Kapitel 16

II

Als Rasumichin am andern Tage zwischen sieben und acht Uhr erwachte, war er in recht ernster, sorgenvoller Stimmung. Eine Menge neuer, unvorhergesehener Bedenken drängte sich ihm jetzt am Morgen plötzlich auf. Er hätte früher nie gedacht, daß er jemals so aufwachen würde. Er erinnerte sich aller seiner gestrigen Erlebnisse bis auf die kleinsten Einzelheiten und war sich bewußt, daß mit ihm etwas Ungewöhnliches vorgegangen war, daß er einen ihm bisher völlig unbekannten Eindruck empfangen hatte, mit dem sich keiner der früheren vergleichen ließ. Gleichzeitig erkannte er mit voller Klarheit, daß an eine Verwirklichung des Zukunftstraumes, der in seinem Kopfe aufgezuckt war, nicht im entferntesten zu denken sei, so wenig zu denken sei, daß er sich dieses Traumes sogar schämte und möglichst schnell zu den andern, mehr der Wirklichkeit angehörenden Sorgen und Aufgaben überging, die »der verfluchte gestrige Tag« ihm hinterlassen hatte.

Die schauderhafteste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er sich gestern gezeigt habe, nicht allein deswegen weil er betrunken gewesen war, sondern auch weil er, die schwierige Lage der jungen Dame ausnutzend, in ihrer Gegenwart aus Eifersucht und törichter Übereilung auf ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er die gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen der beiden, ja, ohne daß er diesen Menschen selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er überhaupt, so übereilt und vorschnell über ihn zu urteilen? Wer hatte ihn zum Richter berufen? Und war es denn denkbar, daß ein Wesen wie Awdotja Romanowna sich einem Unwürdigen um des Geldes willen hingab? Also mußte er doch auch einen sittlichen Wert besitzen. Das Hotel garni? Woher hätte er denn eigentlich in Erfahrung bringen können, was das für ein Hotel war? Er war doch dabei, eine ordentliche Wohnung einzurichten … Pfui, wie gemein er sich da in jeder Hinsicht benommen hatte! Und konnte etwa seine Betrunkenheit als Rechtfertigung gelten? Eine dumme Entschuldigung, durch die er sich nur noch mehr erniedrigte! Durch die Trunkenheit kommt nach dem Sprichwort die Wahrheit an den Tag, und nun war ja auch die ganze Wahrheit an den Tag gekommen, nämlich die ganze Gemeinheit seines neidischen, rohen Charakters! Durfte er, Rasumichin, sich eine solche Zukunftsträumerei denn überhaupt erlauben? Was war er im Vergleich mit einem solchen Mädchen – er, der betrunkene Krakeeler und Prahlhans von gestern? War denn eine so absurde, lächerliche Zusammenstellung überhaupt möglich? Rasumichin wurde bei diesem Gedanken vor Ärger und Verzweiflung ganz rot, und nun mußte ihm auch gerade jetzt noch einfallen, wie er ihnen gestern, als sie auf der Treppe standen, erzählt hatte, die Wirtin habe eine Zuneigung zu ihm und werde auf Awdotja Romanowna eifersüchtig werden, … das war ja nun vollends unerträglich. Wütend schlug er aus voller Kraft mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich dabei die Hand und schlug einen Mauerstein heraus.

›Natürlich‹, murmelte er nach einer kleinen Weile in dem Gefühle, daß er sich selbst entehrt habe, vor sich hin, ›natürlich lassen sich alle diese Gemeinheiten jetzt nie mehr wieder beschönigen und gutmachen, … folglich hat es keinen Zweck, daran auch nur noch zu denken; sondern ich habe eine stumme Rolle zu spielen und … meine Pflicht zu erfüllen, schweigend, und … und ich darf nicht um Verzeihung bitten und darf überhaupt nicht davon reden, und … und natürlich ist nun alles für mich verloren!‹

Dessenungeachtet musterte er beim Ankleiden seinen Anzug sorgsamer als sonst. Einen andern Anzug besaß er nicht, und hätte er einen andern gehabt, so hätte er ihn vielleicht doch nicht angezogen, absichtlich nicht. Andrerseits mochte er auch nicht wie ein Strolch und Schmutzfink auftreten; er durfte die Gefühle andrer nicht verletzen, um so weniger, da diese andern ihn nötig hatten und ihn selbst zu sich beriefen. Daher reinigte er seine Kleider auf das sorgfältigste mit einer Bürste. Seine Wäsche war immer leidlich; in dieser Hinsicht war er besonders auf Sauberkeit bedacht.

Auch wusch er sich an diesem Morgen gründlicher – er hatte sich von Nastasja Seife geben lassen –; er wusch sich das Haar, den Hals und namentlich die Hände. Als aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Stoppeln wegrasieren sollte oder nicht (Praskowja Pawlowna besaß vorzügliches Rasierzeug, das noch von ihrem seligen Gatten, Herrn Sarnizyn, herrührte), so entschied er diese Frage sogar mit einem gewissen Ingrimm in verneinendem Sinne: ›Mag es bleiben, wie es ist! Wenn die etwa denken, ich hätte mich rasiert, um … und bestimmt würden sie das denken! Nein, um keinen Preis! – Das schlimmste ist, daß ich so ein ungeschliffener, schmutziger Patron bin und solche Kneipenmanieren an mir habe, … ich weiß ja freilich, daß ich wenigstens ein leidlich anständiger Mensch bin; na, aber damit kann man doch nicht prahlen, daß man ein anständiger Mensch ist. Ein anständiger Mensch muß eben jeder sein, und noch ein bißchen mehr, und … und ich habe doch auch schon dies und das angestellt, … nicht eigentlich etwas Ehrloses, aber doch … Und was habe ich manchmal für Gedanken im Kopfe gehabt! Hm! All das mit Awdotja Romanowna in Parallele zu stellen, das ist ja Verrücktheit! Na, hol´s der Teufel! Mir ganz egal! Nun will ich mich gerade als recht schmutziger, schmieriger Kneipenbruder zeigen und mich um nichts scheren! Nun gerade!‹

Bei solchen Selbstgesprächen traf ihn Sossimow an, der in Praskowja Pawlownas Wohnstube die Nacht zugebracht hatte.

Er wollte nun nach Hause gehen, vorher aber noch einmal nach dem Kranken sehen. Rasumichin berichtete ihm, daß dieser wie ein Murmeltier schlafe. Sossimow ordnete an, daß er nicht geweckt werden sollte, ehe er nicht von selbst aufwache; er versprach, selbst nach zehn Uhr wieder mit heranzukommen.

»Wenn ich ihn dann nur zu Hause treffe«, fügte er hinzu. »Eine tolle Geschichte: so ein Kranker läßt sich von seinem Arzte nichts sagen, und da soll man ihn behandeln! Weißt du vielleicht, ob er zu denen geht oder die hierherkommen?«

»Ich glaube, die kommen hierher«, erwiderte Rasumichin, der den Zweck der Frage verstand, »und natürlich werden sie über ihre Familienangelegenheiten sprechen. Ich mache mich dann davon. Du, als Arzt, hast selbstverständlich weitergehende Rechte als ich.«

»Ein Beichtvater bin ich auch nicht; ich werde kommen, aber baldigst wieder gehen; ich habe mit meiner sonstigen Praxis genug zu tun.«

»Eines beunruhigt mich«, unterbrach ihn Rasumichin mit finsterem Gesichte, »ich habe ihm gestern in meiner Trunkenheit unterwegs allerlei Dummheiten vorgeschwatzt, … unter anderm habe ich ihm von deiner Befürchtung gesagt, … von deiner Befürchtung, daß sich bei ihm eine Geisteskrankheit entwickeln könnte.«

»Auch zu den Damen hast du gestern davon geplaudert.«

»Ich weiß, daß das dumm von mir war! Meinetwegen prügle mich dafür! Aber sage mal, glaubtest du das im Ernst?«

»Ach, Unsinn! Wie werde ich das denn im Ernst glauben! Du selbst hast ja, als du mich zu ihm holtest, es so dargestellt, als sei er von einer fixen Idee besessen … Na, und gestern haben wir die Sache noch verschlimmert, das heißt du, durch deine Erzählungen von dem Malergesellen; ein sehr geeignetes Gespräch, wenn möglicherweise sein Fieber und Irrereden von diesem Anlaß herrührt! Hätte ich genau gewußt, was damals im Polizeibureau passiert war, und daß ihn da so eine Kanaille mit diesem Verdachte beleidigt hatte, hm, dann hätte ich gestern ein solches Gespräch nicht geduldet. Leute mit einer derartigen fixen Idee machen ja aus einer Mücke einen Elefanten und sehen in wachem Zustande die unglaublichsten Dinge leibhaftig vor sich … Gestern ist mir aus Sametows Erzählung die Sache schon so halb und halb verständlich geworden. Es kommen noch seltsamere Dinge vor! Ich kenne einen Fall, wo ein Hypochonder, ein Mann von vierzig Jahren, nicht imstande war, es zu ertragen, daß ein achtjähriger Knabe sich täglich bei Tische über ihn lustig machte; er ermordete ihn deswegen! Und nun in vorliegendem Falle: er in Lumpen, ein frecher Polizeibeamter, eine sich entwickelnde Krankheit, und nun dazu so eine Verdächtigung! Bei einem so krassen Hypochonder! Mit einem rasenden, grenzenlosen Ehrgefühl! Da steckt vielleicht der eigentliche Ausgangspunkt der Krankheit. Na, hol die ganze Geschichte der Kuckuck! … Apropos, dieser Sametow ist ja wirklich ein ganz netter junger Mensch; aber … hm! … er hätte das gestern nicht alles zu erzählen brauchen. Ein rechter Schwatzmichel!«

»Wem hat er es denn erzählt? Doch nur dir und mir!«

»Und Porfirij.«

»Na, und wenn er es auch dem erzählt hat, was schadet das?«

»Was ich noch sagen wollte: hast du irgendwelchen Einfluß auf die beiden, ich meine auf die Mutter und die Schwester? Sie sollten ihn heute recht vorsichtig behandeln …«

»Sie werden sich schon vertragen!« antwortete Rasumichin mißmutig.

»Und warum ist er nur so ergrimmt auf diesen Lushin? Er ist doch ein wohlhabender Mann, und ihr scheint er nicht unangenehm zu sein, … und sie stecken ja in arger Geldklemme? Nicht wahr?«

»Wozu fragst du mich aus?« rief Rasumichin gereizt.

»Woher soll ich wissen, ob sie sich in Geldklemme befinden oder nicht? Frage sie doch selbst; vielleicht erfährst du es dann …«

»Hör mal, wie bist du doch manchmal verdreht! Wohl noch die Nachwirkung der gestrigen Betrunkenheit! … Auf Wiedersehen! Übermittle deiner Praskowja Pawlowna meinen Dank für das Nachtlager. Sie hatte sich eingeschlossen; ich rief ihr durch die Tür ›Guten Morgen!‹ zu; aber sie antwortete nicht. Sie war schon um sieben Uhr aufgestanden und ließ sich den Samowar aus der Küche durch den Korridor bringen. Ich bin ihres persönlichen Anblicks nicht für würdig befunden worden.«

Punkt neun Uhr stellte sich Rasumichin in dem Bakalejewschen Hotel garni ein. Die beiden Damen warteten auf ihn schon lange mit schmerzlicher Ungeduld. Aufgestanden waren sie schon um sieben Uhr oder noch früher. Er trat mit einem Gesichte, finster wie die Nacht, ein und machte eine unbeholfene Verbeugung, worüber er sofort auf sich selbst wütend wurde. Aber von ganz anderer Art waren die Empfindungen der Damen: Pulcheria Alexandrowna eilte auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und hätte sie beinahe geküßt. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; aber auch dieses stolze Gesicht zeigte in diesem Augenblicke einen solchen Ausdruck von Dankbarkeit und Freundlichkeit und einer von ihm ganz unerwarteten vollkommenen Achtung (statt spöttischer Blicke und unwillkürlicher, schlecht verhehlter Geringschätzung), daß ihm tatsächlich leichter ums Herz gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten empfangen hätte; denn so wurde er gar zu verlegen. Zum Glück lag ein Gesprächsthema sehr nahe, und er ergriff dasselbe unverzüglich.

Als Pulcheria Alexandrowna hörte, daß Rodja noch nicht aufgewacht sei und alles ausgezeichnet stände, erklärte sie, daß ihr dies sehr erwünscht sei, da sie vorher noch dringend, ganz dringend mit ihm zu reden habe. Es folgte zunächst die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, mit ihnen zusammen zu trinken; denn in der Erwartung, daß Rasumichin bald kommen würde, hatten sie selbst noch nicht getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziges Subjekt in schäbiger Kleidung erschien. Bei diesem wurde Tee bestellt, der denn auch schließlich kam, aber in so unsauberer und unfeiner Ausstattung, daß die Damen sich schämten. Rasumichin setzte schon dazu an, sehr kräftig über dieses Hotel garni zu schimpfen; aber bei dem Gedanken an Lushin verstummte er, wurde verlegen und war heilfroh, als nun endlich Pulcheria Alexandrownas Fragen wie ein Hagelwetter auf ihn losprasselten.

Ihre Beantwortung nahm drei viertel Stunden in Anspruch, da er fortwährend durch neue Fragen unterbrochen wurde. Er teilte den Damen alles mit, was er an wichtigen und wissenswerten Tatsachen aus Rodjas letztem Lebensjahre nur irgend wußte, und schloß mit einer ausführlichen Erzählung von seiner Krankheit. Er überging jedoch vieles, dessen Übergehung ihm zweckmäßig schien, unter anderm den Auftritt auf dem Polizeibureau nebst allem, was sich daran angeschlossen hatte. Die Damen hörten gespannt zu; aber als er nun glaubte, er sei fertig und seine Zuhörerinnen seien zufriedengestellt, da zeigte es sich, daß er für ihre Wißbegierde kaum angefangen hatte.

»Bitte, sagen Sie mir doch, was glauben Sie, … ach, entschuldigen Sie, ich kenne noch nicht Ihren Vor- und Vatersnamen!« sagte Pulcheria Alexandrowna eifrig.

»Dmitrij Prokofjitsch.«

»Also, Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr, sehr gern wissen, … wie er überhaupt … wie er jetzt das Leben anschaut, ich meine, verstehen Sie mich recht, wie soll ich mich ausdrücken? ich meine: wohin gehen seine Neigungen und Abneigungen? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche und, um mich so auszudrücken, für Zukunftspläne? Was übt jetzt auf ihn besonderen Einfluß aus? Kurz, ich möchte gern wissen …«

»Aber, Mama, diese Fragen lassen sich doch nicht alle so mit einem Male beantworten!« bemerkte Awdotja Romanowna.

»Ach, mein Gott, ich hatte ihn ja ganz anders zu finden erwartet, Dmitrij Prokofjitsch.«

»Nun, das ist ja ganz natürlich«, erwiderte Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich zwar nicht mehr; aber ein Onkel von mir, der alle Jahre einmal herkommt, findet mich immer so verändert, selbst im Äußern, daß er mich gar nicht wiedererkennt, und dabei ist er ein ganz kluger Mann. Na, und die drei Jahre, wo Sie Rodja nicht gesehen haben, das ist doch eine lange, lange Zeit. Ja, was soll ich Ihnen nun über ihn sagen? Ich kenne ihn seit anderthalb Jahren: er ist mürrisch, finster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht aber auch schon erheblich früher) ist er argwöhnisch und hypochondrisch geworden. Er ist hochherzig und brav. Seine Gefühle zu zeigen liebt er nicht und begeht eher eine Grausamkeit, als daß er mit Worten seine Herzensempfindung zum Ausdruck brächte. Manchmal indessen ist er ganz und gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur Unmenschlichkeit, geradezu als ob bei ihm zwei entgegengesetzte Charaktere einander ablösten. Mitunter ist er furchtbar schweigsam. Nie hat er Zeit; immer stört man ihn; aber dabei liegt er nur da, ohne irgend etwas zu tun. Er ist nicht spottlustig, und zwar nicht daß es ihm an Witz mangelte, sondern als ob er für solche Possen keine Zeit hätte. Wenn man ihm etwas sagt, so hört er gar nicht bis zu Ende zu. Niemals interessiert er sich für das, wofür sich gerade alle andern interessieren. Er hat von sich selbst eine gewaltig hohe Meinung, und wohl nicht ganz ohne Grund. Nun, was wünschen Sie noch weiter zu wissen? … Ich denke, Ihre Ankunft wird auf ihn eine recht wohltätige Wirkung ausüben.«

»Ach, das gebe Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna; sie fühlte sich sehr bedrückt durch die Schilderung, die Rasumichin von ihrem Rodja gemacht hatte.

Endlich getraute sich Rasumichin, auch Awdotja Romanowna etwas mutiger anzusehen. Er hatte ihr während des vorhergehenden Gespräches häufig einen Blick zugeworfen, aber nur flüchtig, nur für eine Sekunde, und hatte dann immer sogleich wieder die Augen weggewendet. Awdotja Romanowna hatte sich bald an den Tisch gesetzt und aufmerksam zugehört, bald wieder war sie aufgestanden und hatte angefangen, nach ihrer Gewohnheit mit verschränkten Armen und zusammengepreßten Lippen von einer Ecke des Zimmers nach der andern zu gehen; ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, stellte sie ab und zu ihrerseits eine Frage und versank dann wieder in ihre Gedanken. Auch sie hatte die Gewohnheit, das, was der andre sagte, nicht ganz bis zu Ende zu hören. Sie trug ein leichtes dunkles Kleid und hatte ein weißes, durchscheinendes Tüchelchen um den Hals geknüpft. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin sehr schnell erkannt, daß die Verhältnisse der beiden Frauen äußerst dürftige sein mußten. Wäre Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen, so hätte er sich wahrscheinlich gar nicht vor ihr gefürchtet; so aber hatte vielleicht gerade deshalb, weil sie so ärmlich gekleidet war und er die ganze trübe Lage durchschaute, sich seiner eine merkwürdige Scheu bemächtigt, und er war bei jedem seiner Worte, bei jeder seiner Bewegungen in Angst, er könnte einen Verstoß begehen; dies machte natürlich einen Menschen, der ohnehin kein großes Selbstvertrauen besaß, außerordentlich verlegen.

»Sie haben uns viel Interessantes über den Charakter meines Bruders mitgeteilt, … und Sie haben dabei unparteiisch geurteilt. Das ist recht; ich hatte gedacht, Sie wären ein blinder Verehrer von ihm«, bemerkte Awdotja Romanowna lächelnd. »Ich glaube, auch das ist richtig, daß er ein weibliches Wesen um sich haben muß«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Davon habe ich nichts gesagt; indessen haben Sie vielleicht auch darin recht, nur …«

»Nun?«

»Er liebt ja niemand und wird auch vielleicht nie jemand lieben«, erwiderte Rasumichin rasch.

»Sie meinen, er ist unfähig, jemand zu lieben?«

»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, Sie selbst haben mit Ihrem Bruder eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit, aber auch in allen Stücken!« platzte er plötzlich unwillkürlich heraus; sofort aber fiel ihm ein, was er ihr soeben über ihren Bruder gesagt hatte, und er wurde rot wie ein Krebs und schrecklich verlegen.

Awdotja Romanowna mußte laut auflachen, als sie ihn ansah.

»Was Rodja anlangt, so könntet ihr euch doch beide leicht irren«, mischte sich Pulcheria Alexandrowna etwas empfindlich ein. »Ich rede nicht von der Gegenwart, Dunjetschka. Was uns Pjotr Petrowitsch da in diesem Briefe schreibt, und was wir beide, du und ich, vorläufig als wahr angenommen haben, das ist vielleicht gar nicht wahr; aber Sie können sich gar keine Vorstellung davon machen, Dmitrij Prokofjitsch, wie phantastisch und, ich möchte sagen, launenhaft er ist. Verlaß war auf seinen Charakter niemals, selbst nicht, als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, er ist auch jetzt imstande, auf einmal irgend etwas zu unternehmen, was einem andern Menschen nie in den Sinn kommen würde zu tun … Wir haben ja dafür ein ganz naheliegendes Beispiel: ist es Ihnen bekannt, was für einen Todesschreck er mir vor anderthalb Jahren einjagte, als er auf den Einfall kam, dieses Fräulein – wie hieß sie doch? – die Tochter der Frau Sarnizyna, seiner Wirtin, zu heiraten?«

»Wissen Sie etwas Genaueres über diese Geschichte?« fragte Awdotja Romanowna.

»Meinen Sie etwa«, fuhr Pulcheria Alexandrowna erregt fort, »daß er sich damals durch meine Tränen, durch meine Bitten, durch den Gedanken an unsere Armut hätte zurückhalten lassen? Und wenn ich vor Gram krank geworden und vielleicht gar gestorben wäre, so hätte er sich dadurch nicht davon abbringen lassen. Seelenruhig wäre er über all diese Hindernisse hinweggeschritten. Aber sollte er uns denn wirklich, wirklich nicht lieben?«

»Er selbst hat mir nie etwas von dieser Geschichte erzählt«, antwortete Rasumichin vorsichtig, »aber ich habe einiges wenige von Frau Sarnizyna gehört, die sich gleichfalls nicht durch Mitteilsamkeit auszeichnet, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein bißchen eigentümlich.«

»Was haben Sie denn gehört?« fragten die beiden Frauen gleichzeitig.

»Nun, etwas besonders Schlimmes, ganz Abnormes war es ja eigentlich nicht. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die schon eine völlig abgemachte Sache war und nur wegen des Todes der Braut nicht zustande kam, der Frau Sarnizyna selbst durchaus nicht recht war … Außerdem soll die Braut nicht einmal hübsch gewesen sein, vielmehr sogar geradezu häßlich … und kränklich … und sonderbar, … aber sie wird ja wohl auch ihre guten Eigenschaften gehabt haben. Irgendwelche guten Eigenschaften muß sie jedenfalls besessen haben, sonst könnte man ja die ganze Sache schlechterdings nicht begreifen … Mitgift hatte sie auch gar keine; und auf Mitgift hätte er auch nicht gesehen … Es ist überhaupt schwer, sich in einer solchen Sache ein Urteil zu bilden.«

»Ich bin überzeugt, daß sie seiner Liebe würdig war«, bemerkte Awdotja Romanowna kurz.

»Gott wird es mir verzeihen, aber ich habe mich damals ordentlich über ihren Tod gefreut, obwohl ich nicht weiß, wer von ihnen beiden den andern zugrunde gerichtet hätte, er sie oder sie ihn«, sagte Pulcheria Alexandrowna und schloß damit diesen Gegenstand ab. Dann begann sie, vorsichtig und stockend, sich wieder nach dem gestrigen Auftritt zwischen Rodja und Lushin zu erkundigen; sie warf dabei fortwährend ihrer Tochter Blicke zu, was dieser offenbar unangenehm war.

Es war ihr anzumerken, daß dieser Vorfall sie ganz besonders beunruhigte; sie zitterte geradezu vor Besorgnis. Rasumichin erzählte alles noch einmal mit allen Einzelheiten, fügte aber diesmal die Meinung, die er sich gebildet hatte, hinzu: er beschuldigte nämlich Raskolnikow, daß er Pjotr Petrowitsch mit vollem Vorbedacht beleidigt habe, und wollte diesmal seine Krankheit als Entschuldigung nicht recht gelten lassen.

»Er hatte sich das schon vor seiner Krankheit vorgenommen«, fügte er hinzu.

»Das glaube ich auch«, sagte Pulcheria Alexandrowna sehr niedergeschlagen.

Sie war aber sehr verwundert, daß Rasumichin diesmal von Pjotr Petrowitsch so vorsichtig und sogar mit einer gewissen Achtung sprach. Auch Awdotja Romanowna wunderte sich darüber.

»Das ist also Ihre Meinung über Pjotr Petrowitsch?« konnte sich Pulcheria Alexandrowna nicht enthalten zu fragen.

»Über den künftigen Gatten Ihrer Tochter kann ich keiner anderen Meinung sein«, erwiderte Rasumichin fest und mit besonderer Wärme, »und ich sage das nicht aus bloßer trivialer Höflichkeit, sondern weil … weil … nun, schon allein deswegen, weil Awdotja Romanowna selbst nach eigenem Willen diesen Mann für wert erachtet hat, ihr Gatte zu werden. Wenn ich ihn gestern verunglimpft habe, so erklärt sich das daher, weil ich gestern schmählich betrunken war und außerdem auch noch von Sinnen; jawohl, von Sinnen war ich, ganz ohne Verstand; verrückt war ich geworden, vollständig, … und heute schäme ich mich darüber!«

Er hatte einen ganz roten Kopf bekommen und verstummte. Auch Awdotja Romanowna war dunkelrot geworden, schwieg aber weiter. Von dem Augenblicke an, wo die Rede auf Lushin gekommen war, hatte sie kein Wort gesagt.

Unterdessen fühlte sich Pulcheria Alexandrowna ohne ihre Unterstützung offenbar unsicher. Schließlich sagte sie stockend, und indem sie fortwährend ihre Tochter fragend anblickte, daß ein Umstand ihr jetzt große Sorge mache.

»Sehen Sie, Dmitrij Prokofjitsch«, fing sie an. »Nicht wahr, Dunja, ich kann doch gegen Dmitrij Prokofjitsch ganz offenherzig sein?«

»Aber natürlich, Mama!« erwiderte Awdotja Romanowna mit nachdrücklicher Betonung.

»Die Sache ist nämlich die«, begann sie nun eilig ihre Auseinandersetzung, als ob ihr durch die Erlaubnis, ihren Kummer mitzuteilen, eine schwere Last von der Seele genommen wäre. »Heute in aller Frühe erhielten wir von Pjotr Petrowitsch einen Brief als Antwort auf unsere gestrige Anzeige von unserer Ankunft. Sehen Sie, er hätte uns eigentlich gestern, wie er uns das auch versprochen hatte, gleich auf dem Bahnhof empfangen sollen. Statt dessen schickte er zu unserm Empfange nach dem Bahnhofe einen Kellner, der uns die Adresse dieses Hotels geben und uns den Weg zeigen sollte, und ließ uns sagen, er würde uns heute früh hier persönlich aufsuchen. Aber statt seiner kam heute früh von ihm dieser Brief hier … Das beste ist, wenn Sie ihn selbst lesen; es ist eine Sache darin, die mich sehr beunruhigt … Sie werden sofort selbst sehen, welche Sache ich meine, und … ich bitte Sie, Dmitrij Prokofjitsch, mir ganz offenherzig Ihre Meinung zu sagen! Sie kennen Rodjas Charakter besser als jeder andere und können uns daher am besten Rat geben. Ich will nur noch vorher bemerken, daß Dunjetschka sich sofort eine bestimmte Meinung darüber gebildet hat, was wir nun zu tun haben, daß ich für meine Person aber noch nicht weiß, wie wir uns verhalten sollen; ich habe auf Sie gewartet.«

Rasumichin entfaltete den Brief, der vom vorhergehenden Tage datiert war, und las folgendes:

»Gnädige Frau, Pulcheria Alexandrowna! Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß es mir wegen eingetretener plötzlicher Abhaltungen nicht möglich war, Sie auf dem Bahnsteige zu empfangen, und ich Ihnen daher zu diesem Zwecke einen sehr gewandten Menschen hinsandte. Desgleichen werde ich auch morgen früh nicht die Ehre haben können, Sie wiederzusehen, sowohl wegen unaufschiebbarer Geschäfte beim Senat, als auch um nicht bei dem Wiedersehen der Mutter mit dem Sohne und der Schwester mit dem Bruder zu stören. Ich werde also die Ehre, Sie in Ihrer Wohnung zu besuchen und zu begrüßen, erst etwas später haben, und zwar pünktlich morgen um acht Uhr abends, wobei ich mir die Freiheit nehme, die inständige und – wie ich hinzufügen möchte – dringende Bitte anzuschließen, daß bei unserem gemeinsamen Wiedersehen Rodion Romanowitsch nicht zugegen sein möge, weil er, als ich ihm heute einen Krankenbesuch abstattete, mich in einer unerhört unhöflichen Weise beleidigt hat und weil ich außerdem mit Ihnen eine notwendige, eingehende persönliche Aussprache über einen bestimmten Punkt haben möchte, hinsichtlich dessen ich Ihre eigene Auffassung zu erfahren wünsche. Dabei beehre ich mich, im voraus mitzuteilen, daß, wenn ich meiner Bitte zuwider Rodion Romanowitsch bei Ihnen antreffen sollte, ich mich genötigt sehen würde, mich sofort zu entfernen; Sie würden sich dann die Schuld selbst zuzuschreiben haben. Ich schreibe dies in der Voraussetzung, daß sein Gesundheitszustand Ihren Sohn nicht hindern würde, zu Ihnen zu kommen; denn obwohl er bei meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, wurde er zwei Stunden darauf plötzlich gesund und ging aus. Davon habe ich mich mit eigenen Augen überzeugen können, und zwar in der Wohnung eines von einem Wagen überfahrenen Trunkenboldes, der an den Folgen dieses Unfalls gestorben ist. Der Tochter dieses Menschen, einem Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel, hat er heute etwa fünfundzwanzig Rubel geschenkt, unter dem Vorwande, daß sie zur Bestreitung der Begräbniskosten dienen sollten. Ich habe mich darüber sehr gewundert, da ich weiß, wieviel Mühe und Not es Ihnen gemacht hat, diese Summe aufzubringen. Indem ich auch der verehrten Awdotja Romanowna meine besondere Hochachtung ausspreche, bitte ich Sie, den Ausdruck meiner ehrerbietigen Ergebenheit entgegennehmen zu wollen.

Ihr gehorsamster Diener
P. Lushin.«

»Was soll ich nun tun, Dmitrij Prokofjitsch?« fragte Pulcheria Alexandrowna beinahe weinend. »Wie kann ich an Rodja das Ansinnen stellen, nicht zu uns zu kommen? Er verlangte gestern so hartnäckig, wir sollten an Pjotr Petrowitsch einen Absagebrief schreiben, und nun soll ich seinen eigenen Besuch nicht annehmen! Wenn er es erfährt, wird er gerade erst recht kommen, und … was wird dann daraus werden?«

»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna es für richtig erachtet hat«, erwiderte Rasumichin sofort mit ruhiger Bestimmtheit.

»Ach, mein Gott! Sie sagt … sie sagt etwas ganz Wunderliches und erklärt mir nicht, was das für einen Zweck haben soll! Sie sagt, das beste würde sein, das heißt, nicht eigentlich das beste, sondern es sei, ich weiß nicht zu welchem Zwecke, unbedingt erforderlich, daß auch Rodja heute um acht Uhr herkäme und die beiden sich hier träfen … Und ich wollte ihm gar nicht einmal den Brief zeigen, sondern es durch Ihre Vermittlung, ohne daß er etwas merkte, so einrichten, daß er nicht herkäme, … er ist ja so reizbar … Und ich verstehe auch gar nicht, was da für ein Trunkenbold gestorben ist, und was das für eine Tochter ist, und wie er dieser Tochter sein ganzes letztes Geld hingeben konnte, … dieses Geld, das …«

»Das für Sie ein so schweres Opfer bedeutet, Mama«, fügte Awdotja Romanowna hinzu.

»Er war gestern nicht im vollen Besitze seiner geistigen Kräfte«, sagte Rasumichin nachdenklich. »Wenn Sie erst wüßten, was er da gestern in einem Restaurant für eine Geschichte gemacht hat; es war ja allerdings ganz klug … Hm! Von einem Gestorbenen und von einem Mädchen hat er mir gestern tatsächlich etwas gesagt, als wir nach seiner Wohnung gingen; aber ich habe kein Wort davon verstanden … Übrigens war ich auch selbst gestern …«

»Liebe Mama, das beste ist wohl, wir gehen selbst zu ihm hin; ich glaube bestimmt, wir werden uns dort ohne weiteres darüber klarwerden, was zu tun ist. Und es wird auch wohl schon Zeit sein. Herr Gott! Schon zehn durch!« rief sie nach einem Blicke auf ihre prachtvolle goldene, emaillierte Uhr, die sie an einer feinen venezianischen Kette um den Hals trug und die mit ihrem Anzuge gar nicht harmonierte.

›Ein Geschenk des Bräutigams‹, dachte Rasumichin.

»Ach ja, es ist Zeit, … höchste Zeit, Dunja!« stimmte ihr Pulcheria Alexandrowna bei und geriet in unruhige Hast. »Er wird am Ende denken, wir sind ihm noch von gestern her böse, wenn wir so lange ausbleiben. Ach, mein Gott!«

Bei diesen Worten legte sie eilfertig ihre Mantille um und setzte den Hut auf; Awdotja Romanowna machte sich gleichfalls zurecht. Ihre Handschuhe waren nicht nur stark abgenutzt, sondern sogar zerrissen, was Rasumichin bemerkte; indessen verlieh diese augenfällige Ärmlichkeit der Kleidung den beiden Damen sogar ein besonders achtungswertes Aussehen, wie das stets bei Leuten der Fall ist, die es verstehen, ärmliche Kleidung zu tragen. Rasumichin blickte das junge Mädchen in stiller Verehrung an und war stolz darauf, sie begleiten zu dürfen. ›Jene Königin‹, dachte er bei sich, ›die im Gefängnis ihre Strümpfe ausbesserte, sah gewiß in jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus, ja, wohl noch in höherem Grade als bei den prachtvollsten Hoffesten und Galaempfängen.‹

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna, »hätte ich wohl je gedacht, daß ich mich vor einem Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben, lieben Rodja fürchten würde, wie ich es jetzt wirklich tue! … Ich fürchte mich davor, Dmitrij Prokofjitsch«, fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an.

»Fürchten Sie sich nicht, liebe Mama«, sagte Awdotja Romanowna und küßte sie. »Haben Sie lieber Vertrauen zu ihm wie ich.«

»Ach, mein Gott! Vertrauen habe ich ja auch; aber ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen!« rief die arme Frau. Sie traten auf die Straße hinaus.

»Weißt du, Dunjetschka, als ich heute morgen ein bißchen eingeschlafen war, träumte mir von der verstorbenen Marfa Petrowna, … sie war ganz in Weiß, … sie trat auf mich zu, ergriff meine Hand und schüttelte den Kopf mit so ernster, strenger Miene, als wollte sie mir einen schweren Vorwurf machen …. Ob das auch etwas Gutes zu bedeuten hat? Ach, mein Gott, Sie wissen wohl noch gar nicht, Dmitrij Prokofjitsch: Marfa Petrowna ist gestorben!«

»Nein, ich wußte es nicht; wer ist das, Marfa Petrowna?«

»Ganz urplötzlich! Und denken Sie sich nur …«

»Erzählen Sie es ein andermal, Mama!« unterbrach sie Awdotja Romanowna. »Dmitrij Prokofjitsch weiß ja auch noch gar nicht, wer Marfa Petrowna ist.«

»Ach, Sie wissen nicht von ihr? Und ich glaubte, es wäre Ihnen bereits alles bekannt. Verzeihen Sie mir, Dmitrij Prokofjitsch; ich weiß in diesen Tagen gar nicht, wo mir der Kopf steht. Ich sehe Sie wirklich geradezu für unsern Schutzengel an, und darum war ich auch so sicher, daß Ihnen alles schon bekannt wäre. Ich betrachte Sie wie einen lieben Verwandten … Seien Sie nicht böse, daß ich so offen rede. Ach du mein Gott, was ist denn mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sich verletzt?«

»Ja, ich habe mich verletzt«, murmelte Rasumichin ganz glückselig.

»Ich rede manchmal gar zu offenherzig, so daß Dunja mich schilt … Aber, mein Gott, in was für einem elenden Kämmerchen wohnt er! Ob er jetzt wohl schon aufgewacht ist? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet ihm das als Zimmer an! Noch eins: Sie sagten, er liebe es nicht, sein Herz zu zeigen; da werde ich ihm vielleicht mit dieser meiner Schwäche mißfallen? … Möchten Sie mich nicht belehren, Dmitrij Prokofjitsch, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll? Wissen Sie, ich bin ganz rat- und hilflos!«

»Hören Sie auf, nach etwas zu fragen, wenn Sie sehen, daß er ein finsteres Gesicht macht; fragen Sie ihn namentlich nicht zuviel nach seiner Gesundheit; das mag er nicht.«

»Ach, Dmitrij Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein! Aber da sind wir ja schon an der Treppe! … Was für eine gräßliche Treppe das ist!«

»Sie sind so blaß, liebe Mama, beruhigen Sie sich doch!« sagte Awdotja Romanowna und streichelte sie liebkosend. »Er muß doch glücklich darüber sein, Sie zu sehen, und Sie martern sich mit solchen Sorgen!« fügte sie mit blitzenden Augen hinzu.

»Warten Sie einen Augenblick; ich möchte erst einmal nachsehen, ob er schon aufgewacht ist.«

Die Damen gingen langsam hinter Rasumichin her, der ihnen voran die Treppe hinaufstieg, und als sie im dritten Stock an der Wohnung der Wirtin vorbeikamen, bemerkten sie, daß die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet war und daß zwei sich lebhaft bewegende schwarze Augen aus dem dunklen Raume sie beide beobachteten. Als ihre Blicke sich trafen, wurde die Tür plötzlich zugeschlagen, und zwar mit einem solchen Knall, daß Pulcheria Alexandrowna beinahe vor Schrecken aufgeschrien hätte.

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Kapitel 17

III

»Er ist gesund! Er ist gesund!« rief Sossimow den Eintretenden fröhlich entgegen.

Er war schon vor etwa zehn Minuten gekommen und saß in derselben Sofaecke wie gestern. Raskolnikow saß ihm gegenüber in der andern Ecke, vollständig angekleidet und sogar sauber gewaschen und sorgfältig gekämmt, was bei ihm schon recht lange nicht mehr dagewesen war. Das Zimmer hatte sich auf einmal gefüllt; aber Nastasja hatte es doch fertiggebracht, hinter den Besuchern mit hereinzuschlüpfen, um zuzuhören.

Raskolnikow war wirklich fast gesund, namentlich im Vergleich mit gestern; nur war er sehr blaß, zerstreut und finster. Äußerlich sah er aus wie ein Verwundeter oder wie jemand, der einen starken, physischen Schmerz erduldet: die Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepreßt, der Blick hatte etwas Flackerndes. Er sprach nur wenig und widerwillig, als wenn es ihn übermäßige Anstrengung kostete, oder als wenn er lediglich eine Pflicht erfüllte, und in seinen Bewegungen machte sich mitunter eine gewisse Unruhe bemerkbar.

Es fehlte nur ein Verband an der Hand oder ein taftener Überzug am Finger, um die Ähnlichkeit mit einem Patienten vollständig zu machen, der etwa ein böses Geschwür am Finger oder eine Verletzung an der Hand oder sonst dergleichen hat.

Aber über dieses blasse, finstere Gesicht flog es für einen Augenblick wie ein heller Strahl, als die Mutter und die Schwester eintraten; zugleich jedoch ging die bisherige melancholische Zerstreutheit in den Ausdruck qualvollen Leidens über. Der helle Strahl verschwand schnell wieder; aber der Ausdruck des Leidens blieb, und Sossimow, der seinen Patienten mit dem ganzen jugendlichen Eifer eines erst kürzlich in die Praxis eingetretenen Arztes beobachtete und studierte, bemerkte zu seinem Staunen, daß sich auf dessen Gesichte nach der Ankunft seiner Angehörigen nicht etwa Freude spiegelte, sondern der heimliche, schwere Entschluß, nun ein bis zwei Stunden lang eine Folter auszuhalten, der eben nicht mehr zu entgehen sei. Später sah er dann, wie fast jedes Wort des nun folgenden Gespräches gleichsam an eine Wunde seines Patienten rührte und sie wieder schmerzhaft machte; gleichzeitig war er aber manchmal erstaunt, wie der Mensch, der gestern noch an seiner fixen Idee gelitten hatte und sich durch das harmloseste Wort hatte in Raserei versetzen lassen, es heute verstand, sich zu beherrschen und seine Gefühle zu verbergen.

»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich beinahe gesund bin«, sagte Raskolnikow und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber Pulcheria Alexandrownas Gesicht vor Freude strahlte, »und das ist nicht so eine leere Behauptung von mir wie gestern«, fügte er, zu Rasumichin gewendet, hinzu und drückte ihm freundschaftlich die Hand.

»Ich bin heute ordentlich erstaunt über ihn gewesen«, begann Sossimow, der sich über das Kommen der Gäste außerordentlich freute, weil ihm in den zehn Minuten das Gespräch mit seinem Patienten schon völlig ins Stocken geraten war. »Wenn es so weiter geht, so wird er in drei bis vier Tagen ganz wie früher sein, das heißt, wie er vor einem Monat oder vor zweien … oder vielleicht auch vor dreien war. Denn diese Geschichte datiert in ihren Anfängen weit zurück und hat sich so ganz allmählich herausgebildet. Sie müssen wohl zugeben, daß Sie vielleicht selbst mit daran schuld sind«, fügte er mit vorsichtigem Lächeln hinzu, als ob er noch immer fürchtete, ihn durch etwas zu reizen.

»Sehr leicht möglich«, antwortete Raskolnikow kühl.

»Ich sage das deswegen«, fuhr Sossimow, der nun ins Reden hineinkam, fort, »weil Ihre vollständige Wiederherstellung, wenigstens in der Hauptsache, jetzt von Ihnen allein abhängen wird. Jetzt, wo man wieder mit Ihnen ein vernünftiges Wort reden kann, möchte ich Ihnen dringend ans Herz legen, daß es notwendig ist, die Grundursachen zu beseitigen, die auf die Entstehung Ihres krankhaften Zustandes von Einfluß gewesen sind, sozusagen die Wurzeln des Übels; dann werden Sie auch wieder vollständig gesund werden; andernfalls kann es sich leicht sogar noch schlimmer gestalten. Diese Grundursachen kenne ich nicht; aber Ihnen müssen sie ja bekannt sein. Sie sind ein verständiger Mensch und haben sich gewiß selbst beobachtet. Mir scheint, der Beginn Ihres Leidens fällt so ziemlich mit dem Verlassen der Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung bleiben, und daher könnten Ihnen Arbeit und ein fest vorgestecktes Ziel meiner Ansicht nach sehr nützlich sein.«

»Ja, ja, Sie haben ganz recht, … ich trage mich auch mit der Absicht, sobald wie möglich wieder an der Universität zu beginnen, und dann wird alles wieder wunderschön gehen …«

Sossimow, der bei seinen klugen Ratschlägen zum Teil auch den Zweck verfolgt hatte, auf die Damen Eindruck zu machen, war natürlich einigermaßen betroffen, als er nun nach Beendigung seiner Rede seinen Zuhörer anblickte und auf dessen Gesichte einen entschieden spöttischen Ausdruck wahrnahm. Indessen dauerte das nur einen Augenblick. Pulcheria Alexandrowna begann sogleich, sich bei Sossimow zu bedanken, besonders auch für seinen nächtlichen Besuch im Hotel.

»Wie? Ist er auch noch in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikow anscheinend aufgeregt. »Da habt ihr wohl nach der Reise gar nicht geschlafen?«

»Ach, Rodja, das war ja alles noch vor zwei Uhr. Dunja und ich haben uns auch zu Hause nie vor zwei hingelegt.«

»Ich weiß auch nicht, wie ich ihm danken soll«, fuhr Raskolnikow mit finsterer Miene und gesenktem Kopfe fort. »Da ein Honorar nicht in Frage kommt – Sie entschuldigen, daß ich das überhaupt erwähne«, sagte er, sich zu Sossimow wendend –, »so weiß ich gar nicht, wodurch ich eine so besondere Aufmerksamkeit von Ihrer Seite verdient habe. Ich verstehe es schlechterdings nicht … und … und sie bedrückt mich sogar, weil sie mir eben so ganz unbegreiflich ist; ich rede zu Ihnen ganz offen.«

»Regen Sie sich nur darüber nicht auf!« erwiderte Sossimow mit gekünsteltem Lachen. »Nehmen Sie an, Sie wären mein erster Patient; na, und wenn unsereiner eben erst seine Praxis beginnt, dann liebt er seine ersten Patienten wie seine eigenen Kinder, und mancher ist in sie tatsächlich verliebt. Und ich bin ja gerade nicht reich an Patienten.«

»Von dem da will ich erst gar nicht reden«, fügte Raskolnikow hinzu, indem er auf Rasumichin wies, »der hat auch von mir nichts gehabt als Kränkungen und Mühe.«

»Dummes Zeug! Du bist wohl heute in rührseliger Stimmung?« rief Rasumichin.

Wäre er scharfblickender gewesen, so hätte er bemerkt, daß eine rührselige Stimmung absolut nicht vorlag, sondern eher das gerade Gegenteil. Aber Awdotja Romanowna hatte dies erkannt; aufmerksam und voll Unruhe beobachtete sie ihren Bruder.

»Von Ihnen, Mama, wage ich gar nicht zu sprechen«, fuhr er fort, wie wenn er eine am Morgen auswendig gelernte Lektion aufsagte. »Erst heute ist es mir einigermaßen zum Bewußtsein gekommen, wie Sie sich gestern hier geängstigt haben müssen, als Sie auf meine Heimkehr warteten.«

Nach diesen Worten streckte er auf einmal schweigend und lächelnd seiner Schwester die Hand hin. Aber aus diesem Lächeln leuchtete dieses Mal eine wahre, unverstellte Empfindung hervor. Dunja ergriff sofort, erfreut und dankbar, die ihr hingestreckte Hand und drückte sie warm und herzlich. Zum ersten Male hatte er sich nach dem gestrigen Zerwürfnis an sie gewandt. Das Gesicht der Mutter strahlte vor Entzücken und Glückseligkeit beim Anblick dieser völligen, wortlosen Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester.

»Deswegen habe ich ihn auch so gern!« flüsterte der leicht zu enthusiasmierende Rasumichin und rückte kräftig auf seinem Stuhle hin und her. »Ich kenne diese schönen Regungen an ihm.«

›Und wie prächtig das alles bei ihm herauskommt!‹ dachte die Mutter bei sich. ›Was hat er für ein edles Herz, und wie schlicht und zartfühlend hat er dieses ganze gestrige Mißverständnis mit der Schwester erledigt, einfach dadurch, daß er ihr im rechten Augenblicke die Hand reichte und sie freundlich anblickte … Und was er für schöne Augen hat, und wie schön sein ganzes Gesicht ist! … Er ist sogar schöner als Dunja … Aber, mein Gott, was hat er für einen Anzug an, wie jämmerlich ist er gekleidet! … Der Austräger Wasja in Afanassij Iwanowitschs Geschäft ist besser angezogen! … Und ich möchte am liebsten zu ihm hinstürzen und ihn umarmen … und weinen; aber ich fürchte mich, … er ist ja so seltsam, o Gott! Jetzt redet er ja so freundlich, und doch fürchte ich mich. Warum denn eigentlich?«

»Ach, Rodja«, antwortete sie nun eilig auf das, was er zu ihr gesagt hatte, »du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich wir gestern waren, ich und Dunja. Jetzt, wo alles vorbei und erledigt ist und wir alle wieder glücklich sind, darf ich ja davon reden. Denke dir nur, wir kommen in größter Eile hierher, fast direkt von der Bahn, um dich zu umarmen, und da sagt uns auf einmal das Dienstmädchen – ach, da ist sie ja! Guten Tag, Nastasja! –, da sagt sie uns, du hättest das Delirium und seiest soeben ohne Wissen des Arztes im Fieber auf die Straße gelaufen und würdest nun überall gesucht. Du glaubst gar nicht, wie uns zumute war! Ich mußte gleich an das tragische Ende des Leutnants Postantschikow denken; er war ein Bekannter von uns, ein Freund deines Vaters, du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja; der hatte auch das Delirium und war ebenso weggelaufen und auf dem Hofe in einen Brunnen gestürzt; erst am andern Tage konnte er herausgezogen werden. Wir stellten uns natürlich alles mit dir noch schlimmer vor, als es war. Wir dachten schon daran, Pjotr Petrowitsch aufzusuchen, um wenigstens mit seiner Hilfe … denn wir waren ja allein, ganz allein«, jammerte sie kläglich, verstummte aber plötzlich ganz, weil ihr einfiel, daß es noch recht gefährlich sei, über Pjotr Petrowitsch zu sprechen, obwohl sie »alle wieder vollkommen glücklich« waren.

»Ja, ja, das war alles gewiß sehr verdrießlich …«, murmelte Raskolnikow als Antwort, aber mit so zerstreuter und unaufmerksamer Miene, daß Dunja ihn ganz verwundert ansah.

»Was wollte ich denn noch sagen«, fuhr er, mühsam seine Gedanken sammelnd, fort. »Ja: seid versichert, Mama und Dunja, daß ich vorhatte, euch heute meinerseits zuerst zu besuchen und euch nicht etwa hier erwarten wollte.«

»Aber was redest du nur, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, gleichfalls höchst erstaunt.

›Was hat er denn?‹ dachte Dunja. ›Er spricht ja mit uns so förmlich und so pflichtgemäß! Er versöhnt sich und bittet um Verzeihung, ungefähr in der Art, wie ein Beamter eine amtliche Verrichtung vornimmt oder ein Schüler seine Lektion aufsagt.‹

»Ich wollte gleich, sowie ich aufgewacht war, zu euch hingehen; aber ich konnte nicht wegen meiner Kleider; ich hatte gestern vergessen, ihr … Nastasja … zu sagen, sie möchte das Blut aus den Kleidern auswaschen … Ich bin eben erst mit dem Anziehen fertig geworden.«

»Blut? Was für Blut?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.

»Es ist nichts Schlimmes, … beunruhigen Sie sich nicht. Das Blut war daher gekommen: als ich gestern im Fieber umherirrte, kam ich dazu, wie ein Mensch überfahren wurde, ein Beamter …«

»Im Fieber? Aber du erinnerst dich doch an alles?« unterbrach ihn Rasumichin.

»Das ist richtig«, antwortete Raskolnikow überlegend, »ich erinnere mich an alles, sogar bis auf die geringsten Kleinigkeiten; aber merkwürdig: warum ich dies oder das getan habe und hierhin oder dahin gegangen bin und dies oder das gesprochen habe, davon kann ich mir keine Rechenschaft ablegen.«

»Das ist eine sehr bekannte Erscheinung«, fiel Sossimow ein. »Die Ausführung einer Handlung ist manchmal meisterhaft, außerordentlich schlau; aber das treibende Motiv, der Beweggrund zu dem ganzen Vorgehen, bleibt unklar und hängt mit allerlei krankhaften Empfindungen zusammen. Das Ganze hat mit einem Traum Ähnlichkeit.«

›Das ist am Ende ganz gut, daß er mich beinahe für irrsinnig hält‹, dachte Raskolnikow.

»Aber das kommt doch wohl manchmal auch bei Gesunden vor?« bemerkte Dunja und sah Sossimow beunruhigt an.

»Eine sehr richtige Bemerkung«, antwortete dieser. »In dieser Hinsicht sind wir tatsächlich alle, und zwar sehr häufig, fast wie Verrückte, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß die ›Kranken‹ ein bißchen verrückter sind als wir; man muß da eben auf die Grenzlinie achten. Vollständig normale Menschen aber gibt es so gut wie gar nicht, das ist richtig; unter Zehntausenden, vielleicht sogar erst unter vielen Hundertausenden, mag man einen antreffen …«

Bei dem Worte »verrückt«, das Sossimow sich unvorsichtigerweise hatte entschlüpfen lassen, da er bei seinem Lieblingsthema in Redeeifer geraten war, machten alle Anwesenden finstere Gesichter. Raskolnikow saß in Gedanken versunken und mit einem eigentümlichen Lächeln auf den blassen Lippen da, als ob er auf nichts achtete. Er verharrte in seinen Überlegungen.

»Nun, wie war das also mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief Rasumichin schnell.

»Was?« fragte der, als ob er aus dem Schlafe erwachte. »Ja, … nun, da habe ich mich blutig gemacht, als ich dabei behilflich war, ihn in seine Wohnung zu tragen. Und dabei fällt mir ein, Mama: ich habe gestern einen unverzeihlichen Streich begangen; ich hatte wirklich nicht meinen Verstand. Das ganze Geld, das Sie mir geschickt hatten, habe ich gestern weggegeben … an seine Frau … zur Beerdigung. Sie ist jetzt Witwe, schwindsüchtig, ein bedauernswertes Weib, … drei kleine, hungrige Waisen sind da, … im Hause kein Geld, keine Sachen, … eine Tochter ist noch da … Vielleicht hätten Sie selbst das Geld hingegeben, wenn Sie das alles gesehen hätten … Ich gestehe übrigens ein, daß ich ganz und gar kein Recht dazu hatte, so zu handeln, besonders da ich wußte, auf welche Weise Sie dieses Geld beschafft hatten. Um zu helfen, muß man zuallererst ein Recht dazu haben; sonst mag man sagen: Crevez, chiens, si vous n’êtes pas contents!« Er lachte auf. »Hab ich recht, Dunja?«

»Nein, du hast nicht recht«, antwortete Dunja fest und bestimmt.

»Pah! Du hast eben auch gerade jetzt solche Absichten, jemandem behilflich zu sein!« murmelte er, blickte sie dabei fast mit einem Gefühl des Hasses an und lächelte spöttisch. »Das hätte ich in Betracht ziehen sollen! Na, nur zu! Es ist ja auch ganz löblich; und für dich eine Verbesserung, … und wenn du an eine bestimmte Grenze gelangst und sie nicht überschreitest, so wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, vielleicht noch unglücklicher … Aber das ist ja alles Unsinn!« fügte er gereizt hinzu; er ärgerte sich darüber, daß er sich zu solchen Äußerungen hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie, liebe Mama, um Verzeihung bitte«, schloß er scharf und kurz.

»Laß doch gut sein, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte die Mutter erfreut.

»Davon sollten Sie nicht so überzeugt sein«, antwortete er und verzog den Mund zu einem Lächeln.

Es folgte allgemeines Schweigen. Es lag etwas Gezwungenes in diesem ganzen Gespräche und in dem Schweigen und in der Versöhnung und in der Verzeihung, und alle empfanden das.

›Gerade als ob sie sich vor mir fürchteten‹, dachte Raskolnikow bei sich und warf der Mutter und der Schwester einen mißtrauischen Blick zu. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat, je länger sie schwieg, um so ängstlicher.

›Und ich liebte sie beide doch so sehr, als sie fern von mir waren‹, mußte er plötzlich denken.

»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« brach Pulcheria Alexandrowna das Schweigen.

»Was für eine Marfa Petrowna?«

»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir doch noch so viel über sie geschrieben.«

»Ah, ja, ich erinnere mich … Also die ist gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf, wie wenn er eben aufwachte. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?«

»Denk nur mal, ganz urplötzlich!« begann Pulcheria Alexandrowna eilfertig, ermutigt durch das Interesse, das er bekundete. »Und gerade zu der Zeit, als ich dir damals den Brief schickte, an demselben Tage! Denk nur, dieser schreckliche Mensch scheint sogar an ihrem Tode schuld zu sein. Er soll sie so furchtbar geschlagen haben!«

»Standen sie denn so miteinander?« fragte er, sich an die Schwester wendend.

»Nein, ganz im Gegenteil. Er benahm sich ihr gegenüber immer sehr rücksichtsvoll, sogar höflich. Bei vielen Gelegenheiten bewies er sogar allzu große Nachsicht mit ihrem Charakter, ganze sieben Jahre lang … Nun mochte er auf einmal die Geduld verloren haben.«

»Dann ist er also gar nicht so schrecklich, wenn er es sieben Jahre lang ertragen hat? Du scheinst ihn in Schutz zu nehmen, Dunja?«

»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir überhaupt gar nichts Schrecklicheres vorstellen«, antwortete Dunja beinahe mit einem Schauder, zog die Augenbrauen zusammen und gab sich ihren Gedanken hin.

»Das war bei ihnen am Vormittag vorgefallen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eifrig fort. »Darauf gab sie sofort Befehl, die Pferde anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen nach der Stadt zu fahren; denn sie fuhr, wenn sie irgendeine Aufregung hatte, immer nach der Stadt. Sie soll noch mit gutem Appetite Mittagbrot gegessen haben …«

»Trotz der Schläge, die sie bekommen hatte?«

»Ja, sie war immer gewohnt, stark zu essen, und gleich nachdem sie gegessen hatte, ging sie, um ihre Fahrt nicht zu lange hinauszuschieben, ins Badehäuschen … Weißt du, sie machte so eine Art Badekur durch; sie haben nämlich da eine sehr kalte Quelle, und sie badete regelmäßig alle Tage darin. Und sowie sie nur ins Wasser gegangen war, rührte sie sogleich der Schlag!«

»Ganz natürlich!« sagte Sossimow.

»Hatte er sie denn sehr geschlagen?«

»Darauf kommt es doch nicht an«, entgegnete Dunja.

»Hm! Übrigens, Mama, was kann Ihnen das nur für Spaß machen, solches Zeug zu erzählen«, sagte Raskolnikow auf einmal in gereiztem Tone; es schien ihm unwillkürlich zu entfahren.

»Ach, lieber Sohn, ich wußte gar nicht mehr, wovon ich noch sprechen sollte«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna, ohne zu überlegen.

»Ja, was ist denn? Sie fürchten sich wohl gar vor mir?« fragte er mit einem verzerrten Lächeln.

»Das ist wirklich der Fall«, sagte Dunja und sah ihrem Bruder mit ernstem, strengem Blicke gerade ins Gesicht. »Als Mama die Treppe heraufstieg, hat sie sich sogar vor Angst bekreuzigt.«

Sein Gesicht verzog sich krampfhaft.

»Ach, Dunja, was du nur redest! Bitte, sei nur nicht böse, Rodja! Warum sagst du denn das, Dunja!« fiel Pulcheria Alexandrowna in größter Verlegenheit ein. »Ich habe ja doch, als wir hierherfuhren, während der ganzen Reise es mir ausgemalt, wie wir uns wiedersehen würden, wie wir einander alles erzählen würden, … und ich war so glücklich, daß mir die Reise gar nicht lang vorkam! Aber was rede ich! Ich bin ja auch jetzt glücklich! … Torheit, was du da redest, Dunja! … Schon daß ich dich sehe, macht mich glücklich, Rodja!«

»Laß gut sein, Mama«, murmelte er verlegen, ohne sie anzublicken, und drückte ihr die Hand. »Wir können uns ja noch genug aussprechen.«

Nach diesen Worten wurde er plötzlich wieder ganz verstört und blaß; wieder durchzog, wie schon unlängst einmal, ein schreckliches Gefühl wie Todeskälte seine Seele; wieder wurde es ihm auf einmal völlig klar und deutlich, daß er soeben eine furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie mehr dazu kommen werde, sich frei auszusprechen, ja, daß er über nichts, niemals und mit niemand überhaupt nur werde unbefangen reden können. Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er für einen Augenblick beinahe sich und alles um sich ganz vergaß, von seinem Platze aufstand und, ohne jemand anzusehen, nach der Tür ging, um das Zimmer zu verlassen.

»Was ist mit dir?« rief Rasumichin und ergriff ihn bei der Hand.

Er setzte sich wieder hin und blickte schweigend um sich her; alle sahen ihn bestürzt an.

»Ja, warum seid ihr denn alle so langweilig?« rief er plötzlich zur Verwunderung aller. »So redet doch etwas! Wozu sitzen wir denn eigentlich so stumm da? Na, so sprecht doch! Wir wollen uns unterhalten! … Nun sind wir hier zusammengekommen und schweigen! … Na, sagt doch irgend etwas!«

»Gott sei Dank! Ich dachte schon, es stieße ihm etwas Ähnliches zu wie gestern!« sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich.

»Was hast du nur, Rodja?« fragte Dunja unsicher.

»Ich? Gar nichts, es fiel mir nur eine komische Geschichte ein«, erwiderte er und lachte auf.

»Nun, wenn’s das ist, dann ist’s ja gut! Sonst dachte ich selbst schon …«, murmelte Sossimow und erhob sich vom Sofa. »Ich muß aber nun gehen; ich komme vielleicht noch einmal mit heran, … wenn ich Sie zu Hause treffe …«

Er verabschiedete sich und ging hinaus.

»Was für ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.

»Ja, er ist ein prächtiger, ausgezeichneter, gebildeter, kluger Mensch«, begann Raskolnikow; er redete auf einmal ungewöhnlich schnell und mit einer Lebhaftigkeit, die er bisher nicht gezeigt hatte. »Ich kann mich gar nicht besinnen, wo ich ihn vor meiner Krankheit getroffen haben sollte … Mir ist so, als hatte ich ihn irgendwo getroffen … Der da ist auch ein guter Mensch!« fuhr er, mit einer Kopfbewegung nach Rasumichin hin, fort. »Gefällt er dir, Dunja?« fragte er und brach in ein unmotiviertes Lachen aus.

»Gewiß, sehr!» antwortete Dunja.

»Was du für dumme Späße machst!« rief Rasumichin, der ganz rot geworden war, in furchtbarer Verlegenheit und stand von seinem Stuhle auf.

Pulcheria Alexandrowna lächelte leise; Raskolnikow aber lachte laut los.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich will auch … ich muß fort.«

»Du mußt ganz und gar nicht, bleib nur hier! Du denkst, Sossimow ist fortgegangen, also mußt du es auch tun. Geh noch nicht! … Was ist denn die Uhr? Schon zwölf? Was du für eine hübsche Uhr hast, Dunja! Aber warum seid ihr denn wieder so stumm geworden? Ich bin immer nur der einzige, der redet!«

»Es ist ein Geschenk von Marfa Petrowna«, antwortete Dunja.

»Und es ist eine sehr wertvolle Uhr«, setzte Pulcheria Alexandrowna hinzu.

»Ei! Sie ist ja so groß; man kann sie kaum noch als Damenuhr betrachten.«

»Ich habe gern eine so große«, entgegnete Dunja.

›Also kein Geschenk von ihrem Bräutigam‹, dachte Rasumichin und freute sich unwillkürlich.

»Ich glaubte, es wäre ein Geschenk von Lushin«, bemerkte Raskolnikow.

»Nein, er hat Dunja noch nichts geschenkt.«

»So, so! Erinnern Sie sich noch, Mama, ich war einmal verliebt und wollte heiraten«, sagte er unvermittelt und blickte die Mutter an, die durch diese unerwartete Wendung des Gespräches und den Ton, in dem er von diesem Gegenstande sprach, sehr überrascht war.

»Ach ja, lieber Sohn, ich erinnere mich!«

Pulcheria Alexandrowna wechselte Blicke mit Dunja und Rasumichin.

»Hm! … Ja! Aber was soll ich euch davon erzählen? Ich kann mich gar nicht mehr recht auf alles besinnen. Sie war immer so krank«, fuhr er fort, indem er den Kopf senkte, als ob er sich wieder ganz in seine Gedanken vertiefte, »ganz hinfällig war sie; ihre größte Freude war, den Bettlern Almosen zu geben, und immer sehnte sie sich nach dem Kloster und zerfloß einmal ganz in Tränen, als sie mit mir davon sprach; ja, ja, … ich erinnere mich, … ganz genau erinnere ich mich. Sie war unschön … in ihrer äußeren Erscheinung. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals so an ihr hing, vielleicht weil sie immer krank war … Wenn sie dazu noch lahm oder buckelig gewesen wäre, ich glaube, ich hätte sie nur noch lieber gehabt …« (Er lächelte melancholisch.) »Es war so eine Jugendeselei …«

»Nein, die war es nicht«, sagte Dunja lebhaft und mit Wärme.

Er blickte seine Schwester starr und anscheinend aufmerksam an, hatte aber ihre Worte nicht verstanden und wohl gar nicht gehört. Dann stand er tief in Gedanken auf, trat zu seiner Mutter, küßte sie, kehrte zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder hin.

»Du liebst sie wohl auch jetzt noch?« fragte Pulcheria Alexandrowna gerührt.

»Sie? Jetzt? Ach so … Sie meinen die Verstorbene! Nein. Das ist, wie wenn’s in einer andern Welt geschehen wäre, … es liegt so unendlich weit zurück. Ja, auch alles um mich herum, … mir ist, als ob es gar nicht hier geschähe …«

Er sah die beiden aufmerksam an.

»Und auch euch selbst … wenn ich euch ansehe, so kommt mir’s vor, als wäret ihr tausend Werst weit von mir entfernt … Weiß der Kuckuck, warum wir über solche Dinge hier reden! Und wozu fragt ihr mich so aus?« fügte er ärgerlich hinzu; dann schwieg er, biß sich auf die Nägel und versank wieder in seine Gedanken.

»Was du für ein schlechtes Zimmer hast, Rodja; es sieht wie ein Sarg aus«, sagte Pulcheria Alexandrowna, um das bedrückende Schweigen zu unterbrechen. »Ich bin überzeugt, daß diese Wohnung zu einem großen Teil mit daran schuld ist, daß du so melancholisch geworden bist.«

»Die Wohnung?« antwortete er zerstreut. »Ja, die Wohnung hat sehr dazu beigetragen, … das habe ich mir auch schon gesagt … Wenn Sie aber wüßten, was für einen interessanten Gedanken Sie da eben ausgesprochen haben, Mama«, fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu.

Es war ganz nahe daran, daß diese Gesellschaft, diese seine nächsten Angehörigen, die er nach dreijähriger Trennung wiedersah, dieser vertrauliche Gesprächston neben der vollständigen Unmöglichkeit, über irgendeinen Gegenstand zu sprechen – daß dies alles ihm schließlich geradezu unerträglich wurde. Indes, da war noch eine unaufschiebbare Angelegenheit, die auf die eine oder andre Weise, aber unbedingt heute noch entschieden werden mußte – darüber war er sich schon vorhin, gleich nachdem er aufgewacht war, schlüssig geworden. Jetzt freute er sich über diese Angelegenheit wie über einen Ausweg aus der peinlichen Lage.

»Was ich noch sagen wollte, Dunja,« begann er in ernstem, trockenem Tone, »ich bitte dich natürlich wegen meines gestrigen Benehmens um Verzeihung; aber ich halte es für meine Pflicht, dich nochmals daran zu erinnern, daß ich von dem, was mir der Hauptpunkt war, nicht abgehe. Entweder ich oder Lushin. Mag ich immerhin ein Schuft sein, aber du darfst es nicht werden. Es ist genug an einem von uns. Wenn du Lushin heiratest, betrachte ich dich sofort nicht mehr als meine Schwester.«

»Rodja, Rodja! Das ist ja aber ganz dasselbe wie gestern!« rief Pulcheria Alexandrowna bekümmert. »Und warum nennst du dich denn immer einen Schuft? Ich kann das nicht ertragen! Das hast du auch gestern getan!«

»Bruder«, antwortete Dunja fest und in ebenso trockenem Tone, »in alledem liegt ein Irrtum deinerseits vor. Ich habe heute nacht darüber nachgedacht und den Irrtum herausgefunden. Er besteht darin, daß du anscheinend annimmst, ich brächte mich jemandem und für jemand zum Opfer. So steht es keineswegs. Ich heirate einfach um meiner selbst willen, weil mir mein jetziges Leben gar zu drückend ist; natürlich werde ich mich aber auch freuen, wenn es mir möglich werden sollte, meinen Angehörigen nützlich zu sein; aber das Hauptmotiv zu meinem Entschlusse ist das nicht …«

›Sie lügt!‹ dachte er bei sich und biß sich ingrimmig auf die Nägel. ›Sie ist stolz und möchte nicht eingestehen, daß sie einem eine Wohltat erweisen will! Welch ein Hochmut! O diese kleinlich denkenden Menschen! Sie maskieren ihre Liebe als Gleichgültigkeit … Oh, wie ich sie alle hasse!‹

»Mit einem Worte, ich werde Pjotr Petrowitsch heiraten«, fuhr Dunja fort, »weil ich von zwei Übeln das kleinere wählen möchte. Ich habe den Vorsatz, ehrlich alles zu erfüllen, was er von mir erwartet; also täusche ich ihn nicht … Warum hast du jetzt eben so gelächelt?«

Sie wurde rot, und in ihren Augen funkelte der Zorn.

»Du wirst alles erfüllen?« fragte er, boshaft lächelnd.

»Bis zu einer bestimmten Grenze. Pjotr Petrowitschs ganzes Verhalten und die Art seiner Werbung haben mich sofort erkennen lassen, was er nötig hat. Er ist ja gewiß von seinem eigenen Werte überzeugt, vielleicht zu sehr; aber ich hoffe, daß er auch mich zu schätzen weiß … Warum lachst du wieder?«

»Und du, warum wirst du wieder rot? Du lügst, Schwester, du lügst absichtlich, nur aus weiblichem Eigensinn, lediglich um mir gegenüber deine Behauptung aufrechtzuerhalten … Du kannst Lushin nicht achten: ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Folglich verkaufst du dich für Geld, und folglich handelst du unter allen Umständen unwürdig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch darüber erröten kannst!«

»Das ist nicht wahr, ich lüge nicht!« rief Dunja, die nun ihre Kaltblütigkeit völlig verlor. »Ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß er mich achtet und schätzt; ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, daß auch ich ihn achten kann. Zum Glück kann ich mich zuverlässig davon überzeugen, und sogar heute noch. Und eine solche Heirat ist nicht, wie du dich ausdrückst, eine Schuftigkeit! Und selbst wenn du recht hättest, wenn ich mich wirklich zu einer Schuftigkeit entschlossen hätte – ist es dann nicht eine Unbarmherzigkeit von dir, so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir einen Heroismus, der vielleicht in dir selbst nicht steckt? Das ist Despotismus, das ist Vergewaltigung! Wenn ich jemand zugrunde richte, so doch nur mich allein … Ich habe noch keinen Menschen gemordet! … Was siehst du mich denn so an? Warum bist du so blaß geworden? Rodja, was fehlt dir? Liebster Rodja!«

»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« schrie Pulcheria Alexandrowna auf.

»Nein, nein … Dummes Zeug … Es ist nichts … Mir wurde nur ein bißchen schwindlig. Von Ohnmacht ist nicht die Rede! … Ihr immer mit euren Ohnmachten! … Hm! ja, … was wollte ich doch noch sagen? Ja: wie willst du dich denn heute noch davon überzeugen, daß du ihn achten kannst und daß er dich schätzt, wie du sagtest? Du sagtest ja wohl: heute? Oder habe ich mich verhört?«

»Mama, zeigen Sie ihm doch Pjotr Petrowitschs Brief«, sagte Dunja.

Pulcheria Alexandrowna reichte mit zitternden Händen den Brief hin. Er ergriff ihn höchst gespannt. Aber ehe er ihn entfaltete, blickte er auf einmal seine Schwester wie verwundert an.

»Sonderbar«, sagte er langsam, wie von einem neuen Gedanken überrascht, »warum ereifre ich mich eigentlich so? Wozu dieser ganze Lärm? Mag sie doch heiraten, wen sie will!«

Er sagte das scheinbar nur für sich, sprach aber dabei ganz laut und blickte eine Weile seine Schwester an, als ob er ganz erstaunt wäre.

Endlich faltete er den Brief auseinander, immer noch mit derselben Miene einer eigentümlichen Verwunderung; dann begann er ihn langsam und aufmerksam zu lesen und las ihn zweimal durch. Pulcheria Alexandrowna befand sich in heftiger Unruhe; alle erwarteten sie etwas Besonderes.

»Eines setzt mich in Verwunderung«, begann er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, und reichte den Brief der Mutter wieder hin, wandte sich aber mit seinen Worten nicht direkt an einen der Anwesenden, »er führt doch Prozesse, ist Rechtsanwalt, und auch seine Art zu reden zeigte so eine geschäftliche Routine – aber was schreibt er für einen ungebildeten Stil!«

Alle gerieten in Bewegung; sie hatten etwas ganz anderes erwartet.

»So schreiben doch diese Leute alle!« warf Rasumichin kurz hin.

»Hast du den Brief gelesen?«

»Ja.«

»Wir haben ihn ihm gezeigt, Rodja; wir haben ihn vorhin um Rat gefragt«, fügte Pulcheria Alexandrowna verlegen zur Erklärung hinzu.

»Es ist im Grunde der übliche Gerichtsstil«, unterbrach sie Rasumichin. »Gerichtliche Schriftstücke werden noch heutzutage so abgefaßt.«

»Gerichtsstil? Ja, ganz richtig, Gerichtsstil, Geschäftsstil, das ist’s. Nicht gerade sehr ungebildet, aber auch nicht gerade sehr geschmackvoll; Geschäftsstil!«

»Pjotr Petrowitsch macht auch gar kein Geheimnis daraus, daß er für seine Bildung nicht viel Geld ausgeben konnte, und er ist sogar stolz darauf, daß er sich seinen Weg selbst gebahnt hat«, bemerkte Dunja, die sich durch den neuen Ton, in dem ihr Bruder sprach, einigermaßen gekränkt fühlte.

»Nun, wenn er stolz ist, so wird er auch seinen Anlaß dazu haben – ich widerspreche nicht. Du fühlst dich wohl dadurch verletzt, liebe Schwester, daß ich über den ganzen Brief nur diese spöttische Bemerkung gemacht habe, und glaubst, ich spräche absichtlich über solche Kleinigkeiten, weil ich ärgerlich wäre und mich über dich lustig machen wollte. Aber dem ist nicht so; sondern gerade anläßlich des Stils hat sich mir eine für den vorliegenden Fall ganz und gar nicht nebensächliche Beobachtung aufgedrängt. Da findet sich in dem Briefe eine Wendung: ›Sie würden sich dann die Schuld selbst zuzuschreiben haben‹; das ist recht bedeutsam und verständlich gesagt. Und außerdem kommt die Drohung vor, er werde sofort weggehen, wenn ich zu euch hinkäme; diese Drohung, fortzugehen, bedeutet einfach, daß er sich von euch beiden lossagen will, falls ihr euch ungehorsam zeigt, und daß er sich von euch jetzt lossagen will, wo er euch schon hat nach Petersburg kommen lassen. Nun, was meinst du, kann man einem solchen Manne wie Lushin einen solchen Ausdruck in gleichem Grade übelnehmen, wie wenn ihn der hier« (er zeigte auf Rasumichin) »oder Sossimow oder sonst jemand aus unserm Kreise gebraucht hätte?«

»N-nein«, erwiderte Dunja eifrig, »ich habe recht wohl gefühlt, daß der Ausdruck etwas zu plump gewählt war und daß Lushin wohl die Feder nicht ganz in seiner Gewalt hat … Dein Urteil ist durchaus zutreffend, lieber Bruder. Ich bin geradezu überrascht…«

»Das ist im Gerichtsstil ausgedrückt, und im Gerichtsstil kann man eben nicht anders schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als es vielleicht in seiner eigenen Absicht gelegen hat. Übrigens muß ich dich noch über einen Punkt aufklären; in diesem Briefe ist noch so ein Ausdruck enthalten, eine gegen mich gerichtete Verleumdung, und zwar eine recht nichtswürdige. Ich habe das Geld gestern der Witwe gegeben, einer schwindsüchtigen, tiefgebeugten Frau, und nicht ›unter dem Vorwande, daß es zur Bestreitung der Begräbniskosten dienen solle‹, sondern tatsächlich zur Bestreitung der Begräbniskosten, auch nicht der Tochter, die er als ›ein Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel‹ bezeichnet (ich habe sie gestern zum ersten Male in meinem Leben gesehen), sondern wirklich der Witwe. In alledem erkenne ich das übereifrige Bestreben, mich mit Kot zu bewerfen und mit euch zu entzweien. Es ist wieder im Gerichtsstil ausgedrückt, das heißt mit gar zu deutlicher Klarlegung der Absicht und mit sehr naiver Eilfertigkeit. Er ist ein kluger Mann; aber um nun auch klug zu handeln, dazu ist der bloße Verstand nicht ausreichend. Dies alles ist für den Menschen charakteristisch, und … ich glaube nicht, daß er dich sehr schätzt. Ich teile dir das nur zur Erwägung mit, weil ich aufrichtig dein Bestes wünsche …«

Dunja antwortete nicht; sie hatte ihren Entschluß schon vorhin gefaßt und erwartete nur noch den Abend.

»Wofür entscheidest du dich denn also, Rodja?« fragte Pulcheria Alexandrowna, die sich durch den neuen, geschäftsmäßigen Ton, den er jetzt angeschlagen hatte, noch mehr beunruhigt fühlte als vorher.

»Was meinst du damit?«

»Nun, Pjotr Petrowitsch schreibt doch, du solltest heute abend nicht bei uns sein, und er würde fortgehen, … wenn du hinkämest. Also was hast du vor? … Wirst du kommen?«

»Das habe natürlich nicht ich zu entscheiden, sondern in erster Linie Sie, wenn Sie sich durch eine solche Forderung Pjotr Petrowitschs nicht beleidigt fühlen, und in zweiter Linie Dunja, wenn sie sich gleichfalls nicht beleidigt fühlt. Ich werde tun, was euch am besten scheint«, fügte er trocken hinzu.

»Dunja ist sich bereits darüber schlüssig geworden, und ich bin vollständig mit ihr einverstanden«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu erklären.

»Ich habe mich dafür entschieden, dich zu bitten, Rodja, dich dringend zu bitten, daß du an dieser Zusammenkunft bei uns unter allen Umständen teilnehmen möchtest«, sagte Dunja. »Wirst du kommen?«

»Ja.«

»Ich bitte auch Sie, um acht Uhr bei uns zu sein«, wandte sie sich an Rasumichin. »Mama, ich möchte den Herrn gleichfalls auffordern.«

»Vortrefflich, Dunjetschka. Nun, mag es geschehen, wie ihr bestimmt habt«, fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. »Auch mir ist dabei leichter ums Herz; Verstellung und Lüge liegen nicht in meiner Art; wir wollen lieber die volle Wahrheit sagen … Dann mag sich Pjotr Petrowitsch ärgern oder nicht.«

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Kapitel 18

IV

In diesem Augenblicke öffnete sich leise die Tür, und ein Mädchen trat, sich schüchtern umschauend, ins Zimmer. Alle wandten sich erstaunt und neugierig nach ihr hin. Raskolnikow erkannte sie nicht gleich auf den ersten Blick. Es war Sofja Semjonowna Marmeladowa. Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in einem solchen Augenblicke, in einer solchen Umgebung und in einer solchen Aufmachung, daß sein Gedächtnis das Bild ihrer Persönlichkeit in ganz anderer Form aufgenommen hatte. Jetzt war sie ein bescheiden, ja ärmlich gekleidetes Mädchen, noch sehr jung, beinahe kindlich, mit bescheidenem, anständigem Benehmen, mit offenem, aber anscheinend recht ängstlichem Gesichtsausdruck. Sie trug ein sehr schlichtes Hauskleid und auf dem Kopfe einen alten, unmodernen Hut; nur hatte sie, wie gestern, einen Sonnenschirm in der Hand. Als sie unerwartet das Zimmer voll Menschen fand, wurde sie nicht etwa nur verlegen, sondern sie verlor vollständig die Fassung, bekam Furcht wie ein kleines Kind und machte sogar eine Bewegung, als ob sie wieder zurücktreten wollte.

»Ach … Sie sind es!« sagte Raskolnikow äußerst erstaunt und wurde auf einmal selbst verlegen.

Es fiel ihm sofort ein, daß seine Mutter und seine Schwester bereits so nebenbei aus Lushins Briefe etwas über ein »Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel« erfahren hatten. Eben erst hatte er gegen Lushins Verleumdung protestiert und dabei erwähnt, daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und nun trat sie auf einmal selbst herein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den Ausdruck »von notorisch schlechtem Lebenswandel« protestiert hatte. Diese Gedanken huschten ihm unklar und blitzschnell durch den Kopf. Aber als er Sonja aufmerksamer ansah, bemerkte er, wie demütig dieses erniedrigte Geschöpf war, und fühlte Mitleid mit ihr. Und als sie eine Bewegung machte, als wollte sie vor Furcht wieder fortlaufen, tat ihm geradezu das Herz weh.

»Ich habe gar nicht erwartet, daß Sie herkommen würden«, sagte er hastig und hielt sie durch seinen Blick zurück. »Bitte, nehmen Sie Platz. Sie kommen gewiß von Katerina Iwanowna. Wenn es Ihnen gefällig ist, nicht dorthin; bitte, setzen Sie sich hierher …«

Bei Sonjas Eintritt war Rasumichin, der auf einem von Raskolnikows drei Stühlen dicht neben der Tür gesessen hatte, aufgestanden, um ihr beim Hereinkommen Platz zu machen. Zuerst war Raskolnikow schon im Begriff, ihr den Platz in der Sofaecke anzuweisen, auf dem Sossimow gesessen hatte; aber er sagte sich doch, daß dieses Sofa, das ihm als Bett diente, ein gar zu familiärer Platz sei, und wies ihr daher schnell Rasumichins Stuhl an.

»Und du, setz dich hierher«, sagte er zu Rasumichin und schob ihn in die Ecke, wo Sossimow gesessen hatte.

Sonja setzte sich fast zitternd vor Angst hin und blickte schüchtern nach den beiden Damen. Man sah ihr an, daß sie selbst nicht begriff, wie sie es fertiggebracht hatte, sich neben sie hinzusetzen. Als ihr die Lage zum Bewußtsein gekommen war, erschrak sie so, daß sie schnell wieder aufstand und sich in größter Verwirrung an Raskolnikow wandte.

»Ich … ich … bin nur für einen Augenblick hergekommen; verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe«, sagte sie stockend. »Ich komme von Katerina Iwanowna; sie hatte sonst niemand zum Schicken. Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, doch morgen zum Totenamt zu kommen, … bei der Mittagsmesse … auf dem Mitrofan-Friedhof, … und dann bei uns … bei ihr … am Gedächtnismahl teilzunehmen. Sie möchten ihr doch die Ehre erweisen … Sie läßt sehr bitten.«

Sie stockte und schwieg.

»Wenn es irgend möglich ist, werde ich bestimmt, … ganz bestimmt …«, antwortete Raskolnikow, indem er gleichfalls aufstand und gleichfalls stockte und nicht zu Ende redete. »Tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich«, sagte er dann. »Ich möchte noch mit Ihnen reden. Wenn Sie es nicht zu eilig haben, so tun Sie mir bitte den Gefallen und schenken Sie mir zwei Minuten …«

Er rückte ihr den Stuhl hin. Sonja setzte sich wieder, blickte dann wieder schüchtern und ängstlich nach den beiden Damen und schlug die Augen nieder.

Raskolnikows blasses Gesicht rötete sich; sein ganzes Wesen schien gleichsam einen Ruck zu bekommen; seine Augen flammten auf.

»Mama«, sagte er fest und nachdrücklich, »dies ist Sofja Semjonowna Marmeladowa, die Tochter eben jenes unglücklichen Herrn Marmeladow, der gestern vor meinen Augen überfahren wurde und von dem ich Ihnen schon erzählt habe …«

Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja an und kniff dabei die Augen ein wenig zusammen. Obwohl Rodjas energischer, herausfordernder Blick sie einschüchterte, konnte sie sich dieses Vergnügen doch nicht versagen. Dunja sah ernst und forschend dem armen Mädchen gerade ins Gesicht und betrachtete sie mit Erstaunen. Als Sonja hörte, daß sie vorgestellt wurde, versuchte sie wieder aufzublicken, wurde aber noch verlegener als vorher.

»Ich wollte Sie fragen«, wandte sich Raskolnikow schnell zu ihr, »wie hat sich heute alles bei Ihnen gestaltet? Sind Ihnen keine Ungelegenheiten gemacht worden? … Zum Beispiel von Seiten der Polizei?«

»Nein, es ist alles ohne Störung gegangen … Die Todesursache war ja doch ganz klar; man hat uns keine Ungelegenheiten gemacht; nur die andern Mieter sind aufgebracht.«

»Warum?«

»Weil die Leiche so lange dasteht … Es ist doch jetzt heiß, da riecht es … Darum soll sie auch heute abend nach dem Friedhof gebracht werden und bis morgen in der Kapelle bleiben. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht; aber jetzt sieht sie schließlich selbst ein, daß es nicht anders geht …«

»Also heute?«

»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen dem Totenamte in der Kirche beizuwohnen und dann nach ihrer Wohnung zu kommen, zum Gedächtnismahl.«

»Also ein Gedächtnismahl veranstaltet sie?«

»Ja, nur einen kleinen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie uns gestern unterstützt haben, … ohne Ihre Beihilfe hätten uns die Mittel zur Beerdigung gefehlt.«

Lippen und Kinn begannen ihr krampfhaft zu zucken; aber sie nahm sich zusammen und beherrschte sich; sogleich schlug sie wieder die Augen nieder.

Während des Gesprächs betrachtete Raskolnikow sie aufmerksam. Sie hatte ein außerordentlich mageres, blasses, etwas spitzes Gesichtchen, mit kleinem, spitzem Näschen und Kinn und ziemlich unregelmäßigen Zügen. Hübsch konnte man sie eigentlich nicht nennen; aber dafür waren ihre blauen Augen so klar und verliehen, wenn sie sich belebten, dem Gesichte einen so guten, treuherzigen Ausdruck, daß man sich unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte. Außerdem lag in ihrem Gesichte und in ihrer ganzen Gestalt noch eine besonders charakteristische Eigenheit: trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie weit jünger aus, als sie wirklich war, beinahe wie ein Kind, und das trat manchmal bei bestimmten Bewegungen in einer geradezu komisch wirkenden Weise hervor.

»Hat denn Katerina Iwanowna mit einer so kleinen Summe alles bestreiten können, wenn sie sogar noch einen Imbiß zu geben beabsichtigt?« fragte Raskolnikow, eifrig bemüht, das Gespräch im Gange zu halten.

»Der Sarg ist ganz einfach, … und auch alles andere ist ganz einfach, so daß es nicht allzuviel kostet … Ich habe vorhin mit Katerina Iwanowna alles berechnet; es bleibt noch so viel übrig, um ein Gedächtnismahl zu veranstalten, … und Katerina Iwanowna wünscht so sehr, daß eines stattfinden möchte … Da müssen wir wohl … Ihr ist es ein Trost, … das liegt nun einmal so in ihrem Wesen, Sie wissen wohl …«

»Ich verstehe, ich verstehe … Gewiß … Warum mustern Sie denn mein Zimmer so? Meine Mama hier sagt auch, es sehe aus wie ein Sarg.«

»Sie haben uns gestern Ihr ganzes Geld gegeben!« sagte plötzlich, statt auf die Frage zu antworten, Sonja hastig in einem eigenartigen, lauten Flüstertone und senkte dann wieder den Kopf.

Lippen und Kinn zuckten ihr wieder. Raskolnikows ärmliche Behausung war ihr schon längst aufgefallen, und nun waren ihr diese Worte ganz unwillkürlich entschlüpft. Eine Weile schwiegen alle. Dunjas Augen hatten einen merkwürdigen Glanz bekommen, und Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja ganz freundlich an.

»Rodja«, sagte sie aufstehend, »wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Komm, Dunja … Und du, Rodja, solltest ausgehen, einen kleinen Spaziergang machen und dich dann hinlegen und ein bißchen ausruhen; und dann komm recht früh … Ich fürchte, das Gespräch mit uns hat dich doch angegriffen …«

»Ja, ja, ich werde kommen«, antwortete er eilig und stand auf. »Aber ich habe allerdings noch etwas Notwendiges vorher zu besorgen …«

»Na, ihr werdet doch nicht der eine hier, der andre da Mittag essen?« rief Rasumichin und sah Raskolnikow verwundert an. »Was hast du denn?«

»Ich sage ja, ich werde kommen, gewiß, gewiß … Aber bleib du noch einen Augenblick hier. Sie brauchen ihn ja doch wohl im Augenblick nicht, Mama? Oder entziehe ich ihn euch vielleicht?«

»O nicht doch, nicht doch! Kommen Sie doch auch mit zum Mittagessen, Dmitrij Prokofjitsch, wollen Sie so gut sein?«

»Bitte, kommen Sie!« bat auch Dunja.

Rasumichin verbeugte sich zusagend und strahlte über das ganze Gesicht. Eine wunderliche Verlegenheit überkam alle für einen Augenblick.

»Adieu, Rodja, oder lieber: Auf Wiedersehen! Ich sage nicht gern ›Adieu‹. Adieu, Nastasja … Ach, da habe ich ja doch wieder ›Adieu‹ gesagt!« sagte Pulcheria Alexandrowna.

Sie war nahe daran, auch Sonja eine Verbeugung zu machen; aber sie brachte es doch nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.

Aber Dunja wartete, bis die Reihe, herauszugehen, an sie kam, und als sie hinter der Mutter an Sonja vorbeiging, machte sie ihr eine freundliche, höfliche und ordnungsmäßige Verbeugung. Die arme Sonja wurde verlegen und verbeugte sich hastig und erschrocken; auf ihrem Gesichte spiegelte sich sogar eine Art von schmerzlicher Empfindung wieder, als ob Dunjas Höflichkeit und Freundlichkeit ihr drückend und peinlich wären.

»Adieu, Dunjetschka!« rief Raskolnikow, als diese schon auf dem Flur war. »Gib mir doch die Hand!«

»Ich habe sie dir doch gegeben; hast du das schon vergessen?« antwortete Dunja freundlich und drehte sich mit dem Oberkörper noch einmal nach ihm um.

»Nun, das schadet ja nichts; so reich sie mir noch einmal!«

Er drückte kräftig ihre feinen Fingerchen. Dunja lächelte ihm zu, errötete, entriß ihm schnell ihre Hand und lief der Mutter nach; auch sie fühlte sich auf einmal ganz glücklich.

»Nun schön!« sagte er zu Sonja, als er in sein Zimmer zurücktrat, und blickte sie mit klaren Augen an. »Gott gebe den Toten eine sanfte Ruhe; aber die Lebenden mögen leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Das ist doch das Richtige!«

Mit Erstaunen sah Sonja, wie sein Gesicht plötzlich hell geworden war; er schaute sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an; alles, was ihr verstorbener Vater über sie erzählt hatte, kam ihm wieder ins Gedächtnis.

»Herrgott, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna, sowie sie auf die Straße hinaustraten. »Ich bin ordentlich froh, daß wir weggegangen sind; es ist mir gleich leichter ums Herz. Hätte ich wohl gestern auf der Eisenbahn gedacht, daß ich mich darüber freuen würde!«

»Ich kann Ihnen nur wiederholen, liebe Mama: er ist noch sehr krank. Sehen Sie das denn nicht? Vielleicht haben gerade die Sorgen, die er sich um uns gemacht hat, seine Gesundheit zerrüttet. Man muß mit ihm Nachsicht haben und kann ihm vieles, vieles verzeihen.«

»Aber du hast keine Nachsicht mit ihm gehabt!« unterbrach Pulcheria Alexandrowna sie hitzig und mit einer Art von Eifersucht. »Weißt du, Dunja, ich habe euch beide vorhin angesehen: du bist sein vollständiges Ebenbild, und noch nicht einmal so sehr im Gesicht als in der Seele; beide habt ihr so etwas Melancholisches, Finsteres und Aufbrausendes; beide seid ihr hochmütig und beide hochherzig … Das ist doch gar nicht denkbar, daß er ein Egoist sein sollte, Dunja, nicht wahr? … Aber wenn ich daran denke, was uns heute abend noch bevorsteht, dann wird mir himmelangst!«

»Beunruhigen Sie sich nicht, Mama; es wird geschehen, was eben geschehen muß.«

»Aber bedenke nur, Dunja, in welcher Lage wir jetzt sind! Was sollen wir anfangen, wenn Pjotr Petrowitsch sich von uns lossagt?« rief die arme Pulcheria Alexandrowna mit unüberlegter Offenheit.

»Wenn er das wirklich tut, dann haben wir an ihm nichts verloren!« antwortete Dunja schroff und geringschätzig.

»Wir haben ganz gut daran getan, daß wir jetzt weggegangen sind«, fuhr Pulcheria Alexandrowna, sie unterbrechend, hastig fort, um abzulenken. »Er hat einen eiligen Gang vor, um etwas zu besorgen; da mag er sich ein bißchen Bewegung machen und wenigstens ein bißchen Luft schöpfen, … bei ihm ist es ja schrecklich dumpf, … aber wo kann man wohl hier in Petersburg frische Luft atmen? Hier ist es auch auf den Straßen gerade wie in einem Zimmer, das nie gelüftet wird. Herrgott, was ist das nur für eine Stadt! … Halt, halt! Tritt auf die Seite, du wirst dich noch totquetschen lassen; da wird etwas getragen! Ein Klavier tragen sie, wahrhaftig, … wie sie sich durchdrängen … Vor diesem jungen Mädchen habe ich auch große Bange.«

»Vor was für einem jungen Mädchen, Mama?«

»Nun, ich meine diese Sofja Semjonowna, die eben zu Rodja kam …«

»Warum haben Sie denn Bange vor der?«

»Es ahnt mir so etwas, Dunja. Magst du es mir nun glauben oder nicht, gleich wie sie hereinkam, in demselben Augenblick dachte ich: ›Aha, da sitzt der Hauptknoten …‹«

»Gar nichts sitzt da!« rief Dunja ärgerlich. »Was Sie auch immer für Ahnungen haben, Mama! Er ist erst seit gestern mit ihr bekannt, und als sie jetzt hereinkam, erkannte er sie nicht einmal sogleich.«

»Na, du wirst ja sehen! … Sie beunruhigt mich; du wirst ja sehen, du wirst ja sehen! Und ich habe einen ordentlichen Schreck vor ihr bekommen: sie sah mich an und sah mich an; was hat sie für Augen; ich konnte kaum auf meinem Stuhle stillsitzen; erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und das kommt mir doch auch ganz merkwürdig vor: Pjotr Petrowitsch schreibt solche Dinge von ihr, und er stellt sie uns vor, und noch dazu dir! Also muß er sie doch wohl sehr gern haben!«

»Was der nicht alles schreibt! Über uns ist doch auch allerlei geredet und geschrieben worden; haben Sie das vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ein prächtiges Mädchen ist und daß das alles dummes Gerede ist.«

»Gott gebe es!«

»Und Pjotr Petrowitsch ist ein häßlicher Zwischenträger!« schloß Dunja kurz und bestimmt.

Pulcheria Alexandrowna duckte sich unwillkürlich. Das Gespräch brach ab.


»Hör mal, ich wollte dich da etwas fragen …«, begann Raskolnikow und führte Rasumichin zum Fenster.

»Ich darf also an Katerina Iwanowna bestellen, daß Sie kommen werden …«, sagte Sonja schnell und wollte sich verabschieden.

»Sogleich, Sofja Semjonowna! Wir haben keine Geheimnisse; Sie stören uns nicht. Ich möchte Ihnen gern noch ein paar Worte … Hör mal«, wandte er sich, ohne zu Ende zu sprechen, wieder an Rasumichin. »Du kennst doch diesen … na, wie heißt er gleich! … Porfirij Petrowitsch?«

»Na und ob! Er ist ja ein Verwandter von mir. Weshalb fragst du denn?« fügte er neugierig hinzu.

»Er hat doch jetzt diese Sache in Händen, … na, diese Mordsache, von der ihr gestern spracht?«

»Ja, … nun?« Rasumichin riß die Augen weit auf.

»Er hat die Verpfänder befragt; nun, es liegen von mir auch ein paar Pfänder da, nur so Kleinigkeiten; aber das eine ist ein Ring von meiner Schwester, den sie mir zum Andenken schenkte, als ich hierherzog, und dann die silberne Uhr meines Vaters. Es hat zusammen nur einen Wert von fünf bis sechs Rubel; aber für mich sind diese Gegenstände kostbar, als Andenken. Also, was soll ich jetzt tun? Ich möchte nicht, daß mir die Sachen verlorengehen, namentlich nicht die Uhr. Ich schwebte vorhin in der größten Angst, meine Mutter könnte die Uhr zu sehen wünschen, als von Dunjas Uhr die Rede war. Es ist das einzige Stück, das noch von meinem Vater übrig ist. Sie würde krank werden, wenn wir diese Uhr verlören. Wie die Weiber nun einmal sind! Also nun gib mir einen Rat, wie ich mich zu verhalten habe. Ich weiß, daß ich eigentlich auf dem Polizeibureau Anzeige machen müßte. Aber wäre es nicht besser, wenn ich mich an Porfirij persönlich wendete? Wie denkst du darüber? Ich möchte die Sache möglichst schnell erledigen. Du wirst sehen, daß meine Mutter mich noch vor dem Mittagessen danach fragt!«

»Wende dich nicht an das Polizeibureau, sondern auf jeden Fall an Porfirij!« rief Rasumichin in lebhaftem Eifer. »Das freut mich aber! Da ist nichts weiter zu überlegen; wir können sofort hingehen; es sind nur ein paar Schritte; wir treffen ihn gewiß zu Hause!«

»Mir recht! Gehen wir!«

»Er wird sich sehr freuen, ganz außerordentlich wird er sich freuen, dich kennenzulernen! Ich habe ihm viel von dir erzählt, bei verschiedenen Gelegenheiten … Auch gestern habe ich von dir gesprochen. Gehen wir hin! Also du hast die alte Frau gekannt? So, so! … Das hat ja alles eine ganz ausgezeichnete Wendung genommen! … Ach ja … Sofja Iwanowna …«

»Sofja Semjonowna«, verbesserte Raskolnikow. »Sofja Semjonowna, das ist mein Freund Rasumichin, ein sehr guter Mensch …«

»Wenn Sie jetzt gehen müssen …«, begann Sonja; sie hatte Rasumichin gar nicht angesehen und war durch die Vorstellung noch schüchterner geworden.

»Nun, dann wollen wir gehen!« sagte Raskolnikow entschlossen.

»Ich komme heute noch einmal kurz zu Ihnen, Sofja Semjonowna; sagen Sie mir nur, wo Sie wohnen.«

Er war nicht eigentlich verlegen, aber er tat eilig und vermied ihren Blick. Sonja gab ihm ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen alle drei gleichzeitig hinaus.

»Schließt du denn nicht zu?« fragte Rasumichin, der hinter den beiden andern die Treppe hinabstieg.

»Das tue ich nie! … Schon seit zwei Jahren will ich immer ein Schloß kaufen«, fügte er nachlässig hinzu. »Glücklich, wer nichts zu verschließen hat, nicht wahr?« wandte er sich lachend an Sonja.

Auf der Straße blieben sie am Tor stehen.

»Sie gehen nach rechts, Sofja Semjonowna? Dabei fällt mir ein: wie haben Sie es denn möglich gemacht, mich zu finden?« fragte er; aber es klang, als möchte er ihr etwas ganz anderes sagen. Er hätte gar zu gern noch einmal in ihre stillen, klaren Augen geblickt; aber es wollte ihm nicht so recht glücken …

»Sie haben doch gestern unsrer Polenjka Ihre Adresse angegeben?«

»Polenjka? Ach ja … Polenjka! Das war die Kleine … Das ist Ihre Schwester? Also der habe ich meine Adresse gegeben?«

»Wissen Sie das denn nicht mehr?«

»Doch … doch, … ich erinnere mich.«

»Und von Ihnen hat mir der Verstorbene noch zu seinen Lebzeiten erzählt … Ich kannte nur damals Ihren Namen nicht, und er selbst kannte ihn auch nicht … Aber gestern erfuhr ich nun Ihren Namen und Ihre Adresse, und als ich heute herkam, da fragte ich: wo wohnt hier Herr Raskolnikow? … Ich wußte gar nicht, daß Sie auch in einem möblierten Zimmer wohnen … Adieu! Ich werde alles an Katerina Iwanowna bestellen …«

Sie war sehr froh, endlich loszukommen; sie ging mit gesenktem Kopfe eilig dahin, um ihnen nur recht schnell aus dem Gesichtskreis zu kommen, um nur recht schnell diese zwanzig Schritte bis zu der Straßenecke, wo sie nach rechts einbiegen mußte, zurückzulegen und endlich allein zu sein und dann im eiligen Dahinschreiten, achtlos und unbekümmert um die Begegnenden und alles ringsumher, nachzudenken, sich zu erinnern und sich jedes gesprochene Wort, jeden Umstand noch einmal zu vergegenwärtigen. Noch niemals hatte sie etwas Ähnliches empfunden. Ihre Seele hatte in eine große, neue Welt, die ihr noch ganz unbekannt gewesen war, einen – freilich flüchtigen – Blick geworfen. Da fiel ihr auf einmal ein, daß Raskolnikow selbst noch heute zu ihr kommen wollte, vielleicht noch am Vormittag, vielleicht sogar jetzt gleich!

›Nur nicht heute schon, bitte, nicht heute!‹ murmelte sie mit heftiger Herzbeklemmung, als ob sie jemanden anflehte, wie ein geängstigtes Kind. ›O Gott! Zu mir … in dieses Zimmer, … er wird alles sehen … o Gott!‹

Sie war in diesem Augenblicke natürlich nicht imstande, einen ihr unbekannten Herrn zu beachten, der sie angelegentlich beobachtete und ihr auf dem Fuße folgte. Er begleitete sie schon, seit sie aus dem Torwege herausgetreten war. In dem Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikow und sie, auf dem Trottoir standen und noch ein paar Worte miteinander redeten, war dieser Passant plötzlich zusammengezuckt, als er, um die Gruppe herumgehend, zufällig Sonjas Worte auffing: »Da fragte ich: wo wohnt hier Herr Raskolnikow?« Er hatte schnell, aber aufmerksam alle drei gemustert und besonders Raskolnikow, zu dem Sonja sprach; darauf hatte er sich das Haus angesehen und gemerkt. Alles dies hatte sich in einem Augenblicke, während er vorbeiging, abgespielt, und der Fremde war, ohne sich etwas merken zu lassen, weitergegangen, jedoch in etwas langsamerem Schritte, wie wenn er auf jemand wartete. Er hatte auf Sonja gewartet; denn er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedete, und vermutet, daß sie nun wohl irgendwohin gehen würde, wo sie ihre Wohnung hätte.

›Wo mag sie wohnen? Ich habe dieses Gesicht doch schon irgendwo gesehen‹, hatte er gedacht und sich zu erinnern gesucht. ›Das muß ich herausbekommen.‹

Als er die Straßenecke erreicht hatte, ging er auf die andere Seite der Straße hinüber, drehte sich um und sah, daß Sonja, ohne auf irgend etwas zu achten, … bereits hinter ihm ging, denselben Weg; denn als sie an die Straßenecke gekommen war, war auch sie in die Seitenstraße eingebogen. Er hatte sie nun auf dem gegenüberliegenden Trottoir begleitet, allmählich zurückbleibend, ohne sie aus den Augen zu lassen; nach etwa fünfzig Schritten war er wieder nach dem Trottoir hinübergegangen, auf welchem Sonja ging, hatte sie eingeholt und ging nun in einem Abstande von ungefähr fünf Schritten hinter ihr her.

Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas über Mittelgröße, wohlbeleibt, mit breiten, dicken Schultern, was seine Haltung etwas gebückt erscheinen ließ. Er war elegant und bequem gekleidet und machte einen recht stattlichen Eindruck. In der Hand hatte er einen hübschen Spazierstock, den er bei jedem Schritte auf das Trottoir aufschlagen ließ; seine Hände steckten in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den starken Backenknochen wirkte ganz angenehm, und die Gesichtsfarbe war frisch und gesund, wie es bei einheimischen Petersburgern nicht der Fall zu sein pflegt. Das noch sehr dichte Haar war ganz hellblond und nur äußerst wenig mit Grau meliert, und der breite, dichte Bart, der schaufelförmig herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine Augen waren blau; ihr Blick hatte etwas Kaltes, Starres, Überlegendes; die Lippen zeigten eine frische Röte. Überhaupt hatte er sich vorzüglich erhalten und sah viel jünger aus, als er wirklich war.

Als Sonja die Kanalstraße erreichte, waren sie die beiden einzigen Passanten auf dem Trottoir. Bei seinen Beobachtungen hatte er bereits ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Sonja ihr Haus erreicht hatte, bog sie in den Torweg ein; er folgte ihr und schien einigermaßen erstaunt zu sein. Auf dem Hofe wandte sie sich nach rechts, nach derjenigen Ecke, wo sich die zu ihrer Wohnung hinaufführende Treppe befand. »Na, so was!« murmelte der unbekannte Herr und begann hinter ihr her die Stufen hinaufzusteigen. Erst jetzt bemerkte ihn Sonja. Sie ging bis zum zweiten Stockwerk in die Höhe, bog in eine Außengalerie ein, die sich auf der Hofseite entlangzog, und klingelte an der Wohnung Nr. 9, an deren Tür mit Kreide angeschrieben stand: »Kapernaumow, Schneider«. »Na, so was!« sagte der Unbekannte noch einmal, verwundert über dieses eigentümliche Zusammentreffen, und klingelte daneben, bei Nr. 8. Die beiden Türen waren nur etwa sechs Schritte voneinander entfernt.

»Sie wohnen bei Kapernaumow«, sagte er und sah Sonja lachend an. »Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben Ihnen, bei Madam Gertruda Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!«

Sonja blickte ihn aufmerksam an.

»Wir sind also Nachbarn«, fuhr er in sehr heiterem Tone fort. »Ich bin erst seit vorgestern in der Stadt. Nun, vorläufig adieu, auf Wiedersehen!«

Sonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet, sie schlüpfte hinein und ging in ihre Stube. Sie schämte sich, und ein seltsames Angstgefühl überkam sie.


Rasumichin befand sich, während sie zu Porfirij gingen, in einem Zustande besonderer Aufregung.

»Das ist prächtig, Bruder!« wiederholte er einmal über das andre. »Und ich freue mich, ich freue mich!«

›Worüber freust du dich denn nur?‹ fragte sich Raskolnikow im stillen.

»Das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du auch etwas bei der alten Frau versetzt hattest. Und … und … ist das schon lange her? Ich meine: wann bist du zuletzt dagewesen?«

›Ist das ein naiver Tropf!‹ dachte Raskolnikow.

»Wann ich zuletzt da war?« antwortete er, indem er stehenblieb und nachdachte. »Zwei Tage vor ihrem Tode mag es gewesen sein, daß ich da war. Übrigens, die Sachen auszulösen ist jetzt bei diesem Gange nicht meine Absicht«, fügte er hastig und mit einer geflissentlich herausgekehrten Besorgtheit um die Sachen hinzu. »Ich habe ja wieder nur einen einzigen Rubel in meinem Besitze … infolge des Streiches, den ich gestern im Fieber begangen habe.«

Das Wort »Fieber« sprach er mit besonderem Nachdruck.

»Nun ja, ja, ja!« stimmte ihm Rasumichin eilig zu, wobei aber unklar blieb, worauf sich seine Zustimmung eigentlich bezog. »Also das ist der Grund, weshalb damals … das Gespräch von dem Morde so auf dich wirkte, … und weißt du, auch im Fieber hast du immer von Ringen und Ketten phantasiert! … Na ja, ja … Das ist ja klar, nun ist alles klar.«

›Holla!‹ dachte Raskolnikow. ›Dieser Gedanke hat sich bei ihnen also doch festgesetzt! Der gute Mensch hier würde sich für meine Unschuld ans Kreuz schlagen lassen, und doch ist er froh, daß es sich, wie er meint, aufgeklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen geredet habe! Wie fest sich dieser Gedanke bei ihnen allen eingenistet hat!‹

»Werden wir ihn auch zu Hause antreffen?« fragte er laut.

»Ganz bestimmt, ganz bestimmt«, erwiderte Rasumichin. »Du wirst sehen, Bruder, er ist ein prächtiger Mensch. Ein bißchen plump; das heißt, er hat gewandte Formen, aber ich meine plump in anderer Hinsicht. Ein gescheiter Kerl, sogar sehr klug und gescheit, nur hat seine ganze Art zu denken etwas Eigentümliches. Mißtrauisch, skeptisch, prosaisch ist er, … er betrügt einen gern, das heißt, er betrügt einen nicht eigentlich, sondern führt einen an. Na, und in seinem Amte verwendet er die alte Methode der Beweisführung aus materiellen Gründen … Aber er versteht seine Sache, gründlich versteht er sie. Er hat im vorigen Jahre in eine Mordsache Licht gebracht, wo fast alle Spuren schon verloren waren. Er wünscht sehr, aber sehr, dich kennenzulernen!«

»Ja, weshalb wünscht er denn das so sehr?«

»Das heißt, nicht etwa daß … Siehst du, in der letzten Zeit, als du krank warst, hat es sich so gemacht, daß ich oft und viel mit ihm über dich sprach … Na, er hörte zu, … und als er erfuhr, daß du Jura studiertest und äußerer Umstände halber das Studium nicht zu Ende führen könntest, da sagte er: ›Wie schade!‹ Daraus schloß ich, … das heißt aus allem zusammen, nicht daraus allein; und gestern hat Sametow … Siehst du, Rodja, ich habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir zusammen nach deiner Wohnung gingen, allerlei hingeschwatzt, … und da fürchte ich, Bruder, daß du dem zuviel Bedeutung beimißt, siehst du wohl …«

»Was meinst du denn? Daß sie mich für verrückt halten? Da haben sie vielleicht recht.«

Er lächelte gezwungen.

»Ja, ja … oder vielmehr: nein, wollte ich sagen … Na, alles, was ich gesagt habe … (auch über etwas andres), das war alles dummes Zeug, wie es einem so die Trunkenheit eingibt.«

»Warum entschuldigst du dich denn noch? Die ganze Geschichte ist mir zum Ekel geworden!« rief Raskolnikow mit übermäßiger Gereiztheit, die zum Teil erkünstelt war.

»Ich weiß, ich weiß, ich kann dir das nachfühlen. Sei überzeugt, daß ich dir das nachfühlen kann. Ich schäme mich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren …«

»Wenn du dich schämst, dann sprich nicht davon!«

Beide schwiegen. Rasumichin war höchst vergnügt, und Raskolnikow fühlte das mit Widerwillen. Auch beunruhigte ihn das, was Rasumichin soeben über Porfirij erzählt hatte.

›Vor dem muß ich auch den kranken Bettler spielen‹, dachte er erblassend und mit starkem Herzklopfen, ›und zwar recht natürlich. Das natürlichste wäre allerdings, wenn ich gar keine solche Rolle spielte, mir fest vornähme, es nicht zu tun! Nein, fest vornehmen … das würde wieder nicht natürlich herauskommen … Nun, wir wollen sehen, wie der Hase läuft, … wir werden es ja bald sehen … Ob es wohl gut oder schlecht ist, daß ich hingehe? Die Motte fliegt von selbst in die Kerze hinein. Das Herz klopft mir so stark; das ist nicht gut!‹

»Hier in diesem grauen Hause wohnt er«, sagte Rasumichin.

›Das wichtigste ist‹, überlegte Raskolnikow weiter, ›ob Porfirij es weiß oder nicht weiß, daß ich gestern in der Wohnung dieser Hexe war … und nach dem Blute gefragt habe. Darüber muß ich sofort ins klare kommen; gleich beim ersten Schritte, wenn ich hereinkomme muß ich das aus seiner Miene entnehmen; sonst … Erfahren will ich das, und wenn ich darüber ins Unglück stürze!‹

»Weißt du was?« wandte er sich auf einmal mit schlauem Lächeln an Rasumichin. »Ich habe heute die Beobachtung gemacht, daß du dich schon vom Morgen an in einer außerordentlichen Aufregung befindest. Habe ich recht?«

»Wieso in Aufregung? Ich bin in gar keiner Aufregung!« rief Rasumichin mit einer Grimasse.

»Nein, Bruder, es ist dir wirklich anzumerken. Auf deinem Stuhle saßest du vorhin in einer Weise, wie du es sonst nie tust, nur so auf einer Ecke, und dann zucktest du immer so wunderlich. Fortwährend sprangst du ohne jeden Anlaß auf. Bald sahst du ärgerlich aus, und dann machtest du auf einmal wieder ein Gesicht so süß wie der süßeste Bonbon. Sogar rot wurdest du; namentlich als du zum Mittagessen eingeladen wurdest, da wurdest du furchtbar rot.«

»Ach, bewahre! Was redest du für Unsinn! Was willst du denn damit sagen?«

»Und warum wendest und drehst du dich denn so verlegen hin und her wie ein Schuljunge? Ei, ei, er ist schon wieder rot geworden!«

»Ach, du Dummkopf du!«

»Aber warum wirst du denn so verlegen? Du Romeo! Warte nur, das erzähle ich heute noch anderswo weiter, ha-ha-ha! Da wird meine Mama drüber lachen … und noch jemand anders …«

»Hör mal, hör mal, aber im Ernst, das ist ja … Was soll denn das heißen?« rief Rasumichin; er war völlig verwirrt geworden, und es überlief ihn vor Schreck ganz kalt. »Was willst du ihnen erzählen, Bruder? Ich habe … Ach, was bist du für ein Dummkopf!«

»Wie eine Pfingstrose siehst du aus! Und wenn du wüßtest, wie gut dir das steht; ein baumlanger Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, und die Nägel gereinigt, was? Wann ist das sonst je dagewesen? Und wahrhaftig, pomadisiert hast du dich auch! Bück dich mal!«

»Dummkopf!«

Raskolnikow lachte so, daß er sich anscheinend gar nicht mehr beherrschen konnte; so betraten sie denn noch lachend Porfirijs Wohnung. Gerade das hatte Raskolnikow beabsichtigt: von den Zimmern aus mußte man es hören können, daß sie lachend eintraten und auch im Vorzimmer immer noch weiterlachten.

»Kein Wort hier davon, oder ich zermalme dich!« flüsterte Rasumichin wütend und packte Raskolnikow an der Schulter.

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Kapitel 19

V

Dieser trat bereits in das Zimmer und machte dabei ein Gesicht, als müßte er mit aller Gewalt an sich halten, um nicht vor Lachen loszuplatzen. Ihm folgte mit verdrießlicher, grimmiger Miene der lange, ungelenke Rasumichin, vor Verlegenheit rot wie eine Päonie. Sein Gesicht und seine ganze Figur waren wirklich in diesem Augenblicke lächerlich und rechtfertigten Raskolnikows Heiterkeit. Ohne noch vorgestellt zu sein, verbeugte sich Raskolnikow vor dem Hausherrn, der mitten im Zimmer stand und sie fragend anblickte, und wechselte mit ihm einen Händedruck, wobei er immer noch durchblicken ließ, welche Anstrengung es ihm mache, seine Lustigkeit zu unterdrücken und auch nur die wenigen zur Vorstellung erforderlichen Worte zu sprechen. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und etwas Unverständliches zu murmeln, da blickte er auf einmal wieder, wie unwillkürlich, Rasumichin an und konnte sich nun nicht mehr beherrschen: das unterdrückte Lachen brach um so unaufhaltsamer heraus, je stärker es bis dahin zurückgedrängt war. Der gewaltige Ingrimm, mit welchem Rasumichin dieses anscheinend von Herzen kommende Lachen aufnahm, verlieh dieser ganzen Szene den Anschein einer durchaus echten Lustigkeit und, was das wichtigste war, der Natürlichkeit. Rasumichin erhöhte, als ob er es darauf angelegt gehabt hätte, diesen Eindruck noch durch sein Benehmen; er schrie: »Hol’s der Teufel!« schwenkte dabei mit dem Arm und traf ein kleines rundes Tischchen, auf dem ein leergetrunkenes Teeglas stand. Alles fiel zu Boden; das Glas ging klirrend in Scherben.

»Recht so, meine Herren! Immer heiter und vergnügt!« rief Porfirij Petrowitsch fröhlich.

Es bot sich jetzt folgender Anblick dar: Raskolnikow lachte und lachte und vergaß darüber ganz, daß seine Hand noch in der des Hausherrn lag; aber er verstand, das richtige Maß innezuhalten, und wartete nur auf den passenden Augenblick, um möglichst bald und möglichst natürlich damit aufzuhören. Rasumichin, der durch das Umfallen des Tischchens und das Zerbrechen des Glases ganz und gar aus der Fassung gekommen war, blickte finster auf die Scherben, spuckte aus, drehte sich kurz um und trat ans Fenster, wo er den andern den Rücken zukehrte, ein furchtbar ärgerliches Gesicht schnitt und durchs Fenster schaute, ohne etwas zu sehen. Porfirij Petrowitsch lachte und war gern bereit, weiter mitzulachen, bedurfte aber offenbar der Aufklärung. In einer Ecke hatte auf einem Stuhle Sametow gesessen; beim Eintritt der Besucher hatte er sich erhoben und stand nun erwartungsvoll da. Den Mund hatte er zu einem Lächeln auseinandergezogen; aber er betrachtete den ganzen Auftritt mit Erstaunen und einer Art von Mißtrauen; Raskolnikow gegenüber zeigte er sogar eine gewisse Verlegenheit. Durch Sametows unerwartete Anwesenheit fühlte sich Raskolnikow unangenehm überrascht.

›Das muß ich auch noch mit in Betracht ziehen!‹ dachte er.

»Ich muß um Entschuldigung bitten«, begann er mit gekünstelter Verlegenheit, »mein Name ist Raskolnikow.«

»O bitte, bitte, sehr angenehm, und Sie kamen in so angenehmer Weise herein … Aber will denn der da nicht einmal guten Tag sagen?« erwiderte Porfirij Petrowitsch und wies mit einer Kopfbewegung auf Rasumichin hin.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, warum er auf mich so wütend ist. Ich habe ihm nur unterwegs gesagt, er sehe aus wie ein Romeo, und habe ihm die Beweisgründe dafür angeführt; weiter ist meines Wissens nichts gewesen.«

»Dummkopf!« rief Rasumichin, ohne sich umzudrehen.

»Es müssen also doch wohl sehr ernste Gründe vorgelegen haben, wenn er wegen dieses einen Wörtchens so böse wurde!« meinte Porfirij lachend.

»Na ja, nun fängst du auch noch an, du Untersuchungskommissar du! Hol euch alle der Kuckuck!« rief Rasumichin ärgerlich, fing dann aber auf einmal selbst an zu lachen und trat mit wieder ganz vergnügtem Gesichte, als sei gar nichts vorgefallen, auf Porfirij Petrowitsch zu.

»Nun, abgetan! Ihr seid allesamt Narren. Also zur Sache: das hier ist mein Freund Rodion Romanowitsch Raskolnikow; erstens wünscht er deine Bekanntschaft zu machen, da er schon viel von dir gehört hat, und zweitens führt ihn eine kleine geschäftliche Angelegenheit zu dir. Ah, Sametow! Wie kommst du denn hierher? Seid ihr denn miteinander bekannt? Verkehrt ihr schon lange?«

›Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?‹ fragte sich Raskolnikow beunruhigt.

Sametow wurde anscheinend verlegen, jedoch nur ein klein wenig.

»Wir haben uns ja doch gestern bei dir kennengelernt«, antwortete er in ungezwungenem Tone.

»Na, da bleibt mir ja eine Mühe erspart: in der vorigen Woche hat er mir fortwährend zugesetzt, ich möchte ihn irgendwie mit dir, Porfirij, bekannt machen; und nun habt ihr einander auch ohne meine Beihilfe gründlich berochen … Wo ist denn dein Tabak?«

Porfirij Petrowitsch war im Hausanzuge: er trug einen Schlafrock, sehr saubere Wäsche und ausgetretene Pantoffeln. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, etwas unter Mittelgröße, wohlgenährt und sogar mit einem kleinen Embonpoint ausgestattet, vollständig glattrasiert, mit kurzgeschorenem Haar auf dem großen, runden Kopfe, der hinten eine besonders hervortretende Wölbung zeigte. Sein dickes, rundes, etwas stumpfnasiges Gesicht hatte eine kränkliche, dunkelgelbe Farbe, dabei aber doch etwas Energisches und sogar Spöttisches. Dieses Gesicht wäre selbst gutmütig zu nennen gewesen, wenn dem nicht der Ausdruck der Augen widersprochen hätte; diese hatten einen feuchten, wässerigen Glanz und waren von fast weißen Wimpern bedeckt, die fortwährend zuckten, als ob sie jemandem zuzwinkerten. Der Blick dieser Augen stand in einem eigentümlichen Gegensatze zu der ganzen Figur, die etwas Weibisches an sich hatte; sie erhielt dadurch einen weit ernsteren Charakter, als ihn der erste Anblick hatte annehmen lassen.

Sobald Porfirij Petrowitsch hörte, daß der Besucher ein kleines geschäftliches Anliegen an ihn habe, bat er ihn sogleich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, setzte sich selbst in die andre Ecke und wendete sich dem Besucher zu, mit dem Ausdrucke der Erwartung, daß nun unverzüglich die Darlegung des Anliegens erfolgen werde. Er bekundete dabei jene Art von forcierter und übermäßig ernster Aufmerksamkeit, die den andern zu bedrücken und zu verwirren geeignet ist, namentlich wenn er diese Eigenheit noch nicht kennt, und namentlich wenn das, was er auseinandersetzen will, nach seinem eigenen Urteile in gar keinem Verhältnisse zu der außerordentlich gespannten Aufmerksamkeit steht, mit der er beehrt wird. Aber Raskolnikow trug in kurzer, bündiger Darlegung klar und bestimmt sein Anliegen vor und war mit sich selbst so zufrieden, daß er die Zeit auch noch dazu benutzte, Porfirij recht genau zu betrachten. Auch Porfirij Petrowitsch wandte die ganze Zeit über kein Auge von ihm. Rasumichin hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und folgte mit eifrigem Interesse und starker Ungeduld der Auseinandersetzung der Angelegenheit, wobei er fortwährend seine Augen von dem einen zum andern wandern ließ, was sich etwas wunderlich ausnahm.

›Du Esel!‹ schimpfte Raskolnikow ihn im stillen.

»Sie müssen eine Eingabe an die Polizei machen«, antwortete Porfirij in rein geschäftlichem Tone, »dieses Inhalts: Sie hätten von dem und dem Vorfall gehört, also von diesem Morde, und bäten nun Ihrerseits, man möge den Untersuchungskommissar, in dessen Händen die Sache liege, davon benachrichtigen, daß die und die Gegenstände Ihr Eigentum seien und Sie den Wunsch hätten, sie einzulösen, … oder so ähnlich … Man wird Ihnen das übrigens aufsetzen.«

»Das ist ja eben die Sache«, erwiderte Raskolnikow, möglichst bemüht, verlegen zu scheinen, »daß ich augenblicklich gar keine Geldmittel besitze … und nicht einmal imstande bin eine solche Kleinigkeit … Sehen Sie, ich möchte jetzt nur die Erklärung abgeben, daß diese Gegenstände mir gehören und daß ich, sowie ich wieder Geld habe …«

»Nun, das macht ja keinen Unterschied«, antwortete Porfirij Petrowitsch, der Raskolnikows Eröffnung über seine pekuniäre Lage sehr kühl aufnahm. »Übrigens können Sie, wenn Sie wollen, in demselben Sinne auch direkt an mich schreiben, so: ›Nachdem ich das und das erfahren habe, bezeichne ich die und die Sachen als mein Eigentum und bitte …‹«

»Doch auf gewöhnlichem Papier? Nicht etwa auf Stempelpapier?« unterbrach ihn Raskolnikow hastig, um wieder sein Interesse für die pekuniäre Seite der Angelegenheit hervorzukehren.

»Oh, auf ganz gewöhnlichem!«

Plötzlich, so schien ihm, sah ihn Porfirij Petrowitsch mit unverhohlenem Spotte an; denn er kniff die Augen zusammen, und es machte den Eindruck, als ob er ihm zuzwinkerte. Indessen war es Raskolnikow doch vielleicht nur so vorgekommen, da es nur einen Augenblick dauerte. Jedenfalls: etwas Derartiges war geschehen. Raskolnikow hätte darauf schwören mögen, daß er ihm – mochte der Teufel wissen, warum – zugezwinkert habe.

›Er weiß es!‹ Dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Lappalien belästigt habe«, fuhr er, etwas aus der Fassung gebracht, fort. »Meine Sachen sind höchstens fünf Rubel wert; aber sie sind mir besonders teuer als Andenken an die Personen, von denen ich sie bekommen habe, und ich muß gestehen, als ich davon hörte, bekam ich einen großen Schreck …«

»Darum fuhrst du also auch gestern so auf, als ich zu Sossimow sagte, Porfirij nähme die Verpfänder ins Verhör?« warf Rasumichin mit unverkennbarer Absicht dazwischen.

Das war nicht mehr zu ertragen. Raskolnikow konnte sich nicht beherrschen und blitzte ihn mit seinen zornfunkelnden schwarzen Augen böse an. Aber sogleich kam er wieder zur Besinnung.

»Du machst dich wohl über mich lustig, Bruder?« wandte er sich an ihn mit geschickt gespielter Empfindlichkeit. »Ich gebe zu, daß ich in meiner Besorgnis um diese Sachen, die in deinen Augen nur Schund sind, vielleicht zu weit gehe; aber darum braucht man mich noch nicht für egoistisch oder habgierig zu halten; in meinen Augen sind diese beiden geringwertigen Gegenstände eben durchaus kein Schund. Ich habe dir schon vorhin gesagt, daß diese silberne Uhr, die allerdings nur einen sehr geringen materiellen Wert hat, das einzige Stück ist, das aus der Hinterlassenschaft meines Vaters übrig ist. Über mich kannst du meinetwegen lachen; aber meine Mutter ist jetzt hier angekommen«, hier wandte er sich auf einmal an Porfirij, »und wenn sie erführe«, er drehte sich schnell wieder zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, seiner Stimme einen zitternden Klang zu geben, »daß diese Uhr verlorengegangen wäre, so würde sie rein in Verzweiflung sein, kann ich dir sagen! Das ist bei Frauen nun einmal so!«

»Aber nein, nein! So habe ich es ja gar nicht gemeint! Ganz im Gegenteil!« rief Rasumichin tief gekränkt.

›Habe ich das auch gut gemacht?‹ überlegte Raskolnikow ängstlich im stillen. ›Kam es auch natürlich heraus? Habe ich auch nicht zu stark aufgetragen? Warum habe ich das von den Frauen gesagt?‹

»Ah, Ihre Frau Mutter ist hergekommen?« erkundigte sich Porfirij Petrowitsch.

»Ja.«

»Wann denn?«

»Gestern abend.«

Porfirij schwieg und schien etwas zu überlegen.

»Verlorengehen konnten Ihre Pfandstücke in keinem Falle«, fuhr er kühl und ruhig fort. »Ich habe schon lange erwartet, daß Sie zu mir kommen würden.«

Und als hätte er nichts Besonderes gesagt, stellte er bedächtig den Aschbecher vor Rasumichin hin, der die Asche von seiner Zigarette achtlos hatte auf den Teppich fallen lassen. Raskolnikow fuhr zusammen; aber Porfirij schien es nicht zu bemerken, sondern immer noch mit Rasumichins Zigarette seine Sorge zu haben.

»Was? Was? Erwartet hast du ihn? Hast du denn gewußt, daß auch er da etwas versetzt hatte?«

Porfirij Petrowitsch wandte sich direkt an Raskolnikow:

»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren bei ihr in ein und dasselbe Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier stand, deutlich mit Bleistift geschrieben, Ihr Name sowie auch das Datum, wann sie die Sachen von Ihnen erhalten hatte …«

»Das haben Sie sich ja aber außerordentlich scharf eingeprägt!« erwiderte Raskolnikow mit ungeschicktem Lächeln, wobei er sich große Mühe gab, ihm gerade in die Augen zu sehen; ohne genau zu überlegen, fuhr er fort: »Ich meine, weil es sich doch gewiß um sehr viele Verpfänder handelte, so daß es Ihnen schwer werden mußte, alle einzelnen im Gedächtnis zu behalten … Aber trotzdem erinnern Sie sich so genau an alle, und … und …«

›Das war dumm von mir! Sehr schwach! Warum habe ich das nur noch hinzugefügt?‹ dachte er.

»Beinahe alle Verpfänder haben sich jetzt schon gemeldet; nur Sie waren noch nicht gekommen«, antwortete Porfirij mit einem kaum bemerkbaren Anflug von Spott.

»Ich war nicht recht gesund.«

»Auch davon habe ich gehört. Ich habe auch gehört, daß Sie aus irgendwelchem Anlaß mit Ihren Nerven in Unordnung gekommen seien. Sehen Sie nicht auch heute etwas blaß aus?«

»Ich bin gar nicht blaß, … im Gegenteil, ich bin vollkommen gesund!« entgegnete mit plötzlich verändertem Tone Raskolnikow, unhöflich und ärgerlich.

Die Wut kochte in ihm, und er konnte ihrer nicht mehr Herr werden.

›In der Wut werde ich unbedacht reden!‹ fuhr es ihm wieder durch den Kopf. ›Warum martern sie mich denn eigentlich?‹

»Nicht recht gesund, sagt er, wäre er gewesen!« mischte sich Rasumichin ein. »Na, das ist denn aber doch eine Verdrehung! Bis gestern war er ohne Besinnung und phantasierte … Denk dir mal, Porfirij, er konnte sich kaum auf den Füßen halten; aber sowie wir, ich und Sossimow, gestern den Rücken gewandt hatten, zog er sich an, lief heimlich fort und trieb sich fast bis Mitternacht umher, und zwar in vollständigem Fieberzustande, sage ich dir; kannst du dir so etwas vorstellen? Ein ganz merkwürdiger Fall!«

»Wirklich in vollständigem Fieberzustande? Sagen Sie mal, ist das möglich?« rief Porfirij und schüttelte in einer Art, wie man das sonst bei Weibern sieht, den Kopf.

»Ach, dummes Zeug! Glauben Sie doch so etwas nicht! Übrigens glauben Sie es ja sowieso nicht!« Die letzten Worte ließ sich Raskolnikow in seiner Wut entschlüpfen.

Jedoch Porfirij Petrowitsch schien diese sonderbare Bemerkung gar nicht gehört zu haben.

»Aber dein Weggehen läßt sich doch überhaupt nur aus deinem Fieberzustande erklären!« ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du ausgegangen? Zu welchem Zwecke? Und warum gerade heimlich? Hattest du etwa damals deinen gesunden Verstand? Jetzt, wo alle Gefahr geschwunden ist, kann ich ja offen mit dir darüber reden!«

»Ich konnte die beiden gestern schlechterdings nicht mehr ausstehen«, wandte sich Raskolnikow an Porfirij und lächelte dabei dreist und herausfordernd, »darum lief ich ihnen davon, um mir eine andre Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht auffinden könnten, und nahm eine beträchtliche Geldsumme mit. Herr Sametow hier hat das Geld gesehen. Nun, Herr Sametow, war ich gestern bei Verstande, oder hatte ich Fieber? Entscheiden Sie den Streit!«

Er hätte in diesem Augenblicke Sametow am liebsten erwürgt. Die Art, wie dieser ihn bisher schweigend angesehen hatte, brachte ihn auf.

»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr verständig und sogar schlau; nur waren Sie von einer übermäßigen Reizbarkeit«, erwiderte Sametow trocken.

»Und heute erzählte mir Nikodim Fomitsch«, sagte Porfirij Petrowitsch, »er habe Sie gestern zu sehr später Stunde in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen …«

»Na ja! Also die Geschichte mit diesem Beamten!« fiel Rasumichin ein. »Hast du dich dabei etwa nicht verrückt benommen? Sein letztes Geld hat er der Witwe zum Begräbnis geschenkt. Wenn du ihr beispringen wolltest, so hättest du ihr fünfzehn, meinetwegen zwanzig Rubel geben sollen; na, und wenn du nur drei Rubel für dich behalten hättest; aber nein, alle fünfundzwanzig hast du ihr hingegeben.«

»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, von dem du nichts weißt, und das war dann der Grund für meine Freigebigkeit gestern … Herr Sametow hier weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! … Verzeihen Sie nur«, wandte er sich mit zitternden Lippen an Porfirij, »daß wir Sie mit solchem gleichgültigen Gerede eine halbe Stunde lang belästigen. Sie möchten uns gewiß gern loswerden, nicht wahr?«

»Aber ich bitte Sie, ganz im Gegenteil, ganz – im – Gegenteil! Wenn Sie wüßten, wie lebhaft ich mich für Sie interessiere! Sie zu sehen und reden zu hören, hat für mich einen ganz besonderen Reiz, … und ich gestehe, es ist mir eine Freude, daß Sie endlich einmal die Güte hatten, zu mir zu kommen …«

»Na, dann setze uns doch wenigstens Tee vor; die Kehle ist einem ja ganz trocken geworden!« rief Rasumichin.

»Ein sehr guter Gedanke! Ich hoffe, daß die Herren alle teilnehmen. Willst du aber nicht etwas Substantielleres vor dem Tee haben?«

»Damit bleib mir vom Leibe!«

Porfirij Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen.

In Raskolnikows Kopfe wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Er war im höchsten Grade gereizt.

›Das großartigste ist, daß sie nicht einmal heimlich tun und nicht einmal die äußere Form wahren mögen! Was dazu den Anlaß gegeben! Sie haben zweifellos, ehe wir kamen, von mir gesprochen! … Ob sie wohl von meinem gestrigen Besuche in der Wohnung wissen? Wenn sich nur alles recht schnell abspielte! … Als ich sagte, ich wäre gestern weggelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, ließ er diese Bemerkung vorbeigehen und knüpfte nicht daran an … Was ich da vom Wohnungssuchen gesagt habe, das war ganz geschickt gemacht: das kann mir später noch zustatten kommen! … Im Fieberzustande, wird es dann heißen! … Ha-ha-ha! Er weiß über den ganzen gestrigen Abend Bescheid! Nur von der Ankunft meiner Mutter wußte er nichts! … Und auch das Datum hat die alte Hexe mit Bleistift daraufgeschrieben! … Aber ihr irrt euch, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen; das sind nur leere Vermutungen! Nein, liefert mal erst Tatsachen! Auch mein Besuch in der Wohnung ist keine beweiskräftige Tatsache; der erklärt sich aus dem Fieberzustande; ich weiß schon, was ich ihnen zu sagen habe … Wissen sie das von der Wohnung? Ich gehe nicht fort, ehe ich das nicht erfahren habe! Weshalb bin ich nur hergekommen? Daß ich mich jetzt so ärgere, das könnte möglicherweise als ein tatsächlicher Schuldbeweis dienen! Scheußlich, daß ich so reizbar bin! Vielleicht ist es aber auch gerade gut; ich spiele ja die Rolle eines Kranken … Er tastet an mir herum. Er wird mich noch aus der Fassung bringen. Weshalb bin ich nur hergekommen?‹

Alles das fuhr ihm wie ein Blitz durch den Kopf.

Porfirij Petrowitsch kam in einem Augenblick wieder zurück. Er schien auf einmal ganz vergnügt geworden zu sein.

»Den gestrigen Abend bei dir spüre ich noch im Kopfe, Bruder, … das hat mich völlig kaputt gemacht!« sagte er in ganz anderm Tone als vorher zu Rasumichin.

»Nun, war es interessant? Ich verließ euch ja gestern gerade bei dem interessantesten Punkte. Wer hat denn gesiegt?« fragte dieser.

»Selbstverständlich niemand. Wir gerieten auf die uralten Streitfragen und schwebten in den Wolken.«

»Stelle dir mal vor, Rodja, auf was für ein Thema die gestern zu sprechen kamen: gibt es Verbrechen oder nicht? Ich sagte ihnen, sie wären verrückt geworden mit ihrem Debattieren!«

»Was ist dabei Verwunderliches? Das ist ja eine ganz gewöhnliche soziale Streitfrage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.

»Die Frage war nicht in dieser Weise formuliert«, bemerkte Porfirij.

»Nicht ganz so, das ist richtig«, bestätigte ihm Rasumichin schnell, der nach seiner Gewohnheit in Eifer und Hitze geriet. »Höre mal zu, Rodja, und sage mir deine Meinung; du tust mir einen Gefallen damit. Ich wollte gestern bei dem Gerede der Kerle aus der Haut fahren und wartete ungeduldig auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen würdest … Zuerst wurde die Ansicht der Sozialisten vorgebracht. Diese Ansicht ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die Abnormität der sozialen Einrichtungen – basta, weiter nichts; andre Ursachen werden nicht anerkannt, basta! …«

»Das stellst du doch ganz falsch dar!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtlich lebhafter und lachte fortwährend bei Rasumichins Anblicke, wodurch dieser immer noch mehr in Rage geriet.

»Andre Ursachen werden von ihnen nicht anerkannt!« unterbrach ihn Rasumichin erregt. »Ich stelle es nicht falsch dar! Ich will dir Bücher zeigen, die sie darüber geschrieben haben; immer heißt es bei ihnen: ›die Gesellschaft ist daran schuld‹, weiter nichts. Das ist ihr beliebtes Schlagwort! Daraus folgt dann ohne weiteres, daß, wenn es gelingt, die Gesellschaft normal einzurichten, mit dem Wegfall jedes Anlasses zu einem Proteste sofort auch alle Verbrechen verschwinden und alle Menschen im Nu gerecht werden. Aber die Natur wird von ihnen nicht in Betracht Denken spart man dabei ganz. Und das ist die Hauptsache: man spart dabei das Denken! Das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens läßt sich dann auf zwei Druckseiten abtun!«

»Na, nun ist er aber in Zug gekommen; jetzt schlägt er gehörig die Trommel! Wenn er nun aufhören soll, muß man ihm die Hände festhalten!« rief Porfirij lachend. »Stellen Sie sich das nur vor«, wandte er sich an Raskolnikow, »ebenso ging es gestern abend zu, und immer sechs Stimmen zugleich, und überdies hatte er die Streitenden vorher mit Punsch bewirtet – können Sie sich davon eine Vorstellung machen? – Nein, Bruder, du irrst dich: ›die Gesellschaft‹ ist bei den Verbrechen allerdings ein sehr wesentlicher Faktor; das kannst du mir glauben.«

»Das weiß ich selbst, daß sie ein wesentlicher Faktor ist; aber beantworte mir mal diese Frage: wenn ein Mann von vierzig Jahren ein zehnjähriges Mädchen mißbraucht, hat ihn dann ›die Gesellschaft‹ dazu genötigt?«

»Nun, wenn man es genau nimmt, trägt vielleicht auch daran ›die Gesellschaft‹ mit die Schuld«, bemerkte Porfirij mit auffälligem Ernste. »Ein Verbrechen an einem kleinen Mädchen läßt sich sehr wohl auf ›die Gesellschaft‹ als Ursache zurückführen.«

Rasumichin wurde ordentlich wütend.

»Na«, schrie er, »wenn du willst, so werde ich dir sofort beweisen, daß die weiße Farbe deiner Wimpern einzig und allein daher kommt, daß der Moskauer Glockenturm Iwan Welikij zweihundertfünfzig Fuß hoch ist, und ich will dir das klar, genau, progressiv und sogar mit liberaler Nuance beweisen. Dazu mache ich mich anheischig. Nun, willst du wetten?«

»Ich nehme die Wette an! Wir wollen doch mal hören, wie er das beweisen wird!«

»Ach, er tut ja immer nur so, der Kerl!« rief Rasumichin, vom Stuhle aufspringend, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es lohnt sich gar nicht, mit dir über etwas zu reden! Das ist alles bei ihm Verstellung; du kennst ihn bloß noch nicht, Rodja! Auch gestern nahm er für die Verfechter dieser Ansicht Partei, nur um sie alle zum Narren zu halten. Und was er gestern für Zeug zusammengeredet hat, o Gott, o Gott! Und die hatten ihre helle Freude an ihm! … Solche Verstellung ist er imstande vierzehn Tage lang durchzuführen. Im vorigen Jahre – ich weiß nicht, wie er dazu kam – redete er uns ein, er wolle Mönch werden; zwei Monate lang blieb er bei dieser Behauptung! Vor kurzem wollte er uns weismachen, er würde sich verheiraten; es wäre alles schon zur Hochzeit bereit. Sogar einen neuen Anzug ließ er sich machen. Wir gratulierten ihm schon. Keine Braut, nichts war da; alles Flunkerei!«

»Das ist wieder eine Verdrehung von dir! Den Anzug hatte ich mir schon vorher machen lassen. Eben dieser neue Anzug brachte mich erst auf den Gedanken, euch alle hinters Licht zu führen.«

»Sind Sie wirklich ein solcher Meister in der Kunst, sich zu verstellen?« fragte Raskolnikow lässig.

»Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur, ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst zu lesen.«

»Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben; aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«

»Aber erschienen ist er in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst.«

»Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging ein; darum wurde er nicht gedruckt …«

»Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«

Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.

»Aber ich bitte Sie! Sie können doch von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«

»Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen? Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«

»Woher haben Sie denn erfahren, daß der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«

»Das habe ich nur zufällig erfahren, und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt … Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«

»Soweit ich mich erinnere, erörterte ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung mit dem Verbrechen.«

»Jawohl, und Sie behaupten, daß die eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber … was mich interessierte, war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke, den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten, ohne ihn klar auszuführen … Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, … das heißt, nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«

Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame, absichtliche Entstellung seines Gedankens.

»Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?« erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.

»Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«, antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen, weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«

»Aber wie denn? So kann es doch unmöglich dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.

Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß, die Herausforderung anzunehmen.

»Ganz so steht es allerdings nicht in meinem Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig …« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, die Welt und führen sie zum Ziele. Die einen und die andern haben eine völlig gleiche Existenzberechtigung. Kurz, nach meiner Ansicht haben alle ein gleich wohlbegründetes Recht; und: vive la guerre éternelle! Natürlich, bis das neue Jerusalem kommt!«

»Also glauben Sie doch, daß das neue Jerusalem einmal kommen wird?«

»Das glaube ich«, antwortete Raskolnikow fest. Er blickte bei diesen Worten, wie schon während seiner ganzen langen Darlegung, zu Boden, wo er sich einen Punkt auf dem Teppich ausgesucht hatte.

»Und … und … und glauben Sie an Gott? Verzeihen Sie meine dreiste Frage!«

»Ich glaube an ihn«, erwiderte Raskolnikow; dabei blickte er auf und sah Porfirij an.

»Und … und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?«

»J–ja. Wozu diese Fragen?«

»Glauben Sie daran im buchstäblichen Sinne?«

»Allerdings.«

»So, wirklich! … Nun, ich fragte nur so aus neugierigem Interesse; entschuldigen Sie. Aber wenn ich auf unser voriges Thema zurückkommen darf, gestatten Sie einen Einwand: die außerordentlichen Menschen werden doch nicht immer hingerichtet; manche haben doch auch ein ganz entgegengesetztes Los.«

»Sie meinen: sie triumphieren noch bei Lebzeiten? O ja, manche erreichen das noch bei Lebzeiten, und dann …«

»Dann fangen sie selbst an, hinzurichten?«

»Wenn es nötig ist, ja; und, wissen Sie, das ist eigentlich meist der Fall. Ihre Bemerkung war sehr scharfsinnig.«

»Danke. Aber nun, bitte, sagen Sie mir noch eins: wodurch soll man diese außerordentlichen Menschen von den gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es vielleicht schon bei der Geburt derartige Merkmale? Ich werfe diese Frage deshalb auf, weil hier doch möglichst große Klarheit, sozusagen eine mehr äußerliche Bestimmbarkeit erforderlich wäre; entschuldigen Sie die Besorgnis, die mir als einem im praktischen Leben stehenden, ordnungsliebenden Manne naheliegt; aber könnte man da nicht zum Beispiel eine besondere Kleidung einführen, oder daß sie irgendein Abzeichen trügen, etwa einen Stempel oder so etwas? Denn Sie werden selbst zugeben müssen, wenn es da zur Konfusion kommen sollte und einer aus der einen Klasse sich einbildete zur andern Klasse zu gehören und nun anfinge, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, dann würde doch …«

»Oh, das kommt sehr häufig vor. Diese Ihre Bemerkung ist sogar noch scharfsinniger als die vorige.«

»Danke.«

»Keine Ursache! Aber bedenken Sie, daß ein derartiger Irrtum nur von seiten der ersten Klasse möglich ist, das heißt, von Seiten der gewöhnlichen Menschen, wie ich sie mit einem vielleicht sehr wenig glücklich gewählten Ausdrucke genannt habe. Trotz der ihnen angeborenen Neigung zum Gehorsam, lieben (vermöge einer lebhaften Phantasie, wie sie selbst den Kühen nicht versagt ist) es dennoch sehr viele von ihnen, sich für Bahnbrecher und Zerstörer zu halten und sich auf neue Ideen zu kaprizieren, und zwar durchaus in gutem Glauben. Und diejenigen, die wirklich neue Werte schaffen, werden von ihnen dabei oft gar nicht beachtet und sogar als rückständig und niedrigdenkend geringgeschätzt. Aber eine erhebliche Gefahr kann meines Erachtens dadurch nicht hervorgerufen werden, und Sie haben wirklich keinen Anlaß zur Besorgnis; denn besonders weit geht diese Sorte von Menschen in ihren Exzessen niemals. Für ihr verblendetes Handeln könnte man ihnen ja manchmal die Rute geben, damit sie nicht vergessen, an welchen Platz sie gehören; aber auch nicht mehr. Auch bedarf es dabei gar nicht einmal eines Vollstreckers der Strafe; sie werden sich schon selbst die Rute applizieren, weil sie sehr moralisch sind: manche erweisen einander wechselseitig diesen Dienst, andere besorgen es bei sich eigenhändig … Sie legen sich dabei allerlei öffentliche Bußen auf – das macht sich sehr hübsch und erbaulich; kurz, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen … Dafür ist das Gesetz da.«

»Nun, wenigstens in dieser Hinsicht haben Sie mich einigermaßen beruhigt; aber da ist noch ein anderer heikler Punkt: bitte, sagen Sie doch, gibt es viele solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, also solche ›Außerordentlichen‹? Ich bin natürlich durchaus bereit, mich denen zu beugen; aber Sie müssen selbst zugeben, es wäre doch eine ängstliche Geschichte, wenn ihrer gar zu viele wären; nicht wahr?«

»Oh, auch darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Raskolnikow in demselben Tone fort. »Menschen mit neuen Ideen, ja selbst Menschen, die auch nur einigermaßen fähig sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt in außerordentlich geringer Anzahl geboren; es ist sogar geradezu merkwürdig, wie spärlich sie sind. Nur das eine ist klar: die Ordnung, in welcher die Menschen aller dieser Klassen und Unterabteilungen geboren werden, ist gewiß in bestimmter, genauer Weise durch ein Naturgesetz geregelt. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich zur Zeit unbekannt; aber ich glaube, daß es existiert und in der Folgezeit auch zu unserer Kenntnis gelangen kann. Das gewaltige Gros der Menschen, das Material, existiert in der Welt nur zu dem Zwecke, um schließlich durch eine Art von Anstrengung, durch einen bis jetzt noch geheimnisvollen Vorgang, vermittels irgendwelcher Kreuzung der Familien und Arten ein bestimmtes Resultat zu erzielen, nämlich einen einzigen, auch nur leidlich selbständig denkenden Menschen – sagen wir auf tausend einen – hervorzubringen. Mit größerer Selbständigkeit wird vielleicht einer auf zehntausend geboren (die Zahlen gebe ich nur beispielsweise, zur Veranschaulichung). Mit noch größerer einer auf hunderttausend. Von genialen Menschen kommt einer auf Millionen, und von den ganz großen Genies, die zur Vervollkommnung des Menschengeschlechtes beitragen, vielleicht eines auf viele tausend Millionen Menschen. Kurz, in die Retorte, in der sich dieser ganze Prozeß vollzieht, habe ich nicht hineingeschaut. Aber ein bestimmtes Gesetz existiert sicher und muß existieren; bloßer Zufall kann da nicht vorliegen.«

»Sagt mal, macht ihr beide nur Spaß?« rief Rasumichin endlich. »Wollt ihr euch wechselseitig zum besten haben, oder wie ist das? Sitzen die beiden Menschen da und machen sich einer über den andern lustig! Oder hast du im Ernst geredet, Rodja?«

Raskolnikow hob sein bleiches, beinahe trauriges Gesicht und sah ihn an, ohne zu antworten. Und einen merkwürdigen Eindruck machte auf Rasumichin im Gegensatze zu diesem stillen, traurigen Gesichte der unverhohlene, dreiste, verletzende Spott auf dem Gesichte Porfirijs.

»Nun, Bruder, wenn du wirklich im Ernste geredet hast, so … Du hast natürlich ganz recht, wenn du sagst, daß das nicht neu sei und daß wir es ähnlich schon tausendmal gelesen und gehört hätten; aber was tatsächlich an alledem originell und, zu meinem Schrecken, dein ausschließliches geistiges Eigentum ist, das ist die Erlaubnis, die du den Menschen erteilst, nach ihrem Gewissen Blut zu vergießen; und das tust du sogar mit einem wahren Fanatismus, nimm’s nicht übel! … Das ist also wohl auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese, diese Erlaubnis, nach eigenem Gewissen Blut zu vergießen, die … die ist nach meiner Meinung schrecklicher, als es eine offizielle, gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen, sein würde …«

»Durchaus richtig, diese ist schrecklicher«, stimmte ihm Porfirij bei.

»Nein, da hast du dich von deinem Eifer hinreißen lassen! Da liegt ein Irrtum vor. Ich will deinen Aufsatz durchlesen … Du hast dich hinreißen lassen! So kannst du ja gar nicht denken … Ich werde es lesen.«

»In meinem Aufsatze steht das alles nicht; da sind nur Andeutungen gegeben«, erwiderte Raskolnikow.

»Jawohl, jawohl«, sagte Porfirij und rückte erregt auf seinem Stuhle hin und her, »jetzt ist es mir ziemlich klar geworden, wie Sie das Verbrechen ansehen; aber … entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit (ich belästige Sie gar zu sehr; ich schäme mich selbst) – sehen Sie mal: Sie haben mich vorhin recht beruhigt in bezug auf Fälle irrtümlicher Vermengung der beiden Klassen; aber … es beunruhigen mich dabei immer noch allerlei in der Praxis mögliche Fälle! Wenn nun ein Mann oder ein Jüngling sich einbildet, er sei ein Lykurg oder ein Mohammed – in spe natürlich – und nun munter beginnt, alle Hindernisse zu beseitigen … Er sagt sich, der Weg zum Ziele sei lang, und zur Zurücklegung dieses Weges brauche er Geld, … und nun fängt er an, sich das Geld zu diesem Wege zu beschaffen, … Sie verstehen?«

Sametow prustete in seiner Ecke plötzlich vor Lachen los. Raskolnikow wandte die Augen gar nicht zu ihm.

»Ich muß zugeben«, antwortete er ruhig, »daß solche Fälle nicht ausbleiben können. Dumme, eitle Menschen sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, namentlich die Jugend.«

»Sehen Sie wohl! Nun, und was dann?«

»Dann hat es auch noch nicht viel zu sagen«, antwortete Raskolnikow lächelnd, »ich bin doch jedenfalls nicht daran schuld. Es ist nun einmal so und wird nie anders werden. Der hier« (er wies auf Rasumichin) »sagte eben, ich gäbe die Erlaubnis zum Blutvergießen. Nun, was macht das? Die Gesellschaft hat sich doch durch Verschickung nach Sibirien, durch Gefängnisse, Untersuchungskommissare und Zuchthäuser genug und übergenug gesichert: wozu sich da also beunruhigen? Mag man den Verbrecher suchen!«

»Und wenn wir ihn finden?«

»Dann mag er bestraft werden.«

»Sie denken außerordentlich logisch. Und wie steht es mit seinem Gewissen?«

»Was kümmert Sie sein Gewissen?«

»Nun, ich frage nur so – aus Humanität.«

»Wer ein Gewissen hat, der mag leiden, wenn er zur Erkenntnis seines Irrtums kommt. Auch das ist eine Strafe für ihn, die noch zur Zuchthausstrafe hinzukommt.«

»Nun, und die wirklich Genialen«, fragte Rasumichin mit finsterer Miene, »also die, denen das Recht zu morden gegeben ist, die sollen gar nicht leiden, auch nicht für vergossenes Blut?«

»Was soll hier der Ausdruck ›sollen‹? Es handelt sich hier weder um eine Erlaubnis noch um ein Verbot. Mag ein solcher leiden, wenn ihm sein Opfer leid tut. Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf der Welt eine große Traurigkeit empfinden«, fügte er in düsterem Nachdenken hinzu, gar nicht im Gesprächstone.

Er blickte auf, sah alle nachdenklich an, lächelte und griff nach seiner Mütze. Er war gar zu ernst geworden im Vergleich mit der Lustigkeit bei seinem Eintritte, und er fühlte das. Alle standen auf.

»Na, mögen Sie nun auf mich schimpfen oder nicht, auf mich wütend werden oder nicht, ich kann nicht umhin, noch ein Wort hinzuzufügen«, sagte Porfirij Petrowitsch zum Schluß. »Gestatten Sie mir nur noch eine kleine Frage (ich mache mir Vorwürfe, Sie so zu belästigen); nur einen einzigen kleinen Einfall möchte ich aussprechen, nur um ihn nicht zu vergessen …«

»Schön, sagen Sie Ihren kleinen Einfall!« erwiderte Raskolnikow, der ernst und blaß vor ihm stand und wartete.

»Ich meine so: … Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich mich am passendsten ausdrücken soll … Der Einfall ist zu komisch, … aus dem Gebiete der Psychologie … Ich meine so: als Sie Ihren Aufsatz schrieben, da haben Sie selbst sich doch notwendigerweise, he-he-he, wenigstens ein ganz klein bißchen auch für einen außerordentlichen Menschen gehalten, der ›etwas Neues sprechen‹ könne, in dem Sinne, wie Sie diesen Ausdruck gebrauchen … Ist’s nicht so?«

»Sehr möglich!« erwiderte Raskolnikow geringschätzig. Rasumichin machte eine Bewegung.

»Wenn nun dem so ist, hätten Sie sich wirklich selbst entschlossen, na, in einer bestimmten Lage, angesichts irgendwelcher Schicksalsschläge und Bedrängnisse oder auch zur Förderung des Wohles der ganzen Menschheit – hätten Sie sich entschlossen, über ein Hindernis hinwegzuschreiten? … Nun, zum Beispiel, zu morden und zu rauben?«

Wieder machte es den Eindruck, als zwinkere er ihm mit dem linken Auge zu und lache lautlos – genau wie eine Weile vorher.

»Wenn ich wirklich über ein Hindernis hinwegschritte, so würde ich es Ihnen natürlich nicht sagen«, antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung.

»Nicht doch, ich frage ja doch nur aus ganz harmlosem Interesse, eigentlich nur, um Ihren Aufsatz besser verstehen zu können, vom rein literarischen Gesichtspunkte aus.«

›Pfui, wie unverhohlen und unverschämt er redet!‹ dachte Raskolnikow mit Ekel.

»Gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären«, entgegnete er trocken, »daß ich mich nicht für einen Mohammed oder Napoleon halte und überhaupt für keinen Menschen von solcher Art; da ich also ein derartiger Mensch nicht bin, so kann ich Ihnen auch keine befriedigende Auskunft darüber geben, wie ich handeln würde.«

»Nun, lassen Sie’s gut sein; wer hält sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?« erwiderte Porfirij auf einmal in außerordentlich familiärer Redeweise. Sogar in seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.

»Wenn nur nicht auch so ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit dem Beile totgeschlagen hat!« platzte der im Winkel sitzende Sametow heraus.

Raskolnikow schwieg und blickte Porfirij unverwandt und fest an. Rasumichin machte ein ingrimmiges, finsteres Gesicht; schon vorher war ihm manches seltsam vorgekommen; er blickte zornig um sich. Eine Minute verging in düsterem Schweigen. Raskolnikow wandte sich um, um fortzugehen.

»Wollen Sie schon gehen?« fragte Porfirij freundlich und streckte ihm überaus liebenswürdig die Hand hin. »Es ist mir sehr, sehr angenehm gewesen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und was Ihr Gesuch anlangt, so seien Sie ganz unbesorgt. Schreiben Sie es nur so, wie ich Ihnen sagte. Das beste wäre, wenn Sie selbst einmal zu mir in mein Bureau kämen, … wenn es sich so macht, in diesen Tagen, … meinetwegen morgen. Ich bin so um elf Uhr bestimmt da. Dann wollen wir alles in Ordnung bringen … und uns ein bißchen unterhalten … Sie, als einer der letzten, die am Tatort gewesen sind, könnten uns auch vielleicht irgendwelche Mitteilung machen …«, fügte er mit der gutmütigsten Miene hinzu.

»Sie wollen mich amtlich, mit allen Formalitäten, vernehmen?« fragte Raskolnikow scharf.

»Wozu? Vorläufig ist das durchaus nicht erforderlich. Sie haben mich mißverstanden Sehen Sie, ich möchte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, … und ich habe schon mit allen andern Verpfändern gesprochen, … mit einigen habe ich auch ein Zeugenverhör angestellt, … und Sie, als der letzte … Ja, halt einmal!« rief er, als freue er sich über einen Gedanken, der ihm gekommen sei. »Da fällt mir ein, … wie hatte ich es nur vergessen können! …« wandte er sich an Rasumichin. »Du hast mir doch damals von diesem Nikolai die Ohren vollgeredet, … na, ich weiß ja selbst, weiß ja selbst«, wandte er sich zu Raskolnikow, »daß der Bursche unschuldig ist; aber was sollte ich tun? Und auch den Dmitrij habe ich belästigen müssen … Also die Sache ist die, um mich kurz zu fassen: als Sie damals auf der Treppe vorbeikamen, … erlauben Sie, Sie waren doch zwischen sieben und acht Uhr dort?«

»Jawohl!« antwortete Raskolnikow und sagte sich in demselben Augenblicke mit einem unbehaglichen Gefühle, daß er diese Antwort nicht hätte zu geben brauchen.

»Also, als Sie zwischen sieben und acht Uhr auf der Treppe vorbeikamen, haben Sie da nicht im ersten Stockwerk, in einer offenstehenden Wohnung – erinnern Sie sich? – zwei Gesellen oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie waren da mit Anstreichen beschäftigt; haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist für die beiden Leute sehr, sehr wichtig! …«

»Anstreicher? Nein, ich habe keine gesehen …«, antwortete Raskolnikow langsam, als ob er in seinen Erinnerungen herumsuche; gleichzeitig spannte er, fast erliegend unter der Qual, seine ganze Geisteskraft an, um möglichst schnell zu erkennen, worin eigentlich die Falle bestand, und um ja nichts zu übersehen. »Nein, ich habe keine Gesellen gesehen, und eine solche offenstehende Wohnung habe ich auch nicht bemerkt … Aber ich erinnere mich, daß im dritten Stockwerk« (er hatte die Falle jetzt vollständig erkannt und triumphierte) »ein Beamter aus seiner Wohnung auszog … gegenüber von Aljona Iwanownas Wohnung, … daran erinnere ich mich, … daran erinnere ich mich ganz deutlich; … Soldaten trugen ein Sofa hinaus und drückten mich dabei gegen die Wand; … aber Anstreicher, nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Anstreicher dagewesen wären, … und eine offenstehende Wohnung habe ich auch nirgends gesehen. Nein, nirgends …«

»Aber was redest du denn eigentlich, Porfirij!« rief Rasumichin, der sich nun auch besonnen und die Sache überlegt hatte. »Die Anstreicher haben ja doch am Tage des Mordes dort gearbeitet, und er war zwei Tage vorher da! Wie kannst du nur so fragen?«

»Donner ja! Das habe ich verwechselt!« rief Porfirij und schlug sich vor die Stirn. »Hol’s der Teufel, diese Geschichte macht mich noch ganz kopfverdreht!« mit diesen Worten wandte er sich, wie um Entschuldigung bittend, an Raskolnikow. »Es ist für uns von größter Wichtigkeit, zu erfahren, ob jemand die beiden Leute zwischen sieben und acht in der Wohnung gesehen hat, und da bildete ich mir jetzt eben ein, Sie könnten uns vielleicht Auskunft geben … Ich habe es rein verwechselt!«

»Man muß eben seine Gedanken mehr zusammennehmen«, bemerkte Rasumichin ingrimmig.

Diese letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesprochen. Porfirij Petrowitsch begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis an die Tür. Beide traten finster und mürrisch auf die Straße hinaus und sagten während der ersten Schritte kein Wort. Raskolnikow holte aus tiefster Brust Atem.

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Kapitel 2

II

Raskolnikow war an das Zusammensein mit einer größern Anzahl von Menschen nicht gewöhnt und mied, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, namentlich in der letzten Zeit. Aber jetzt fühlte er sich auf einmal zu den Menschen hingezogen. Es ging eine Art Wandlung in ihm vor, und zugleich machte sich bei ihm geradezu ein Durst nach menschlicher Gesellschaft spürbar. Er war von seiner nun schon einen ganzen Monat dauernden heftigen Unruhe und düstern Aufregung so erschöpft, daß er sich danach sehnte, wenigstens für einen Augenblick in einer andern Welt – mochte sie sein, wie sie wollte – aufzuatmen, und so blieb er denn jetzt trotz aller Unsauberkeit der Umgebung mit Vergnügen in der Kneipe sitzen.

Der Wirt hielt sich in einem andern Zimmer auf, kam aber häufig in den Hauptraum, zu dem er einige Stufen herabstieg. Dabei wurden zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit großen roten Stulpen sichtbar. Er trug einen langschößigen ärmellosen Überrock und eine furchtbar fettige schwarzseidene Weste; die Krawatte fehlte, und sein ganzes Gesicht schien wie ein eisernes Schloß mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; auch war noch ein andrer, jüngerer da, der den Gästen das Bestellte hintrug. An Speisen waren aufgestellt: in Scheiben geschnittene Gurken, schwarzer Zwieback und in kleine Bissen zerlegter Fisch; alles roch sehr übel. Es herrschte eine solche Schwüle, daß es geradezu unerträglich war, hier zu sitzen, und die gesamte Atmosphäre war derart mit Branntweindunst geschwängert, daß man schon allein von dieser Luft in fünf Minuten betrunken werden konnte.

Man begegnet mitunter ganz unbekannten Leuten, für die man sich auf den ersten Blick, plötzlich, ehe man noch ein Wort mit ihnen gesprochen hat, lebhaft interessiert. Einen derartigen Eindruck machte auf Raskolnikow jener Gast, der abseits saß und wie ein ehemaliger Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich in der Folgezeit öfters an diesen ersten Eindruck und führte ihn sogar auf eine Vorahnung zurück. Er sah den Beamten mit unverwandtem Blicke an, auch schon deswegen, weil auch dieser ihn starr anschaute und offenbar große Lust hatte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Die übrigen Menschen in der Kneipe, den Wirt eingeschlossen, waren dem Beamten jedenfalls ein gewohnter und recht langweiliger Anblick; er hatte für sie sogar einen leisen Ausdruck hochmütiger Geringschätzung, als seien sie Menschen von niedrigerer Stellung und tieferer Bildungsstufe, mit denen er nicht wohl reden könne. Er mochte schon über fünfzig Jahre alt sein, war von mittlerer Statur und stämmigem Körperbau, hatte ergrautes Haar und eine große kahle Stelle auf dem Kopf; sein Gesicht war von ständiger Trunkenheit aufgedunsen und sah gelb, ja grünlich aus; unter den geschwollenen Augenlidern glänzten aus schmalen Spalten kleine, aber sehr lebendige gerötete Augen hervor. Aber es war an ihm etwas Seltsames: in seinem Blicke lag eine Art von schwärmerischem Leuchten – auch Verstand und Klugheit mochte man darin finden –, aber gleichzeitig schimmerte es darin wie von Irrsinn. Bekleidet war er mit einem alten, vollständig zerrissenen schwarzen Frack, an dem die Knöpfe fehlten. Nur ein einziger Knopf saß noch notdürftig fest, und mit diesem hatte er das Kleidungsstück zugeknöpft, sichtlich bemüht, den Anstand zu wahren. Aus einer Nankingweste schaute ein ganz zerknittertes, beschmutztes und begossenes Vorhemd heraus. Er war, nach Art der Beamten, rasiert; jedoch mußte dies schon vor geraumer Zeit zum letzten Male geschehen sein, da das Gesicht von graublauen Stoppeln bereits wieder dicht bedeckt war. Auch in seinen Manieren lag tatsächlich etwas, was an einen gesetzten Beamten erinnerte. Aber er befand sich in starker Unruhe, wühlte sich im Haar, stemmte manchmal die zerrissenen Ellbogen auf den begossenen, schmierigen Tisch und stützte kummervoll den Kopf in beide Hände. Endlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und mit fester Stimme:

»Darf ich mir die Freiheit nehmen, mein Herr, mich mit einem anständigen Gespräche an Sie zu wenden? Denn obgleich Sie nach Ihrem Äußern nicht den Eindruck eines hochgestellten Mannes machen, so erkenne ich bei meiner Erfahrung doch in Ihnen einen gebildeten und des Trinkens ungewohnten Menschen. Ich habe eine mit edlen Charaktereigenschaften verbundene Bildung stets hochgeschätzt, und außerdem bin ich Titularrat. Mein Name ist Marmeladow, Titularrat. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie ein Amt bekleiden?«

»Nein, ich studiere«, antwortete der junge Mann, einigermaßen verwundert sowohl über diese sonderbare, hochtrabende Redeweise, als auch darüber, daß er so geradezu, so ohne weiteres angeredet worden war. Obgleich er noch soeben das Verlangen nach irgendwelchem Verkehr mit andern Menschen verspürt hatte, empfand er plötzlich bei dem ersten Worte, das nun wirklich an ihn gerichtet wurde, sein gewohntes unangenehmes und gereiztes Gefühl des Widerwillens gegen jeden Fremden, der mit ihm in Berührung kam oder dies auch nur zu beabsichtigen schien.

»Also ein Student oder ein ehemaliger Student!« rief der Beamte. »Hatte ich es mir doch gedacht! Ja, ja, die Erfahrung, mein Herr, die langjährige Erfahrung!« Und prahlerisch legte er einen Finger an die Stirn. »Sie waren Student, widmeten sich den Wissenschaften! Aber gestatten Sie …«

Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Manne, ihm schräg gegenüber. Er war betrunken, redete aber deutlich und fließend; nur ab und zu verwirrte er sich einmal und zog dann die Worte in die Länge. Mit einer gewissen Gier fiel er über Raskolnikow her, als hätte auch er einen ganzen Monat lang mit keinem Menschen gesprochen.

»Verehrter Herr«, begann er pathetisch, »Armut ist kein Laster; wahrlich, so ist es. Ich weiß, daß andrerseits die Trunksucht keine Tugend ist, und das ist noch richtiger. Aber das Bettelelend, mein Herr, das Bettelelend – das ist allerdings ein Laster. In der Armut bewahren Sie noch den Adel der angeborenen Empfindungen; aber im Bettelelend tut das niemand. Für Bettelelend wird man nicht einmal mit einem Stocke hinausgejagt, sondern, um die Beleidigung noch ärger zu machen, mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt. Und das mit Recht; denn beim Bettelelend bin ich selbst der erste, der bereit ist, mich zu beleidigen. Daher kommt dann das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gattin krumm und lahm geprügelt, und meine Gattin steht hoch über mir! Verstehen Sie wohl? … Gestatten Sie mir noch die Frage, nur so aus bloßer Neugier: haben Sie schon auf der Newa, auf den Heukähnen, übernachtet?«

»Nein, das ist mir noch nicht vorgekommen«, antwortete Raskolnikow. »Wieso?«

»Nun, mein Herr, ich komme von dort; ich habe schon fünf Nächte …«

Er füllte sein Glas, trank es aus und versank in Gedanken. Tatsächlich hingen an seinem Anzuge und sogar in seinen Haaren hier und da Heuhälmchen. Sehr wahrscheinlich, daß er sich fünf Tage lang weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Ganz besonders schmutzig waren die fettigen, roten Hände mit den schwarzen Fingernägeln.

Was er sagte, schien in dem Lokale eine allgemeine, aber nicht besonders lebhafte Aufmerksamkeit zu erregen. Die Knaben hinter dem Schenktische kicherten. Der Wirt war, wohl absichtlich, aus dem oberen Zimmer herabgekommen, um den »komischen Kerl« zu hören, hatte sich abseits hingesetzt und gähnte lässig, aber würdevoll. Offenbar war Marmeladow hier schon lange bekannt. Ja, auch seine Neigung zu hochtrabender Ausdrucksweise hatte sich wohl dadurch entwickelt, daß er gewohnt war, mit allen möglichen unbekannten Leuten in der Kneipe Gespräche zu führen. Diese Gewohnheit geht bei manchen Trinkern geradezu in ein Bedürfnis über, und namentlich bei solchen, mit denen zu Hause streng verfahren und kurzer Prozeß gemacht wird. Daher suchen sie, wenn sie mit andern Trinkern zusammen sind, sich zu rechtfertigen oder sich sogar womöglich die Achtung der andern zu erwerben.

»Du komischer Kerl!« sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du denn nicht, warum bist du denn nicht im Dienst, wenn du doch Beamter bist?«

»Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr«, entgegnete Marmeladow, indem er sich ausschließlich an Raskolnikow wendete, als ob dieser es wäre, der die Frage an ihn gerichtet hatte, »warum ich nicht im Dienste bin? Ist es mir denn nicht der größte Schmerz, daß ich mich so nutzlos umhertreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin prügelte und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht gelitten? Erlauben Sie eine Frage, junger Mann, ist es Ihnen schon einmal begegnet, daß Sie … hm … daß Sie ohne Hoffnung jemand baten, Ihnen Geld zu leihen?«

»O ja, … das heißt, was meinen Sie damit: ohne Hoffnung?«

»Nun, ich meine eben: völlig ohne Hoffnung, so daß man schon im voraus weiß, daß nichts dabei herauskommt. Ein Beispiel: Sie wissen bestimmt im voraus, daß dieser sehr gutgesinnte und überaus nützliche Bürger Ihnen unter keinen Umständen Geld geben wird; denn warum, frage ich, sollte er es tun? Er weiß ja, daß ich es ihm doch niemals wiedergebe. Etwa aus Mitleid? Aber Herr Lebesjatnikow, der alle neuen Ideen mit Interesse verfolgt, hat neulich erst erklärt, daß das Mitleid neuerdings sogar von der Wissenschaft verboten worden sei und daß man in England, wo die Nationalökonomie herrscht, bereits danach verfahre. Warum also, frage ich, sollte er Ihnen Geld geben? Und wohlgemerkt: obwohl Sie im voraus wissen, daß er Ihnen nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und …«

»Wozu soll man denn dann noch hingehen?« bemerkte Raskolnikow.

»Wenn aber niemand sonst da ist? Wenn Sie sonst nirgendwohin gehen können? Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen könnte. Denn es kommen Zeiten vor, wo man unbedingt irgendwohin gehen muß! Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit dem gelben Schein ging, da ging auch ich … Meine Tochter lebt nämlich mit dem gelben Schein«, fügte er als erklärende Einschaltung hinzu und blickte dabei den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Das macht nichts, verehrter Herr, das macht nichts!« beeilte er sich schleunigst und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem Schenktische losprusteten und selbst der Wirt lächelte. »Das macht nichts! Durch dieses ›Schütteln der Häupter‹ lasse ich mich nicht verwirren; denn alles ist schon längst allen bekannt, und ›es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde‹; und nicht mit Verachtung, sondern mit Demut tue ich dessen Erwähnung. Mögen sie, mögen sie! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie eine Frage, junger Mann: Sind Sie imstande … Aber nein, ich will mich stärker und bezeichnender ausdrücken: nicht sind Sie imstande, sondern wagen Sie, wenn Sie mich in diesem Augenblicke ansehen, die bestimmte Versicherung abzugeben, daß ich kein Lump bin?«

Der junge Mann erwiderte kein Wort.

Der Redner wartete zunächst, bis das Kichern, das wieder im Zimmer auf seine Worte gefolgt war, aufhörte, und fuhr dann erst gesetzt und diesmal sogar noch mit erhöhter Würde fort:

»Nun, mag ich immerhin ein Lump sein; sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie ein Stück Vieh; aber meine Gattin, Katerina Iwanowna, ist eine gebildete Person und als Tochter eines Stabsoffiziers geboren. Mag ich auch ein Schuft sein; aber sie ist ein hochherziges Weib und durch ihre Erziehung von edlen Gefühlen erfüllt. Und trotzdem … ach, wenn sie Mitleid mit mir hätte! Verehrter Herr, verehrter Herr, es müßte doch in der Welt so eingerichtet sein, daß jeder Mensch wenigstens eine Stelle hätte, wo man ihn bemitleidete! Indessen, Katerina Iwanowna ist zwar eine hochgesinnte Dame, aber ungerecht … Ich weiß freilich selbst sehr wohl, daß, wenn sie mich an den Haaren reißt, sie das lediglich aus mitleidigem Herzen tut (denn – ich wiederhole es ohne Verlegenheit –: sie reißt mich an den Haaren, junger Mann!« versicherte er in noch würdevollerem Tone, als er ein neues Gekicher hörte), »aber, mein Gott, wenn sie doch nur ein einziges Mal … Aber nein, nein! Das ist alles vergebens, und es hat keinen Zweck, davon zu sprechen! Gar keinen Zweck! Denn das, was ich soeben als Wunsch aussprach, ist schon mehrmals dagewesen, und ich bin mehrmals bemitleidet worden; aber … das ist nun einmal meine Natur so; ich bin ein geborenes Vieh!«

»Na, und ob!« bemerkte der Wirt gähnend.

Marmeladow schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.

»Das ist nun einmal meine Natur so! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, daß ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, denn das wäre ja noch so einigermaßen in der Ordnung, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Ihr Halstuch aus Baumwolle habe ich auch vertrunken (sie hat es einmal geschenkt bekommen, schon früher, es war ihr persönliches Eigentum und gehörte mir nicht), und dabei wohnen wir in einem kalten, kleinen Loche, und sie hatte sich in diesem Winter erkältet und angefangen zu husten, schon Blut zu husten. Wir haben drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna ist vom Morgen bis in die Nacht hinein bei der Arbeit; sie scheuert, sie wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von klein auf an Reinlichkeit gewöhnt; aber sie hat eine schwache Brust und Anlage zur Schwindsucht, und darüber gräme ich mich! Gräme ich mich etwa nicht darüber? Und je mehr ich trinke, desto mehr gräme ich mich. Darum eben trinke ich, weil ich aus diesem Getränke die Empfindungen des Mitleides und des Grames schöpfe … Ich trinke, weil ich doppelt leiden will!«

Wie in Verzweiflung neigte er den Kopf auf den Tisch.

als in ernstlicher Absicht … Denn Katerina Iwanowna hat nun einmal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, sei es auch vor Hunger, so schlägt sie sie sofort. Und da sah ich (es war so zwischen fünf und sechs), wie meine Sonjetschka aufstand, sich ein Tuch umband, ihre Pelerine anzog und die Wohnung verließ; und nach acht kam sie wieder zurück. Sie ging geradeswegs auf Katerina Iwanowna zu und legte stillschweigend dreißig Silberrubel vor ihr auf den Tisch. Kein einziges Wort sagte sie dabei, sie blickte nicht einmal auf; sie nahm nur unser großes grünes Tuch von drap de dame (wir haben so ein Tuch zu gemeinsamer Benutzung, von drap de dame), verhüllte sich damit vollständig den Kopf und das Gesicht und legte sich auf das Bett, mit dem Gesicht zur Wand; nur die kleinen Schultern und der ganze Körper zuckten immer … Ich aber lag wie vorher da, in demselben Zustande … Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, an Sonjas Bettchen trat und den ganzen Abend zu ihren Füßen auf den Knien lag, ihr die Füße küßte, nicht aufstehen wollte, und wie sie dann beide zusammen einschliefen, eng umschlungen …, beide …, beide …, ja …, und ich … ich lag betrunken da.«

Marmeladow schwieg, wie wenn ihm die Stimme versagte. Dann goß er hastig sein Glas voll, trank es aus und räusperte sich.

»Seit der Zeit, mein Herr«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, »seit der Zeit ist infolge eines einzigen bedauerlichen Falles und infolge einer Denunziation seitens böswilliger Personen (wobei Darja Franzowna besonders mitgewirkt hat, angeblich, weil man es ihr gegenüber an der gebührenden Achtung habe fehlen lassen), also seit der Zeit ist meine Tochter, Sofja Semjonowna, gezwungen, den gelben Schein zu nehmen, und konnte aus diesem Grunde nicht mehr bei uns wohnen bleiben. Denn unsre Wirtin, Amalia Fjodorowna, wollte es nicht dulden (und doch hatte sie früher die Bemühungen Darja Franzownas unterstützt), und auch Herr Lebesjatnikow … hm! … Sonja war ja auch der Anlaß gewesen, weswegen er die böse Geschichte mit Katerina Iwanowna hatte. Ursprünglich hatte er selbst sich an Sonja herangemacht, und nun auf einmal kehrte er sein Ehrgefühl heraus: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mann, mit so einer in derselben Wohnung leben?‹ Aber Katerina Iwanowna ließ es nicht zu, sondern nahm Sonja in Schutz, … nun, und so kam es also … Sonjetschka besucht uns jetzt meistens in der Dämmerstunde, hilft Katerina Iwanowna bei der Arbeit und versieht uns nach ihren Kräften mit Geldmitteln … Wohnen tut sie bei dem Schneider Kapernaumow; dem hat sie eine Stube abgemietet. Dieser Kapernaumow ist lahm und stottert, und seine ganze außerordentlich zahlreiche Nachkommenschaft stottert gleichfalls. Und seine Frau stottert auch … Sie hausen alle in einer einzigen Stube; aber Sonja hat ihr besonderes Zimmer, es ist abgetrennt … Hm, ja … Es sind ganz arme Leute, und sie stottern … ja … Sobald ich damals am Morgen aufgestanden war, zog ich meine Lumpen an, hob die Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanasjewitsch. Kennen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanasjewitsch? … Nein? Nun, dann kennen Sie einen gottwohlgefälligen Menschen nicht! Er ist geradezu Wachs … Wachs in der Hand des Herrn; weich wie Wachs wird er! … Er weinte sogar, nachdem er geruht hatte, alles anzuhören. ›Nun‹, sagte er, ›Marmeladow, einmal hast du schon meine Erwartungen getäuscht … Ich will dich noch einmal nehmen, auf meine persönliche Verantwortung‹, so drückte er sich aus. ›Denke daran‹, sagte er, ›und nun geh!‹ Ich küßte ihm den Staub von den Füßen, in Gedanken; denn in Wirklichkeit hätte er es nicht zugelassen, als hoher Würdenträger und Vertreter der neuen Ideen über Staat und Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich da erzählte, daß ich mein Amt wiedererhalten hätte und wieder Gehalt bekommen würde – o Gott, was da vor sich ging! …«

Marmeladow hielt abermals in großer Erregung inne. In diesem Augenblicke kam eine ganze Bande schon bezechter Trunkenbolde von der Straße herein, und am Eingange ertönten die Klänge eines Leierkastens, den sie mitgebracht hatten, und ein siebenjähriges Kind sang dazu mit seinem dünnen, kraftlosen Stimmchen »das Dörfchen«. Es ging laut her. Der Wirt und die Bedienung beschäftigten sich mit den neuen Gästen. Marmeladow fuhr, ohne sich um die Eingetretenen zu kümmern, in seiner Erzählung fort. Er schien schon sehr schwach geworden zu sein, aber zugleich mit seiner Trunkenheit wuchs auch seine Redseligkeit. Die Erinnerung an den Erfolg, den er kürzlich in bezug auf seine dienstliche Stellung gehabt hatte, machte ihn ordentlich lebendig und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte wie eine Art von leuchtendem Schimmer wider. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu.

»Dies begab sich vor fünf Wochen, mein Herr, … ja … Sowie die beiden, Katerina Iwanowna und Sonjetschka, das nur erfahren hatten, da war’s auf einmal, als ob ich in das Himmelreich versetzt wäre. Früher, wenn ich wie ein Stück Vieh dalag, hatte ich immer nur Schimpfwörter zu hören bekommen. Aber jetzt! Jetzt gingen sie auf den Zehen und ermahnten die Kinder zur Ruhe: ›Semjon Sacharowitsch ist müde vom Dienst und muß sich ausruhen; pst!‹ Morgens, ehe ich zum Dienst ging, bekam ich Kaffee zu trinken; Sahne wurde gekocht! Richtige Sahne beschafften sie, hören Sie nur! Und wie sie das Geld zu einem anständigen Dienstanzuge für mich aufbrachten, elf Rubel fünfzig Kopeken, das ist mir unbegreiflich. Stiefel, mehrere baumwollene Vorhemdchen, alles aufs feinste, eine herrliche Uniform, alles brachten sie für elf und einen halben Rubel zustande, und es sah vorzüglich aus. Am ersten Tage kam ich zum Mittag aus dem Dienste, und was sah ich: Katerina Iwanowna hatte zwei Gänge gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, woran früher nicht im entferntesten zu denken gewesen war. Kleider besitzt sie keine, nach Hause brachte, da hat sie mich Schnuckchen genannt. ›Du mein Schnuckchen!‹ hat sie gesagt. Und wir beide waren ganz allein, verstehen Sie wohl? Nun, hübsch bin ich doch wahrhaftig nicht und ein guter Gatte auch nicht. Aber in die Backe hat sie mich gekniffen, und ›Du mein Schnuckchen!‹ hat sie zu mir gesagt.«

Marmeladow hielt inne und machte einen Versuch zu lächeln, aber auf einmal begann sein Kinn unwillkürlich auf und nieder zu gehen. Indessen behielt er sich in der Gewalt. Diese Kneipe, das verlotterte Aussehen des Mannes, die fünf Nächte auf den Heukähnen und die Branntweinflasche auf der einen Seite und auf der ändern diese grenzenlose Liebe zu seiner Frau und zu seiner Familie – das verwirrte den Zuhörer völlig. Raskolnikow hörte aufmerksam zu, aber mit einer krankhaften Empfindung. Er bedauerte, hier eingekehrt zu sein.

»Verehrter Herr, verehrter Herr!« rief Marmeladow, als er sich wieder gefaßt hatte. »O mein Herr, das alles kommt vielleicht Ihnen, gerade wie so vielen andern, einfach lächerlich vor, und Sie empfinden meine dumme Erzählung von all diesen kläglichen Einzelheiten meines häuslichen Lebens lediglich als Belästigung; aber mir ist es nicht lächerlich! Denn ich habe für all das eine tiefe Empfindung… Und jenen ganzen paradiesischen Tag meines Lebens und jenen ganzen Abend schwelgte ich in hochfliegenden Plänen, wie ich nämlich das alles einrichten würde und den Kinderchen Kleider kaufen und ihr ein ruhiges Dasein ermöglichen und meine einzige Tochter aus dem Leben der Schande wieder in den Schoß der Familie zurückführen würde… Und so noch vieles, vieles… Das durfte ich mir ja erlauben, mein Herr. Nun, mein Herr«, hier fuhr Marmeladow auf einmal zusammen, hob den Kopf und blickte seinem Zuhörer gerade ins Gesicht, »nun, am andern Tage, nach all diesen wonnigen Träumereien (jetzt ist es gerade fünf Tage her), gegen Abend, entwendete ich durch eine listige Täuschung, wie ein Dieb in der Nacht, meiner Frau den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm heraus, was von dem heimgebrachten Gehalte noch übrig war (wieviel es war, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen) – und nun sehen Sie mich an! Alle mögen mich ansehen! Seit fünf Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen, und da suchen sie nun nach mir, und mit dem Dienst ist’s zu Ende, und meine Uniform liegt in einer Schenke an der Ägyptischen Brücke als Pfand, und stattdessen habe ich diese Kleider bekommen, … und alles ist aus!«

Marmeladow schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, preßte die Zahne aufeinander, schloß die Augen und stützte sich heftig mit dem Ellbogen auf den Tisch. Aber einen Augenblick darauf veränderte sich sein Gesicht wieder; mit gekünstelter Schlauheit und gemachter Frechheit blickte er Raskolnikow an, lachte auf und sagte:

»Aber heute bin ich bei Sonja gewesen und habe sie um Geld zum Weitertrinken gebeten! He, he, he!«

»Hat sie dir wirklich was gegeben?« schrie einer von den kurz vorher eingetretenen Gästen und lachte aus vollem Halse.

»Die Flasche, die Sie hier sehen, ist für ihr Geld gekauft«, erwiderte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken hat sie mir herausgebracht, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte; ich habe es selbst gesehen… Kein Wort hat sie dabei gesagt, sondern mich nur schweigend angesehen… Das war schon nicht mehr, wie’s auf Erden zugeht, sondern wie im Jenseits,… daß man sich über jemand grämt und über ihn weint, aber ihm keinen Vorwurf macht, keinen Vorwurf! Das schmerzt noch mehr, wenn man keine Vorwürfe hört!… Dreißig Kopeken, ja. Und sie hat sie doch jetzt selbst nötig, nicht wahr? Was meinen Sie wohl, mein lieber Herr? Sie muß doch jetzt auf Sauberkeit bedacht sein. Und diese Sauberkeit kostet Geld, so eine besondere Sauberkeit, verstehen Sie wohl? Verstehen Sie wohl? Da muß sie sich Pomade kaufen, das ist nun einmal erforderlich, gestärkte Unterröcke, solche kleinen Stiefelchen, recht kokette, um das Füßchen zu zeigen, wenn sie einmal eine Pfütze zu überschreiten hat. Verstehen Sie wohl, verstehen Sie wohl, mein Herr, was es mit dieser Sauberkeit für eine Bewandtnis hat? Und nun sehen Sie: ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken abgenommen, um weitertrinken zu können! Und ich trinke dafür, ich habe sie schon vertrunken! Na, wer kann mit einem solchen Menschen, wie ich bin, noch Mitleid haben? He? Bedauern Sie mich jetzt, mein Herr, oder nicht? Antworten Sie, mein Herr, ob Sie mich bedauern oder nicht! Ha-ha-ha-ha!“

Er wollte sich noch einmal einschenken; aber es war nichts mehr da – die Flasche war leer.

»Warum soll man dich auch noch bedauern?“ rief der Wirt, der sich gerade wieder in ihrer Nähe befand.

Gelächter erscholl, auch Schimpfwörter. Wer zugehört hatte, lachte und schimpfte, und auch diejenigen, die nicht zugehört hatten, schlossen sich an, schon beim bloßen Anblicke der Gestalt des früheren Beamten.

»Bedauern! Wozu soll man mich bedauern!“ heulte Marmeladow weinerlich auf. Er erhob sich plötzlich und streckte in stärkstem Affekt den Arm nach vorn aus, als ob er nur auf diese Worte gewartet hätte. »Warum man mich bedauern soll, sagst du? Ja, ich verdiene kein Mitleid. Kreuzigen sollte man mich, kreuzigen, aber nicht bedauern! Kreuzige, Richter, kreuzige, und nachher bemitleide den Gekreuzigten! Dann will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen; denn ich lechze nicht nach Freuden, sondern nach Leid und Tränen!… Meinst du, Schankwirt, daß deine Flasche Schnaps mir ein Genuß war? Leid, Leid habe ich auf ihrem Grunde gesucht, Leid und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; Mitleid aber wird mit uns der haben, der mit allen Mitleid hat und alle und alles versteht, er, der Einzige, er wird Richter sein. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ,Wo ist die Tochter, die sich um der bösen, schwindsüchtigen Stiefmutter und der fremden Kinderchen willen zum Opfer gebracht hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, einem verkommenen Trunkenbolde, Mitleid hatte, ohne vor seiner Verrohung zu erschrecken?‹ Und er wird sagen: ›Komm her zu mir! Ich habe dir schon damals vergeben … dir schon damals vergeben. Vergeben wird dir auch jetzt deiner Sünden Menge, denn du hast viel geliebt …‹ Und er vergibt meiner Sonja, er vergibt ihr; ich weiß, daß er ihr vergibt … Das habe ich noch eben erst, als ich heute bei ihr war, in meinem Herzen gefühlt! … Und alle wird er richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Einfältigen … Und wenn er dann mit allen fertig sein wird, dann wird er auch zu uns sprechen: ›Kommet her‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommet her, ihr Säufer, kommet her, ihr Willensschwachen, kommet her, ihr Schamlosen.‹ Und wir werden alle kommen, ohne Scheu, und vor ihn hintreten. Und er wird sagen: ›Schweine seid ihr, Ebenbilder des Viehes; aber kommet auch ihr zu mir!‹ Da werden die Weisen und die Klugen sprechen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird sagen: ›Darum nehme ich sie auf, ihr Weisen, darum nehme ich sie auf, ihr Klugen, weil auch nicht einer von ihnen sich dessen selbst für würdig gehalten hat …‹ Und er wird uns seine Hände entgegenstrecken, und wir werden vor ihm niederfallen … und werden weinen … und werden alles verstehen! Dann werden wir alles verstehen! … Und alle werden es verstehen, … auch Katerina Iwanowna, … auch die wird es verstehen! … Herr, dein Reich komme!«

Kraftlos und erschöpft sank er auf die Bank nieder; er blickte niemand an, als hätte er seine ganze Umgebung vergessen und wäre tief in Gedanken versunken. Seine Worte hatten einigermaßen Eindruck gemacht; ein kleines Weilchen herrschte Schweigen; aber bald erscholl wieder das frühere Lachen und Schimpfen.

»Das war mal fein geredet!«

»So ’n Quatsch!« »Das ist nun ein Beamter!« Und so weiter und so weiter.

»Kommen Sie, wir wollen gehen, mein Herr«, sagte Marmeladow plötzlich, indem er den Kopf hob und sich an Raskolnikow wandte, »begleiten Sie mich… Ich wohne im Koselschen Hause, auf dem Hofe. Es wird Zeit, daß ich… zu Katerina Iwanowna…“

Raskolnikow hatte schon lange beabsichtigt fortzugehen und auch selbst daran gedacht, ihm behilflich zu sein. Es stellte sich heraus, daß Marmeladow auf den Beinen erheblich schlechter war als mit dem Mund, und er lehnte sich mit seinem ganzen Gewichte auf den jungen Mann. Sie hatten nur zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je näher sie dem Hause kamen, um so unruhiger und ängstlicher wurde der Säufer.

»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna«, murmelte er in großer Aufregung, »auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren reißen wird. Was macht das schon!… Auf die Haare kommt es nicht an!… Das ist meine aufrichtige Meinung! Es ist sogar besser, wenn sie mich an den Haaren reißt, und davor fürchte ich mich weiter nicht… Wovor ich mich fürchte, das sind ihre Augen, …ja,… ihre Augen… Die roten Flecke auf ihren Backen, vor denen fürchte ich mich auch,… und dann noch… vor ihrem Atem fürchte ich mich. Haben Sie schon einmal gesehen, wie die Menschen bei dieser Krankheit atmen, wenn sie sich aufregen? Auch vor dem Weinen der Kinder fürchte ich mich. Denn wenn Sonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, dann… weiß ich gar nicht, wie es geworden sein mag! Aber vor Schlägen fürchte ich mich nicht… Sie können mir glauben, mein Herr, daß mir solche Schläge nicht nur kein Schmerz, sondern eine wahre Wonne sind. Denn das ist mir selbst geradezu ein Bedürfnis. Es ist besser so. Mag sie mich schlagen, das macht ihr das Herz leichter… Es ist besser so… Aber da ist das Haus, das Koselsche Haus. Herr Kosel ist Schlosser, ein reicher Deutscher … Kommen Sie mit!«

Sie traten auf dem Hofe in eine Tür und stiegen zum dritten Stockwerke hinauf. Je weiter sie kamen, um so dunkler wurde die Treppe. Es war schon beinahe elf Uhr, und obgleich es um diese Stunde in Petersburg zur Sommerzeit noch nicht wirklich Nacht ist, so war doch die Treppe oben sehr dunkel.

Eine kleine, vom Rauche geschwärzte Tür am Ende der Treppe, ganz oben, stand offen. Ein Lichtstummel erleuchtete ein überaus ärmliches, etwa zehn Schritt langes Zimmer; man konnte es vom Flur aus ganz übersehen. Allerlei Sachen lagen darin unordentlich herum, namentlich zerlumpte Kinderkleider. Hinten hing vor einer Ecke als Vorhang ein löcheriges Bettlaken; dahinter stand wahrscheinlich ein Bett. Im Zimmer selbst befanden sich nur zwei Stühle und ein mit Wachstuch bezogenes, sehr zerrissenes Sofa, vor dem ein alter fichtener Küchentisch, ohne Anstrich und ohne Decke, stand. Auf dem Rande des Tisches brannte in einem Blechleuchter ein Endchen Talglicht. Marmeladow bewohnte also mit seiner Familie ein besonderes Zimmer und nicht, wie er vorher gesagt hatte, eine bloße Schlafstelle; aber es war ein Durchgangszimmer. Die Tür nach den übrigen Räumen oder richtiger Käfigen, in welche Amalia Lippewechsel ihre Wohnung parzelliert hatte, stand ein wenig offen. Dort ging es geräuschvoll und lärmend zu; fortwährend wurde gelacht. Anscheinend spielte man dort Karten und trank Tee. Manchmal waren sehr ungenierte Ausdrücke zu hören.

Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine schrecklich abgemagerte Frau, schlank, recht groß und wohlgebaut, mit noch immer schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen traten wirklich die roten Flecke stark hervor. Sie ging in ihrem kleinen Zimmer hin und her, die Arme gegen die Brust gepreßt, mit glühenden Lippen; ihr Atem ging ungleich und stoßweise. wie wenn sie überlegte: warum ist denn der hereingekommen? Aber es kam ihr wohl sofort die Vermutung, daß er nach den anderen Zimmern wolle, da ja das ihrige ein Durchgangszimmer war. In dieser Meinung beachtete sie ihn gar nicht weiter, sondern ging zu der Flurtür, um sie zu schließen; da schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren Mann knien sah.

»Ah!« schrie sie in höchster Wut. »Da bist du ja wieder! Du Kanaille, du Unmensch!… Und wo ist das Geld? Wieviel hast du noch in der Tasche, zeige mal her! Und das sind ja auch andere Kleider! Wo ist dein Anzug? Wo ist das Geld? Sprich!«

Sie stürzte auf ihn zu, um ihn zu untersuchen. Marmeladow streckte sofort gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um dadurch die Untersuchung seiner Taschen zu erleichtern. Geld war auch nicht eine Kopeke darin zu finden.

»Wo ist das Geld?« kreischte sie. »O Gott, hat er wirklich alles vertrunken? Es lagen doch noch zwölf Rubel im Kasten! …«

Und plötzlich packte sie ihn in ihrer Raserei bei den Haaren und zog ihn ins Zimmer hinein. Marmeladow selbst erleichterte ihr diese Anstrengung, indem er demütig auf den Knien hinter ihr herkroch.

»Das ist mir eine Wonne! Das ist mir nicht ein Schmerz, sondern eine Won-ne,… ver-ehr-ter… Herr!« rief er, während er an den Haaren vorwärtsgeschleppt wurde und sogar einmal mit der Stirn auf die Diele aufschlug.

Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, wachte auf und fing an zu weinen. Der Knabe in der Ecke konnte sich nicht länger beherrschen, ein Zittern durchlief ihn; er schrie auf und klammerte sich in furchtbarem Schreck an seine Schwester; es sah fast wie ein Krampfanfall aus. Das älteste Mädchen bebte wie Espenlaub.

»Er hat es vertrunken! Alles hat er vertrunken, alles!« schrie das arme Weib in heller Verzweiflung. »Auch sein Anzug ist fort. Und die da hungern!« Sie wies händeringend auf die Kinder. »O dieses dreimal verfluchte Leben! Und Sie, schämen Sie sich denn gar nicht?« fuhr sie plötzlich auf Raskolnikow los. »Aus der Kneipe! Du hast mit ihm getrunken? Freilich hast du mit ihm getrunken. Raus!«

Der junge Mann ging eiligst fort, ohne ein Wort zu erwidern. Zudem war inzwischen die innere Tür weit geöffnet worden, und einige Neugierige blickten von dort herein. Freche, lachende Gesichter mit Zigaretten und Pfeifen im Munde und Käppchen auf dem Kopf schoben sich vor. Es zeigten sich Gestalten in ganz offenstehenden Schlafröcken, in unanständig leichter, sommerlicher Kleidung; manche hielten Karten in den Händen. Besonders vergnügt lachten sie, als Marmeladow, während er an den Haaren gezerrt wurde, rief, daß ihm das eine Wonne sei. Sie schickten sich sogar schon an, ins Zimmer einzudringen; da erscholl ein unheilverkündendes Kreischen, und Amalia Lippewechsel selbst drängte sich nach vorn, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Male die arme Frau unter Schimpfworten durch den Befehl zu erschrecken, sie solle morgen die Wohnung räumen. Beim Hinausgehen fuhr Raskolnikow noch schnell mit der Hand in die Tasche, ergriff von den Kupfermünzen, die er in der Kneipe auf den gewechselten Rubel herausbekommen hatte, so viele, wie ihm in die Finger kamen, und legte sie unbemerkt auf das Fensterbrett. Als er dann bereits auf der Treppe war, tat es ihm wieder leid, und er war nahe daran, umzukehren.

»Was habe ich da für eine Dummheit gemacht«, dachte er. »Die haben ja ihre Sonja, und ich habe das Geld ja selbst nötig.« Aber er sagte sich, daß es nicht mehr möglich sei, das Geld wieder zurückzunehmen, und daß er es, selbst wenn es möglich wäre, doch nicht tun würde, machte eine Handbewegung, als sei die Sache nun abgetan, und ging nach seiner Wohnung. »Sonja braucht ja doch auch Pomade«, fuhr er fort, während er auf der Straße dahinschritt, und lächelte dabei bitter. ›Diese Sauberkeit kostet Geld … hm! Aber vielleicht tritt bei der braven Sonja selbst heute Ebbe ein; denn der Erfolg ist bei ihrem Geschäft ebenso unsicher wie bei der Jagd auf Rotwild oder beim Goldgraben. Und dann würden sie ohne dieses Geld von mir morgen alle auf dem Trockenen sitzen … Ei ja, diese Sonja! Was für einen schönen Brunnen haben sie sich da doch zu graben verstanden! Und sie benutzen ihn! Erst haben sie ein bißchen geweint, und dann haben sie sich daran gewöhnt. Der Mensch ist eben ein Schuft und gewöhnt sich an alles!‹

Er versank in Nachdenken.

»Nun, wenn es aber nicht wahr ist«, rief er plötzlich unwillkürlich aus, »wenn der Mensch kein Schuft ist (der Mensch, das heißt das ganze Menschengeschlecht): so folgt daraus, daß alles übrige nur leere, vorgefaßte Meinung ist, lediglich eitle Schreckgebilde, und daß es keinerlei Schranken gibt. Und so wird das auch richtig und in der Ordnung sein …«

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Kapitel 20

VI

»Ich glaube es nicht! Das kann ich nicht glauben!« rief der bestürzte Rasumichin einmal über das andere und bemühte sich mit größter Energie, Raskolnikows Argumente zu widerlegen.

Sie näherten sich bereits dem Hotel garni von Bakalejew, wo Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie schon lange erwarteten.

Rasumichin blieb im Eifer des Gespräches unterwegs alle Augenblicke stehen; er war schon allein dadurch verwirrt und erregt, daß sie zum ersten Male »darüber« unverblümt gesprochen hatten.

»Nun, dann glaube es nicht!« antwortete Raskolnikow mit kaltem, lässigem Lächeln. »Du hast, wie das deine Art ist, nichts gemerkt; aber ich habe jedes Wort auf die Waagschale gelegt.«

»Du bist argwöhnisch; darum hast du das getan … Hm … allerdings, das muß ich zugeben, Porfirijs Ton war recht seltsam; und nun besonders dieser Schuft, der Sametow! … Du hast recht, er hatte irgend etwas; aber warum, warum?«

»Er ist über Nacht zu einer andern Ansicht gekommen.«

»Aber es ist doch nicht möglich, nicht möglich! Wenn sie diesen hirnlosen Gedanken wirklich hätten, so würden sie sich aus aller Kraft bemühen, ihn zu verbergen und ihre Karten verdeckt zu halten, um dich nachher um so leichter zu fangen … Aber so wie jetzt – das wäre ja frech und unvorsichtig!«

»Wenn sie Tatsachen hätten, ich meine wirkliche Tatsachen, oder auch nur einigermaßen ins Gewicht fallende Verdachtsgründe, dann würden sie allerdings ihr Spiel zu verbergen suchen, in der Hoffnung, noch mehr zu gewinnen (übrigens hätten sie dann auch schon längst Haussuchung bei mir gehalten). Aber sie haben keine Tatsachen, keine einzige; alles ist Hirngespinst, alles läßt eine doppelte Deutung zu, die ganze Idee schwebt in der Luft – darum versuchen sie eine Überrumpelung durch Unverschämtheit. Vielleicht ist er auch selbst wütend darüber, daß er keine Tatsachen hat, und hat sich von seinem Ärger hinreißen lassen. Vielleicht aber hatte er dabei eine besondere Absicht … Er scheint ein kluger Mann zu sein … Vielleicht wollte er mich damit erschrecken, daß er zeigte, er wisse etwas. Da liegen eigenartige psychologische Fragen vor, Bruder … Übrigens ist es ekelhaft, dies alles zu erörtern. Wir wollen davon aufhören!«

»Ekelhaft, ja, und auch beleidigend, geradezu beleidigend! Ich kann es dir nachfühlen! Aber … da wir nun doch einmal jetzt mit klaren Worten darüber reden (und es ist gut, daß wir das endlich tun; ich freue mich darüber), so will ich dir nun offen bekennen, daß ich schon lange diesen Gedanken bei ihnen gespürt habe, diese ganze Zeit über, selbstverständlich nur wie etwas kaum Wahrnehmbares, am Boden Schleichendes. Aber wie können sie, auch nur in dieser Form, so etwas denken? Wie können sie sich erdreisten? Wie in aller Welt sind sie auf eine solche Vorstellung gekommen? Wenn du wüßtest, wie wütend ich war! Wie? Deswegen, weil ein armer Student, durch Armut und Hypochondrie mürbe geworden, unmittelbar vor dem Ausbruch einer schweren Krankheit mit Fieberphantasien stehend, einer Krankheit, die (wohl zu beachten!) vielleicht innerlich bereits begonnen hat, ein argwöhnischer, ehrliebender Mensch, der sich seines eigenen Wertes bewußt ist und der sechs Monate lang in seinem einsamen Winkel keinen Menschen gesehen hat – seine Kleider sind zerlumpt, seine Stiefel haben keine Sohlen; er steht vor allerlei Polizisten da und muß sich ihre Schimpferei gefallen lassen; dazu soll er noch eine Schuld, an die er mit keinem Gedanken mehr gedacht hat, bezahlen, einen verfallenen Schuldschein dieses Hofrats Tschebarow; ferner der üble Geruch der Farbe, dreißig Grad Reaumur, die eingeschlossene, drückende Luft, ein Haufen Menschen, die Erzählung von der Ermordung einer Person, bei der er noch kurz vorher gewesen war, und all das bei hungrigem Magen! Ja, wie soll einer dabei nicht in Ohnmacht fallen! Wie kann man darauf, darauf allein einen solchen Verdacht gründen! Donnerwetter! Ich verstehe, daß man sich darüber ärgern kann; aber an deiner Stelle, Rodja, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen oder noch besser: ihnen allen in die Visage spucken, aber kräftig, und dann würde ich noch nach allen Seiten ein paar Dutzend Ohrfeigen austeilen, mit Verstand, wie man Ohrfeigen stets verabreichen muß, und damit wäre die Sache erledigt. Scher dich nicht drum! Kopf hoch! Es ist eine Schande!«

›Das hat er aber wirklich vorzüglich auseinandergesetzt!‹ dachte Raskolnikow.

»Ich soll mich nicht darum scheren, sagst du? Und morgen ist wieder ein Verhör!« erwiderte er mit Bitterkeit.

»Soll ich mich denn diesen Menschen gegenüber auf Erklärungen einlassen? Ich ärgere mich schon darüber, daß ich mich gestern in dem Restaurant zu einem Sametow herabgelassen habe …«

»Hol’s der Teufel! Ich will selbst zu Porfirij hingehen und meinen lieben Verwandten mal energisch vornehmen. Er soll seinen Hirnkasten vor mir völlig ausräumen! Und diesen Sametow …«

›Endlich verfällt er auf den Richtigen!‹ dachte Raskolnikow.

»Halt!« rief Rasumichin plötzlich und packte ihn an der Schulter. »Halt! Du hast dich geirrt! Ich habe es mir überlegt: du hast dich geirrt! Wie kann denn das eine Falle gewesen sein? Du sagst, die Frage nach den Gesellen wäre eine Falle gewesen? Denk doch nur nach: wenn du die Tat begangen hättest, würdest du dich dann verraten und sagen, du hättest die Gesellen gesehen, und daß die Wohnung gestrichen wurde? Im Gegenteil: du würdest behaupten, nichts gesehen zu haben, auch wenn du etwas gesehen hättest. Wer wird sich denn durch Geständnisse selbst beschuldigen?«

»Hätte ich die Tat begangen, so würde ich unbedingt sagen, daß ich die Gesellen und die Wohnung gesehen hätte«, antwortete Raskolnikow nur ungern und mit sichtlichem Widerwillen.

»Aber warum würdest du denn gegen dich selbst aussagen?«

»Weil nur simple Bauern oder ganz unerfahrene Neulinge beim Verhör alles der Reihe nach schlankweg in Abrede stellen. Wer nur einigermaßen geistige Bildung und Erfahrung besitzt, der ist unbedingt darauf bedacht, alle äußerlichen Tatsachen, die er nicht aus der Welt schaffen kann, zuzugeben; nur erfindet er dafür andere Ursachen, er bringt eine selbstersonnene, besondere, überraschende Nuance hinein, die ihnen eine völlig andere Bedeutung verleiht und sie in eine ganz andere Beleuchtung rückt. Porfirij konnte darauf rechnen, daß ich, zum Zwecke größerer Glaubhaftigkeit, jedenfalls in dieser Weise antworten und jedenfalls sagen würde, ich hätte sie gesehen, und daß ich dabei irgend etwas zur Erklärung hinzufügen würde …«

»Dann hätte er dir allerdings sofort gesagt, daß zwei Tage vor der Tat keine Gesellen dagewesen sein könnten und daß du folglich gerade am Tage des Mordes zwischen sieben und acht Uhr dagewesen sein müßtest. So hätte er dich mittels dieser Kleinigkeit überrumpelt.«

»Er rechnete auch darauf, daß ich es mir in der Geschwindigkeit nicht würde überlegen können und mich gerade um der größeren Glaubwürdigkeit willen beeilen würde, zu antworten, und dabei vergessen würde, daß zwei Tage vor der Tat die Gesellen nicht da sein konnten.«

»Aber wie könnte man denn so etwas vergessen?«

»Das ist sehr leicht möglich! Gerade mittels solcher ganz geringfügigen Dinge lassen sich auch schlaue Leute am leichtesten überrumpeln. Je schlauer jemand ist, um so weniger argwöhnt er, daß man ihn mit einem so einfachen Mittel fangen werde. Dem Schlauesten Menschen muß man gerade mit dem einfachsten Mittel zu Leibe gehen. Porfirij ist gar nicht so dumm, wie du denkst …«

»Ein Schuft ist er, wenn er sich so benommen hat.«

Unwillkürlich mußte Raskolnikow lachen. Aber gleichzeitig erschien es ihm merkwürdig, mit welcher Lebhaftigkeit und mit welchem Eifer er diese letzte Erörterung durchgeführt hatte, während er doch bei dem ganzen vorhergehenden Teile des Gespräches nur mit finsterem Widerwillen, nur um des Zweckes willen, nur aus Notwendigkeit mitgeredet hatte.

›Ich fange an, Geschmack an derartigen Themen zu finden!‹ dachte er bei sich.

Aber fast im gleichen Augenblicke wurde er unruhig, als sei ihm ein unerwarteter, aufregender Gedanke gekommen. Seine Unruhe stieg immer mehr. Sie waren schon am Eingange zu dem Bakalejewschen Hotel garni angelangt.

»Geh allein hinein«, sagte Raskolnikow plötzlich. »Ich komme gleich wieder.«

»Wohin willst du denn noch? Wir sind ja schon da!«

»Ich muß noch einmal fort, dringend; ich habe noch etwas zu erledigen … In einer halben Stunde bin ich wieder zurück. … Sage es denen da drin.«

»Na, wenn du durchaus willst; aber ich gehe mit!«

»Willst du mich auch noch martern!« rief Raskolnikow mit so bitterer Gereiztheit im Tone und solcher Verzweiflung im Blicke, daß Rasumichin erstaunt die Arme sinken ließ. Er blieb noch ein Weilchen auf den Stufen vor der Haustür stehen und sah mit finsterer Miene, wie jener schnellen Schrittes nach der Gasse zu ging, in der er wohnte. Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Fäuste, schwur, er wolle heute noch den ganzen Porfirij wie eine Zitrone ausquetschen, und ging dann hinauf, um Pulcheria Alexandrowna, die sich schon über das lange Ausbleiben der beiden ängstigte, zu beruhigen.

Als Raskolnikow bei seinem Hause anlangte, waren seine Schläfen feucht von Schweiß, und er atmete nur mühsam. Eilig lief er die Treppe hinauf, ging in sein unverschlossenes Zimmer und legte sogleich von innen den Riegel vor. Dann stürzte er erschreckt und wie von Sinnen nach jener Ecke hin, zu dem Loch in der Tapete, wo vorher die Pfandstücke versteckt gewesen waren, steckte die Hand hinein, scharrte einige Minuten lang sorgsam in dem Loche umher und betastete alle Winkel und Falten der Tapete. Als er nichts gefunden hatte, stand er auf und holte tief Atem. Kurz vorher nämlich, während er sich bereits der Haustür von Bakalejew näherte, hatte er sich plötzlich eingebildet, es könnte irgendein Wertgegenstand, irgendein goldenes Kettchen etwa oder auch ein Hemdknöpfchen oder sogar ein Stück Papier, in das sie eingewickelt waren, mit einer Notiz von der Hand der alten Frau, ihm damals auf irgendeine Weise entglitten sein und sich in einer Ritze verkrochen haben, und es könnte dies dann auf einmal als überraschender, unwiderleglicher Beweis gegen ihn ans Licht kommen.

Er stand tief in Gedanken verloren da, und ein seltsames, demütiges, gedankenloses Lächeln spielte um seine Lippen. Schließlich griff er nach seiner Mütze und ging still aus dem Zimmer. Seine Gedanken gerieten in Verwirrung. In sich gekehrt, trat er unter den Torweg.

»Da ist ja der Herr selbst!« rief eine laute Stimme.

Er hob den Kopf.

Der Hausknecht stand an der Tür seiner Kammer und wies mit dem Finger gerade auf ihn, um ihn einem Manne von kleiner Statur zu zeigen, der wie ein Kleinbürger aussah und eine Art Schlafrock und Weste trug, so daß er von weitem große Ähnlichkeit mit einem alten Weibe hatte. Sein Kopf, auf dem eine schmierige Mütze saß, hing tief herunter, und die ganze Gestalt war wie verkrümmt. Das welke, runzlige Gesicht deutete darauf hin, daß er wohl fünfzig Jahre alt sein mochte; die kleinen, tränenden Augen hatten einen ingrimmigen, strengen, mißvergnügten Blick.

»Was gibt es?« fragte Raskolnikow und trat zu dem Hausknechte hin.

Der Kleinbürger schielte unter den Brauen nach ihm hin und nahm sich Zeit, ihn starr und aufmerksam zu betrachten; dann drehte er sich langsam um und ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Torwege auf die Straße.

»Ja, was gibt es denn?« rief Raskolnikow.

»Da fragte einer, ob hier ein Student wohnte, und er nannte Ihren Namen und wollte wissen, bei wem Sie wohnten. Da kamen Sie gerade herunter, und ich zeigte Sie ihm; aber er ist wieder weggegangen. Na, so was!«

Auch der Hausknecht war einigermaßen verwundert, indes nicht übermäßig, und nach kurzem Besinnen drehte er sich um und ging wieder in seine Kammer.

Raskolnikow eilte dem Kleinbürger nach und erblickte ihn auch sogleich, wie er auf der andern Seite der Straße mit demselben gleichmäßigen, langsamen Schritte wie vorher dahinging; die Augen hielt er auf den Erdboden gerichtet, als ob er über etwas nachsänne. Er hatte ihn bald eingeholt, ging aber eine Weile hinter ihm her; endlich trat er neben ihn und sah ihm von der Seite her ins Gesicht. Dieser bemerkte ihn sofort, warf ihm einen schnellen Blick zu, schlug dann aber wieder die Augen nieder, und so gingen sie etwa eine Minute lang nebeneinander her, ohne ein Wort zu reden.

»Sie haben sich nach mir bei dem Hausknecht erkundigt?« sagte Raskolnikow endlich, aber merkwürdig leise.

Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht einmal an. Beide schwiegen wieder.

»Was wollen Sie denn von mir? … Erst kommen Sie und fragen nach mir, … und nun schweigen Sie … Was soll denn das bedeuten?« Die Stimme gehorchte ihm nicht recht, und die Worte wollten gar nicht klar und deutlich klingen.

Diesmal hob der Kleinbürger den Kopf und sah Raskolnikow mit haßerfülltem, finsterem Blicke an.

»Mörder!« sagte er auf einmal leise, aber klar vernehmlich.

Noch immer ging Raskolnikow neben ihm. Die Beine wurden ihm auf einmal entsetzlich schwach, ein Frostgefühl lief ihm über den Rücken, und das Herz schien einen Augenblick lang auszusetzen; dann begann es plötzlich so heftig zu pochen, als hätte es sich in seiner Brust losgerissen. So gingen sie etwa hundert Schritte, wieder völlig stumm, einer neben dem andern.

Der Kleinbürger sah ihn nicht an.

»Aber wie können Sie … wie können Sie so etwas sagen? Wer ist ein Mörder?« murmelte Raskolnikow kaum hörbar.

»Du bist ein Mörder!« erwiderte jener noch deutlicher und nachdrücklicher, mit dem Lächeln eines triumphierenden Feindes, und blickte wieder unverwandt in Raskolnikows bleiches Gesicht und in seine erstorbenen Augen.

Beide waren nun zu einer Straßenkreuzung gelangt. Der Kleinbürger bog in die links abzweigende Straße ein und ging weiter, ohne sich umzublicken. Raskolnikow blieb auf dem Flecke stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener, nachdem er schon etwa fünfzig Schritt weiter gegangen war, sich umdrehte und ihn, der immer noch regungslos an derselben Stelle stand, anblickte. Seine Gesichtszüge konnte Raskolnikow nicht mehr deutlich unterscheiden; aber es schien ihm, als stehe auf seinem Gesichte auch diesmal jenes Lächeln eines kalten Hasses und höhnischen Triumphes.

Mit langsamen, matten Schritten, schlotternden Knien und einem heftigen Frostgefühl kehrte Raskolnikow nach seinem Hause zurück und stieg zu seinem Kämmerchen hinauf. Er nahm die Mütze ab, legte sie auf den Tisch und blieb etwa zehn Minuten lang regungslos daneben stehen. Dann legte er sich ganz erschöpft auf das Sofa und streckte sich mit leisem, schmerzlichem Stöhnen auf ihm aus; seine Augen waren geschlossen. So lag er wohl eine halbe Stunde.

Er dachte an nichts. Das heißt: etwas, was mit Gedanken oder vielmehr mit Bruchstücken von Gedanken Ähnlichkeit hatte, war in seinem Kopfe vorhanden, Vorstellungen ohne Ordnung und Zusammenhang; da waren Gesichter von Leuten, die er gesehen hatte, als er noch Kind war, oder mit denen er irgendwo nur ein einziges Mal zusammengetroffen war und an die er unter andern Umständen nie mehr gedacht haben würde; der Glockenturm der W…-schen Kirche; das Billard in einem Restaurant und ein Offizier am Billard, der Zigarrengeruch in einem Tabaksladen im Souterrain, eine Kneipe, eine Hintertreppe, ganz dunkel, ganz mit Spülicht begossen und mit Eierschalen bestreut, und irgendwoher drang das sonntägliche Geläut der Kirchenglocken an sein Ohr … Die Gegenstände wechselten einander ab und drehten sich wie im Wirbel umher. Manche Vorstellungen gefielen ihm sogar, und er hätte sie gern festgehalten; aber sie erloschen wieder. Meistens empfand er einen beklemmenden Druck im Innern, der aber nicht allzu stark war; zeitweilig war ihm sogar ganz wohl zumute … Ein leises Frösteln wollte nicht vorübergehen, und auch dies war eine beinahe angenehme Empfindung.

Er hörte Rasumichins eilige Schritte und seine Stimme; aber er schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Tür und blieb eine Weile überlegend auf der Schwelle stehen. Dann trat er leise ins Zimmer und näherte sich vorsichtig dem Sofa. Raskolnikow hörte Nastasjas flüsternde Stimme:

»Weck ihn nicht auf; laß ihn sich ausschlafen; essen kann er auch nachher noch.«

»Du hast ganz recht«, antwortete Rasumichin.

Beide gingen vorsichtig hinaus und machten die Tür zu. Es verging noch eine halbe Stunde. Raskolnikow öffnete die Augen, drehte sich wieder auf den Rücken und legte die Hände unter den Kopf …

›Wer war das? Wer ist dieser Mensch, der auf einmal wie aus der Erde gewachsen dastand? Wo ist er gewesen, und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist zweifellos. Wo hat er damals gestanden, und von wo aus hat er es gesehen? Warum erscheint er erst jetzt, als ob er aus dem Boden gewachsen sei? Und wie hat er es sehen können – war das denn überhaupt möglich? … Hm …‹, fuhr Raskolnikow fort, es überlief ihn kalt, und er fuhr zusammen, ›aber das Etui, das Nikolai hinter der Tür fand: an diese Möglichkeit hatte ich doch auch nicht gedacht. Indizien? Das winzigste Pünktchen übersieht man – und das Indizium wird pyramidengroß. Eine Fliege ist umhergeflogen und hat es gesehen! Ist es etwa auf die Art zu erklären?‹

Und er wurde sich mit einer Art von Ekel bewußt, wie schwach, körperlich schwach, er geworden war.

›Das mußte ich doch vorher wissen‹, dachte er mit bitterem Lächeln. »Und wie habe ich nur, wenn ich mich kannte und ahnte, in welcher Verfassung ich nach der Tat sein würde, es wagen können, ein Beil zu nehmen und mich mit Blut zu besudeln! Es war meine Pflicht, das im voraus zu wissen … Ach, und ich habe es ja auch im voraus gewußt!« flüsterte er in Verzweiflung.

Zuweilen blieb er hartnäckig an einem Gedanken haften.

›Nein, jene Menschen waren aus anderm Stoff geschaffen als ich. Ein wahrer Herrscher, dem alles erlaubt ist, zerstört Toulon, richtet in Paris ein Blutbad an, vergißt eine Armee in Ägypten, opfert eine halbe Million Menschen in dem Feldzuge gegen Rußland und setzt sich in Wilna durch ein Wortspiel darüber hinweg; und ein solcher Mann wird noch nach seinem Tode wie ein Abgott verehrt; man sieht also auch alles, was er getan hat, für erlaubt an. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht von Fleisch und Blut, sondern von Erz!‹

Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen.

›Napoleon, die Pyramiden, Waterloo – und eine verhutzelte, häßliche alte Registratorswitwe, eine Wucherin mit einer roten Truhe unter dem Bette; na, wie soll jemand dies alles verdauen können, zum Beispiel Porfirij Petrowitsch! … Wie sollten sie es auch verdauen! … Ihr ästhetisches Gefühl sträubt sich ja dagegen. »Wie wird denn ein Napoleon«, würden sie sagen, »unter das Bett eines alten Weibes kriechen!« Ach, Unsinn!‹

Mitunter fühlte er, daß er wie im Fieber phantasiere; er geriet in einen krankhaft erregten Zustand.

›Die Alte, die ist dabei ganz gleichgültig!‹ dachte er in seinem fieberheißen, oft unterbrochenen Gedankengange. ›Die Tötung der Alten war vielleicht ein Fehler; aber darum handelt es sich jetzt nicht! Die Tötung der Alten war nur eine krankhafte Verirrung von mir, … ich wollte so schnell wie möglich über die Hindernisse hinwegschreiten. … Ich habe nicht einen Menschen getötet; ein falsches Prinzip habe ich getötet! Das falsche Prinzip habe ich zwar getötet; aber über die Hindernisse bin ich doch nicht hinweggeschritten; ersten Schritte nötig hätte, nicht mehr und nicht weniger (das übrige mochte dann also auf Grund des Testamentes dem Kloster zufallen, ha-ha!). Und schließlich bin ich deshalb eine Laus‹, fügte er zähneknirschend hinzu, ›weil ich selbst vielleicht noch garstiger und ekelhafter bin als die getötete Laus und schon im voraus ahnte, daß ich mir dies sagen würde, nachdem ich sie würde getötet haben! Ist das nicht die entsetzlichste Lage, die sich denken läßt? Wie gemein, wie unwürdig das alles ist! … Oh, jetzt verstehe ich den »Propheten«, mit dem Säbel in der Hand, hoch zu Roß: Allah befiehlt, und du, zitternde Kreatur, gehorche! Er ist in seinem Rechte, ganz in seinem Rechte, der »Prophet«, wenn er irgendwo quer über die Straße eine tüchtige Batterie aufstellt und nun losschießt auf Gerechte und Ungerechte, ohne sich auch nur zu einer Erklärung herabzulassen! Gehorche, zitternde Kreatur, und erdreiste dich nicht, Wünsche zu hegen; denn das steht dir nicht zu! … Oh, nie kann ich es dieser Alten verzeihen, daß sie die Ursache meiner Leiden geworden ist!‹

Seine Haare waren feucht von Schweiß, die bebenden Lippen glühend und ausgetrocknet; den starren Blick hielt er auf die Decke des Zimmers geheftet.

›Meine Mutter, meine Schwester – wie lieb habe ich sie gehabt! Warum hasse ich sie jetzt? Ja, ich hasse sie; physisch hasse ich sie; ich kann es nicht ertragen, sie um mich zu sehen … Ich erinnere mich, daß ich vorhin zu meiner Mutter hintrat und sie küßte … Sie zu umarmen und dabei zu denken: wenn sie es wüßte, so … Sollte ich es ihr etwa damals sagen? Das hätte mir ganz ähnlich gesehen … Hm! »Sie« muß wohl in gleicher Gemütsverfassung sein wie ich‹, fügte er hinzu; er vermochte nur noch mit großer Anstrengung zu denken und kämpfte gegen den Fieberwahn an, der sich seiner bemächtigen wollte. ›Oh, wie ich jetzt das alte Weib hasse! Ich glaube, ich könnte sie noch einmal ermorden, wenn sie wieder erwachte! Die arme Lisaweta! … Warum mußte sie auch dazukommen! … Es ist doch sonderbar: warum denke ich denn an sie fast gar nicht, als ob ich sie nicht auch ermordet hätte? … Lisaweta, Sonja! Ihr armen, schüchternen Mädchen mit den sanften Augen … Ihr lieben Wesen! … Warum weinen sie nicht? Warum stöhnen sie nicht? … Sie geben alles hin, … und sie blicken so sanft und still … Sonja, Sonja! Du stille Sonja!‹

Das Bewußtsein schwand ihm. Es schien ihm merkwürdig, daß er sich auf einmal auf der Straße befand, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin gekommen sei. Es war schon später Abend. Die Dämmerung wurde immer dunkler; der Vollmond gewann immer mehr an Glanz; aber in der Luft lag eine ganz besondere Schwüle. Scharen von Menschen bewegten sich auf den Straßen; Handwerker und Arbeiter eilten nach Hause; andere gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und Pfützen. Raskolnikow schritt traurig und sorgenvoll einher: er erinnerte sich recht wohl, daß er zu irgendeinem bestimmten Zwecke fortgegangen sei, daß er notwendig und eilig etwas tun müsse; aber was das nun eigentlich war, hatte er vergessen. Plötzlich blieb er stehen und sah, daß auf der andern Seite der Straße ein Mann auf dem Trottoir stand und ihm winkte. Er ging quer über die Straße zu ihm hin; aber auf einmal drehte sich dieser Mann um und ging, als wäre nichts gewesen, mit gesenktem Kopfe weiter, ohne sich nach ihm umzusehen, gerade wie wenn er ihm gar nicht gewinkt hätte. ›Hat er mir auch wirklich gewinkt?‹ dachte Raskolnikow, eilte ihm jedoch nach. Als er nur noch etwa zehn Schritte von ihm entfernt war, erkannte er ihn und erschrak: es war der Kleinbürger von vorhin, in demselben Schlafrocke und mit derselben gekrümmten Haltung. Raskolnikow folgte ihm von weitem; das Herz pochte ihm heftig; sie bogen in eine Querstraße ein – der andere wandte sich noch immer nicht um. ›Ob er wohl weiß, daß ich ihm folge?‹ dachte Raskolnikow. Der Kleinbürger trat in den Torweg eines großen Hauses. Raskolnikow ging, so schnell er konnte, zu dem Torwege hin und blickte hinein, ob er sich nicht umsehen um davonzulaufen; aber da war das ganze Vorzimmer schon voll Menschen, die Tür nach der Treppe stand weit offen, und auf dem Treppenflur, auf der Treppe und weiter abwärts – überall Menschen, Kopf an Kopf; alle blickten nach ihm hin, aber alle suchten das zu verheimlichen, warteten und schwiegen! … Das Herz zog sich ihm krampfhaft zusammen; er konnte die Beine nicht rühren, sie waren wie am Boden festgewachsen … Er wollte aufschreien und – erwachte.

Er holte tief und schwer Atem; aber seltsamerweise schien der Traum noch fortzudauern: seine Stubentür stand weit offen, und auf der Schwelle stand ein ihm gänzlich unbekannter Mann und betrachtete ihn aufmerksam.

Raskolnikow hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie nun sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht.

›Ist das noch eine Fortsetzung des Traumes oder Wirklichkeit?‹ dachte er und hob ein ganz klein wenig, unmerklich die Wimpern, um hinzusehen; der Unbekannte stand noch immer auf demselben Flecke und blickte ihn an.

Nun trat er vorsichtig über die Schwelle, machte die Tür sachte hinter sich zu, ging an den Tisch, wartete etwa eine Minute lang, wobei er kein Auge von ihm wandte, und setzte sich still, ohne jedes Geräusch, auf einen Stuhl neben dem Sofa; seinen Hut legte er neben sich auf den Boden, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Spazierstock und legte das Kinn auf die Hände. Er war offenbar darauf gefaßt, lange warten zu müssen. Soweit Raskolnikow das durch die blinzelnden Wimpern sehen konnte, war es ein nicht mehr junger, kräftig gebauter Mann mit dichtem, hellem, fast weißem Barte.

Es vergingen etwa zehn Minuten. Es war noch hell, wollte aber schon Abend werden. Im Zimmer herrschte vollständige Stille. Selbst von der Treppe her drang kein Laut herein. Nur eine große Fliege summte umher und prallte mitunter gegen die Fensterscheiben. Endlich wurde dem daliegenden Raskolnikow dieser Zustand unerträglich: er richtete sich auf und setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin.

»Nun, so reden Sie doch; was wünschen Sie?«

»Das habe ich doch gewußt, daß Sie nicht schliefen, sondern sich nur so stellten«, antwortete der Unbekannte in eigentümlichem Tone und lachte ruhig dabei. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow …«

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Kapitel 21

I

›Ist das wirklich noch eine Fortsetzung des Traumes?‹ dachte Raskolnikow noch einmal.

Mißtrauisch und argwöhnisch betrachtete er den unerwarteten Besucher.

»Swidrigailow? So ein Unsinn! Das ist ja gar nicht möglich!« sagte er endlich laut in verständnislosem Staunen.

Der Besucher schien sich über diesen Ausruf gar nicht weiter zu wundern.

»Zwei Gründe führen mich zu Ihnen: erstens wünschte ich Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, da ich schon seit längerer Zeit über Sie viel Interessantes und sehr Empfehlendes gehört habe; und zweitens gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Sie vielleicht nicht abgeneigt sein dürften, mir bei meinem Vorhaben behilflich zu sein, das in erster Linie das Interesse Ihrer Schwester Awdotja Romanowna berührt. Wenn ich allein, ohne Empfehlung, zu ihr ginge, so würde sie infolge der vorgefaßten Meinung, die sie über mich hegt, mich vielleicht überhaupt nicht empfangen; mit Ihrer Hilfe dagegen rechne ich darauf …«

»Da rechnen Sie aber falsch«, unterbrach ihn Raskolnikow.

»Gestatten Sie die Frage: die Damen sind erst gestern angekommen?«

Raskolnikow antwortete nicht.

»Ich weiß es, daß sie gestern gekommen sind; ich selbst bin seit vorgestern hier. Nun, was soll ich mit Ihnen über das Vorgefallene lange reden, Rodion Romanowitsch; mich zu rechtfertigen, halte ich für überflüssig; erlauben Sie mir nur die Bemerkung: was habe ich denn eigentlich bei der ganzen Sache so besonders Schlimmes verbrochen, wenn man es vorurteilsfrei und vernünftig überlegt?«

Raskolnikow fuhr fort, ihn schweigend anzublicken.

»Daß ich in meinem Hause ein schutzloses Mädchen verfolgt und sie ›mit ehrlosen Anträgen beleidigt‹ habe, nicht wahr? Sie sehen, ich komme Ihnen entgegen und formuliere den Vorwurf selbst. Aber ziehen Sie doch nur in Betracht, daß auch ich ein Mensch bin, et nihil humanum …, kurz, daß auch ich für Reize nicht unempfindlich bin, daß ich imstande bin, mich zu verlieben (was sich ja doch gewiß ohne unsern Willen vollzieht); dann erklärt sich alles auf ganz natürliche Weise. Die ganze Frage lautet so: Bin ich ein Scheusal, oder bin ich selbst ein Opfer? Nun, und wie, wenn ich selbst ein Opfer wäre? Indem ich der Dame, die den Gegenstand meiner Leidenschaft bildete, den Vorschlag machte, mit mir nach Amerika oder der Schweiz zu fliehen, hegte ich doch wohl dabei die allerehrerbietigsten Gefühle und dachte unser beiderseitiges Glück zu schaffen! … Die Vernunft ist ja eine Sklavin der Leidenschaft, und ich habe mir selbst mehr geschadet als sonst jemandem; das sollten Sie doch bedenken!«

»Darum handelt es sich gar nicht«, unterbrach ihn Raskolnikow mit unverhohlenem Abscheu. »Sie sind mir einfach widerwärtig, mögen Sie nun schuldig oder unschuldig sein. Darum will ich mit Ihnen nichts zu tun haben und weise Ihnen die Tür, und nun machen Sie, daß Sie hinauskommen!«

Swidrigailow lachte auf.

»Nein, aber Sie sind einer … Sie kann man nicht überrumpeln!« sagte er herzlich lachend. »Ich hatte es recht schlau anfangen wollen; aber nein, Sie haben gleich von vornherein den richtigen Standpunkt eingenommen!«

»Sie setzen ja auch noch in diesem Augenblicke Ihr schlaues Verfahren fort.«

»Warum auch nicht? Warum auch nicht?« erwiderte Swidrigailow, ungeniert lachend. »Das ist ja, was man bonne guerre nennt, und eine durchaus erlaubte Schlauheit! … Aber Sie haben mich unterbrochen: wie dem auch immer war, ich kann nur wiederholen: es wären keinerlei Unannehmlichkeiten entstanden, wenn nicht die Szene im Garten passiert wäre. Marfa Petrowna …«

»Marfa Petrowna haben Sie, wie es heißt, auch umgebracht?« unterbrach ihn Raskolnikow in grobem Tone.

»Auch davon haben Sie gehört? Wie sollten Sie es übrigens auch nicht gehört haben … Nun, was diese Ihre Frage anlangt, so weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen erwidern soll, obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung absolut ruhig ist. Das heißt, Sie brauchen nicht etwa zu denken, daß ich da noch irgendwelche äußeren Unannehmlichkeiten zu befürchten hätte; es ist alles durchaus ordnungsmäßig und mit peinlicher Genauigkeit erledigt worden; die ärztliche Untersuchung konstatierte einen Schlagfluß, herbeigeführt durch das Baden unmittelbar nach einem reichlichen Mittagessen, bei dem sie fast eine ganze Flasche Wein ausgetrunken hatte; weiter konnte die Untersuchung nichts konstatieren … Nein, aber es hat mich da ein anderer Gedanke eine Weile beschäftigt, besonders jetzt unterwegs, als ich auf der Eisenbahn saß: ob ich nicht zu diesem … Unfall dadurch mit beigetragen habe, daß ich ihr eine seelische Aufregung bereitet oder sonst etwas dieser Art. Aber ich bin zu dem Resultate gekommen, daß auch dies schlechterdings unmöglich ist.«

Raskolnikow lachte. »Wunderliche Skrupel!« sagte er.

»Worüber lachen Sie denn? Überlegen Sie sich das einmal: ich habe ihr nur zwei Schläge mit der Reitpeitsche versetzt, und es waren nicht einmal Spuren davon zu sehen … Bitte, halten Sie mich nicht für einen rohen Patron; ich weiß sehr wohl, wie schändlich das von meiner Seite war, na und so weiter; aber ich weiß auch ganz bestimmt, das Marfa Petrowna gewissermaßen sogar froh darüber war, daß ich mich sozusagen einmal gehenließ. Die Geschichte mit Ihrer Schwester hatte sie derart kolportiert, daß das Interesse des Publikums daran völlig erschöpft war. Nun mußte Marfa Petrowna schon seit zwei Tagen zu Hause sitzen; sie hatte nichts, womit sie in dem Städtchen hätte auftreten können; mit ihrem Briefe (daß sie den Brief überall vorgelesen hat, haben Sie wohl gehört?) war sie da allen schon zum Ekel geworden. Da kamen ihr diese zwei Peitschenhiebe wie ein Geschenk des Himmels! Das erste, was sie tat, war, daß sie anspannen ließ … Ich will gar nicht einmal davon reden, daß bei den Frauen Fälle vorkommen, wo es ihnen höchst angenehm ist, beleidigt zu sein, trotz aller äußerlichen Entrüstung. Derartige Fälle kommen übrigens bei allen Menschen vor; der Mensch liebt es überhaupt sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das nicht auch schon beobachtet? Aber bei den Frauen ist das besonders häufig. Man kann geradezu sagen, es ist für sie eine Art Zeitvertreib.«

Eine Zeitlang hatte Raskolnikow schon die Absicht gehabt, aufzustehen und hinauszugehen und dadurch diesem Besuche ein Ende zu machen. Aber eine gewisse Neugier und sogar etwas Berechnung hielten ihn davon zurück.

»Es macht Ihnen wohl Vergnügen, jemand zu prügeln?« fragte er ihn zerstreut.

»Besonderes Vergnügen gerade nicht«, antwortete Swidrigailow ruhig. »Und meine Frau habe ich fast nie geprügelt. Wir lebten sehr einträchtig, und sie war mit mir immer zufrieden. Die Peitsche habe ich während unserer ganzen siebenjährigen Ehe nur zweimal in Gebrauch genommen (wenn ich einen dritten Fall nicht mitrechne, bei dem eine sehr verschiedene Auffassung möglich ist), das erstemal zwei Monate nach unserer Hochzeit, gleich nach unserer Ankunft auf dem Gute, und dann dieser jetzige, letzte Fall. Und Sie hatten wohl schon gedacht, ich wäre so ein Ungeheuer, ein Reaktionär, ein Verteidiger der Leibeigenschaft? Ha-ha-ha! … Apropos: erinnern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, wie vor einigen Jahren bei uns über einen Edelmann – ich habe seinen Namen vergessen –, der eine Deutsche im Eisenbahncoupé geprügelt hatte, in der gesamten Presse aufs ärgste geschimpft wurde? Erinnern Sie sich? Na, meine Meinung darüber ist die: für den Herrn, der diese Deutsche durchgehauen hat, hege ich keine tiefe Sympathie; denn das war ja in der Tat … wie kann man da mit ihm sympathisieren! Aber dabei kann ich doch eine Bemerkung nicht unterdrücken: es kommen manchmal deutsche Frauenzimmer vor, die einem so die Galle erregen, daß meiner Ansicht nach selbst ein Vertreter der modernen Ideen für seine Selbstbeherrschung nicht einstehen kann. Von diesem Standpunkte aus hat damals niemand die Sache betrachtet, und dabei ist dies doch der wahrhaft humane Standpunkt, ganz zweifellos!«

Nach diesen Worten lachte Swidrigailow von neuem auf. Raskolnikow war sich ganz klar darüber, daß er da einen Menschen vor sich hatte, der ein Ziel fest ins Auge gefaßt hatte und nun mit aller Energie darauf losging.

»Sie haben sich gewiß seit mehreren Tagen mit niemand unterhalten?« fragte er.

»Das stimmt so ungefähr. Wieso? Sie wundern sich wohl, daß ich so viel rede?«

»Nein, ich wundere mich darüber, daß Sie zu viel reden.«

»Sie meinen, ich sollte mich durch Ihre unhöflichen Bemerkungen gekränkt fühlen und das Gespräch abbrechen, nicht wahr? Ja …, warum sollte ich mich gekränkt fühlen? Wir zahlen uns ja wechselseitig mit gleicher Münze!« fügte er mit erstaunlich gutherziger Miene hinzu. »Ich habe eigentlich so gut wie nichts, was mein Interesse besonders in Anspruch nähme, wahrhaftig«, fuhr er wie in Gedanken fort; »namentlich jetzt habe ich gar keine Beschäftigung … Übrigens mögen Sie meinetwegen ruhig denken, daß ich mich in bestimmter Absicht bei Ihnen einschmeicheln möchte, um so mehr, da ich ein Anliegen an Ihre Schwester habe, wie ich Ihnen schon selbst erklärte. Aber ich sage Ihnen ganz aufrichtig: ich langweile mich gräßlich, namentlich diese letzten drei Tage, so daß ich mich ordentlich auf Ihre Bekanntschaft gefreut habe … Nehmen Sie es mir nicht übel, Rodion Romanowitsch, aber Sie selbst kommen mir außerordentlich sonderbar vor, ohne daß ich mir über diesen Eindruck Rechenschaft geben könnte. Mit Ihrer Erlaubnis, aber Sie haben irgend etwas, und zwar gerade jetzt; ich meine nicht speziell in diesem Augenblicke, sondern in weiterem Sinne: jetzt … Nun, nun, ich bin ja schon still, bin ja schon still, machen Sie nur nicht gleich ein so finsteres Gesicht! Ich bin ja gar nicht so ein ungebildeter Bär, wie Sie denken.«

Raskolnikow sah ihn finster an.

»Ein ungebildeter Bär sind Sie wohl überhaupt nicht«, erwiderte er. »Es scheint mir sogar, daß Sie zur guten Gesellschaft gehören oder wenigstens verstehen, gelegentlich auch einmal ein ordentlicher Mensch zu sein.«

»Ich kümmere mich herzlich wenig um anderer Leute Meinung über mich«, antwortete Swidrigailow trocken und sogar mit einem Beiklange von Hochmut. »Warum soll man nicht auch manchmal gemein sein, da doch die Gemeinheit ein für unser Klima so vortrefflich geeignetes Kostüm ist, und … und namentlich, wenn man überdies eine natürliche Neigung dazu besitzt«, fügte er hinzu und lachte wieder.

»Ich habe aber doch gehört, daß Sie hier viele Bekannte haben, was man so ›gute Konnexionen‹ nennt. Warum suchen Sie denn unter diesen Umständen mich auf, wenn Sie nicht etwa bestimmte Absichten haben?«

»Sie haben ganz recht, ich habe hier allerdings Bekannte«, antwortete Swidrigailow, ohne auf den Hauptpunkt einzugehen, »ich bin auch schon manchem begegnet; ich treibe mich ja schon seit vorgestern hier umher; ich selbst erkenne sie wieder und sie mich wohl auch. Natürlich, ich bin eben anständig gekleidet und gelte als wohlsituierter Mann; uns hat ja die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht schwer betroffen: wir haben viel Wald und Überschwemmungswiesen, diese Einnahmen gehen uns nicht verloren. Aber ich mache meinen ehemaligen Bekannten keine Besuche; ich war auch schon früher ihrer überdrüssig geworden; ich gehe nun schon den dritten Tag so umher und gebe mich keinem zu erkennen … Und was ist das hier für eine Stadt! Ich meine, wie hat sie sich entwickelt, nicht wahr? Eine Stadt der Bureaus und aller nur denkbaren Bildungsanstalten! Wahrhaftig, ich habe vieles hier früher nicht beachtet, als ich mich vor acht Jahren in der Stadt umhertrieb … Jetzt hoffe ich nur noch auf die Anatomie, weiß Gott!«

»Wieso auf die Anatomie?«

»Aber was diese Klubs und diese französischen Restaurants und die ganze moderne Richtung anlangt«, fuhr er, wieder ohne die Frage zu beachten, fort, »so können mir die gestohlen bleiben. Und Falschspieler zu sein, da ist auch nicht viel Spaß dabei!«

»Sind Sie denn auch Falschspieler gewesen?«

»Gewiß, das war ein Ding der Notwendigkeit. Wir waren eine ganze Gesellschaft vor acht Jahren, eine höchst anständige Gesellschaft; damit füllten wir unsere Zeit aus; und wissen Sie, es waren sämtlich Leute mit guten Manieren, auch Dichter waren darunter und Kapitalisten. Überhaupt findet man bei uns, in der russischen Gesellschaft, die besten Manieren bei denen, die schon manchmal Prügel bekommen haben – haben Sie das nicht auch beobachtet? Ich bin ja nun auf dem Lande jetzt etwas verwildert. Und doch hatte ich damals schon ins Schuldgefängnis wandern müssen; so ein Njeshiner Grieche hatte mich einsperren lassen. Da erschien plötzlich Marfa Petrowna als rettender Engel, handelte mit dem Gläubiger hin und her und kaufte mich für dreißigtausend Rubel los (im ganzen war ich siebzigtausend schuldig). Ich ging mit ihr eine gesetzliche Ehe ein, und sie nahm mich sogleich mit sich fort auf ihr Gut wie einen erbeuteten Schatz. Sie war ja fünf Jahre älter als ich und furchtbar in mich verliebt. Sieben Jahre lang bin ich nicht vom Dorfe weggekommen. Und denken Sie sich, die ganze Zeit über hielt sie einen Schuldschein über die dreißigtausend Rubel, den ich ihr auf einen fremden Namen hatte ausstellen müssen, als Waffe gegen mich im Hintergrunde bereit; damit hielt sie mich in ihrer Gewalt, so daß, wenn ich mir hätte beikommen lassen, gegen sie in irgendeiner Hinsicht zu revoltieren, sie mich sofort einsperren lassen konnte! Und sie hätte es getan! Bei den Weibern wohnen Haß und Liebe dicht beieinander.«

»Wenn der Schuldschein nicht gewesen wäre, hätten Sie sich wohl längst davongemacht?«

»Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Dieser Schuldschein genierte mich so gut wie gar nicht. Es zog mich eigentlich nirgends hin; Marfa Petrowna regte mich selbst ein paarmal dazu an, ins Ausland zu reisen, weil sie sah, daß ich mich langweilte. Aber was sollte ich da? Im Auslande war ich auch früher schon gewesen; aber ich hatte mich da nie recht wohl fühlen können. Na ja, es ist ja ganz schön; aber sehen Sie, da erscheint die Abendröte, und da ist der Golf von Neapel und das Meer, man sieht das an, und es stimmt einen bloß schwermütig und traurig. Und solche Schwermut und Trauer ist das allerwiderwärtigste! Nein, in der Heimat ist es doch besser: hier kann man wenigstens bei allem, was einem mißfällt, andern die Schuld beimessen und sich selbst von Schuld freisprechen. Ich brächte es jetzt vielleicht fertig, mich an einer Nordpolexpedition zu beteiligen; denn j’ai le vin mauvais, und das Trinken ist mir zuwider; aber die Spirituosen sind das einzige, was mir jetzt noch übrigbleibt. Einen Versuch habe ich ja auch mit dem Trinken gemacht. Aber wie ist das? Ich höre, der Luftschiffer Berg will nächsten Sonntag im Jussupow-Garten mit einem riesigen Ballon aufsteigen und lade zur Teilnahme an der Fahrt gegen eine bestimmte Bezahlung ein; ist das richtig?«

»Wollen Sie etwa mitfliegen?«

»Ich? Nein, … ich frage nur so …«, murmelte Swidrigailow; er schien sich wirklich seinen Gedanken hinzugeben.

›Was hat denn der Mensch eigentlich?‹ dachte Raskolnikow.

»Nein, der Schuldschein genierte mich nicht«, fuhr Swidrigailow wie in Gedanken fort. »Es war mein eigener Wille, daß ich auf dem Gute blieb. Auch ist es jetzt etwa ein Jahr her, daß Marfa Petrowna mir an meinem Namenstage diesen Schuldschein zurückgab und mir noch obendrein eine erkleckliche Summe schenkte. Sie besaß ein bedeutendes Vermögen. ›Sie sehen, wie ich Ihnen vertraue, Arkadij Iwanowitsch‹, so sagte sie dabei, wahrhaftig. Sie glauben wohl nicht, daß sie das gesagt hat? Aber, wissen Sie, ich bin da auf dem Gute ein ganz tüchtiger Landwirt geworden; in der ganzen Nachbarschaft bin ich dafür bekannt. Ich ließ mir auch Bücher kommen. Anfangs war Marfa Petrowna sehr damit einverstanden; aber später fürchtete sie immer, ich könnte mir durch das viele Studieren schaden.«

»Sie grämen sich wohl sehr um Marfa Petrowna?«

»Ich? Kann sein. Wirklich, kann sein. Apropos, glauben Sie an Geister?«

»An was für Geister?«

»An gewöhnliche Geister; was ist da zu fragen?«

»Glauben Sie denn daran?«

»Na, meinetwegen will ich nein sagen, pour vous plaire … Aber eigentlich tu ich’s doch …«

»Erscheinen Ihnen denn Geister?«

Swidrigailow sah ihn mit sonderbarem Blicke an.

»Marfa Petrowna besucht mich«, erwiderte er und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Lächeln.

»Wie meinen Sie das mit dem Besuchen?«

»Nun, sie ist schon dreimal zu mir gekommen. Das erstemal sah ich sie am Begräbnistage selbst, eine Stunde nach meiner Rückkehr vom Friedhofe. Das war am Tage vor meiner Abreise hierher. Das zweitemal vorgestern, unterwegs, in der Morgendämmerung, auf der Station Malaja Wischera; und das drittemal vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich logiere, im Zimmer; ich war allein darin.«

»Waren Sie denn wach?«

»Völlig wach. Alle drei Male war ich wach. Sie kommt, spricht ein kleines Weilchen mit mir und geht dann durch die Tür hinaus; immer durch die Tür. Es kommt mir sogar vor, als ob ich es hörte.«

»Wieso ich bloß von vornherein gleich auf den Gedanken gekommen bin, daß mit Ihnen sicher etwas in dieser Art los sein müsse!« sagte Raskolnikow plötzlich und wunderte sich in demselben Augenblicke darüber, daß er es gesagt hatte. Er war in heftiger Aufregung.

»Nun sehen Sie mal an! Also Sie haben das gedacht?« fragte Swidrigailow erstaunt. »Ist es möglich? Na, habe ich nicht gleich gesagt, daß eine gewisse seelische Verwandtschaft zwischen uns besteht?«

»Das haben Sie niemals gesagt!« entgegnete Raskolnikow in scharfem, zornigem Tone.

»Habe ich es nicht gesagt?«

»Nein!«

»Es war mir doch so, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin hereinkam und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen dalagen und sich schlafend stellten, da sagte ich mir: Das ist der Richtige!«

»Wieso: der Richtige? Inwiefern?« rief Raskolnikow.

»Inwiefern? Ja, inwiefern, das weiß ich wahrhaftig nicht …«, murmelte Swidrigailow offenherzig und anscheinend in wirklicher Verlegenheit.

Eine Weile schwiegen sie; beide blickten einander scharf an.

»Das ist ja alles dummes Zeug!« rief Raskolnikow ärgerlich. »Was sagt sie denn zu Ihnen, wenn sie zu Ihnen kommt?«

Gesicht und sagte: ›Was fällt Ihnen denn ein, Marfa Petrowna, wegen einer so gleichgültigen Sache zu mir zu kommen und mich zu belästigen!‹ – ›Ach, mein Gott‹, antwortete sie, ›nicht einmal einen Augenblick stören darf man Sie!‹ Um sie zu necken, sagte ich zu ihr: ›Ich will mich wieder verheiraten, Marfa Petrowna.‹ – ›Das sieht Ihnen ähnlich, Arkadij Iwanowitsch‹, erwiderte sie. ›Große Ehre macht es Ihnen aber nicht, daß Sie jetzt, wo Sie kaum Ihre Frau begraben haben, wegreisen, um eine andere zu heiraten. Und wenn Sie noch eine gute Wahl getroffen hätten; so aber wird es weder Ihnen noch ihr zum Segen sein, und nur die lieben Nachbarn werden ihr Amüsement darüber haben.‹ Und damit ging sie hinaus, und es war mir gerade so, als ob sie mit der Schleppe rauschte. Das ist doch Unsinn; nicht wahr?«

»Das sind wohl lauter Lügen von Ihnen?« erwiderte Raskolnikow.

»Ich lüge nur selten«, antwortete Swidrigailow nachdenklich; die Grobheit der Frage schien er gar nicht zu bemerken.

»Und früher, vor dieser Zeit, haben Sie niemals Geister gesehen?«

»Hm, doch, ein einziges Mal in meinem Leben, vor sechs Jahren … Ich hatte einen Diener namens Filipp; kurz nach seiner Beerdigung rief ich einmal in Gedanken: ›Filipp, die Pfeife!‹ Da kam er herein und ging gerade auf das Regal zu, wo meine Pfeifen standen. Ich saß da und dachte bei mir: ›Jetzt will er sich gewiß an mir rächen‹, denn unmittelbar vor seinem Tode hatten wir einen heftigen Streit miteinander gehabt. ›Wie kannst du dich unterstehen‹, rief ich ihm zu, ›mit einem Loch am Ellbogen zu mir hereinzukommen! Mach, daß du hinauskommst, du Taugenichts!‹ Er wandte sich um, ging hinaus und ist nicht mehr wiedergekommen. Ich habe Marfa Petrowna damals nichts davon erzählt. Ich wollte schon eine Seelenmesse für ihn halten lassen, genierte mich denn aber doch ein bißchen.«

»Gehen Sie zu einem Arzte.«

»Daß ich nicht gesund bin, weiß ich, auch ohne daß Sie es mir sagen; wiewohl ich wirklich nicht weiß, was mir eigentlich fehlt; meiner Ansicht nach bin ich gewiß fünfmal so gesund wie Sie. Aber ich habe Sie nicht danach gefragt, ob Sie glauben, daß einem Geister erscheinen. Ich habe Sie gefragt: Glauben Sie, daß es Geister gibt?«

»Nein, das glaube ich entschieden nicht!« rief Raskolnikow mit einer Art von Ingrimm.

»Wie sagt man doch gewöhnlich?« murmelte Swidrigailow, wie wenn er für sich spräche; er blickte zur Seite und hielt den Kopf ein wenig geneigt. »Man sagt: ›Du bist krank; folglich ist das, was dir erscheint, lediglich ein unwirkliches Wahngebilde.‹ Darin liegt aber doch keine strenge Logik. Ich gebe zu, daß Geister nur Kranken erscheinen; aber daraus folgt doch nur, daß die Geister eben nur Kranken erscheinen können, aber nicht, daß es überhaupt keine gibt.«

»Es gibt bestimmt keine!« entgegnete Raskolnikow hartnäckig in gereiztem Tone.

»Nein? Glauben Sie das?« fuhr Swidrigailow langsam fort und blickte ihn dabei an. »Na, aber was meinen Sie dazu, wenn man sich die Sache so zurechtlegt (helfen Sie mir nur dabei ein bißchen): die Geister, das sind sozusagen Teilchen, Fragmente andrer Welten, der Anfang andrer Welten. Ein gesunder Mensch hat selbstverständlich keine Veranlassung, sie zu sehen; denn der gesunde Mensch ist ein durchaus irdischer Mensch und soll daher lediglich ein irdisches Dasein führen; das ist ganz in der Ordnung. Na, sowie er nun aber erkrankt und die normale irdische Ordnung des Organismus gestört wird, dann tritt ihm sofort die Möglichkeit der Existenz einer andern Welt entgegen, und je kränker er wird, um so mehr nehmen seine Beziehungen zu der andern Welt zu, so daß, wenn er nun wirklich stirbt, er einfach selbst in die andere Welt hinübergeht. Ich habe mir darüber schon seit langer Zeit meine Gedanken gemacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, dann können Sie auch dieser Anschauung beipflichten.«

»Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben«, erwiderte Raskolnikow.

Swidrigailow saß in Gedanken versunken da.

»Aber wie wäre das, wenn es in der andern Welt nur Spinnen oder so etwas Ähnliches gäbe?« sagte er dann plötzlich.

›Der Kerl ist irrsinnig‹, dachte Raskolnikow.

»Die Ewigkeit erscheint uns immer als ein Begriff, den man gar nicht fassen kann, als etwas Riesenhaftes, ungeheuer Großes! Aber warum soll sie denn absolut so ungeheuer groß sein? Auf einmal (stellen Sie sich das mal vor) kommt es so heraus, daß da statt all dessen nur ein einziges kleines Zimmerchen ist, so in der Art wie eine Badestube auf dem Lande, ganz verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist dann die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwant manchmal so etwas in der Art.«

»Stellen Sie sich wirklich, wirklich nichts Tröstlicheres und Gerechteres unter der Ewigkeit vor als dies?« rief Raskolnikow in heftiger Erregung.

»Etwas Gerechteres? Woher soll man’s wissen, vielleicht ist das so, wie ich mir das ausmale, ganz gerecht; und wissen Sie, wenn’s von mir abhinge, ich würde die Ewigkeit jedenfalls absichtlich so einrichten«, erwiderte Swidrigailow mit einem nicht recht verständlichen Lächeln.

Kälte überrieselte auf einmal Raskolnikow bei dieser widerwärtigen Antwort. Swidrigailow hob den Kopf, blickte ihn unverwandt an und brach plötzlich in ein Gelächter aus.

»Nein«, rief er, »überlegen Sie bloß mal: vor einer halben Stunde hatten wir einander noch nicht gesehen, wir halten uns für Feinde, es liegt noch ein unerledigtes Geschäft zwischen uns – und nun haben wir Geschäft Geschäft sein lassen und sind tief in solche metaphysischen Fragen hineingeraten! Nun, habe ich nicht die Wahrheit gesagt, daß wir Geistesverwandte sind?«

»Haben Sie die Güte«, erwiderte Raskolnikow gereizt, »mir möglichst schnell mitzuteilen, warum sie mir die Ehre Ihres Besuches erwiesen haben, … und … und … ich bin sehr in Eile, ich habe keine Zeit, ich möchte fortgehen …«

»Ganz wie Sie wünschen, ganz wie Sie wünschen! Ihre Schwester, Awdotja Romanowna, heiratet Herrn Pjotr Petrowitsch Lushin?«

»Ich möchte Sie bitten, jede Frage, die meine Schwester betrifft, zu vermeiden und ihren Namen überhaupt nicht zu erwähnen. Es ist mir geradezu unverständlich, wie Sie sich erdreisten können, in meiner Gegenwart ihren Namen auszusprechen, wenn Sie wirklich Swidrigailow sind.«

»Ich bin ja aber gerade deshalb hergekommen, um über sie zu sprechen; wie soll ich es denn da machen, ihren Namen nicht auszusprechen?«

»Nun gut; dann reden Sie, aber recht schnell!«

»Ich bin überzeugt, daß Sie sich über diesen Herrn Lushin, einen Verwandten meiner Frau, bereits ein Urteil gebildet haben, wenn Sie ihn auch nur eine halbe Stunde gesehen oder etwas Zuverlässiges und Genaueres über ihn gehört haben. Er ist kein Mann für Awdotja Romanowna. Meiner Ansicht nach bringt sich Awdotja Romanowna dabei in höchst großmütiger und uneigennütziger Weise zum Opfer für … für ihre Familie. Nach allem, was ich über Sie gehört habe, glaubte ich, Sie würden Ihrerseits recht zufrieden sein, wenn diese Heirat unterbliebe, ohne daß die Interessen der Familie dabei zu Schaden kämen. Und jetzt, nachdem ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich davon sogar fest überzeugt.«

»Alles sehr naiv von Ihnen; Pardon, ich wollte sagen: sehr unverschämt«, erwiderte Raskolnikow.

»Sie wollen wohl damit sagen, daß ich egoistische Absichten verfolge. Aber seien Sie unbesorgt, Rodion Romanowitsch; wenn ich mein eigenes Interesse im Auge hätte, dann würde ich nicht so offen reden; so dumm bin ich denn schließlich doch auch nicht. In dieser Hinsicht möchte ich Ihnen eine psychologisch merkwürdige Mitteilung machen. Als ich vorhin meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, sagte ich, daß ich selbst dabei ein Opfer gewesen sei. Nun, so will ich Ihnen nicht verhehlen, daß ich jetzt keine Liebe zu ihr empfinde, aber auch gar keine, so daß mir das selbst sonderbar vorkommt, weil ich doch tatsächlich etwas Derartiges empfunden hatte …«

»Das kam von Ihrem Müßiggange und Ihrer Sittenlosigkeit her«, unterbrach ihn Raskolnikow.

»Ein Müßiggänger und unsittlicher Mensch bin ich freilich. Indessen besitzt andrerseits Ihre Schwester so viele Vorzüge, daß auch ich einfach nicht imstande war, mich eines gewissen Eindrucks zu erwehren. Aber das alles ist dummes Zeug, wie ich jetzt selbst einsehe.«

»Sind Sie schon lange zu dieser Einsicht gelangt?«

»Die ersten Anfänge dieser Erkenntnis liegen schon weiter zurück; endgültig habe ich mich davon vorgestern überzeugt, fast genau in dem Augenblicke, als ich in Petersburg ankam. Noch in Moskau hatte ich die Vorstellung, daß ich diese Reise machte, um mich um Awdotja Romanownas Hand zu bewerben und mit Herrn Lushin zu rivalisieren.«

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche; aber haben Sie die Güte, sich kurz zu fassen und ohne Umschweife auf den Zweck Ihres Besuches zu kommen. Ich bin in Eile, ich muß fortgehen …«

»Mit dem größten Vergnügen! Da ich hierher nach Petersburg gekommen bin und jetzt eine … eine größere Reise anzutreten beabsichtige, so möchte ich gern vorher einige notwendige Anordnungen treffen. Meine Kinder sind bei ihrer Tante geblieben; sie sind reich; mich persönlich haben sie in keiner Weise nötig. Ich bin ja auch ein schlechter Vater. Für mich habe ich nur das genommen, was mir Marfa Petrowna vor einem Jahre geschenkt hat. Daran habe ich genug. Entschuldigen Sie, ich komme sofort zur Sache. Vor meiner Reise, die vielleicht bald zur Ausführung gelangt, möchte ich auch die Angelegenheit mit Herrn Lushin erledigen. Nicht eigentlich, daß er mir unausstehlich wäre; aber um seinetwillen kam es zwischen mir und Marfa Petrowna zu diesem unangenehmen Streite, als ich erfuhr, daß sie diese Heirat in die Wege geleitet hatte. Ich möchte nun jetzt durch Ihre Vermittlung eine Zusammenkunft mit Awdotja Romanowna haben und ihr – meinetwegen in Ihrer Gegenwart – erstens klarmachen, daß sie von Herrn Lushin nicht nur nicht den geringsten Vorteil, sondern sogar mit Sicherheit einen entschiedenen Schaden zu erwarten hat. Dann möchte ich sie wegen all der Unannehmlichkeiten, die sie unlängst durch meine Schuld zu erleiden gehabt hat, um Verzeihung bitten und um die Erlaubnis nachsuchen, ihr zehntausend Rubel anzubieten und ihr auf diese Weise die Auflösung ihrer Verlobung mit Hern Lushin zu erleichtern; dieser Auflösung würde sie nach meiner Überzeugung selbst nicht abgeneigt sein, wenn sich eine äußere Möglichkeit dazu darböte.«

»Aber Sie sind ja tatsächlich verrückt!« rief Raskolnikow, weniger zornig als erstaunt. »Wie können Sie sich unterstehen, so etwas zu sagen!«

»Das hatte ich mir vorher gedacht, daß Sie ein Geschrei erheben würden; aber erstens habe ich, obwohl ich nicht gerade ein reicher Mann bin, diese zehntausend Rubel übrig, das heißt, ich habe sie gar nicht nötig, absolut nicht nötig. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht nimmt, so gebe ich sie vielleicht auf noch törichtere Weise aus. Das ist das eine. Und zweitens: mein Gewissen ist vollkommen ruhig; ich biete ihr das Geld ohne alle egoistischen Absichten an. Mögen Sie es jetzt glauben oder nicht, aber später werden Sie und Awdotja Romanowna es einsehen. Der Beweggrund für meine Handlungsweise ist einzig und allein dieser: da ich Ihrer hochverehrten Schwester tatsächlich mancherlei Unruhe und Unannehmlichkeiten verursacht habe, so hege ich im Gefühle aufrichtiger Reue den herzlichen Wunsch, nicht etwa mich durch Geld von dem Verschulden zu befreien oder ihr die Unannehmlichkeiten zu bezahlen, sondern ganz einfach etwas zu tun, was ihr Vorteil bringt; es steht ja nirgends geschrieben, daß ich immer nur Schlechtes tun muß. Wenn in meinem Anerbieten auch nur die geringste Spur von egoistischen Absichten steckte, so würde ich ihr doch das Geld nicht so offen anbieten, und ich würde ihr auch nicht bloß zehntausend anbieten, da ich ihr ja vor kaum fünf Wochen eine weit größere Summe angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht in nächster, allernächster Zeit ein junges Mädchen heiraten, so daß auch schon dadurch jeder Verdacht, als hätte ich irgendwelche bösen Anschläge gegen Awdotja Romanowna vor, schwinden muß. Zum Schlusse möchte ich nur hinzufügen, daß Awdotja Romanowna, wenn sie Herrn Lushin heiratet, ja dasselbe Geld annimmt, nur von anderer Seite … Ärgern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, sondern überlegen Sie sich die Sache ruhig und kaltblütig.«

Swidrigailow selbst war, während er dies sagte, außerordentlich kaltblütig und ruhig.

»Ich bitte Sie, nun damit aufzuhören«, sagte Raskolnikow. »Jedenfalls ist Ihr Anerbieten von einer unverzeihlichen Dreistigkeit.«

»Ganz und gar nicht. Sonst könnte ja auf dieser Welt ein Mensch einem andern nur Böses antun und hätte um leerer konventioneller Formen willen kein Recht, ihm auch einmal ein klein bißchen Gutes zukommen zu lassen. Das wäre ja sinnlos. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und Ihrer Schwester diese Summe testamentarisch hinterlassen hätte, würde sie sich etwa auch dann weigern, sie anzunehmen?«

»Sehr möglich.«

»Na, das würde sie nun wohl doch nicht tun. Will sie es übrigens von mir nicht nehmen, nun, dann mag sie es ablehnen; dann unterbleibt es eben. Nur sind zehntausend Rubel keine üble Sache; die können einem bei Gelegenheit gut zustatten kommen. Jedenfalls bitte ich Sie, von meinem Anerbieten Ihrer Schwester Mitteilung zu machen.«

»Nein, das werde ich nicht tun.«

»Dann, Rodion Romanowitsch, werde ich selbst genötigt sein, mich um eine persönliche Zusammenkunft zu bemühen und so Ihre Schwester zu belästigen.«

»Und wenn ich es ihr mitteile, dann werden Sie sich nicht um eine persönliche Zusammenkunft bemühen?«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll. Ich möchte sie doch gar zu gern noch einmal wiedersehen.«

»Diese Hoffnung geben Sie nur auf!«

»Schade! Aber Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht treten wir einander doch noch näher.«

»Halten Sie das für möglich?«

»Aber warum denn nicht?« antwortete Swidrigailow lächelnd, stand auf und griff nach seinem Hute. »Nicht daß ich die Absicht hätte, Sie in Zukunft häufig zu belästigen. Auch habe ich, als ich hierherging, mir ganz und gar keine großen Hoffnungen auf eine Verständigung gemacht, obwohl mich Ihre Physiognomie schon heute vormittag überrascht und interessiert hatte …«

»Wo haben Sie mich denn heute vormittag gesehen?« fragte Raskolnikow beunruhigt.

»Nur ganz zufällig … Ich habe immer die Empfindung, als ob Sie mir einigermaßen geistesverwandt wären … Aber seien Sie ganz unbesorgt; ich verstehe mit Menschen umzugehen und bin immer recht wohl gelitten gewesen; ich habe mit Falschspielern ganz angenehm zusammengelebt, und mit dem Fürsten Swirbej, einem entfernten Verwandten von mir und hohen Würdenträger, habe ich mich gut zu stellen gewußt, und ich habe Witz genug gehabt, der Frau Prilukowa etwas Hübsches über die Raffaelische Madonna ins Album zu schreiben, und ich habe mit Marfa Petrowna sieben Jahre lang still und häuslich auf dem Gute gelebt, und ich habe in früheren Zeiten manchmal im Nachtasyl am Heumarkt geschlafen, und nun werde ich vielleicht mit Berg eine Fahrt mit dem Luftballon unternehmen.«

»Gut, gut. Gestatten Sie eine Frage: Treten Sie Ihre Reise bald an?«

»Was für eine Reise?«

»Nun, Sie sprachen doch vorhin von einer Reise.«

»Von einer Reise? Ach ja! … Richtig, ich sagte Ihnen davon … Nun, das ist eine umfassende Frage … Wenn Sie aber wüßten, wonach Sie sich da erkundigt haben!« fügte er hinzu und brach in ein lautes, kurzes Gelächter aus. »Aber vielleicht verheirate ich mich auch, statt wegzureisen; ich stehe schon durch eine Vermittlerin wegen eines jungen Mädchens in Verhandlung.«

»Hier?«

»Ja.«

»Wie haben Sie denn das schon fertiggebracht?«

»Aber mit Awdotja Romanowna möchte ich doch zu gern noch einmal sprechen. Ich bitte Sie in vollem Ernste, mir dazu behilflich zu sein. Nun, auf Wiedersehen! … Ach ja! Das hätte ich ja beinahe vergessen! Teilen Sie doch Ihrer Schwester mit, Rodion Romanowitsch, daß sie in Marfa Petrownas Testamente mit dreitausend Rubel bedacht ist. Sie kann sich bestimmt darauf verlassen. Marfa Petrowna hat, eine Woche ehe sie starb, ihre Anordnungen für den Todesfall getroffen, und das geschah in meiner Gegenwart. In zwei bis drei Wochen wird Awdotja Romanowna das Geld erhalten können.«

»Sagen Sie die Wahrheit?«

»Gewiß. Teilen Sie es ihr nur mit. Nun, ich empfehle mich. Ich wohne gar nicht weit von Ihnen.«

Beim Hinausgehen stieß Swidrigailow in der Tür mit Rasumichin zusammen.

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Kapitel 23

III

Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen solchen Ausgang in keiner Weise erwartet hatte. Noch bis ganz zuletzt hatte er die Oberhand zu haben geglaubt und gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß sich zwei arme, schutzlose Frauen seiner Gewalt entziehen könnten. Zu dieser Überzeugung trugen seine Eitelkeit und jener hohe Grad von Selbstbewußtsein viel bei, den man am treffendsten als ein »Verliebtsein in sich selbst« bezeichnen kann. Pjotr Petrowitsch, der sich aus sehr niedriger Lebenslage hinaufgearbeitet hatte, hatte sich eine übermäßige Bewunderung seiner eigenen Person angewöhnt; er hegte eine sehr hohe Meinung von seinem Verstande und seinen Fähigkeiten und liebäugelte sogar manchmal, wenn er allein war, im Spiegel mit seinem Gesicht. Mehr aber als alles andre in der Welt liebte und schätzte er sein Geld, das er sich durch Arbeit und mancherlei andre Mittel erworben hatte; denn dieses Geld stellte ihn, wie er meinte, mit allen, die ihn geistig überragten, doch wieder auf gleiche Stufe.

Als er jetzt Dunja mit Bitterkeit daran erinnert hatte, daß er trotz des üblen Geredes über sie gewillt gewesen sei, sie zu heiraten, hatte Pjotr Petrowitsch vollkommen seiner Überzeugung gemäß gesprochen; er empfand sogar eine tiefe Entrüstung über einen solchen schwarzen Undank, wie er es bei sich nannte. Und doch war er schon damals, als er um Dunja anhielt, von der Sinnlosigkeit aller dieser Klatschereien völlig überzeugt gewesen; sie waren ja auch von Marfa Petrowna selbst in aller Öffentlichkeit als unwahr erklärt worden und wurden längst von niemand in der Stadt mehr aufrechterhalten, wo man vielmehr nun eifrig für Dunja Partei nahm. Auch hätte er selbst jetzt nicht in Abrede gestellt, daß er das alles schon damals gewußt hatte. Aber trotzdem rechnete er sich seinen Entschluß, Dunja zu sich heraufzuheben, hoch an und hielt ihn für eine große, edle Tat. Indem er dies soeben Dunja gegenüber ausgesprochen hatte, hatte er einen geheimen, gern gehegten Gedanken geäußert, an dem er selbst schon mehr als einmal seine Freude gehabt hatte, und er fand es unbegreiflich, daß andre seiner edlen Tat ihre Bewunderung versagten. Als er damals Raskolnikow seinen Besuch machte, war er mit dem Gefühle eines Wohltäters eingetreten, der sich anschickt, die Früchte seines Edelmutes zu ernten und süß mundende Lobeserhebungen zu hören. Und als er jetzt die Treppe hinunterstieg, hielt er sich natürlich für tief beleidigt und verkannt.

Dunja war ihm geradezu unentbehrlich; daß er auf sie verzichten sollte, war ihm ganz undenkbar. Schon lange, schon seit mehreren Jahren hatte er mit wonnigem Behagen von seiner künftigen Heirat geträumt, hatte aber immer noch mehr Geld dazugespart und gewartet. Mit Entzücken hatte er sich im geheimsten Winkel seines Innern das Bild eines Mädchens ausgemalt: wohlgesittet sollte sie sein und arm (arm unter allen Umständen), noch sehr jung, sehr hübsch, von guter Herkunft, gebildet, sehr schüchtern; sie müßte bereits sehr viel Not und Elend durchgemacht haben, sich völlig an ihn schmiegen, ihn ihr ganzes Leben lang als ihren Retter betrachten, voll Ehrfurcht zu ihm aufschauen, sich ihm unterordnen und ihn, einzig und allein ihn, bewundern. Wieviel hübsche Szenen, wieviel wonnige Idylle hatte ihm nicht über dieses interessante, lockende Thema seine Phantasie vor Augen geführt, wenn er sich in der Stille von seinen Geschäften erholte! Und siehe da, der Traum so vieler Jahre hatte sich beinahe schon verwirklicht: Awdotja Romanownas Schönheit und Bildung hatten ihn unbehaglichen Empfindung erinnerte er sich unwillkürlich auch an Rasumichin, … indessen in dieser Hinsicht beruhigte er sich bald wieder: das wäre ja noch besser, wenn auch der mit ihm auf gleiche Stufe gestellt würde! Vor wem er sich aber wirklich im Ernste fürchtete, das war Swidrigailow … Kurz, es standen ihm mancherlei unangenehme Dinge, viele Scherereien bevor …


»Nein, ich bin am meisten schuld!« sagte Dunjetschka und umarmte und küßte ihre Mutter. »Ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen; aber ich schwöre dir, Bruder, ich habe keine Ahnung davon gehabt, daß er ein so unwürdiger Mensch ist. Hätte ich ihn früher durchschaut, so hätte ich mich durch nichts verlocken lassen! Urteile nicht zu streng über mich, Bruder!«

»Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!« murmelte Pulcheria Alexandrowna; aber sie war noch ganz benommen und schien sich über alles Vorgefallene noch nicht recht klargeworden zu sein.

Alle freuten sich, und fünf Minuten darauf lachten sie sogar. Nur wurde Dunja mitunter blaß und zog die Brauen zusammen, wenn sie sich des Geschehenen erinnerte. Pulcheria Alexandrowna hätte vorher nie gedacht, daß auch sie selbst sich darüber freuen würde: noch am Vormittag war ihr ein Bruch mit Lushin als ein furchtbares Unglück erschienen. Rasumichin aber war geradezu entzückt. Er wagte noch nicht, seine Glückseligkeit in vollem Umfange zu zeigen; aber er zitterte am ganzen Leibe wie im Fieber, als wäre ihm ein zentnerschwerer Stein vom Herzen gefallen. Jetzt hatte er, seiner Anschauung nach, das Recht, ihnen sein ganzes Leben zu weihen, ihnen zu dienen … Und was konnte sich jetzt nicht sonst noch alles begeben! Jedoch verscheuchte er ängstlich alle weitergehenden Gedanken und fürchtete sich vor seiner eigenen Phantasie. Nur Raskolnikow saß immer noch auf demselben Platze, mit beinahe düsterem und sogar zerstreutem Gesichtsausdrucke. Er, der am allermeisten auf Lushins Entfernung bestanden hatte, schien sich jetzt weniger als alle andern für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja kam unwillkürlich auf den Gedanken, daß er ihr vielleicht immer noch sehr böse sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn mit heimlicher Angst.

»Was hat dir denn Swidrigailow gesagt?« fragte Dunja, zu ihm tretend.

»Ach ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Raskolnikow hob den Kopf.

»Er will dir durchaus zehntausend Rubel schenken und spricht dabei den Wunsch aus, mit dir einmal in meiner Gegenwart zusammenzukommen.«

»Mit ihr zusammenzukommen! Um keinen Preis!« rief Pulcheria Alexandrowna. »Und wie kann er es wagen, ihr Geld anzubieten!«

Darauf berichtete Raskolnikow in recht trockener Art über sein Gespräch mit Swidrigailow, erwähnte aber nichts davon, daß Marfa Petrowna diesem als Geist erschienen sei, um nicht in ein unnötiges Gesprächsthema hineinzugeraten; denn er empfand einen Widerwillen dagegen, irgendein Gespräch zu führen, das nicht durchaus notwendig war.

»Was hast du ihm geantwortet?« fragte Dunja.

»Zuerst habe ich gesagt, ich würde dir nichts davon mitteilen. Darauf erklärte er, dann würde er selbst mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln eine Begegnung mit dir herbeizuführen suchen. Er versicherte, daß seine Leidenschaft für dich eine Verrücktheit gewesen sei und daß er jetzt nichts mehr für dich empfinde … Er will nicht, daß du Lushin heiratest … Er sprach überhaupt verworren und unklar.«

»Wie erklärst du dir selbst sein Verhalten, Rodja? Was hat er auf dich für einen Eindruck gemacht?«

»Ich muß gestehen, ich sehe da noch nicht klar. Er bietet dir zehntausend Rubel an und sagt selbst, daß er nicht reich sei. Er erklärt, er wolle eine größere Reise antreten, und nach zehn Minuten hat er bereits vergessen, daß er davon gesprochen hat. Dann wieder sagt er auf einmal, er wolle sich verheiraten und lasse bereits um ein junges Mädchen werben. Jedenfalls verfolgt er eine bestimmte Absicht, und aller Wahrscheinlichkeit nach eine schlechte. Aber andrerseits ist schwer anzunehmen, daß er die Sache so dumm angreifen würde, wenn er gegen dich Schlechtes im Schilde führte … Ich habe natürlich dieses Geld in deinem Namen ein für allemal abgelehnt. Überhaupt machte er mir einen sehr sonderbaren Eindruck, und … ich glaubte sogar … Anzeichen von Verrücktheit bei ihm wahrzunehmen. Möglich aber auch, daß ich mich geirrt habe; vielleicht liegt hier einfach ein absonderlicher Überlistungsversuch vor. Der Tod seiner Frau hat, wie es scheint, auf ihn Eindruck gemacht …«

»Gott schenke ihrer Seele die ewige Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna. »Mein lebelang will ich für sie zu Gott beten! Was würde jetzt aus uns werden, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! O Gott, die sind ja wie vom Himmel gefallen! Ach, Rodja, wir hatten ja heute früh nur noch drei Rubel im Vermögen, und Dunja und ich überlegten nur noch, wie wir irgendwo die Uhr möglichst schnell versetzen könnten, um nur nicht diesen Menschen bitten zu müssen, ehe es ihm nicht selbst in den Sinn käme, uns etwas anzubieten.«

Dem jungen Mädchen war Swidrigailows Anerbieten gar zu überraschend gekommen; sie stand noch immer in Gedanken versunken.

»Er hat irgend etwas Schreckliches vor!« sprach sie fast flüsternd vor sich hin und schauderte zusammen.

Raskolnikow bemerkte diese gewaltige Furcht.

»Ich glaube, ich werde ihn noch manchmal zu sehen bekommen«, sagte er zu Dunja.

»Wir wollen ihn beobachten! Ich werde schon hinter ihm her sein!« rief Rasumichin energisch. »Nicht aus den Augen lasse ich den Menschen! Rodja hat es mir erlaubt. Er hat selbst zu mir gesagt: ›Beschütze meine Schwester!‹ Und wollen auch Sie es mir erlauben, Awdotja Romanowna?«

Dunja lächelte und reichte ihm die Hand; aber ihr Gesicht verlor nicht den sorgenvollen Ausdruck. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an, fühlte sich indes durch die dreitausend Rubel offenbar nicht wenig beruhigt.

Eine Viertelstunde darauf befanden sie sich alle im lebhaftesten Gespräche. Sogar Raskolnikow, obgleich er selbst nicht sprach, hörte eine Zeitlang aufmerksam zu. Rasumichin redete unermüdlich.

»Und warum, warum sollten Sie von hier wieder wegziehen?« rief er entzückt und begeistert aus. »Was können Sie denn in dem kleinen Neste dort anfangen? Und die Hauptsache ist doch: hier sind Sie alle beieinander; und Sie haben einander nötig, sehr nötig, verstehen Sie mich! Na, versuchen Sie es hier wenigstens eine Zeitlang … Und mich nehmen Sie als Freund, als Kompagnon an, und ich versichere Ihnen, das Unternehmen, das wir gründen wollen, wird famos prosperieren. Hören Sie nur zu, ich will Ihnen alles im einzelnen auseinandersetzen, das ganze Projekt! Schon heute früh, als noch nichts passiert war, fuhr mir der Gedanke durch den Kopf … Also die Sache ist die: Ich habe einen Onkel (ich werde Sie mit ihm bekannt machen; ein sehr vernünftiger, achtungswerter alter Herr), und dieser Onkel besitzt ein Kapital von tausend Rubel; aber er selbst lebt von seiner Pension und braucht weiter nichts. Schon seit mehr als einem Jahre setzt er mir mit Bitten zu, ich möchte diese tausend Rubel von ihm annehmen und sie ihm mit sechs Prozent verzinsen. Ich durchschaue ja seine Schliche: er will mich einfach unterstützen. Im vorigen Jahre brauchte ich nicht notwendig Geld; aber in diesem Jahre habe ich nur auf seine Ankunft gewartet und bin entschlossen, das Geld anzunehmen. Dann geben Sie von Ihren dreitausend noch tausend dazu; das reicht für den ersten Anfang; wir assoziieren uns. Aber nun: von welcher Art wird das Unternehmen sein?«

Nun begann Rasumichin sein Projekt darzulegen und redete ein langes und breites darüber, daß fast alle unsre Buchhändler und Verleger kein rechtes Verständnis für Bücher hätten und daher auch gewöhnlich beim Verlegen schlechte Geschäfte machten, daß aber wirklich gute Verlagsartikel sich immer rentierten und Gewinn abwürfen, manchmal sogar recht bedeutenden. Die Verlagstätigkeit, das war das Ideal Rasumichins, der schon zwei Jahre lang für andre gearbeitet hatte und drei europäische Sprachen ganz gut kannte, obgleich er vor sechs Tagen zu Raskolnikow gesagt hatte, er sei im Deutschen schwach. Aber das hatte er damals eben nur gesagt, um ihn dazu zu bewegen, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raskolnikow hatte gewußt, daß er log.

»Warum sollen wir uns denn unsern Vorteil entgehen lassen, wenn uns plötzlich das wichtigste Hilfsmittel zugefallen ist: eigenes Anlagekapital?« sagte Rasumichin in hellem Eifer. »Natürlich wird es genug Arbeit kosten; aber arbeiten wollen wir schon, Sie, Awdotja Romanowna, und ich, und Rodja … Manche Bücher werfen jetzt einen vorzüglichen Profit ab! Und die beste Garantie für das Gedeihen unseres Unternehmens liegt darin, daß wir immer wissen werden, was gerade übersetzt werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und studieren, alles zugleich. Ich kann mich dabei nützlich machen, weil ich bereits Erfahrung besitze. Es sind jetzt fast schon zwei Jahre, daß ich mit Verlegern zu schaffen habe, und ich kenne alle ihre Kniffe und Pfiffe; eine Hexerei ist es nicht, das können Sie mir glauben! Warum sollen wir denn nicht zuschnappen, wenn sich uns ein fetter Bissen darbietet! Ich kenne selbst zwei, drei außerordentlich geeignete Bücher; das ist ein Geheimnis, das ich sorgsam bewahre. Die bloße Idee, sie zu übersetzen und zu verlegen, ist hundert Rubel pro Buch wert, und bei dem einen von ihnen verkaufe ich die Idee nicht für fünfhundert Rubel. Und was meinen Sie wohl: wenn ich meine Idee einem Verleger mitteilte, würde er am Ende noch seine Bedenken haben, so ein Esel! Und was die eigentlichen Geschäftssachen anlangt, also Druck, Papier, Verkauf, so übertragen Sie das nur mir! Ich kenne alle Schliche. Wir wollen klein anfangen und uns in die Höhe bringen; wenigstens werden wir unsern Unterhalt davon haben und jedenfalls das hineingesteckte Geld wieder herausbekommen.«

Dunjas Augen glänzten.

»Was Sie uns da vortragen, gefällt mir sehr, Dmitrij Prokofjitsch«, sagte sie.

»Ich verstehe natürlich nichts davon«, bemerkte Pulcheria Alexandrowna. »Es kann ja sein, daß es ganz gut ist; aber Gott mag’s wissen. Es ist alles so neuartig und fremd. Natürlich müssen wir hierbleiben, mindestens für die nächste Zeit …«

Sie blickte Rodja an.

»Wie denkst du darüber, Bruder?« fragte Dunja.

»Ich denke, daß es eine sehr gute Idee von ihm ist«, antwortete er. »An eine wirkliche Verlagsfirma darf man selbstverständlich vorläufig nicht denken; aber so fünf oder sechs Bücher wird man in der Tat mit unzweifelhaftem Erfolge verlegen können. Ich kenne auch selbst ein Werk, das mit Sicherheit gut gehen wird. Und was seine Fähigkeit, die Sache durchzuführen, anlangt, so kann daran kein Zweifel sein; er versteht die Sache … Aber ihr werdet ja noch Zeit haben, alles miteinander zu besprechen …«

»Hurra!« rief Rasumichin. »Nun passen Sie einmal auf: hier in diesem Hause ist eine Wohnung zu haben, bei denselben Wirtsleuten. Sie liegt ganz für sich, abgesondert, und steht mit diesem Hotel garni nicht in Verbindung; sie ist möbliert, der Preis ist mäßig, es sind drei Stübchen. Also die sollten Sie fürs erste mieten. Die Uhr werde ich morgen für Sie versetzen und Ihnen das Geld bringen, und dann wird alles in Ordnung kommen. Und die Hauptsache ist, daß Sie alle drei zusammen wohnen können; denn auch Rodja kann bei Ihnen wohnen. Wo willst du denn hin, Rodja?«

»Wie, Rodja, du willst schon fortgehen?« fragte Pulcheria Alexandrowna ganz erschrocken.

»In einem solchen Augenblick?« rief Rasumichin.

Dunja blickte ihren Bruder mit mißtrauischer Verwunderung an. Er hielt die Mütze in der Hand und schickte sich an wegzugehen.

»Na aber, ihr tut ja gerade, als ob ihr mich begraben wolltet oder für immer von mir Abschied nähmet!« sagte er in seltsamem Tone. Es sah aus, als ob er lächelte; aber ein wirkliches Lächeln war es nicht. »Allerdings, wer weiß, vielleicht ist es auch das letzte Mal, daß wir uns sehen«, fügte er unvermutet hinzu.

Er hatte das eigentlich nur denken wollen; aber wie von selbst waren es vernehmliche Worte geworden.

»Aber was ist denn mit dir?« rief die Mutter.

»Wohin gehst du, Rodja?« fragte Dunja auffallend ernst.

»Ich habe nichts Besonderes vor, einen notwendigen Weg«, antwortete er unklar und unbestimmt, als sei er unsicher, was er sagen solle; aber sein blasses Gesicht trug den Ausdruck fester Entschlossenheit.

»Ich nahm mir vor, … als ich hierherging, … ich nahm mir vor, Ihnen, Mama, … und dir, Dunja, zu sagen, daß es wohl das beste ist, wenn wir uns eine Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich habe eine solche Unruhe, … ich komme später wieder zu euch, ich komme ganz von selbst wieder, sobald … es möglich ist. Ich werde an euch denken und euch liebbehalten … Aber laßt mich jetzt, laßt mich allein! Ich habe diesen Entschluß gefaßt, … schon früher … Ich habe mich fest dazu entschlossen … Was auch mit mir geschehen möge, ob ich nun zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein sein. Vergeßt mich völlig; das ist das beste … Erkundigt euch nicht nach mir. Sobald es nötig ist, komme ich selbst wieder, oder … ich rufe euch zu mir. Vielleicht wird noch alles gut! … Aber jetzt, wenn ihr mich liebt, trennt euch von mir … Sonst fange ich an, euch zu hassen; das fühle ich … Lebt wohl!«

»O Gott, o Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Mutter und Schwester waren beide aufs tiefste erschrocken; nicht minder Rasumichin.

»Rodja, Rodja! Sei doch wieder gut zu uns; laß uns doch miteinander so weiterleben, wie wir es immer getan haben!« rief die arme Mutter.

Langsam wandte er sich um und ging langsam zur Tür, um das Zimmer zu verlassen. Dunja eilte ihm nach.

»Bruder! Was tust du unsrer Mutter an!« flüsterte sie; in ihren Augen funkelte die Entrüstung.

Er schaute sie düster an.

»Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen; ich komme wieder; ich werde manchmal kommen!« murmelte er halblaut, als wäre er sich selbst nicht recht bewußt, was er eigentlich sagen wollte, und ging aus dem Zimmer.

»Ein böser, gefühlloser Egoist!« rief Dunja.

»Verrückt ist er, nicht gefühllos! Er ist geisteskrank! Sehen Sie denn das nicht? Sonst wären Sie ja selbst gefühllos! …« flüsterte Rasumichin ihr in größter Erregung ins Ohr und drückte ihr kräftig die Hand.

»Ich komme gleich wieder!« rief er Pulcheria Alexandrowna zu, die vor Schreck wie gelähmt war, und stürzte aus dem Zimmer.

Raskolnikow wartete draußen, am Ende des Korridors, auf ihn.

»Ich hatte es mir gedacht, daß du noch zu mir herauskommen würdest«, sagte er. »Geh wieder zu ihnen zurück und bleib bei ihnen … Bleib auch morgen bei ihnen … und immer. Ich … komme vielleicht wieder, … wenn ich kann. Leb wohl!«

Und ohne ihm die Hand zu reichen, wandte er sich zum Gehen.

»Aber wo willst du denn hin? Was hast du nur? Was ist mit dir los? Wie ist so was nur möglich!« murmelte Rasumichin ganz fassungslos.

Raskolnikow blieb noch einmal stehen.

»Ein für allemal: frage mich nie und nach nichts. Ich kann dir keine Antwort geben … Komm nicht zu mir. Vielleicht komme ich wieder hierher … Verlaß mich, … aber die beiden da verlaß nicht! Verstehst du mich?«

Im Korridor war es dunkel; aber sie standen bei einer Lampe. Eine Minute lang blickten sie einander schweigend an. Sein ganzes Leben lang erinnerte sich Rasumichin dieser Minute. Raskolnikows brennender, starrer Blick schien jeden Augenblick schärfer zu werden und bohrte sich ihm in Herz und Hirn. Auf einmal zuckte Rasumichin zusammen. Es war, als sei etwas Seltsames zwischen ihnen beiden hindurchgegangen, hindurchgeschlüpft, … ein Gedanke, eine Art Ahnung, etwas Furchtbares, Ungeheuerliches, was beiden auf einmal zum Bewußtsein kam … Rasumichin wurde leichenblaß.

»Verstehst du mich jetzt?« sagte Raskolnikow mit krampfhaft verzogenem Gesichte. »Kehre zurück, geh zu ihnen«, fügte er hinzu, wendete sich schnell um und ging aus dem Hause.

Es ist nicht meine Absicht, zu schildern, was an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna vorging: wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er auseinandersetzte, man müsse Rodja, solange er krank sei, Ruhe gönnen, wie er beteuerte, Rodja werde jedenfalls wiederkommen, jeden Tag kommen: seine Nerven seien furchtbar angegriffen, und man dürfe ihn nicht reizen; er, Rasumichin, werde ihn nicht aus den Augen lassen; er werde ihm einen guten Arzt beschaffen, den besten, den es gebe, ein ganzes Konsilium … Kurz, Rasumichin wurde ihnen an diesem Abend Sohn und Bruder.

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Kapitel 22

II

Es war schon fast acht Uhr; beide machten sich eilig nach dem Bakalejewschen Hotel garni auf, um noch vor Lushin dort einzutreffen.

»Nun, wer war denn das?« fragte Rasumichin, als sie auf die Straße traten.

»Das war Swidrigailow, eben jener Gutsbesitzer, in dessen Hause meine Schwester Gouvernante war und schwer gekränkt wurde. Infolge der Liebesanträge, mit denen er ihr zusetzte, verließ sie ihre Stellung; sie wurde nämlich von seiner Frau, Marfa Petrowna, aus dem Hause gejagt. Diese Marfa Petrowna hat dann später den wahren Sachverhalt erfahren und Dunja um Verzeihung gebeten; jetzt ist sie ganz plötzlich gestorben. Meine Mutter und meine Schwester sprachen heute morgen von ihr. Ich weiß nicht recht, warum, aber ich fürchte mich sehr vor diesem Menschen. Gleich nach der Beerdigung seiner Frau ist er hierhergereist. Er hat ein ganz sonderbares Wesen und verfolgt energisch irgendein bestimmtes Ziel … Es macht den Eindruck, als wüßte er irgend etwas … Dunja muß vor ihm beschützt werden, … das wollte ich auch dir sagen, hörst du?«

»Beschützen! Was kann er ihr denn tun? Na, aber ich danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst … Wir wollen sie schon beschützen; das wollen wir!… Wo wohnt er denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum hast du ihn nicht gefragt? Schade! Aber das werde ich bald herausbekommen!«

»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikow nach einem kurzen Schweigen.

»Jawohl, ich habe ihn mir gemerkt, ordentlich gemerkt.«

»Hast du ihn auch genau gesehen, deutlich gesehen?« fragte Raskolnikow nochmals.

»Aber ja! Ich habe ihn ganz deutlich in der Erinnerung; aus tausend Menschen will ich ihn herauserkennen; ich habe für Physiognomien ein gutes Gedächtnis.«

Wieder schwiegen sie ein Weilchen.

»Hm! … Na ja …«, murmelte Raskolnikow. »Sonst, weißt du, … ich dachte schon, … es scheint mir immer, … daß das vielleicht nur eine Sinnestäuschung von mir ist.«

»Was willst du damit sagen? Ich verstehe dich nicht recht.«

»Ihr sagt doch alle«, fuhr Raskolnikow fort und verzog den Mund zu einem Lächeln, »ich wäre verrückt; jetzt eben hatte ich nun auch die Empfindung, daß ich vielleicht wirklich verrückt wäre und nur eine Vision gehabt hätte.«

»Aber was redest du da?«

»Ja, wer weiß? Vielleicht bin ich tatsächlich verrückt, und alle Ereignisse dieser letzten Tage haben sich nur in meiner Einbildung zugetragen …«

»Ach, Rodja! Das Gespräch mit dem Menschen hat dich wieder aufgeregt! … Was hat er denn gesagt? Warum ist er zu dir gekommen?«

Raskolnikow antwortete nicht; Rasumichin überlegte eine Minute lang; dann begann er:

»Nun, dann höre mal meinen Bericht an. Ich bin schon einmal bei dir gewesen, aber da schliefst du. Darauf aßen wir zu Mittag, und dann ging ich zu Porfirij. Sametow war immer noch bei ihm. Ich wollte ein Gespräch über die Sache anfangen, aber es gelang mir nicht recht; ich konnte es immer nicht in der richtigen Weise in Gang bringen. Es sah aus, als ob sie mich nicht verständen und nicht verstehen könnten, aber gar nicht verlegen wären. Ich nahm mir Porfirij beiseite ans Fenster und fing an zu sprechen; aber ich weiß nicht, es wurde wieder nichts Rechtes: er sah zur Seite, und ich sah zur Seite. Schließlich hielt ich ihm die Faust vors Gesicht und sagte, ich würde ihn zermalmen, so in verwandtschaftlicher Weise. Aber er sah mich bloß an. Ich spuckte aus und ging weg, und damit war die Sache zu Ende. Dumm, sehr dumm! Mit Sametow habe ich kein Wort gesprochen. Aber nun sieh mal: ich dachte zuerst, ich hätte die Sache noch mehr verdorben; aber als ich die Treppe hinunterstieg, kam mir ein Gedanke oder vielmehr eine Art Erleuchtung: warum machen wir beide, du und ich, uns eigentlich soviel Sorge und Mühe? Ja, wenn für dich eine Gefahr bestände, na, dann natürlich! Aber was geht es dich an? Du hast ja mit der Geschichte nichts zu tun, also scher dich nicht um die Kerle! Wir werden nachher noch weidlich über sie lachen, und ich würde sie an deiner Stelle noch absichtlich irreführen. Wie sie sich nachher schämen werden! Scher dich nicht um sie; nachher können wir sie auch durchprügeln, aber jetzt wollen wir über sie lachen!«

»Gewiß, selbstverständlich!« antwortete Raskolnikow.

›Aber was wirst du morgen sagen?‹ dachte er bei sich. Sonderbarerweise war ihm bisher noch nie der Gedanke gekommen: ›Was wird Rasumichin dazu sagen, wenn er es erfährt?‹ Bei diesem Gedanken blickte Raskolnikow ihn prüfend an. Für Rasumichins jetzigen Bericht über seinen Besuch bei Porfirij interessierte er sich nur sehr wenig: so vieles war in der Zwischenzeit in den Hintergrund getreten, und anderes hatte an Wichtigkeit gewonnen! …

Im Korridor trafen sie mit Lushin zusammen: er war pünktlich um acht Uhr gekommen und suchte nun die Zimmernummer, so daß sie alle drei gleichzeitig eintraten, aber ohne einander anzusehen und zu begrüßen. Die beiden jungen Männer gingen voran; Pjotr Petrowitsch dagegen, der immer den Anstand wahrte, verweilte noch einen Augenblick im Vorzimmer und legte dort seinen Überzieher ab. Pulcheria Alexandrowna ging sogleich hinaus, um ihn an der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder.

Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen sehr artig, aber mit ganz besonders gemessenem Wesen. Es machte den Eindruck, als ob er einigermaßen überrascht wäre und sich noch nicht gefaßt hätte. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls verlegen schien, forderte eilfertig alle auf, an dem runden Tische, auf dem der Samowar summte, Platz zu nehmen. Dunja und Lushin setzten sich einander gegenüber; Rasumichin und Raskolnikow kamen Pulcheria Alexandrowna gegenüber zu sitzen, und zwar Rasumichin näher an Lushin, Raskolnikow neben seiner Schwester.

Einen Augenblick schwiegen alle. Pjotr Petrowitsch zog langsam sein batistenes, parfümiertes Taschentuch heraus und benutzte es mit der Miene eines edlen, tugendhaften Menschen, der sich in seiner Würde etwas gekränkt fühlt und fest entschlossen ist, eine Erklärung zu verlangen. Als er noch im Vorzimmer war, war ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht das beste sei, den Überzieher gar nicht auszuziehen, sondern wieder fortzugehen und dadurch die beiden Damen in strenger, nachdrücklicher Weise zu bestrafen, damit sie gleich mit einem Male seinen ganzen Unwillen zu fühlen bekämen. Aber er hatte sich doch nicht dazu entschließen können. Außerdem war er kein Freund unklarer Situationen, und hier mußte etwas klargestellt werden: wenn sein Befehl so offenkundig mißachtet worden war, so steckte gewiß etwas Besonderes dahinter; mithin war es das beste, dies zunächst in Erfahrung zu bringen; zur Bestrafung würde immer noch Zeit sein; das hatte er ja in der Hand.

»Ich hoffe, Ihre Reise ist glücklich vonstatten gegangen?« wandte er sich in förmlichem Tone an Pulcheria Alexandrowna.

»Ja, Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.«

»Das freut mich sehr. Und Sie sind auch nicht zu sehr davon angegriffen, Awdotja Romanowna?«

»Ich bin jung und kräftig; mich greift so etwas nicht an; aber meiner Mama ist es recht schwer geworden«, antwortete Dunja.

»Was ist da zu machen? Die Entfernungen bei uns zulande sind eben gar zu groß. Groß ist unser sogenanntes Mütterchen Rußland. Ich konnte es beim besten Willen gestern leider nicht ermöglichen, Sie auf dem Bahnhofe zu empfangen. Ich hoffe indes, daß sich alles ohne besondre Schwierigkeiten erledigt hat?«

»Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr mutlos«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna mit besondrer Betonung zu erwidern, »und wenn uns nicht Gott selbst, möchte ich meinen, in Dmitrij Prokofjitsch einen Helfer gesandt hätte, so wären wir ganz verloren gewesen. Hier: Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin«, stellte sie ihn Herrn Lushin vor.

»Jawohl, ich hatte bereits das Vergnügen, … schon gestern«, murmelte Lushin, indem er jenem einen schrägen, feindseligen Blick zuwarf; dann machte er ein finsteres Gesicht und schwieg.

Überhaupt gehörte Pjotr Petrowitsch allem Anscheine nach zu den Leuten, die sich in Gesellschaft äußerst liebenswürdig benehmen und auch als sehr liebenswürdig anerkannt zu werden beanspruchen, die aber, sobald nur etwas nicht nach ihrem Wunsche ist, sogleich alle ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten verlieren und dann eher Mehlsäcken gleichen als gewandten Kavalieren, die eine Gesellschaft zu beleben verstehen. Alle waren wieder stumm: Raskolnikow schwieg hartnäckig; auch Dunja wollte nicht vor der Zeit das Schweigen brechen; Rasumichin hatte keinen Anlaß zu sprechen; so wurde denn Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig.

»Marfa Petrowna ist gestorben; haben Sie davon gehört?« begann sie, indem sie wieder zu ihrem besten Gesprächsthema ihre Zuflucht nahm.

»Gewiß habe ich es erfahren. Ich wurde sofort davon benachrichtigt und bin sogar jetzt hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow unmittelbar nach der Beerdigung seiner Gemahlin eiligst nach Petersburg gereist ist. Wenigstens besagen das die sehr genauen Nachrichten, die ich erhalten habe.«

»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja beunruhigt und wechselte einen Blick mit ihrer Mutter.

»Ganz richtig, und selbstverständlich nicht ohne besondre Absichten, wie man sich das leicht denken kann, wenn man die Eilfertigkeit seiner Abreise und überhaupt die vorangegangenen Umstände in Erwägung zieht.«

»Mein Gott! Will er denn Dunjetschka nicht einmal hier in Ruhe lassen?« rief Pulcheria Alexandrowna.

»Mir scheint, zu besondrer Beunruhigung ist kein Anlaß, weder für Sie noch für Awdotja Romanowna, vorausgesetzt natürlich, daß Sie nicht selbst mit ihm in irgendwelche Beziehungen zu treten wünschen. Was mich anbetrifft, so werde ich ihn beobachten und jetzt zunächst ausfindig zu machen suchen, wo er Quartier genommen hat.«

»Ach, Pjotr Petrowitsch, Sie glauben gar nicht, wie Sie mich durch diese Nachricht erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen, und er erschien mir entsetzlich, geradezu entsetzlich! Ich bin überzeugt, daß er die Schuld an dem Tode der seligen Marfa Petrowna trägt.«

»Zu einem abschließenden Urteile kann man darüber nicht kommen, obwohl ich recht genaue Nachrichten habe. Ich bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge durch die sozusagen seelische Wirkung der Beleidigung beschleunigt hat; was aber das Betragen dieses Mannes und überhaupt seinen sittlichen Charakter betrifft, so stimme ich Ihnen durchaus bei. Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und wieviel ihm Marfa Petrowna eigentlich hinterlassen hat; darüber werde ich in kürzester Frist orientiert sein; aber wenn er nur einigermaßen über Geldmittel verfügt, so wird er sicher hier in Petersburg sofort wieder sein altes Leben anfangen. Er ist das verkommenste, lasterhafteste Subjekt unter dieser ganzen Menschenklasse! Ich habe schwerwiegende Gründe zu der Annahme, daß Marfa Petrowna, die vor acht Jahren das Unglück hatte, sich heftig in ihn zu verlieben, und ihn vom Schuldgefängnis loskaufte, ihm auch in andrer Hinsicht einen großen Dienst geleistet hat: es wurde nämlich einzig und allein infolge ihrer Bemühungen und der von ihr gebrachten Opfer ein Kriminalprozeß in seinen ersten Anfängen unterdrückt, bei welchem es sich um einen bestialischen und sozusagen exzentrischen Mord handelte, für den er recht wohl hätte nach Sibirien spazieren können. So ein Mensch ist das, wenn es Sie interessiert.«

»Ach Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Raskolnikow hatte aufmerksam zugehört.

»Ist das auch wahr, daß Sie darüber zuverlässige Nachrichten haben?« fragte Dunja streng und nachdrücklich.

»Ich erzähle nur wieder, was ich selbst unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese Sache vom juristischen Standpunkte aus recht dunkel ist. Hier lebte und lebt auch wohl noch eine gewisse Frau Rößlich, eine Ausländerin, die in kleinem Maßstabe Wuchergeschäfte macht und sich auch mit andern Sachen befaßt. Mit dieser Frau Rößlich stand Herr Swidrigailow seit langer Zeit in sehr nahen, geheimnisvollen Beziehungen. Bei ihr wohnte eine entfernte Verwandte, wenn ich mich recht besinne, eine Nichte, ein taubstummes Mädchen von fünfzehn oder auch nur vierzehn Jahren, auf die diese Frau Rößlich einen grenzenlosen Haß hatte; sie gönnte ihr keinen Bissen Brot und schlug sie sogar in unmenschlicher Weise. Eines Tages fand man dieses Mädchen auf dem Boden erhängt. Nach Ansicht der Gerichtskommission lag Selbstmord vor, und man hielt nach Erledigung der üblichen Formalitäten die Sache für abgetan. Aber später tauchte eine Denunziation auf, das Kind sei von Swidrigailow in grausamer Weise … entehrt worden. Allerdings war das alles sehr dunkel; die Denunziation rührte von einer andern Deutschen her, einem übel beleumundeten, wenig glaubwürdigen Frauenzimmer. Schließlich stellte sich dank den Bemühungen und Geldopfern Marfa Petrownas heraus, daß in Wirklichkeit gar keine Denunziation vorlag; es beschränkte sich alles auf ein Gerücht. Aber freilich war dieses Gerücht recht vielsagend. Sie, Awdotja Romanowna, haben gewiß in dem Swidrigailowschen Hause auch von der Geschichte mit dem Diener Filipp gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, infolge der erlittenen Mißhandlungen starb.«

»Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filipp sich selbst erhängt hat.«

»Ganz richtig; aber gezwungen oder, richtiger gesagt, veranlaßt wurde er zum Selbstmord durch die unaufhörlichen, systematischen Verfolgungen und Bestrafungen seitens dieses Herrn Swidrigailow.«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte Dunja trocken; »ich habe nur eine sehr sonderbare Geschichte gehört: dieser Filipp wäre eine Art Hypochonder, so ein Dorfphilosoph gewesen; er hätte nach der Ansicht der Leute zuviel gelesen und hätte sich eher infolge der Spöttereien des Herrn Swidrigailow als infolge von erhaltenen Schlägen erhängt. Während meiner Anwesenheit auf dem Gute behandelte er seine Leute gut, und die Leute hatten ihn sogar recht gern, obgleich sie ihm tatsächlich die Schuld an Filipps Tode beimaßen.«

»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal die Neigung bekommen haben, ihn zu verteidigen«, bemerkte Lushin und verzog den Mund zu einem zweideutigen Lächeln. »In der Tat, er ist ein schlauer Mann und hat für Damen etwas Verführerisches; dafür dient Marfe Petrowna, die auf so merkwürdige Weise gestorben ist, als betrübliches Beispiel. Ich wollte nur Ihnen und Ihrer Frau Mutter im Hinblick auf die neuen Anschläge, die von seiner Seite zweifellos bevorstehen, mit meinem Rate dienen. Ich für meine Person bin fest überzeugt, daß dieser Mensch mit Sicherheit wieder im Schuldgefängnis verschwinden wird. Marfa Petrowna hat niemals die Absicht gehabt, ihm etwas zu vermachen; sie nahm das Interesse ihrer Kinder wahr; und wenn sie ihm wirklich etwas hinterlassen haben sollte, so dürfte es nur das für den notwendigen Unterhalt Erforderliche sein, eine kleine Summe, die bei einem Menschen mit seinen Gewohnheiten auch nicht ein Jahr reicht.«

»Pjotr Petrowitsch, ich bitte Sie«, sagte Dunja, »wir wollen nicht mehr von Herrn Swidrigailow sprechen. Es ruft in mir zu schmerzliche Gefühle wach.«

»Er ist soeben bei mir gewesen«, sagte plötzlich Raskolnikow, der zum ersten Male sein Schweigen brach.

Von allen Seiten erschollen Ausrufe der Verwunderung; alle wandten sich zu ihm. Sogar Pjotr Petrowitsch geriet in Erregung.

»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief«, fuhr Raskolnikow fort, »kam er zu mir herein, weckte mich und stellte sich mir vor. Er war recht ungezwungen und heiter und hofft zuversichtlich, daß wir beide einander nähertreten werden. Unter anderm bittet er dringend um eine Zusammenkunft mit dir, Dunja, und hat mich gebeten, das zu vermitteln. Er will dir einen Vorschlag machen und hat mir mitgeteilt, worin dieser besteht. Außerdem hat er mir auf das bestimmteste versichert, daß Marfa Petrowna noch eine Woche vor ihrem Tode dir, Dunja, dreitausend Rubel testamentarisch hinterlassen hat und daß du dieses Geld in Bälde erhalten kannst.«

»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna und bekeuzigte sich. »Bete für sie, Dunja, bete für sie!«

»Ja, das verhält sich wirklich so«, sagte Lushin unwillkürlich und unbedacht.

»Nun, und was weiter?« fragte Dunja ungeduldig.

»Dann sagte er, er selbst sei nicht reich, und das ganze Vermögen falle seinen Kindern zu, die sich jetzt bei ihrer Tante befänden. Ferner erwähnte er, daß er irgendwo nicht weit von meiner Wohnung sich einquartiert habe; aber wo, das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht danach gefragt …«

»Aber was will er denn eigentlich unsrer Dunjetschka für einen Vorschlag machen?« fragte Pulcheria Alexandrowna in großer Beunruhigung. »Hat er es dir gesagt?«

»Ja, er hat es mir gesagt.«

»Nun, was ist es denn?«

»Ich will es nachher sagen.«

Raskolnikow schwieg und machte sich mit seinem Tee zu schaffen.

Pjotr Petrowitsch zog die Uhr heraus und sah nach der Zeit.

»Ich muß in einer geschäftlichen Angelegenheit notwendig fortgehen und werde Sie somit nicht stören«, bemerkte er mit etwas gekränkter Miene und schickte sich an, von seinem Stuhle aufzustehen.

»Bleiben Sie doch, Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunja. »Sie beabsichtigten ja eigentlich, den Abend bei uns zuzubringen. Und außerdem haben Sie ja auch selbst geschrieben, Sie wünschten über einen gewissen Gegenstand eine Aussprache mit Mama.«

»Ganz richtig, Awdotja Romanowna«, erwiderte Pjotr Petrowitsch mit besonderem Nachdruck; er setzte sich wieder auf den Stuhl, behielt aber den Hut noch in der Hand. »Ich wünschte allerdings eine Aussprache sowohl mit Ihnen als auch mit Ihrer hochverehrten Frau Mutter, und sogar über sehr wichtige Gegenstände. Aber ebenso wie Ihr Bruder sich über gewisse Vorschläge des Herrn Swidrigailow in meiner Gegenwart nicht äußern mag, so kann und mag auch ich mich … in Gegenwart andrer … nicht über gewisse überaus wichtige Gegenstände aussprechen. Überdies ist auch meine angelegentliche, dringende Bitte nicht erfüllt worden …«

Lushin machte ein tiefbeleidigtes Gesicht und schwieg würdevoll.

»Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unsrer Zusammenkunft nicht zugegen sein möchte, ist einzig und allein auf mein Verlangen hin nicht erfüllt worden«, entgegnete Dunja. »Sie schrieben, mein Bruder habe Sie beleidigt. Meiner Ansicht nach bedarf das einer unverzüglichen Aufklärung, und Sie müssen sich dann wieder miteinander versöhnen. Und wenn Rodja Sie wirklich beleidigt hat, so muß und wird er Sie um Verzeihung bitten.«

Pjotr Petrowitsch wurde sofort wieder energischer.

»Es gibt Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten Willen nicht vergessen kann. In allen Dingen gibt es eine Grenze, deren Überschreitung gefährlich ist; denn wenn sie einmal überschritten ist, so ist eine Rückkehr unmöglich.«

»Das ist eigentlich nicht das, worüber ich mit Ihnen sprach, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja etwas ungeduldig. »Sind Sie sich wohl auch klar darüber, daß unsre ganze Zukunft jetzt davon abhängt, ob dies alles sich möglichst schnell aufklären und beilegen läßt oder nicht? Ich sage Ihnen von vornherein unverhohlen, daß ich die Sache nicht anders aufzufassen vermag, und wenn Sie mich auch nur ein wenig schätzen, so muß diese ganze Geschichte, und wenn es auch noch so schwer ist, noch heute erledigt werden. Ich wiederhole Ihnen: wenn mein Bruder Sie beleidigt hat, so wird er Sie um Verzeihung bitten.«

»Ich bin erstaunt, daß Sie die Frage so formulieren, Awdotja Romanowna«, erwiderte Lushin, der immer mehr in eine gereizte Stimmung geriet. »Obwohl ich Sie schätze und, um mich so auszudrücken, anbete, ist es doch gleichzeitig sehr wohl möglich, daß ich einen Ihrer Angehörigen nicht leiden kann. Und wenngleich ich nach dem Glücke strebe, Ihr Gatte zu werden, so brauche ich darum doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen auf mich zu nehmen, die mit meinem Ehrgefühl unvereinbar sind und …«

»Ach, lassen Sie doch all diese Empfindlichkeiten beiseite, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja in warmem, herzlichem Tone, »und seien Sie der verständige, edeldenkende Mensch, für den ich Sie immer gehalten habe und auch weiter halten will. Ich habe Ihnen ein bedeutsames Versprechen gegeben; ich bin Ihre Braut. Schenken Sie mir doch in dieser Angelegenheit Vertrauen, und seien Sie überzeugt, ich werde imstande sein, unparteiisch zu urteilen. Daß ich die Rolle des Schiedsrichters übernehmen will, ist für meinen Bruder eine ebenso große Überraschung wie für Sie. Als ich ihn heute nach Empfang Ihres Briefes aufforderte, unter allen Umständen auch zu unsrer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen Absichten mitgeteilt. Werden Sie sich darüber klar, daß, wenn Sie sich nicht miteinander versöhnen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß: entweder er oder Sie! So lautet die Frage, mit Bezug sowohl auf Sie als auf ihn. Ich will und darf mich bei der Wahl nicht irren. Um Ihretwillen muß ich dann mit meinem Bruder brechen, um meines Bruders willen mit Ihnen. Jetzt will und kann ich zuverlässig erfahren, ob er gegen mich ein wahrer, echter Bruder ist, und was Sie anlangt, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen, ob Sie ein Gatte für mich sind.«

»Awdotja Romanowna«, antwortete Lushin, indem er sich, wie tief verletzt, hin und her krümmte, »Ihre Worte sind für mich überaus bedeutsam, ja, ich muß sagen, kränkend in Anbetracht des Verhältnisses, in welchem ich mich zu Ihnen zu befinden die Ehre habe. Ich will gar nicht einmal davon reden, wie sonderbar und beleidigend es ist, daß Sie mich mit einem … dünkelhaften jungen Menschen auf eine Stufe stellen; aber in Ihren Worten ziehen Sie einen Bruch des mir gegebenen Versprechens als möglich mit in Betracht. Sie sagen: ›er oder Sie!‹ Sie drücken also damit aus, wie wenig ich Ihnen gelte … Bei den Beziehungen und … Verpflichtungen, die zwischen uns bestehen, kann ich mich damit nicht einverstanden erklären.«

»Wie!« rief Awdotja Romanowna erregt. »Ich stelle Ihre Interessen auf gleiche Stufe mit allem, was mir bisher im Leben teuer gewesen ist, was bisher meinen ganzen Lebensinhalt bildete, und da fühlen Sie sich gekränkt, weil ich Ihnen zu wenig Wert beimäße!«

Raskolnikow schwieg und lächelte höhnisch; Rasumichin konnte vor Aufregung seine Glieder nicht ruhig halten; Pjotr Petrowitsch aber war mit dieser Erwiderung sehr wenig zufrieden; im Gegenteil wurde er, je länger das Gespräch dauerte, immer heftiger und gereizter; seine Streitlust schien im Wachsen zu sein.

»Die Liebe zu dem künftigen Lebensgefährten, zum Gatten, muß größer sein als die Liebe zum Bruder«, sagte er in lehrhaftem Tone; »jedenfalls kann ich mich nicht auf dieselbe Stufe mit Ihrem Bruder stellen lassen … Ich habe nun zwar vorhin erklärt, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht alles, weswegen ich hergekommen bin, darlegen kann und mag; aber nichtsdestoweniger beabsichtige ich mich jetzt an Ihre hochverehrte Frau Mutter zu wenden, um über einen sehr wichtigen Punkt, in welchem ich mich beleidigt fühle, die notwendige Aufklärung zu erhalten. Ihr Sohn«, wandte er sich an Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn Rassudkin oder … so ist’s ja wohl richtig? Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen«, sagte er mit höflicher Verbeugung zu Rasumichin, »dadurch beleidigt, daß er einen Gedanken von mir, den ich Ihnen einmal in einem Privatgespräche bei einer Tasse Kaffee mitteilte, arg verdrehte. Ich hatte mich nämlich dahin geäußert, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, welches bereits die Sorgen des Lebens hat kosten müssen, meiner Ansicht nach hinsichtlich der Gestaltung des ehelichen Lebens den Vorzug verdiene vor der Heirat mit einem Mädchen, das nur Wohlleben kennt; denn jene Situation sei in ethischer Hinsicht nützlicher. Ihr Sohn hat den Sinn dieser Worte geflissentlich ins Absurde übertrieben und mich böswilliger Absichten beschuldigt, wobei er sich meiner Ansicht nach auf eine briefliche Mitteilung von Ihnen selbst stützte. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn Sie, Pulcheria Alexandrowna, imstande sein sollten, mich vom Gegenteil zu überzeugen und mich dadurch wesentlich zu beruhigen. Teilen Sie mir bitte mit, mit welchen Ausdrücken Sie in Ihrem Briefe an Rodion Romanowitsch meine Worte wiedergegeben haben.«

»Darauf kann ich mich nicht besinnen«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna verlegen, »ich habe Ihre Worte so wiedergegeben, wie ich sie selbst aufgefaßt hatte. Wie sie Rodja Ihnen gegenüber wiedergegeben hat, weiß ich nicht … Es mag sein, daß er dabei ein wenig übertrieben hat.«

»Ohne Veranlassung von Ihrer Seite hätte er nicht übertreiben können.«

»Pjotr Petrowitsch«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna ernst und würdig, »daß wir beide, Dunja und ich, Ihre Worte nicht gerade in schlimmem Sinne aufgefaßt haben, das beweist schon der Umstand, daß wir hier sind.«

»Sehr gut, Mama!« bemerkte Dunja beifällig.

»Also liegt auch dabei die Schuld wieder auf meiner Seite!« entgegnete Lushin gekränkt.

»Sehen Sie, Pjotr Petrowitsch«, fügte Pulcheria Alexandrowna, mutiger werdend, hinzu, »Sie beschuldigen immer Rodja, und doch haben Sie auch selbst eben erst in Ihrem Briefe eine Unwahrheit über ihn geschrieben.«

»Ich erinnere mich nicht, irgendwelche Unwahrheit geschrieben zu haben.«

»Sie haben geschrieben«, sagte Raskolnikow in scharfem Tone, ohne sich Lushin zuzuwenden, »ich hätte gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen gegeben, wie das tatsächlich der Fall war, sondern seiner Tochter (die ich vor dem gestrigen Tage überhaupt noch nie gesehen hatte). Sie haben das geschrieben in der Absicht, mich mit meinen Angehörigen zu entzweien, und haben auch zu diesem Zwecke eine schmähliche Bemerkung über den Lebenswandel des jungen Mädchens hinzugefügt, das Sie gar nicht kennen. All das ist nichts als Klatschsucht und Gemeinheit.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, erwiderte Lushin, vor Wut zitternd, »in meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Ihre Handlungsweise lediglich in der Absicht ausgelassen, um eben dadurch eine Bitte Ihrer Schwester und Ihrer Frau Mutter zu erfüllen; denn diese hatten mich gebeten, ihnen zu schildern, wie ich Sie vorgefunden und welchen Eindruck Sie auf mich gemacht hätten. Was meine Angaben in meinem Briefe anlangt, so möchte ich Sie ersuchen, mir auch nur eine einzige unwahre Zeile darin nachzuweisen, also zu zeigen, daß Sie das Geld nicht ausgegeben haben und daß zu dieser allerdings unglücklichen Familie keine unwürdigen Mitglieder gehören.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht soviel wert wie der kleine Finger dieses unglücklichen Mädchens, auf das Sie einen Stein werfen.«

»Also würden Sie auch kein Bedenken tragen, sie in die Gesellschaft Ihrer Mutter und Ihrer Schwester einzuführen?«

»Das habe ich bereits getan, wenn Sie das interessiert. Ich habe sie heute aufgefordert, neben meiner Mutter und neben Dunja Platz zu nehmen.«

»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Dunja wurde rot; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Lushin lächelte höhnisch und hochmütig.

»Nun sehen Sie wohl selbst, Awdotja Romanowna«, sagte er, »ob da eine Einigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache ein für allemal klargestellt und erledigt ist. Ich möchte mich nun entfernen, um bei dem weiteren vergnüglichen Zusammensein der Verwandten und bei der Mitteilung von Geheimnissen nicht zu stören.« Er stand auf und griff nach dem Hute. »Aber beim Abschiede bin ich so frei, zu bemerken, daß ich in Zukunft mit solchen Begegnungen und, sozusagen, Vermittlungsversuchen verschont zu bleiben hoffe. Sie, hochverehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich ganz besonders darum bitten, um so mehr, als auch mein Brief lediglich an Sie, und an niemand sonst, adressiert war.«

Pulcheria Alexandrowna fühlte sich etwas gekränkt.

»Aber Pjotr Petrowitsch, Sie wollen uns ja völlig unter Ihre Botmäßigkeit bringen! Dunja hat Ihnen doch den Grund gesagt, weshalb wir Ihren Wunsch nicht erfüllt haben: sie hatte dabei die besten Absichten. Und Sie schreiben auch an mich so, daß es wie ein Befehl klingt. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als einen Befehl auffassen? Im Gegenteil möchte ich Ihnen bemerken, daß Sie jetzt uns gegenüber besonders zartfühlend und freundlich sein sollten, weil wir alles im Stiche gelassen haben und im Vertrauen auf Sie hierhergereist sind und uns somit ohnehin schon beinahe in Ihrer Gewalt befinden.«

»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und namentlich nicht im jetzigen Augenblicke, wo Sie erfahren haben, daß Marfa Petrowna Ihnen dreitausend Rubel vermacht hat. Und das scheint Ihnen ja recht gelegen gekommen zu sein, wie ich aus dem neuen Tone, in dem Sie jetzt zu mir reden, schließen muß«, fügte er höhnisch hinzu.

»Nach dieser Bemerkung könnte man wirklich glauben, daß Sie bei Ihren Plänen auf unsere Hilflosigkeit gebaut haben«, entgegnete Dunja gereizt.

»Jetzt wenigstens kann ich darauf nicht mehr bauen, und namentlich möchte ich nicht bei der Mitteilung der geheimen Vorschläge dieses Herrn Swidrigailow stören, mit deren Übermittlung er Ihren Bruder beauftragt hat und die, wie ich sehe, Ihnen hochwichtig und vielleicht auch sehr angenehm sind.«

»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna. Rasumichin vermochte kaum noch auf seinem Stuhle sitzenzubleiben.

»Schämst du dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikow.

»Ja, ich schäme mich, Rodja!« antwortete Dunja. »Pjotr Petrowitsch, gehen Sie!« wandte sie sich an diesen; sie war ganz blaß vor Zorn.

Pjotr Petrowitsch schien ein solches Resultat des Gespräches ganz und gar nicht erwartet zu haben. Er hatte sich allzu sehr auf seine Persönlichkeit, auf seine Macht und auf die Hilflosigkeit seiner Opfer verlassen. Er konnte es auch jetzt nicht fassen. Er erbleichte, und seine Lippen zitterten.

»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt, von einem solchen Scheidegruße geleitet, zu dieser Tür hinausgehe, dann – bedenken Sie das wohl! – kehre ich nie wieder zurück. Überlegen Sie sich das recht ordentlich! Ich halte Wort.«

»Welche Unverschämtheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem Platze. »Ich wünsche auch gar nicht, daß Sie wiederkommen!«

»Aha! Also so steht es!« rief Lushin, der bis zum letzten Augenblicke einen solchen Ausgang gar nicht für möglich gehalten hatte und daher jetzt ganz seine Haltung verlor. »Also so steht es! Aber wissen Sie auch wohl, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen Protest einlegen könnte?«

»Was haben Sie für ein Recht, in dieser Art mit ihr zu sprechen?« griff nun auch Pulcheria Alexandrowna erregt in das Gespräch ein. »Wieso können Sie Protest einlegen? Was für Rechte haben Sie denn uns gegenüber? Und einem Menschen wie Sie sollte ich meine Dunja geben? Gehen Sie nur fort, und lassen Sie uns künftig ganz in Ruhe! Wir tragen selbst die Schuld, weil wir uns auf eine so unnoble Sache eingelassen haben, und ich am allermeisten …«

»Aber Sie haben mich«, sprudelte Lushin in seiner Wut heraus, »durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt lossagen wollen, Pulcheria Alexandrowna, … und … und schließlich, schließlich bin ich dadurch sozusagen zu Ausgaben verleitet worden …«

Diese letzte dreiste und taktlose Behauptung entsprach so sehr dem gesamten Charakter Lushins, daß Raskolnikow, der vor Zorn und vor dem Bemühen, sich zu beherrschen, ganz bleich war, sich nicht mehr halten konnte und laut auflachte. Pulcheria Alexandrowna aber geriet außer sich.

»Zu Ausgaben? Zu was für Ausgaben denn? Sie meinen doch wohl nicht etwa gar unsern Koffer? Den hat ja doch ein Schaffner Ihnen zu Gefallen umsonst herbefördert. Mein Gott, und wir sollen Sie gebunden haben! Besinnen Sie sich doch nur, Pjotr Petrowitsch! Sie sind es ja gewesen, der uns an Händen und Füßen gebunden hatte, nicht wir Sie!«

»Hör auf, Mama, bitte, hör auf!« bat Dunja. »Pjotr Petrowitsch, seien Sie so gut und gehen Sie!«

»Ich gehe; nur noch ein letztes Wort!« sagte er; alle Selbstbeherrschung hatte er verloren. »Ihre Frau Mutter hat, wie es scheint, ganz vergessen, daß ich sozusagen trotz der in der ganzen Stadt über Ihren Ruf in Umlauf befindlichen Gerüchte gewillt war, Sie zu heiraten. Wenn ich so Ihretwegen auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht nahm und Ihren Ruf wiederherstellte, so hätte ich doch natürlich auf eine Gegenleistung hoffen und sogar von Ihrer Seite Dankbarkeit verlangen können … Und erst jetzt sind mir die Augen aufgegangen. Ich sehe nun selbst ein, daß ich vielleicht sehr übereilt gehandelt habe, indem ich auf die Stimme der gesamten Gesellschaft keine Rücksicht nahm …«

»Jetzt reicht es aber!« rief Rasumichin, sprang vom Stuhle auf und schickte sich an, tätlich zu werden.

»Sie sind ein schlechter, gemeiner Mensch!« sagte Dunja.

»Schweig und rühr ihn nicht an!« rief Raskolnikow und hielt Rasumichin zurück; dann trat er ganz nahe an Lushin heran, fast Gesicht an Gesicht, und sagte leise, langsam und deutlich: »Gehen Sie hinaus! Und kein Wort weiter, sonst …«

Pjotr Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden lang mit blassem, wutverzerrtem Gesichte an; darauf wandte er sich um und ging hinaus. Selten hat wohl jemand einen so grimmigen Haß gegen einen andern in seinem Herzen davongetragen wie dieser Mensch gegen Raskolnikow. Ihm und nur ihm allein maß er die Schuld an allem Geschehenen bei. Merkwürdigerweise bildete er sich, als er schon die Treppe hinunterstieg, immer noch ein, daß die Sache vielleicht doch noch nicht ganz verloren sei und, soweit dabei die Damen allein in Betracht kämen, sich sogar recht wohl noch in Ordnung bringen lasse.

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Kapitel 14

VII

Mitten auf der Straße stand eine elegante, herrschaftliche Kutsche, mit zwei feurigen Grauschimmeln bespannt. Es saß niemand darin; der Kutscher selbst war vom Bock gestiegen und stand daneben; ein paar Männer hielten die Pferde am Zaume… Ringsherum drängten sich eine Menge Menschen, in der vordersten Reihe standen Polizisten. Einer von diesen hielt eine kleine, brennende Laterne in der Hand, mit der er, sich niederbückend, etwas beleuchtete, was auf dem Straßendamme dicht bei den Rädern lag. Alle redeten und schrien, zornig und bedauernd; der Kutscher schien sehr bestürzt zu sein und rief von Zeit zu Zeit aus: »So ein Unglück! O Gott, so ein Unglück!«

Raskolnikow drängte sich, so gut er konnte, durch und erblickte endlich den Anlaß all dieser Aufregung und Neugier. Auf dem Boden lag ein soeben von den Pferden niedergetretener Mann, anscheinend besinnungslos, sehr schlecht, aber doch wie ein »besserer Herr« gekleidet. Er war ganz mit Blut besudelt; Blut rieselte ihm vom Kopfe und vom Gesichte; das Gesicht war ganz zerschlagen, zerschunden und verstümmelt. Offenbar war er von den Hufen sehr schwer verletzt worden.

»Mein Gott!« jammerte der Kutscher. »Wie soll man sich denn noch mehr vorsehen! Ja, wenn ich schnell gefahren wäre oder ihm nicht zugerufen hätte; aber ich fuhr ganz ruhig und gleichmäßig. Alle haben es gesehen und wissen, daß das die Wahrheit ist. Aber so ein Betrunkener hört und sieht eben nichts; das kennt man ja … Ich sah ihn, wie er über die Straße ging und dabei taumelte und beinahe hinfiel – ich rief ihn einmal an, noch einmal, zum dritten Male, und ich hielt die Pferde zurück; aber er lief ihnen direkt zwischen die Beine, da lag er! Ob er es nun mit Absicht tat, oder ob er zu sehr beduselt war – ich weiß nicht. Die Pferde sind jung und schreckhaft; sie zogen an, er schrie auf, da wurden sie noch scheuer, … und da war das Unglück da.«

»Ja, geradeso ist es gewesen«, rief aus der Menge ein Augenzeuge.

»Er hat ihn angerufen, das ist die Wahrheit; dreimal hat er ihn angerufen!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

»Genau dreimal; das haben alle gehört!« rief ein dritter.

Übrigens war der Kutscher nicht allzu niedergedrückt und erschrocken. Die Equipage gehörte offenbar einem reichen, vornehmen Herrn, den sie irgendwo abholen sollte; die Polizisten waren daher natürlich eifrig bemüht, das Verhalten des Kutschers als ordnungsgemäß anzuerkennen. Der Überfahrene sollte auf das Polizeibureau und ins Krankenhaus gebracht werden. Niemand kannte seinen Namen.

Unterdessen hatte sich Raskolnikow etwas weiter hindurchgedrängt und beugte sich aus größerer Nähe über ihn. Auf einmal erleuchtete die Laterne das Gesicht des Unglücklichen: er erkannte ihn.

»Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief er und drängte sich ganz nach vorn. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, der Titularrat Marmeladow. Er wohnt hier in der Nähe, im Koselschen Hause… Schnell einen Arzt! Ich bezahle es, hier!«

Er zog Geld aus der Tasche und zeigte es einem der Polizisten. Er befand sich in gewaltiger Aufregung.

Den Polizisten war es sehr erwünscht, daß sie den Namen des Verletzten erfahren hatten. Raskolnikow gab auch seinen eigenen Namen und seine Adresse an und befürwortete mit aller Energie, wie wenn es sich um seinen eigenen Vater handelte, den schleunigen Transport des bewußtlosen Marmeladow nach dessen Wohnung.

»Dort, nur drei Häuser weit«, sagte er eifrig, »das Haus gehört einem Herrn Kosel, einem reichen Deutschen… Er war jetzt gewiß gerade in betrunkenem Zustande auf dem Wege nach Hause. Ich kenne ihn… Er ist ein Trinker… Er wohnt da mit seiner Familie, Frau und Kindern; auch eine erwachsene Tochter hat er. Ihn ins Krankenhaus zu schaffen, dauert zu lange; aber hierherum wohnt gewiß ein Arzt. Ich bezahle es, ich bezahle es! Hier findet er doch gleich Hilfe und hat seine richtige Pflege; bis er ins Krankenhaus kommt, ist er schon tot.«

Er hatte dabei auch bereits den Polizisten heimlich etwas in die Hand gedrückt; übrigens war es ja eine ganz klare und gesetzliche Sache, und jedenfalls war Hilfe hier näher zu haben. Es fanden sich hilfsbereite Hände; der Überfahrene wurde aufgehoben und fortgetragen. Das Koselsche Haus war nur etwa dreißig Schritte entfernt. Raskolnikow ging hinten, hielt vorsichtig den Kopf des Verunglückten und gab den Weg an.

»Hierher, hierher! Die Treppe hinauf müssen wir ihn mit dem Kopfe voran tragen; wendet ihn herum… so, so ist’s recht! Ich werde es bezahlen; ich werde mich euch erkenntlich zeigen!« murmelte er.

Katerina Iwanowna wanderte, wie immer, sobald sie nur einen arbeitsfreien Augenblick fand, in ihrem kleinen Zimmerchen auf und ab, vom Fenster nach dem Ofen und zurück; dabei hielt sie die Arme fest über der Brust verschränkt, redete mit sich selbst und hustete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, häufiger und mehr mit ihrer ältesten Tochter, der neunjährigen Polenjka, zu sprechen, die zwar vieles noch nicht verstand, dafür aber sehr wohl begriff, daß es der Mutter ein Bedürfnis war, mit ihr zu reden, und ihr darum immer mit ihren großen, klugen Augen folgte und sich schlau bemühte, zu tun, als ob sie alles verstände. Augenblicklich war Polenjka damit beschäftigt, ihren kleinen Bruder, der den ganzen Tag über nicht recht wohl gewesen war, auszukleiden, um ihn schlafen zu legen. Der Knabe saß schweigend und mit ernster Miene auf einem Stuhle, gerade aufgerichtet und ohne sich zu rühren, die fest zusammengepreßten Beinchen waagerecht ausgestreckt, die Fersen nach vorn, die Fußspitzen auseinander, und wartete darauf, daß ihm für das alte Hemdchen, das in der Nacht gewaschen werden sollte, ein frisches angezogen werde. Er hörte zu, was die Mutter mit der Schwester sprach, machte spielend die Lippen dick, öffnete die Augen weit und saß ruhig da, ganz wie alle artigen kleinen Knaben sich zu benehmen haben, wenn sie zum Zubettgehen ausgezogen werden. Sein noch kleineres Schwesterchen stand in bloßen Lumpen am Bettschirm und wartete, bis es an die Reihe kommen würde. Die Tür nach der Treppe zu war offen, um wenigstens einigermaßen die Wolken von Tabaksrauch abzuleiten, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die arme Schwindsüchtige fortwährend zwangen, lange und qualvoll zu husten. Katerina Iwanowna schien in dieser Woche noch mehr abgemagert zu sein, und die roten Flecke auf ihren Wangen brannten noch greller als früher.

»Du glaubst gar nicht, Polenjka«, sagte sie, im Zimmer auf und ab gehend, »du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie vergnügt und großartig wir in dem Hause meines lieben Papas lebten und wie dieser Trunkenbold mich zugrunde gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Verwaltungsbeamter im Range eines Obersten und beinahe schon Gouverneur; es fehlte ihm nur noch eine Beförderung, so daß alle schon immer zu ihm kamen und sagten: ›Wir betrachten Sie schon als unsern Gouverneur, Iwan Michailowitsch!‹ Als ich … kche! als ich … kche-kche-kche! … oh, dieses elende Dasein!« rief sie, nachdem sie den Schleim abgehustet hatte, und faßte nach ihrer Brust. »Als ich … ach, als auf dem letzten Balle … beim Adelsmarschall … mich die Fürstin Bessemelnaja erblickte, die mir später den Segen erteilte, als ich deinen Papa heiratete, Polenjka, da fragte sie sogleich: ›Ist das nicht das liebenswürdige Mädchen, das bei der Entlassungsfeier den Schleiertanz getanzt hat?‹ (Das Loch muß zugenäht werden; nimm mal eine Nadel und stopfe es jetzt gleich, wie ich es dir gezeigt habe; sonst reißt es morgen … kche! morgen … kche-kche-kche! noch weiter auf!« rief sie unter heftigen Hustenanfällen.) »Damals war der Kammerjunker Fürst Schtschegolskoi eben aus Petersburg angekommen; er tanzte mit mir eine Masurka und wollte am andern Tage zu uns kommen und um meine Hand anhalten; aber ich dankte ihm in den verbindlichsten Ausdrücken und sagte, daß mein Herz bereits einem andern gehöre. Dieser andere war dein Vater, Polenjka; mein Papa wurde furchtbar zornig … Ist das Wasser bereit? Nun, dann gib das Hemd her; und wo sind die Strümpfe? … Lida«, wandte sie sich an die jüngste Tochter, »du kannst diese Nacht einmal ohne Hemd schlafen, das geht schon, … und lege deine Strümpfe daneben, … ich will gleich alles zusammen waschen … Warum bloß dieser Lumpenkerl nicht nach Hause kommt, der Trunkenbold! Sein Hemd trägt er schon so lange, daß es aussieht wie ein Topflappen, und zerrissen ist es auch ganz … Ich könnte es jetzt alles zusammen waschen, damit ich mich nicht zwei Nächte hintereinander zu quälen brauche! O Gott! Kche-kche-kche-kche! Schon wieder! Was ist das?« rief sie, als sie die vielen Menschen auf dem Flur sah und die Männer, die sich mit irgendeiner Last ins Zimmer hineindrängten. »Was ist das? Was bringen die da? O Gott!«

»Wo sollen wir ihn hier hinlegen?« fragte einer der Polizisten, nachdem der blutbefleckte, besinnungslose Marmeladow ins Zimmer gebracht war, und sah sich nach allen Seiten um.

»Auf das Sofa! Legt ihn nur aufs Sofa, mit dem Kopfe hierher!« wies Raskolnikow die Träger an.

»Er ist auf der Straße überfahren worden! Er war betrunken!« rief jemand vom Flur her.

Katerina Iwanowna stand ganz bleich da und atmete nur mühsam. Die Kinder waren heftig erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Polenjka hin, schlang die Arme um sie und zitterte am ganzen Leibe. Nachdem unter seiner Leitung Marmeladow auf das Sofa gelegt worden war, trat Raskolnikow schnell auf Katerina Iwanowna zu.

»Ich bitte Sie dringend, beruhigen Sie sich, erschrecken Sie nicht!« sagte er hastig. »Als er die Straße überschritt, hat ihn eine Kutsche überfahren; beunruhigen Sie sich nicht; er wird ja wieder zu sich kommen; ich habe veranlaßt, daß er hierhergebracht wurde, … ich bin schon einmal bei Ihnen gewesen; Sie erinnern sich vielleicht … Er wird ja wieder zu sich kommen; ich werde alles bezahlen!«

»Dahin hat er es nun gebracht!« schrie Katerina Iwanowna und stürzte zu ihrem Manne hin.

Raskolnikow merkte bald, daß diese Frau nicht zu denen gehörte, die gleich in Ohnmacht fallen. Im nächsten Augenblick lag unter dem Kopfe des Unglücklichen ein Kissen, woran noch niemand gedacht hatte. Katerina Iwanowna begann ihm die Kleider auszuziehen, untersuchte ihn, war eifrig um ihn beschäftigt und verlor nicht den Kopf; an sich selbst dachte sie mit keinem Gedanken mehr, biß sich auf die zitternden Lippen und unterdrückte das Wehgeschrei, das sich ihrer Brust entringen wollte.

Raskolnikow hatte unterdessen jemand beauftragt, schnell einen Arzt zu holen. Einige der Anwesenden wußten, daß ein solcher im Nachbarhause wohnte.

»Ich habe nach einem Arzte geschickt«, sagte er wieder zu Katerina Iwanowna. »Beunruhigen Sie sich darüber nicht; ich werde alles bezahlen. Haben Sie kein Wasser hier? … Und geben Sie mir auch eine Serviette, ein Handtuch oder so etwas, recht schnell; es ist noch nicht recht zu sehen, von welcher Art seine Verletzung ist … Es handelt sich nur um eine Verletzung; tot ist er nicht; dessen können Sie ganz sicher sein … Wir wollen mal hören, was der Arzt sagt!«

Katerina Iwanowna lief zum Fenster. Dort stand in einer Ecke auf einem durchgesessenen Stuhl eine große irdene Schüssel mit Wasser, in der sie die Wäsche der Kinder und ihres Mannes in der Nacht hatte waschen wollen. Diese nächtliche Wäsche bewerkstelligte Katerina Iwanowna immer eigenhändig, mindestens zweimal in der Woche, mitunter auch öfter; denn sie waren so weit heruntergekommen, daß sie Wäsche zum Wechseln so gut wie gar nicht mehr hatten, sondern jedes Familienmitglied fast nur ein einziges Exemplar von jeder Art besaß. Unreinlichkeit konnte Katerina Iwanowna aber nicht ertragen; ehe sie Schmutz im Hause geduldet hätte, quälte sie sich lieber bei Nacht, wenn alle schliefen, über ihre Kräfte hinaus ab, damit am Morgen die nasse Wäsche an einer Leine getrocknet war und die Ihrigen etwas Reines zum Anziehen hatten. Sie ergriff die Schüssel, um sie auf Raskolnikows Wunsch ihm hinzubringen, wäre aber beinahe mit ihr hingefallen. Raskolnikow hatte bereits ein Handtuch gefunden, tauchte es nun ins Wasser und wusch dem Verunglückten das von Blut überströmte Gesicht. Katerina Iwanowna stand dabei; das Atmen machte ihr Schmerzen, und sie drückte die Hände gegen ihre Brust. Sie bedurfte selbst der Hilfe. Raskolnikow begann einzusehen, daß er vielleicht nicht gut daran getan hatte, den Verunglückten hierherschaffen zu lassen. Auch der Schutzmann stand ratlos da.

»Polenjka«, rief Katerina Iwanowna. »Lauf zu Sonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, so bestelle jedenfalls, daß der Vater überfahren ist und daß sie gleich herkommen soll, … sowie sie nach Hause kommt. Schnell, Polenjka! Hier, binde dir das Tuch um!«

»Lauf, was du kannst!« rief auf einmal der Knabe von seinem Stuhle. Nachdem er das gesagt hatte, versank er wieder in sein früheres Schweigen und nahm wieder seine gerade Haltung auf dem Stuhle ein, die Augen weit geöffnet, die Fersen nach vorn, die Fußspitzen auseinander.

Unterdessen hatte sich das Zimmer so angefüllt, daß kein Apfel zur Erde konnte. Die Polizisten waren weggegangen bis auf einen, der vorläufig noch dageblieben war und sich bemühte, das Publikum, das von der Treppe her eingedrungen war, wieder auf die Treppe hinauszutreiben. Dafür strömten aus den inneren Zimmern fast alle Mieter der Frau Lippewechsel herein; anfangs drängten sie sich nur an der Türe herum, aber dann ergossen sie sich in dichtem Schwarm in das Zimmer. Katerina Iwanowna geriet darüber in Zorn.

»So laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!« schrie sie den Haufen an. »Das ist wohl ein Schauspiel für euch! Die Zigaretten im Munde! Kche-kche-kche! Es fehlt bloß noch, daß ihr mit den Hüten auf dem Kopfe hereinkommt! … Da hat ja auch einer den Hut auf! … Habt doch wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!«

Der Husten erstickte sie fast; aber die Scheltrede half. Die Mieter hatten offenbar vor Katerina Iwanowna einigermaßen Furcht; einer nach dem andern, drängten sie sich wieder zur Tür zurück mit jenem eigentümlichen Gefühle innerer Befriedigung, das stets, selbst bei den Nächststehenden, rege wird, sobald einem andern ein plötzliches Unglück zustößt, und von dem trotz des aufrichtigsten Mitleides und Bedauerns doch schlechterdings niemand frei ist.

Durch die Tür hörte man jedoch Stimmen, die vom Krankenhause sprachen und daß es nicht in der Ordnung sei, die Mitbewohner ohne Not zu stören.

»Es ist wohl nicht in der Ordnung, daß jemand stirbt?« rief Katerina Iwanowna und lief schon zur Tür, um sie aufzureißen und ihnen eine zornige Strafrede zu halten; aber in der Tür stieß sie mit Frau Lippewechsel selbst zusammen, die eben erst von dem Unglück gehört hatte und nun angelaufen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Sie war eine ganz alberne, verdrehte Deutsche.

»Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Ihr Mann betrunken ein Pferd getreten. Ihn ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«

»Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, zu überlegen, was Sie reden«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer in hochmütigem Tone, damit diese »sich ihrer Stellung bewußt bliebe«, und selbst jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen), »Amalia Ludwigowna …«

»Ich Ihnen habe gesagt einmal für immer, daß Sie niemals wagen, mir zu sagen Amalia Ludwigowna; ich heiße Amalia Iwanowna.«

»Sie heißen nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre wie Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht« (wirklich war durch die Tür Gelächter zu hören und der Ausruf: ›Sie sind wieder mal aneinandergeraten!‹), »so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obgleich ich absolut nicht begreifen kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was Semjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er liegt im Sterben. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zuzuschließen und niemand hier hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst können Sie ganz sicher sein, daß schon morgen der Generalgouverneur selbst es zu hören bekommt, wie Sie sich benommen haben. Der Fürst kennt mich noch von der Zeit her, als ich noch unverheiratet war, und erinnert sich auch sehr gut an Semjon Sacharowitsch, dem er oftmals Freundlichkeiten erwiesen hat. Es ist allgemein bekannt, daß Semjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner besaß, von denen er selbst sich aus edlem Stolze im Bewußtsein seiner unglücklichen Schwäche zurückgezogen hatte; aber jetzt« (sie wies auf Raskolnikow) »ist uns ein hochherziger junger Mann behilflich, der über große Mittel und Konnexionen verfügt und den Semjon Sacharowitsch schon als Knaben gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalia Ludwigowna …«

Alles dies sprudelte sie mit großer Geschwindigkeit hervor, die sich im Laufe der Rede immer mehr steigerte; aber der Husten setzte auf einmal dem Redestrom ein Ende. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zur Besinnung und stöhnte; Katerina Iwanowna lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und blickte, noch ohne jemand zu erkennen oder etwas zu verstehen, Raskolnikow an, der neben ihm stand und sich über ihn beugte. Er atmete schwer, in tiefen, einzelnen Stößen; an den Rändern der zusammengepreßten Lippen trat Blut hervor; die Stirn war mit Schweiß bedeckt. Da er Raskolnikow nicht erkannte, begann er unruhig mit den Augen zu suchen. Katerina Iwanowna sah ihn mit trauriger, aber strenger Miene an; die Tränen rannen ihr aus den Augen.

»O Gott, die ganze Brust ist ihm eingedrückt! Und das Blut, das Blut!« sagte sie verzweiflungsvoll. »Wir müssen ihm den Oberkörper vollständig entkleiden! Dreh dich ein bißchen um, Semjon Sacharowitsch, wenn du das kannst!« rief sie ihm zu.

Marmeladow erkannte sie.

»Einen Priester!« sagte er mit heiserer Stimme.

Katerina Iwanowna trat ans Fenster, lehnte sich mit der Stirn gegen den Fensterrahmen und rief verzweifelt:

»Oh, dieses elende Leben!«

»Einen Priester!« sagte der Sterbende nach einer kurzen Pause noch einmal.

»Der wird schon geholt!« schrie ihn Katerina Iwanowna an. Verschüchtert durch den strengen Ton schwieg er. Mit zaghaftem, traurigem Blick suchte er sie; sie kehrte wieder zu ihm zurück und trat an das Kopfende. Er beruhigte sich ein wenig, jedoch nicht für lange.

Seine Augen blieben bald auf der kleinen Lida, seinem Lieblinge, haften, die in einer Ecke stand, wie im Fieber zitterte und ihn mit ihren erstaunt starrenden Kinderaugen ansah.

»Ach … ach …«, sagte er und zeigte beunruhigt auf sie hin. Er wollte etwas sagen.

»Was willst du denn nun noch?« rief Katerina Iwanowna.

»Barfuß! Barfuß!« murmelte er und deutete mit halbirrem Blick auf die nackten Füße des kleinen Mädchens.

»Schweig du nur!« rief Katerina Iwanowna in gereiztem Tone. »Du weißt selbst, warum sie barfuß ist.«

»Gott sei Dank, da ist der Arzt!« rief Raskolnikow erfreut.

Der Arzt trat ein, ein schon älterer Mann, sorgfältig gekleidet, ein Deutscher; er sah sich mit mißtrauischer Miene nach allen Seiten um, dann trat er zu dem Kranken, fühlte den Puls, betastete aufmerksam den Kopf, knöpfte mit Katerina Iwanownas Hilfe das ganz von Blut durchtränkte Hemd auf und entblößte die Brust des Kranken. Die ganze Brust war zerdrückt, zusammengequetscht und zerfleischt; auf der rechten Seite waren mehrere Rippen gebrochen. Auf der linken Seite, gerade über dem Herzen, war ein entsetzlich aussehender, großer schwarzgelber Fleck, der von einem furchtbaren Hufschlage herrührte. Der Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht. Der Polizist erzählte ihm, daß der Überfahrene von einem Rade erfaßt und bei dessen Umdrehungen etwa dreißig Schritte auf dem Pflaster fortgeschleift worden sei.

»Ein Wunder, daß er überhaupt wieder zu sich gekommen ist«, flüsterte der Arzt leise Raskolnikow zu.

»Wie denken Sie über ihn?«

»Er wird gleich sterben.«

»Ist denn gar keine Hoffnung mehr?«

»Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen … Außerdem ist der Kopf gefährlich verwundet … Hm … Vielleicht könnte man noch einen Aderlaß vornehmen, … aber … helfen wird das auch nicht. In fünf bis zehn Minuten stirbt er sicher.«

»Lassen Sie ihn lieber doch noch zur Ader!«

»Meinetwegen … Aber ich sage Ihnen vorher, daß es völlig nutzlos ist.«

Abermals wurden Schritte vernehmbar; die Menge auf dem Flur teilte sich, und auf der Schwelle erschien ein Geistlicher, ein grauhaariger Mann, mit dem Sakrament. Einer von den Polizisten hatte ihn geholt, noch ehe der Verunglückte hinaufgebracht worden war. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm einen vielsagenden Blick. Raskolnikow bat den Arzt, noch ein wenig dazubleiben. Der zuckte die Achseln und blieb.

Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende nahm nichts mehr richtig auf; er konnte nur abgebrochene, undeutliche Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna faßte Lida bei der Hand, hob den Knaben vom Stuhle, ging in die Ecke beim Ofen und fiel auf die Knie; auch die Kinder ließ sie vor sich niederknien. Das kleine Mädchen zitterte nur; der Knabe aber, auf den nackten Knien liegend, hob langsam und bedächtig die Hand in die Höhe, bekreuzigte sich ganz ordnungsgemäß und verbeugte sich bis zum Boden, wobei er mit der Stirn an die Diele schlug, was ihm anscheinend ein besonderes Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt die Tränen zurück; sie betete gleichfalls; von Zeit zu Zeit zog sie dem Knaben das Hemd zurecht; dem kleinen Mädchen warf sie über die allzusehr entblößten Schultern ein Halstuch, das sie, ohne sich von den Knien zu erheben und ihr Gebet zu unterbrechen, aus der Kommode genommen hatte. Unterdessen wurde die nach den inneren Zimmern führende Tür wieder von Neugierigen geöffnet. Auch auf dem Flur drängten sich die Zuschauer in immer dichterer Menge, ohne jedoch die Schwelle des Zimmers zu überschreiten; es waren Mieter aus allen Etagen des Hauses. Nur ein einziges Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene.

In diesem Augenblicke drängte sich vom Flur her Polenjka, die zur Schwester gelaufen war, um diese zu holen, eilig durch die Menge hindurch. Als sie eintrat, war sie vom schnellen Laufen ganz außer Atem; sie nahm sich das Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, trat zu ihr und sagte: »Sie kommt; ich habe sie auf der Straße getroffen.« Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie nieder. Aus dem Menschenschwarm drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen hervor, und seltsam wirkte ihr plötzliches Erscheinen in diesem Zimmer mitten unter Armut und Lumpen, Tod und Verzweiflung. Dürftig zwar war auch ihre Kleidung; sie war mit den billigsten Sachen, aber auffällig, nach Art der Straßendirnen aufgeputzt, nach dem Geschmack und den Gebräuchen, die in dieser eigenartigen Lebenssphäre Geltung haben, und mit deutlicher, schmählicher Hervorkehrung des Zweckes. Sonja blieb auf dem Flur dicht an der Schwelle stehen, überschritt aber die Schwelle nicht, sondern blickte ganz ohne Fassung und wie verständnislos ins Zimmer hinein; an ihr Aussehen schien sie gar nicht zu denken: an das aus vierter Hand gekaufte, hier so unpassende bunte Seidenkleid mit der langen, lächerlichen Schleppe, an die gewaltige Krinoline, die die ganze Tür versperrte, an die hellen Stiefelchen und an den Sonnenschirm, den sie in der Nacht nicht brauchte, aber doch bei sich trug, an den lächerlichen runden Strohhut mit der feuerroten Feder. Unter diesem nach Knabenart schief aufgesetzten Hute blickte ein mageres, blasses, erschrockenes Gesichtchen hervor, mit offenem Munde und vor Schreck starren Augen. Sonja war etwa achtzehn Jahre alt, klein und schmächtig, hatte aber ein recht hübsches Gesicht, schönes blondes Haar und prächtige blaue Augen. Sie blickte unverwandt nach dem Sofa und dem Geistlichen hin; auch sie war vom schnellen Gehen außer Atem gekommen. Endlich merkte sie, daß in der Menge über sie geflüstert wurde; auch vernahm sie wohl einzelne Worte. Sie schlug die Augen nieder, tat einen Schritt über die Schwelle und stand nun im Zimmer, aber immer noch dicht an der Tür.

Beichte und Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna trat wieder an das Lager ihres Mannes. Der Geistliche trat zurück und wandte sich, ehe er wegging, mit einigen Worten der Teilnahme und des Trostes an sie.

»Wo soll ich denn mit diesen hier bleiben?« unterbrach sie ihn, auf die Kinder weisend, in scharfem, gereiztem Tone.

»Gott ist gnädig; hoffen Sie auf die Hilfe des Allerhöchsten …«, begann der Geistliche.

»Ja, ja, gnädig ist er, aber nicht gegen uns!«

»Sie versündigen sich. Sie versündigen sich, meine liebe Dame«, sagte der Geistliche kopfschüttelnd.

»Und daß sie den hier totgefahren haben, ist wohl keine Sünde?« rief Katerina Iwanowna, auf den Sterbenden weisend.

»Vielleicht werden diejenigen, welche die unfreiwillige Ursache geworden sind, sich bereitfinden, Sie zu entschädigen, wenigstens hinsichtlich des Einkommenausfalles.«

»Sie verstehen mich nicht!« rief Katerina Iwanowna gereizt mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Wofür sollten sie mich entschädigen? Er ist ja selbst in seiner Trunkenheit zwischen die Pferde gelaufen? Und von Einkommen kann keine Rede sein. Von ihm hatten wir kein Einkommen, sondern nur Mühe und Qual. Er vertrank ja alles, der Trunkenbold! Er bestahl uns und trug das Geld in die Schenke; das Geld, wovon die Kinder und ich leben sollten, hat er in der Schenke vergeudet! Gott sei Dank, daß er stirbt! Wir haben dadurch weniger Ausgaben!«

»Sie sollten ihm in der Stunde des Todes verzeihen; aber das ist Sünde, meine liebe Dame, eine solche Gesinnung ist eine große Sünde!«

Katerina Iwanowna war mit dem Kranken beschäftigt: sie reichte ihm zu trinken, wischte ihm den Schweiß und das Blut vom Kopfe und legte die Kissen zurecht; dabei führte sie dieses Gespräch mit dem Geistlichen, indem sie sich nur ab und zu während ihrer Arbeit zu ihm hinwandte. Jetzt aber fuhr sie auf einmal wie eine Rasende auf ihn los.

»Ach, Väterchen! Das sind ja doch alles nur Redensarten, nichts als Redensarten! Verzeihen! Wenn er heute nicht überfahren wäre, so wäre er wieder betrunken nach Hause gekommen. Er hat nur ein einziges, ganz abgetragnes, zerlumptes Hemd; da hätte er sich nun hingelegt und seinen Rausch ausgeschlafen, und ich hätte bis zum Morgen im Wasser geplanscht und seine und der Kinder Lumpen gewaschen und sie vor dem Fenster getrocknet, und wenn’s hell geworden wäre, hätte ich mich hingesetzt, um alles zu flicken – das wäre meine Nacht gewesen! … Also was ist da erst noch von Verzeihung zu reden! Ich habe ihm sowieso schon durch die Tat verziehen!«

Ein furchtbarer, tief aus der Brust kommender Husten hinderte sie weiterzureden. Sie spie den Auswurf in das Taschentuch und hielt es dem Geistlichen zum Ansehen hin, während sie die andre Hand gegen die schmerzende Brust drückte. Das Tuch war ganz voll Blut …

Der Geistliche senkte den Kopf und sagte nichts mehr.

Marmeladow lag im Todeskampfe; er wandte seine Augen nicht von Katerina Iwanownas Gesicht ab, die sich wieder über ihn beugte. Er wollte ihr immer etwas sagen, setzte dazu an, bewegte mühsam die Zunge und brachte ein paar undeutliche Worte heraus; aber als Katerina Iwanowna merkte, daß er sie um Verzeihung bitten wolle, schrie sie ihn sofort in befehlendem Tone an:

»Sei nur still! Du brauchst gar nichts zu sagen! … Ich weiß schon, was du sagen willst!«

Der Kranke verstummte; aber im selben Augenblicke fiel sein umherirrender Blick auf die Tür, und er bemerkte Sonja.

Bisher hatte er sie nicht gesehen, da sie in der Ecke und im Schatten stand.

»Wer ist das? Wer ist das?« sagte er plötzlich in größter Aufregung mit heiserer, keuchender Stimme, wies erschrocken mit den Augen nach der Tür, wo seine Tochter stand, und machte Anstrengungen, um sich aufzurichten.

»Lieg still, lieg still!« schrie ihm Katerina Iwanowna zu.

Aber es war ihm bereits mit einer über seine Kräfte hinausgehenden Anstrengung gelungen, sich auf den Arm zu stützen. Verstört und regungslos starrte er eine Zeitlang seine Tochter an, wie wenn er sie nicht erkenne. Auch hatte er sie noch nie in solcher Kleidung gesehen. Plötzlich erkannte er sie, wie sie, erniedrigt, gramvoll, herausgeputzt und in Scham vergehend, schüchtern darauf wartete, daß auch sie an die Reihe käme, von ihrem sterbenden Vater Abschied zu nehmen. Der Ausdruck grenzenlosen Leides malte sich auf seinem Gesichte.

»Sonja, meine Tochter, verzeih mir!« rief er und wollte ihr die Hand hinstrecken; aber den Halt verlierend, fiel er um und stürzte vom Sofa herunter, mit dem Gesichte gerade auf die Erde. Die Umstehenden sprangen hinzu, um ihn aufzuheben, und legten ihn wieder zurecht; aber er war schon im Verscheiden. Sonja stieß einen schwachen Schrei aus, lief hinzu und schlang die Arme um ihn; so starb er in ihrer Umarmung.

»Nun hat er sein Ziel erreicht!« rief Katerina Iwanowna, als sie sah, daß ihr Mann tot war. »Aber was soll ich nun tun? Wie soll ich sein Begräbnis bezahlen? Und was soll ich denen hier morgen zu essen geben?«

Raskolnikow trat zu ihr.

»Katerina Iwanowna«, begann er, »in der vorigen Woche hat mir Ihr verstorbener Gatte sein ganzes Leben erzählt und mir über alle seine Verhältnisse Mitteilung gemacht … Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit schwärmerischer Verehrung sprach. Seit jenem Abende, als ich erfuhr, wie herzlich er Ihnen allen zugetan war und wie sehr er besonders Sie, Katerina Iwanowna, schätzte und liebte, trotz seiner unseligen Schwäche, – seit jenem Abende waren wir Freunde … Gestatten Sie mir daher jetzt, … dazu mitzuhelfen, … daß meinem verstorbenen Freunde die letzte Ehre erwiesen werde. Hier sind … ich glaube, zwanzig Rubel – und wenn Ihnen das eine kleine Beihilfe sein kann, so … Ich werde … nun ja, ich werde einmal wieder mit herankommen, … ganz bestimmt komme ich wieder her, … vielleicht komme ich schon morgen … Leben Sie wohl!«

Eilig verließ er das Zimmer und drängte sich schnell durch die Menge hindurch, um zur Treppe zu gelangen; aber in dem Menschenhaufen stieß er plötzlich auf Nikodim Fomitsch, der von dem Unglücksfall gehört hatte und nun persönlich das Erforderliche anordnen wollte. Seit dem Vorfall auf dem Polizeibureau hatten sie sich nicht wieder gesehen; aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn augenblicklich.

»Ah, Sie hier?« fragte er ihn.

»Er ist gestorben«, antwortete Raskolnikow. »Ein Arzt ist dagewesen, auch ein Geistlicher; es hat alles seine gute Ordnung gehabt. Regen Sie nur die arme Frau nicht zu sehr auf; sie hat sowieso die Schwindsucht. Sprechen Sie ihr Mut zu, wenn es Ihnen möglich ist … Sie sind ja ein guter Mensch, das weiß ich …«, fügte er lächelnd hinzu und blickte ihm gerade in die Augen.

»Sie haben sich ja so blutig gemacht«, bemerkte Nikodim Fomitsch, als er beim Lichte der Laterne ein paar frische Flecke auf Raskolnikows Weste wahrnahm.

»Ja, ich habe mich blutig gemacht, … ich bin ganz voll Blut!« erwiderte Raskolnikow mit eigentümlicher Miene; darauf lächelte und nickte er ihm zu und stieg die Treppe hinunter.

Er ging sachte und ohne Eile hinab, in fieberhafter Erregung, deren er sich aber nicht bewußt war, ganz erfüllt von dem einen, neuen, unermeßlichen Gefühle des plötzlich über ihn hereinflutenden vollen, mächtigen Lebens. Dieses Gefühl mochte dem Gefühle eines zum Tode Verurteilten ähnlich sein, dem unerwartet seine Begnadigung verkündet wird. Auf der halben Höhe der Treppe holte ihn der Geistliche ein, der wieder nach Hause ging. Schweigend ließ Raskolnikow ihn an sich vorbeigehen und wechselte mit ihm nur eine stumme Verneigung. Aber als er bereits die letzten Stufen hinabstieg, hörte er hinter sich eilige Schritte; es wollte ihn jemand einholen. Es war Polenjka; sie kam ihm nachgelaufen und rief:

»Bitte, hören Sie! Bitte, hören Sie!«

Er drehte sich zu ihr um. Sie kam die letzte Treppe herabgelaufen und blieb dicht vor ihm stehen, eine Stufe höher als er. Es war dunkel, und nur ein schwacher Lichtschimmer drang vom Hofe herein. Raskolnikow konnte das magere, aber liebliche Gesichtchen der Kleinen unterscheiden, die ihm zulächelte und ihn mit kindlicher Fröhlichkeit anblickte. Sie kam mit einem Auftrage, der offenbar ihr selbst große Freude machte.

»Bitte, sagen Sie doch, wie Sie heißen, und auch, wo Sie wohnen!« sagte sie eilig und fast außer Atem.

Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und blickte sie mit einer Art von Glücksgefühl an. Es war ihm ein solches Vergnügen, sie anzusehen, obwohl er sich selbst über den Grund nicht klar war.

»Wer hat dich denn geschickt?«

»Meine Schwester Sonja«, antwortete das Mädchen und lächelte noch fröhlicher.

»Das habe ich mir gedacht, daß dich deine Schwester Sonja geschickt hat.«

»Mama hat mich auch geschickt. Als Sonja mich schickte, kam Mama auch heran und sagte: ›Lauf recht schnell, Polenjka.‹«

»Du hast wohl deine Schwester Sonja recht lieb?«

»Ja, die habe ich am liebsten von allen!« antwortete Polenjka mit großer Bestimmtheit, und ihr Lächeln wurde auf einmal ernster.

»Wirst du mich auch lieb haben?«

Er erhielt keine Antwort; aber er sah, wie das Gesichtchen der Kleinen sich ihm näherte und die weichen Lippen sich harmlos spitzten, um ihn zu küssen. Ihre Arme, die so dünn waren wie Streichhölzchen, umschlangen ihn auf einmal ganz eng, ihr Kopf neigte sich gegen seine Schulter, und das Kind begann leise zu weinen und schmiegte sich mit dem Gesichte immer fester an ihn.

»Unser lieber Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer kleinen Weile, indem sie ihr verweintes Gesichtchen in die Höhe hob und sich mit den Händen die Tränen abwischte. »Es hat uns jetzt ein Unglück nach dem andern betroffen«, fügte sie unvermittelt hinzu, mit der eigentümlich ernsten Miene, welche Kinder mit besonderer Bemühung annehmen, wenn sie »wie die Großen« reden wollen.

»Hat denn dein Papa euch auch lieb gehabt?«

»Unsre Lida hat er am meisten von uns allen lieb gehabt«, fuhr sie sehr ernsthaft und ohne zu lächeln fort; sie redete nun schon ganz wie die Großen, »die hatte er am meisten lieb, weil sie noch so klein ist, und dann auch, weil sie so oft krank ist, und er brachte ihr immer etwas zum Naschen mit, und uns hat er lesen gelehrt und mich auch Grammatik und Religion«, fügte sie mit Selbstbewußtsein hinzu. »Mama hat nichts dazu gesagt; aber wir wußten doch, daß sie es gern hatte, und Papa wußte es auch. Mama will mich jetzt im Französischen unterrichten, weil es für mich Zeit ist, daß ich eine gute Bildung erhalte.«

»Könnt ihr denn auch beten?«

»Oh, gewiß können wir das! Schon lange. Ich bete, weil ich schon groß bin, für mich allein; aber Nikolai und Lida beten laut mit Mama zusammen. Erst sagen sie das Gebet an die Muttergottes, und dann noch ein Gebet: ›Lieber Gott, verzeihe unsrer Schwester Sonja und segne sie‹, und dann noch eins: ›Lieber Gott, verzeihe unserm zweiten Papa und segne ihn‹; denn unser erster Papa ist schon tot, und dieser ist unser zweiter; aber wir beten auch für ihn.«

»Polenjka, ich heiße Rodion; betet manchmal auch für mich. Ihr braucht nur hinzuzufügen: ›und deinem Knechte Rodion‹, weiter nichts.«

»Mein ganzes künftiges Leben lang werde ich für Sie beten«, sagte die Kleine eifrig, und nun lächelte sie auf einmal wieder, fiel ihm noch einmal um den Hals und umarmte ihn innig.

Raskolnikow sagte ihr seinen Namen, gab ihr seine Wohnung an und versprach, morgen bestimmt wieder mit heranzukommen. Ganz entzückt über ihn ging das kleine Mädchen wieder nach oben. Es war zwischen zehn und elf Uhr, als er auf die Straße hinaustrat. Fünf Minuten darauf stand er auf der Brücke, genau auf derselben Stelle, wo sich kurz vorher die Frau ins Wasser gestürzt hatte.

›Nun genug!‹ sagte er sich entschlossen und feierlich. ›Weg mit den Wahnbildern, weg mit der leeren Beängstigung, weg mit all diesen Gespenstern! … Es gibt noch für mich ein Leben! Oder habe ich nicht soeben ein Stück Leben durchgekostet? Mein Leben ist noch nicht mit dem der alten Frau zusammen zerstört und vernichtet! Gott schenke ihr das Himmelreich – und nun genug mit dir, Mütterchen; es ist Zeit, daß du zur Ruhe kommst! Jetzt beginnt die Herrschaft der Vernunft und des Lichtes … und des Willens und der Kraft … Und nun wollen wir einmal sehen! Nun wollen wir uns einmal miteinander messen!‹ fügte er stolz hinzu, als ob er sich an eine dunkle Macht wendete und sie zum Kampfe herausforderte. ›Und ich hatte mich schon darein ergeben, auf der schmalen Felsenplatte zu leben!

Schwach bin ich freilich in diesem Augenblicke noch sehr; aber … die Krankheit scheint jetzt vollständig vorbei zu sein. Das habe ich schon vorhin, als ich ausging, gewußt, daß sie vorübergehen würde. Da fällt mir ein: das Potschinkowsche Haus ist ja nur ein paar Schritte von hier entfernt. Jetzt möchte ich unter allen Umständen zu Rasumichin gehen, auch wenn es weiter als ein paar Schritte wäre … Mag er die Wette gewinnen! … Mag er sich auch darüber amüsieren – immerzu, mag er! … Kraft, Kraft ist erforderlich; ohne Kraft richtet man nichts aus; aber Kraft muß man gerade wieder durch Kraft erwerben; das ist´s, was die meisten nicht wissen‹, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und verließ, kaum imstande die Füße zu heben, die Brücke. Sein Stolz und sein Selbstbewußtsein wuchsen reißend schnell; im nächsten Augenblicke war er schon ein ganz andrer Mensch als im vorhergehenden. Was war denn aber so Besonderes geschehen, das ihn so umgewandelt hatte? Das wußte er eigentlich selbst nicht; wie jemand, der nach einem Strohhalm greift, so glaubte auch er auf einmal, daß er noch weiterleben könne, daß ›es noch für ihn ein Leben gebe‹, daß ›sein Leben noch nicht mit dem der alten Frau zusammen zerstört und vernichtet sei‹. Vielleicht war diese Schlußfolgerung übereilt; aber das kam ihm nicht in den Sinn.

›Und ich habe sie gebeten, den Knecht Gottes Rodion im Gebet zu erwähnen‹, schoß es ihm durch den Kopf. ›Na, das ist für alle Fälle!‹ fügte er hinzu und lachte selbst über seinen kindlichen Einfall. Er befand sich in ausgezeichneter Gemütsstimmung.

Rasumichins Wohnung fand er leicht; im Potschinkowschen Hause war der neue Mieter bereits hinlänglich bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg. Raskolnikow war die Treppe erst zur Hälfte hinaufgestiegen, als er schon den Lärm und das Stimmengewirr einer großen Gesellschaft vernahm. Die nach der Treppe führende Tür stand sperrangelweit auf; man hörte Geschrei und Streiten. Rasumichins Zimmer war ziemlich groß; die Gesellschaft bestand aus etwa fünfzehn Personen. Raskolnikow blieb im Vorzimmer stehen. Hier beschäftigten sich hinter einer spanischen Wand zwei Dienstmädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars, mit Flaschen, Tellern und Schüsseln, auf denen Pirog und kalter Aufschnitt lagen; all dies war aus der Küche der Wirtsleute hierhergeschafft worden. Raskolnikow ließ Rasumichin herausrufen. Dieser kam hocherfreut angelaufen. Es war auf den ersten Blick zu sehen, daß er ein erhebliches Quantum getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich fast niemals wirklich betrank, war ihm diesmal doch deutlich etwas anzumerken.

»Hör mal«, sagte Raskolnikow eilig, »ich bin bloß hergekommen, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß in der Tat niemand vorher weiß, was alles auf ihn einwirken wird. Hineinkommen kann ich nicht; ich bin so schwach, daß ich jeden Augenblick umfallen könnte. Darum will ich dich nur begrüßen und dir zugleich ›Auf Wiedersehen‹ sagen. Komm morgen zu mir …«

»Weißt du was? Ich bringe dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du so schwach bist, dann …«

»Und deine Gäste? Was ist denn das für ein Krauskopf, der eben hier hereinguckte?«

»Der? Weiß der Kuckuck, wer das ist! Wohl ein Bekannter meines Onkels; vielleicht ist er aber auch ganz von selbst gekommen … Ich lasse meinen Onkel hier bei ihnen; das ist ein Staatskerl; schade, daß du jetzt nicht mit ihm Bekanntschaft machen kannst. Übrigens, hol sie alle der Teufel! Sie brauchen mich jetzt nicht, und ich muß ein bißchen an die frische Luft. So kommst du mir gerade zupaß, Brüderchen; hätte es noch zwei Minuten länger gedauert, so hätte ich mich, weiß Gott, noch mit ihnen geprügelt. Denn einen Blödsinn schwatzen die Kerle zusammen –! Du hast gar keine Vorstellung davon, was solche Menschen alles zusammenschwadronieren können. Übrigens, warum sollst du keine Vorstellung davon haben? Schwadronieren wir nicht auch das Blaue vom Himmel? Mögen sie jetzt schwadronieren, immerzu; im spätern Leben sind sie dann um so gesetzter. Setz dich einen Augenblick; ich will noch Sossimow herholen.«

Sossimow eilte mit großer Lebhaftigkeit auf Raskolnikow zu; es war ihm eine ganz besondere Spannung anzumerken; aber sein Gesicht hellte sich alsbald auf.

»Legen Sie sich sofort schlafen«, ordnete er an, nachdem er den Patienten nach Möglichkeit untersucht hatte, »und zur Nacht nehmen Sie eine Kleinigkeit ein. Nicht wahr, das tun Sie doch? Ich habe schon vorhin etwas für Sie zurechtgemacht … ein Pülverchen.«

»Meinetwegen zwei«, antwortete Raskolnikow. Er nahm das Pulver sofort ein.

»Es ist sehr gut, daß du ihn selbst nach Hause bringen willst«, sagte Sossimow zu Rasumichin. »Wir wollen mal sehen, wie es morgen sein wird; heute jedenfalls läßt sich die Sache recht gut an: ein merkwürdiger Umschwung seit vorhin. Man lernt doch nie aus.«

»Weißt du, was mir Sossimow eben zugeflüstert hat, als wir weggingen?« platzte Rasumichin heraus, sowie sie auf die Straße traten. »Ich will dir nicht alles so geradeheraus sagen, Bruder; denn die Kerle sind doch gar zu dumm. Sossimow beauftragte mich, unterwegs mit dir zu schwatzen und auch dich zum Schwatzen zu bringen und ihm dann alles zu erzählen; denn er hat so die Idee, … daß du … verrückt wärest oder wenigstens nahe daran. Kannst du dir so etwas vorstellen? Erstens bist du dreimal so klug wie er; zweitens können dir seine albernen Ideen ganz schnuppe sein, wenn du nicht wirklich verdreht bist; und drittens hat dieser Fleischkloß, der doch eigentlich Chirurg ist, sich jetzt auf Geisteskrankheiten kapriziert, und was dich betrifft, so hat ihm dein heutiges Gespräch mit Sametow völlig den Kopf verdreht.«

»Hat dir Sametow alles erzählt?«

»Jawohl, und daran hat er sehr gut getan. Ich habe jetzt die ganze Sache bis auf das kleinste verstanden, und Sametow auch … Na ja, mit einem Worte, Rodja, … die Sache ist die … Ich bin jetzt ein bißchen angesäuselt, … aber das macht nichts, … die Sache ist die, daß dieser Gedanke … du verstehst wohl? Er hatte sich wirklich bei ihnen festgesetzt, … du verstehst wohl? Das heißt, keiner von ihnen wagte es laut auszusprechen, solchen horrenden Blödsinn, und namentlich nachdem dieser Malergeselle festgenommen war, kamen sie ganz davon ab. Aber warum sind sie überhaupt solche Dummköpfe? Ich habe damals Sametow ein bißchen durchgeprügelt (das sage ich aber nur ganz unter uns, Brüderchen; bitte, laß dir ja nicht anmerken, daß du es weißt; ich habe bemerkt, daß er etwas empfindlich ist; neulich einmal, als wir bei jener Lawisa waren); aber heute, heute ist ja nun alles klar geworden. Das ging alles von diesem Ilja Petrowitsch aus! Er stützte damals seine Deduktionen auf deinen Ohnmachtsanfall im Polizeibureau: aber nachher hat er sich selbst dessen geschämt; das weiß ich …«

Raskolnikow hörte begierig zu. Rasumichin schwatzte in seiner Trunkenheit alles aus.

»Ich fiel damals in Ohnmacht, weil die Luft so verbraucht war und es so nach Ölfarbe roch«, sagte Raskolnikow.

»Bringt der Mensch auch noch Erklärungen vor! Es war übrigens auch nicht allein die Ölfarbe: das Fieber bereitete sich bei dir schon einen ganzen Monat lang vor, hat Sossimow erklärt. Aber wie dieses Jüngelchen, der Sametow, jetzt geknickt ist, davon kannst du dir gar keine Vorstellung machen! ›Ich bin nicht so viel wert wie der kleine Finger dieses Menschen‹, sagt er; er meint deinen kleinen Finger. Er hat manchmal ganz vernünftige Anschauungen, Brüderchen. Aber die Lektion, die du ihm heute im Kristallpalast erteilt hast, das war ein Meisterstück! Zuerst hast du ihm einen Schreck eingejagt, daß er fast Krämpfe bekommen hätte. Du hast ihn ja beinahe genötigt, wieder an all diesen gräßlichen Unsinn zu glauben, und dann auf einmal hast du ihm die Zunge herausgestreckt: ›Ätsch! Auf dem Holzweg!‹ Vorzüglich! Er ist jetzt ganz niedergeschmettert, ganz zerknirscht! Meisterhaft hast du das gemacht, weiß Gott; so muß man die Kerle behandeln! Jammerschade, daß ich nicht dabei war! Er wartete jetzt mit lebhaftem Interesse darauf, ob du nicht auch zu mir kommen würdest. Auch Porfirij wünscht sehr, deine Bekanntschaft zu machen …«

»Ah … also auch der meint schon … Aber warum hatten sie mich denn für verrückt gehalten?«

»Für verrückt hatten sie dich eigentlich nicht gehalten. Ich habe wohl schon zu viel ausgeplaudert, Brüderchen. Siehst du wohl, unserm Sossimow fiel das heute auf, daß dich nur dieser eine Gegenstand interessierte; jetzt ist es ihm ja klar, warum er dich interessierte; jetzt, wo er alle Umstände kennt … und weiß, wie dich das damals aufregte und sich mit deiner Krankheit komplizierte … Ich bin ein bißchen betrunken, Brüderchen; aber, weiß der Teufel, er hat da so seine eigene Idee … Ich kann dir nur sagen: er kapriziert sich auf Geisteskrankheiten. Aber was wirst du dir daraus machen …«

Beide schwiegen eine halbe Minute lang.

»Höre mal, Rasumichin«, begann dann Raskolnikow, »ich will dir offen sagen: ich war eben bei einem Sterbenden; es ist da ein Beamter gestorben, … ich habe da mein ganzes Geld weggegeben, … und außerdem hat mich soeben ein Wesen geküßt, das, selbst wenn ich jemand ermordet hätte, mich trotzdem … mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen … mit einer feuerroten Feder, … aber ich rede ohne Sinn und Verstand; ich bin sehr schwach; stütze mich ein bißchen, … da ist ja auch gleich die Treppe …«

»Was fehlt dir? Was fehlt dir?« fragte Rasumichin beunruhigt.

»Es ist mir ein bißchen schwindlig; aber das ist das wenigste; vor allem ist mir so traurig zumute, so traurig! Als ob ich ein Weib wäre, … wahrhaftig! Sieh mal, was hat das zu bedeuten? Sieh mal, sieh mal!«

»Was ist denn?«

»Siehst du denn nicht? In meinem Zimmer ist Licht, siehst du es? Durch die Ritze …«

Sie standen schon vor der letzten Treppe, bei der Tür der Wirtin, und es war wirklich von hier unten zu sehen, daß in Raskolnikows Kämmerchen Licht war.

»Sonderbar! Vielleicht ist Nastasja drin!« bemerkte Rasumichin.

»Sie kommt nie um diese Zeit in mein Zimmer; auch schläft sie schon längst. Aber … nun meinetwegen! Lebewohl!«

»Was hast du denn? Ich bringe dich doch ganz in deine Wohnung; wir gehen noch beide zusammen hinein!«

»Das weiß ich, daß wir beide zusammen hineingehen; aber ich möchte dir hier die Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Nun also, gib mir die Hand, leb wohl!«

»Was hast du nur, Rodja?«

»Nichts! … Komm! … Du sollst Zeuge sein …«

Sie stiegen die Treppe hinauf, und Rasumichin konnte sich des Gedankens nicht erwehren, Sossimow möchte doch vielleicht recht gehabt haben. ›Ach, ich habe ihn wohl nur durch mein Geschwätz wirr gemacht!‹ murmelte er vor sich hin. Als sie an die Tür kamen, hörten sie im Zimmer Stimmen.

»Ja, was ist denn da los?« rief Rasumichin.

Raskolnikow griff vor dem andern nach der Klinke, riß die Tür weit auf und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

Seine Mutter und seine Schwester saßen auf dem Sofa und warteten schon seit anderthalb Stunden. Erstaunlicherweise hatte er gerade sie am allerwenigsten erwartet und gar nicht an sie gedacht, obgleich er heute durch Herrn Lushin gehört hatte, daß sie abgereist seien, sich auf der Fahrt befänden und jeden Augenblick da sein könnten. Diese ganzen anderthalb Stunden lang hatten sie um die Wette Nastasja ausgefragt, die auch jetzt vor ihnen stand und ihnen schon alles bis aufs kleinste erzählt hatte. Sie waren außer sich gewesen vor Entsetzen, als sie gehört hatten, daß er »heute davongelaufen« sei, und zwar noch krank und, wie sich aus der Erzählung entnehmen ließ, jedenfalls im Fieberwahn. »O Gott, was wird nur mit ihm geschehen sein!« Beide hatten geweint und in dieser anderthalbstündigen Wartezeit schrecklichste Qualen erduldet.

Raskolnikows Erscheinen begrüßten sie mit einem freudigen Schrei des Entzückens. Sie stürzten auf ihn zu. Aber er stand wie erstarrt da; die unerträgliche Vorstellung, die plötzlich vor seiner Seele wieder auftauchte, wirkte auf ihn wie ein Blitzstrahl. Seine Arme hoben sich nicht, um sie an seine Brust zu drücken; sie waren dazu nicht imstande. Die Mutter und die Schwester umschlangen ihn herzlich, küßten ihn, lachten und weinten. Er tat einen Schritt, wankte und stürzte ohnmächtig zu Boden.

Aufregung, Laute des Schreckens, ängstliches Stöhnen! … Rasumichin, der auf der Schwelle stehengeblieben war, flog ins Zimmer, faßte den Kranken in seine starken Arme, und einen Augenblick darauf lag dieser auf dem Sofa.

»Das hat weiter nichts zu bedeuten!« rief er der Mutter und der Schwester zu. »Es ist nur eine Ohnmacht, eine Kleinigkeit! Der Arzt hat noch vor ein paar Minuten gesagt, daß es ihm weit besser geht und er schon wieder vollkommen gesund ist! Wasser, bitte! … Na, sehen Sie wohl, er kommt schon wieder zu sich, er ist wieder bei Bewußtsein!«

Er faßte Dunja so kräftig an der Hand, daß er ihr fast den Arm ausrenkte, und zog sie nieder, damit sie sähe, daß er »schon wieder bei Bewußtsein« sei. Die Mutter und die Schwester blickten mit Rührung und Dankbarkeit auf Rasumichin, wie auf einen himmlischen Retter; sie hatten schon von Nastasja gehört, welch ein unschätzbarer Helfer für ihren Rodja während der ganzen Dauer der Krankheit dieser Rasumichin gewesen sei. »Ein gewandter junger Mann!« sagte von ihm Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst an diesem Abende, als sie mit Dunja allein war.

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