auf Wiedersehen, Fürst, ich gehe auch weg«, sagte Adelaida.

Sie drückte dem Fürsten fest die Hand, lächelte ihm freundlich und herzlich zu und ging hinaus. Den dabeistehenden Ganja sah sie gar nicht an.

»Das ist Ihr Werk!« rief zähneknirschend Ganja, der, sowie alle hinausgegangen waren, auf den Fürsten losstürzte. »Sie haben ihnen ausgeplaudert, daß ich heiraten will!« murmelte er hastig im Flüsterton, mit wütendem Gesicht und zornig funkelnden Augen. »Sie sind ein schamloser Schwätzer!«

»Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren«, antwortete der Fürst ruhig und höflich. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie heiraten wollen.«

»Sie haben vorhin gehört, wie Iwan Fjodorowitsch sagte, heute abend werde sich alles bei Nastasja Filippowna entscheiden, und das haben Sie weitererzählt! Sie lügen! Woher hätten die Damen es sonst wissen können? Wer, zum Teufel, konnte es ihnen mitteilen außer Ihnen? Hat mir die Alte etwa nicht zu verstehen gegeben, daß sie davon weiß?«

»Sie müssen am besten wissen, wer es den Damen mitgeteilt hat, wenn Sie der Ansicht sind, daß man Ihnen dergleichen zu verstehen gegeben hat; ich habe kein Wort davon gesagt.«

»Haben Sie mein Billett übergeben? … Ist eine Antwort da?« unterbrach ihn Ganja, vor Ungeduld glühend. Aber gerade in diesem Augenblick kam Aglaja zurück, und der Fürst hatte nicht mehr Zeit zu antworten.

»Hier, Fürst«, sagte Aglaja, indem sie ihr Album auf ein Tischchen legte. »Suchen Sie sich eine Seite aus, und schreiben Sie mir etwas hinein! Hier ist eine Feder, noch dazu eine ganz neue. Es macht doch nichts aus, daß es eine Stahlfeder ist? Ich habe mir sagen lassen, die Kalligraphen schrieben nicht mit Stahlfedern.«

Während sie mit dem Fürsten sprach, schien sie gar nicht zu bemerken, daß Ganja ebenfalls da war. Aber während nun der Fürst die Feder in Ordnung brachte, eine Seite aussuchte und sich zum Schreiben fertigmachte, trat Ganja an den Kamin heran, wo Aglaja unmittelbar rechts neben dem Fürsten stand, und sagte zu ihr mit zitternder, stockender Stimme aus nächster Nähe.

»Ein einziges Wort, nur ein einziges Wort von Ihnen – und ich bin gerettet.«

Der Fürst wandte sich rasch um und sah sie beide an. Auf Ganjas Gesicht lag der Ausdruck echter Verzweiflung; er schien diese Worte ohne jede Überlegung hervorgestoßen zu haben. Aglaja blickte ihn ein paar Sekunden lang mit ganz demselben ruhigen Erstaunen an wie eine Weile vorher den Fürsten, und es schien, daß dieses ruhige Erstaunen, diese Verwunderung, diese offenkundige völlige Verständnislosigkeit für das, was ihr gesagt war, in diesem Augenblick für Ganja schrecklicher war, als es die stärkste Verachtung hätte sein können.

»Was soll ich denn schreiben?« fragte der Fürst.

»Ich werde es Ihnen gleich diktieren«, erwiderte Aglaja, sich zu ihm wendend. »Sind Sie bereit? Nun, dann schreiben Sie: ›Ich lasse mich nicht auf Handelsgeschäfte ein.‹ Setzen Sie jetzt das Datum darunter! Zeigen Sie her!«

Der Fürst reichte ihr das Album hin.

»Vorzüglich! Sie haben es erstaunlich schön geschrieben; Ihre Handschrift ist ganz wundervoll! Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Fürst … Warten Sie«, fügte sie hinzu, als ob ihr plötzlich etwas einfiele, »kommen Sie mit; ich will Ihnen etwas zum Andenken schenken.«

Der Fürst folgte ihr; als sie jedoch ins Eßzimmer kamen, blieb Aglaja stehen.

»Lesen Sie das da!« sagte sie, ihm Ganjas Billett reichend. Der Fürst nahm das Billett und blickte Aglaja erstaunt an.

»Ich weiß ja, daß Sie es nicht gelesen haben und nicht der Vertraute dieses Menschen sein können. Lesen Sie, es ist mein Wunsch, daß Sie es lesen.«

Das Billett war augenscheinlich in großer Eile geschrieben:

»Heute wird mein Schicksal entschieden, Sie wissen, in welcher Weise. Heute werde ich unwiderruflich mein Wort geben müssen. Ich habe keinerlei Recht auf Ihre Teilnahme und wage nicht, irgendwelche Hoffnungen zu hegen, aber Sie haben früher einmal ein Wort ausgesprochen, nur ein einziges Wort, und dieses Wort hat die ganze dunkle Nacht meines Lebens erhellt und ist für mich ein Leuchtzeichen geworden. Sagen Sie jetzt noch ein solches Wort – und Sie werden mich damit vom Untergang erretten! Sagen Sie nur zu mir: ›Brich alle Beziehungen ab!‹ und ich tue es noch heute. Oh, was kostet es Sie, dieses eine Wort zu sagen! Ich erbitte dieses Wort nur als Zeichen Ihrer Teilnahme und Ihres Mitleids mit mir – nur in diesem Sinne! Weiter soll es nichts sein, nichts! Ich wage nicht, irgendwelche Hoffnung zu hegen, weil ich solcher Hoffnung nicht würdig bin. Aber wenn Sie dieses Wort gesprochen haben, werde ich von neuem meine Armut auf mich nehmen und meine verzweifelte Lage mit Freuden ertragen. Ich werde in den Kampf eintreten; ich werde mich seiner freuen und in ihm neue Kraft gewinnen!

Senden Sie mir dieses Wort der Teilnahme (nur der Teilnahme, das schwöre ich Ihnen!). Zürnen Sie nicht über die Kühnheit eines Verzweifelnden, Ertrinkenden, der eine letzte Anstrengung zu machen gewagt hat, um sich vor dem Untergange zu retten!

G. J.«

»Dieser Mensch versichert«, sagte Aglaja scharf, als der Fürst zu Ende gelesen hatte, »daß das Wort ›Brechen Sie alle Beziehungen ab!‹ mich nicht kompromittieren und zu nichts verpflichten solle, und er gibt mir, wie Sie sehen, hierin, in diesem Billett, eine schriftliche Garantie dafür. Beachten Sie, wie naiv er einige Worte unterstrichen hat, und in wie plumper Weise seine geheime Absicht hervorschaut! Er weiß übrigens, daß, wenn er alle Beziehungen abbräche, aber von selbst, allein, ohne auf ein Wort von mir zu warten und ohne mit mir auch nur davon zu reden und ohne jede Hoffnung auf meine Hand, daß ich dann meine Gefühle gegen ihn ändern und vielleicht seine Freundin werden würde. Das weiß er genau! Aber er hat eine niedrige Gesinnung: er weiß es und kann sich doch nicht entschließen; er weiß es und verlangt doch Garantien. Er ist nicht imstande, auf Treu und Glauben einen Entschluß zu fassen. Er möchte, daß ich ihm, als Ersatz für die hunderttausend Rubel, die Hoffnung auf meine Hand gebe. Was aber jenes frühere Wort anlangt, von dem er in seinem Billett spricht und das angeblich sein Leben erhellt hat, so lügt er frech. Ich habe ihm einfach einmal meine Teilnahme ausgesprochen. Aber er ist dreist und unverschämt; ihm ist damals sogleich der Gedanke durch den Kopf gegangen, da sei für ihn eine Hoffnung möglich, ich habe das sofort bemerkt. Seitdem hat er angefangen, auf mich Jagd zu machen, und so sucht er mich auch jetzt zu fangen. Aber genug davon; nehmen Sie dieses Billett, und geben Sie es ihm zurück, unmittelbar nachdem Sie unser Haus werden verlassen haben, selbstverständlich nicht früher!«

»Und welche Antwort soll ich ihm ausrichten?«

»Natürlich gar keine. Das ist die beste Antwort. Sie wollen also in seinem Hause wohnen?«

»Iwan Fjodorowitsch hat es mir vorhin selbst empfohlen«, antwortete der Fürst.

»Dann nehmen Sie sich vor ihm in acht, ich warne Sie; er wird es Ihnen jetzt nicht verzeihen, daß Sie ihm sein Billett zurückbringen.«

Aglaja drückte dem Fürsten leicht die Hand und ging hinaus. Ihr Gesicht war ernst und finster, und sie lächelte nicht einmal, als sie dem Fürsten zum Abschied zunickte.

»Ich bin gleich fertig, ich will nur mein Bündel holen«, sagte der Fürst zu Ganja. »Dann können wir gehen.«

Ganja stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß. Sein Gesicht wurde ganz dunkel vor Wut. Endlich traten beide auf die Straße, der Fürst mit seinem Bündel in der Hand.

»Und die Antwort? Die Antwort?« bestürmte ihn Ganja. »Was hat sie Ihnen gesagt? Haben Sie ihr meinen Brief übergeben?«

Der Fürst reichte ihm schweigend sein Billett hin. Ganja erstarrte.

»Wie? Mein Billett!« rief er. »Er hat es ihr gar nicht einmal übergeben! Oh, das hätte ich mir im voraus sagen müssen! O dieser ver-r-dammte … Nun ist es erklärlich, daß sie vorhin nichts verstand! Aber wie kommt denn das, daß Sie es ihr nicht übergeben haben, Sie ver-r-dammter …«

»Entschuldigen Sie, es gelang mir im Gegenteil sogleich, Ihr Billett zu übergeben, unmittelbar nachdem Sie es mir eingehändigt hatten, und genau in der Art, wie Sie es wünschten. Ihr Billett befindet sich jetzt deshalb wieder in meinen Händen, weil Aglaja Iwanowna es mir soeben wieder zurückgegeben hat.«

»Wann? Wann?«

»Als ich mit der Eintragung in das Album fertig war und sie mich aufforderte, mit ihr hinauszukommen. Sie haben es wohl gehört? Wir gingen in das Eßzimmer; dort gab sie mir das Billett und befahl mir, es durchzulesen und Ihnen zurückzugeben.«

»Durch-zu-lesen!« schrie Ganja. »Durchzulesen! Und Sie haben es gelesen?«

Er blieb von neuem wie erstarrt mitten auf dem Gehsteig stehen und war dermaßen erstaunt, daß er sogar den Mund aufriß.

»Ja, ich habe es gelesen, jetzt eben.«

»Und sie selbst, sie selbst hat es Ihnen zum Durchlesen gegeben? Sie selbst?«

»Ja, sie selbst; Sie können mir glauben, daß ich es ohne ihre Aufforderung nicht gelesen hätte.«

Ganja schwieg eine Minute und überlegte etwas mit qualvoller Anstrengung, aber plötzlich rief er:

»Es ist unmöglich! Sie konnte Sie nicht auffordern, den Brief zu lesen. Sie lügen! Sie haben ihn ohne Erlaubnis durchgelesen!«

»Ich sage die Wahrheit«, antwortete der Fürst in dem früheren, völlig ruhigen Ton, »und seien Sie überzeugt: es tut mir sehr leid, daß dies auf Sie einen so unangenehmen Eindruck macht.«

»Aber, Sie Unseliger, sie hat Ihnen doch wenigstens etwas dabei gesagt, etwas geantwortet?«

»Ja, gewiß.«

So sprechen Sie doch, sprechen Sie doch, zum Teufel!«

Ganja stampfte mit dem in einem Überschuh steckenden rechten Fuß zweimal auf das Pflaster.

»Als ich den Brief durchgelesen hatte, sagte sie mir, Sie suchten sie zu fangen; Sie wünschten sie zu kompromittieren, um auf ihre Hand hoffen zu können, damit Sie dann, auf diese Hoffnung gestützt, eine andere Hoffnung auf hunderttausend Rubel ohne Verlust fahren lassen könnten. Wenn Sie das täten, ohne mit ihr eine Art von Handelsgeschäft zu machen, und alle jene Beziehungen auf eigene Faust abbrächen, ohne von ihr vorher eine Garantie zu verlangen, dann würde sie vielleicht Ihre Freundin werden. Das ist alles, glaube ich. Ja, noch eins: als ich den Brief bereits zurückerhalten hatte und fragte, was für eine Antwort ich bestellen solle, da sagte sie, keine Antwort werde die beste Antwort sein. Ich meine, so war es; entschuldigen Sie, wenn ich den genauen Wortlaut vergessen habe; ich habe es Ihnen so mitgeteilt, wie ich es selbst verstanden habe.«

Ein grenzenloser Zorn bemächtigte sich Ganjas, und seine Wut kam hemmungslos zum Ausbruch.

»Ah! So steht es!« rief er zähneknirschend. »Also meine Briefe werden aus dem Fenster geworfen! Ah! Auf Handelsgeschäfte will sie sich nicht einlassen – nun, so werde ich es tun! Wir wollen einmal sehen! Ich habe noch viele Hilfsmittel… wir wollen einmal sehen!… Ich will sie schon klein kriegen!…«

Sein Gesicht verzerrte sich, er wurde ganz blaß, sein Mund schäumte, er drohte mit der Faust. So gingen sie einige Schritte. Vor dem Fürsten legte er sich nicht den geringsten Zwang auf; er benahm sich, als wäre er in seinem Zimmer und ganz allein, weil er den Fürsten geradezu als eine Null betrachtete. Aber auf einmal fiel ihm etwas ein, und er kam zur Besinnung.

»Aber wie kommt es«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »wie kommt es, daß Sie« (›Idiot!‹fügte er im stillen hinzu) »auf einmal eine solche Vertrauensstellung einnehmen, zwei Stunden nach der ersten Bekanntschaft? Wie kommt das?«

Zu all seinen Qualen hatte nur noch der Neid gefehlt, der nun auf einmal sein Herz schmerzhaft packte.

»Das weiß ich Ihnen allerdings nicht zu erklären«, antwortete der Fürst.

Ganja warf ihm einen grimmigen Blick zu.

»Da hat sie Sie wohl ins Eßzimmer gerufen, um Ihnen ihr Vertrauen zu schenken? Denn daß sie Ihnen etwas schenken wollte, hatte sie ja vorher gesagt.«

»Ich kann es nicht anders auffassen als in dieser Weise.«

»Aber, zum Teufel, wodurch haben Sie denn das verdient? Was haben Sie denn so Dankenswertes dort getan? Wodurch haben Sie so gefallen? Hören Sie einmal«, sagte er hastig (in seinem Geiste war in diesem Augenblick alles gleichsam bunt durcheinandergewürfelt und befand sich in ärgster Unordnung, so daß er mit seinen Gedanken nicht zurechtkommen konnte), »hören Sie einmal, können Sie sich nicht wenigstens einigermaßen erinnern und der Reihe nach erzählen, wovon Sie dort eigentlich gesprochen haben, alle Ihre Worte, von Anfang an? Haben Sie irgend etwas Eigenartiges geäußert, besinnen Sie sich nicht?«

»O ja, sehr wohl«, antwortete der Fürst. »Gleich zu Anfang, als ich hereingekommen und mit den Damen bekannt geworden war, sprachen wir über die Schweiz.«

»Ach, hol die Schweiz der Teufel!«

»Dann über die Todesstrafe.«

»Über die Todesstrafe?«

»Ja, das Gespräch führte uns darauf… Dann erzählte ich ihnen, wie ich dort vier Jahre gelebt habe, und eine Geschichte von einem armen Bauernmädchen….«

»Ach, zum Teufel mit dem armen Bauernmädchen! Weiter!« drängte Ganja ungeduldig.

»Dann, wie Schneider mir seine Ansicht über meinen Charakter aussprach und mich nötigte….«

»Hol Ihren Schneider der Henker, was scheren mich seine Ansichten! Weiter!«

»Dann fing ich bei irgendeinem Anlaß an, von Gesichtern zu sprechen, das heißt von dem Ausdruck der Gesichter, und sagte, Aglaja Iwanowna sei fast ebenso schön wie Nastasja Filippowna. Und da kam ich denn auch auf das Bild zu sprechen….«

»Aber Sie haben nichts mitgeteilt, Sie haben doch nichts von dem mitgeteilt, was Sie vorher im Arbeitszimmer gehört hatten? Nein? Nein?«

»Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht getan habe.«

»Aber woher dann, zum Teufel…. Ha! Hat Aglaja den Brief etwa der Alten gezeigt?«

»Was das betrifft, kann ich Ihnen bestimmt garantieren, daß sie es nicht getan hat. Ich war die ganze Zeit dabei, sie hatte auch gar keine Zeit dazu.«

»Aber vielleicht haben Sie selbst etwas nicht bemerkt…. Oh, dieser ver-r-dammte Idiot!« schrie er auf einmal ganz außer sich, »er kann nicht einmal etwas erzählen!«

Ganja, der nun einmal ins Schimpfen hineingeraten war und keinen Widerstand fand, verlor allmählich alle Selbstbeherrschung, wie das bei manchen Menschen immer ist. Es fehlte nicht viel, und er hätte vielleicht zu spucken begonnen, so wütend war er. Aber eben infolge dieser Wut war er auch wie blind; sonst hätte er längst bemerken müssen, daß dieser »Idiot«, den er so verächtlich behandelte, manche Dinge sehr schnell und genau durchschaute und außerordentlich klar darzustellen wußte. Doch auf einmal geschah etwas Unerwartetes.

»Ich muß Ihnen bemerken, Gawrila Ardalionowitsch«, sagte der Fürst plötzlich, »daß ich zwar früher in der Tat so krank war, daß ich wirklich fast einem Idioten glich, aber jetzt bin ich schon längst wiederhergestellt, und daher ist es mir einigermaßen unangenehm, wenn man mich, mir ins Gesicht, einen Idioten nennt. Allerdings kann man Ihre Mißerfolge als Entschuldigung für Sie geltend machen, aber Sie haben mich in Ihrem Ärger schon zweimal mit Schimpfnamen belegt. Das mißfällt mir sehr, namentlich auch, da Sie es so ohne weiteres gleich beim Beginn unserer Bekanntschaft tun, und da wir uns jetzt gerade an einer Straßenkreuzung befinden, so ist es wohl das beste, wenn wir uns trennen: gehen Sie rechts nach Ihrer Wohnung, und ich werde links gehen. Ich bin im Besitz von fünfundzwanzig Rubel und werde wohl irgendein finden.«

Ganja wurde höchst verlegen und errötete sogar vor Scham.

»Verzeihen Sie, Fürst!« rief er eifrig, indem er seinen scheltenden Ton schnell mit einem äußerst höflichen vertauschte. »Ich bitte Sie inständig, verzeihen Sie mir! Sie sehen, in welcher entsetzlichen Lage ich mich befinde! Sie wissen noch fast nichts darüber, aber wenn Sie alles wüßten, würden Sie mich gewiß wenigstens einigermaßen entschuldigen, obwohl selbstverständlich mein Verhalten unentschuldbar ist…«

»Oh, ich beanspruche gar nicht so lange Entschuldigungen«, beeilte sich der Fürst zu erwidern. »Ich begreife ja, daß Ihre Lage sehr unangenehm ist und Sie deswegen schimpfen. Nun, dann wollen wir nach Ihrer Wohnung gehen. Ich tue es mit Vergnügen …«

›Nein, so darf ich ihn jetzt nicht davonlassen‹, sagte sich Ganja im stillen, während er unterwegs dem Fürsten grimmige Blicke zuwarf. ›Dieser schlaue Patron hat mir alle meine Geheimnisse entlockt und nun auf einmal die Maske abgeworfen… Das hat etwas zu bedeuten… Nun, wir wollen sehen! Es wird sich alles entscheiden, alles, alles! Noch heute!‹

Sie standen schon gerade vor dem Hause.

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Kapitel 8

VIII

Ganjas Wohnung befand sich im dritten Stock, zu dem man auf einer sehr sauberen, hellen, breiten Treppe hinaufstieg, und bestand aus sechs oder sieben Zimmern und Zimmerchen, die zwar nur ganz gewöhnlicher Art waren, aber doch jedenfalls nicht recht im Einklang standen mit dem Portemonnaie eines Beamten, der Familie hatte, auch wenn er zweitausend Rubel Gehalt bezog. Bei der Wohnung war jedoch die Aufnahme von Untermietern mit Beköstigung und Bedienung in Aussicht genommen, und sie war von Ganja und seiner Familie erst vor zwei Monaten gemietet worden, und zwar zu Ganjas eigenem größten Mißvergnügen, auf die inständigen Bitten seiner Mutter Nina Alexandrowna und seiner Schwester Warwara Ardalionowna hin, die den Wunsch hatten, sich ihrerseits nützlich zu machen und die Einnahmen der Familie wenigstens um eine Kleinigkeit zu vermehren. Ganja ärgerte sich darüber und nannte das Halten von Untermietern eine Unanständigkeit; er schämte sich dessen gewissermaßen in der Gesellschaft, in der er als junger eleganter Mann mit einer bedeutenden Zukunft sich zu bewegen pflegte. Dieser Druck der Verhältnisse und diese ganze widerwärtige Beengtheit bereiteten ihm tiefe seelische Schmerzen. Seit einiger Zeit regte er sich über jede Kleinigkeit maßlos auf, viel mehr, als sie wert war, und wenn er sich dazu verstand, vorläufig noch nachzugeben und zu dulden, so tat er dies nur deshalb, weil er bereits entschlossen war, dies alles in nächster Zeit umzuändern und umzugestalten. Indessen stellte ihm gerade diese Umgestaltung, gerade der Ausweg, den er vor sich sah, eine nicht leichte Aufgabe, eine Aufgabe, deren bevorstehende Lösung mühsamer und qualvoller zu werden drohte als alles Vorhergegangene.

Die Wohnung wurde von einem Korridor durchschnitten, der gleich beim Vorzimmer begann. Auf der einen Seite des Korridors befanden sich die drei Zimmer, die zum Vermieten an »gut empfohlene« Untermieter bestimmt waren; außerdem lag auf derselben Seite des Korridors, ganz am Ende bei der Küche, ein viertes Zimmerchen, enger als alle übrigen, in welchem das Oberhaupt der Familie, der General a. D. Iwolgin, selbst wohnte; er schlief dort auf einem breiten Sofa und war verpflichtet, wenn er die Wohnung verließ und wiederkam, seinen Weg durch die Küche und über die Hintertreppe zu nehmen. In demselben Zimmerchen wohnte auch Gawrila Ardalionowitschs fünfzehnjähriger Bruder, der Gymnasiast Kolja; auch er mußte sich in diesem engen Raum behelfen, mußte hier seine Schulaufgaben erledigen und auf einem andern sehr alten, schmalen, kurzen Sofa und einem zerrissenen Laken schlafen; vor allen Dingen aber mußte er den Vater warten und beaufsichtigen, denn das wurde bei diesem von Tag zu Tag mehr notwendig. Dem Fürsten wurde das mittlere der drei Zimmer angewiesen; in dem ersten Zimmer, rechts davon, wohnte Ferdyschtschenko, und das dritte, links, stand noch leer. Aber Ganja führte den Fürsten zunächst in die von der Familie eingenommene Wohnungshälfte. Diese Hälfte bestand aus einem Wohnzimmer, das ich, sooft es nötig war, in ein Eßzimmer verwandelte, ferner aus einem Salon, der jedoch nur vormittags Salon war und sich am Abend in Ganjas Arbeitszimmer und sein Schlafzimmer verwandelte, und endlich aus einem dritten, engen und stets geschlossen gehaltenen Zimmer: dies war Nina Alexandrownas und Warwara Ardalionownas Schlafzimmer. Mit einem Wort: alles in dieser Wohnung war beengt und zusammengedrängt; Ganja knirschte im stillen nur so mit den Zähnen; obgleich er gegen seine Mutter respektvoll war und zu sein wünschte, so konnte man doch beim ersten Blick, den man in dieses Familienleben tat, bemerken, daß er hier einen argen Despotismus ausübte.

Nina Alexandrowna befand sich im Salon nicht allein; bei ihr saß Warwara Ardalionowna; beide waren mit Stricken beschäftigt und im Gespräch mit einem Gast, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Nina Alexandrowna mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; sie hatte ein mageres, eingefallenes Gesicht und dunkle, schwarze Stellen unter den Augen. Ihr Aussehen war kränklich; und etwas vergrämt, aber ihre Miene und ihr Blick machten doch einen ziemlich angenehmen Eindruck, gleich aus ihren ersten Worten konnte ein jeder auf ihren ernsten, echt würdevollen Charakter schließen. Trotz ihres traurigen Gesichtsausdrucks merkte man, daß es ihr an Festigkeit und Entschlossenheit nicht mangelte. Ihre Kleidung war sehr bescheiden, von dunkler Farbe und ganz von der Art, wie sie alle Frauen tragen, aber ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise und ihre ganze Haltung zeugten von einer Frau, die sich ehemals in der besten Gesellschaft bewegt hatte.

Warwara Ardalionowna war ein Mädchen von ungefähr dreiundzwanzig Jahren, von mittlerer Statur, ziemlich mager, mit einem Gesicht, das, ohne übermäßig hübsch zu sein, doch die geheime Fähigkeit besaß, auch ohne Schönheit zu gefallen und eine starke Anziehungskraft auszuüben. Der Blick ihrer grauen Augen konnte zeitweilig recht heiter und freundlich sein, war aber doch meist ernst und nachdenklich, manchmal sogar zu sehr, besonders in letzter Zeit. Festigkeit und Entschlossenheit waren auch in ihrem Gesicht ausgeprägt; man hatte aber die Empfindung, daß diese Festigkeit bei ihr mit noch größerer Energie und Tatkraft gepaart war als bei der Mutter. Warwara Ardalionowna war recht aufbrausend, und ihr Bruder fürchtete sich sogar mitunter vor den Ausbrüchen ihres hitzigen Temperaments. Diese Furcht teilte auch der Gast, der augenblicklich bei den Damen saß, Iwan Petrowitsch Ptizyn. Dieser war ein noch ziemlich junger Mann, gegen dreißig Jahre alt, in bescheidener, aber anständiger Kleidung, von angenehmem, aber schon etwas zu ehrbarem Wesen. Sein dunkelblondes Bärtchen ließ erkennen, daß er keine dienstliche Stellung einnahm. Er wußte beim Gespräch verständig und hübsch zu reden, verhielt sich aber meist schweigsam. Im ganzen genommen machte er einen recht angenehmen Eindruck. Er war Warwara Ardalionowna gegenüber augenscheinlich nicht unempfindlich und verbarg seine Gefühle nicht. Warwara Ardalionowna behandelte ihn freundschaftlich, zögerte aber noch, auf manche seiner Fragen zu antworten, ja sie liebte solche Fragen nicht einmal; Ptizyn ließ sich übrigens dadurch in keiner Weise entmutigen. Nina Alexandrowna war gegen ihn freundlich und hatte in letzter Zeit sogar angefangen, ihm Vertrauen zu schenken. Es war übrigens bekannt, daß er sich speziell damit beschäftigte, Geld auf mehr oder weniger sichere Pfänder zu hohen Prozenten auszuleihen. Mit Ganja war er sehr befreundet.

Ganja, der seine Mutter sehr trocken und seine Schwester gar nicht begrüßt hatte, stellte den Fürsten umständlich, aber in stockender Rede vor und führte dann sogleich Ptizyn mit sich aus dem Zimmer. Nina Alexandrowna sagte dem Fürsten ein paar freundliche Worte und gab ihrem Sohne Kolja, der durch die Tür hereinschaute, die Weisung, ihn in das mittlere Zimmer zu führen. Kolja war ein Knabe mit einem fröhlichen, recht netten Gesicht und zutraulichem, natürlichem Benehmen.

»Wo ist denn Ihr Gepäck?« fragte er, als er den Fürsten in das Zimmer führte.

»Ich habe nur ein Bündelchen, das habe ich im Vorzimmer gelassen.«

»Ich werde es Ihnen sofort holen. Unsere ganze Dienerschaft besteht aus der Köchin und Matrjona, so daß auch ich mithelfen muß. Warja beaufsichtigt alles und ärgert sich viel über uns. Ganja sagt, Sie seien heute aus der Schweiz angekommen?«

»Ja.«

»Ist es in der Schweiz schön?«

»Ja, sehr schön.«

»Sind da Berge?«

»Ja.«

»Ich will Ihnen gleich Ihre Bündel holen.«

Warwara Ardalionowna trat ins Zimmer.

»Matrjona wird Ihnen sofort das Bett beziehen. Haben Sie einen Koffer?«

»Nein, nur ein Bündelchen. Ihr Bruder ist es eben holen gegangen, es ist im Vorzimmer.«

»Es ist kein Bündel da, außer diesem kleinen; wo haben Sie es denn hingelegt?« fragte Kolja, der wieder ins Zimmer zurückkehrte.

»Außer diesem habe ich keins«, erwiderte der Fürst, indem er sein Bündelchen in Empfang nahm.

»So, so! Und ich dachte schon, Ferdyschtschenko hätte es vielleicht weggenommen.«

»Schwatz keinen Unsinn!« sagte Warwara in strengem Ton. Auch dem Fürsten gegenüber bediente sie sich einer trockenen, nur so eben noch höflichen Redeweise.

»Chère Babette, mit mir könntest du etwas freundlicher umgehen, ich bin ja nicht Ptizyn.«

»Dich kann man noch durchhauen, Kolja, so dumm bist du noch. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, können Sie sich an Matrjona wenden; das Mittagessen findet um halb fünf statt. Sie können mit uns zusammen speisen oder auch auf Ihrem Zimmer, wie es Ihnen beliebt. Komm mit, Kolja, störe den Herrn nicht!«

»Nun, dann gehen wir, du resoluter Charakter!«

Beim Hinausgehen stießen sie mit Ganja zusammen.

»Ist Vater zu Hause?« fragte Ganja seinen Bruder, und auf Koljas bejahende Antwort flüsterte er ihm etwas ins Ohr.

Kolja nickte mit dem Kopf und ging hinter Warwara Ardalionowna hinaus.

»Nur zwei Worte, Fürst! Ich habe über all diesen… Geschäften ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Eine kleine Bitte: wenn es Ihnen nicht zu große Anstrengung kostet, so reden Sie weder hier von dem, was eben zwischen mir und Aglaja vorgefallen ist, noch dort von dem, was Sie hier vorfinden werden, denn auch hier gibt es genug Widerwärtiges. Hol das alles der Teufel!… Halten Sie wenigstens heute damit zurück!«

»Ich versichere Ihnen, daß ich weit weniger geplaudert habe, als Sie glauben«, versetzte der Fürst, etwas gereizt durch Ganjas Vorwürfe.

Die Beziehungen zwischen ihnen gestalteten sich offenbar immer schlechter.

»Na, ich habe durch Ihre Schuld heute schon genug auszustehen gehabt. Mit einem Worte, ich bitte Sie darum.«

»Wollen Sie noch dies bedenken, Gawrila Ardalionowitsch: wodurch war ich denn vorhin verpflichtet, von dem Bilde zu schweigen, und warum durfte ich nicht davon reden? Sie hatten mich ja nicht um Verschwiegenheit ersucht.«

»Pfui, was für ein häßliches Zimmer!« bemerkte Ganja, indem er verächtlich um sich schaute. »So dunkel, und die Fenster gehen auf den Hof! Sie haben es in jeder Hinsicht bei uns schlecht getroffen… Na, das ist nicht meine Sache; für die Wohnung bin ich nicht zuständig.«

Ptizyn blickte herein und rief Ganja; dieser verließ den Fürsten eilig und ging hinaus, obwohl er eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, aber er hatte gezaudert und sich gewissermaßen geschämt, davon anzufangen. Auch das Schimpfen über das Zimmer hatte seinen Grund nur in Ganjas Verlegenheit.

Kaum hatte der Fürst sich gewaschen und seine Toilette einigermaßen in Ordnung gebracht, als sich die Tür wieder öffnete und eine neue Gestalt hereinschaute.

Es war ein Herr von etwa dreißig Jahren, ziemlich groß, breitschultrig, mit großem Kopf und krausem, rötlichem Haar. Sein Gesicht war fleischig und gerötet, die Lippen dick, die Nase breit und platt; die kleinen, verschwommenen, spöttischen Augen blinzelten fortwährend. Im ganzen erweckte er den Eindruck ziemlicher Frechheit. Seine Kleidung war unsauber.

Er öffnete die Tür anfangs nur so weit, daß er den Kopf hineinstecken konnte. Dieser hineingesteckte Kopf sah sich etwa fünf Sekunden lang im Zimmer um, dann öffnete sich die Tür langsam weiter, und die ganze Gestalt wurde auf der Schwelle sichtbar, aber der Besucher trat noch nicht herein, sondern fuhr von der Schwelle aus fort, den Fürsten mit zusammengekniffenen Augen zu mustern. Endlich machte er die Tür hinter sich zu, trat näher, setzte sich auf einen Stuhl, ergriff den Fürsten kräftig bei der Hand und setzte ihn schräg gegenüber auf das Sofa.

»Mein Name ist Ferdyschtschenko«, sagte er, indem er dem Fürsten unverwandt und forschend ins Gesicht blickte.

»Nun, und?« antwortete der Fürst beinahe lachend.

»Ich bin hier Untermieter«, fuhr Ferdyschtschenko fort, ihn wie vorher anstarrend.

»Wünschen Sie mit mir bekannt zu werden?«

»Ach was!« brummte der Gast, wühlte sich in den Haaren, seufzte und blickte in die entgegengesetzte Ecke. »Haben Sie Geld?« fragte er plötzlich, sich zum Fürsten hinwendend.

»Nur wenig.«

»Also wieviel?«

»Fünfundzwanzig Rubel.«

»Zeigen Sie mal her!«

Der Fürst zog den Fünfundzwanzigrubelschein aus der Westentasche und reichte ihn Ferdyschtschenko. Dieser faltete ihn auseinander, besah ihn, drehte ihn dann auf die andere Seite und hielt ihn gegen das Licht.

»Es ist doch recht merkwürdig«, sagte er wie in Nachdenken versunken, »woher werden sie nur so braun? Diese Fünfundzwanzigrubelscheine werden manchmal schrecklich braun, während andere dagegen ganz ausbleichen. Da, nehmen Sie!«

Der Fürst nahm seine Banknote zurück. Ferdyschtschenko stand von seinem Stuhle auf.

»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen: erstens, leihen Sie mir niemals Geld, denn ich werde Sie unfehlbar darum bitten.«

»Gut.«

»Beabsichtigen Sie, hier zu bezahlen?«

»Allerdings.«

»Ich beabsichtige es nicht, fällt mir nicht ein. Ich wohne hier rechts von Ihnen, die erste Tür, haben Sie gesehen? Geben Sie sich nicht zu oft die Mühe, mich zu besuchen; ich werde schon zu Ihnen kommen, da können Sie unbesorgt sein. Haben Sie den General schon gesehen?«

»Nein.«

»Auch noch nicht gehört?«

»Natürlich nicht.«

»Na, Sie werden ihn ja noch zu sehen und zu hören bekommen; der versucht sogar mich anzupumpen! Leben Sie wohl. Kann man etwa leben, wenn man Ferdyschtschenko heißt? Wie?«

»Warum denn nicht?«

»Leben Sie wohl.«

Er ging zur Tür. Der Fürst erfuhr später, daß dieser Herr es sich gewissermaßen zur Pflicht gemacht hatte, alle Leute durch seine Originalität und Spaßhaftigkeit in Erstaunen zu versetzen, daß ihm das aber so gut wie nie gelang. Auf manche machte er sogar einen recht unangenehmen Eindruck, was ihm wirklich schmerzlich war; indes wurde er seiner Aufgabe darum doch nicht untreu. In der Tür gelang es ihm noch, eine besondere Leistung hinzuzufügen: er stieß nämlich dort auf einen eintretenden Herrn, ließ diesen neuen, dem Fürsten noch unbekannten Gast an sich vorbei ins Zimmer gehen und zwinkerte hinter dessen Rücken ein paarmal warnend nach ihm hin. So erreichte er doch noch einen effektvollen Abgang.

Der neue Herr war von hohem Wuchs, etwa fünfundfünfzig Jahre alt oder noch etwas darüber, ziemlich wohlbeleibt, mit einem purpurroten, fleischigen, aufgedunsenen Gesicht, das von einem dichten grauen Backenbart umrahmt war, mit einem Schnurrbart und großen, stark hervorstehenden Augen. Seine Erscheinung wäre recht stattlich gewesen, wenn sie nicht etwas Nachlässiges, Verlebtes und sogar Unsauberes gehabt hätte. Er trug einen alten, an den Ellbogen beinah schon durchgestoßenen Rock; auch seine Wäsche war schmutzig; außerhalb des Hauses konnte er sich so nicht sehen lassen. Um ihn herum roch es ein wenig nach Schnaps, aber sein Benehmen war effektvoll, wiewohl etwas studiert und offenbar veranlaßt von dem leidenschaftlichen Wunsch, durch Würde zu imponieren. Der Herr näherte sich dem Fürsten langsam mit einem freundlichen Lächeln, ergriff schweigend seine Hand, die er dann in der seinigen behielt, und blickte ihm eine Weile ins Gesicht, wie wenn er wohlbekannte Züge darin wiederfände.

»Er ist es! Er ist es!« sagte er leise, aber in feierlichem Ton. »Als stünde er leibhaftig vor mir! Ich hörte, wie da mehrmals ein mir bekannter, teurer Name genannt wurde, und erinnerte mich an die unwiederbringlich dahingeschwundene Vergangenheit… Sie sind Fürst Myschkin?«

»Ganz richtig.«

»General a. D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?«

»Lew Nikolajewitsch.«

»Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!«

»Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.«

»Lwowitsch«, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff gleichfalls den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. »Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.«

»In der Tat?« fragte der Fürst. »Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.«

»Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.«

»Mein Vater war ebenfalls beim Militär, er war Leutnant im Wassilkowschen Regiment.«

»Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tode. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter…«

Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt.

»Auch sie«, sagte der Fürst, »starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.«

»Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! O Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.«

Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören.

»Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens, es war noch nicht sieben Uhr, kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begriff alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Tuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen in Strömen aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden, gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ›Sie sei dein!‹ Ich rief: ›Sie sei dein!‹ Mit einem Worte… mit einem Worte… Sie wollen bei uns wohnen… bei uns wohnen?«

»Ja, vielleicht, für einige Zeit«, antwortete der Fürst etwas stockend.

»Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten«, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte.

Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen, aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder.

»Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen«, sagte der General. »Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten, aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer – ein unerhörter Niedergang der Familie!… So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen!… Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Hause eine schlimme Tragödie ab!«

Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an.

»Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten!… Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht, ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen werden, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt…«

»Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.

»Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!«

Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.

»Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon längst nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt… in Twer?«

»Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.

»Jawohl, aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zu dem General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört…«

»Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tode stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, obwohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.«

»Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«

»Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tode Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbette…«

»Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, »obwohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.«

»Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«

»So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.

»Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst – wohlgemerkt, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals – macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich, aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde Kolpakow aus den Listen gestrichen. Man könnte meinen, es ließe sich gar nichts Besseres denken. Aber genau ein halbes Jahr nachher, bei der Brigademusterung, erscheint der Gemeine Kolpakow, als wäre überhaupt nichts vorgefallen, in der dritten Kompanie des zweiten Bataillons des Nowosemljaschen Infanterieregiments, das zu derselben Brigade und zu derselben Divison gehörte wie unser Regiment!«

»Wie!« rief der Fürst, ganz außer sich vor Erstaunen.

»Es verhält sich nicht so, das ist ein Irrtum!« wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich zu ihm, wobei sie ihn fast bekümmert ansah. ». Aber unglücklicherweise war ich Zeuge dieser Vorfälle und gehörte zugleich der Untersuchungskommission an. Alle Konfrontationen bewiesen, daß das derselbe, ganz derselbe Gemeine Kolpakow war, den man ein halbes Jahr vorher mit der üblichen Leichenparade unter Trommelwirbel beerdigt hatte. Es war tatsächlich ein seltener, fast unglaublicher Fall, das gebe ich zu, aber…«

»Papa, es ist für Sie zum Mittagessen gedeckt«, meldete Warwara Ardalionowna, die ins Zimmer trat.

»Ah, das ist ja schön, ausgezeichnet! Ich habe auch schon gewaltigen Hunger… Aber dieser Fall hat, kann man sagen, auch seine psychologische Seite…«

»Die Suppe wird wieder kalt werden«, drängte Warwara ungeduldig.

»Gleich, gleich!« murmelte der General und verließ das Zimmer. »Und trotz aller Nachforschungen…«, hörte man ihn noch auf dem Korridor sagen.

»Sie werden meinem Manne Ardalion Alexandrowitsch vieles nachsehen müssen, wenn Sie bei uns wohnen bleiben«, sagte Nina Alexandrowna zum Fürsten. Er wird Sie übrigens nicht zuviel belästigen, er speist auch allein zu Mittag. Sie geben gewiß selbst zu, daß jeder seine Mängel und seine… besonderen Eigentümlichkeiten hat und die Leute, auf die man mit Fingern zu zeigen pflegt, oft noch nicht einmal so arg sind wie manche andern Menschen. Nur um eins möchte ich Sie dringend bitten: sollte mein Mann sich einmal an Sie wegen der Zahlung für das Zimmer wenden, so sagen Sie ihm, Sie hätten schon an mich bezahlt! Das heißt, auch was Sie Ardalion Alexandrowitsch gäben, würde bei der Abrechnung als von Ihnen bezahlt berücksichtigt werden, aber ich bitte Sie einzig um der Ordnung willen darum … Was ist, Warja?«

Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja.

»Sie hat es ihm heute selbst geschenkt«, sagte Warja, »und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.«

»Heute abend!« wiederholte Nina Alexandrowna halblaut, wie in Verzweiflung. »Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt… Hat er es dir denn selbst gezeigt?« fügte sie erstaunt hinzu.

»Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden, da habe ich es aufgehoben.«

»Fürst«, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, »ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierherbitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?«

Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, wobei er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu.

»Wenn ich Sie danach frage«, bemerkte Nina Alexandrowna, »so tue ich es nicht etwa in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte eigentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ›Er weiß alles, man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‹ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade …«

Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand.

»Also heute, Ganja?« fragte Nina Alexandrowna plötzlich.

»Was heute?« rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. »Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier … Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht …«

»Hier trage ich die Schuld, Ganja, und kein anderer«, unterbrach ihn Ptizyn.

Ganja blickte ihn fragend an.

»Es ist ja doch so am besten, Ganja, um so mehr, als von der einen Seite die Sache erledigt ist«, murmelte Ptizyn; dann ging er beiseite, setzte sich an einen Tisch, zog ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und blickte unverwandt darauf. Ganja stand mit finsterer Miene da und erwartete mit innerer Unruhe eine Familienszene. Sich dem Fürsten gegenüber zu entschuldigen kam ihm gar nicht in den Sinn.

»Wenn alles erledigt ist, hat Iwan Petrowitsch natürlich recht«, sagte Nina Alexandrowna. »Bitte, mach kein so böses Gesicht, Ganja, und ärgere dich nicht; ich werde nie etwas herauszubekommen suchen, was du nicht von selbst sagen magst, und ich versichere dir, daß ich mich vollständig darein gefügt habe, tu mir den Gefallen und beunruhige dich nicht!«

Sie sagte das, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und, wie es schien, wirklich ganz ruhig. Ganja war erstaunt, schwieg aber vorsichtigerweise und sah seine Mutter an, in der Erwartung, daß sie sich deutlicher aussprechen werde. Häusliche Szenen hatten ihm schon gar zu viel Verdruß gemacht. Nina Alexandrowna bemerkte diese vorsichtige Zurückhaltung und fügte mit bitterem Lächeln hinzu:

»Du zweifelst immer noch und glaubst mir nicht; beunruhige dich nicht: es wird keine Tränen und keine Bitten mehr geben wie früher, wenigstens nicht von meiner Seite. Alles, was ich wünsche, ist, daß du glücklich sein möchtest, das weißt du; ich habe mich in mein Schicksal gefunden, und mein Herz wird immer voll Liebe für dich sein, ob wir nun zusammenbleiben oder uns trennen. Selbstverständlich rede ich nur in meinem eigenen Namen, von deiner Schwester kannst du nicht dasselbe verlangen…«

»Ah, immer wieder sie!« rief Ganja, indem er seiner Schwester einen spöttischen, haßerfüllten Blick zuwarf. »Mamachen, ich schwöre Ihnen nochmals, worauf ich Ihnen schon früher mein Wort gegeben habe: nie soll jemand wagen, sich Ihnen gegenüber etwas herauszunehmen, solange ich hier bin, solange ich am Leben bin. Um wen es sich auch handeln mag, ich werde stets darauf bestehen daß jeder, der unsere Schwelle überschreitet, Ihnen mit der größten Ehrerbietung begegnet…«

Ganja freute sich so, daß er seine Mutter fast mit versöhnlichen, zärtlichen Blicken ansah.

»Ich habe auch nie etwas für meine eigene Person gefürchtet, Ganja, das weißt du. Nicht um meinetwillen habe ich mich diese ganze Zeit beunruhigt und gequält. Es heißt, heute wird zwischen euch alles abgeschlossen werden? Was wird denn abgeschlossen werden?«

»Sie hat versprochen, heute abend bei sich zu Hause sich zu erklären, ob sie einwilligt oder nicht«, antwortete Ganja.

»Wir haben es fast drei Wochen lang vermieden, davon zu sprechen, und das war auch das beste. Jetzt, da alles beschlossen ist, möchte ich mir nur die eine Frage erlauben: wie konnte sie dir ihre Einwilligung geben und dir sogar ihr Bild schenken, wenn du sie nicht liebst? Hast du sie denn wirklich, eine so… so…«

»Na, eine so erfahrene Person, nicht wahr?«

»Ich wollte mich nicht so ausdrücken. Hast du sie denn wirklich bis zu dem Grade verblenden können?«

Aus dieser Frage klang auf einmal eine große Gereiztheit. Ganja stand eine Weile da und überlegte, dann sagte er mit unverhohlenem Spott:

»Sie haben sich hinreißen lassen, Mamachen, und sich wieder einmal nicht beherrschen können. In der Art fangen bei uns immer alle Gespräche an und werden dann hitzig. Sie sagten, es werde keine Fragen und keine Vorwürfe geben, und nun haben Sie doch schon wieder angefangen! Lassen wir dergleichen lieber weg, wirklich, lassen wir es weg; auch Sie haben es ja wenigstens beabsichtigt… Ich werde Sie nie und um keinen Preis verlassen; ein anderer würde vor einer solchen Schwester mindestens davonlaufen – da, sehen Sie nur, wie sie mich eben anblickt! Hören wir auf davon! Ich freute mich schon so… Und woher wissen Sie, daß ich Nastasja Filippowna täusche? Und was Warja anlangt, so kann sie tun, was sie will, basta! Na, nun aber wirklich genug!«

Ganja war bei jedem Worte hitziger geworden und ging nun ziellos im Zimmer umher. Solche Gespräche nahmen immer eine Wendung, daß sie bei allen Familienmitgliedern einen wunden Punkt berührten.

»Ich habe gesagt, wenn sie hier einzieht, ziehe ich von hier fort, und ich werde ebenfalls Wort halten«, erklärte Warja.

»Aus Eigensinn!« rief Ganja. »Aus Eigensinn willst du auch nicht heiraten! Warum fauchst du mich so an? Ich mache mir aus Ihnen nicht das geringste, Warwara Ardalionowna, wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie Ihre Absicht sofort zur Ausführung bringen. Ich bin Ihrer schon recht überdrüssig. Wie! Sie entschließen sich endlich, uns allein zu lassen, Fürst?« schrie er den Fürsten an, als er sah, daß dieser sich von seinem Platz erhob.

Aus Ganjas Stimme konnte man schon jenen Grad von Gereiztheit heraushören, bei dem der Mensch beinah Freude über seine eigene Erregung empfindet und sich diesem Gefühl ohne jeden weiteren Versuch der Selbstbeherrschung überläßt, nahezu mit wachsendem Genuß, mag nun daraus entstehen, was will. Der Fürst, schon in der Tür, drehte sich um, um etwas zu erwidern, aber als er an dem krankhaft erregten Gesichtsausdruck seines Beleidigers sah, daß hier nur noch der letzte Tropfen fehlte, der das Gefäß zum Überlaufen bringt, da wandte er sich wieder um und ging schweigend hinaus. Einige Sekunden darauf hörte er an den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraustönten, daß das Gespräch nach seinem Weggange noch lärmender und rücksichtsloser geworden war.

Er ging durch das Wohnzimmer ins Vorzimmer, um auf den Korridor und aus diesem in sein Zimmer zu gelangen. Als er dicht bei der nach der Treppe führenden Tür vorbeikam, hörte und sah er, daß auf der andern Seite der Tür sich jemand aus aller Kraft bemühte zu klingeln; die Klingel aber, an der offenbar etwas in Unordnung war, zitterte nur und gab keinen Ton. Der Fürst schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und – prallte erstaunt, am ganzen Leibe zitternd, zurück: vor ihm stand Nastasja Filippowna. Er erkannte sie sofort nach ihrem Bild. Ihre Augen funkelten vor Ärger, als sie ihn erblickte, sie trat, ihn mit der Schulter beiseite stoßend, schnell ins Vorzimmer und sagte zornig, während sie ihren Pelz abwarf:

»Wenn du zu faul bist, die Klingel in Ordnung zu bringen, so solltest du wenigstens im Vorzimmer sitzen, um zu hören, wenn jemand klopft. Na, und nun hat er den Pelz hinfallen lassen, der Tölpel!«

Der Pelz lag in der Tat auf dem Fußboden; Nastasja Filippowna hatte nicht abgewartet, daß der Fürst ihn ihr abnahm, sondern ihn ihm selbst, ohne sich umzusehen, nach hinten in die Hände werfen wollen, aber der Fürst hatte nicht Zeit gehabt, ihn aufzufangen.

»Weggejagt solltest du werden! Geh und melde mich!«

Der Fürst wollte etwas sagen, war aber so fassungslos, daß er nichts herausbrachte und mit dem Pelz, den er vom Fußboden aufgehoben hatte, nach dem Salon zu ging.

»Na, jetzt zieht er gar mit dem Pelz los! Wozu nimmst du denn den Pelz mit? Hahaha! Bist wohl verrückt, wie?«

Der Fürst kehrte um und blickte sie ganz verstört an; als sie auflachte, lächelte er ebenfalls, war aber immer noch nicht imstande, die Zunge zu bewegen. Im ersten Augenblick, als er ihr die Tür geöffnet hatte, war er blaß gewesen; jetzt aber wurde sein Gesicht plötzlich von dunkler Röte übergossen.

»Nein, was für ein Idiot!« rief Nastasja Filippowna unwillig und stampfte mit dem Fuß. »Na, wohin gehst du nun? Na, wen meldest du?«

»Nastasja Filippowna«, murmelte der Fürst.

»Woher kennst du mich?« fragte sie schnell. »Ich habe dich nie gesehen! Geh und melde mich!… Was ist denn da für ein Geschrei?«

»Sie zanken sich«, antwortete der Fürst und ging nach dem Salon.

Er trat gerade in einem recht kritischen Augenblick ein. Nina Alexandrowna war auf dem Punkt, vollständig zu vergessen, daß sie sich »in alles gefügt« hatte; sie war übrigens dabei, Warjas Verhalten zu verteidigen. Ptizyn, der seinen mit Bleistift beschriebenen Zettel beiseite getan hatte, war ebenfalls auf Warjas Seite getreten. Auch Warja selbst bewies Mut, wie sie überhaupt ganz und gar kein feiges Mädchen war; die Grobheiten ihres Bruders aber wurden mit jedem Worte, das er sprach, ärger und unerträglicher. In solchen Fällen hörte sie gewöhnlich auf zu sprechen und richtete nur schweigend ihre spöttischen, unverwandten Blicke auf den Bruder. Dieses Benehmen hatte, wie sie wußte, die Wirkung, ihn alle Schranken vergessen zu lassen. Gerade in diesem Augenblick trat der Fürst ins Zimmer und rief:

»Nastasja Filippowna!«

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