Kapitel 40

I

Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Stromes liegt eine Stadt, der Sitz höherer Verwaltungsbehörden. In der Stadt befindet sich eine Festung, in der Festung ein Gefängnis. In diesem Gefängnis sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit der Begehung des Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen.

Das Gerichtsverfahren gegen ihn hatte sich ohne besondere Schwierigkeiten abgespielt. Der Verbrecher, in seinen Angaben fest, genau und klar, hielt seine Selbstbezichtigung aufrecht, ohne die Begleitumstände zu verwirren, ohne sie zu seinem Vorteil abzuschwächen, ohne die Tatsachen zu verdrehen und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er erzählte den ganzen Hergang beim Morde auf das allergenaueste, erklärte das Geheimnis des wunderlichen Pfandobjektes (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das die ermordete alte Frau bei ihrer Auffindung in den Händen hatte, erzählte eingehend, wie er der Ermordeten die Schlüssel abgenommen habe, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb die Truhe und womit sie angefüllt gewesen sei, zählte sogar einige von den Gegenständen auf, die darin gelegen hätten, erklärte das Rätsel von Lisawetas Ermordung, erzählte, wie Koch gekommen sei und geklopft habe und nach ihm der Student, berichtete alles, was sie untereinander gesprochen hätten, wie er, der Verbrecher, dann die Treppe hinuntergelaufen sei und Nikolais und Dmitrijs Geschrei gehört habe, wie er sich in der leeren Wohnung nämlich von dem Arzte Sossimow, seinen früheren Kommilitonen, seiner Wirtin und ihrem Dienstmädchen, auf das bestimmteste bekundet. Alles dies diente als starke Stütze für die Schlußfolgerung, daß Raskolnikow mit einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht auf eine Stufe gestellt werden könne, sondern daß hier denn doch etwas anderes vorliege. Zum größten Verdrusse derjenigen, die diese Ansicht vertraten, machte der Verbrecher selbst so gut wie gar keinen Versuch, sich zu verteidigen; auf die ausdrückliche Frage, was ihn denn eigentlich zu dem Morde und dem Raube veranlaßt habe, antwortete er mit größter Klarheit und überraschender Offenheit, die Ursache seiner ganzen Handlungsweise sei seine üble Lage gewesen, seine völlige Armut und Hilflosigkeit und der Wunsch, sich die ersten Schritte auf seiner Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu ermöglichen, die er bei der Getöteten zu finden gehofft habe. Den Entschluß zum Morde habe er infolge seines leichtsinnigen, kleinmütigen Charakters gefaßt; überdies habe er sich auch noch infolge von Entbehrungen und Mißerfolgen in gereizter Stimmung befunden. Und auf die Frage, was ihn denn zu der Selbstanzeige bewogen habe, erwiderte er offen, daß dies eine Wirkung aufrichtiger Reue gewesen sei. Das alles machte schon beinahe den Eindruck allzu großer Derbheit.

Das Urteil fiel milder aus, als nach der Schwere des verübten Verbrechens eigentlich zu erwarten gewesen war, und zwar vielleicht gerade deswegen, weil der Verbrecher nicht nur jeden Versuch, sich zu rechtfertigen, verschmäht, sondern sogar gewissermaßen ein Bestreben an den Tag gelegt hatte, sich selbst noch mehr zu belasten. All die seltsamen und eigenartigen Umstände, unter denen die Tat begangen war, wurden bei der Strafabmessung berücksichtigt. Der krankhafte Zustand und die schreckliche Armut des Verbrechers vor Begehung der Tat konnten nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Daß er das geraubte Gut nicht zu seinem Nutzen verwandt hatte, wurde teils als Wirkung der erwachenden Reue, teils als Folge seiner nicht normalen geistigen Verfassung bei Ausübung des Verbrechens angesehen. Die Art, wie es zu der von vornherein nicht in Aussicht genommenen Ermordung Lisawetas gekommen war, diente sogar als Beweis, um die letztere Annahme zu erhärten: ein Mensch begeht zwei Morde und denkt dabei nicht daran, daß die Tür offensteht! Ins Gewicht fiel schließlich auch noch, daß das Geständnis gerade zu einer Zeit erfolgt war, wo die Sache durch die unwahre Selbstbezichtigung eines Fanatikers der Demut (Nikolai) ein überaus verworrenes Aussehen angenommen hatte und wo außerdem gegen den wirklichen Verbrecher nicht nur keine klaren Indizien, sondern sogar fast kein Verdacht vorgelegen hatte. (Porfirij Petrowitsch hatte durchaus Wort gehalten.) Alles dies wirkte zusammen, um das Schicksal des Angeklagten milder zu gestalten.

Überdies wurden ganz unerwartet auch noch andere Umstände bekannt, die sehr zugunsten des Angeklagten sprachen. Der frühere Student Rasumichin hatte irgendwo die Nachricht aufgetrieben, für die er dann auch die Beweise beibrachte: daß der Verbrecher Raskolnikow zur Zeit seiner Zugehörigkeit zur Universität mit seinen letzten Geldmitteln einen bedürftigen, schwindsüchtigen Kommilitonen unterstützt und fast ein halbes Jahr lang allein unterhalten hatte. Nachdem dieser gestorben war, hatte er die Sorge für dessen alten, gelähmten Vater auf sich genommen (diesen hatte der Sohn fast von seinem dreizehnten Lebensjahre an durch seine eigene Arbeit vollständig erhalten), den alten Mann schließlich in einem Krankenhause untergebracht und ihn, als dann auch er gestorben war, beerdigen lassen. All diese Mitteilungen übten eine günstige Wirkung auf die Entscheidung von Raskolnikows Schicksal aus. Auch seine bisherige Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen Braut, die verwitwete Frau Sarnizyna, bezeugte, daß, als sie noch in einem anderen Hause, bei den Fünf-Ecken, gewohnt hätten, Raskolnikow bei einer nächtlichen Feuersbrunst aus einer bereits brennenden Wohnung zwei kleine Kinder herausgeholt und dabei selbst Brandwunden davongetragen habe. Diese Angabe wurde sorgsam nachgeprüft und von vielen Zeugen durchaus glaubwürdig bestätigt. Kurz, das Resultat war, daß der Verbrecher in Anbetracht seiner Selbstanzeige und mancher mildernden Umstände nur zu acht Jahren Zwangsarbeit zweiter Klasse verurteilt wurde.

Gleich bei Beginn des Prozesses war Raskolnikows Mutter erkrankt. Dunja und Rasumichin machten es möglich, sie für die ganze Dauer der Gerichtsverhandlungen aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte dazu eine nicht weit von Petersburg an der Eisenbahn gelegene Stadt aus, um den Prozeß in seinem ganzen Gange regelmäßig verfolgen und gleichzeitig möglichst oft mit Dunja zusammenkommen zu können. Pulcheria Alexandrowna litt an einer eigenartigen Nervenkrankheit, verbunden mit einer wenn auch nicht totalen, so doch mindestens partiellen geistigen Störung. Als Dunja von der letzten Zusammenkunft mit ihrem Bruder zurückgekehrt war, hatte sie ihre Mutter schon ganz krank, fiebernd und phantasierend, vorgefunden. Noch an demselben Abend hatte sie sich mit Rasumichin verabredet, was sie der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne antworten wollten, und hatte sogar im Verein mit ihm für die Mutter eine ganze Geschichte ausgesonnen: Raskolnikow sei nach einem fernen Orte an der Grenze Rußlands gereist, infolge eines privaten Auftrages, der ihm endlich Geld und Berühmtheit eintragen werde. Aber es war ihnen verwunderlich, daß Pulcheria Alexandrowna weder damals noch später eine Frage nach dem Ergehen ihres Sohnes stellte. Man konnte vielmehr merken, daß sie selbst eine ganze Geschichte über eine plötzliche Abreise ihres Sohnes im Kopfe hatte; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen sei, um Abschied zu nehmen, machte dabei Andeutungen, daß viele sehr wichtige, geheimnisvolle Umstände nur ihr allein bekannt seien und daß Rodja viele sehr mächtige Feinde habe, vor denen er sich verbergen müsse. Was seine künftige Laufbahn anlangte, so glaubte sie, daß sie zweifellos eine glänzende sein werde, sobald gewisse hinderliche Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, ihr Sohn werde mit der Zeit sogar ein großer Staatsmann werden; das bewiesen sein Aufsatz und seine glänzende schriftstellerische Begabung. Diesen Aufsatz las sie fortwährend, mitunter sogar laut, und trennte sich selbst in der Zeit des Schlafes selten von ihm; trotzdem aber fragte sie fast nie, wo sich Rodja jetzt eigentlich befinde, obgleich Dunja und Rasumichin es augenscheinlich vermieden, mit ihr darüber zu sprechen – was schon allein ihren Argwohn hätte erregen können. Schließlich wurde ihnen dieses sonderbare Schweigen der Mutter über gewisse Punkte unheimlich. Sie beklagte sich zum Beispiel gar nicht darüber, daß keine Briefe von Rodja kamen, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und der Erwartung gelebt hatte, recht bald einen Brief von ihrem geliebten Sohne zu erhalten. Dieser letztere Umstand war ganz unerklärlich und versetzte Dunja in starke Unruhe; es kam ihr der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Geschick ihres Sohnes ahne und sich fürchte zu fragen, um nicht etwas noch Schrecklicheres zu erfahren. Jedenfalls aber sah Dunja klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war.

Ein paarmal war es vorgekommen, daß die Mutter selbst das Gespräch so leitete, daß bei Beantwortung ihrer Fragen eine Erwähnung von Rodjas jetzigem Aufenthaltsorte schwer zu umgehen war; da nun die Antworten notgedrungen unbefriedigend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich überaus traurig, düster und schweigsam und verharrte in diesem Zustande sehr lange. Dunja sah schließlich ein, daß es auf die Dauer doch zu schwer war, etwas zu erdichten und der Mutter vorzulügen, und nahm sich nun ein für allemal vor, über gewisse Punkte lieber vollständig zu schweigen; aber es wurde immer klarer und augenscheinlicher, daß die arme Mutter etwas Furchtbares ahnte. Dunja erinnerte sich unter anderem an die Mitteilung ihres Bruders, daß die Mutter die wirren Reden mitgehört habe, die sie in der Nacht vor jenem verhängnisvollen Tage, nach ihrem Zusammensein mit Swidrigailow, im Schlafe geführt hatte; ob sie vielleicht damals etwas von dem wahren Sachverhalte verstanden hatte? Häufig, und zwar manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen finsteren, brütenden Schweigens und stummer Tränen, geriet die Kranke in eine Art von hysterischer Lebhaftigkeit und begann auf einmal laut und fast ohne Unterbrechung von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen … Ihre Phantasien waren mitunter recht seltsam. Die beiden jungen Leute trösteten sie und redeten ihr nach dem Munde – sie durchschaute das vielleicht selbst, daß sie ihr nur nach dem Munde reden und sie trösten wollten; aber dennoch redete und redete sie immer weiter …

Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers wurde das Urteil über ihn gefällt. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur irgend möglich war. Ebenso Sonja. Endlich kam die Trennungsstunde. Dunja schwur ihrem Bruder, dies solle keine Trennung fürs Leben sein; desgleichen Rasumichin. In Rasumichins jugendlichem, feurigem Kopfe war ein Plan entstanden und zum festen Entschlusse geworden: in den nächsten drei, vier Jahren nach Möglichkeit wenigstens den Grund zu einem künftigen Vermögen zu legen, wenigstens eine gewisse Summe Geldes zusammenzusparen und dann nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich sei, während es an Arbeitern, Menschen und Kapital mangelte; dort wollte er sich dann in derselben Stadt, wo Rodja sein würde, niederlassen, … und da sollte für alle ein neues Leben beginnen. Beim Abschied weinten alle. Raskolnikow war in den letzten Tagen sehr schwermütig gewesen, hatte sich viel nach der Mutter erkundigt und sich fortwährend um sie beunruhigt. Sein Gram und Kummer um sie war so heftig gewesen, daß Dunja sich darüber aufregte. Als er die Einzelheiten über den Krankheitszustand der Mutter erfahren hatte, war er sehr finster geworden. Sonja gegenüber war er die ganze Zeit besonders wortkarg gewesen. Sie hatte sich mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidrigailow vor seinem Tode eingehändigt, schon längst reisefertig gemacht und war bereit, der Sträflingsabteilung zu folgen, in der auch er transportiert werden sollte. Hierüber war zwischen ihr und Raskolnikow niemals auch nur ein Wort gesprochen worden; aber beide wußten, daß es so sein werde.

Beim letzten Abschiednehmen lächelte er seltsam, als Dunja und Rasumichin sich in eifrigen Versicherungen ergingen, ein wie glückliches Leben ihnen allen bevorstände, sobald er die Zwangsarbeit hinter sich haben würde, und sagte vorher, daß die Krankheit der Mutter bald einen schlimmen Ausgang nehmen werde. Endlich brachen er und Sonja auf.

Zwei Monate darauf heirateten sich Dunja und Rasumichin. Es war eine traurige, stille Hochzeit. Unter den eingeladenen Gästen befanden sich übrigens auch Porfirij Petrowitsch und Sossimow. Während der ganzen letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines Mannes von festem Willen und ernster Entschlossenheit gezeigt. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle seine Pläne durchführen werde; und sie hatte auch allen Grund, das zu glauben, denn in diesem Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem hatte er wieder angefangen, Vorlesungen auf der Universität zu hören, um seine Studien zu absolvieren. Beide entwarfen fortwährend Pläne für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, in fünf Jahren bestimmt nach Sibirien überzusiedeln. Bis dahin verließen sie sich auf Sonjas dortige Wirksamkeit.

einzurichten, die Möbel darin zu säubern, den Fußboden zu scheuern, neue Gardinen aufzuhängen usw. Dunja ängstigte sich darüber, schwieg aber und war ihr sogar behilflich, das Zimmer für den Empfang des Bruders instand zu setzen. Nach einem unruhevollen, in beständigen phantastischen Einbildungen, in frohen Hoffnungen und in Tränen verbrachten Tage erkrankte die Mutter in der Nacht; am Morgen lag sie bereits in starkem Fieber und redete irre. Das Fieber nahm an Heftigkeit zu, und zwei Wochen darauf starb sie. Bei ihrem Irrereden waren ihr Worte entschlüpft, denen man entnehmen konnte, daß sie von dem schrecklichen Schicksale ihres Sohnes weit mehr ahnte, als man geglaubt hatte.

Raskolnikow erfuhr lange nichts vom Tode seiner Mutter, obgleich ein Briefwechsel mit Petersburg gleich vom Anfange seines Aufenthaltes in Sibirien an begonnen hatte. Dieser Briefwechsel fand durch Sonjas Vermittlung statt; sie schrieb regelmäßig jeden Monat nach Petersburg an Rasumichins Adresse und empfing pünktlich jeden Monat aus Petersburg eine Antwort. Sonjas Briefe erschienen Dunja und Rasumichin anfangs etwas trocken und unbefriedigend; aber schließlich fanden sie beide, daß dies die beste überhaupt mögliche Art zu schreiben war, da sie aus diesen Briefen als Schlußergebnis doch eine sehr vollständige und genaue Vorstellung von dem Lose des unglücklichen Bruders und Freundes gewannen. Sonjas Briefe waren mit Nachrichten über materielle Dinge der alltäglichsten Art und mit schlichten, klaren Schilderungen der Äußerlichkeiten in Raskolnikows Sträflingsleben angefüllt, enthielten dagegen weder Darlegungen ihrer eigenen Hoffnungen noch Vermutungen über die Gestaltung der Zukunft, noch Schilderungen ihrer eigenen Gefühle. Seinen Seelenzustand und überhaupt sein ganzes Innenleben darzustellen, das versuchte sie gar nicht; statt dessen standen da nur Tatsachen, das heißt seine eigenen Worte, ausführliche Mitteilungen über seinen Gesundheitszustand, welche Wünsche er dann und wann bei ihren Besuchen ausgesprochen, worum er sie gebeten, was er ihr aufgetragen hatte usw. Bei all diesen Mitteilungen ging sie auf die kleinsten Einzelheiten ein. Auf diese Weise trat schließlich das Bild des unglücklichen Sträflings dem Lesenden ganz von selbst in genauer und deutlicher Zeichnung vor Augen; Irrtümer waren unmöglich, weil alles Vorliegende aus zuverlässigen Tatsachen bestand.

Aber es war wenig Tröstliches, was Dunja und ihr Mann diesen Mitteilungen entnehmen konnten, namentlich in der ersten Zeit. Sonja berichtete stets, er sei beständig finster und schweigsam und interessiere sich kaum für die Nachrichten, die sie ihm jedesmal aus den ihr zugehenden Briefen mitteile. Manchmal frage er nach der Mutter; sie habe ihm, da sie gemerkt hätte, daß er die Wahrheit bereits ahne, schließlich deren Tod mitgeteilt; aber zu ihrem Erstaunen habe nicht einmal diese Todesnachricht auf ihn einen sonderlich starken Eindruck gemacht; wenigstens sei es ihr nach seinem äußeren Benehmen so vorgekommen. Unter anderem schrieb sie auch, obgleich er sich ganz in sich zurückziehe und sich von allen abschließe, habe er sich doch in sein neues Leben einfach und schlicht gefunden; er begreife klar seine Lage, erwarte in näherer Zukunft keine Besserung, gebe sich nicht leichtfertigen Hoffnungen hin, was doch in solcher Lage eine so häufige Erscheinung sei, und wundere sich fast über nichts inmitten der neuen ihn umgebenden Verhältnisse, obwohl sie von der früheren Form seines Daseins so stark verschieden seien. Weiter teilte Sonja mit, sein Gesundheitszustand sei befriedigend. Er gehe an seine Arbeit, ohne daß er sich ihr zu entziehen suche und ohne besonderen Eifer an den Tag zu legen. Hinsichtlich der Kost zeige er große Gleichgültigkeit; aber diese Kost sei, von Sonn- und Festtagen abgesehen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Sonja, etwas Geld angenommen habe, um sich zum täglichen Gebrauche Tee kaufen zu können. Was alles übrige anlange, so habe er herausgespürt), er halte sich von allem Verkehr fern; die anderen Sträflinge könnten ihn nicht leiden; er schweige ganze Tage lang und bekomme eine ganz blasse Gesichtsfarbe. Plötzlich, in ihrem letzten Briefe, schrieb Sonja, daß er sehr ernst erkrankt sei und im Gefangenensaale des Krankenhauses liege.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 41

II

Er war schon lange krank gewesen; aber nicht die Schrecken des Sträflingslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Nahrung, nicht das Abrasieren des Kopfhaares, nicht die schlechte Kleidung hatten ihn zugrunde gerichtet; oh, was machten ihm alle diese Qualen und Martern aus! Im Gegenteil, er freute sich sogar über die Arbeit; wenn er körperlich durch die Arbeit abgemattet war, so erlangte er dadurch wenigstens ein paar Stunden ruhigen Schlafes. Und was machte ihm die Kost aus, diese Kohlsuppe ohne Fleisch, mit Schaben darin? In früheren Jahren, als Student, hatte er oft nicht einmal das gehabt. Seine Kleidung hielt warm und paßte zu seiner Lebensweise. Die Ketten fühlte er gar nicht am Leibe. Sollte er sich seines geschorenen Kopfes und der zweifarbigen Jacke schämen? Aber vor wem? Vor Sonja? Sonja fürchtete sich vor ihm, und vor der sollte er sich schämen?

Und doch schämte er sich vor Sonja und ließ sie das dadurch entgelten, daß er sie durch sein verächtliches grobes Benehmen peinigte. Aber er schämte sich nicht des geschorenen Kopfes und der Ketten: sein Stolz war schwer verwundet, und diese Verwundung seines Stolzes war auch die Ursache seiner Krankheit. Oh, wie glücklich wäre er gewesen, wenn er sich selbst hätte eine Schuld beimessen können! Dann hätte er alles gern ertragen, auch Schande und Schmach. Aber so streng er auch mit sich ins Gericht ging, so fand sein verstocktes Gewissen doch in seiner Vergangenheit keine so besonders schreckliche Schuld, außer etwa einem einfachen »Fehlschlag«, wie er einem jeden vorkommen konnte. Er schämte sich namentlich darüber, daß er, Raskolnikow, so blind, taub, unvorsichtig und dumm, gleichsam gemäß dem Spruche eines blinden Fatums, sich zugrunde gerichtet hatte und sich nun einem »absurden« richterlichen Urteil beugen und unterwerfen mußte, wenn er nur einigermaßen innerlich zur Ruhe kommen wollte.

Eine zweck- und ziellose Unruhe in der Gegenwart und in der Zukunft eine stete Selbstaufopferung, durch die nichts erreicht wurde: das war’s, was ihm auf der Welt noch bevorstand. Und was hatte er davon, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig alt war und noch einmal zu leben beginnen konnte? Wozu sollte er dann noch leben? Was sollte er sich für Ziele setzen? Wonach streben? Sollte er leben, nur um zu existieren? Aber er war ja auch früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, für eine Hoffnung, ja, sogar für eine Phantasterei hinzugeben. Die bloße Existenz war ihm immer zu wenig gewesen; er hatte stets etwas Größeres erstrebt. Vielleicht war diese Lebhaftigkeit seiner Wünsche das einzige Moment gewesen, auf Grund dessen er sich damals für einen Menschen gehalten hatte, dem mehr gestattet sei als anderen.

Hätte doch das Schicksal ihm wenigstens Reue eingegeben, eine brennende Reue, die das Herz verzehrt und den Schlaf verscheucht, jene Reue, deren schreckliche Qualen einem den Selbstmord durch den Strick oder im Wasser verlockend erscheinen lassen. Oh, er hätte sich über eine solche Reue gefreut! Qualen und Tränen, das ist doch wenigstens Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht.

Oder wenn er sich wenigstens über seine Dummheit hätte ärgern können, wie er sich früher über seine törichten, dummen Handlungen geärgert hatte, durch die er ins Gefängnis gekommen war. Aber wenn er jetzt, wo er bereits im Gefängnis war, »in aller Ruhe« von neuem alle seine früheren Handlungen überdachte und prüfte, so fand er sie ganz und gar nicht so dumm und töricht, wie sie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit, erschienen waren.

›Inwiefern‹, dachte er, ›sollte meine Idee dümmer sein als andere Ideen und Theorien, die in der Welt, seit diese Welt besteht, umherschwirren und aufeinanderprallen? Man betrachte nur die Sache unparteiisch, vorurteilsfrei, und ohne sich von Erwägungen alltäglicher Art beeinflussen zu lassen: dann erscheint meine Idee sicherlich gar nicht so … sonderbar. O ihr schwächlichen Umstürzler, ihr dürftigen Denker, warum bleibt ihr immer auf halbem Wege stehen?‹

›Warum erscheint denn meine Tat den Menschen so ungeheuerlich?‹ fragte er sich. ›Deshalb, weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet denn das: eine böse Tat? Mein Gewissen ist ruhig. Gewiß, ich habe ein Kriminalverbrechen begangen; gewiß, ich habe den Buchstaben des Gesetzes verletzt und Blut vergossen; nun wohl, nehmt für den Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf … und die Sache ist erledigt! Allerdings hätten dann auch viele Wohltäter der Menschheit, die ihre Macht nicht ererbt, sondern selbst an sich gebracht haben, gleich bei ihren ersten Schritten hingerichtet werden müssen. Aber jene Männer führten ihre Schritte mit Kraft und Ausdauer durch, und darum waren sie im Rechte; ich aber wurde dabei schwach, und folglich hatte ich kein Recht, mir diesen Schritt zu erlauben.‹

Nur in diesem einen Punkte erkannte er sein Verbrechen an: nur darin, daß er es nicht zu ertragen vermocht und sich selbst angezeigt hatte.

Er litt auch unter dem Gedanken, warum er sich damals nicht das Leben genommen habe. Warum hatte er damals, als er am Flusse stand, doch die Selbstanzeige vorgezogen? Ob denn wirklich in dem Verlangen zu leben eine solche Kraft steckte und es gar so schwer war, dieses Verlangen zu überwinden? Swidrigailow hatte es doch überwunden, obwohl er sich vor dem Tode fürchtete!

Mit dieser Frage marterte er sich ab, ohne zu wissen, daß er vielleicht schon damals, als er am Flusse stand, den tiefen Irrtum in seinem ganzen Wesen und in seinen Anschauungen geahnt hatte. Er wußte nicht, daß dieses Vorgefühl möglicherweise der Vorbote einer künftigen Krisis in seinem Leben, der Vorbote seiner künftigen Wiedergeburt und seiner künftigen neuen Lebensanschauung war.

Er neigte mehr dazu, das Unterlassen des Selbstmordes auf die unbewußte Wirksamkeit des Instinktes zurückzuführen, über welche obzusiegen und hinwegzuschreiten er wieder einmal nicht die Kraft gehabt habe – er sei eben ein Schwächling und ein unbedeutender Mensch! Er betrachtete seine Mitsträflinge und war erstaunt darüber, wie sehr auch sie alle das Leben liebten und wie teuer es ihnen war. Ja, er hatte den Eindruck, als ob man im Gefängnisse das Leben noch mehr liebe und schätze und wert halte als in der Freiheit. Welche entsetzlichen Leiden und Qualen hatte das Leben manchen von ihnen gebracht, zum Beispiel den Landstreichern; und doch hingen sie so am Dasein! War ihnen denn wirklich ein Sonnenstrahl so viel wert oder ein dichter Wald oder eine kühle, tief in der Wildnis versteckte Quelle? Da hatte nun vielleicht so ein armer Kerl sich eine solche Quelle vor zwei, drei Jahren gemerkt, und nun malte er sich ein Wiedersehen in seiner Phantasie aus wie ein Wiedersehen mit einer Geliebten und träumte von seiner Quelle und von dem grünen Grase ringsumher und von den Vögelchen, die in den Büschen sangen! Bei längerer Betrachtung fand er noch erstaunlichere Beispiele für diese Liebe zum Leben.

Vieles freilich von seiner gesamten Umgebung im Gefängnisleben bemerkte er nicht, und er wollte es eben auch gar nicht bemerken; er lebte gleichsam, ohne aufzublicken; es war ihm widerwärtig und unerträglich, um sich zu schauen. Aber schließlich fiel ihm trotzdem manches auf, und er bemerkte nun unwillkürlich dies und jenes, was er früher nicht einmal geahnt hatte. Am meisten erstaunt war er über die gewaltige, unüberschreitbare Kluft, die zwischen ihm und all diesen Menschen lag. Es war geradezu, als ob er und sie verschiedenen Nationen angehörten. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig. Er kannte und verstand die Ursachen dieser wechselseitigen Abneigung sehr wohl, hätte aber früher nie geglaubt, daß sie tatsächlich so tief wurzelten und so kräftig wären. Im Gefängnisse befanden sich auch einige verbannte Polen, politische Sträflinge; diese blickten auf die Leute geringeren Standes sehr von oben herab und verachteten sie als ungebildeten Pöbel. Raskolnikow jedoch konnte diese Anschauung nicht teilen; er sah deutlich, daß diese Ungebildeten in vielen Stücken weit verständiger waren als die besagten Polen. Es waren auch Russen da, die gleichfalls dieses gemeine Volk tief verachteten: ein ehemaliger Offizier und zwei Zöglinge geistlicher Seminare. Auch deren Irrtum erkannte Raskolnikow mit voller Deutlichkeit.

Ihn selbst aber konnten alle nicht leiden, und alle mieden ihn. Diese Abneigung steigerte sich schließlich zu wirklichem Hasse. Warum? Das wußte er nicht. Sie verachteten ihn und machten sich über ihn lustig; es machten sich über sein Verbrechen Leute lustig, die weit schlimmere Verbrecher waren als er.

»Du bist ein Herr!« sagten sie zu ihm. »Paßte sich das für dich, mit einem Beil auf die Menschen loszugehen? Das ist nichts für einen Herrn!«

In der zweiten Woche der großen Fasten war er mit seiner Baracke an der Reihe, mehrmals die Kirche zu besuchen als Vorbereitung zum Abendmahle. Er ging mit den anderen zusammen in die Kirche und betete mit ihnen. Dabei kam es einmal zu Streit; er wußte selbst nicht, warum. Alle stürzten mit einem Male ergrimmt auf ihn los.

»Du bist ein Gottesleugner! Du glaubst nicht an Gott!« schrien sie ihm zu. »Totschlagen müßte man dich!«

Niemals hatte er mit ihnen über Gott und über Glaubenssachen gesprochen, und doch wollten sie ihn als einen Gottesleugner totschlagen; er schwieg und widersprach ihnen nicht. Einer von den Sträflingen wollte schon in heller Wut über ihn herfallen; Raskolnikow erwartete ihn ruhig und schweigend, ohne mit der Wimper zu zucken oder eine Miene zu verziehen. Der Wachsoldat konnte gerade noch rechtzeitig zwischen ihn und den mordlustigen Angreifer treten, sonst wäre es zu Blutvergießen gekommen.

Noch eine Frage war da, auf die er keine Antwort finden konnte: Warum hatten sie alle Sonja so lieb? Sie hatte sich niemals um die Gunst der Sträflinge bemüht; diese bekamen Sonja überhaupt nur selten zu sehen, nur ab und zu an den Arbeitsstätten, wenn sie auf einen kurzen Augenblick kam, um ihn zu besuchen. Aber trotzdem war sie bald allen bekannt, alle wußten auch, daß sie ihm gefolgt sei, wußten, wie sie lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht; auch erwies sie ihnen keine besonderen Dienste. Nur einmal, zu Weihnachten, brachte sie für das ganze Gefängnis eine Gabe mit: Pirog und anderes Gebäck. Aber ganz allmählich bildeten sich zwischen ihnen und Sonja mancherlei nähere Beziehungen: sie schrieb für sie Briefe an ihre Angehörigen und gab sie auf die Post. Angehörige, die nach der Stadt gereist kamen, übergaben Sachen, die sie für die Sträflinge bestimmt hatten, und sogar Geld auf deren Wunsch an Sonja zur Weiterbeförderung. Die Frauen und Geliebten der Sträflinge kannten und besuchten sie. Und sobald sie, um Raskolnikow zu besuchen, zu einem Arbeitsplatze kam oder einem Trupp Sträflinge begegnete, der zur Arbeit ging, so nahmen sie alle die Mützen ab und begrüßten sie. »Mütterchen Sofja Semjonowna, du unsere Mutter, du liebe, mitleidende!« sagten diese rohen, gebrandmarkten Sträflinge zu dem kleinen, mageren Wesen. Sie lächelte und erwiderte den Gruß freundlich, und alle freuten sich, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten sogar ihren Gang, wendeten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, was sie alles an ihr loben sollten. Sogar medizinische Ratschläge ließen sie sich von ihr geben.

zuammengerufen; wer jedoch eigentlich zusammenrief und warum, das wußte niemand; aber alle waren in großer Aufregung. Die gewöhnlichen Handwerke wurden nicht mehr betrieben; denn jeder trug seine Ideen, seine Reformvorschläge vor, aber es kam zu keiner Einigung; die Bodenbestellung hörte auf. Hier und da sammelten sich die Menschen zu einzelnen Haufen; sie einigten sich über dies und das, schwuren, einander nicht zu verlassen; aber gleich darauf begannen sie etwas ganz anderes zu tun als das, was sie soeben selbst angeregt hatten, beschuldigten sich gegenseitig, prügelten und mordeten sich. Feuersbrünste wüteten; es brach Hungersnot aus. Alle Menschen, alle Habe ging zugrunde. Die Seuche wuchs und verbreitete sich immer weiter. Es entgingen dem Verderben in der ganzen Welt nur sehr wenige Menschen; dies waren die Reinen und Auserwählten, die dazu bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu begründen und die Erde zu erneuern und zu reinigen; aber diese Menschen hatte niemand erkannt, niemand hatte ihre Worte und ihre Stimme beachtet.

Es war für Raskolnikow eine Qual, daß dieser sinnlose Traum so fest in seinem Gedächtnis haftete und daß der Eindruck dieser Fieberphantasien so lange nicht schwinden wollte. Schon war die zweite Woche nach Ostern herangekommen; es waren warme, heitere Frühlingstage; im Gefangenensaale des Krankenhauses waren die Fenster geöffnet (sie waren vergittert und davor ging eine Schildwache auf und ab). Sonja hatte ihn während seiner ganzen Krankheit nur zweimal im Krankenhause besuchen können. Es war dazu jedesmal erst die Einholung einer besonderen Erlaubnis erforderlich, und das machte Schwierigkeiten. Aber sie war oft auf den Hof des Krankenhauses gekommen, vor die Fenster, namentlich um die Abendzeit, manchmal nur, um einen Augenblick auf dem Hofe zu stehen und wenigstens von weitem nach den Fenstern des Saales, wo er lag, zu blicken. Eines Tages gegen Abend hatte Raskolnikow, der nun schon fast ganz wiederhergestellt war, ein wenig geschlummert; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster und erblickte plötzlich in einiger Entfernung am Tore des Krankenhauses Sonja. Sie stand da, wie wenn sie auf etwas wartete. In diesem Augenblicke hatte er eine Empfindung, als ob ihm jemand das Herz mit einem Schwerte durchbohre; er fuhr zusammen und trat schnell vom Fenster zurück. Am nächsten Tage kam Sonja nicht, auch nicht an dem dann folgenden; er wurde sich bewußt, daß er mit Unruhe auf sie wartete. Endlich wurde er als genesen aus dem Krankenhause entlassen. Als er in das Gefängnis kam, erfuhr er von den Sträflingen, daß Sofja Semjonowna krank geworden sei, zu Hause das Bett hüten müsse und nicht ausgehen könne.

Er beunruhigte sich darüber sehr und schickte hin, um zu erfahren, wie es ihr gehe. Bald erhielt er Nachricht, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Sonja ihrerseits hörte, daß er sich so nach ihr sehne und sich um sie so viel Sorge mache, schickte sie ihm einen mit Bleistift geschriebenen Zettel und teilte ihm mit, es gehe ihr schon viel besser; sie habe nur eine leichte Erkältung und werde ihn bald, sehr bald an seiner Arbeitsstätte besuchen. Als er diesen Zettel las, schlug ihm das Herz so heftig, daß es ihn schmerzte.

Es war wieder ein heiterer, warmer Tag. Frühmorgens, um sechs Uhr, ging er zu seiner Arbeit an das Ufer des Flusses, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Gipsbrennen eingerichtet war und der Gips auch gestampft wurde. Es hatten sich nur drei Arbeiter dorthin zu begeben. Einer von ihnen war mit dem Wachsoldaten noch einmal nach der Festung zurückgegangen, um ein Werkzeug zu holen; der andere machte Holz zurecht und legte es in den Ofen. Raskolnikow ging aus dem Schuppen hinaus bis dicht ans Ufer, setzte sich auf die dort aufgestapelten Baumstämme und blickte über den breiten, öden Fluß hin. Von dem hohen Ufer aus übersah man weithin die Gegend. Kaum vernehmbar klang von dem fernen jenseitigen Ufer ein Lied herüber. Dort in der unabsehbaren, vom Sonnenlicht überfluteten Steppe hoben sich als kaum wahrnehmbare schwarze Pünktchen die Zelte von Nomaden ab. Dort war das Land der Freiheit; dort wohnten andere Menschen, ganz unähnlich denen auf dem diesseitigen Ufer; dort war gleichsam die Zeit selbst stehengeblieben, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und sah in die Ferne, ohne sich zu rühren und ohne sich von dem Anblicke losreißen zu können. Sein Denken wurde zum Träumen, zum bloßen Schauen; er dachte an nichts mehr; aber eine Art von Sehnsucht beunruhigte und quälte ihn.

Auf einmal stand Sonja neben ihm. Sie war fast unhörbar herangekommen und setzte sich nun zu ihm hin. Es war noch sehr früh am Tage; die Morgenkälte war noch nicht milder geworden. Sie trug ihre alte, ärmliche Pelerine und das grüne Tuch. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren der überstandenen Krankheit; es war recht mager, blaß und kümmerlich geworden. Sie lächelte ihm mit freundlicher, froher Miene zu; aber die Hand streckte sie ihm wie gewöhnlich nur schüchtern hin.

Dies tat sie immer nur schüchtern und mitunter gar nicht, als fürchte sie eine Zurückweisung. Denn er nahm ihre Hand immer wie mit innerem Widerstreben, zeigte sich bei solchen Begegnungen stets verdrossen und schwieg manchmal hartnäckig während der ganzen Zeit, die Sonja bei ihm war. Es kam vor, daß sie vor ihm geradezu zitterte und tiefbetrübt fortging. Jetzt aber trennten sich die Hände beider nicht; er warf ihr einen schnellen, hastigen Blick zu, sprach kein Wort und richtete seine Augen auf die Erde. Sie waren allein; niemand sah sie. Der inzwischen zurückgekehrte Wachsoldat hatte sich gerade umgewandt.

Wie es zuging, wußte er selbst nicht; aber plötzlich war es ihm, als ob ihn eine unwiderstehliche Kraft packte und zu ihren Füßen niederwürfe. Er weinte und umschlang ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie heftig, und ihr ganzes Gesicht wurde totenblaß. Sie sprang auf und sah ihn zitternd an. Aber sofort, im gleichen Augenblicke, war ihr alles klar. In ihren Augen leuchtete eine grenzenlose Glückseligkeit auf; sie hatte ihn verstanden, und es gab nun für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebe, sie grenzenlos liebe und daß der langersehnte Augenblick endlich gekommen sei.

Sie wollten sprechen, aber sie konnten es nicht. Die Tränen standen ihnen beiden in den Augen. Beide waren sie blaß und mager; aber auf diesen blassen, kranken Gesichtern strahlte schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, einer völligen Wiedergeburt zu neuem Leben. Die Liebe war es, die diese Wiedergeburt bewirkt hatte; dem Herzen des einen entsprudelten unerschöpfliche Quellen des Lebens für das Herz des anderen.

Sie beschlossen, zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch vor sich und innerhalb dieser Zeit wieviel bittere Qual und wieviel unendliches Glück! Aber er war wiedergeboren, und er wußte das, fühlte es im tiefsten Innern seines erneuerten Wesens, und sie, sie lebte ja nur sein eigenes Leben mit!

Am Abend ebendieses Tages, als die Baracken bereits geschlossen waren, lag Raskolnikow auf der Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage hatte er sogar die Empfindung, als ob alle Sträflinge, seine bisherigen Feinde, ihn nunmehr anders ansähen. Er knüpfte selbst mit ihnen ein Gespräch an, und sie antworteten ihm freundlich. Diese Wandlung fiel ihm auf; aber es mußte ja wohl so sein; mußte sich jetzt nicht alles, alles ändern?

Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie beständig gepeinigt und ihr das Herz zerrissen hatte; er erinnerte sich ihres blassen, mageren Gesichtchens; aber diese Erinnerungen hatten jetzt für ihn fast nichts Quälendes: er wußte, mit wie grenzenloser Liebe er ihr jetzt alle ihre Leiden vergelten werde.

Und was wollten auch alle, alle diese Qualen der Vergangenheit besagen! Alles, selbst sein Verbrechen, selbst die Verurteilung und die Verschickung zur Zwangsarbeit erschien ihm jetzt in der ersten Glut der Empfindung nur wie ein äußerliches, seltsames Ereignis, ja wie etwas, was gar nicht ihm selbst zugestoßen sei. Indessen war er an diesem Abende nicht imstande, lange und dauernd an etwas zu denken und seine Gedanken auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren; auch hätte er jetzt keine Denkaufgabe lösen können; er konnte nur fühlen. An die Stelle des theoretischen Denkens war das wirkliche Leben getreten, und ganz neue Triebe begannen sich in seiner Seele zu regen.

Unter seinem Kopfkissen lag ein Neues Testament. Mechanisch griff er danach. Dieses Buch gehörte ihr; es war das nämliche, aus dem sie ihm über die Auferweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seines Sträflingslebens hatte er gedacht, sie würde ihn beständig mit der Religion quälen, immer vom Evangelium zu reden anfangen und ihm Bücher aufdrängen. Aber zu seinem größten Erstaunen hatte sie auch nicht ein einziges Mal davon gesprochen und ihm auch niemals das Neue Testament angeboten. Er selbst hatte kurz vor seiner Krankheit sie um dieses Buch gebeten, und sie hatte es ihm gebracht und schweigend gegeben. Bisher hatte er es überhaupt noch nicht aufgeschlagen.

Auch jetzt schlug er es nicht auf; aber es kam ihm plötzlich der Gedanke: »Müssen ihre Überzeugungen jetzt nicht auch die meinigen sein? Wenigstens ihre Empfindungen, ihre Bestrebungen …«

Auch sie befand sich diesen ganzen Tag über in großer Aufregung; in der Nacht wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, und sie war es so wider alles Erwarten geworden, daß sie über ihr Glück ganz erschrocken war. Sieben Jahre noch, nur noch sieben Jahre! In der ersten Zeit ihres Glückes dachten sie beide in manchen Augenblicken an diese sieben Jahre nur so, als ob es sieben Tage wären. Er überlegte nicht einmal, daß das neue Leben ihm doch nicht ganz umsonst zuteil werde, daß er vielmehr einen hohen Preis dafür entrichten, es mit einer großen zukünftigen Tat werde bezahlen müssen …

Aber hier beginnt bereits eine neue Geschichte, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Sinneswandlung, des allmählichen Überganges aus einer Welt in eine andere, des Bekanntwerdens mit einer neuen, ihm bis dahin völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung liefern; aber unsere jetzige Erzählung ist zu Ende.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 35

IV

»Sie wissen vielleicht (übrigens habe ich es Ihnen selbst erzählt)«, begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer riesigen Summe im Schuldgefängnis saß, ohne die geringste Aussicht, daß ich jemals die Mittel zur Bezahlung besitzen würde. Es hat keinen Zweck, im einzelnen darzulegen, auf welche Weise mich Marfa Petrowna damals loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Tollheit sich ein Weib manchmal verlieben kann? Sie war eine ehrenhafte, recht kluge, obgleich völlig ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese sehr eifersüchtige, ehrenhafte Frau nach und sich bei allen fortwährend über mich zu beklagen; wie hätte sie das einer solchen neuen, schönen Freundin gegenüber unterlassen können? Ich kann mir denken, daß zwischen den beiden überhaupt von nichts anderem gesprochen wurde als von mir, und zweifellos wurde Awdotja Romanowna mit all den düsteren, geheimnisvollen Märchen bekannt gemacht, die über mich in Umlauf waren … Ich möchte wetten, daß Ihnen auch schon etwas davon zu Ohren gekommen ist?«

»Jawohl, Lushin beschuldigte Sie, Sie hätten sogar den Tod eines kleinen Mädchens verschuldet. Ist das wahr?«

»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit all diesen Abgeschmacktheiten in Ruhe«, erwiderte Swidrigailow ärgerlich und mürrisch. »Wenn Sie so großes Verlangen tragen, über all diesen Unsinn die Wahrheit zu hören, so will ich es Ihnen ein andermal erzählen; aber jetzt …«

»Es wurde auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten, gesprochen; angeblich hätten Sie auch da eine Schuld auf sich geladen.«

»Tun Sie mir den Gefallen und hören Sie damit auf!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtlicher Ungeduld.

»War das nicht eben der Diener, der nach seinem Tode zu Ihnen ins Zimmer kam, um Ihnen die Pfeife zu stopfen? Sie haben mir ja selbst davon erzählt!« fragte Raskolnikow; sein Ton klang immer gereizter.

Swidrigailow blickte Raskolnikow forschend an, und dem letzteren schien es, als ob in diesem Blicke momentan, blitzartig ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich:

»Ja, es war derselbe. Ich sehe, daß dies alles auch Sie außerordentlich interessiert, und halte es für meine Pflicht, bei der ersten passenden Gelegenheit Ihre Wißbegierde zu befriedigen. Hol’s der Teufel! Ich sehe, daß ich wirklich manchem als eine romantische Persönlichkeit erscheinen doch? Ich merke, daß Sie mir jetzt mit großer Aufmerksamkeit zuhören, … Sie interessanter junger Mann! …«

Swidrigailow schlug ingrimmig mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht hatte sich stark gerötet. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine Glas oder die anderthalb Gläser Champagner, die er so sachte in kleinen Schlückchen geschlürft hatte, auf ihn schon berauschend gewirkt hatten, und beschloß, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig.

»Nach allem, was ich da eben von Ihnen gehört habe, bin ich der festen Überzeugung, daß Sie auch bei der Reise hierher es auf meine Schwester abgesehen haben«, sagte er offen und unverhohlen zu Swidrigailow, um ihn noch mehr zu reizen.

»Ach, reden Sie doch nicht so etwas!« erwiderte Swidrigailow, der plötzlich die Herrschaft über sich zurückzugewinnen schien. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, … und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.«

»Ja, das ist auch meine Überzeugung, daß sie Sie nicht leiden kann. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

»Also davon sind Sie überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« Swidrigailow zwinkerte mit den Augen und lächelte spöttisch. »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Gewähr für die Bewertung von Vorgängen, die zwischen Mann und Frau oder zwischen einem Liebhaber und der Geliebten stattgefunden haben. Da ist immer so ein Winkelchen, das der ganzen Welt verborgen bleibt und nur den beiden bekannt ist. Können Sie garantieren, daß Awdotja Romanowna bei meinem Anblicke einen wirklichen Widerwillen empfunden hat?«

»Aus manchen Worten und Andeutungen in Ihrer Erzählung entnehme ich, daß Sie auch jetzt noch Ihre Absichten bezüglich meiner Schwester eifrig verfolgen, und selbstverständlich sind es ganz gemeine Absichten.«

»Wie? Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« fragte Swidrigailow höchst naiv, ohne das Beiwort, das seinen Absichten beigelegt war, im geringsten zu beachten.

»Auch jetzt in diesem Augenblicke verraten Sie sich. Warum sind Sie denn zum Beispiel so ängstlich? Warum erschraken Sie jetzt eben auf einmal?«

»Ich bin ängstlich und erschrecke? Vor Ihnen erschrecke ich? Eher hätten Sie Anlaß, vor mir Angst zu haben, cher ami. Aber was rede ich nur für dummes Zeug zusammen … Ich sehe, ich bin betrunken; beinahe hätte ich wieder zuviel gesagt. Hol der Teufel den Wein! Heda, Wasser!«

Er ergriff die Flasche und schleuderte sie ohne Umstände zum Fenster hinaus. Filipp brachte Wasser.

»Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, während er ein Handtuch anfeuchtete und es sich gegen den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte widerlegen und Ihren ganzen Verdacht als nichtig erweisen. Wissen Sie, daß ich mich wieder verheirate?«

»Sie haben es mir schon früher gesagt.«

»So? Nun, ich hab’s vergessen. Aber damals konnte ich es noch nicht mit voller Sicherheit sagen; denn ich hatte die Braut noch nicht einmal gesehen. Damals war es erst ein Plan. Na, aber jetzt habe ich bereits eine Braut, und die Sache ist abgemacht; und wenn ich jetzt nicht unaufschiebbare Geschäfte hätte, so würde ich Sie jedenfalls sofort zu den Leuten hinführen – denn ich möchte Sie dabei um Ihren Rat bitten. Ach, Donnerwetter! Ich habe ja nur noch zehn Minuten Zeit. Hier ist meine Uhr; sehen Sie selbst. Aber ich will es Ihnen doch noch erzählen; denn es ist ein hübscher kleiner Spaß, meine Heirat meine ich, so in ihrer Art, … aber wo wollen Sie denn hin? Wieder weg?«

»Nein, jetzt habe ich nicht mehr die Absicht, von Ihnen wegzugehen.«

»Überhaupt nicht? Na, wir wollen sehen! Ich werde Sie hinführen, ganz bestimmt, und Ihnen meine Braut zeigen; nur nicht jetzt gleich. Jetzt müssen wir bald gehen, Sie nach Gesicht, das Gesicht einer leidenden Schwärmerin; ist Ihnen das niemals aufgefallen? Na also, an die erinnert sie. Gleich am anderen Tage nach unserer Verlobung brachte ich ihr für anderthalbtausend Rubel Geschenke mit: einen Brillantschmuck, einen aus Perlen, einen silbernen Toilettenkasten – so groß! – mit allerlei Inhalt; das Gesichtchen der kleinen Madonna färbte sich ganz rosig. Ich setzte sie gestern auf meinen Schoß, aber wahrscheinlich doch gar zu ungeniert; denn sie wurde blutrot, und die Tränchen perlten ihr hervor. Aber sie wollte es nicht zeigen; sie glühte über das ganze Gesicht. Die andern waren alle für ein Weilchen aus dem Zimmer hinausgegangen, und ich war mit ihr ganz allein geblieben; da fiel sie mir auf einmal um den Hals (zum ersten Male ganz von selbst), umschlang mich mit ihren beiden Ärmchen, küßte mich und schwur, sie werde mir eine gehorsame, treue, gute Frau sein; sie wolle mich glücklich machen; dazu werde sie ihr ganzes Leben, jede Minute ihres Lebens verwenden; alles, alles wolle sie dafür zum Opfer bringen, und für all das wünsche sie nur meine Achtung zu besitzen; ›weiter‹, sagte sie, ›brauche ich nichts, nichts, gar nichts, keine Geschenke!‹ Das müssen Sie doch selbst sagen: ein solches Geständnis unter vier Augen anzuhören von einem sechzehnjährigen Engelchen im Tüllkleidchen, mit krausen Löckchen, mit der Röte mädchenhafter Verschämtheit auf dem Gesichte und mit Tränen holder Schwärmerei in den Augen – das müssen Sie doch selbst sagen, das hat einen großen Reiz! Nicht wahr, einen großen Reiz! Das ist doch schließlich etwas Wertvolles, nicht? Nicht wahr? Na, … na, hören Sie, … wir wollen einmal zu meiner Braut hinfahren, … nur nicht jetzt gleich!«

»Kurz gesagt, gerade dieser ungeheuerliche Abstand in den Jahren und in der geistigen Entwicklung erregt Ihre Sinnlichkeit! Haben Sie denn wirklich vor, das Mädchen zu heiraten?«

»Aber warum denn nicht? Ganz bestimmt! Jeder sorgt für sich, und am lustigsten lebt derjenige, der sich selbst am besten zu betrügen versteht. Ha-ha! Aber Sie sind ja wohl so ein ganz besonderer Tugendbold? Haben Sie Nachsicht mit mir, Väterchen! Ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!«

»Sie haben aber doch für Katerina Iwanownas Kinder gesorgt. Indessen, Sie werden wohl auch dafür Ihre Gründe gehabt haben; … ich verstehe jetzt alles.«

»Kinder habe ich überhaupt lieb; ich mag Kinder sehr gern«, erwiderte Swidrigailow lachend. »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein höchst interessantes kleines Erlebnis mitteilen, das auch jetzt noch nicht seinen Abschluß gefunden hat. Am ersten Tage nach meiner Ankunft besuchte ich verschiedene Sumpflokale; na, nach sieben Jahren Entbehrung stürzte ich mich mit Wonne da hinein. Sie haben wohl schon gemerkt, daß ich es nicht eilig habe, mit meiner früheren Sippschaft, meinen ehemaligen Freunden und Bekannten wieder in Verkehr zu treten. Na, ich will suchen, möglichst lange ohne sie auszukommen. Wissen Sie, als ich bei Marfa Petrowna auf dem Lande wohnte, bin ich oft ganz krank geworden vor sehnsüchtiger Erinnerung an all diese geheimnisvollen Lokale und Lokälchen, wo jemand, der darin Routine hat, gar manches zu finden vermag. Ein tolles Leben hier in Petersburg; das niedere Volk säuft; die gebildete Jugend überläßt sich einem untätigen Müßiggange, verpufft ihre Kraft in unerfüllbaren Träumereien und Schwärmereien und verkrüppelt geistig durch das ewige Theoretisieren; die Juden, die hier von überallher zusammenströmen, scharren heimlich Geld zusammen, und alles übrige sumpft. Gleich bei meiner Ankunft war es mir, als ob mir der wohlbekannte Geruch dieser Stadt entgegenschlüge. Ich besuchte zufällig eine sogenannte Tanzsoiree – es war ein schauderhaftes Sumpflokal (aber solche Lokale sind mir je unsauberer, um so lieber); na, natürlich wurde ein Cancan getanzt, wie man ihn sich nicht ärger denken kann und wie er zu meiner Zeit überhaupt noch gar nicht existierte. Ja, darin kann man wirklich einen großen Fortschritt konstatieren. Da sah ich auf einmal, wie ein etwa nahmen sie mit tausend Freuden an; sie halten es für eine Ehre, und ich verkehre noch immer bei ihnen … Wenn Sie wollen, können wir einmal hinfahren, nur nicht jetzt gleich.«

»Hören Sie auf mit Ihren gemeinen, schändlichen Geschichten, Sie liederlicher, schändlicher, sinnlicher Mensch!«

»Sie sind ein Schiller, ein russischer Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie was? Ich werde Ihnen absichtlich noch mehr solche Geschichten erzählen, bloß um Ihre Äußerungen der Entrüstung zu hören. Das ist mir ein wahrer Genuß!«

»Zweifellos! Ich komme mir ja selbst in diesem Augenblicke lächerlich vor«, murmelte Raskolnikow ärgerlich.

Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Filipp, zahlte und stand auf.

»Na, ich bin ja ziemlich betrunken! Assez causé!« sagte er. »Es ist mir ein wahrer Genuß gewesen!«

»Sehr begreiflich, daß es für Sie ein Genuß war!« rief Raskolnikow und erhob sich gleichfalls. »Wie sollte es denn auch für einen alten Wüstling nicht ein Genuß sein, von solchen Erlebnissen zu erzählen, während er sich dabei schon wieder mit einem andern unnatürlichen Vorhaben derselben Art beschäftigt, und noch dazu unter diesen Umständen und einem Menschen, wie ich, gegenüber. Das kitzelt!«

»Na, wenn dem so ist«, erwiderte Swidrigailow einigermaßen erstaunt und sah Raskolnikow forschend an, »wenn dem so ist, so sind Sie selbst ein arger Frechling. Wenigstens haben Sie im höchsten Grade das Zeug dazu. Sie sind ein starker Theoretiker, ein sehr starker, … na, und auch zum praktischen Handeln sind Sie ja sehr wohl befähigt. Aber nun genug davon. Ich bedaure aufrichtig, daß ich mich nur so kurze Zeit habe mit Ihnen unterhalten können; aber Sie laufen mir ja nicht davon … Warten Sie nur! …«

Swidrigailow verließ das Restaurant, und Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war nicht erheblich betrunken; der Champagner war ihm nur für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, und der Rausch verflog mit jeder Minute mehr. Ein offenbar sehr wichtiges Vorhaben beschäftigte ihn stark, und er machte ein sehr ernstes Gesicht. Irgendeine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und versetzte ihn in Unruhe. Raskolnikow gegenüber hatte er in den letzten Minuten auf einmal sein Benehmen geändert und war von Minute zu Minute gröber und spöttischer geworden. Raskolnikow hatte das alles recht wohl bemerkt und war nun gleichfalls in unruhiger Erregung. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig; er beschloß, ihm nachzugehen.

Sie traten auf das Trottoir.

»Sie gehen also nach rechts und ich nach links, oder meinetwegen auch umgekehrt. Jedenfalls adieu, bon plaisir, auf fröhliches Wiedersehen!«

Damit ging er nach rechts, in der Richtung auf den Heumarkt zu.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 36

V

Raskolnikow ging hinter ihm her.

»Was soll denn das bedeuten?« rief Swidrigailow, sich umwendend. »Ich habe Ihnen doch wohl gesagt …«

»Das bedeutet, daß ich jetzt bei Ihnen bleiben werde.«

»Wa-as?«

Beide blieben stehen und blickten einander etwa eine Minute lang an, als ob einer den andern messen wollte.

»Aus allem, was Sie in Ihrer halben Betrunkenheit gesagt haben«, begann Raskolnikow schroff, »schließe ich mit Bestimmtheit, daß Sie Ihre nichtswürdigen Anschläge gegen meine Schwester nicht nur nicht aufgegeben haben, sondern sich sogar mehr denn je damit beschäftigen. Ich weiß, daß meine Schwester heute früh einen Brief erhalten hat. Auch Ihr unruhiges Wesen jetzt während unseres ganzen Zusammenseins ist mir verdächtig. Sehr möglich allerdings, daß es sich bei Ihnen um irgendeine andere Frauensperson handelt, die Sie irgendwo en passant gefunden haben; aber diese Möglichkeit ist für mich belanglos. Ich wünsche mir persönlich Gewißheit zu verschaffen …«

Raskolnikow wäre wohl selbst kaum imstande gewesen, genauer anzugeben, was er eigentlich vorhatte und wovon er sich persönlich Gewißheit zu verschaffen wünschte.

»Nun sehen Sie mal! Wenn Sie es wünschen, werde ich gleich die Polizei rufen.«

»Tun Sie das!«

Wieder standen sie einander eine Minute lang gegenüber. Schließlich veränderte Swidrigailows Gesicht seinen Ausdruck. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikow sich vor dieser Drohung nicht fürchtete, nahm er auf einmal eine sehr heitere, freundschaftliche Miene an.

»Was sind Sie für ein eigentümlicher Mensch! Ich habe absichtlich mit Ihnen noch nicht über Ihre eigene Angelegenheit gesprochen, obwohl mich natürlich die Neugier plagt. Das ist ja eine ganz romanhafte Geschichte. Ich wollte es eigentlich auf eine andere Gelegenheit verschieben; aber Sie bekommen es ja wahrhaftig fertig, sogar einen Toten in Harnisch zu bringen … Na, dann kommen Sie mit; aber ich sage Ihnen im voraus: ich gehe jetzt nur für einen Augenblick zu mir nach Hause, um mir Geld einzustecken; dann schließe ich die Wohnung zu, nehme mir eine Droschke und fahre für den ganzen Abend nach den ›Inseln‹. Also, was haben Sie davon, mich zu begleiten?«

»Zunächst will ich nach Ihrer Wohnung mitgehen, aber nicht zu Ihnen, sondern zu Sofja Semjonowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht an der Beerdigung ihrer Stiefmutter teilgenommen habe.«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt; aber Sofja Semjonowna ist nicht zu Hause. Sie ist mit den drei Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer vornehmen alten Dame, mit der ich noch von früher her bekannt bin und die zum Patronat mehrerer Waisenhäuser gehört. Ich habe diese Dame ganz bezaubert, indem ich ihr für die drei Kleinen der verstorbenen Katerina Iwanowna eine Summe Geldes brachte; außerdem habe ich auch noch den Waisenanstalten eine Zuwendung gemacht. Schließlich habe ich ihr noch Sofja Semjonownas Geschichte erzählt, mit allen Details, ohne etwas zu verschleiern. Das machte auf sie ganz gewaltigen Eindruck. Darum ist nun auch Sofja Semjonowna heute nach dem …schen Hotel hinbestellt worden, wo meine Bekannte nach der Heimkehr von der Sommerfrische in die Stadt einstweilen wohnt.«

»Schadet nichts; ich komme doch mit.«

»Wie es Ihnen beliebt; nur kann ich mich Ihnen heute nicht länger widmen. Aber mich geht’s ja nichts an, was Sie tun! Da sind wir schon gleich zu Hause. Sagen Sie mal, ich bin überzeugt, Sie sind eben deshalb so mißtrauisch gegen mich, weil ich bisher so zartfühlend war, Sie nicht mit Fragen zu belästigen, … Sie verstehen mich wohl? Das war Ihnen gewiß gar zu auffällig; ich möchte sogar wetten, daß die Sache so zusammenhängt. Na, wenn man das davon hat, da soll einer nun noch zartfühlend sein!«

»Und an der Tür horchen!«

»Aha, damit kommen Sie mir!« erwiderte Swidrigailow lachend. »Ich hätte mich auch wirklich gewundert, wenn Sie unter den vorliegenden Umständen diesen Punkt unerwähnt gelassen hätten. Ha-ha! Ich habe zwar einiges verstanden, was Sie damals dort für Faxen machten und was Sie dem jungen Mädchen selbst erzählten; aber wie war denn das Ganze eigentlich? Ich bin vielleicht ein ganz rückständiger Mensch und kann nichts mehr ordentlich begreifen. Erklären Sie mir die Sache, liebster Freund, ich bitte Sie inständigst! Erleuchten Sie meinen Geist mit den neuesten Ideen!«

»Sie haben gar nichts hören können; was Sie da sagen, ist alles gelogen!«

»Ich rede ja gar nicht von dem faktischen Inhalte des Gehörten (wiewohl ich übrigens wirklich einiges gehört habe), sondern bloß davon, daß Sie immer ächzen und seufzen und stöhnen! Der Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rege. Jetzt verlangen Sie nun sogar, daß man nicht einmal mehr an der Tür horchen soll. Wenn Sie so streng denken, dann gehen Sie doch zur Behörde hin und erklären Sie: ›So und so ist es mir ergangen, ich habe das und das getan; es war mir in der Theorie ein kleiner Irrtum passiert.‹ Wenn Sie aber der Ansicht sind, an der Tür dürfe man nicht horchen, wohl aber dürfe man alte Weiber mit irgendeinem Gegenstande, der einem gerade in die Hände kommt, zu seinem Vergnügen totschlagen, dann fahren Sie schleunigst nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich rate es Ihnen aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld zur Reise? Ich will Ihnen welches geben.«

»Das liegt durchaus nicht in meiner Absicht!« unterbrach ihn Raskolnikow ärgerlich.

»Ich verstehe (übrigens, machen Sie sich keine Unbequemlichkeiten: Sie haben ja nicht nötig, viel zu reden, wenn Sie nicht mögen); ich kann mir auch denken, mit was für Fragen Sie sich jetzt beschäftigen: doch wohl mit moralischen, nicht wahr? Mit Fragen über Rechte und Pflichten in der bürgerlichen und menschlichen Gesellschaft? Lassen Sie doch dergleichen Überlegungen jetzt beiseite; warum wollen Sie sich damit jetzt noch abgeben? He-he! Etwa, weil Sie immer noch Bürger und Mensch geblieben sind? Aber wenn das der Fall ist, hätten Sie sich nicht mit solchen Geschichten befassen sollen; von Sachen, über die man nicht Bescheid weiß, muß man die Finger lassen. Na, schießen Sie sich doch tot; wie wär’s? Oder haben Sie keine Lust?«

»Es scheint, Sie wollen mich absichtlich reizen, nur damit ich Sie jetzt verlasse …«

»Sie sind ein wunderlicher Kauz; aber da sind wir ja schon an Ort und Stelle; bitte schön, steigen Sie die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Sofja Semjonownas Wohnung; sehen Sie, es ist niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen Sie doch bei Kapernaumows; da pflegt sie den Schlüssel abzugeben. Da ist ja auch madame de Kapernaumow selbst; da können wir ja gleich fragen. Was? (Sie spricht etwas undeutlich.) Ausgegangen ist sie? Wohin? Nun, haben Sie es jetzt gehört? Sie ist nicht zu Hause und kommt vielleicht erst spät am Abend zurück. Na, dann kommen Sie jetzt zu mir mit herein. Sie wollten ja doch auch zu mir kommen, nicht wahr? Na, sehen Sie, da sind wir in meiner Wohnung. Frau Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Frau ist fortwährend in geschäftlicher Tätigkeit; aber sie ist eine gute Frau, dessen kann ich Sie versichern … Vielleicht könnte sie Ihnen nützlich sein, wenn Sie ein bißchen vernünftiger sein wollten. Na, sehen Sie, bitte: ich nehme aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier (sehen Sie mal, wieviel ich noch von derselben Sorte habe), und dieses wandert noch heute zum Bankier. Na, haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird zugeschlossen, die Wohnung wird zugeschlossen, und nun sind wir wieder auf der Treppe. Na, wenn’s Ihnen recht ist, nehmen wir uns eine Droschke. Ich will ja nach den ›Inseln‹. Haben Sie nicht Lust, eine kleine Spazierfahrt zu machen? Hier, ich nehme diese Droschke nach der Jelagin-Insel. Wie? Sie wollen nicht? Also bleiben Sie Ihrer Absicht doch nicht treu? Lassen Sie uns doch fahren; warum denn nicht? Es scheint allerdings, als ob ein Regen kommt; aber das schadet nichts; wir ordnen an, daß das Verdeck in die Höhe geschlagen wird …«

Swidrigailow saß bereits im Wagen. Raskolnikow kam zu der Ansicht, daß sein Verdacht, wenigstens für den Augenblick, unbegründet sei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er sich um und ging wieder zurück nach dem Heumarkte zu. Hätte er sich auch nur ein einziges Mal umgewendet, so würde er noch gesehen haben, wie Swidrigailow, nachdem er nicht mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutscher ablohnte und auf das Trottoir trat. Gleich darauf bog Raskolnikow um eine Ecke, so daß er nun auch gar nicht mehr die Möglichkeit hatte, den andern zu beobachten. Ein Gefühl tiefen Ekels trieb ihn dazu, sich von Swidrigailow zu entfernen. ›Wie konnte ich auch nur einen Augenblick lang von diesem rohen Bösewicht, von diesem gemeinen Wüstling und Schurken etwas erwarten!‹ rief er unwillkürlich in Gedanken aus. Freilich war dieses sein Urteil zu eilig und leichtfertig. Es war in Swidrigailows ganzem Wesen etwas, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, man könnte fast sagen, etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, so blieb Raskolnikow doch mit Bestimmtheit bei seiner Überzeugung, daß Swidrigailow nicht gesonnen war, sie in Ruhe zu lassen. Es wurde ihm aber jetzt gar zu schwer, ja geradezu unerträglich, an all dies zu denken und es immer wieder zu überlegen!

Seiner Gewohnheit gemäß war er, sobald er allein geblieben war, schon nach zwanzig Schritten tief in Gedanken versunken. Als er auf die Brücke trat, blieb er am Geländer stehen und blickte auf das Wasser hinab. Unterdessen stand Awdotja Romanowna in einiger Entfernung hinter ihm.

Er war ihr am Anfang der Brücke begegnet, war aber an ihr vorbeigegangen, ohne sie zu beachten. Dunja hatte ihn noch nie in diesem Zustande auf der Straße gesehen und war überrascht und erschrocken. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen sollte oder nicht. Auf einmal bemerkte sie den aus der Richtung des Heumarktes her eilig herankommenden Swidrigailow.

Aber dieser schien sich bei seiner Annäherung großer Vorsicht und Heimlichkeit zu befleißigen. Er betrat die Brücke nicht, sondern blieb seitwärts auf dem Trottoir stehen und gab sich die größte Mühe, von Raskolnikow nicht gesehen zu werden. Dunja hatte er schon längst bemerkt und machte ihr Zeichen. Wie es ihr schien, bat er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen, sondern in Ruhe zu lassen, und forderte sie auf, zu ihm hinzukommen.

Dunja tat dies. Sachte ging sie um ihren Bruder herum und trat zu Swidrigailow.

»Wir wollen recht schnell gehen«, flüsterte ihr dieser zu. »Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft etwas merkt. Ich habe mit ihm nicht weit von hier in einem Restaurant gesessen, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und habe mich nur mit Mühe von ihm wieder losgemacht. Er hat aus einer mir unbekannten Quelle von meinem Briefe an Sie Kenntnis erhalten und argwöhnt daher etwas. Sie haben ihm doch jedenfalls nichts davon gesagt? Aber wenn Sie es nicht getan haben, wer kann es sonst gewesen sein?«

»Da sind wir ja schon um die Ecke«, unterbrach ihn Dunja, »und mein Bruder kann uns nicht mehr sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich nicht weiter mit Ihnen gehe. Sagen Sie mir alles hier; das läßt sich alles auch auf der Straße sagen.«

»Erstens läßt sich das schlechterdings nicht auf der Straße sagen; zweitens müssen Sie auch Sofja Semjonowna anhören; drittens will ich Ihnen gewisse Beweismittel zeigen … Na, und schließlich, wenn Sie nicht einwilligen, mit in meine Wohnung zu kommen, so lehne ich es ab, Ihnen irgendwelche Mitteilungen zu machen, und entferne mich sofort. Dabei bitte ich Sie, nicht zu vergessen, daß das höchst interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders völlig in meinen Händen ist.«

Dunja blieb unentschlossen stehen und schaute Swidrigailow forschend an.

»Wovor fürchten Sie sich denn?« bemerkte er ruhig. »Wir sind hier in einer Stadt und nicht auf dem Lande. Und auf dem Lande haben Sie mir mehr Schaden zugefügt als ich Ihnen; hier aber …«

»Ist Sofja Semjonowna von meinem Kommen benachrichtigt?«

»Nein, ich habe ihr keine Silbe davon gesagt und bin nicht einmal ganz sicher, ob sie auch jetzt zu Hause ist. Aber sie ist wahrscheinlich da. Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt; an einem solchen Tage pflegt man keine Besuche zu machen. Vorläufig will ich noch mit niemand über diese Angelegenheit reden und bereue sogar zum Teil, daß ich Ihnen davon Mitteilung gemacht habe. Die geringste Unvorsichtigkeit kann hierbei die Wirkung einer Denunziation haben. Ich wohne gleich hier, in diesem Hause; Sie sehen, wir sind schon da. Da steht der Hausknecht, der zu unserem Hause gehört; der kennt mich ganz genau; sehen Sie, er grüßt; er sieht, daß ich mit einer Dame komme, und hat sich sicherlich bereits Ihr Gesicht gemerkt; das kann Ihnen aber zustatten kommen, wenn Sie sich nun einmal so sehr fürchten und mir Böses zutrauen. Entschuldigen Sie, daß ich so unzart rede. Ich selbst wohne in einer möblierten Wohnung. Sofja Semjonowna wohnt neben mir Wand an Wand, gleichfalls in einem möblierten Zimmer. Die ganze Etage ist in dieser Weise vermietet. Also haben Sie keinen Anlaß, sich wie ein kleines Kind zu ängstigen. Oder bin ich wirklich ein so furchtbarer Mensch?«

Swidrigailows Gesicht verzog sich zu einem freundlich überlegenen Lächeln; aber in Wirklichkeit war ihm nicht nach Lächeln zumute. Das Herz pochte ihm heftig, und der Atem stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich recht laut, um seine wachsende Aufregung zu verbergen; aber Dunja nahm diese besondere Aufregung gar nicht wahr; seine Bemerkung, daß sie sich wie ein kleines Kind vor ihm ängstige und daß er ihr als ein furchtbarer Mensch erscheine, hatte sie gar zu sehr gereizt.

»Obwohl ich weiß, daß Sie ein … ehrloser Mensch sind, fürchte ich mich dennoch nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran!« sagte sie anscheinend ruhig, aber ihr Gesicht war sehr blaß.

Swidrigailow blieb bei Sonjas Wohnung stehen.

»Erlauben Sie, daß ich nachsehe, ob sie zu Hause ist … Nein. Schade! Aber ich weiß, daß sie wahrscheinlich sehr bald zurückkommen wird. Wenn sie ausgegangen ist, so kann sie nur zu einer mir bekannten Dame gegangen sein, um mit ihr über die Waisen Rücksprache zu nehmen, die nun auch ihre Mutter verloren haben. Ich habe mich auch da der Sache angenommen und Fürsorge getroffen. Sollte Sofja Semjonowna nicht binnen zehn Minuten zurückgekehrt sein, so werde ich sie nachher zu Ihnen nach Ihrer Wohnung schicken; wenn Sie es wünschen, heute noch. Na, und da ist auch meine Wohnung. Da sind meine beiden Zimmer. Nebenan, durch diese Tür verbunden, befindet sich die Wohnung meiner Wirtin, einer Frau Rößlich. Nun sehen Sie hierher, ich will Ihnen meine wichtigsten Beweismittel zeigen: aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür hier nach zwei ganz leeren Stuben, die zu vermieten sind. Hier sind sie, … dies müssen Sie sich mit besonderer Aufmerksamkeit ansehen …«

Swidrigailow bewohnte zwei ziemlich geräumige möblierte Zimmer. Dunja blickte mißtrauisch um sich, bemerkte aber nichts Auffälliges, weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, wiewohl sie allerdings hätte bemerken können, zum Beispiel daß Swidrigailows Wohnung zwischen zwei anderen Wohnungen lag, von denen die eine unbewohnt, die andere so gut wie unbewohnt war. Sie hatte ihren Eingang nicht unmittelbar vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Swidrigailow, nachdem er eine verschlossene Tür aufgeschlossen hatte, dem jungen Mädchen eine gleichfalls leere Wohnung, die zu vermieten war. Dunja wollte auf der Schwelle stehenbleiben, da sie nicht begriff, warum er sie aufforderte, das anzusehen; aber Swidrigailow beeilte sich, ihr dies zu erklären.

»Hier, sehen Sie einmal dorthin, in dieses zweite große Zimmer. Beachten Sie die Tür dort; sie ist verschlossen. Neben der Tür steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Den habe ich aus meiner Wohnung dorthin gebracht, um es beim Zuhören bequemer zu haben. Dort gleich hinter der Tür steht Sofja Semjonownas Tisch; da saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber saß hier auf dem Stuhle und horchte, zwei Abende hintereinander, jedesmal etwa zwei Stunden lang – da konnte ich doch gewiß etwas erfahren, meinen Sie nicht?«

»Sie horchten?«

»Ja, allerdings; aber nun kommen Sie in meine Wohnung; hier ist nicht einmal eine Sitzgelegenheit.«

Er führte Awdotja Romanowna in sein erstes Zimmer zurück, das ihm als Wohnzimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. Er selbst setzte sich an das andere Ende des Tisches, gegen sieben Fuß von ihr entfernt; aber in seinen Augen leuchtete schon eben jenes Feuer, vor dem sie früher einmal so heftig erschrocken war. Sie fuhr zusammen und sah sich noch einmal mißtrauisch um. Sie tat das ganz unwillkürlich; ihr Mißtrauen zu zeigen lag offenbar nicht in ihrer Absicht. Aber die einsame Lage von Swidrigailows Wohnung war ihr nun doch schließlich aufgefallen. Sie wollte ihn schon fragen, ob nicht wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, unterließ es aber … aus Stolz. Außerdem quälte ein anderes, unvergleichlich viel größeres Leid als die Furcht für ihre eigene Person ihr Herz. Sie duldete unerträgliche Qualen.

»Da ist Ihr Brief«, begann sie und legte den Brief auf den Tisch. »Ist denn das, was Sie da schreiben, überhaupt möglich? Sie deuten auf ein Verbrechen hin, das mein Bruder begangen habe. Sie deuten zu bestimmt darauf hin; wagen Sie nicht etwa sich jetzt herauszureden. Schon vor Ihrer Mitteilung habe ich von diesem dummen Gerede gehört; aber ich glaube kein Wort davon. Es ist eine schändliche, lächerliche Verdächtigung; ich weiß, wie und woher sie entstanden ist. Beweise können Sie nicht haben; Sie machten sich anheischig, mir Beweise zu liefern: nun, so reden Sie denn! Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich Ihnen nicht glauben werde. Ich werde Ihnen nicht glauben!«

Dunja sagte das schnell und hastig, und für einen Augenblick stieg ihr das Blut ins Gesicht.

»Wenn Sie es für so ganz ausgeschlossen gehalten hätten, daß Sie es glauben könnten, so hätten Sie es doch gewiß nicht riskiert, allein zu mir zu kommen. Warum sind Sie denn gekommen? Nur aus Neugier?«

»Foltern Sie mich nicht, reden Sie, reden Sie!«

»Das muß man sagen: Sie sind ein tapferes Mädchen. Ich habe wahrhaftig gedacht, Sie würden Herrn Rasumichin bitten, Sie hierher zu begleiten. Aber er war auf der Straße weder bei Ihnen noch in der Nähe; ich habe gut Umschau gehalten. Das ist kühn von Ihnen; Sie wollten offenbar Rodion Romanowitsch schonen. Ja, Sie sind in jeder Hinsicht ein himmlisches Wesen … Was nun Ihren Bruder anlangt, ja, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn ja in diesem Augenblick selbst gesehen. Wie sieht er nur aus!«

»Das ist doch wohl nicht das einzige, worauf sich Ihre Behauptung gründet?«

»Gewiß nicht, vielmehr auf seine eigenen Worte. Zwei Abende nacheinander ist er zu Sofja Semjonowna hierher gekommen. Ich habe Ihnen gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine vollständige Beichte abgelegt. Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin, bei der auch er einige Sachen versetzt hatte, ermordet; desgleichen hat er deren Schwester ermordet, eine Händlerin namens Lisaweta, die unvermutet bei der Mordtat dazukam. Er hat sie beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hat sie ermordet, um sie zu berauben, und er hat auch geraubt; er hat Geld und einige Wertsachen weggenommen … Er selbst hat das alles Wort für Wort Sofja Semjonowna erzählt; sie ist die einzige, die von dem Geheimnisse weiß. Aber sie ist bei dem Morde weder durch Rat noch durch Tat beteiligt gewesen, erschrak vielmehr über die Mitteilung gerade ebenso wie Sie jetzt. Sie können beruhigt sein: sie wird ihn nicht verraten.«

»Es ist nicht möglich!« murmelte Dunja mit leichenblassen Lippen, nach Atem ringend. »Es ist nicht möglich. Er hatte ja dazu nicht den geringsten Grund, gar keinen Anlaß … Es ist eine Lüge, eine Lüge!«

»Er wollte rauben, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Wertsachen genommen. Allerdings hat er, nach seiner eigenen Aussage, weder von dem Gelde noch von den Wertsachen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo unter einen Stein gelegt, wo sie noch liegen. Aber das hat er eben nur deshalb getan, weil er sich nicht getraute, davon Gebrauch zu machen.«

»Aber ist es denn denkbar, daß er imstande gewesen sein sollte, zu stehlen und zu rauben? Daß ihm so etwas auch nur hätte in den Sinn kommen können?« rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. »Sie kennen ihn ja doch, Sie haben ihn gesehen; kann denn ein Mensch wie er ein Dieb sein?«

Ihr Ton klang, als ob sie Swidrigailow anflehte; all ihre Angst hatte sie vergessen.

»Da gibt es tausend und abertausend verschiedene Arten und Schattierungen, Awdotja Romanowna. Der gewöhnliche Dieb stiehlt mit dem Bewußtsein, daß er ein Schuft ist; ich habe aber auch schon einmal gehört, daß ein Mann besseren Standes die Post überfallen und ausgeplündert hat; wer weiß, ob der nicht tatsächlich der Ansicht war, etwas ganz Anständiges getan zu haben! Selbstverständlich hätte auch ich es ebensowenig wie Sie geglaubt, wenn ich es von irgendeinem anderen gehört hätte. Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Sofja Semjonowna auch alle seine Beweggründe auseinandergesetzt; die wollte zuerst ihren Ohren nicht trauen; aber ihren Augen, ihren eigenen Augen mußte sie schließlich doch Glauben schenken. Er selbst hat es ihr ja alles persönlich erzählt.«

»Was waren das für … Beweggründe?«

»Das ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es liegt dabei (ja, wie soll ich Ihnen das nur klarmachen?) eine eigenartige Theorie zugrunde, dieselbe Anschauung, nach der auch ich zum Beispiel finde, daß eine einzige Übeltat erlaubt ist, wenn der Hauptzweck ein guter ist. Eine einzige üble Tat gegenüber hundert guten! Auch ist es sicherlich für einen jungen Mann von hervorragender Begabung und maßlosem Ehrgeiz ein empörender Gedanke, sich sagen zu müssen, daß seine ganze Laufbahn, all seine künftigen Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er nur dreitausend Rubel hätte, daß er aber diese dreitausend Rubel eben nicht hat. Nehmen Sie als anstachelnde Momente noch hinzu: den Hunger, die enge Wohnung, die deutliche Erkenntnis der Kläglichkeit seiner eigenen sozialen Stellung und im Verein damit der Stellung seiner Schwester und seiner Mutter. Die Hauptursachen aber waren Eitelkeit und Stolz, vielleicht indessen, Gott mag’s wissen, daneben auch bessere Motive. Ich breche nicht den Stab über ihn; bitte, glauben Sie das nicht; das steht mir auch gar nicht zu. Es spielte dabei auch eine besondere Theorie eine Rolle (eine Theorie, die nach etwas klingt), nach der die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt werden, sehen Sie wohl, in Material und in besondere Menschen, das heißt solche Menschen, für die wegen ihres hohen geistigen Ranges die Gesetze nicht geschrieben sind, sondern die vielmehr selbst für die übrigen Menschen, für dieses Material, für den Kehricht, Gesetzgeber sind. Man muß sagen: eine ganz leidliche Theorie, une théorie comme une autre. Ganz gewaltig hat ihm Napoleon imponiert, das heißt eigentlich hat ihm das imponiert, daß so viele geniale Menschen keine Bedenken trugen, eine einzelne Übeltat zu begehen, sondern, ohne erst lange zu reflektieren, über die Schranken hinwegschritten. Er scheint sich eingebildet zu haben, daß auch er ein genialer Mensch sei; ich meine, er ist eine Zeitlang davon überzeugt gewesen. Sehr niederdrückend war ihm und ist ihm auch noch der Gedanke, daß er zwar verstanden habe, eine Theorie aufzustellen, aber nicht imstande gewesen sei, über die Schranken ohne lange Reflexionen hinwegzuschreiten, und daß er somit kein genialer Mensch sei. Na, und das ist für einen ehrgeizigen jungen Mann demütigend, namentlich in unserer Zeit …«

»Und sollte er keine Gewissensbisse gehabt haben? Sie sprechen ihm also jedes moralische Gefühl ab? So ein Mensch ist er doch nicht!«

»Ach, Awdotja Romanowna, diese Begriffe sind jetzt bei uns arg in Verwirrung geraten; übrigens, eine besondere Ordnung hat wohl nie darin geherrscht. Die Russen haben überhaupt eine schrankenlose Natur, Awdotja Romanowna, ganz wie ihr Land, und neigen außerordentlich stark zum Phantastischen, Ordnungslosen; aber eine solche Neigung zur Schrankenlosigkeit ist, wenn sich nicht besondere Genialität damit vereint, ein Unglück. Wissen Sie wohl noch, wie oft wir beide in ebendiesem Sinne über ebendieses Thema gesprochen haben, wenn wir nach dem Abendessen im Garten auf der Terrasse saßen? Gerade diese Neigung zur Schrankenlosigkeit machten Sie mir damals noch zum Vorwurf. Wer weiß, vielleicht haben wir manchmal gerade in derselben Zeit davon gesprochen, wo er hier lag und sich seinen Plan ausdachte. Bei uns in der gebildeten Gesellschaft gibt es ja eigentlich keine durch das Herkommen geheiligten Grundsätze, Awdotja Romanowna; es müßte denn sein, daß sich jemand dergleichen aus Büchern zusammenstellt oder aus Chroniken ausgräbt. Aber das sind doch meist nur Gelehrte, und, wissen Sie, das sind in ihrer Art rechte Schlafmützen, so daß es für einen Mann von Welt unpassend wäre, es ihnen nachzutun. Übrigens kennen Sie ja meine Anschauungen über diese ganze Frage; ich stehe entschieden auf dem Standpunkte, niemand zu verurteilen. Ich selbst bin ein Nichtstuer und halte an diesem Lebensprinzip fest. Wir haben uns darüber ja schon wiederholt unterhalten. Ich hatte sogar das Glück, durch meine Ansichten Ihr Interesse zu erregen … Aber Sie sind ja so blaß, Awdotja Romanowna!«

»Ich kenne diese Theorie meines Bruders. Ich habe in einer Zeitschrift eine Abhandlung von ihm gelesen über Menschen, denen alles erlaubt ist … Rasumichin hat sie mir gebracht.«

»Rasumichin? Eine Abhandlung Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Hat er eine solche Abhandlung geschrieben? Das war mir nicht bekannt. Die wird gewiß sehr interessant sein! Aber wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?«

»Ich will mit Sofja Semjonowna sprechen«, antwortete Dunja mit schwacher Stimme. »Wie komme ich zu ihr? Sie ist vielleicht schon zurückgekehrt; ich will unter allen Umständen so schnell wie möglich mit ihr sprechen. Mag sie …«

Awdotja Romanowna war nicht imstande, den Satz zu Ende zu sprechen; ihr Atem war wie abgeschnürt.

»Sofja Semjonowna wird erst spät am Abend zurückkommen. Ich muß das annehmen; es war zu erwarten, daß sie sehr bald zurückkommen würde oder, wenn nicht, erst sehr spät.«

»Ah, du lügst also! Ich sehe, … du lügst, … du hast alles gelogen! … Ich glaube dir nicht! Nein! Nein!« rief Dunja in wahrer Wut und ganz außer sich.

Fast ohnmächtig sank sie auf einen Stuhl nieder, den ihr Swidrigailow schnell hinrückte.

»Was ist Ihnen, Awdotja Romanowna? Kommen Sie doch zu sich! Hier ist Wasser! Trinken Sie einen Schluck!«

Er bespritzte sie mit Wasser. Dunja zuckte zusammen und kam wieder zum Bewußtsein.

»Das hat stark gewirkt!« murmelte Swidrigailow mit finsterem Gesichte vor sich hin. »Beruhigen Sie sich, Awdotja Romanowna! Denken Sie daran, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn schon retten, ihm durchhelfen. Wenn Sie es wünschen, bringe ich ihn ins Ausland. Ich habe Geld; in längstens drei Tagen beschaffe ich ihm einen Paß. Und was den Mord betrifft, den er begangen hat, so wird er in seinem Leben noch viele gute Taten tun, so daß das alles wieder wettgemacht wird; darüber mögen Sie ruhig sein. Er kann noch ein großer Mann werden. Nun, wie geht es Ihnen jetzt? Wie fühlen Sie sich?«

»Schlechter Mensch! Sie höhnen noch! Lassen Sie mich …«

»Wohin? Wo wollen Sie denn hin?«

»Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Wie kommt es, daß diese Tür verschlossen ist? Wir sind doch durch diese Tür hereingekommen, und jetzt ist sie verschlossen. Ich habe gar nicht gemerkt, daß Sie sie zuschlossen; wann haben Sie das getan?«

»Ich mußte doch verhüten, daß das, was wir hier besprächen, von anderen Leuten gehört würde. Ich höhne ganz und gar nicht; aber ich bin es allerdings überdrüssig, in dem bisherigen Tone weiterzureden. Wohin wollen Sie in dieser Verfassung gehen? Oder wollen Sie bewirken, daß seine Schuld bekannt wird? Sie werden ihn zur Raserei bringen, und er wird sich selbst anzeigen. Ich muß Ihnen sagen, daß man ihn bereits verfolgt, ihm auf der Fährte ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie doch; ich habe ihn eben gesehen und mit ihm gesprochen; er ist noch zu retten. Warten Sie doch, setzen Sie sich, wir wollen es zusammen überlegen. Darum habe ich Sie ja eben gebeten, zu mir zu kommen, um darüber mit Ihnen allein Rücksprache zu nehmen und alles ordentlich zu überlegen. Aber so setzen Sie sich doch hin!«

»Auf welche Weise können Sie ihn retten? Ist denn noch Rettung möglich?«

Dunja setzte sich. Swidrigailow setzte sich neben sie.

»Das alles wird von Ihnen abhängen, von Ihnen, von Ihnen allein«, begann er mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone; er war so erregt und verwirrt, daß er manche Worte nicht deutlich herausbekam.

Dunja wich erschrocken von ihm zurück. Auch er zitterte am ganzen Körper.

»Sie … ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich … ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort wegbringen; ich selbst werde ihm einen Paß besorgen, oder zwei Pässe, einen für ihn, einen für mich. Ich habe Freunde, ich stehe mit geschäftskundigen Leuten in Verbindung … Wollen Sie? Auch für Sie will ich einen Paß nehmen, … auch für Ihre Mutter … Wozu brauchen Sie diesen Rasumichin? Ich liebe Sie auch, … ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, ich bitte Sie darum! Ich bitte Sie darum! Ich kann es nicht mehr anhören, wie es raschelt. Sagen Sie mir: ›tu das!‹ und ich tue es! Alles will ich tun. Ich will das Unmögliche vollbringen. Woran Sie glauben, daran will auch ich glauben. Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich nicht so an, sehen Sie mich nicht so an! Sie töten mich mit diesem Blicke …«

Er redete wie im Fieber. Es war, als wäre er plötzlich trunken geworden. Dunja sprang auf und stürzte zur Tür.

»Aufmachen! Aufmachen!« rief sie durch die Tür, um jemand herbeizurufen, und rüttelte an ihr mit beiden Händen. »Aufmachen! Ist niemand da?«

Swidrigailow kam wieder zu sich und stand auf. Ein boshaftes, höhnisches Lächeln trat langsam auf seine immer noch zitternden Lippen; dann sagte er leise und mit Nachdruck:

»Da ist niemand zu Hause. Die Wirtin ist ausgegangen, und es ist vergebliche Mühe, so zu schreien. Sie regen sich unnütz auf.«

»Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Tür, sofort, du gemeiner Mensch!«

»Den Schlüssel habe ich verloren und kann ihn nicht wiederfinden.«

»Ah! Das ist Gewalt!« rief Dunja, die leichenblaß geworden war, und stürzte sich in eine Ecke, wo sie schleunigst hinter einem dort stehenden Tischchen Deckung suchte.

Sie schrie nicht, sondern heftete ihren Blick fest auf ihren Peiniger und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Auch Swidrigailow rührte sich nicht von seinem Platze und stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte wieder die Herrschaft über sich gewonnen, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war bleich wie vorher, und das höhnische Lächeln war nicht verschwunden.

»Sie sagten soeben ›Gewalt‹, Awdotja Romanowna. Wenn ich wirklich Gewalt beabsichtigen sollte, so können Sie sich wohl selbst sagen, daß ich auch die erforderlichen Maßregeln getroffen haben werde. Sofja Semjonowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumows ist es sehr weit; da liegen drei leere, verschlossene Zimmer dazwischen. Schließlich bin ich mindestens noch einmal so stark wie Sie, und außerdem habe ich nichts zu befürchten; denn Sie können auch nachher keine Klage gegen mich anstrengen: Sie werden doch wahrhaftig nicht Ihren Bruder verraten wollen? Auch wird Ihnen nicht einmal jemand glauben: weshalb sollte denn ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Manne in die Wohnung gegangen sein? Also selbst wenn Sie Ihren Bruder preisgäben, würden Sie doch nichts gegen mich beweisen können: eine Vergewaltigung ist sehr schwer zu beweisen, Awdotja Romanowna.«

»Schurke!« flüsterte Awdotja entrüstet.

»Nennen Sie mich, wie Sie wollen; aber bitte, beachten Sie, daß ich von Gewalt nur im Sinne einer bloßen Annahme gesprochen habe. Nach meiner persönlichen Überzeugung haben Sie vollkommen recht: eine Vergewaltigung ist eine Gemeinheit. Ich habe von der äußersten Möglichkeit einer Gewalttat auch nur deshalb gesprochen, um Ihnen begreiflich zu machen, daß Sie sich in Ihrem Gewissen nicht beschwert zu fühlen brauchen, wenn Sie … wenn Sie sich entschließen, Ihren Bruder freiwillig in der von mir vorgeschlagenen Weise zu retten. Sie haben sich dann einfach den Umständen gefügt, na, meinetwegen auch der Gewalt, wenn dieses Wort nun einmal unentbehrlich ist. Überlegen Sie es sich ein Weilchen: das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich aber werde Ihr Sklave sein … mein ganzes Leben lang … Ich will hier warten.«

Swidrigailow setzte sich auf das Sofa, etwa acht Schritte von Dunja entfernt. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel an seiner unerschütterlichen Entschlossenheit. Dazu kannte sie ihn zu gut.

Plötzlich zog sie einen Revolver aus der Tasche, spannte den Hahn und legte die Hand mit dem Revolver auf das Tischchen. Swidrigailow sprang auf.

»Aha! Ei, sehen Sie mal!« rief er erstaunt mit boshaftem Lächeln. »Nun, das gibt ja der Sache allerdings eine ganz andere Wendung! Sie erleichtern mir dadurch mein Vorhaben außerordentlich, Awdotja Romanowna! Aber wo haben Sie denn den Revolver her? Etwa von Herrn Rasumichin? Nein doch! Das ist ja mein Revolver! Ein alter Bekannter! Und ich habe damals so danach gesucht! … Der Unterricht im Schießen, den ich auf dem Lande Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, ist also doch nicht unnütz gewesen!«

»Der Revolver gehörte nicht dir, sondern Marfa Petrowna, die du ermordest hast, du Bösewicht! Du hattest in ihrem ganzen Hause nichts Eigenes. Ich nahm ihn an mich, sobald ich merkte, wozu du fähig bist. Wage es, mir auch nur einen Schritt näherzukommen, so erschieße ich dich; das schwöre ich dir!«

Dunja befand sich in rasender Erregung. Den Revolver hielt sie schußbereit.

»Na, und was soll aus Ihrem Bruder werden? Ich frage nur so aus Neugier!« sagte Swidrigailow, der immer noch an seinem Platze stand.

»Denunziere ihn, wenn du willst! Nicht von der Stelle! Rühre dich nicht! Ich schieße! Du hast deine Frau vergiftet, das weiß ich; du bist selbst ein Mörder!«

»Wissen Sie das auch ganz bestimmt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?«

»Du hast es getan! Du hast mir selbst Andeutungen darüber gemacht; du hast mir gegenüber von Gift gesprochen, … ich weiß, du bist weggefahren, um dir welches zu beschaffen, … du hattest es bereitliegen … Du hast es getan … Zweifellos hast du es getan, … du Schurke!«

»Und selbst wenn es wahr wäre, so hätte ich es doch nur um deinetwillen … so wärest doch nur du die Ursache gewesen.«

»Du lügst! Ich habe dich immer gehaßt, immer …«

»Ei, ei, Awdotja Romanowna, Sie haben offenbar vergessen, wie Sie damals in Ihrem Bekehrungseifer schon nachgiebiger wurden und auftauten … Ich habe Ihnen das an den Augen angesehen; erinnern Sie sich noch: eines Abends, bei Mondschein, die Nachtigall flötete?«

»Du lügst!« (Dunjas Augen funkelten vor Wut.) »Du lügst, Verleumder!«

»Ich lüge? Na, meinetwegen auch das! Ich habe also gelogen. Es schickt sich nicht, Frauen an solche Dinge zu erinnern.« (Er lächelte.) »Ich weiß, daß du schießen wirst, du reizende Tigerin! Na, dann schieße also!«

Dunja hob den Revolver in die Höhe; sie war totenbleich, die blasse Unterlippe bebte, die großen schwarzen Augen funkelten wie Feuer. Entschlossen blickte sie ihn an und wartete auf die erste Bewegung von seiner Seite. Noch nie hatte er sie so schön gesehen. Er hatte die Empfindung, als ob das Feuer, das in diesem Augenblick aus ihren Augen sprühte, ihn versengte, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er trat einen Schritt vorwärts, und der Schuß ertönte.

Die Kugel hatte ihm das Haar gestreift und war hinter ihm in die Wand gefahren. Er blieb stehen und lachte leise auf.

»Die Wespe hat gestochen! So ein Mädchen, zielt gerade nach dem Kopfe! … Was ist das? Blut!«

Er zog das Taschentuch heraus, um das Blut abzuwischen, das in einem feinen Streifen über seine rechte Schläfe rann; augenscheinlich hatte die Kugel die Kopfhaut eben nur geritzt. Dunja ließ den Revolver sinken und blickte Swidrigailow an, nicht sowohl erschreckt, sondern in einer Art von scheuem Staunen. Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was geschehen war.

»Na ja, das war vorbeigeschossen! Schießen Sie noch einmal; ich warte«, sagte Swidrigailow leise; er lächelte immer noch, aber sein Lächeln hatte jetzt etwas Düsteres, Trübes. »Wenn Sie so stehenbleiben, kann ich Sie ja packen, ehe Sie dazukommen, den Hahn zu spannen!«

Dunja fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und hob den Revolver wieder in die Höhe.

»Lassen Sie von mir ab!« rief sie verzweifelt. »Ich schwöre Ihnen, ich schieße noch einmal; ich … werde Sie töten …«

»Na, schön, … auf drei Schritt Entfernung kann es ja eigentlich gar nicht ausbleiben, daß man einen totschießt. Na, aber wenn Sie mich nicht totschießen, … dann …«

Seine Augen funkelten und er trat noch zwei Schritte näher.

Dunja drückte ab; aber der Schuß versagte.

»Sie haben nicht sorgfältig geladen. Aber es tut nichts! Sie haben noch eine Patrone darin. Machen Sie Ihren Fehler wieder gut; ich warte.«

Er stand in einer Entfernung von zwei Schritten vor ihr, wartete und sah sie mit wilder Entschlossenheit an; seine Augen flammten in tiefer Leidenschaft. Dunja konnte nicht zweifeln, daß er eher sterben als von ihr ablassen werde. ›Und … und nun, auf zwei Schritt, werde ich ihn sicher töten!‹ sagte sie sich.

Plötzlich schleuderte sie den Revolver von sich.

»Sie hat ihn weggeworfen!« sagte Swidrigailow erstaunt und holte tief Atem.

Ihm war, als hätte sich ihm auf einmal eine Last vom Herzen gelöst, und es war wohl nicht allein der Druck der Todesfurcht; die hatte er in diesem Augenblick vielleicht überhaupt kaum empfunden. Es war die Befreiung von einem anderen, krankhaften, düsteren Gefühle, das er in seiner ganzen Bedeutung selbst nicht hätte definieren können.

Er trat an Dunja heran und legte leise seinen Arm um ihre Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht; aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen; aber es verzogen sich nur seine Lippen; zu sprechen war er nicht imstande.

»Laß mich!« sagte Dunja flehend.

Swidrigailow zuckte zusammen: dieses Du war in ganz anderem Tone gesprochen als vorher.

»Du liebst mich also nicht?« fragte er leise.

Dunja schüttelte verneinend den Kopf.

»Und … du wirst es auch nie können? … Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung.

»Nein, niemals!« flüsterte Dunja.

In Swidrigailows Seele ging einen Augenblick lang ein furchtbarer, stummer Kampf vor sich. Mit einem unbeschreiblichen Blicke schaute er sie an. Plötzlich löste er seinen Arm von ihrem Körper, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und blieb dort stehen, dem Zimmer den Rücken zuwendend.

Es verging noch ein Augenblick.

»Hier ist der Schlüssel!« Er zog ihn aus der linken Überziehertasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzudrehen und ohne Dunja anzublicken. »Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort!«

Er blickte starr durch das Fenster.

Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.

»Schnell! Schnell!« rief Swidrigailow, der sich immer noch nicht rührte und nicht umwandte.

Aber in diesem »Schnell!« war ein furchtbarer Ton deutlich hindurchzuhören.

Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, stürzte zur Tür, schloß sie schnell auf und eilte aus dem Zimmer. Einen Augenblick darauf lief sie wie wahnsinnig und wie betäubt aus dem Hause und rannte am Kanal entlang nach der …schen Brücke zu.

Swidrigailow blieb noch etwa drei Minuten lang am Fenster stehen; endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich sachte mit der Hand über die Stirn. Ein sonderbares Lächeln verzerrte sein Gesicht, ein klägliches, trauriges, mattes Lächeln, ein Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das bereits einzutrocknen begann, hatte ihm bei dieser Bewegung die Handfläche beschmutzt; ärgerlich betrachtete er den Fleck; dann befeuchtete er ein Handtuch und wusch sich die Schläfe rein. Auf einmal fiel ihm der Revolver in die Augen, den Dunja von sich geworfen hatte und der gegen die Tür geflogen war. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner, dreischüssiger Taschenrevolver alten Systems; es waren darin noch zwei Patronen und ein Zündhütchen vorhanden. Einmal konnte man also noch damit schießen. Er überlegte ein Weilchen, schob dann den Revolver in die Tasche, ergriff seinen Hut und ging hinaus.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 37

VI

Er verbrachte diesen ganzen Abend bis zehn Uhr in allerlei Restaurants und unanständigen Lokalen, indem er von einem zum andern wanderte. In einem solchen Lokale traf er auch Katja, die wieder einen Gassenhauer sang, diesmal einen anderen, in dem eine Stelle vorkam wie: »Der arge Schurke und Tyrann, zu küssen fing er Katja an.« Swidrigailow traktierte Katja und den Drehorgelspieler mit Getränken, ebenso die Chorsänger, die Kellner und zwei Schreiber. Mit diesen Schreibern hatte er sich eigentlich nur deswegen eingelassen, weil sie beide schiefe Nasen hatten: bei dem einen stand die Nase nach rechts schief, bei dem andern nach links. Das hatte Swidrigailows Interesse erweckt. Schließlich schleppten sie ihn mit sich nach einem Vergnügungsgarten, wo er für sie auch das Eintrittsgeld bezahlte. In diesem Garten befanden sich nur eine dünne dreijährige Tanne und drei Sträucher. Außerdem war darin ein Restaurant eingerichtet, das in Wirklichkeit nur eine Kneipe war; aber man konnte dort auch Tee bekommen. Ferner standen in dem Garten einige grün angestrichene Tische und Stühle. Ein elender Sängerchor und ein betrunkener, rotnasiger Deutscher aus München, eine Art von Possenreißer, der aber, Gott weiß warum, sehr trübsinnig war, sorgten für das Amüsement des Publikums. Die Schreiber gerieten mit ein paar anderen Schreibern in Streit, und es fehlte nicht viel, daß es zur Prügelei kam. Swidrigailow wurde von ihnen zum Schiedsrichter erwählt. Wohl eine Viertelstunde mühte er sich damit ab, die Parteien zu vernehmen; aber sie schrien so, daß es schlechterdings unmöglich war, etwas klarzustellen. Am wahrscheinlichsten hing die Sache so zusammen: einer von ihnen hatte etwas gestohlen und es sogar schon an einen plötzlich auf der Bildfläche erschienenen Juden verkauft, wollte nun aber den Erlös nicht mit seinen Kollegen teilen. Es ergab sich schließlich, daß der verkaufte Gegenstand ein dem »Restaurant« gehöriger Teelöffel war. In dem »Restaurant« war der Löffel bereits vermißt worden, und die Sache schien sehr kompliziert und schwierig zu werden. Swidrigailow bezahlte den Löffel, stand auf und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte die ganze Zeit über keinen Tropfen Branntwein getrunken und sich in dem »Restaurant« nur Tee geben lassen, und auch das eigentlich nur um des Anstandes willen.

Der Abend war schwül und trübe. Um zehn Uhr zogen von allen Seiten furchtbare Gewitterwolken zusammen; ein Unwetter brach los, und der Regen stürzte wie ein Wasserfall hernieder. Das Wasser fiel nicht in Tropfen, sondern rauschte in ganzen Bächen auf die Erde herab. Fortwährend flammten Blitze; mitunter konnte man bis zu fünf fast gleichzeitig zählen. Als Swidrigailow nach Hause kam, war er durchnäßt bis auf die Haut; er schloß sich ein, öffnete seinen Schreibtisch, nahm sein ganzes Geld heraus und zerriß einige Papiere. Er überlegte einen Augenblick, ob er die Kleider wechseln sollte; aber nachdem er das Fenster geöffnet und gesehen und gehört hatte, wie es noch immer donnerte und regnete, verwarf er diese Absicht mit einer geringschätzigen Handbewegung, steckte das Geld in die Tasche, ergriff seinen Hut und ging, ohne seine Wohnung zuzuschließen, hinaus. Er begab sich geradeswegs zu Sonja. Diese war zu Hause.

Sie war nicht allein; vier kleine Kapernaumowsche Kinder waren bei ihr, und sie gab ihnen Tee zu trinken. Sie empfing Swidrigailow schweigend und respektvoll, bemerkte mit Erstaunen, daß seine Kleider ganz durchnäßt waren, sagte aber kein Wort. Die Kinder liefen sämtlich sofort in größter Angst davon.

Swidrigailow setzte sich an den Tisch und bat Sonja, sich neben ihn zu setzen. Schüchtern schickte sie sich an, ihm zuzuhören.

»Sofja Semjonowna, ich reise vielleicht nach Amerika«, sagte Swidrigailow, »und da ich Sie wahrscheinlich zum letzten Male sehe, bin ich gekommen, um noch einiges zu ordnen. Nun, Sie haben also heute diese Dame besucht? Ich weiß, was sie zu Ihnen gesagt hat; Sie brauchen es mir nicht zu wiederholen.« (Sonja machte eine Bewegung und errötete.) »Diese Sorte Menschen hat nun einmal so eine bestimmte Anschauungsweise. Was Ihre Schwesterchen und Ihr Brüderchen anlangt, so sind sie sicher untergebracht, und das für sie bestimmte Geld ist von mir für einen jeden gegen Quittung gehörigen Ortes zu treuen Händen eingezahlt worden. Nehmen Sie übrigens diese Quittungen an sich, ich meine bloß … für jeden Fall. Hier, nehmen Sie! Na, das ist also jetzt erledigt. Hier sind drei fünfprozentige Staatsschuldscheine im Gesamtbetrage von dreitausend Rubel. Nehmen Sie das für sich, ausschließlich für sich, und lassen Sie es unter uns bleiben; sagen Sie von dieser Summe niemandem etwas, was auch immer Ihnen zu Ohren kommen mag. Sie werden das Geld gebrauchen können, Sofja Semjonowna; denn so zu leben wie bisher ist unwürdig; das werden Sie nun nicht mehr nötig haben.«

»Sie haben mir so viele, große Wohltaten erwiesen und auch den Waisen und der Verstorbenen«, stammelte Sonja hastig. »Wenn ich Ihnen bisher nur so wenig dafür gedankt habe, so … wollen Sie nicht meinen …«

»Ach, hören Sie auf, hören Sie auf!«

»Aber dieses Geld, Arkadij Iwanowitsch, … ich bin Ihnen sehr dankbar; aber ich habe es jetzt wirklich nicht nötig. Mich allein kann ich immer durchbringen. Halten Sie es nicht für Undankbarkeit; aber wenn Sie schon eine so große Wohltat erweisen wollen, so könnte dieses Geld …«

»Es ist für Sie bestimmt, Sofja Semjonowna, für Sie; und bitte, ohne Hin- und Herreden, denn ich habe dazu auch gar keine Zeit mehr. Sie werden es aber gebrauchen können. Rodion Romanowitsch hat nur zwei Wege vor sich: entweder eine Kugel in den Kopf – oder nach Sibirien.« (Sonja blickte ihn scheu an und fing an zu zittern.) »Beunruhigen Sie sich nicht; ich weiß alles, aus seinem eigenen Munde; aber ich bin kein Schwätzer und werde es niemandem sagen. Sie haben sehr gut daran getan, daß Sie ihm rieten, er möchte hingehen und sich selbst anzeigen. Das wird für ihn bei weitem das beste sein. Na, wenn es also zur Verschickung nach Sibirien kommt, dann werden Sie doch mit ihm gehen? Nicht wahr? Nicht wahr? Na, in diesem Falle werden Sie das Geld recht gut gebrauchen können. Für ihn werden Sie es gebrauchen können, verstehen Sie? Wenn ich es Ihnen gebe, so ist das ganz dasselbe, als gäbe ich es ihm. Außerdem haben Sie ja auch, wie ich gehört habe, der Wirtin Amalia Iwanowna versprochen, ihr die rückständige Miete zu bezahlen. Warum nehmen Sie unbedachtsamerweise solche Verpflichtungen auf sich, Sofja Semjonowna? Katerina Iwanowna war doch dieser Deutschen das Geld schuldig geblieben, und nicht Sie; da sollten Sie sich den Kuckuck um dieses deutsche Frauenzimmer kümmern. So kommt man in der Welt nicht vorwärts. Na, und wenn jemand, so etwa morgen oder übermorgen, nach mir fragen sollte (und bei Ihnen wird man gewiß nachfragen), dann erwähnen Sie nichts davon, daß ich jetzt bei Ihnen gewesen bin, und zeigen Sie unter keinen Umständen das Geld, und sagen Sie niemandem, daß ich Ihnen welches gegeben habe. Nun also, jetzt auf Wiedersehen!« (Er erhob sich.) »Grüßen Sie Rodion Romanowitsch! Dabei fällt mir ein: übergeben Sie doch das Geld, wollen mal sagen, Herrn Rasumichin zur vorläufigen Aufbewahrung. Sie kennen doch Herrn Rasumichin. Jedenfalls werden Sie ihn kennen. Das ist ein ganz verständiger junger Mann. Bringen Sie es ihm morgen, oder … wenn es an der Zeit sein wird. Bis dahin verwahren Sie es ordentlich!«

Sonja sprang gleichfalls auf und sah ihn erschrocken an. Gern hätte sie etwas gesagt, etwas gefragt; aber sie wagte es im ersten Augenblick nicht und wußte auch nicht, wie sie anfangen sollte.

»Aber … aber wollen Sie denn jetzt bei diesem Regen ausgehen?«

»Na, wenn einer nach Amerika reisen will, dann darf er sich doch nicht vor einem Regen fürchten, he-he! Leben Sie wohl, meine liebe Sofja Semjonowna! Möge Ihnen ein langes Leben beschieden sein; Sie werden auch anderen nützen. Noch eins: sagen Sie doch Herrn Rasumichin, daß ich mich ihm empfehlen lasse. Bestellen Sie so: ›Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow läßt sich Ihnen empfehlen.‹ Aber vergessen Sie es nicht!«

Er ging hinaus; erstaunt, erschrocken und von einem unklaren, quälenden Argwohn erfüllt, blieb Sonja zurück.

Es stellte sich später heraus, daß er an ebendiesem Abend nach elf Uhr noch einen sehr ungewöhnlichen, unerwarteten Besuch gemacht hatte. Der Regen hielt immer noch an. Ganz um zu zeigen, daß ihm alle Menschen ganz egal seien. Die Hauptsache aber sei: von diesem Besuche dürfe niemandem ein Wort gesagt werden; denn man könne nicht wissen, was das für Folgen haben werde. Und das Geld müsse so schnell wie möglich weggeschlossen werden, und es sei dabei noch ein wahres Glück, daß das Dienstmädchen Fedosja in der Küche gewesen sei und nichts gemerkt habe. Und namentlich dürfe diese Gaunerin, die Rößlich, nichts davon erfahren, ja nicht, ja nicht, ja nicht! Und so redete sie noch lange fort. Bis zwei Uhr saßen die Eltern zusammen und flüsterten; die Braut, erstaunt über das Erlebte und etwas traurig, war schon weit früher schlafen gegangen.

Unterdessen ging Swidrigailow ziemlich genau um Mitternacht über die Tutschkow-Brücke nach dem Stadtteil Peterburgskaja zu. Der Regen hatte aufgehört; aber ein starker Wind brauste. Er begann zu zittern und betrachtete eine Minute lang mit besonderem Interesse und sogar wie fragend das schwarze Wasser der Kleinen Newa. Aber bald wurde es ihm zu kalt, so über dem Wasser zu stehen; er drehte sich weg und ging nach dem …-Prospekt. Lange, beinahe eine halbe Stunde lang, wanderte er auf diesem endlosen Prospekte hin, stolperte mehrmals auf dem Holzpflaster, suchte aber fortwährend eifrig etwas auf der rechten Seite des Prospektes. Dort irgendwo, schon ziemlich am Ende des Prospektes, hatte er, als er kürzlich einmal vorbeifuhr, ein Gasthaus bemerkt, ein geräumiges Holzhaus; es hatte, soweit er sich erinnerte, ungefähr so wie »Zur Stadt Adrianopel« geheißen. Er hatte sich nicht geirrt; das Gasthaus bildete in dieser öden, stillen Gegend einen so auffallenden Punkt, daß es selbst in der Dunkelheit nicht zu verfehlen war. Es war ein langes, hölzernes, vom Alter bereits schwarz gewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunde noch Licht brannte und einiges Leben zu spüren war. Er trat ein und fragte einen schäbig gekleideten Kellner, den er auf dem Flur traf, ob er ein Zimmer bekommen könne. Dieser musterte den Ankömmling flüchtig, schüttelte sich, um munter zu werden, und führte ihn sofort nach einem weit abgelegenen Zimmer. Dieses war dumpf und eng und lag ganz am Ende des Korridors in einer Ecke unter einer Treppe. Aber es war kein anderes zu haben; alle waren besetzt. Der schäbige Kellner sah den Gast fragend an.

»Kann ich Tee bekommen?« fragte Swidrigailow.

»Jawohl.«

»Was ist sonst noch zu haben?«

»Kalbfleisch, Schnaps, Aufschnitt.«

»Dann bring mir Kalbfleisch und Tee.«

»Wünschen Sie weiter nichts?« fragte der Kellner erstaunt.

»Nein, weiter nichts!«

Der Kellner entfernte sich ganz verdutzt.

›Das scheint ja ein nettes Lokal zu sein‹, dachte Swidrigailow. ›Sonderbar, daß ich es nicht gekannt habe. Ich sehe wahrscheinlich auch so aus wie einer, der aus einem Café chantant kommt, aber unterwegs schon seine Erlebnisse gehabt hat. Indes wäre es doch interessant zu erfahren, was für Leute hier einkehren und übernachten.‹

Er zündete eine Kerze an und besah das Zimmer genauer. Dieses enge Gelaß war so niedrig, daß Swidrigailow darin kaum aufrecht stehen konnte, und hatte nur ein Fenster; ein sehr schmutziges Bett, ein einfacher, gestrichener Tisch und ein Stuhl nahmen fast den ganzen Raum ein. Die Wände schienen aus zusammengenagelten Brettern zu bestehen, die mit bereits sehr defekten Tapeten beklebt waren; diese waren so verstaubt und beschmutzt, daß man nur gerade noch die ursprüngliche gelbe Farbe erraten, das Muster aber schlechterdings nicht mehr erkennen konnte. Ein Teil einer Wand und der Decke war schräg abgeschnitten, wie das bei Mansardenstuben gewöhnlich der Fall ist; hier aber befand sich oberhalb der schrägen Fläche die Treppe. Swidrigailow stellte die Kerze hin, setzte sich auf das Bett und überließ sich seinen Gedanken. Aber ein seltsames, fortwährendes Flüstern in der Kammer daneben, das sich manchmal fast bis zu einem Schreien steigerte, zog schließlich seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Flüstern hatte von dem Augenblicke an, wo er ins Zimmer getreten war, ununterbrochen fortgedauert. Er horchte: jemand schalt einen andern und machte ihm fast unter Tränen Vorwürfe; aber es war immer nur die eine Stimme zu hören. Swidrigailow stand auf, verdeckte die Kerze mit der Hand, und sofort leuchtete an der Wand eine Ritze auf; er trat heran und schaute hindurch. In dem Zimmer, das etwas größer war als sein eigenes, befanden sich zwei Gäste. Einer von ihnen, ohne Rock, mit sehr krausem Haar und erhitztem, rotem Gesichte, stand in der Haltung eines Redners da; er hielt die Beine auseinandergespreizt, um das Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich häufig mit der Hand vor die Brust und hielt dem andern in pathetischem Tone vor, daß dieser ein Bettler sei und nicht einmal einen amtlichen Rang besitze; er habe ihn aus dem Elend herausgezogen und könne ihn, wenn er wolle, jeden Augenblick fortjagen, und alles sehe nur allein »der Finger des Allerhöchsten«. Der gescholtene Freund saß auf einem Stuhle und machte ein Gesicht, als möchte er gar zu gern niesen, brächte es aber nicht fertig. Mitunter blickte er den Redner mit dem trüben Blick eines Hammels an, hatte aber offenbar keine Ahnung, wovon dessen Rede handelte, und hörte wohl überhaupt kaum etwas davon. Auf dem Tische brannte der Stumpf einer Kerze; auch standen dort eine fast ausgetrunkene Flasche Schnaps, Gläser, Brot und Teegeschirr, das bereits leer war. Nachdem Swidrigailow dieses Bild aufmerksam betrachtet hatte, trat er teilnahmslos von der Ritze weg und setzte sich wieder auf das Bett.

Der schäbige Kellner brachte den Tee und das Kalbfleisch und konnte sich nicht enthalten, noch einmal zu fragen: »Wünschen Sie weiter nichts?« Als er wieder eine verneinende Antwort erhalten hatte, entfernte er sich endgültig. Swidrigailow griff gierig nach dem Tee, um sich zu erwärmen, und trank ein Glas davon; zu essen aber vermochte er Gelegenheit, mir einen Besuch zu machen: es ist dunkel, eine sehr geeignete Örtlichkeit, ein hochinteressanter Augenblick. Aber gerade jetzt kommen Sie nicht …‹

Plötzlich, ohne klaren Zusammenhang, mußte er daran denken, wie er vorhin, eine Stunde bevor er seinen Anschlag gegen Dunja ins Werk setzte, ihrem Bruder geraten hatte, sie der Obhut Rasumichins anzuvertrauen. ›In Wirklichkeit habe ich das damals hauptsächlich wohl nur gesagt, um meine Eifersucht aufzureizen, und Raskolnikow hat das auch durchschaut. Ein schlauer Fuchs, dieser Raskolnikow, wahrhaftig! Hat doch viel auf seine Schultern genommen! Kann mit der Zeit ein großartiger Halunke werden, wenn er seine verrückten Ideen los wird; jetzt klammert er sich noch zu sehr an das Leben. In diesem Punkte ist doch diese ganze Sorte Menschen feige. Na, hol ihn der Teufel; mag er tun, was er will; was kümmert’s mich!‹

Einschlafen konnte er noch immer nicht. Allmählich schimmerte vor seinem geistigen Auge Dunjetschkas Gestalt auf, wie er sie eben erst gesehen hatte, und ein Zittern lief ihm durch den ganzen Körper. ›Nein, diese Gedanken muß ich jetzt denn doch über Bord werfen‹, dachte er, sich zusammennehmend, ›jetzt muß ich an etwas anderes denken. Es ist doch eigentlich sonderbar und lächerlich: ich habe nie gegen jemand einen starken Haß empfunden, auch nie ein besonderes Verlangen gehabt, mich an jemand zu rächen; das ist doch ein schlechtes Zeichen, ein schlechtes Zeichen, ein schlechtes Zeichen! Streiten habe ich auch nie gemocht und habe mich auch nie ereifert – gleichfalls ein schlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin nicht alles versprochen – pfui Teufel! Wer weiß, vielleicht hätte sie doch noch aus mir einen anderen Menschen gemacht!‹ Er hielt wieder in seinem Selbstgespräche inne und preßte die Zähne aufeinander: wieder stand ihm Dunjetschkas Bild in den kleinsten Einzelheiten vor Augen, wie sie, als sie den ersten Schuß abgefeuert hatte, so furchtbar erschrak, den Revolver sinken ließ und ihn leichenblaß anstarrte, so daß er zweimal Zeit gehabt hätte, sie zu packen, ohne daß sie die Hand zu ihrer Verteidigung hätte erheben können, wenn er sie nicht selbst daran erinnert hätte. Er dachte daran, wie leid sie ihm in diesem Augenblicke getan hatte, so daß sich ihm ordentlich das Herz zusammengekrampft hatte … ›Donnerwetter! Schon wieder diese Gedanken! Die muß ich alle über Bord werfen, jawohl, über Bord werfen! …‹

Nun begann ihm das Bewußtsein zu schwinden; das fieberhafte Zittern ließ nach; auf einmal war es ihm, als ob unter der Bettdecke ihm etwas über die Hand und über das Bein liefe. Er fuhr zusammen. ›Pfui Teufel! das war wohl eine Maus!‹ dachte er. ›Das kommt davon, daß ich das Fleisch habe auf dem Tische stehenlassen …‹ Er hatte eine große Scheu davor, sich aus der Decke herauszuwickeln, aufzustehen und zu frieren; plötzlich aber lief wieder etwas mit unangenehmem Krabbeln an seinem Bein entlang; er warf die Decke von sich und steckte die Kerze an. Zitternd vor Fieberfrost, bückte er sich, um das Bett zu untersuchen – es war nichts zu sehen; er schüttelte die Decke aus, und plötzlich sprang eine Maus heraus und auf das Laken. Er mühte sich, sie zu greifen; aber die Maus sprang nicht vom Bette herunter, sondern huschte im Zickzack nach allen Seiten hin und her, glitt ihm zwischen den Fingern durch, lief ihm über die Hand und schlüpfte auf einmal unter das Kopfkissen; er warf das Kopfkissen auf den Fußboden, fühlte aber in demselben Augenblicke, wie ihm etwas vorn an der Brust unter das Hemd sprang, am Körper entlang krabbelte und nun schon am Rücken unter dem Hemd herumarbeitete. Ein nervöses Zittern überkam ihn, und – er erwachte. Im Zimmer war es dunkel; er lag in die Decke eingewickelt auf dem Bette wie vorher; draußen vor dem Fenster heulte der Wind. ›So eine ekelhafte Geschichte!‹ dachte er ärgerlich.

Er stand auf und setzte sich auf den Rand des Bettes, mit dem Rücken nach dem Fenster zu. ›Da schlafe ich lieber Sarg. Dieser Sarg war mit weißer Seide ausgeschlagen, mit dichten, weißen Rüschen garniert und rings mit Blumengirlanden umwunden. Ganz in Blumen gebettet, lag darin ein Mädchen, in weißem Tüllkleide, die wie aus Marmor gemeißelten Hände zusammengefaltet und auf die Brust gelegt. Aber ihr aufgelöstes hellblondes Haar war feucht; ein Kranz aus Rosen schlang sich um ihren Kopf. Ihr Gesicht mit den strengen, schon starr gewordenen Zügen war gleichfalls wie aus Marmor; aber in dem Lächeln der blassen Lippen lag ein nicht kindliches, grenzenloses Leid und eine furchtbare, ergreifende Klage. Swidrigailow kannte dieses Mädchen; weder Heiligenbilder noch brennende Kerzen umgaben diesen Sarg, auch wurden keine Gebete bei ihm gemurmelt. Das Mädchen war eine Selbstmörderin: sie hatte sich ertränkt. Sie war erst vierzehn Jahre alt gewesen; aber es war ihr bereits das Herz gebrochen; und so hatte sie sich selbst den Tod gegeben, aufs tiefste verletzt durch eine ihr angetane Schmach, die dieses junge, kindliche Gemüt mit staunendem Entsetzen erfüllt, ihre engelreine Seele mit unverdienter Schande bedeckt und ihr einen letzten Schrei der Verzweiflung entrissen hatte, der keine Erhörung fand, sondern durch rohe Schimpfworte erwidert wurde, in dunkler, kalter Nacht, bei feuchtem Tauwetter, als der Wind heulte …

Swidrigailow kam wieder zur Besinnung, stand vom Bette auf und trat ans Fenster. Tastend fand er den Riegel und öffnete das Fenster. Der Wind drang wild tobend in die enge Kammer hinein und bedeckte ihm wie mit eisigem Reif das Gesicht und die Brust unter dem bloßen Hemde. Vor dem Fenster war wirklich eine Art Garten, und zwar wieder ein Vergnügungslokal; wahrscheinlich produzierten sich auch hier bei Tage Chorsänger, und es wurde an kleinen Tischen Tee getrunken. Jetzt flogen von den Bäumen und Sträuchern Wassertropfen durch das Fenster herein; es war eine Finsternis wie in einem Keller, so daß sich kaum einige dunkle Flecke als Andeutungen dort befindlicher Dinge abhoben. Swidrigailow beugte sich, die Ellbogen auf das Fensterbrett stützend, hinaus und starrte nun schon fünf Minuten lang unverwandt in diese Finsternis hinein. Da ertönte in dem nächtlichen Dunkel ein Kanonenschuß, nach ihm ein zweiter.

›Aha, das Signal! Das Wasser steigt!‹ dachte er. ›Gegen Morgen wird es an den tiefer liegenden Stellen die Straßen überschwemmen, die Keller und Souterrains anfüllen; die Kellerratten werden herausschwimmen, und die Menschen werden in Regen und Wind schimpfend und durchnäßt ihren Trödel nach den höheren Stockwerken hinaufschleppen … Wie spät mag es wohl jetzt sein?‹ Kaum hatte er das gedacht, als irgendwo in der Nähe eine Wanduhr mit hastigen Schlägen, als hätte sie es überaus eilig, drei schlug. ›So, in einer Stunde wird es also schon hell werden! Worauf warte ich noch? Ich will gleich von hier weggehen, und geradeswegs nach dem Petrowskij-Park. Da suche ich mir ein großes Gebüsch aus, das ganz mit Regentropfen behangen ist, so daß einem, wenn man nur mit der Schulter anstreift, Tausende von Tropfen über den ganzen Kopf rieseln …‹ Er trat vom Fenster zurück, schloß es, zündete die Kerze an, zog sich Jackett und Überzieher an, setzte den Hut auf und ging mit dem Lichte auf den Korridor, um den Kellner, der wohl irgendwo in einem Kämmerchen zwischen allerlei Gerümpel und Lichtstümpfen schlafen mochte, aufzusuchen, ihm das Zimmer und das Essen zu bezahlen und dann das Gasthaus zu verlassen. ›Es ist jetzt der passendste Augenblick; einen besseren kann ich gar nicht finden!‹

Lange ging er auf dem ganzen langen, schmalen Korridor hin und her, ohne jemand zu finden, und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen Ecke zwischen einem alten Schranke und einer Tür einen sonderbaren Gegenstand erblickte, der etwas Lebendes zu sein schien. Er beugte sich mit der Kerze darüber und sah ein Kind: ein kleines Mädchen von nicht mehr als etwa fünf Jahren, ein. Sie schlief sofort. Nachdem er dies erledigt hatte, versank er wieder in seine düsteren Überlegungen.

›Ein dummer Einfall von mir, mich mit dem Kinde abzugeben!‹ dachte er verdrossen und höhnisch. ›So ein Unsinn!‹ Ärgerlich ergriff er die Kerze, um hinauszugehen, unter allen Umständen den Kellner ausfindig zu machen und möglichst schnell das Haus zu verlassen. ›Was schert mich das kleine Mädchen!‹ dachte er mit einem Fluche und öffnete schon die Tür; aber er kehrte doch noch einmal um, um nach der Kleinen zu sehen, ob sie wohl schliefe und wie sie schliefe. Vorsichtig lüftete er die Decke. Das Mädchen lag in festem, gesundem Schlafe. Sie war unter der Decke warm geworden, und ihre blassen Bäckchen hatten schon wieder rote Farbe bekommen. Aber sonderbar: diese Röte sah greller und dunkler aus, als es sonst bei Kindern gewöhnlich ist. ›Das ist eine fieberhafte Röte‹, dachte Swidrigailow, ›das ist eine Röte wie von Branntwein, als hätte jemand sie ein ganzes Glas austrinken lassen. Die roten Lippen brennen und glühen ja nur so; aber was ist das?‹ Es schien ihm auf einmal, als ob ihre langen, schwarzen Wimpern zuckten und zwinkerten, als ob sie sich höben und ein schlaues, scharfes, sehr unkindlich blinzelndes Auge unter ihnen hervorschaute, als ob das Mädchen nicht schliefe, sondern sich nur so stellte. Ja, und so war es auch: ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln; die Mundwinkel zuckten, wie wenn die Kleine sich noch beherrschen wollte. Aber nun gab sie dieses Bemühen völlig auf; das war schon ein Lachen, ein deutliches Lachen; ein frecher, herausfordernder Ausdruck leuchtete in diesem ganz unkindlichen Gesichte auf; das war die Unzucht, das Gesicht einer Dirne, das freche Gesicht einer feilen französischen Dirne. Da, jetzt öffneten sich ohne weitere Zurückhaltung beide Augen; sie richteten sich mit einem feurigen, schamlosen Blicke auf ihn, forderten ihn auf und lachten … Etwas unendlich Abstoßendes und Empörendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in der ganzen Gemeinheit, die sich auf diesem Kindergesichte ausprägte. »Wie? Ein fünfjähriges Kind!« flüsterte Swidrigailow wahrhaft entsetzt. »Wie … wie ist das nur möglich?« Aber da wandte sie sich schon mit dem glühendheißen Gesichtchen ganz zu ihm hin, sie streckte die Hände nach ihm aus … »Du verruchtes Wesen!« rief Swidrigailow entsetzt und hob die Hand, um ihr einen Schlag zu versetzen … Aber in demselben Augenblicke erwachte er.

Er lag immer noch auf dem Bette, noch ebenso in die Decke eingewickelt wie vorher; die Kerze war nicht angezündet; aber durch das Fenster schien bereits der helle Tag herein.

›Wirre Träume die ganze Nacht hindurch!‹ Er erhob sich ärgerlich und fühlte sich völlig zerschlagen; alle Knochen taten ihm weh. Draußen lag ein dichter Nebel, und es war nichts zu erkennen. Es war bald fünf Uhr; er hatte länger geschlafen, als ihm lieb war. Er stand auf und zog sich das Jackett und den Überzieher an, die noch feucht waren. Dann tastete er in der Tasche nach dem Revolver, nahm ihn heraus und brachte das Zündhütchen in Ordnung; hierauf setzte er sich hin, zog ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb auf die vorderste Seite, die zuerst ins Auge fallen mußte, mit großer Schrift einige Zeilen. Nachdem er sie noch einmal durchgelesen hatte, stützte er einen Ellbogen auf den Tisch und versank in Gedanken. Der Revolver und das Notizbuch lagen auf dem Tisch, neben seinem Ellbogen. Die Fliegen waren auch schon aufgewacht und krochen auf dem Kalbfleisch umher, das er unangerührt auf dem Tische hatte stehen lassen. Er schaute ihnen lange zu und machte schließlich mit der freien rechten Hand den Versuch, eine von ihnen zu fangen. Lange mühte er sich mit Anstrengung ab, konnte aber keine bekommen. Als er sich endlich dieser interessanten Beschäftigung bewußt wurde, sammelte er seine Gedanken, raffte sich zusammen, stand auf und ging entschlossen aus dem Zimmer hinaus. Eine Minute darauf war er bereits auf der Straße.

Ein milchweißer, dichter Nebel lagerte über der Stadt. Swidrigailow schritt auf dem schlüpfrigen, schmutzigen Holzpflaster hin, nach der Kleinen Newa zu. Er mußte immer an das über Nacht stark gestiegene Wasser der Kleinen Newa denken, an die Petrowskij-Insel, die feuchten Fußwege, das feuchte Gras, die feuchten Bäume und Sträucher und schließlich an eben jenes Gebüsch, das er sich in der Nacht ausgemalt hatte … Aber das ärgerte ihn, und um auf andere Gedanken zu kommen, begann er die Häuser zu betrachten. Weder einen Fußgänger noch eine Droschke traf er auf dem Prospekt. Trübselig und schmutzig sahen die kleinen hellgelben Holzhäuser mit den geschlossenen Fensterläden drein. Ein Gefühl der Kälte und der Feuchtigkeit breitete sich über seinen ganzen Körper aus, und es begann ihn zu frösteln. Ab und zu fiel sein Blick auf die Schilder aller möglichen Läden und Grünwarenbuden, und er las dann jedes mit großer Sorgfalt. Nun war das Holzpflaster zu Ende. Er kam schon bei einem großen, steinernen Hause vorbei. Ein schmutziger, vor Kälte zitternder Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm über den Weg. Ein völlig betrunkener Mann in einem Mantel lag mit dem Gesichte nach unten quer über das Trottoir. Er betrachtete ihn einen Augenblick und ging weiter. Nach links zu wurde ihm ein hoher Feuerwehrturm sichtbar.

›Ach was!‹ dachte er. ›Das ist ja hier auch ein guter Platz; wozu soll ich da erst nach dem Petrowskij-Park gehen? Wenigstens habe ich da gleich einen offiziellen Zeugen …‹

Er lächelte beinahe über diesen neuen Gedanken und bog in die …skaja-Straße ein. Hier standen ein großes Haus und der Feuerwehrturm. An dem großen geschlossenen Tore des Hauses stand, mit der Schulter dagegen gelehnt, ein kleines Männchen, in einen grauen Uniformmantel gehüllt, auf dem Kopfe einen Messinghelm mit hohem Kamm, einen sogenannten Achilleshelm. Mit schläfrigem, kühlem Blicke schielte er nach dem sich nähernden Swidrigailow hin. Auf seinem Gesichte war jener ewige mürrische Kummer sichtbar, der bei dem jüdischen Typ allen Gesichtern ohne Ausnahme einen so säuerlichen Ausdruck verleiht.

Beide, Swidrigailow und der Achilles, blickten einander eine Weile schweigend an. Schließlich fand der Achilles es nicht in der Ordnung, daß ein Mann, der nicht betrunken war, sich drei Schritte von ihm entfernt hinstellte, ihn starr ansah und nichts redete.

»Sie! Was haben Sie hier zu suchen?« fragte er, noch immer ohne sich zu rühren und ohne seine Stellung zu verändern.

»Gar nichts weiter, Bruder! Guten Tag!« antwortete Swidrigailow.

»Hier ist kein Platz für Sie!«

»Ich reise nach einem fernen Lande, Bruder.«

»Nach ’nem fernen Lande?«

»Ja, nach Amerika.«

»Nach Amerika?«

Swidrigailow zog den Revolver heraus und spannte den Hahn. Achilles zog die Augenbrauen hoch.

»Sie! Was tun Sie da! Für solche Spaße ist hier nicht der Ort!«

»Warum soll hier nicht der Ort dafür sein?«

»Weil hier nicht der Ort für so was ist.«

»Na, Bruder, das ist ganz einerlei. Der Ort ist gut. Wenn du nachher gefragt wirst, so antworte nur, ich hätte gesagt, daß ich nach Amerika reisen wollte.«

Er setzte den Revolver an seine rechte Schläfe.

»Das darf hier nicht sein; hier ist nicht der Ort für so was!« rief erschrocken der Achilles, dessen Pupillen sich immer mehr erweiterten.

Swidrigailow drückte ab.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 38

VII

An demselben Tage, aber erst am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ging Raskolnikow nach der Wohnung seiner Mutter und seiner Schwester, nach eben jener Wohnung im Bakalejewschen Hause, die ihnen Rasumichin besorgt hatte. Die Treppe hatte ihren Eingang von der Straße her. Noch als Raskolnikow sich bereits der Wohnung näherte, ging er nur zögernden Schrittes und schien zu schwanken, ob er hineingehen sollte oder nicht. Aber er wäre um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt.

›Zudem ist es ja auch ganz gleich‹, dachte er. ›Sie wissen noch nichts und sind es schon gewohnt, mich für einen wunderlichen Gesellen zu halten …‹

Seine Kleidung sah schrecklich aus: alles war schmutzig und zerdrückt, da er die ganze Nacht im Regen zugebracht hatte. Sein Gesicht war ganz entstellt infolge der Ermüdung, des Unwetters, der physischen Erschöpfung und eines fast vierundzwanzig Stunden währenden Seelenkampfes. Diese ganze Nacht über war er allein gewesen, Gott mochte wissen wo. Aber wenigstens war er zu einem Entschlusse gelangt.

Er klopfte an die Tür, die Mutter öffnete ihm. Dunja war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war gerade nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst ganz sprachlos vor freudigem Erstaunen; dann ergriff sie ihn an der Hand und zog ihn ins Zimmer hinein.

»Nun, da bist du ja!« begann sie, vor Freude stotternd. »Sei mir nicht böse, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, mit Tränen: aber ich lache ja nur, ich weine nicht. Denkst du, ich weine? Nein, ich freue mich bloß; aber das ist so eine dumme Angewohnheit von mir, daß mir dann gleich die Tränen kommen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters so an mir: alles bringt mich zum Weinen. Setz dich, lieber Sohn, du bist gewiß müde, das sehe ich. Ach, was hast du dich schmutzig gemacht!«

»Ich bin gestern im Regen aus gewesen, Mama …«, begann Raskolnikow.

»Nicht doch! Nicht doch!« fiel ihm Pulcheria Alexandrowna lebhaft ins Wort. »Du denkst wohl, ich fange gleich an, dich auszufragen, wie ich das früher nach Weiberart zu tun pflegte; aber sei unbesorgt! Ich sehe ja ein, daß das nicht passend war; ich sehe das durchaus ein; jetzt habe ich schon die hiesigen Sitten gelernt, und wirklich, ich muß selbst gestehen, daß die verständiger sind. Ich habe mir ein für allemal gesagt: Wie kann ich deine Ideen fassen und von dir Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Unternehmungen und Pläne im Kopfe, oder es keimen und wachsen da so allerlei Gedanken; wie darf ich dich da immer in die Seite stoßen mit der Frage: ›Woran denkst du?‹ Siehst du, ich … Ach, mein Gott! Was schwatze ich denn da kreuz und quer wie verdreht … Weißt du, Rodja, deinen Aufsatz in der Zeitschrift lese ich jetzt schon zum dritten Male; Dmitrij Prokofjitsch hat ihn mir gebracht. ›Ach so, ach so!‹ rief ich aus, als ich ihn las. ›Was bin ich für eine Närrin!‹ dachte ich bei mir. ›Also mit solchen Dingen beschäftigt er sich! Das ist die Lösung des Rätsels! Die Gelehrten sind alle so. Er hat vielleicht gerade neue Gedanken im Kopfe und überlegt sich die, und da komme ich ihm dazwischen und quäle und belästige ihn!‹ Ich lese deinen Aufsatz, lieber Sohn, aber verstehen tue ich natürlich nicht viel davon. Das ist ja auch ganz natürlich; wie sollte ich denn auch!«

»Zeigen Sie ihn mir doch einmal, Mama.«

Raskolnikow nahm die Zeitschrift und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Aufsatz. So wenig das auch zu seiner Lage und zu seinem Zustande passen wollte, so empfand er doch jenes eigentümliche, wonnig kitzelnde Gefühl, welches ein Verfasser durchkostet, der sich zum ersten Male gedruckt sieht; auch wirkten dabei seine dreiundzwanzig Jahre mit. Indes dauerte das nur einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, verfinsterte sich sein Gesicht, und ein furchtbarer Gram preßte ihm das Herz zusammen. Der ganze seelische Kampf, den er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, kam ihm auf einmal wieder ins Gedächtnis. Voll Widerwillen und Ärger warf er die Zeitschrift auf den Tisch.

»Aber wenn ich auch noch so dumm bin, Rodja, das kann ich doch beurteilen, daß du sehr bald in unserer Gelehrtenwelt einer der ersten Männer, wenn nicht der allererste, sein wirst. Und da haben die Leute gewagt zu meinen, du wärest geistesgestört! Ha-ha-ha! Du weißt das nicht; aber sie haben das gedacht! Ach, dieses niedrige Gewürm; die haben ja keine Ahnung davon, was Verstand ist. Und Dunja, Dunja hat es auch beinahe geglaubt – was sagst du dazu? Dein seliger Vater hat zweimal etwas an Zeitschriften eingesandt, das erstemal Gedichte (ich habe das Heft aufbewahrt und will es dir bei Gelegenheit einmal zeigen) und das zweitemal eine ganze Novelle (er hatte mir auf meine Bitte erlaubt, sie selbst ins reine zu schreiben). Und wie haben wir beide gebetet, daß die Einsendungen angenommen werden möchten; aber sie wurden nicht angenommen! Ach, Rodja, vor sechs, sieben Tagen war ich so tieftraurig, als ich deine Kleidung sah, und wie du wohnst und was du ißt. Aber jetzt sehe ich ein, daß auch das wieder einmal dumm von mir war; denn wenn du nur wolltest, so könntest du jetzt mit einem Schlage alles durch deinen Verstand und durch dein Talent erreichen. Aber du willst das vorläufig nur nicht und bist mit weit wichtigeren Dingen beschäftigt …«

»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«

»Nein, Rodja. Sie geht jetzt sehr oft fort und läßt mich allein. Dmitrij Prokofjitsch kommt häufig her und sitzt ein Weilchen bei mir; dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er spricht immer von dir; der liebt und schätzt dich sehr, lieber Sohn. Was deine Schwester angeht, so kann ich von ihr nicht sagen, daß sie gerade respektlos gegen mich wäre. Ich beklage mich nicht über sie. Sie hat eben ihren eigenen Charakter und ich den meinigen. Sie hat jetzt irgendwelche Geheimnisse vor mir; na, ich meinerseits habe vor euch keine Geheimnisse. Ich bin ja natürlich der festen Überzeugung, daß Dunja ein sehr kluges Mädchen ist und außerdem mich und dich liebt, … aber ich weiß wirklich nicht, welchen Ausgang das alles noch nehmen wird. Zum Beispiel jetzt: du hast mich glücklich gemacht, Rodja, dadurch daß du hergekommen bist; aber sie ist durch ihre ewigen Spaziergänge dieser Freude verlustig gegangen. Wenn sie wiederkommt, will ich ihr aber sagen: ›Als du weg warst, ist dein Bruder hier gewesen; aber du, wo hast du wieder die Zeit verbracht?‹ Verwöhne mich nur auch nicht zu sehr, Rodja: wenn du kommen kannst, so komm; kannst du nicht, nun, dann ist eben nichts zu machen, dann muß ich warten. Ich weiß ja doch, daß du mich liebst, und das genügt mir. Siehst du, ich werde deine Abhandlungen lesen und von allen Leuten etwas über dich hören, und ab und zu kommst du auch selbst einmal, um mich zu besuchen; was will ich mehr? Du bist ja auch jetzt gekommen, um deiner Mutter eine Freude zu machen; das sehe ich ja …«

Hier brach Pulcheria Alexandrowna plötzlich in Tränen aus.

»Da weine ich schon wieder! Achte nicht auf mich Närrin! Ach Gott, was sitze ich denn hier!« schrie sie und sprang auf. »Es ist ja Kaffee da, und ich setze dir keinen vor! Ja, ja, da sieht man eben, daß alte Frauen immer nur an sich selbst denken. Sofort, sofort!«

»Lassen Sie, lassen Sie, liebe Mama, ich gehe gleich wieder. Darum bin ich nicht gekommen. Bitte, hören Sie mich an.«

Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern ein paar Schritte näher zu ihm.

»Liebe Mama, was auch geschehen mag, was Sie auch über mich hören mögen, was man Ihnen auch über mich sagen mag – werden Sie mich trotzdem so lieb behalten wie jetzt?« fragte er so recht aus überquellendem Herzen, ohne seine Worte zu bedenken und abzuwägen.

»Aber Rodja, Rodja, was ist mit dir? Wie kannst du nur so fragen! Und wer wird mir denn auch etwas Ungünstiges über dich sagen? Ich würde es ja auch niemandem glauben; wer mit so etwas zu mir käme, dem würde ich einfach die Tür weisen.«

»Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie immer geliebt habe, und ich bin jetzt froh, daß wir beide allein sind; ja, ich bin sogar froh, daß Dunjetschka nicht hier ist«, fuhr er in demselben herzlichen Tone fort. »Ich bin hergekommen, um Ihnen frei und offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich werden sollten, Sie doch überzeugt sein können, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt als sich selbst und daß alles, was Sie von mir gedacht haben, als wäre ich hartherzig und hätte Sie nicht mehr lieb, daß das alles unrichtig ist. Ich werde nie aufhören, Sie zu lieben … Nun aber genug; ich glaubte, Ihnen dies sagen und damit beginnen zu müssen …«

Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, drückte ihn an ihre Brust und weinte still.

»Ich weiß nicht, was mit dir ist, Rodja«, sagte sie endlich. »Ich habe die ganze Zeit her gedacht, wir wären dir einfach langweilig geworden; jetzt aber sehe ich aus allem, was du sagst, daß dir ein großes Leid bevorsteht und du deshalb so bekümmert bist. Ich habe das schon lange geahnt, Rodja. Verzeih mir, daß ich davon angefangen habe; aber ich denke immerzu daran und kann keine Nacht schlafen. Die letzte Nacht hat auch deine Schwester fortwährend phantasiert und immer von dir gesprochen. Ich habe einige Worte davon verstanden, konnte aber nicht daraus klug werden. Den ganzen Vormittag bin ich umhergegangen wie eine zum Tode Verurteilte; ich erwartete etwas, ahnte etwas, und nun ist es eingetreten! Rodja, Rodja, wo willst du hin? Willst du vielleicht irgendwohin reisen?«

»Ja, ich verreise.«

»Das habe ich mir doch gedacht! Aber da könnte ich doch mit dir reisen, wenn du mich brauchen kannst. Und Dunja auch; sie hat dich lieb, sehr lieb; auch Sofja Semjonowna kann ja in Gottes Namen mit uns fahren, wenn es nötig ist; siehst du, ich will sie gern an Tochter Statt aufnehmen. Dmitrij Prokofjitsch wird uns behilflich sein, daß wir alle zusammen rechtzeitig fertig werden … Aber … wohin willst du denn reisen?«

»Leben Sie wohl, liebe Mama.«

»Wie? Heute schon?« rief sie erschrocken, als sollte sie ihn für immer verlieren.

»Ich muß; ich habe keine Zeit mehr; es ist nicht aufzuschieben.«

»Kann ich dich denn nicht begleiten?«

»Nein; aber knien Sie nieder und beten Sie für mich. Vielleicht findet Ihr Gebet Erhörung.«

»Komm, ich will dich bekreuzigen und segnen! So! So! O Gott, was sollen wir nur tun!«

Ja, er war froh, sehr froh, daß niemand weiter da war, daß er mit der Mutter allein war. Es war, als ob im Rückschlage von dieser ganzen schrecklichen Zeit sein Herz nun auf einmal weich geworden wäre. Er fiel vor ihr nieder, er küßte ihre Füße; weinend hielten sie beide einander umschlungen. Und nun war sie nicht mehr erstaunt und fragte ihn nach nichts mehr. Es war ihr schon lange klar geworden, daß mit ihrem Sohne etwas Schreckliches vorging und nun ein furchtbarer Augenblick für ihn heranrückte.

»Rodja, mein lieber, mein Erstgeborener«, sagte sie schluchzend, »jetzt bist du wieder so, wie du als kleiner Knabe warst; da kamst du ebenso zu mir und umarmtest mich und küßtest mich. Damals, als noch dein Vater lebte und er und ich zusammen darbten, war schon allein das ein Trost für uns, daß wir dich um uns hatten; und als ich deinen Vater begraben hatte, wie oft habe ich da an seinem Grabe dich ebenso umschlungen gehalten und geweint! Und daß ich jetzt schon so lange weine, das kommt daher, daß mein Mutterherz dein Unglück geahnt hat. So wie ich dich damals zum ersten Male erblickt hatte (erinnerst du dich? am Abend, gleich nachdem wir hier angekommen waren), da erriet ich gleich alles schon aus deinem Blicke, und es gab mir gleich einen Stich ins Herz; und heute, als ich dir aufmachte, da sah ich – ›Jetzt‹, dachte ich, ›ist sicher die verhängnisvolle Stunde gekommen!‹ Rodja, Rodja, du wirst doch nicht jetzt gleich wegreisen?«

»Nein.«

»Du kommst noch einmal her?«

»Ja, … ich komme.«

»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich ja nicht zu viel fragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf; aber nur ein paar kleine Wörtchen sage mir: reisest du weit von hier fort?«

»Sehr weit.«

»Was hast du denn dort? Bekommst du da ein Amt? Beginnst du da deine Laufbahn?«

»Ich nehme hin, was Gott mir sendet … Beten Sie nur für mich …«

Raskolnikow ging zur Tür; aber sie hielt ihn fest und schaute ihm mit einem verzweiflungsvollen Blick in die Augen. Ihr Gesicht war ganz entstellt von Angst.

»Nun laß es genug sein, liebe Mama!« sagte Raskolnikow und bereute tief, daß er auf den Gedanken gekommen war, hierher zu gehen.

»Du gehst doch nicht für immer fort? Doch noch nicht für immer? Du wirst doch noch einmal herkommen? Kommst du morgen her?«

»Ja, ich komme, ich komme! Leben Sie wohl!«

Endlich riß er sich los.

Der Abend war frisch, warm und heiter; das Wetter hatte sich seit dem Vormittage aufgeklärt. Raskolnikow ging nach seiner Wohnung; er eilte. Vor Sonnenuntergang wollte er alles erledigt haben. Bis dahin wollte er mit niemand mehr Zusammensein. Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja von dem Samowar, mit dem sie beschäftigt war, aufschaute, ihn aufmerksam anblickte und mit den Augen verfolgte. ›Es wird doch nicht etwa jemand bei mir sein?‹ dachte er. Der Gedanke an Porfirij Petrowitsch fuhr ihm durch den Kopf und erregte ihm heftigen Widerwillen. Aber als er zu seinem Zimmer gelangt war und die Tür öffnete, erblickte er Dunja. Sie saß ganz allein, tief in Gedanken versunken, da und mochte schon lange auf ihn gewartet haben. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erschrak, erhob sich langsam vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr starr auf ihn gerichteter Blick drückte Angst und untröstlichen Kummer aus. Schon allein an diesem Blicke erkannte er sofort, daß sie alles wußte.

»Soll ich zu dir hereinkommen, oder soll ich wieder weggehen?« fragte er unsicher.

»Ich habe den ganzen Tag bei Sofja Semjonowna gesessen; wir haben dort beide auf dich gewartet. Wir dachten, du würdest sicher dorthin kommen.«

Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich völlig erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich bin etwas schwach, Dunja, sehr müde; und doch möchte ich gern, wenigstens für diese Minute, meiner Kraft vollständig mächtig sein.«

Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

»Wo bist du denn die ganze Nacht gewesen?«

»Ich kann mich nicht mehr recht erinnern. Siehst du, Schwester, ich wollte zu einem definitiven Entschlusse gelangen und bin lange Zeit an der Newa auf und ab gegangen; daran erinnere ich mich. Ich wollte gleich dort ein Ende machen; aber … ich konnte mich nicht dazu entschließen …«, flüsterte er und sah dabei Dunja wieder mißtrauisch an.

»Gott sei Dank! Und wie wir beide, Sofja Semjonowna und ich, gerade das gefürchtet haben! Also hast du den Glauben an das Leben doch noch nicht verloren; Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Raskolnikow lächelte bitter.

»Diesen Glauben hatte ich freilich nicht; aber ich bin soeben bei unserer Mutter gewesen, und wir haben uns umarmt und zusammen geweint. Ich erhoffe vom Leben nichts mehr; aber doch habe ich sie gebeten, für mich zu beten. Gott weiß, wie das alles zusammenstimmt, Dunjetschka; ich begreife nichts davon.«

»Du bist bei der Mutter gewesen? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja erschrocken. »Hast du es wirklich übers Herz gebracht, es ihr zu sagen?«

»Nein, ich habe es ihr nicht gesagt, … nicht mit eindeutigen Worten; aber sie hat manches davon durchschaut. Sie hat in der Nacht gehört, wie du im Traum gesprochen hast. Ich bin überzeugt, daß sie bereits die Hälfte versteht. Ich habe vielleicht übel daran getan, daß ich zu ihr gegangen bin. Ich könnte eigentlich selbst nicht recht sagen, warum ich es getan habe. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja!«

»Du ein gemeiner Mensch und bist doch willens, hinzugehen und das Leid auf dich zu nehmen! Du willst doch hingehen?«

»Ja, ich will hingehen. Sogleich. Um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich schon ertränken, Dunja; aber als ich schon am Wasser stand, dachte ich: ›Hast du dich bis jetzt für stark gehalten, so darfst du dich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten.‹ War das Stolz, Dunja?«

»Ja, das war Stolz, Rodja.«

Es war, als leuchtete ein Feuer in seinen matten Augen auf; er schien sich darüber zu freuen, daß er noch stolz sein konnte.

»Und du glaubst nicht, Schwester, daß ich einfach Angst vor dem Wasser hatte?« fragte er und blickte ihr mit einem entstellenden Lächeln ins Gesicht.

»Ach, Rodja, hör auf!« rief Dunja bitter.

Sie schwiegen etwa zwei Minuten lang. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte auf den Fußboden; Dunja stand am anderen Ende des Tisches und betrachtete ihn mit tiefem Mitleide. Plötzlich stand er auf:

»Es ist schon spät, es wird Zeit! Ich gehe gleich hin und zeige mich an. Aber warum ich das tue, das weiß ich nicht.«

Große Tränen liefen über Dunjas Wangen.

»Du weinst, Schwester? Kannst du es über dich gewinnen, mir die Hand zu geben?«

»Hast du daran gezweifelt?«

Sie umarmte ihn innig.

»Machst du nicht dadurch, daß du hingehst und dich dem Leide darbietest, dein Verbrechen schon zur Hälfte wieder gut?« rief sie, indem sie ihn fest an sich drückte und küßte.

»Mein Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er auf einmal in einer Art von plötzlichem Wutanfall. »Daß ich eine garstige, gemeinschädliche Laus getötet habe, eine alte Wucherin, die niemandem etwas nütze war, für deren Ermordung einem eigentlich viele Sünden vergeben werden müßten, die armen Leuten das Lebensblut aussog, das soll ein Verbrechen sein? Ich halte es nicht dafür und habe gar nicht vor, es wiedergutzumachen. Warum schreit man mir denn von allen Seiten zu: ›Ein Verbrechen, ein Verbrechen!‹ Jetzt erst erkenne ich klar, wie grundtöricht mein Kleinmut war, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, ganz unnötigerweise diese Schande auf mich zu nehmen! Lediglich weil ich ein minderwertiger, talentloser Mensch bin, habe ich mich dazu entschlossen, und vielleicht auch noch, weil ich dadurch auf einen Vorteil spekuliere, wie mir das dieser … Porfirij … nahegelegt hat! …«

»Bruder, Bruder! Was redest du da! Du hast doch Blut vergossen!« rief Dunja voller Verzweiflung.

»Blut vergießen sie alle«, fiel er ihr fast rasend ins Wort. »Blut wird in der Welt vergossen massenhaft wie ein Wasserfall und ist immer so vergossen worden; Blut wird vergossen wie Champagner, und für das Blutvergießen wird man auf dem Kapitol gekrönt und nachher ein Wohltäter der Menschheit genannt. Mach doch nur die Augen auf und sieh genauer hin! Ich selbst wollte den Menschen Gutes erweisen und hätte hundert, tausend gute Taten vollbracht zum Ausgleich für diese eine Dummheit, die nicht einmal eine Dummheit war, sondern lediglich eine Ungeschicklichkeit; denn der ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt nach dem Mißlingen aussieht … (was mißlingt, sieht immer dumm aus!). Durch diese Dummheit wollte ich mir nur eine unabhängige Position schaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel erlangen, und später wäre dann alles durch einen unverhältnismäßig viel größeren Nutzen aufgewogen worden … Aber meine Kraft hat nicht einmal für den ersten Schritt ausgereicht, weil ich eben nur so ein Lump bin. Das ist der Kernpunkt! Ich kann die Sache nicht von eurem Standpunkte aus ansehen; wäre es mir gelungen, so würde man mich bekränzen; aber jetzt muß ich in den Kerker!«

»Aber die Sache liegt doch anders, ganz anders! Bruder, was redest du da nur!«

»Aha, es war wohl nicht die richtige Form, keine ästhetisch schöne Form! Nun, ich kann schlechterdings nicht absehen, warum es eine anständigere Form sein soll, wenn man die Menschen mit Bomben oder mittelst einer regulären Belagerung ums Leben bringt. Die ängstliche Rücksicht auf die Ästhetik ist das erste Zeichen von Schwäche! … Niemals, niemals habe ich das klarer begriffen als jetzt, und weniger als je verstehe ich, worin denn mein Verbrechen bestehen soll! Niemals, niemals war ich fester in meiner Überzeugung als jetzt!«

Sein blasses, abgemagertes Gesicht hatte ordentlich Farbe gewonnen. Aber als er den letzten Satz sprach, begegnete sein Blick unversehens dem Blicke Dunjas, und er las darin so viel qualvolles Mitleid mit ihm, daß er unwillkürlich wieder zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz seiner schönen Theorien diese beiden armen Frauen unglücklich gemacht hatte; er blieb immer doch die Ursache ihres Leides.

»Dunja, Liebe! Bin ich schuldig, so vergib mir (freilich, wenn ich wirklich schuldig bin, so kann ich eigentlich gar keine Vergebung finden). Leb wohl! Wir wollen nicht miteinander streiten! Es ist Zeit für mich, höchste Zeit. Folge mir nicht, ich bitte dich dringend; ich muß noch jemand aufsuchen … Geh jetzt und setze dich gleich zu unserer Mutter. Darum bitte ich dich inständig! Das ist meine letzte, größte Bitte an dich. Weiche diese ganze Zeit über nicht von ihr; ich habe sie in einer Unruhe verlassen, die sie kaum überstehen wird: sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleibe um sie. Rasumichin wird euch eine Stütze sein; ich habe ihn darum gebeten … Weine nicht um mich; ich werde mich bemühen, mannhaft und ehrenhaft zu sein mein ganzes Leben lang, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht hörst du noch einmal meinen Namen. Ich werde euch keine Schande machen, das sollst du sehen; ich werde schon noch zeigen, daß ich … Jetzt vorläufig auf Wiedersehen!« schloß er hastig, da er bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen eigentümlichen Ausdruck in Dunjas Augen bemerkte. »Warum weinst du denn so? Weine nicht, weine nicht; wir trennen uns ja nicht für immer! … Ach ja, warte, das hatte ich vergessen!«

Er trat an den Tisch, ergriff ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein kleines Porträt heraus, das zwischen den Blättern lag. Es war ein auf Elfenbein gemaltes Aquarell und stellte die Tochter seiner Wirtin dar, seine frühere Braut, die am Fieber gestorben war, eben jenes seltsame junge Mädchen, das in ein Kloster hatte gehen wollen.

Etwa eine Minute lang betrachtete er dieses ausdrucksvolle, kränkliche Gesichtchen; dann küßte er das Bild und reichte es Dunja hin.

»Mit diesem Mädchen habe ich viel auch über meine Ideen gesprochen, mit ihr allein«, sagte er, in Nachsinnen verloren. »Dieser treuen Seele habe ich viel von dem mitgeteilt, was später in so häßlicher Weise zur Wirklichkeit geworden ist. Beunruhige dich nicht«, wandte er sich an Dunja, »sie stimmte mir nicht bei, ebensowenig wie du, und ich freue mich, daß sie nicht mehr am Leben ist. Die Hauptsache ist, daß jetzt alles einen neuen Anfang nimmt, mein ganzes bisheriges Dasein zerbrochen und beseitigt wird«, rief er plötzlich, wieder in seine verzweifelte Stimmung zurücksinkend, »mein ganzes bisheriges Dasein! Aber bin ich auch dazu vorbereitet? Ist das auch mein eigener Wille? Es heißt, es sei notwendig zu meiner Prüfung! Aber wozu, wozu all diese sinnlosen Prüfungen? Wozu das? Werde ich denn nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit, niedergebeugt durch die Qualen und das stumpfsinnige Leben, ein vorzeitiger, kraftloser Greis, werde ich denn dann ein besseres Verständnis haben als jetzt? Und wozu soll ich dann noch leben? Warum willige ich denn jetzt ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein Lump bin, als ich heute im Morgengrauen an der Newa stand!«

Endlich gingen sie beide hinaus. So schwer es ihr der Bruder machte. Dunja liebte ihn dennoch! Sie ging weg; nachdem sie aber fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzusehen. Sie konnte ihn noch erblicken. Und als er an die Straßenecke gelangt war, wandte er sich gleichfalls um, und ihre Blicke trafen sich zum letzten Male. Sowie er jedoch bemerkte, daß sie nach ihm sah, winkte er ihr ungeduldig, ja ärgerlich mit der Hand, sie möchte weitergehen, und bog selbst rasch um die Ecke.

›Ich habe einen schlechten Charakter, das sehe ich wohl‹, dachte er eine Minute darauf, indem er sich seiner Handbewegung gegen Dunja schämte. ›Aber weshalb lieben mich denn meine Mutter und meine Schwester so, wenn ich es nicht verdiene? Ach, hätte ich doch allein dagestanden, und hätte niemand mich geliebt, und hätte ich selbst nie jemand geliebt! Dann wäre das alles nicht geschehen! Ich möchte wohl wissen, ob diese bevorstehenden fünfzehn oder zwanzig Jahre meine Seele so niederbeugen werden, daß ich dann demütig vor den Leuten winsele und mich selbst fortwährend einen Räuber nenne. Jedenfalls! Darum eben schicken sie mich ja jetzt nach Sibirien; gerade das bezwecken sie … Da rennen nun alle die Menschen auf den Straßen hin und her, und jeder von ihnen ist schon seiner ganzen Charakteranlage nach ein Schurke und Räuber, ja noch Schlimmeres: ein Idiot! Aber das Gericht sollte einmal versuchen, mir die Verschickung nach Sibirien zu ersparen – da würden sie alle aus der Haut fahren vor edler Entrüstung! Oh, wie ich sie alle hasse!‹

Er versank in Nachdenken über die Frage, durch welchen Entwicklungsprozeß es wohl dahin kommen könne, daß er sich schließlich vor allen diesen Menschen widerspruchslos demütige, sich aus Überzeugung demütige. ›Nun ja‹, sagte er sich, ›warum sollte es denn auch nicht dahin kommen? Gewiß, das muß ja so sein. Als ob zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes einen Menschen nicht gründlich mürbe machen könnten! Steter Tropfen höhlt den Stein. Aber wozu, wozu soll ich denn dann nach alledem noch weiterleben? Warum gehe ich jetzt hin, wenn ich doch selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, wie es im Buche steht, und nicht anders!‹

Er legte sich diese Frage seit dem vorhergehenden Abend vielleicht schon zum hundertsten Male vor; aber er ging dennoch hin.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 39

VIII

Als er zu Sonja ins Zimmer trat, begann es schon zu dämmern. Den ganzen Tag über hatte Sonja in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet, zusammen mit Dunja. Diese war schon am Morgen zu ihr gekommen, da sie sich der Angabe Swidrigailows erinnerte, daß Sonja über Raskolnikows Tat alles wisse. Wir beabsichtigen nicht, das Gespräch der beiden Mädchen in seinen Einzelheiten zu schildern, auch nicht, wie sie miteinander weinten und wie sie einander seelisch näherrückten. Dunja nahm von diesem Zusammensein wenigstens den einen Trost mit, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: zu Sonja war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; und sie war auch entschlossen, ihm zu folgen, wohin auch immer das Schicksal ihn führen würde. Dunja fragte danach gar nicht erst; sie wußte, daß es so sein werde. Sie blickte auf Sonja sogar mit einer Art von Ehrfurcht und setzte diese am Anfang durch ihr respektvolles Benehmen stark in Verwirrung. Sonja war nahe daran, in Tränen auszubrechen; sie hielt sich ihrerseits für unwürdig, Dunja auch nur anzublicken. Das schöne Bild Dunjas, wie diese bei ihrer ersten Begegnung in Raskolnikows Zimmer sich so höflich und achtungsvoll von ihr verabschiedete, hatte sich seitdem ihrer Seele für das ganze Leben eingeprägt, als eine der schönsten, beglückendsten Erinnerungen.

Dunja hatte es schließlich nicht länger aushalten können und war von Sonja weggegangen, um ihren Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie meinte immer, dorthin würde er doch zuerst kommen. Als Sonja allein geblieben war, begann sie sich sogleich mit dem Gedanken zu ängstigen, er werde vielleicht wirklich Selbstmord begehen. Dieselbe Befürchtung hegte auch Dunja. Aber die beiden Mädchen hatten den ganzen Tag über mit allen möglichen Gründen wetteifernd einander zu überzeugen gesucht, daß dies ausgeschlossen sei, und hatten sich ruhiger gefühlt, solange sie beisammen waren. Jetzt aber, sowie sie sich getrennt hatten, hatte sowohl die eine wie die andere keinen anderen Gedanken. Sonja erinnerte sich, wie Swidrigailow am Vortage zu ihr gesagt hatte, Raskolnikow habe nur zwei Wege vor sich: Sibirien oder –. Zudem kannte sie seine Eitelkeit, seinen Hochmut, sein Ehrgefühl und seinen Unglauben.

›Sind denn wirklich Kleinmut und Furcht vor dem Tode die einzigen Beweggründe, die ihn veranlassen können weiterzuleben?‹ dachte sie schließlich verzweiflungsvoll.

Unterdes war die Sonne schon tief gesunken. Sonja stand traurig am Fenster und blickte unverwandt hinaus; aber da war nichts zu sehen als die ungetünchte, fensterlose Seitenmauer des vorspringenden Nachbarhauses. Endlich, als sie von dem Tode des Unglücklichen schon ganz fest überzeugt war, trat er zu ihr ins Zimmer.

Ein Freudenschrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie ihm forschend ins Gesicht blickte, wurde sie plötzlich blaß.

»Nun ja«, sagte Raskolnikow lächelnd, »ich komme, mir dein Kreuz zu holen, Sonja. Du hast mich ja selbst auf den Kreuzweg geschickt; ist dir etwa jetzt, wo es soweit ist, bange geworden?«

Sonja blickte ihn bestürzt an. Dieser Ton erschien ihr so seltsam; ein Frostzittern lief über ihren Körper hin; aber einen Augenblick darauf durchschaute sie es schon, daß dieser Ton und diese Worte erkünstelt waren. Auch sah er, während er zu ihr sprach, nach einer Ecke hin und vermied es anscheinend, ihr ins Gesicht zu blicken.

»Siehst du, Sonja, ich habe mir gesagt, daß es so für mich wohl auch am vorteilhaftesten sein wird. Es kommt nämlich in Betracht … Aber es dauert zu lange, das auseinanderzusetzen, und es hat auch keinen Zweck. Weißt du, mich ärgert bloß eines. Was mich ärgert, ist, daß alle diese dummen, viehischen Fratzen mich sofort umringen und mit ihren Glotzaugen anstarren werden, daß diese Bande mir ihre dummen Fragen vorlegen wird, auf die ich dann Antwort geben muß, und daß die Leute mit Fingern auf mich zeigen werden … Pfui Teufel! Weißt du, ich werde nicht zu Porfirij gehen; den habe ich satt bekommen. Ich will lieber zu meinem Freunde Schießpulver gehen; den werde ich in Erstaunen versetzen; da werde ich einen ganz eigenartigen Effekt erzielen. Ich müßte nur mehr Kaltblütigkeit dabei zeigen; aber ich bin in der letzten Zeit gar zu reizbar geworden. Kannst du das glauben: ich habe soeben meiner Schwester beinahe mit der Faust gedroht, bloß weil sie sich umwandte, um mir noch einen letzten Blick zuzuwerfen. Ein ganz abscheulicher Zustand! Ja, ja, so weit ist es mit mir gekommen! Nun also, wo hast du die Kreuze?«

Er hatte sich selbst gar nicht in der Gewalt. Nicht einen Augenblick konnte er ruhig auf einem Flecke stehen, konnte seine Aufmerksamkeit nicht auf einen einzelnen Gegenstand konzentrieren; seine Gedanken hüpften einer über den anderen weg; er verwirrte sich beim Reden; seine Hände zitterten leicht.

Sonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze heraus, eines aus Zypressenholz und ein kupfernes, bekreuzigte sich selbst, bekreuzigte ihn und hängte ihm das aus Zypressenholz auf die Brust.

»Das ist also nun das Symbol dafür, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he-he! Als hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, wie es gewöhnliche Leute tragen; das kupferne hat also Lisaweta gehört; das nimmst du nun für dich; zeig es doch mal her! Also das hat Lisaweta früher getragen … Ich besinne mich auch auf zwei ähnliche solche Kreuze und ein silbernes Heiligenbildchen. Ich warf sie damals dem alten Weibe auf die Brust. Die würden mir jetzt zupaß kommen, wahrhaftig, die sollte ich mir umhängen … Aber ich schwatze und schwatze und vergesse den Zweck meines Besuches; ich bin so zerstreut! … Siehst du, Sonja, ich bin eigentlich bloß hergekommen, um es dir vorher mitzuteilen, damit du es weißt … Also das war der ganze Zweck … Bloß deshalb bin ich hergekommen. (Hm! Ich dachte übrigens, ich würde dir noch mehr zu sagen haben.) Du hast ja doch selbst gewollt, daß ich hingehen solle; na, da werde ich nun also im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird erfüllt werden. Aber warum weinst du denn? Du auch? Hör doch auf, laß es genug sein; ach, wie schwer ist das alles für mich!«

Indes ward doch bei ihm das Mitleid rege; sein Herz zog sich bei ihrem Anblicke schmerzlich zusammen. ›Auch die weint? Auch die? Warum?‹ dachte er bei sich. ›Was bin ich ihr? Warum weint sie? Warum ist sie um mich besorgt wie die Mutter und Dunja? Sie wird wohl meine Kinderfrau werden!‹

»Bekreuzige dich und bete doch nur ein einziges Mal!« bat Sonja mit zitternder, schüchterner Stimme.

»Oh, meinetwegen, soviel du nur wünschest! Und ich tue es von Herzen, Sonja, von Herzen …«

Indessen wollte er eigentlich etwas ganz anderes sagen.

Er bekreuzigte sich mehrere Male. Sonja ergriff ihr Tuch und legte es sich um den Kopf. Es war ein grünes Tuch von drap de dame, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow damals gesprochen hatte, das Familientuch. Eine flüchtige Erinnerung daran kam Raskolnikow in den Sinn; aber er fragte weiter nicht. Er begann sich nun seiner schrecklichen Zerstreutheit und ungewöhnlichen Aufregung bewußt zu werden und bekam einen großen Schreck darüber. Auch überraschte es ihn, daß Sonja mit ihm gehen wollte.

»Was hast du denn? Wo willst du hin? Bleib nur hier, bleib hier! Ich gehe allein!« rief er ängstlich und ärgerlich und ging beinahe erbost zur Tür. »Was soll ich denn da mit einer ganzen Eskorte!« murmelte er beim Hinausgehen.

Sonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht einmal Abschied von ihr genommen und dachte schon gar nicht mehr an sie; nur ein peinigender, rebellischer Zweifel versetzte seine Seele in arge Unruhe.

›Ist das auch wirklich das richtige?‹ dachte er wieder, während er die Treppe hinunterging. ›Kann ich nicht noch einhalten und alles wieder umändern … und diesen Gang unterlassen?‹

Aber er ging trotzdem. Es kam ihm auf einmal die bestimmte Empfindung, daß es zwecklos sei, sich weitere Fragen vorzulegen. Als er auf die Straße hinaustrat, fiel ihm ein, daß er von Sonja nicht Abschied genommen hatte und daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche stehengeblieben war und nicht gewagt hatte, sich zu rühren, nachdem er sie so angefahren hatte. Bei dieser Erinnerung stockte einen Augenblick sein Schritt. Aber gleichzeitig leuchtete in seinem Gehirn grell noch ein anderer Gedanke auf, der nur auf diesen Zeitpunkt gewartet zu haben schien, um ihn vollständig aus der Fassung zu bringen.

›Nun, warum, wozu bin ich jetzt eben bei ihr gewesen? Ich habe zu ihr gesagt, mein Besuch hätte einen Zweck; was hatte er denn für einen Zweck? Überhaupt gar keinen! Ihr mitzuteilen, daß ich nun hingehe, nicht wahr? Diese Mitteilung war auch höchst nötig! Liebe ich etwa dieses Mädchen? Doch wohl nicht! Ich habe sie ja soeben wie einen Hund von mir gewiesen. War es mir denn ein wirkliches Bedürfnis, von ihr das Kreuz zu bekommen? Oh, wie tief bin ich gesunken! Nein, ich hatte das Bedürfnis, ihre Tränen und ihre Angst zu sehen; ich wollte sehen, wie ihr das Herz weh tut und wie sie leidet! Ich hatte das Bedürfnis, mich an irgend etwas anzuklammern, die Ausführung meines Entschlusses noch hinzuzögern, noch einen Menschen zu sehen! Und ich, ich habe es gewagt, so gewaltige Hoffnungen auf mich zu setzen, mich so phantastischen Träumereien über meine Zukunft hinzugeben – und bin ein armseliges, wertloses Subjekt, ein Lump, ein Lump!‹

Er schritt die Kanalstraße entlang und hatte nicht mehr weit bis zu seinem Ziele. Als er aber bis zur Brücke gekommen war, blieb er stehen, bog zur Seite ab auf die Brücke und ging nach dem Heumarkte.

Begierig schaute er nach rechts und nach links und richtete mit Anstrengung seine Blicke auf einen jeden Gegenstand, konnte aber mit einer Aufmerksamkeit bei keinem ausharren; alles entglitt ihm sofort wieder. ›In einer Woche, in einem Monat werde ich im Gefängniswagen über diese Brücke fahren; mit welchen Gefühlen werde ich dann auf diesen Kanal blicken? Ich sollte mir sein Bild bis dahin einprägen!‹ fuhr es ihm durch den Kopf. ›Dieses Ladenschild da, mit welchen Gefühlen werde ich dann diese selben Buchstaben lesen? In der Aufschrift ist ein orthographischer Fehler, ein falsches a; ich möchte mir diesen Buchstaben a merken und ihn nach einem Monat wieder ansehen; mit welchen Gefühlen werde ich es dann wohl tun? Was werde ich dann empfinden und denken? … Mein Gott, wie unwürdig und gemein das alles ist, … daß ich mich um solche Dinge jetzt noch kümmere! Freilich, dies alles ist auch wieder sehr interessant … in seiner Art … (Ha-ha-ha! Was kommen mir bloß für Gedanken in den Kopf!) Ich werde geradezu zum Kinde und tue vor mir selber groß. Na, aber warum schelte ich mich deswegen? Oh, oh! Was ist hier für ein Gedränge! Da, der dicke Kerl, der mich gestoßen hat (gewiß ein Deutscher), ob der wohl weiß, wen er gestoßen hat? Hier bettelt eine Frau mit einem Kinde; es ist doch interessant, daß sie mich für glücklicher hält als sich. Der Kuriosität halber sollte ich ihr etwas geben. Sieh, da hat sich ja noch ein Fünfkopekenstück in meiner Tasche erhalten; wie geht das zu? Da, nimm, Mütterchen, da!‹

»Gott lohne es Ihnen!« sagte die Bettlerin in weinerlichem Tone.

Er betrat den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, sehr unangenehm, sich zwischen dem Volk hindurchzudrängen; aber er ging geflissentlich dahin, wo das größte Gewühl war. Er hätte wer weiß was darum gegeben, allein zu sein; aber er fühlte selbst, daß er es nicht einen Augenblick allein würde aushalten können. Inmitten eines Volkshaufens vollführte ein Betrunkener seine Narrheiten: er versuchte fortwährend zu tanzen, fiel aber immer seitwärts auf die Erde. Ein dichter Kreis von Zuschauern umgab ihn. Raskolnikow drängte sich durch den Haufen hindurch, sah dem Betrunkenen ein Weilchen zu und lachte plötzlich kurz und schrill auf. Einen Augenblick darauf hatte er ihn bereits vergessen; ja, er sah ihn gar nicht mehr, wiewohl er die Augen auf ihn gerichtet hielt. Er trat schließlich zurück, ohne daß er sich bewußt gewesen wäre, wo er sich überhaupt befand; aber als er bis zur Mitte des Platzes gelangt war, ging plötzlich in seinem Innern eine Bewegung vor; eine bestimmte Empfindung ergriff ihn mit einem Male und nahm ihn mit Leib und Seele in ihren Bann.

Es waren ihm Sonjas Worte eingefallen: »Geh zu einem Kreuzwege, verbeuge dich vor allem Volke, küsse die Erde, weil du dich auch gegen sie versündigt hast, und sage laut zu der ganzen Welt: ›Ich bin ein Mörder!‹« Er zitterte am ganzen Körper bei dieser Erinnerung. Und bis zu einem solchen Grade hatte ihn die verzweifelte Angst und Unruhe dieser ganzen Zeit, und besonders der letzten Stunden, bereits mürbe gemacht, daß er sich mit einer wahren Begierde in diese reine, neue, kräftige Empfindung hineinstürzte. Wie ein Anfall war es plötzlich über ihn gekommen; es war, als hätte sich in seiner Seele ein Funke entzündet und dann mit gewaltiger Geschwindigkeit die Flamme ihn ganz und gar ergriffen. Sein ganzes Inneres wurde auf einmal weich, und die Tränen stürzten ihm hervor. An dem Flecke, wo er stand, fiel er auf den Boden.

Mitten auf dem Platze kniete er nieder, verbeugte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde glückselig und voll Wonne. Dann stand er auf und verbeugte sich ein zweites Mal.

»Na, der hat sich gehörig beduselt!« bemerkte neben ihm ein junger Bursche.

Die Leute lachten.

»Der geht nach Jerusalem, Brüder, und nimmt vorher von seinen Kindern und von seiner Heimat Abschied, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Petersburg und ihren Boden!« fügte ein etwas angetrunkener Kleinbürger hinzu.

»Es ist doch noch so ein junges Bürschchen!« meinte ein dritter.

»Einer aus den höheren Ständen!« bemerkte jemand mit ernster, ruhiger Stimme.

»Das kann man heutzutage nicht mehr unterscheiden, ob einer zu den höheren Ständen gehört oder nicht.«

Alle diese Ausrufe und Bemerkungen hielten Raskolnikow von Weiterem zurück, und die Worte: »Ich habe einen Mord begangen«, die ihm vielleicht schon auf den Lippen schwebten, erstickten ungesprochen. Er ertrug indessen alle diese Äußerungen des Publikums mit Ruhe und ging, ohne sich umzusehen, durch eine Seitengasse geradeswegs nach dem Polizeibureau. Unterwegs glaubte er einen Augenblick lang eine huschende Gestalt zu sehen; aber er wunderte sich darüber nicht; er hatte schon geahnt, daß es wohl so kommen werde. Während er sich auf dem Heumarkte zum zweiten Male bis zur Erde verneigte, hatte er bei einer zufälligen Wendung nach links in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten Sonja erblickt. Sie hatte sich dann vor ihm hinter einer der hölzernen Buden versteckt, die auf dem Platze standen. Also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidenswege begleitet! Raskolnikow fühlte und begriff in diesem Augenblicke für immer, daß Sonja jetzt lebenslänglich bei ihm bleiben und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, mochte ihn das Schicksal führen, wohin es wollte. Sein Herz erbebte …, aber da war er auch bereits an der verhängnisvollen Stelle angelangt …

Ziemlich gefaßten Mutes betrat er den Hof. Er mußte zum vierten Stockwerk hinaufsteigen.

›Vorläufig steige ich nur erst die Treppe hinauf‹, dachte er. Überhaupt hatte er die Vorstellung, als läge der Augenblick der Entscheidung noch in weiter Ferne, als bliebe ihm noch viel Zeit bis dahin und als könne er sich noch vieles überlegen.

Wieder derselbe Schmutz, dieselben Eierschalen auf der Wendeltreppe, wieder standen die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Qualm und übler Geruch herausdrang. Raskolnikow war seit jenem Tage nicht wieder hier gewesen. Die Beine waren ihm ganz taub geworden und knickten ein, gingen aber mechanisch weiter. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen und sein Äußeres in Ordnung zu bringen, damit er »als Mensch« eintreten könne. ›Aber wozu? Was hat das für Zweck?‹ dachte er plötzlich, als er sich seines Tuns bewußt wurde. ›Wenn ich doch einmal diesen Kelch leeren muß, ist es dann nicht ganz gleich, wie ich aussehe? Je garstiger, um so besser!‹ Unwillkürlich kam ihm in diesem Augenblicke die Gestalt des Polizeileutnants Ilja Petrowitsch Schießpulver in den Sinn. ›Soll ich wirklich zu dem hingehen? Könnte ich nicht vielleicht zu einem anderen gehen? Nicht vielleicht zum Revieraufseher Nikodim Fomitsch selbst? Wie wär’s, wenn ich gleich umkehrte und zu dem in die Wohnung ginge? Wenigstens wickelt sich die Sache dann mehr in privater Form ab … Nein, nein! Zu Leutnant Schießpulver, zu Leutnant Schießpulver! Muß ich den Kelch trinken, dann auch mit einem Male ganz …‹

Von Frost geschüttelt und sich kaum seiner selbst bewußt, öffnete er die Tür zum Bureau. Diesmal waren nur sehr wenige Leute darin; nur ein Hausknecht stand da und noch so ein Mann aus dem niederen Volke. Der Wächter blickte nicht einmal aus seinem Verschlage heraus. Raskolnikow ging weiter in das folgende Zimmer. ›Vielleicht ist es noch möglich, daß ich nichts davon sage‹, fuhr es ihm durch den Kopf. Hier schickte sich ein Schreiber in Zivil gerade an, seine Schreibarbeit am Pulte zu beginnen. In einer Ecke setzte sich noch ein anderer Schreiber zurecht. Sametow war nicht da. Nikodim Fomitsch war natürlich gleichfalls nicht anwesend.

»Ist niemand hier?« fragte Raskolnikow, sich an den Schreiber am Pulte wendend.

»Wen wünschen Sie zu sprechen?«

»Ah, ah, ah! ›Er sah ihn nicht, er hörte ihn nicht, aber er witterte den russischen Duft‹, … wie heißt es doch da im Märchen, … ich weiß nicht mehr genau! Ergebenster Diener!« rief auf einmal eine bekannte Stimme.

Raskolnikow begann zu zittern. Vor ihm stand Leutnant Schießpulver, der soeben aus dem dritten Zimmer hereingekommen war. ›Das ist mein Verhängnis‹, dachte Raskolnikow, ›warum muß der hier sein?‹

»Wollten Sie zu uns? Was führt Sie her?« rief Ilja Petrowitsch. Er war anscheinend in vorzüglicher und sogar ein wenig angeheiterter Stimmung. »Wenn es etwas Amtliches ist, so sind Sie etwas zu früh hergekommen. Ich selbst bin nur zufällig hier … Aber was in meinen Kräften steht … Übrigens, ich muß Ihnen gestehen, … wie war doch … wie war doch? Entschuldigen Sie …«

»Raskolnikow.«

»Na natürlich, Raskolnikow! Wie können Sie nur glauben, daß ich Ihren Namen vergessen hätte! So etwas müssen Sie von mir nicht denken … Rodion Ro… Ro… Rodionowitsch, so war es ja doch wohl?«

»Rodion Romanowitsch.«

»Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! So wollte ich ja auch sagen! Ich habe mich sogar mehrmals nach Ihnen erkundigt. Offen gestanden, es hat mir nachher aufrichtig leid getan, daß ich damals mit Ihnen so … Es ist mir später alles erklärt worden, und ich habe gehört, daß Sie ein junger Schriftsteller sind, sogar ein Gelehrter, … und daß Sie sozusagen am Anfange Ihrer Laufbahn … Du mein Gott, welcher Schriftsteller und Gelehrte hätte nicht am Anfange seiner Laufbahn seine Besonderheiten gehabt! Meine Frau und ich, wir schwärmen beide für Literatur, meine Frau sogar leidenschaftlich! … Für Literatur und Kunst! Aus anständiger Familie muß man natürlich sein; alles andere aber kann man durch Talent, Wissen, Verstand und Genie erreichen! Na, zum Beispiel ein Hut – was hat ein Hut für einen Wert? Ein Hut ist ein Topfdeckel; den kann ich mir im Laden von Zimmermann kaufen; aber was unter dem Hute steckt und vom Hute verborgen wird, das kann man nicht kaufen! … Offen gestanden, ich wollte sogar schon zu Ihnen gehen, um mich zu entschuldigen; aber ich dachte, Sie würden vielleicht … Aber ich vergesse ganz zu fragen: haben Sie wirklich ein Anliegen an uns? Ich höre, Ihre Angehörigen sind zu Ihnen hierher nach Petersburg gekommen?«

»Ja, meine Mutter und meine Schwester.«

»Ich habe sogar die Ehre und das Glück gehabt, Ihre Schwester kennenzulernen – eine sehr gebildete, reizende junge Dame. Offen gestanden, ich habe lebhaft bedauert, daß wir beide, Sie und ich, damals so hitzig wurden. Ein eigentümlicher Fall! Und daß ich Ihnen damals anläßlich Ihrer Ohnmacht so einen besonderen Blick zuwarf – nun, es hat sich ja nachher alles auf das glänzendste aufgeklärt! Es war von meiner Seite zu hitzig, Übereifer! Ihre Entrüstung ist mir durchaus verständlich. Ziehen Sie vielleicht infolge der Ankunft der Ihrigen in eine andere Wohnung?«

»N–nein, ich bin nur gekommen … Ich wollte nur fragen … Ich glaubte, ich würde Sametow hier finden.«

»Ach ja! Sie haben sich ja miteinander angefreundet; ich habe davon gehört. Na, Sametow ist nicht mehr bei uns; den finden Sie hier nicht mehr vor. Ja, diesen Alexander Grigorjewitsch Sametow haben wir verloren! Seit gestern ist er fort; er ist versetzt worden und hat sich bei der Gelegenheit mit allen gezankt, … in recht unhöflicher Weise. Ein windiges Kerlchen, weiter nichts; man hoffte ja, es würde etwas aus ihm werden; aber gehen Sie mir mit diesen Leuten, mit unserem brillanten jungen Nachwuchs! Er will da irgendein Examen ablegen; aber in unserem Fache ist das so: wenn man nur ein bißchen was hinschwatzt und mit ein paar großtönenden Phrasen um sich wirft, so hat man damit das ganze Examen bestanden. Dagegen Sie zum Beispiel oder Ihr Freund, Herr Rasumichin, Sie sind ja ganz andere Leute! Ihre Laufbahn liegt auf dem Gebiete der Wissenschaft, und kein Mißerfolg kann Sie beirren! Alle Genüsse des Lebens sind Ihnen sozusagen ein wesenloses Nichts; Sie sind ein Asket, ein Mönch, ein Einsiedler! … Ihr ein und alles sind die Bücher, die Feder hinter dem Ohr, gelehrte Untersuchungen – in solchen Regionen schwebt Ihr Geist! Teilweise bin ich selbst so … Haben Sie Livingstones Reiseberichte gelesen?«

»Nein.«

»Aber ich habe sie gelesen. Übrigens haben sich heutzutage die Nihilisten ganz gewaltig ausgebreitet; na, es ist ja auch begreiflich; was sind das jetzt für Zeiten? frage ich Sie. Übrigens, ich rede mit Ihnen so frei von der Leber weg, … Sie sind ja doch gewiß kein Nihilist! Antworten Sie aufrichtig, ganz aufrichtig!«

»N-nein …«

»Wissen Sie, reden Sie mit mir ganz offen; genieren Sie sich gar nicht; reden Sie, als ob Sie mit sich selbst sprächen! Das sind zwei Dinge, die ich sehr wohl zu sondern weiß: Dienst und … Sie haben gewiß gedacht, ich wollte sagen: Freundschaft; nein, da haben Sie doch falsch geraten! Nicht Freundschaft, sondern das Gefühl, daß man Bürger und Mensch ist, die Humanität und die Liebe zu Gott dem Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Persönlichkeit sein und ein Amt bekleiden, bin aber dabei doch verpflichtet, mich als Bürger und Mensch zu fühlen und mich danach zu benehmen … Sie erwähnten da vorhin Sametow. Sametow, der ist imstande, in einem unanständigen Lokal bei einem Glase Champagner oder Donwein eine Skandalszene so in französischem Genre zu veranstalten – ja, so einer ist Ihr Sametow! Ich dagegen glühe sozusagen von Freundestreue und hohen Gefühlen, und außerdem besitze ich ein gewisses Ansehen, habe einen Rang, bekleide ein Amt! Ich bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflicht als Bürger und Mensch; aber er, was ist er denn? möchte ich fragen. Ich wende mich an Sie als an einen Mann von hoher geistiger Bildung. Ja, und noch eins: auch diese Hebammen haben sich außerordentlich stark ausgebreitet.«

Raskolnikow zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Die Worte des Polizeileutnants, der offenbar eben erst vom Mittagstische gekommen war, vernahm er größtenteils nur als leere Töne, wie ein Geklapper und Gerassel. Aber einen Teil davon hatte er doch so einigermaßen verstanden; er blickte ihn fragend an und wußte nicht, worauf diese Bemerkung abzielte.

»Ich spreche von diesen jungen Mädchen mit dem kurzgeschnittenen Haar«, fuhr Ilja Petrowitsch redselig fort. »Ich habe ihnen aus eigener Erfindung den Namen Hebammen gegeben und finde, daß das eine sehr glückliche Bezeichnung ist. He-he! Sie drängen sich in die Hörsäle, sie studieren Anatomie; na, sagen Sie selbst, wenn ich krank werden sollte, würde ich dann nach einem jungen Mädchen schicken, um mich behandeln zu lassen? He-he!«

Ilja Petrowitsch lachte laut auf, höchst befriedigt von seinen eigenen Witzen.

»Es mag ja sein, daß da ein gewaltiger Bildungsdrang dahintersteckt; aber wenn sich einer nun die Bildung angeeignet hat, dann muß es auch damit sein Bewenden haben. Dann darf er doch seine Bildung nicht mißbrauchen. Dann darf er doch nicht anständige Personen beleidigen, wie es dieser Taugenichts, der Sametow, tut. Warum hat er mich beleidigt? frage ich Sie. Und noch eins: wie die Selbstmorde zugenommen haben, davon können Sie sich gar keinen Begriff machen. Diese ganze Sorte verbringt das letzte Geld und nimmt sich dann das Leben. Junge Mädchen, unreife Burschen, alte Männer … Heute früh ist wieder eine Anzeige eingegangen von dem Selbstmorde eines Herrn, der erst kürzlich nach Petersburg gekommen ist. Nil Pawlowitsch, he! Nil Pawlowitsch! Wie hieß doch der Gentleman, über den wir Anzeige bekamen, daß er sich in der Peterburgskaja erschossen hat?«

»Swidrigailow«, antwortete teilnahmslos eine heisere Stimme aus dem andern Zimmer.

Raskolnikow fuhr zusammen.

»Swidrigailow! Swidrigailow hat sich erschossen!« rief er.

»Wie? Kennen Sie diesen Swidrigailow?«

»Ja, … ich kenne ihn … Er ist erst kürzlich hier angekommen …«

»Na ja, er ist erst kürzlich angekommen, seine Frau war ihm gestorben, ein Mensch von ganz liederlichem Lebenswandel, und auf einmal erschießt er sich, und in einer so skandalösen Weise, daß man es sich gar nicht vorstellen kann, … hinterläßt in seinem Notizbuche ein paar Worte: er scheide aus dem Leben bei vollem Verstande und bitte, niemandem die Schuld an seinem Tode beizumessen. Der Mensch soll früher Geld gehabt haben. Woher kennen Sie ihn?«

»Ich … kannte ihn, … meine Schwester war Gouvernante in seiner Familie.«

»So, so, so … Da können Sie uns wohl über ihn etwas Näheres mitteilen. Sie haben vorher nichts davon geahnt?«

»Ich bin gestern noch mit ihm zusammengewesen, … er … trank Wein, … ich habe ihm nichts angemerkt.«

Raskolnikow hatte eine Empfindung, als sei eine schwere Last auf ihn niedergestürzt und drücke ihn zu Boden.

»Sie sind ja wieder ordentlich blaß geworden. Es ist hier bei uns aber auch so eine stickige Luft …«

»Ja, ich muß gehen, ich habe keine Zeit mehr« murmelte Raskolnikow. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe …«

»Oh, bitte sehr! Durchaus nicht der Fall! Ganz zu Ihren Diensten! Es ist mir ein Vergnügen gewesen; ich habe mich sehr gefreut.«

Ilja Petrowitsch reichte ihm sogar die Hand.

»Ich wollte eigentlich nur … nur zu Sametow …«

»Weiß wohl, weiß wohl; es ist mir ein Vergnügen gewesen.«

»Ich … habe mich sehr gefreut … Auf Wiedersehen!« sagte Raskolnikow lächelnd.

Er ging hinaus, taumelnd und schwindlig; er fühlte gar nicht, ob er noch auf den Beinen stand. Er stieg die Treppe hinunter, mit der rechten Hand sich gegen die Wand stützend. Es schien ihm, daß er von einem Hausknecht, der mit einem Buche in der Hand nach dem Bureau hinaufstieg und ihm auf der Treppe begegnete, gestoßen wurde und daß ein Hund in einem tieferen Stockwerk heftig bellte und eine Frau mit einem Mangelholz nach dem Tiere warf und schimpfte. Er kam unten an und trat auf den Hof hinaus. Hier auf dem Hofe, nicht weit vom Ausgange, stand starr und leichenblaß Sonja und blickte ihn scheu und verstört an. Er blieb vor ihr stehen. Schmerz, Qual und Verzweiflung malten sich auf ihrem Gesichte. Sie schlug die Hände zusammen. Ein häßliches, verlegenes Lächeln trat auf seine Lippen. So stand er eine kleine Weile lächelnd da; dann wandte er sich um und ging wieder hinauf nach dem Bureau.

Ilja Petrowitsch hatte sich hingesetzt und kramte in allerlei Akten. Vor ihm stand derselbe Hausknecht, der vorhin auf der Treppe Raskolnikow gestoßen hatte.

»Ah, ah, ah! Da sind Sie ja wieder! Haben Sie etwas hier liegenlassen? … Aber was ist Ihnen?«

Raskolnikow näherte sich ihm sachte mit blassen Lippen und starrem Blicke, trat dicht an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf und wollte etwas sagen; aber er vermochte es nicht; es wurden nur einige unzusammenhängende Laute.

»Ihnen ist nicht wohl. Einen Stuhl her! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!«

Raskolnikow ließ sich auf den Stuhl niedersinken, wandte aber die Augen von dem Gesichte des sehr unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht ab. Beide blickten einander etwa eine Minute lang an und warteten. Es wurde Wasser gebracht.

»Ich habe …«, begann Raskolnikow.

»Trinken Sie einen Schluck Wasser!«

Raskolnikow wies mit der Hand das Wasser zurück und sagte leise, in Absätzen, aber klar und deutlich:

»Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit einem Beile erschlagen und beraubt.«

Ilja Petrowitsch riß den Mund auf. Von allen Seiten kamen Beamte herbeigelaufen.

Raskolnikow wiederholte seine Selbstanzeige.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 4

IV

Der Brief seiner Mutter bereitete ihm heftige Qual. Hinsichtlich des wichtigsten und wesentlichsten Punktes hatte bei ihm keinen Augenblick ein Zweifel bestanden, auch nicht, als er noch mit dem Lesen beschäftigt gewesen war. Die Kernfrage war für ihn entschieden, und zwar endgültig entschieden. »Diese Heirat findet, solange ich lebe, nicht statt; hole diesen Herrn Lushin der Teufel!«

»Die ganze Sache ist ja doch so durchsichtig«, murmelte er, spöttisch lächelnd, vor sich hin und gab sich schon im voraus einem Gefühle des Triumphes wegen der glücklichen Durchsetzung seines Entschlusses hin. »Nein, Mama, nein, Dunja«, dachte er, »ihr könnt mich nicht täuschen! … Und da entschuldigen sie sich auch noch, daß sie nicht meinen Rat erbeten, sondern die Sache ohne mich entschieden haben! Unsinn! Sie denken, jetzt lasse sich die Sache nicht mehr vereiteln; aber wir werden ja sehen, ob das geht oder nicht geht. Und was für eine famose Ausflucht: Pjotr Petrowitsch, heißt es, ist von seinen Geschäften so stark in Anspruch genommen, daß er sogar seine Heirat nur mit Extrapost oder Schnellzug bewerkstelligen kann. Nein, Dunjetschka, ich durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir so viel zu sprechen vorhast. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht nachgedacht hast, während du im Zimmer auf und ab gingst, und um was du vor dem Bilde der Muttergottes von Kasan, das in Mamas Schlafzimmer steht, gebetet hast. Es ist ein schwerer Gang, der Gang nach Golgatha. Hm! … Es ist also bereits unwiderruflich beschlossen: Sie möchten einen geschäftskundigen, praktisch gesinnten Mann heiraten, Awdotja Romanowna, einen Mann, der eigenes Vermögen besitzt (der »bereits« eigenes Vermögen besitzt, das klingt noch solider, eindrucksvoller), zwei amtliche Stellungen bekleidet und die Anschauungen unserer jüngeren Generation teilt, wie Mama schreibt, und »wie es scheint« ein guter Mensch ist, wie Dunjetschka selbst bemerkt. Dieses »wie es scheint« ist ganz besonders prachtvoll. Und diese gute Dunjetschka wird dieses »wie es scheint« heiraten! Prachtvoll! Prachtvoll!

Merkwürdig ist aber auch, warum mir Mama eigentlich etwas von der »jüngeren Generation« geschrieben hat. Wollte sie damit lediglich die Person charakterisieren, oder verfolgte sie damit eine weitergehende Absicht: mich für Herrn Lushin günstig zu stimmen? Oh, ihr Schlauen! Auch noch einen andern Umstand aufzuklären wäre interessant: bis zu welchem Grade waren sie beide an jenem Tage und in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit offenherzig gegeneinander? Wurde wohl zwischen ihnen alles mit Worten ausgesprochen, oder wußten sie beide, daß die eine wie die andre ein und dasselbe im Herzen und im Sinne hatte, so daß es nicht erforderlich war, alles laut zu sagen, wobei man sich leicht hätte verplappern können? Wahrscheinlich hat sich die Sache zum Teil wirklich so verhalten; das läßt sich aus dem Briefe ersehen: der Mama kam er schroff vor, »ein wenig schroff«, und die naive Mama teilte diese Beobachtung ihrer Tochter mit. Aber die wurde natürlich böse darüber und »antwortete sogar ärgerlich«. Selbstverständlich! Wen sollte so etwas nicht wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar ist und wenn bereits entschieden ist, daß weitere Debatten sinnlos sind. Und warum schrieb sie mir da: »Lieber Rodja, liebe Deine Schwester Dunja; sie liebt Dich mehr als sich selbst«: quälen sie da im geheimen Gewissensbisse, weil sie zugestimmt hatte, daß die Tochter für den Sohn geopfert werde? »Du bist unsere Zuversicht, unser ein und alles!« O Mama!‹

Der Ingrimm kochte in ihm immer stärker, und wäre ihm jetzt Herr Lushin begegnet, so hätte er ihn wahrscheinlich totgeschlagen!

»Hm! … das ist richtig«, fuhr er fort, indem er die Gedanken weiter verfolgte, die in seinem Kopfe wild herumwirbelten. »Das ist ja richtig, daß man sich einem Menschen ganz allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn genau kennenzulernen; aber was Herrn Lushin selbst anlangt, so ist ja sein Charakter von vornherein klar und verständlich. Die Hauptsache ist: er ist sehr geschäftstüchtig und ›wie es scheint‹ ein guter Mensch: es ist ja keine Kleinigkeit, daß er den Transport der Frachtstücke übernommen hat und den großen Koffer auf seine Kosten herbefördern will! Und da sollte er kein guter Mensch sein? Die beiden Frauen aber, die Braut und die Mutter, dingen einen Bauern und fahren auf einem Bauernwagen, auf dem eine Bastmatte liegt (ich bin ja selbst dort so gereist!). Tut nichts; es sind ja nur neunzig Werst, ›und dann fahren wir wunderbar in der dritten Klasse‹, gegen tausend Werst. Es ist ja sehr verständig, wenn man sich nach seiner Decke streckt; aber Sie, Herr Lushin, was sagen Sie dazu? Es ist ja doch Ihre Braut … Und ist Ihnen das unbekannt geblieben, daß die Mutter sich auf ihre Pension das Reisegeld borgt? Gewiß, ihr habt zusammen mit Herrn Lushin gleichsam eine Art von gemeinsamem kaufmännischem Geschäft, ein Unternehmen zu beiderseitigem Nutzen und mit gleichen Anteilen; folglich müssen auch die Ausgaben in zwei gleiche Teile gehen; nach dem üblichen Grundsatze: Brot und Salz gemeinsam, aber Tabak jeder für sich. Aber auch hier hat der geschäftserfahrene Mann sie ein bißchen übers Ohr gehauen: das Gepäck kostet weniger als ihre Reise, und vielleicht wird es sogar ganz umsonst befördert. Sehen das nun die beiden Frauen nicht, oder wollen sie es absichtlich nicht bemerken? Sie sind ja zufrieden, so zufrieden! Und wenn man nun bedenkt, daß dies nur der Anfang, die Blüten sind und die wahren interessant, zu wissen, ob Herr Lushin Orden besitzt; ich möchte darauf wetten, er hat den Annenorden im Knopfloch und legt ihn zu Diners bei Industriellen und Kaufleuten an. Vielleicht trägt er ihn auch bei seiner Hochzeit! Aber der Teufel soll ihn holen!…

Nun, von Mama will ich weiter nichts sagen; das liegt nun einmal so in ihrem Wesen; aber wie steht es mit Dunja? Liebste Dunjetschka, ich kenne dich doch! Du warst schon zwanzig Jahre alt, als wir uns zum letzten Male sahen; über deinen Charakter war ich schon damals im klaren. Da schreibt Mama: »Dunja kann vieles ertragen.« Das wußte ich. Das habe ich schon vor zwei und einem halben Jahre gewußt, und seitdem habe ich zwei und ein halbes Jahr lang daran gedacht, gerade daran gedacht, daß »Dunja vieles ertragen kann«. Schon daß sie Herrn Swidrigailow mit allem Nachfolgenden zu ertragen vermochte, zeigt, daß sie vieles ertragen kann. Und jetzt ist sie mit Mama der Meinung, daß sie auch Herrn Lushin ertragen könne, der seine Theorie von den Vorzügen derjenigen Frauen auseinandersetzt, welche aus der größten Armut herstammen und nur von den Wohltaten ihrer Männer leben, und der dies noch dazu fast beim ersten Zusammensein auseinandersetzt. Nun, nehmen wir ruhig an, er habe das nur so »im Eifer des Gespräches« gesagt, wiewohl er doch ein kluger Mann ist (so daß er es vielleicht gar nicht im Eifer gesagt hat, sondern geradezu beabsichtigte, gleich von vornherein das gegenseitige Verhältnis klarzustellen); aber Dunja, Dunja? Sie durchschaut doch den Menschen, und trotzdem entschließt sie sich, mit ihm zu leben. Sie würde ja lieber nur Schwarzbrot essen und Wasser dazu trinken als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre moralische Freiheit nicht für eine behagliche Existenz hingeben; für ganz Schleswig- Holstein würde sie sie nicht hingeben, geschweige denn für Herrn Lushin. Nein, so war Dunja, soweit ich sie kannte, ganz und gar nicht, und… sie wird sich gewiß auch jetzt nicht geändert haben! Das ist ja nicht zu bestreiten: es ist was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist ja schon jetzt beunruhigt und quält sich; wie wird es erst dann sein, wenn sie alles klar durchschaut? Und wie wird es mit mir stehen? … Ja, was hast du dir denn eigentlich von mir gedacht? Ich will dein Opfer nicht, liebe Dunja; ich will es nicht, liebe Mama! Das soll und darf nicht geschehen, solange ich lebe; es soll und darf nicht geschehen! Ich nehme das Opfer nicht an!«

Plötzlich durchzuckte ihn ein andrer Gedanke, und er blieb stehen.

»Es soll nicht geschehen! Aber was willst du denn tun, um es zu verhindern? Willst du es verbieten? Was hast du dazu für ein Recht? Was kannst du ihnen deinerseits als Entgelt dafür versprechen, daß sie dir hierin willfahren? Willst du ihnen versprechen, ihnen deine ganze Zukunft, deine ganze Existenz zu weihen, wenn du die Studien absolviert und eine Stelle erhalten haben wirst? Schön gesagt; aber das ist ja noch in weiter Ferne; was soll aber jetzt gleich geschehen? Es muß doch jetzt sofort etwas getan werden, begreifst du das? Du aber, was tust du jetzt? Du plünderst sie aus. Geld verschaffen sie sich, indem sie die Pension von hundertzwanzig Rubeln verpfänden und sich von Swidrigailows Vorschuß geben lassen! Wie wirst du sie gegen die Swidrigailows und Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du künftiger Millionär, du Jupiter, der du ihr Schicksal ordnest und lenkst? Wohl nach zehn Jahren? Aber in zehn Jahren ist deine Mutter schon blind vom Tüchersäumen, vielleicht auch vom Weinen, und krank und abgezehrt vom Fasten. Und deine Schwester? Nun, überlege einmal, wie es mit deiner Schwester nach zehn Jahren stehen mag, wie es ihr während dieser zehn Jahre vielleicht geht! Kannst du dir davon ein Bild machen?«

So quälte und höhnte er sich mit diesen Fragen; er empfand dabei sogar eine Art von Genuß. Übrigens waren alle diese Fragen ihm nicht neu und traten ihm nicht erst jetzt unerwartet entgegen; es waren alte Fragen, die ihn schon geraume Zeit gepeinigt hatten. Schon lange war es her, daß sie angefangen hatten, ihn zu martern, sein Herz zu zerfleischen. Schon vor langer, langer Zeit war dieser ganze jetzige schwere Gram in seinem Innern entstanden, war herangewachsen und angeschwollen, und nun war er in der letzten Zeit herangereift und hatte sich zu einer schrecklichen, wilden, gespenstischen Frage konzentriert, die ihm Herz und Geist folterte und unabweisbar nach einer Lösung verlangte. Jetzt nun traf ihn auf einmal der Brief seiner Mutter wie ein Donnerschlag. Es war klar: jetzt durfte er nicht mehr sich grämen, passiv leiden und über die Unlösbarkeit dieser Fragen reflektieren, sondern er mußte unbedingt etwas tun, und zwar sofort, so schnell wie möglich. Unter allen Umständen mußte er sich entscheiden, nach irgendeiner Seite hin, oder…

»Oder ich muß überhaupt auf ein lebenswertes Leben verzichten!« rief er in plötzlich hervorbrechender Wut. »Muß gehorsam das Schicksal hinnehmen, wie es eben ist, ein für allemal, und alle Wünsche in mir ersticken und auf jedes Recht zu handeln, zu leben und zu lieben verzichten!«

›Verstehen Sie, verstehen Sie, verehrter Herr, was das besagen will, wenn man nirgends mehr hingehen kann?‹ Diese Frage, die er gestern von Marmeladow gehört hatte, fiel ihm auf einmal ein. ›Es müßte doch jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen können.‹

Da fuhr er zusammen. Ein andrer Gedanke, auch einer vom gestrigen Tage, tauchte wieder in ihm auf. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihm dieser Gedanke wieder gekommen war; er hatte es geahnt, gewußt, daß er sicher wieder auftauchen werde, und hatte es bereits erwartet; auch stammte dieser Gedanke keineswegs erst von gestern her. Aber der Unterschied lag darin, daß dieser Gedanke vor einem Monate, ja selbst gestern noch, lediglich ein Phantasiegebilde gewesen war, jetzt aber… jetzt ihm auf einmal nicht als Phantasiegebilde, sondern in einer neuen, furchtbaren, ganz unbekannten Gestalt entgegentrat; und er selbst wurde sich dessen sofort bewußt. Es war wie ein Schlag vor den Kopf, und es wurde ihm dunkel vor den Augen.

Er sah sich hastig um; er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank. Er befand sich augenblicklich auf dem K…-Boulevard. Eine Bank stand ein kleines Stückchen vor ihm, etwa hundert Schritte entfernt. Er ging, so schnell er konnte, nach ihr hin; unterwegs aber hatte er ein kleines Erlebnis, das ihn für kurze Zeit hinderte, an etwas andres zu denken.

Während er die Bank ins Auge faßte, bemerkte er eine Frauensperson, die etwa zwanzig Schritte vor ihm ging; indes beachtete er sie anfangs gar nicht, ebensowenig wie er alles andere beachtet hatte, was an seinem Auge vorübergeglitten war. Es war ihm schon oft begegnet, daß er nach Hause kam und sich schlechterdings nicht des Weges erinnern konnte, den er gegangen war; es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, so achtlos zu gehen. Aber die Frauensperson, die da ging, hatte etwas so Sonderbares an sich, was einem beim ersten Blick ins Auge fiel, daß allmählich seine Aufmerksamkeit an ihr haftete, anfangs unwillkürlich und sogar zu seinem Verdrusse, dann aber mit immer wachsendem Interesse. Es kam ihm die Lust an, festzustellen, was denn eigentlich an dieser Frauensperson so sonderbar sei. Erstens war sie offenbar ein noch sehr junges Mädchen; sie ging trotz der Hitze in bloßem Kopfe, ohne Sonnenschirm und Handschuhe, und schlenkerte in lächerlicher Weise mit den Armen. Sie trug ein leichtes, seidenes Kleidchen; aber auch dieses saß ihr sehr wunderlich auf dem Leibe und war nur sehr mangelhaft zugeknöpft; hinten an der Taille, gerade am Rockansatz, war es zerrissen; ein ganzer Fetzen stand ab und hing, hin und her pendelnd, herunter. Ein kleines Tuch umgab locker den bloßen Hals, saß aber schief, ganz nach der einen Seite hin. Ferner hatte das Mädchen einen unsicheren Gang; sie stolperte und schwankte sogar nach allen Seiten hin. Diese Erscheinung nahm schließlich Raskolnikows ganzes Interesse in Anspruch. Er holte das Mädchen dicht bei der Bank ein; aber sowie sie die Bank erreicht hatte, fiel sie geradezu darauf nieder, in eine Ecke, ließ den Kopf gegen die Rücklehne sinken und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster Müdigkeit. Als er sie näher ansah, wurde ihm sofort klar, daß sie völlig betrunken war; es war ein ganz seltsamer, sonderbarer Anblick. Es kam ihm sogar einen Augenblick der Gedanke, ob er sich nicht doch irre. Er sah ein noch ganz junges Gesichtchen vor sich, von sechzehn oder vielleicht sogar nur von fünfzehn Jahren, klein, blondhaarig und hübsch, aber über und über glühend und wie verschwollen. Das Mädchen hatte anscheinend für ihre ganze Umgebung sehr wenig Verständnis; sie hatte das eine Bein über das andere geschlagen, wobei sie es weit mehr als schicklich vorstreckte; nach allem zu urteilen, war sie sich gar nicht bewußt, daß sie sich auf der Straße befand.

Raskolnikow setzte sich nicht hin, mochte aber auch nicht weggehen, sondern blieb unentschlossen vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer wenig belebt; jetzt aber, zwischen ein und zwei Uhr mittags und bei dieser Hitze, war fast niemand zu sehen. Nur seitwärts, etwa fünfzehn Schritte entfernt, war am Rande des Boulevards ein Herr stehengeblieben, der, wie aus seinem ganzen Benehmen ersichtlich war, die größte Lust hatte, gleichfalls zu dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten hinzugehen. Wahrscheinlich hatte auch er sie von weitem gesehen und einzuholen gesucht, aber Raskolnikow war ihm dazwischengekommen. So warf er ihm denn wütende Blicke zu, die er aber vor ihm zu verbergen bemüht war, und wartete ungeduldig, bis der unangenehme Lumpenkerl fortginge, so daß er selbst sich heranmachen könnte. Die Sache war sehr durchsichtig. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, von kräftigem Körperbau, wohlgenährt, mit gesunder, blühender Gesichtsfarbe, roten Lippen und kleinem Schnurrbart; sein Anzug zeigte die größte Eleganz. Raskolnikow fühlte, wie eine grimmige Wut in ihm aufstieg; er verspürte Lust, diesen wohlgenährten Laffen irgendwie zu beleidigen. Darum verließ er das Mädchen einen Augenblick und ging auf den Herrn zu.

»He, Sie, Sie Swidrigailow, Sie! Was haben Sie hier zu suchen?« rief er ihm zu; er ballte die Fäuste und lachte mit vor Wut bebenden Lippen.

»Was soll das heißen?« fragte der Herr in scharfem Tone, zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihn von oben herab erstaunt an.

»Scheren Sie sich von hier weg! Das soll es heißen!«

»Kanaille, wie kannst du dich unterstehen…«

Er holte mit seinem Spazierstocke aus. Raskolnikow stürzte mit erhobenen Fäusten auf ihn zu, ohne zu überlegen, daß der kräftige Herr wohl mit zwei solchen, wie er, fertig werden konnte. Aber in diesem Augenblicke packte ihn jemand von hinten mit festem Griffe, und ein Schutzmann stand zwischen ihnen.

»Hören Sie auf, meine Herren! Keine Schlägerei auf öffentlichen Plätzen! Was haben Sie denn? Was bist du denn für einer?« wandte er sich mit strenger Miene an Raskolnikow, da er dessen zerlumpten Anzug bemerkte.

Raskolnikow sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Beamtengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und mit verständig blickenden Augen.

»Sie kommen mir wie gerufen«, rief er und ergriff seine Hand. »Ich bin ein gewesener Student; mein Name ist Raskolnikow… Das mag auch gleich für Sie gesagt sein!« fügte er, zu dem Herrn gewendet, hinzu. »Bitte, kommen Sie einmal mit; ich will Ihnen etwas zeigen.«

Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank hin.

»Da, sehen Sie, sie ist ganz betrunken; sie kam eben den Boulevard entlang. Wer weiß, was sie für eine sein mag; aber wie eine Gewerbsmäßige sieht sie nicht aus. Wahrscheinlich ist sie irgendwo betrunken gemacht und dann mißbraucht worden … zum ersten Male,… verstehen Sie? Und dann hat man sie auf die Straße gebracht. Sehen Sie nur, wie das Kleid zerrissen ist; sehen Sie, wie sie an- gezogen ist: andre Leute haben sie angezogen, nicht sie selber, und Hände, die sich nicht darauf verstanden, haben es getan, Männerhände. Das sieht man. Und nun sehen Sie einmal dahin: diesen Laffen, den ich eben durchprügeln wollte, kenne ich nicht; ich sehe ihn zum ersten Male in meinem Leben. Er hat sie auch hier auf der Straße bemerkt, jetzt eben, hat gesehen, daß sie betrunken ist und von sich nichts weiß, und nun brennt er darauf, heranzugehen, sich ihrer in diesem Zustande zu bemächtigen und sie irgendwohin zu verschleppen… Es ist ganz bestimmt so; Sie können mir glauben, daß ich mich nicht irre. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er sie beobachtete und ihr nachging; nur kam ich ihm in die Quere, und er wartet jetzt nur darauf, daß ich weggehe. Da, jetzt ist er ein bißchen weitergegangen und steht nun da, als wollte er sich eine Zigarette drehen. Wie können wir ihn hindern? Wie können wir sie nach Hause schaffen? Überlegen Sie mal!“

Der Schutzmann hatte die Sachlage sofort erfaßt. Was der kräftige Herr für einer war, darüber konnte kein Zweifel bestehen; aber was war nun mit dem Mädchen anzufangen? Der Schutzmann beugte sich über sie, um sie aus größerer Nähe zu betrachten, und aufrichtiges Mitleid spiegelte sich in seinen Zügen wider.

»Ach, wie schade!« sagte er und wiegte den Kopf hin und her. »Sie ist ja noch das reine Kind. Sie ist mißbraucht worden, das ist sicher. Hören Sie, Fräulein!« rief er sie an. »Wo wohnen Sie?«

Das Mädchen öffnete die müden, trüben Augen, blickte den Fragenden stumpfsinnig an und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Hören Sie«, sagte Raskolnikow, »hier« (er wühlte in seiner Tasche und holte zwanzig Kopeken heraus), »hier, nehmen Sie eine Droschke und sagen Sie dem Kutscher, er solle sie nach Hause fahren. Wenn wir nur ihre Adresse erfahren könnten!«

Der Schutzmann nahm das Geld. »Fräulein, he. Fräulein!« begann er von neuem. »Ich will gleich eine Droschke für Sie nehmen und Sie selbst nach Hause begleiten. Wohin befehlen Sie, hm? Wo wohnen Sie?«

»Geht doch weg!… Laßt mich in Ruhe!« murmelte das Mädchen und wehrte wieder mit der Hand ab.

»Ach, wie häßlich, wie häßlich! Sie sollten sich schämen, Fräulein, ja, schämen sollten Sie sich!« Er schüttelte nochmals den Kopf, vorwurfsvoll, mitleidig und unwillig. »Das ist eine schwere Aufgabe«, wandte er sich an Raskolnikow und betrachtete ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen mit einem schnellen Blicke. Auch dieser Mensch kam ihm wohl sonderbar vor: hat solche Lumpen auf dem Leibe und gibt ohne weiteres Geld her!

»Haben Sie sie weit von hier gefunden?« fragte er ihn.

»Ich sagte es Ihnen schon: sie ging taumelnd vor mir her, hier auf dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie geradezu darauf nieder.«

»Ach, wie schändlich es jetzt in der Welt zugeht, Herrgott! So ein junges Ding und schon betrunken! Sie ist mißbraucht worden, das ist sicher. Da, auch das Kleid ist zerrissen… Ist das eine Sittenlosigkeit heutzutage!… Vielleicht ist sie aus besserem Stande, aus einer verarmten Familie; das ist heutzutage nichts Seltenes. Aussehen tut sie ganz zart, ganz wie ein Fräulein.«

Er beugte sich wieder über sie.

Vielleicht hatte er bei sich zu Hause auch solche heranwachsenden Töchter, »ganz wie die Fräulein und ganz zart«, die den Vornehmeren ihre Manieren und allerlei Modetorheiten ablernten.

»Die Hauptsache«, sagte Raskolnikow eifrig, »ist, daß dieser Schurke nicht seinen Willen bekommt. Der würde sie noch mehr beschimpfen! Was er vorhat, ist ja ganz klar. Sehen Sie, der Schurke, er geht nicht weg!«

Raskolnikow sprach laut und wies offen mit dem Finger auf ihn. Dieser hörte es und wollte schon den Streit wieder aufnehmen; aber er besann sich eines andern und begnügte sich damit, ihm einen geringschätzigen Blick zuzuwerfen. Dann ging er langsam noch zehn Schritte weiter fort und blieb wieder stehen.

»Den wollen wir schon hindern«, antwortete der Schutzmann und überlegte. »Wenn sie bloß sagen wollte, wo man sie hinbringen soll; aber so … Fräulein, he, Fräulein!« rief er und beugte sich wieder über sie.

Sie machte plötzlich die Augen ganz auf, sah aufmerksam um sich, als hätte sie etwas von dem Vorgehenden begriffen, stand von der Bank auf und ging wieder nach der Seite zu, von der sie gekommen war.

»Pfui, ihr Unverschämten, laßt mich in Ruhe!“ sagte sie, wieder mit der abwehrenden Handbewegung.

Sie ging mit schnellen Schritten, aber ebenso stark taumelnd wie vorher. Der Lebemann ging ihr nach, aber in einer andern Allee, ohne die Augen von ihr abzuwenden.

»Seien Sie unbesorgt, ich werde es nicht zulassen«, sagte der schnurrbärtige Schutzmann in entschiedenem Tone und folgte den beiden.

»Ist das eine Sittenlosigkeit heutzutage!« bemerkte er seufzend noch einmal.

In diesem Augenblick hatte Raskolnikow ein Gefühl, als ob er einen Stich bekäme; im Nu war er wie umgewandelt.

»He! Hören Sie!« rief er dem Schutzmann nach.

Dieser wendete sich um.

»Lassen Sie die beiden nur laufen! Was geht es Sie an? Kümmern Sie sich um die Geschichte nicht weiter! Gönnen Sie ihm sein Vergnügen« (er zeigte auf den feinen Herrn). »Was geht es Sie an?«

Der Schutzmann konnte nicht klug daraus werden und blickte ihn starr an. Raskolnikow schlug ein Gelächter auf.

»Na, so was!« sagte der Schutzmann und schwenkte verwundert den einen Arm; dann ging er dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach. Wahrscheinlich hielt er Raskolnikow entweder für gestört oder für etwas noch Schlimmeres.

›Und meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen‹, dachte Raskolnikow boshaft, als er allein zurückgeblieben war. ›Nun mag er von dem da auch noch etwas annehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen; und das wird auch wohl das Ende vom Liede sein. Und warum habe ich mich da als Helfer eingemischt? Ich als Helfer! Habe ich auch ein Recht zu helfen? Mögen die Menschen meinetwegen einander bei lebendigem Leibe auffressen, was geht es mich an? Und wie durfte ich diese zwanzig Kopeken weggeben? Gehörten sie denn mir?‹

Trotz dieser sonderbaren Spottreden wurde ihm sehr schwer ums Herz. Er setzte sich auf die nun unbesetzte Bank. Seine Gedanken waren verwirrt… Überhaupt machte es ihm Mühe, in diesem Augenblick an irgend etwas zu denken. Am liebsten hätte er sich selbst und alles andre vergessen, um dann später aufzuwachen und ganz von neuem anzufangen.

›Das arme Mädchen!‹ sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. ›Wenn sie wieder zu sich kommt, wird sie in Tränen ausbrechen, und dann erfährt ihre Mutter das Geschehene. … Sie schlägt die Tochter mit den Fäusten, mit dem Stocke; oh, der Schmerz und die Schande! Vielleicht jagt sie sie gar aus dem Hause … Und wenn sie sie auch nicht aus dem Hause jagt: solche Kupplerinnen, wie Darja Franzowna, wittern die Sache doch, und dann fängt das Mädchen an, hierhin und dahin seine heimlichen Gänge zu machen. Dann kommt gleich das Krankenhaus (denn so geht es immer denen, die bei anständigen Müttern wohnen und sich so im stillen außer dem Hause herumtreiben), nun, und darauf… darauf folgt wieder das Krankenhaus,… der Branntwein,… die Kneipen … und nochmals das Krankenhaus, … in zwei, drei Jahren ist sie körperlich völlig ruiniert, also mit neunzehn oder auch nur achtzehn Jahren. Solche Mädchen habe ich ja schon massenhaft gesehen. Und wie sind sie so geworden? Genau auf die Weise wie hier… Pfui! Aber meinetwegen! Es heißt, das muß eben so sein. Ein gewisser Prozentsatz, heißt es, muß jedes Jahr draufgehen, zum Teufel gehen, damit die übrigen frisch und gesund bleiben und sich ungestört entwickeln. Ein Prozentsatz! Wahrhaftig, prächtige Fachausdrücke haben die Leute jetzt; sie klingen so beruhigend, so wissenschaftlich. Man hat den schönen Ausdruck erfunden: »ein Prozentsatz«, und nun braucht sich niemand mehr aufzuregen. Ja, wenn man einen andern Ausdruck dafür gebrauchte, nun, dann… wäre die Sache vielleicht aufregender… Wie, wenn nun auch Dunja irgendwie in diesen Prozentsatz hineingerät? … Und wenn nicht in diesen, dann in einen andern?‹

›Aber wo wollte ich denn eigentlich hingehen?‹ überlegte er auf einmal. ›Sonderbar! Ich hatte doch einen Grund, weshalb ich ausging. Als ich den Brief gelesen hatte, da ging ich fort,… nach der Wassilij-Insel, zu Rasumichin wollte ich gehen; das war’s, jetzt fällt es mir ein. Aber weshalb denn? Wie ist mir denn gerade jetzt der Einfall gekommen, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig!‹

Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer seiner früheren Kommilitonen auf der Universität. Es war auffällig gewesen, daß Raskolnikow, solange er auf der Universität war, fast keinen Freund hatte, sich von allen zurückzog, zu niemandem hinging und nur ungern jemand bei sich sah. Auch wandten sich bald alle von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften noch an Gesprächen, noch an Vergnügungen, an nichts beteiligte er sich. Er arbeitete angestrengt, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, aber niemand mochte ihn gern. Er war bei seiner Armut von einem anmaßenden Stolze und einer seltsamen Verschlossenheit, wie wenn er bezüglich seiner Person etwas zu verheimlichen hätte. Manche seiner Kommilitonen hatten von ihm den Eindruck, als blicke er auf sie alle von oben herab wie auf Kinder, in der Vorstellung, daß er sie alle in der geistigen Entwicklung, den Kenntnissen und Lebensanschauungen weit überholt habe und als sehe er ihre Anschauungen und Interessen für minderwertig an.

Rasumichin war der einzige, mit dem er befreundet war; befreundet ist eigentlich zuviel gesagt, aber er war ihm gegenüber mitteilsamer und offener. Übrigens war es gar nicht möglich, sich mit Rasumichin anders zu stellen. Dieser war ein ungemein heiterer, offenherziger Bursche und von einer Herzensgüte, die an Einfalt grenzte. Aber unter dieser Einfalt verbargen sich Tiefe und Gediegenheit. Die besseren unter seinen Kommilitonen hatten dafür Verständnis, und alle mochten ihn gerne leiden. Er besaß einen guten Verstand, obwohl er sich manchmal tatsächlich etwas naiv benahm. Sein Äußeres fiel auf: er war hochgewachsen, hager, stets schlecht rasiert, schwarzhaarig. Mitunter suchte er Händel, und er stand im Rufe gewaltiger Körperkraft, Einmal hatte er in der Nacht, als er in Gesellschaft die Straße entlang zog, mit einem einzigen Schlage einen baumlangen Wächter niedergeschmettert. Trinken konnte er in unbegrenztem Maße; aber er vermochte auch sich des Trinkens völlig zu enthalten. Manchmal verübte er ganz sträfliche Streiche; indes konnte er sich auch durchaus gesetzt benehmen. Eine beachtenswerte Eigenschaft an ihm war ferner, daß er sich niemals durch ein Mißgeschick aus der Fassung bringen ließ und, wie es schien, auch in der schlimmsten Lage nicht den Mut verlor. Er war imstande, nötigenfalls auf dem Dachboden zu kampieren, einen barbarischen Hunger und die fürchterlichste Kälte zu ertragen. Er war sehr arm, bestritt aber seinen Unterhalt ganz allein, indem er sich durch allerlei Arbeiten Geld verschaffte. Er kannte eine Unmenge Quellen, aus denen er schöpfen konnte, d. h. natürlich, wo er durch Arbeit sich etwas verdienen konnte. Einmal ließ er den ganzen Winter hindurch sein Zimmer gar nicht heizen und behauptete, dies sei sogar angenehmer, da man im Kalten besser schlafe. Zur Zeit hatte auch er sich genötigt gesehen, die Universität zu verlassen; jedoch sollte das nicht lange dauern, und er bemühte sich mit aller Kraft, seine Verhältnisse möglichst schnell zu bessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können. Raskolnikow war schon vier Monate lang nicht bei ihm gewesen; Rasumichin aber wußte überhaupt nicht einmal, wo der andre wohnte. Vor zwei Monaten waren sie einmal auf der Straße einander entgegengekommen und schon ziemlich nahe gewesen; aber Raskolnikow hatte sich weggewendet und war sogar auf die andre Seite hinübergegangen, damit jener ihn nicht bemerken sollte. Und Rasumichin hatte ihn zwar doch bemerkt, war aber vorbeigegangen, um seinen »Freund« nicht zu belästigen.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 30

IV

Raskolnikow war ein energischer und mutiger Fürsprecher Sonjas gegen Lushin gewesen, obgleich er doch soviel eigne Angst und eignes Leid in seiner Seele mit sich herumtrug. Aber nach alledem, was er am Vormittag durchgemacht hatte, war er ordentlich erfreut gewesen über die Gelegenheit, an die Stelle der ihm unerträglich gewordenen Empfindungen andere setzen zu können, ganz abgesehen von der persönlichen, herzlichen Teilnahme, die ihn zu seinem Eintreten für Sonja veranlaßt hatte. Dabei hatte er jedoch fortwährend an die bevorstehende Zusammenkunft mit Sonja denken müssen, und dieser Gedanke hatte ihn zeitweise schrecklich beunruhigt; er mußte, mußte ihr sagen, wer Lisaweta ermordet hatte, ahnte im voraus, welche schreckliche Qual ihm dies bereiten würde, und sträubte sich gegen diese Qual gleichsam mit vorgestreckten Händen. Als er Katerina Iwanownas Wohnung verließ und in Gedanken ausrief: »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Sofja Semjonowna?« da befand er sich offenbar noch in einem Zustande äußerlicher Erregung; er fühlte sich mutig, kampflustig und stolz auf den Sieg, den er soeben über Lushin davongetragen hatte. Aber es ging ihm seltsam. Als er zu Kapernaumows Wohnung gelangt war, merkte er, daß ihn eine plötzliche Schwäche und Furcht überkam. Unschlüssig blieb er vor der Tür stehen und legte sich die sonderbare Frage vor: ›Ist es wirklich notwendig, daß ich sage, wer Lisaweta ermordet hat?‹ Sonderbar war die Frage allerdings, weil er gleichzeitig fühlte, daß nicht nur ein Verschweigen, sondern selbst ein Aufschub, auch nur auf kurze Zeit, geradezu unmöglich sei. Er wußte nicht, warum das unmöglich sei, er fühlte es nur, und dieses qualvolle Bewußtsein seiner Schwäche gegenüber der Notwendigkeit drückte ihn ganz nieder. Um dem Schwanken und der Qual ein Ende zu machen, öffnete er schnell die Tür und suchte von der Schwelle aus mit seinen Blicken Sonja. Sie saß an dem Tischchen, hatte die Ellbogen darauf gestützt und ihr Gesicht mit den Händen bedeckt; aber als sie Raskolnikow erblickte, stand sie schnell auf und kam ihm entgegen, als ob sie ihn erwartet hätte.

»Was wäre ohne Sie aus mir geworden!« sagte sie hastig, als sie sich in der Mitte des Zimmers gegenüberstanden.

Offenbar hatte sie lebhaft gewünscht, ihm dies so bald als möglich zu sagen, und eben deshalb auf ihn gewartet.

Raskolnikow trat an den Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem sie soeben aufgestanden war. Sie stellte sich zwei Schritte entfernt vor ihn hin, genau wie tags zuvor.

»Nicht wahr, Sonja?« sagte er und spürte auf einmal, daß ihm die Stimme bebte. »Diese ganze Anschuldigung war doch nur ›infolge Ihrer gesellschaftlichen Stellung und der damit verknüpften Gewohnheiten‹ möglich. Haben Sie das vorhin verstanden?«

Ein tief schmerzlicher Ausdruck überzog ihr Gesicht.

»Ach, sprechen Sie doch nicht zu mir so wie gestern!« unterbrach sie ihn. »Bitte, fangen Sie nicht von neuem davon an. Die Qual ist so schon groß genug …«

Sie lächelte, so schnell sie es vermochte, aus Furcht, daß dieser Vorwurf vielleicht sein Mißfallen erregen könnte,

»Es war dumm von mir«, fuhr sie fort, »daß ich von dort wegging. Wie mag es da jetzt zugehen? Ich wollte eben wieder hingehen; aber ich dachte immer, daß … daß Sie herkommen würden.«

Er erzählte ihr, daß Amalia Iwanowna die Familie aus der Wohnung hinauswerfe und daß Katerina Iwanowna weggelaufen sei, um »Gerechtigkeit zu suchen«.

»Ach, mein Gott!« rief Sonja erschrocken. »Wir wollen schnell hingehen …«

Sie griff nach ihrer Mantille.

»Immer dieselbe Geschichte!« rief Raskolnikow in gereiztem Tone. »Sie haben für niemand Gedanken als für Ihre Angehörigen! Bleiben Sie jetzt doch bei mir!«

»Aber … was wird aus Katerina Iwanowna?«

»Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht davonlaufen; die wird schon von selbst zu Ihnen kommen, da sie einmal weggerannt ist«, fügte er mürrisch hinzu. »Und wenn sie Sie dann hier nicht trifft, so sind Sie daran schuld …«

Sonja setzte sich in qualvoller Unschlüssigkeit auf einen Stuhl. Raskolnikow schwieg, blickte auf den Fußboden und sann über etwas nach.

»Allerdings hat es Lushin jetzt nicht gewollt«, begann er, ohne Sonja anzublicken. »Wenn er es aber gewollt hätte oder es irgendwie in seine Pläne hineingepaßt hätte, so würde er Sie ohne mein und Lebesjatnikows zufälliges Dazwischenkommen ins Gefängnis gebracht haben. Nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ja!« wiederholte sie zerstreut und unruhig.

»Und es wäre doch sehr leicht möglich gewesen, daß ich nicht da war. Und was nun gar Lebesjatnikow betrifft, so kam der nur ganz zufällig dazu.«

Sonja schwieg.

»Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie sich an das, was ich gestern zu Ihnen sagte?«

Sie antwortete wieder nicht. Er wartete ein Weilchen.

»Ich dachte schon, Sie würden wieder aufschreien: ›Ach, sagen Sie doch so etwas nicht, hören Sie auf!‹« spottete Raskolnikow, aber es klang gekünstelt. »Nun, Sie schweigen wieder?« fragte er nach einer kleinen Pause. »Wir müssen doch über irgend etwas miteinander reden. Da wäre es mir nun gerade interessant, zu sehen, wie Sie jetzt eine ›Frage‹ (um Lebesjatnikows Ausdruck zu gebrauchen) lösen würden.« Er schien in Verwirrung zu geraten. »Nein, wirklich, ich rede im Ernst. Stellen Sie sich einmal vor, Sonja, Sie wüßten alle Absichten Lushins vorher, Sie wüßten, wüßten sicher, daß Katerina Iwanowna und die Kinder durch die Verwirklichung dieser Absichten völlig zugrunde gerichtet würden (nebenbei auch Sie selbst; aber da Sie doch sich selbst für nichts achten, so erwähne ich Sie eben nur nebenbei), auch Polenjka, denn sie würde ja diesen selben Weg einschlagen müssen. Nun also: wenn Sie dann darüber zu entscheiden hätten, ob er am Leben bleiben solle oder jene, ich meine, ob Katerina Iwanowna sterben oder Lushin durch den Tod an der Verübung seiner Schändlichkeiten gehindert werden solle, wie würden Sie dann entscheiden? Wer von ihnen soll sterben? Das frage ich Sie!«

Sonja sah ihn beunruhigt an; sie glaubte, daß bei dieser unsicheren, weit ausholenden Rede irgend etwas Besonderes im Hintergrunde verborgen sei.

»Es ahnte mir schon, daß Sie nach so etwas fragen würden«, sagte sie und blickte ihn forschend an.

»Schön, meinetwegen; aber wie würden Sie entscheiden?«

»Warum fragen Sie nach etwas, was doch ganz unmöglich ist?« erwiderte Sonja mit sichtlichem Widerstreben.

»Also ist es besser, daß Lushin am Leben bleibt und seine Schändlichkeiten verübt? Wagen Sie auch darauf keine bestimmte Antwort zu geben?«

»Ich kenne doch Gottes Ratschlüsse nicht … Wozu fragen Sie Dinge, auf die es doch keine Antwort gibt? Wozu diese nutzlosen Fragen? Wie könnte der Fall eintreten, daß so etwas von meiner Entscheidung abhinge? Und wer hat mich hier zum Richter darüber gesetzt, wer leben bleiben soll und wer nicht leben bleiben soll?«

»Ja, wenn Sie Gottes Ratschluß da mit hineinmengen, dann ist freilich nichts zu machen«, murmelte Raskolnikow finster.

»Sagen Sie doch lieber offen, was Sie eigentlich wollen!« rief Sonja schmerzlich. »Sie zielen wieder auf etwas hin … Sind Sie denn nur darum hergekommen, um mich zu quälen?«

Sie konnte sich nicht mehr halten und brach in bittere Tränen aus. Düster und gramvoll blickte er sie an. So vergingen wohl fünf Minuten.

»Du hast recht, Sonja!« sagte er endlich leise.

Er war plötzlich ein ganz anderer geworden. Der gemachte, freche und trotz des Gefühls der Kraftlosigkeit herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war auf einmal schwächer geworden.

»Ich habe dir gestern selbst gesagt, ich würde nicht herkommen, um dich um Verzeihung zu bitten, und doch habe ich eigentlich gleich damit begonnen, um Verzeihung zu bitten … Denn was ich da eben von Lushin und Gottes Ratschluß sagte, das war im Grunde für mich, in meinem Interesse gesprochen … Darin lag eine Bitte um Verzeihung, Sonja …«

Er wollte lächeln; aber nur ein kraftloser, halber Ansatz zu einem Lächeln zeigte sich auf seinem blassen Gesichte. Er ließ den Kopf sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

Und plötzlich erfüllte ein seltsames, unerwartetes Gefühl sein Herz, eine Art von grimmigem Hasse gegen Sonja. Selbst erstaunt und erschrocken über dieses Gefühl, hob er schnell den Kopf und blickte sie forschend an; aber er begegnete ihrem verstörten Blicke, der in qualvoller Sorge auf ihn gerichtet war; heiße Liebe sprach aus diesem Blicke, und sein scheinbarer Haß verschwand wie ein Gespenst. Es war nicht Haß gewesen; er hatte ein Gefühl für ein anderes gehalten. Die Ursache war nur gewesen, daß jetzt der verhängnisvolle Augenblick gekommen war.

Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und ließ den Kopf sinken. Plötzlich überzog Blässe sein Gesicht; er stand vom Stuhle auf, sah Sonja an und setzte sich, ohne ein Wort zu reden und ohne selbst zu wissen, was er tat, auf ihr Bett.

Dieser Augenblick hatte für seine Empfindung eine entsetzliche Ähnlichkeit mit jenem Augenblicke, als er hinter der Alten stand, bereits das Beil aus der Schlinge losgemacht hatte und sich sagte, daß nun keine Sekunde mehr zu verlieren sei.

»Was ist Ihnen?« fragte Sonja, der ganz bange geworden war.

Er konnte kein Wort hervorbringen. Den Hergang bei der Eröffnung, die er ihr machen wollte, hatte er sich ganz, ganz anders vorgestellt und begriff selbst nicht, was jetzt in ihm vorging. Sie ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett und wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz schlug heftig und drohte zu zerspringen. Die Lage wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht ihr zu; seine Lippen verzogen sich kraftlos in dem Bemühen, ein Wort herauszubringen. Sonja wurde von Entsetzen gepackt.

»Was ist Ihnen?« fragte sie noch einmal und beugte sich dabei ein wenig von ihm weg.

»Nichts, Sonja! Ängstige dich nicht … Unsinn! Wirklich, wenn man vernünftig überlegt, ist es Unsinn!« murmelte er mit der Miene eines Fieberkranken, der von sich nichts weiß. »Warum bin ich eigentlich hergekommen, wenn ich dich doch nur quälen will?« fügte er plötzlich hinzu und blickte sie an. »Wirklich, warum? Das frage ich mich fortwährend, Sonja …«

Er hatte sich diese Frage vor einer Viertelstunde vielleicht tatsächlich vorgelegt; aber jetzt redete er das in völliger Kraftlosigkeit nur so hin; er wußte kaum von sich selbst und fühlte ein unaufhörliches Zittern und Frösteln im ganzen Körper.

»Ach, wie schwer Sie leiden!« sagte sie mit schmerzlicher Teilnahme, indem sie ihn betrachtete.

»Es ist ja alles Unsinn! … Also höre mal, Sonja«, er lächelte wieder (so ein blasses, mattes Lächeln von ganz kurzer Dauer), »erinnerst du dich, was ich dir gestern sagen wollte?«

Sonja wartete in großer Unruhe.

»Ich sagte zu dir beim Fortgehen, daß ich vielleicht für immer von dir Abschied nähme; wenn ich aber heute wiederkäme, so würde ich dir sagen, … wer Lisaweta ermordet hat.«

Sie begann am ganzen Leibe zu zittern.

»Nun also, ich bin hergekommen, um es dir zu sagen.«

»Haben Sie das wirklich gestern …«, flüsterte sie mit Anstrengung. »Woher wissen Sie es denn?« fragte sie hastig, als sammelte sie auf einmal wieder ihre Gedanken.

Ihr Atem ging schwer; ihr Gesicht wurde immer blasser.

»Ich weiß es.«

Sie schwieg etwa eine Minute lang.

»Hat man ihn gefunden?« fragte sie schüchtern.

»Nein, man hat ihn nicht gefunden.«

»Wie können Sie denn dann wissen, wer es gewesen ist?« fragte sie wieder kaum hörbar und wieder nach einem Schweigen, das fast eine Minute dauerte.

Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an.

»Rate!« antwortete er, wieder mit diesem verzerrten, matten Lächeln.

Krampfhafte Zuckungen liefen durch ihren ganzen Körper.

»Warum … warum … erschrecken Sie mich … denn so?« fragte sie und lächelte dabei wie ein Kind.

»Ich muß doch wohl sehr nahe befreundet mit ihm sein, … da ich es weiß«, fuhr Raskolnikow fort und sah ihr dabei unausgesetzt ins Gesicht, als könnte er seine Augen gar nicht von ihr abwenden. »Er wollte diese Lisaweta … nicht töten … Er hat sie … nur zufällig getötet … Er wollte bloß die alte Frau ermorden, … weil er wußte, daß sie allein war, … darum war er hingegangen … Und da kam Lisaweta dazu … Da ermordete er auch sie.«

Es verging noch eine entsetzliche Minute; beide sahen einander an.

»Du kannst es also nicht raten?« fragte er auf einmal mit einer Empfindung, als ob er sich von einem Turme herabstürzte.

»N–nein«, flüsterte Sonja kaum hörbar.

»Sieh mal ordentlich her!«

Sobald er das gesagt hatte, ließ eine Empfindung, die er schon von früher her kannte, ihm plötzlich wieder das Herz zu Eis erstarren; er blickte sie an, und es war ihm auf einmal, als sähe er in ihrem Gesichte das Gesicht Lisawetas. Er erinnerte sich deutlich an Lisawetas Gesichtsausdruck, als er damals mit dem Beile auf sie zutrat und sie vor ihm nach der Wand zurückwich, die Hand ein wenig vorstreckend, mit einem geradezu kindlichen Ausdruck von Angst im Gesicht, ganz genau wie kleine Kinder, die, auf einmal durch etwas in Furcht versetzt, den Gegenstand ihrer Furcht starr und ängstlich anblicken, zurückweichen und, die Händchen vorstreckend, zu weinen anfangen. Fast ebenso war es jetzt bei Sonja. Ebenso kraftlos, mit der gleichen Angst sah sie ihn eine Weile an; dann streckte sie auf einmal die linke Hand vor, berührte ganz leise, wie abwehrend, mit den Fingern seine Brust und begann ganz langsam sich vom Bette zu erheben, wobei sie immer mehr vor ihm zurückwich und ihr auf ihn gerichteter Blick immer starrer wurde. Ihr Entsetzen teilte sich auch ihm mit: ganz dieselbe Angst zeigte sich auch auf seinem Gesichte, und er schaute sie ganz ebenso an, beinahe sogar mit dem gleichen kindlichen Lächeln.

»Hast du es erraten?« flüsterte er endlich.

»O Gott!« Ein furchtbarer Klageschrei entrang sich ihrer Brust.

Kraftlos sank sie auf das Bett zurück, mit dem Gesicht in die Kissen. Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich schnell wieder auf, rückte ihm eilig näher, ergriff seine beiden Hände, drückte sie mit ihren dünnen Fingerchen, so fest sie konnte, und sah ihm wieder starr, als könnte sie die Augen gar nicht von ihm losreißen, ins Gesicht. Mit diesem letzten, verzweiflungsvollen Blicke wollte sie die letzte Hoffnung, falls es eine solche noch für sie gäbe, erspähen und erhaschen. Aber es war nichts mehr zu hoffen; es blieb kein Zweifel; alles war so, wirklich so! Selbst nachher, in späteren Zeiten, wenn sie sich an diesen Augenblick erinnerte, erschien es ihr seltsam und wunderbar, woran sie eigentlich damals sofort mit solcher Sicherheit gesehen habe, daß es hier keine Zweifel mehr geben konnte. Sie konnte gewiß nicht sagen, daß sie etwas Derartiges geahnt hätte. Und doch hatte sie jetzt, nachdem er ihr eben erst diese Mitteilung gemacht hatte, das Gefühl, als hätte sie tatsächlich gerade dies geahnt.

»Laß es genug sein, Sonja, hör auf! Quäl mich nicht!« bat er in tiefstem Schmerze.

Er hatte ihr die Eröffnung in ganz, ganz anderer Weise machen wollen, und nun war es so gekommen.

Wie von Sinnen sprang sie auf und ging händeringend bis in die Mitte des Zimmers; aber dann wendete sie sich schnell um und setzte sich wieder neben ihn, so daß ihre Schulter fast die seine berührte. Plötzlich fuhr sie zusammen, wie wenn ihr jemand einen heftigen Stich versetzt hätte, schrie auf und warf sich, ohne selbst zu wissen, warum sie das tat, vor ihm auf die Knie.

»Wie haben Sie, Sie das übers Herz bringen können!« rief sie in Verzweiflung.

Sie sprang auf, fiel ihm um den Hals, umschlang ihn und drückte ihn mit ihren Armen fest an sich.

Raskolnikow machte sich von ihr los und blickte sie mit düsterem Lächeln an.

»Wie sonderbar du bist, Sonja! Du umarmst und küßt mich, nachdem ich dir das von mir gesagt habe. Du weißt wohl gar nicht, was du tust.«

»Nein, nein, auf der ganzen Welt gibt es jetzt keinen unglücklicheren Menschen als dich!« rief sie wie eine Rasende, ohne seine Bemerkung gehört zu haben, und brach dann in ein schluchzendes Weinen aus, das sie krampfhaft schüttelte.

Ein Gefühl, das er seit langer Zeit nicht mehr gekannt hatte, flutete wie eine mächtige Welle in sein Herz hinein und machte es weich und milde. Er widerstrebte diesem Gefühle nicht: zwei Tränen quollen aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen.

»Du willst mich also nicht verlassen, Sonja?« sagte er und blickte sie mit einem Schimmer von Hoffnung an.

»Nein, nein, nie und nimmer!« rief Sonja. »Ich folge dir, ich folge dir überallhin! O Gott! … Ach, ich Unglückliche! … Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt? Warum bist du nicht früher gekommen? O Gott!«

»Nun, jetzt bin ich doch gekommen.«

»Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! … Wir bleiben zusammen, wir bleiben zusammen!« rief sie wie von Sinnen und umarmte ihn von neuem. »Ich gehe mit dir zusammen nach Sibirien!«

Es gab ihm einen plötzlichen Ruck; das verächtliche, hochmütige Lächeln trat wieder auf seine Lippen.

»Vielleicht will ich aber noch gar nicht in die Zwangsarbeit gehen, Sonja«, sagte er.

Sonja sah ihn schnell an.

Nach dem ersten Sturm leidenschaftlichen, qualvollen Mitgefühls mit dem Unglücklichen erschreckte sie nun wieder die furchtbare Vorstellung von dem Morde. In dem veränderten Tone, in dem er die letzten Worte gesprochen hatte, hörte sie den Mörder. Erstaunt blickte sie ihn an. Sie wußte von der Tat noch gar nichts weiter, weder warum noch wie, noch wozu er sie begangen hatte. Jetzt blitzten alle diese Fragen auf einmal in ihrem Bewußtsein auf. Und damit zugleich kam wieder der ungläubige Zweifel: ›Er ein Mörder? Er? War das denn möglich?‹

»Was ist denn nur? Wo bin ich denn?« sagte sie in tiefer Benommenheit, als ob sie noch gar nicht zu sich gekommen wäre. »Wie haben Sie, ein Mensch wie Sie, … wie haben Sie sich nur zu so etwas entschließen können? Wie ist das möglich?«

»Nun, um zu rauben! Hör auf, Sonja!« antwortete er müde und mit einem Beiklang von Ärger.

Sonja stand wie betäubt da; aber plötzlich rief sie:

»Du warst hungrig! Du … du wolltest deiner Mutter helfen? Ja?«

»Nein, Sonja, nein«, murmelte er und ließ den Kopf sinken, »ich war nicht so hungrig, … meiner Mutter wollte ich allerdings helfen, aber … auch das war nicht der eigentliche Grund …. Quäle mich nicht, Sonja.«

Sonja schlug die Hände zusammen.

»Ist denn das alles wirklich, wirklich wahr? O Gott, wie entsetzlich! Wer kann das glauben? … Und wie stimmt das zusammen: Sie geben selbst Ihr Letztes weg, und Sie haben gemordet, um zu rauben! Oh!« schrie sie plötzlich auf. »Das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben, … o Gott, … war das auch … war das auch …?«

»Nein, Sonja«, unterbrach er sie schnell, »dieses Geld stammte nicht daher; darüber magst du dich beruhigen! Dieses Geld hatte mir meine Mutter durch Vermittlung eines Kaufmanns geschickt, und ich hatte es erhalten, während ich krank war, an demselben Tage, an dem ich es dann weggegeben habe … Rasumichin hat es gesehen; er hat es sogar für mich in Empfang genommen. Dieses Geld war mein; es gehörte mir, war mein rechtmäßiges Eigentum.«

Sonja hörte ihm verständnislos zu und strengte ihren Kopf an, um die Sache zu begreifen.

»Jenes andere Geld … ich weiß übrigens gar nicht einmal, ob auch Geld dabei war«, fügte er leise und wie nachsinnend hinzu, »ich habe ihr damals einen Beutel, den sie am Halse trug, abgenommen, einen ledernen Beutel, er war ganz voll und prall, … aber ich habe nicht hineingesehen; ich hatte wohl keine Zeit dazu. Nun, und die Wertsachen, allerlei Knöpfchen und Ketten, … all diese Sachen und den Beutel habe ich auf einem fremden Hofe am Wosnessenskij-Prospekt unter einem Steine verborgen, gleich am andern Morgen … Da liegt auch jetzt noch alles …«

Sonja hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Aber warum sagten Sie denn … wie können Sie denn sagen, Sie hätten es getan, um zu rauben, und doch haben Sie gar nichts für sich behalten?« fragte sie schnell; sie griff gleichsam nach einem Strohhalm.

»Ich weiß noch nicht, … ich habe mich noch nicht entschieden, … ob ich dieses Geld nehmen soll oder nicht«, antwortete er, wieder wie nachsinnend; aber plötzlich kam er zu sich und lachte hastig und kurz auf. »Ach, was für eine Dummheit habe ich da eben hingeredet, nicht wahr?«

Durch Sonjas Kopf zuckte der Gedanke: ›Ist er nicht etwa gar irrsinnig?‹ Aber sie wies diesen Gedanken sofort wieder von sich: ›Nein, dies hier muß etwas anderes sein.‹ Aber was hier eigentlich vorlag, das verstand sie nicht, schlechterdings nicht!

»Weißt du, Sonja«, sagte er plötzlich wie infolge einer Eingebung, »ich will dir etwas sagen: Wenn ich nur deshalb gemordet hätte, weil ich hungrig war« (er betonte jedes einzelne Wort und sah sie mit einem rätselhaften, aber innigen Blicke an), »dann wäre ich jetzt glücklich! Das kannst du mir glauben! … Und was hättest du denn davon, was hättest du denn davon«, rief er einen Augenblick darauf wie verzweifelt, »wenn ich jetzt ohne weiteres zugäbe, schlecht gehandelt zu haben? Was hättest du von diesem törichten Triumphe über mich? Ach, Sonja, bin ich denn deshalb jetzt zu dir gekommen?«

Sonja wollte wieder etwas sagen; aber sie schwieg.

»Darum forderte ich dich auch gestern auf, mit mir zu gehen, weil du der einzige Mensch bist, der mir noch geblieben ist.«

»Wohin soll ich denn mitgehen?« fragte Sonja.

»Nicht zum Stehlen und Morden, sei unbesorgt, nicht zu solchen Dingen«, erwiderte er bitter lächelnd. »Wir sind zu verschiedene Naturen … Und weißt du, Sonja, ich habe erst jetzt, erst in diesem Augenblicke begriffen, wohin ich dich eigentlich gestern aufforderte mitzukommen! Gestern aber, als ich dich aufforderte, wußte ich selbst nicht, wohin. Nur eins hatte ich bei meiner Bitte gestern und bei meinem Kommen heute im Auge: verlaß mich nicht. Du wirst mich nicht verlassen, Sonja?«

Sie drückte ihm die Hand.

»Warum habe ich es ihr nur gesagt, warum habe ich es ihr nur entdeckt!« rief er einen Augenblick darauf ganz verzweifelt aus und sah sie mit grenzenloser Qual an. »Nun erwartest du Erklärungen von mir, Sonja; nun sitzest du da und wartest; das sehe ich; aber was soll ich dir sagen? Es wird dir ja doch nichts davon begreiflich sein; du wirst dich nur zu Tode grämen … um meinetwillen! Siehst du, nun weinst du und umarmst mich wieder – warum umarmst du mich denn? Weil ich selbst die Last nicht länger zu ertragen vermochte und herkam, um sie einem andern auf die Schultern zu bürden: ›Leide auch du, davon wird mir leichter werden!‹ Und kannst du einen solchen Schurken lieben?«

»Leidest du denn nicht auch Qualen?« rief Sonja.

Wieder flutete eben jenes Gefühl wie eine gewaltige Woge in sein Herz hinein und machte es wieder für einen Augenblick sanft und weich.

»Sonja, ich habe ein böses Herz; beachte das wohl, daraus erklärt sich vieles. Ich bin auch nur darum hergekommen, weil ich ein böser Mensch bin. Mancher wäre nicht hergekommen. Ich aber bin ein Feigling und … ein Schurke! Aber … lassen wir das. Um all das handelt es sich jetzt nicht … Ich muß jetzt reden und weiß nicht, wie ich anfangen soll …«

Er hielt inne und überlegte.

»Ja, wir beide sind zu verschiedene Naturen!« rief er wieder. »Wir passen nicht zueinander. Warum, ja warum bin ich nur hergekommen! Das kann ich mir nie verzeihen!«

»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« rief Sonja. »Es ist besser, daß ich es erfahren habe, viel besser!«

Er schaute sie voll Schmerz an.

»Und was war denn eigentlich der Grund?« fragte er, als ob er mit seiner Überlegung fertig geworden wäre. »Ja, der Grund war der! Höre: ich wollte ein Napoleon werden, darum habe ich einen Mord begangen … Nun, verstehst du es jetzt?«

»N–nein«, flüsterte Sonja naiv und schüchtern. »Aber sprich nur weiter, sprich nur weiter! Das Nötige werde ich schon davon verstehen!« bat sie ihn.

»Wirst du das? Nun gut, wir wollen sehen!«

Er schwieg und überlegte lange.

»Die Sache ist die: Ich legte mir einmal die Frage vor, wenn zum Beispiel Napoleon an meiner Stelle gewesen wäre und, um seine Laufbahn zu beginnen, weder Toulon noch Ägypten, noch den Übergang über den St. Bernhard gehabt hätte, sondern wenn statt all dieser schönen, großartigen Dinge einfach nur ein lächerliches altes Weib, eine Registratorswitwe, dagewesen wäre, die er überdies noch hätte ermorden müssen, um aus ihrem Kasten Geld zu entwenden (um der Laufbahn willen, verstehst du?), nun also, hätte er sich dann wohl dazu entschlossen, wenn er auf andre Weise nicht hätte seine Laufbahn beginnen können? Würde ihm dieses Mittel zuwider gewesen sein, weil es gar zu wenig großartig und … und weil es sündhaft wäre? Ich muß dir gestehen, daß ich mich mit dieser ›Frage‹ schrecklich lange herumgequält habe, so daß ich, als ich schließlich die Lösung fand (ich fand sie ganz plötzlich), mich meiner Schwerfälligkeit schämte. Die Lösung war aber die: das Mittel wäre ihm nicht nur nicht zuwider gewesen, sondern er wäre überhaupt nicht einmal auf den Gedanken gekommen, daß diese Tat nicht großartig sei, … er hätte gar nicht verstanden, was einem daran zuwider sein könnte. Und wenn er auf keine andre Weise seine Laufbahn hätte beginnen können, so hätte er die Alte abgewürgt, ehe sie auch nur einen Laut hätte von sich geben können, ohne alles Bedenken! Nun, und da … ließ auch ich meine Bedenken fallen, … ich tötete sie … nach dem Beispiele einer solchen Autorität. So war der Hergang, ganz genauso. Kommt dir das lächerlich vor? Ja, Sonja, das Lächerlichste ist dabei eben dies, daß sich die Sache wirklich so zugetragen hat.«

Dem Mädchen kam es ganz und gar nicht lächerlich vor.

»Sprechen Sie zu mir lieber unmittelbar, … ohne Beispiele«, bat sie ihn noch schüchterner und mit kaum hörbarer Stimme.

Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und erfaßte ihre Hände.

»Du hast wieder recht, Sonja. Das ist ja alles Unsinn, nur leeres Geschwätz! Siehst du: du weißt ja, daß meine Mutter so gut wie nichts besitzt. Meine Schwester hat eine gute Bildung erhalten (eigentlich hat sich das zufällig so ergeben) und ist nun dazu verurteilt, sich als Gouvernante durchzubringen. All ihre Hoffnungen setzten die beiden auf mich. Ich studierte, konnte mich aber auf der Universität nicht erhalten und sah mich genötigt, vorläufig auszusetzen. Und wenn ich mich auch weiter hätte durchschleppen können, so hätte ich doch nur hoffen können, in zehn, zwölf Jahren, falls sich die Umstände günstig gestalteten, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu werden …« (Er sprach, als sagte er eine auswendig gelernte Lektion auf.) »Aber bis dahin wäre meine Mutter vor Kummer und Sorgen zugrunde gegangen und es wäre mir doch nicht gelungen, ihr ein ruhiges Dasein zu verschaffen, und meine Schwester … mit der hätte es noch schlimmer gehen können! … Und was ist das für eine Existenz, wenn man sein ganzes Leben lang an allen Freuden vorbeigehen, sich von allen Genüssen abwenden muß, seiner Mutter nicht helfen kann und es sich demütig gefallen lassen muß, daß die Schwester beleidigt wird? Was hat ein solches Leben für einen Zweck? Etwa daß man, nachdem man seine Angehörigen begraben hat, sich neue anschafft, eine Frau und Kinder, und diese dann auch ohne einen Groschen Geld und ohne einen Bissen Brot zurückläßt? Also … also da beschloß ich, mich des Geldes der alten Frau zu bemächtigen, um für die nächsten Jahre meine Existenz zu ermöglichen, ohne daß meine Mutter sich für mich abquälen müßte – nämlich um die Fortsetzung meines Studiums sicherzustellen und mir die ersten Schritte nach Beendigung des Studiums zu erleichtern –, und ich wollte das alles großzügig und in durchgreifender Weise machen, um mir eine völlig neue Lebenslaufbahn zu schaffen und einen neuen Weg einzuschlagen, auf dem ich von niemand abhängig wäre … Also … also, das ist alles … Nun, daß ich die alte Frau ermordete, das war ja selbstverständlich schlecht von mir, … genug davon!«

Als er seine Erzählung zu Ende gebracht hatte, war er ganz erschöpft und ließ den Kopf sinken.

»Ach, das ist nicht richtig, das ist nicht richtig«, rief Sonja in tiefem Schmerze. »Kann man denn überhaupt so … Nein, es muß anders gewesen sein, ganz anders!«

»Und doch habe ich dir alles aufrichtig erzählt; ich habe die Wahrheit gesprochen!«

»Wie kann das die Wahrheit sein! O Gott!«

»Ich habe ja doch nur eine Laus getötet, Sonja, eine nutzlose, garstige, schädliche Laus.«

»Ein Mensch ist keine Laus!«

»Das weiß ich auch, daß er keine Laus ist«, antwortete er und schaute sie sonderbar an. »Übrigens schwatze ich sinnlos, Sonja«, fügte er hinzu, »ich rede schon seit langer Zeit so sinnlos … Es ist alles nicht richtig; du hast darin ganz recht. Ich hatte ganz andere Beweggründe, ganz andere, ganz andere! … Ich habe seit so langer Zeit mit niemand gesprochen, Sonja … Der Kopf tut mir jetzt sehr weh.«

Seine Augen brannten in fieberhaftem Feuer. Er begann fast irre zu reden; ein unruhiges Lächeln zuckte um seine Lippen. Neben der heftigen seelischen Erregung machte sich bereits eine furchtbare Erschöpfung bemerkbar. Sonja begriff, welche Qualen er litt. Auch ihr begann der Kopf wirr und schwindlig zu werden. Seine sonderbaren Reden, meinte sie, klangen, als ob man etwas davon verstehen könnte; aber doch … wie war es nur möglich, wie war es nur möglich! O Gott! In Verzweiflung rang sie die Hände.

»Nein, Sonja, es war nicht richtig!« begann er wieder und hob auf einmal den Kopf, als hätte eine unerwartete neue Richtung, die seine Gedanken genommen, ihm einen frischen Impuls gegeben. »Es war nicht richtig! Stelle dir lieber vor (es ist wirklich besser, wenn du das tust), daß ich ein egoistischer, neidischer, boshafter, schändlicher, rachsüchtiger Mensch sei, nun … meinetwegen auch, daß ich zum Irrsinn neige. (Wir wollen gleich alles zusammen nehmen; daß ich vielleicht verrückt wäre, davon haben andre schon früher gesprochen; ich habe es recht wohl bemerkt!) Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich mich auf der Universität nicht erhalten konnte. Aber weißt du, gekonnt hätte ich es vielleicht doch. Meine Mutter hätte mir das Geld für die Vorlesungen geschickt, und die Kosten für Schuhzeug, Kleidung und Essen hätte ich mir selbst durch Arbeit verdienen können, sicherlich! Ich konnte Unterricht erteilen; es wurde mir ein halber Rubel für die Stunde geboten. Rasumichin lebt ja auch von seiner Arbeit! Aber ich wurde verbissen und mochte nicht. Geradezu verbissen, das ist der richtige Ausdruck! Ich verkroch mich dann wie eine Spinne in meinen Winkel. Du bist ja in meinem Hundeloch hat auch das allergrößte Recht! So ist das bisher gewesen, und so wird das immer sein! Man muß blind sein, um das nicht einzusehen!«

Raskolnikow sah Sonja zwar an, während er das sagte, kümmerte sich aber nicht mehr darum, ob sie ihn verstand oder nicht. Das Fieber hatte völlig von ihm Besitz genommen. Er befand sich in einer Art von düsterer Ekstase. Er hatte wirklich allzu lange mit keinem Menschen geredet. Sonja sah ein, daß diese düsteren Dogmen sein Glaube und sein Gesetz geworden waren.

»Damals wurde es mir klar, Sonja«, fuhr er schwärmerisch fort, »daß die Macht nur dem zuteil wird, der es wagt, sich zu bücken und sie aufzuheben. Nur auf eines kommt es an, nur auf eines: wagen muß man! Damals kam mir ein Gedanke, zum erstenmal in meinem Leben, ein Gedanke, den noch niemand jemals vor mir gehabt hat! Niemand! Sonnenklar trat mir auf einmal der Gedanke vor die Seele: wie kommt es, daß bis auf den heutigen Tag noch keiner, der dieses verrückte Gebaren mit ansieht, es gewagt hat oder wagt, ganz einfach dieses Unding am Schwanz zu packen und in die Hölle zu schmettern! Ich … ich wollte es wagen, und so mordete ich, … ich wollte es nur einmal wagen, Sonja; das war mein ganzer Beweggrund!«

»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« rief Sonja und schlug entsetzt die Hände zusammen. »Sie haben sich von Gott losgesagt, und Gott hat Sie gestraft; er hat Sie der Macht des Teufels überliefert! …«

»Nun ja, da haben wir’s, Sonja! Als ich da so im Dunkeln lag und all diese Gedanken in mir aufschossen, da hat mich gewiß der Teufel versucht, nicht wahr?«

»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer! Nichts, aber auch gar nichts verstehen Sie davon! O Gott! Nie, nie wird er etwas davon verstehen!«

»Still, Sonja, ich spotte gar nicht; ich weiß ja selbst, daß mich der Teufel versuchte. Still, Sonja, still!« wiederholte andre Wesen in meinem Netze fangen und ihnen den Lebenssaft aussaugen würde, das mußte mir in jenem Augenblicke ganz gleichgültig sein! Auch hatte ich es damals, als ich den Mord beging, Sonja, nicht hauptsächlich auf das Geld abgesehen; das Geld war mir nicht so wichtig wie etwas andres … Jetzt ist mir das alles deutlich … Verstehe mich wohl: wenn ich auf demselben Wege weitergegangen wäre, hätte ich dennoch vielleicht nie wieder einen Mord begangen. Was mich zu der Tat trieb, war etwas andres; ich wollte über einen bestimmten Punkt ins klare kommen, und so schnell wie möglich ins klare kommen: Bin ich eine Laus wie alle oder ein Mensch? Bin ich imstande, über Hindernisse hinwegzuschreiten, oder nicht? Habe ich den Mut, mich zu bücken und die Macht aufzuheben, oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur, oder habe ich ein Recht …«

»Ein Recht, zu töten? Sie meinen, Sie haben ein Recht, zu töten?« rief Sonja und schlug wieder die Hände zusammen.

»Ach, Sonja!« begann er in gereiztem Tone; er wollte ihr noch etwas erwidern, unterdrückte es aber geringschätzig. »Unterbrich mich nicht, Sonja! Ich wollte dir nur das eine beweisen: daß der Teufel mich damals dorthin schleppte und mir nach der Tat klarmachte, daß ich kein Recht gehabt hätte, dorthin zu gehen, weil ich ganz ebenso eine Laus sei wie alle. Er hat seinen Spott mit mir getrieben; siehst du, jetzt bin ich nun zu dir gekommen! Nimm mich als Gast auf. Wenn ich nicht eine Laus wäre, würde ich dann etwa zu dir gekommen sein? Höre noch dies: als ich damals zu der Alten ging, kam es mir nur darauf an, einen Versuch zu machen … Nun weißt du es!«

»Und Sie haben sie ermordet, ermordet!«

»Wie kann man denn das ermorden nennen! Ermordet man denn jemand so? Geht etwa einer, der morden will, so hin, wie ich damals hinging? Ich will dir ein andermal erzählen, wie ich hingegangen bin. Habe ich etwa die alte Frau ermordet? Mich selbst habe ich ermordet, und nicht die alte Frau! Da habe ich mit einem Schlage mich selbst vernichtet, fürs ganze Leben! … Die alte Frau aber hat der Teufel getötet, nicht ich … Genug, genug, Sonja, genug! Laß mich!« rief er plötzlich in krampfhaftem Schmerze. »Laß mich!«

Er stützte die Ellbogen auf die Knie und preßte seinen Kopf mit den Handflächen wie mit einer Zange zusammen.

»Oh, dieses Leid!« stöhnte Sonja qualvoll auf.

»Und nun sage mir: was soll ich jetzt tun?« fragte er, hob plötzlich den Kopf und blickte sie mit einem von Verzweiflung gräßlich verzerrten Gesichte an.

»Was du tun sollst?« rief sie und sprang von ihrem Platze auf; ihre Augen, die bisher voll Tränen gestanden hatten, blitzten. »Steh auf!« Sie faßte ihn an der Schulter; er erhob sich und sah sie ganz erstaunt an. »Geh sofort, diesen Augenblick, hin und stelle dich auf einen Kreuzweg; beuge dich nieder und küsse zuerst die Erde, die du besudelt hast, und dann verbeuge dich demütig vor aller Welt, nach allen vier Himmelsrichtungen, und sage dabei jedesmal laut: ›Ich habe gemordet!‹ Dann wird dir Gott neues Leben gewähren. Wirst du hingehen? Wirst du hingehen?« fragte sie ihn, am ganzen Körper wie in einem Fieberanfall zitternd, ergriff seine beiden Hände, drückte sie fest in den ihrigen und sah ihn mit glühendem Blicke an.

Er war verwundert und geradezu bestürzt über ihre plötzliche Verzücktheit.

»Du sprichst von der Zwangsarbeit, Sonja, wie? Du meinst, ich soll mich selbst anzeigen?«

»Du sollst das Leid auf dich nehmen und dadurch deine Sünde abbüßen; das ist’s, was du tun mußt.«

»Nein, Sonja, ich gehe nicht zu den Behörden hin.«

»Aber wie willst du denn sonst weiterleben? Wie willst du denn weiterleben mit einer solchen Last?« rief Sonja. »So geht das doch nicht weiter! Wie willst du denn mit deiner Mutter reden? Ach, was wird jetzt aus denen werden! Aber was rede ich! Du hast dich ja schon von deiner Mutter und von deiner Schwester losgesagt, hast sie verlassen! O Gott!« rief sie. »Aber das weißt du ja alles selbst! Wie kann man, wie kann man nur so ohne einen Menschen leben! Was wird jetzt aus dir werden!«

»Sei kein Kind, Sonja«, erwiderte er leise. »Welche Schuld habe ich denn den Behörden gegenüber? Warum soll ich zu denen hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das ist ja alles nur ein leeres Hirngespinst! … Sie selbst richten Millionen von Menschen zugrunde und halten das obendrein noch für eine Tugend. Gauner und Schurken sind sie, Sonja! … Ich gehe nicht zu ihnen hin. Und was soll ich ihnen sagen? Daß ich einen Mord begangen, aber nicht gewagt habe, das Geld zu behalten, sondern es unter einem Steine versteckt habe?« fügte er bitter lächelnd hinzu. »Dann werden sie mich sogar noch auslachen und sagen: ›Du bist ein Dummkopf, daß du es nicht behalten hast; ein Feigling und ein Dummkopf!‹ Sie werden gar kein Verständnis für mein Tun haben, Sonja, und sie sind auch gar nicht wert, es zu verstehen. Warum soll ich zu denen hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Sonja …«

»Du wirst dich selbst zu Tode martern, ja, zu Tode martern!« rief sie und streckte in verzweifeltem Flehen die Hände nach ihm aus.

»Vielleicht habe ich mich doch vorhin verleumdet«, bemerkte er düster und in Gedanken versunken, »vielleicht bin ich doch ein Mensch, und keine Laus, und habe es vorhin zu eilig gehabt, mich selbst zu verurteilen. Noch will ich kämpfen.«

Ein hochmütiges Lächeln spielte um seine Lippen.

»Eine solche Qual zu erdulden! Und das ganze Leben lang, das ganze Leben lang!«

»Ich werde mich daran gewöhnen …«, sagte er düster und schwermütig. »Höre«, begann er nach einer Weile von neuem, »laß es nun der Tränen genug sein; es wird Zeit, daß wir etwas Praktisches besprechen: ich bin hergekommen, um dir zu sagen, daß man mir auf der Spur ist und mich fangen möchte.«

»Ach!« rief Sonja erschrocken.

»Nun, warum schreist du? Du möchtest ja selbst, daß ich in die Zwangsarbeit gehe, und nun erschrickst du? Aber das will ich dir sagen: ich ergebe mich ihnen nicht. Ich will noch mit ihnen kämpfen, und sie werden gegen mich nichts ausrichten. Wirkliche Beweise haben sie nicht. Gestern war ich in großer Gefahr und dachte schon, ich wäre verloren; aber heute hat die Sache eine günstige Wendung genommen. Alle ihre Beweise haben ihre zwei Seiten, das heißt, ich kann ihre Beschuldigungen zu meinem Vorteil wenden, verstehst du? Und das werde ich tun; denn das habe ich jetzt gelernt … Aber ins Gefängnis setzen werden sie mich bestimmt. Wäre nicht ein Zufall dazwischengekommen, so hätten sie es vielleicht heute schon getan, oder vielmehr sicher; und vielleicht tun sie es heute noch … Aber das ist weiter nicht schlimm, Sonja; ich werde eine Weile sitzen, und dann werden sie mich wieder freilassen müssen; denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden auch keinen in die Hand bekommen, mein Wort darauf. Und auf Grund des Materials, über das sie verfügen, können sie einen Menschen nicht verurteilen. Nun genug … Ich habe dir das bloß sagen wollen, damit du es weißt … Was meine Schwester und meine Mutter anlangt, so will ich es so einzurichten suchen, daß sie der Beschuldigung keinen Glauben schenken und sich nicht um mich ängstigen. Übrigens ist meine Schwester jetzt, wie es scheint, gut versorgt und damit zugleich auch meine Mutter … Nun, das ist alles. Übrigens, sei vorsichtig! Wirst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich dort sitze?«

»O gewiß, ich komme sicher!«

Sie saßen beide nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie allein nach einem Sturm von den Wogen an ein menschenleeres Gestade geworfen worden. Er blickte Sonja an und fühlte, wie innig sie ihn liebte, und seltsamerweise war es ihm auf einmal eine drückende, schmerzliche Empfindung, sich so geliebt zu wissen. Ja, es war eine seltsame, furchtbare Empfindung! Als er zu Sonja hingegangen war, da hatte er gefühlt, daß auf ihr seine ganze Hoffnung beruhte und daß er bei ihr einen Ausweg finden werde; er hatte gemeint, sich wenigstens einen Teil seiner Qualen von der Seele wälzen zu können, und jetzt, wo ihr ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er auf einmal, daß er unvergleichlich viel unglücklicher geworden war als vorher.

»Sonja«, sagte er, »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im Gefängnis bin.«

Sonja antwortete nicht; sie weinte. So vergingen einige Minuten.

»Trägst du ein Kreuz?« fragte sie ihn unvermittelt, als wenn ihr das soeben eingefallen wäre.

Er verstand die Frage nicht sofort.

»Nein? Also nein? – Da, nimm dieses hier; es ist von Zypressenholz. Ich habe noch ein andres, ein kupfernes, das habe ich von Lisaweta bekommen. Lisaweta und ich, wir haben getauscht; sie hat mir ein Kreuz gegeben und ich ihr ein Heiligenbildchen. Ich werde nun Lisawetas Kreuz tragen, und dieses hier soll für dich sein. Nimm nur, … es ist ja meines!« bat sie ihn. »Wir werden ja den Leidensweg zusammen gehen; so wollen wir denn auch zusammen das Kreuz tragen!«

»Gib es!« sagte Raskolnikow.

Es wäre ihm schmerzlich gewesen, sie zu betrüben. Aber er zog die Hand, die er schon nach dem Kreuze ausgestreckt hatte, sogleich wieder zurück.

»Jetzt nicht, Sonja. Lieber später«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen.

»Ja, ja, später, das wird besser sein!« stimmte sie ihm mit Wärme und Lebhaftigkeit bei. »Wenn du das Leid auf dich nehmen wirst, dann lege das Kreuz an. Dann komm zu mir, ich werde es dir umhängen, und dann wollen wir beten und unsern Weg wandeln.«

In diesem Augenblicke wurde dreimal an die Tür geklopft.

»Sofja Semjonowna, darf ich eintreten?« fragte eine sehr bekannte, höfliche Stimme.

Sonja lief erschrocken zur Tür. Herrn Lebesjatnikows hellblonder Kopf blickte in das Zimmer herein.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 31

V

Lebesjatnikow sah sehr aufgeregt aus.

»Ich komme zu Ihnen, Sofja Semjonowna. Entschuldigen Sie! … Ich dachte mir schon, daß ich auch Sie hier treffen würde«, fuhr er, zu Raskolnikow gewendet, fort, »das heißt, ich dachte durchaus nichts … Derartiges, … sondern ich dachte nur … Bei uns ist … Katerina Iwanowna ist plötzlich irrsinnig geworden«, sagte er kurz und hastig, indem er sich von Raskolnikow an Sonja wendete.

Sonja schrie auf.

»Das heißt, wenigstens scheint es so. Indessen … Wir wissen gar nicht, was wir machen sollen, sehen Sie! Sie kam zurück – sie war, wie es schien, irgendwo aus dem Hause gejagt, vielleicht sogar geschlagen worden, … wenigstens scheint es so … Sie war zu dem Chef des verstorbenen Semjon Sacharowitsch gelaufen, hatte ihn aber nicht zu Hause getroffen, er war bei einer andern Exzellenz zum Diner … Und denken Sie sich, sie rannte dann ohne weiteres dorthin, wo das Diner stattfand, … zu der andern Exzellenz, und denken Sie sich nur, sie setzte es mit ihrer Hartnäckigkeit durch, daß man ihr Semjon Sacharowitschs früheren Chef herausrief, sogar vom Tische weg, wie es scheint. Sie können sich denken, was dann für eine Szene folgte. Sie wurde natürlich hinausgejagt; nach ihrer eigenen Darstellung hat sie den Chef beschimpft und mit etwas nach ihm geworfen. Zuzutrauen ist es ihr sehr wohl … Daß man sie nicht festgenommen hat, ist mir unbegreiflich! Jetzt erzählt sie die Geschichte allen Leuten, auch der Wirtin Amalia Iwanowna; aber es ist schwer, daraus klug zu werden, denn sie schreit und gebärdet sich wie rasend … Ach ja: sie schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, so werde sie die Kinder nehmen und mit ihnen auf die Straße gehen; sie werde einen Leierkasten drehen, und die Kinder sollten singen und tanzen, und sie werde das auch tun und Geld einsammeln, und jeden Tag würden sie vor die Fenster des Chefs ziehen. ›Sollen alle Menschen es sehen‹, sagt sie, ›wie die Kinder eines achtbaren Beamten auf der Straße betteln gehen.‹ Die Kinder schlägt sie, und die weinen jämmerlich. Sie lehrt die kleine Lida ›Das Dörfchen‹ singen, und den Knaben und Polenjka unterweist sie im Tanzen; alle Kleider zerreißt sie und macht den Kindern daraus Mützen, wie sie die Straßenkomödianten tragen. Sie selbst will eine Blechschüssel nehmen, um darauf zu schlagen, als Musik … Auf Zureden hört sie gar nicht … Denken Sie nur, was soll das werden? Das geht doch nicht so!«

Lebesjatnikow hätte seinen Bericht noch fortgesetzt; aber Sonja, die ihm mit stockendem Atem zugehört hatte, griff hastig nach ihrer Mantille und ihrem Hute und eilte aus dem Zimmer, sich im Laufen ankleidend. Nach ihr verließ Raskolnikow das Zimmer und hinter diesem auch Lebesjatnikow.

»Sie ist ganz bestimmt verrückt geworden«, sagte er zu Raskolnikow, als er mit ihm zusammen auf die Straße hinaustrat. »Ich wollte nur Sofja Semjonowna nicht zu sehr erschrecken und sagte darum: ›es scheint so‹; aber es ist zweifellos so. Man sagt, es bilden sich bei der Schwindsucht Tuberkeln im Gehirn; schade, daß ich von Medizin nichts verstehe. Übrigens habe ich versucht, die Frau zu einer klaren Auffassung zu bringen; aber sie hört auf nichts.«

»Sie haben ihr von den Tuberkeln gesprochen?«

»Das heißt, von den Tuberkeln eigentlich nicht. Sie würde doch nichts davon verstanden haben! Aber was ich meine, ist dies: wenn man einen Menschen auf logische Weise überzeugt, daß er in Wirklichkeit keinen Grund zum Weinen hat, so wird er aufhören zu weinen. Das ist klar. Oder sind Sie der Ansicht, daß er nicht aufhören wird?«

»Dadurch würde einem das Leben allerdings wesentlich erleichtert werden«, antwortete Raskolnikow.

»Erlauben Sie, erlauben Sie; gewiß, dieser Frau Katerina Iwanowna fällt das Verständnis recht schwer; aber haben Sie nicht davon gehört, daß man in Paris bereits ernsthafte Versuche hinsichtlich der Möglichkeit, Irrsinnige lediglich vermittelst logischer Überzeugung zu heilen, angestellt hat? Ein dortiger Professor, der vor kurzem gestorben ist, ein sehr achtenswerter Gelehrter, ist auf den Gedanken gekommen, daß auf diesem Wege eine Heilung möglich sei. Sein Grundgedanke ist der, daß eine besondere Zerrüttung des Organismus bei den Irrsinnigen nicht vorliege, sondern daß der Irrsinn sozusagen ein logischer Fehler, ein Fehler der Urteilskraft, eine inkorrekte Art, die Dinge anzuschauen, sei. Er widerlegte also einen Kranken Schritt für Schritt, und denken Sie sich, er erzielte dabei, wie es heißt, gute Resultate. Aber da er außerdem auch Duschen zur Anwendung brachte, so unterliegen die Resultate dieser Heilmethode allerdings noch einigem Zweifel … Wenigstens scheint es so …«

Raskolnikow hörte ihm schon längst nicht mehr zu. Als er bei seinem Hause angelangt war, nickte er seinem Begleiter zu und bog in den Torweg ein. Lebesjatnikow kehrte mit seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück, blickte sich um und lief weiter.

Raskolnikow trat in sein Kämmerchen und blieb in der Mitte stehen. Er fragte sich, warum er hierher zurückgekehrt sei. Er betrachtete diese gelblichen, abgenutzten Tapeten, diesen Staub, sein Sofa … Vom Hofe her ertönte ein scharfes, ununterbrochenes Klopfen, als wenn irgendwo ein großer Nagel eingeschlagen würde … Er trat ans Fenster, stellte sich auf die Zehen und blickte lange, anscheinend mit großer Aufmerksamkeit, auf dem Hofe umher. Aber der Hof war leer und der Klopfende nicht zu sehen. Links, im Seitengebäude, sah er hier und da ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Blumentöpfe mit kümmerlichen Geranien. An den Fenstern war Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Diese ganze Szenerie kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa.

Noch niemals, noch niemals hatte er sich so entsetzlich einsam gefühlt!

Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht wirklich dahin kommen werde, Sonja zu hassen, und gerade jetzt, wo er sie noch unglücklicher gemacht hatte.

Wie unverantwortlich, daß er zu ihr hingegangen war, um ihr Tränen des Mitleids zu erpressen! Warum mußte er ihr durchaus das Leben noch bitterer machen? Oh, welche Gemeinheit!

›Ich will allein bleiben!‹ sagte er sich plötzlich entschlossen. ›Sie soll nicht zu mir ins Gefängnis kommen!‹

Etwa fünf Minuten darauf hob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es war ihm ein merkwürdiger Gedanke gekommen: ›Vielleicht ist es bei der Zwangsarbeit tatsächlich besser!‹

Er wußte nicht, wie lange er so in seiner Kammer gesessen und sich den unklaren Gedanken hingegeben hatte, die sich in seinem Kopfe drängten. Da öffnete sich plötzlich die Tür, und herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zuerst stehen und betrachtete ihn von der Schwelle aus, gerade wie er es vor kurzem mit Sonja gemacht hatte; dann trat sie näher und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl, auf ihren gestrigen Platz. Er sah sie schweigend und anscheinend gedankenlos an.

»Sei nicht böse, Bruder, ich bin nur auf einen Augenblick hergekommen«, sagte Dunja.

Der Ausdruck ihres Gesichtes war ernst, aber nicht finster, ihr Blick klar und ruhig. Raskolnikow sah, daß auch sie ihn liebte und aus Liebe hergekommen war.

»Bruder, ich weiß jetzt alles, alles. Dmitrij Prokofjitsch hat mir alles erzählt und erklärt. Man verfolgt und quält dich auf Grund eines dummen, schändlichen Verdachtes. Dmitrij Prokofjitsch hat mir gesagt, es sei gar keine Gefahr vorhanden, und du tätest unrecht, dich über die Sache so aufzuregen. Ich denke anders und begreife vollkommen, wie empört alles in dir ist, und daß diese heftige Gemütsbewegung für das ganze Leben Nachwirkungen bei dir zurücklassen kann. Das ist’s, was mir Sorge macht. Dafür, daß du uns verlassen hast, verdamme ich dich nicht und darf ich dich nicht verdammen; verzeih mir, daß ich dir gestern deswegen einen Vorwurf gemacht habe. Ich habe, was mich selbst angeht, das Gefühl, daß auch ich von allen weggehen würde, wenn ich einen so großen Kummer hätte. Der Mutter werde ich von diesem deinem Grunde nichts sagen; aber ich werde immer von dir sprechen und ihr in deinem Namen sagen, du würdest sehr bald wieder zu uns kommen. Mache dir also um sie keine Sorge; ich werde sie schon beruhigen. Aber bereite ihr auch nicht zu viel Qual; komm wenigstens noch einmal zu ihr; denke daran, daß sie deine Mutter ist! Jetzt bin ich nur hergekommen, um dir zu sagen« (hier stand Dunja auf), »wenn ich dir irgendwie nützen kann, … selbst mit meinem Leben, … mit allem, … so rufe mich; ich werde kommen. Leb wohl!«

Sie wendete sich eilig um und ging zur Tür. Aber Raskolnikow, der aufstand und zu ihr trat, hielt sie noch zurück.

»Dunja«, sagte er, »dieser Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.«

Dunja errötete ein wenig.

»Nun?« fragte sie, nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte.

»Er ist ein praktischer, arbeitsfreudiger, ehrenhafter Mensch und fähig, jemand mit aller Kraft seines Herzens zu lieben … Leb wohl, Dunja.«

Dunja wurde blutrot; aber dann geriet sie auf einmal in große Unruhe.

»Aber, Bruder, was bedeutet denn das? Trennen wir uns etwa wirklich fürs ganze Leben, daß du solche … Vermächtnisworte zu mir sprichst?«

»Mag es kommen, wie es will … Leb wohl …«

Er wendete sich um und trat von ihr weg ans Fenster. Sie blieb noch einen Augenblick stehen, sah beunruhigt nach ihm hin und ging dann in tiefer Erregung hinaus.

Nicht aus Kälte benahm er sich so gegen sie. Es war ein Augenblick, der letzte, gewesen, wo es ihn heiß verlangt hatte, sie innig zu umarmen und von ihr Abschied zu nehmen und ihr sogar alles zu sagen; aber er hatte sich nicht einmal entschließen können, ihr die Hand zu geben.

›Später würde sie vielleicht gar zusammenschaudern, wenn sie sich erinnerte, daß ich sie jetzt umarmt hätte, und würde sagen, ich hätte einen Kuß von ihr erschlichen!‹

›Und wird ein Mädchen wie sie, wenn sie über mich die Wahrheit erfährt, es ertragen?‹ fügte er nach einigen Minuten in Gedanken hinzu. ›Nein, sie wird es nicht ertragen; solche Charaktere können so etwas nicht ertragen! Solche Charaktere ertragen so etwas niemals …‹

Er dachte an Sonja.

Vom Fenster her wehte es kühl herein. Draußen war es nicht mehr so blendend hell. Er nahm seine Mütze und ging hinaus.

Freilich konnte und wollte er sich um seinen krankhaften Zustand nicht kümmern; aber all diese unaufhörliche Beängstigung und diese ganze seelische Erregung konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem richtigen Nervenfieber krank lag, so kam das vielleicht gerade daher, daß diese innere fortwährende Aufregung ihn, wenn auch nur in unnatürlicher Weise und nur vorläufig, auf den Füßen und bei Bewußtsein hielt.

Er irrte ziellos umher. Die Sonne ging unter. Es hatte sich bei ihm in der letzten Zeit eine eigentümliche Angst eingestellt. Diese Empfindung hatte nichts Stechendes, Brennendes; aber es lag in ihr so etwas Dauerndes, Lebenslängliches, ein Vorgefühl endloser Jahre voll kalten, starren Grames, ein Vorgefühl einer lebenslänglichen Existenz auf jener »schmalen Felsenplatte«. Um die Abendzeit pflegte ihn diese Empfindung noch heftiger zu peinigen als am Tage.

›Und mit solchen törichten, rein physischen Schwächezuständen, die vom Sonnenuntergang und ähnlichen Dingen abhängen, soll nun einer sich davor in acht nehmen, Dummheiten zu machen! In solchem Zustande brächte ich es fertig, nicht bloß zu Sonja, sondern sogar zu Dunja hinzugehen!‹ murmelte er ingrimmig.

Es rief ihn jemand mit seinem Namen an; er wendete sich um; Lebesjatnikow eilte auf ihn zu.

»Denken Sie nur, ich war eben in Ihrer Wohnung, ich suchte Sie. Denken Sie nur, sie hat ihre Absicht zur Ausführung gebracht und die Kinder mit sich fortgenommen. Sofja Semjonowna und ich haben sie nur mit größter Mühe gefunden. Sie selbst schlägt auf eine Pfanne, und die Kinder zwingt sie zu tanzen. Die Kinder weinen. An den Straßenecken und vor den Läden machen sie halt. Allerlei törichtes Volk läuft hinter ihnen her. Kommen Sie nur!«

»Und Sonja?« fragte Raskolnikow besorgt.

»Sie ist geradezu von Sinnen. Das heißt, nicht Sofja Semjonowna ist von Sinnen, sondern Katerina Iwanowna; übrigens ist auch Sofja Semjonowna wie von Sinnen. Aber Katerina Iwanowna ist ganz und gar von Sinnen. Ich sage Ihnen, sie ist vollständig verrückt. Man wird sie und die Kinder noch auf die Polizei bringen. Sie können sich denken, was das auf die Frau für eine Wirkung haben wird … Sie sind jetzt am Kanal bei der …schen Brücke, gar nicht weit von Sofja Semjonownas Wohnung. Es ist ganz nahe von hier.«

Am Kanal, nicht weit von der Brücke und nur zwei Häuser vor dem Hause, wo Sonja wohnte, stand ein dichter Haufen Volk. Namentlich waren Knaben und Mädchen zusammengeströmt. Schon von der Brücke aus konnte man Katerina Iwanownas heisere, kreischende Stimme hören. ihren Husten und brach sogar in Tränen aus. Am allermeisten regte sie sich aber über das Weinen und die Angst der beiden Kleinen, Kolja und Lida, auf. Sie hatte wirklich den Versuch gemacht, die Kinder mit einem Putz auszustaffieren, wie ihn die Straßensänger und Straßensängerinnen tragen. Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Zeug auf dem Kopfe und sollte damit einen Türken vorstellen. Für Lida hatte es an einem derartigen Putze gemangelt; sie hatte nur ein rotes, aus Wolle gestricktes Käppchen des verstorbenen Semjon Sacharowitsch auf (genau gesagt: seine Nachtmütze), und an dieses Käppchen war ein Stück von einer weißen Straußenfeder gesteckt; diese hatte noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört, und das davon übrige Stück war bisher als Familienkostbarkeit im Kasten aufbewahrt worden. Polenjka trug ihre gewöhnliche Kleidung. Sie blickte schüchtern und verstört ihre Mutter an, wich ihr nicht von der Seite, verbarg ihre Tränen, ahnte den Irrsinn ihrer Mutter und blickte unruhig um sich. Die Straße und die Menge von Menschen ängstigten sie sehr. Sonja ging immer dicht hinter Katerina Iwanowna her; sie weinte und beschwor sie fortwährend, doch nach Hause zurückzukehren. Aber Katerina Iwanowna blieb unerbittlich.

»Hör auf, Sonja!« rief sie in schnellem Redestrom, hastig, keuchend und hustend. »Du weißt selbst nicht, worum du mich bittest; du bist wie ein Kind! Ich habe dir schon gesagt, daß ich zu diesem trunksüchtigen deutschen Frauenzimmer nicht wieder zurückkehre. Mögen alle sehen, mag ganz Petersburg sehen, wie die Kinder eines vornehmen Mannes, der sein ganzes Leben lang treu und ehrlich gedient hat und, man kann sagen, bei seiner Amtstätigkeit gestorben ist, wie dessen Kinder betteln gehn müssen.« (Katerina Iwanowna hatte sich diese phantastische Geschichte ersonnen und glaubte bereits steif und fest an deren Wahrheit.) »Mag es dieser nichtswürdige hohe Chef sehen! Und du bist ja auch töricht, Sonja: was sollen wir denn jetzt essen, sag mal? Wir haben dich genug ausgesogen; ich will das nicht länger! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind da!« rief sie, als sie Raskolnikow erblickte, und stürzte zu ihm hin. »Bitte, setzen Sie doch diesem Närrchen auseinander, daß dies das klügste war, was wir tun konnten. Sogar die Leierkastenmänner verdienen so viel, daß sie davon leben können; uns aber werden alle Leute sofort als etwas Besseres erkennen; sie werden merken, daß wir eine unglückliche vornehme Familie sind, die ihren Ernährer verloren hat und an den Bettelstab gebracht wurde. Diese Exzellenz, dieser Kerl, wird seine Stelle verlieren; das werden Sie sehen! Alle Tage werden wir zu ihm vors Fenster gehen, und wenn der Kaiser vorbeifährt, dann will ich mich auf die Knie werfen und ihm die Kinder alle hinstellen und auf sie hinweisen und sagen: ›Schütze sie, du Vater deines Volkes!‹ Er ist ein Vater der Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen; das werden Sie sehen! Aber diese Exzellenz … Lida! Tenez-vous droite! Kolja, du sollst gleich wieder tanzen! Was plärrst du denn? Er plärrt schon wieder! Nun, warum fürchtest du dich denn, du kleiner Dummrian! O Gott, was soll ich nur mit diesen Kindern anfangen! Wenn Sie wüßten, Rodion Romanowitsch, wie unvernünftig sie sind! Ach, was soll man mit solchen Kindern machen! …«

Sie wies auf die schluchzenden Kinder, und auch ihr selbst war das Weinen nahe, was sie jedoch an ihrem ununterbrochenen, schnellen Reden nicht hinderte. Raskolnikow versuchte, sie zur Umkehr nach Hause zu bewegen, in der Hoffnung, dadurch auf ihr Ehrgefühl zu wirken, sagte er ihr sogar, es schicke sich nicht für sie, wie eine Drehorgelspielerin auf den Straßen herumzuziehen, da sie doch Vorsteherin eines vornehmen Mädchenpensionates zu werden beabsichtige.

»Ein Pensionat, ha-ha-ha! Das sind Luftschlösser!« rief Katerina Iwanowna, mußte aber sogleich nach dem Lachen heftig husten. »Nein, Rodion Romanowitsch, mit dieser … Aber wir können doch nicht in einem fort ›Das Dörfchen‹ und ›Das Dörfchen‹ singen, und das singen ja auch alle! Wir müssen etwas Vornehmeres singen … Nun, was hast du dir ausgedacht, Polenjka? Du solltest doch deiner Mutter behilflich sein! Ich habe gar kein Gedächtnis mehr, gar kein Gedächtnis; sonst würde mir schon etwas einfallen! Wir können doch nicht singen: ›Husaren, schwingt die Säbel!‹ Ach, wißt ihr was, wir wollen französisch singen: ›Cinq sous!‹ Das habe ich euch ja beigebracht. Und was die Hauptsache ist: da es französisch ist, so sehen alle Leute sogleich, daß ihr vornehme Kinder seid, und das hat eine viel rührendere Wirkung … Wir könnten auch ›Marlborough s’en va-t-en guerre!‹ singen; denn das ist geradezu ein Kinderlied, geradezu ein Kinderlied und wird in allen aristokratischen Häusern dazu benutzt, die Kinder in Schlaf zu singen:

›Marlborough s’en va-t-en guerre,
Ne sait quand reviendra …‹«

begann sie zu singen. »Nein, wir wollen doch lieber ›Cinq sous‹ singen. Nun, Kolja, leg die Hände auf die Hüften und dreh dich, recht flink, und du, Lida, dreh dich auch, in entgegengesetzter Richtung, und ich und Polenjka, wir werden dazu singen und den Takt klatschen!

›Cinq sous, cinq sous
Pour monter notre ménage.‹

Kche-kche-kche!« (Ein heftiger Husten schüttelte sie.) »Bring dein Kleid in Ordnung, Polenjka; es ist dir an den Schultern heruntergerutscht«, bemerkte sie mitten in dem Hustenanfalle, als sie einmal Atem schöpfte. »Jetzt ist es ganz besonders nötig, daß ihr euch recht anständig haltet und nach allen Regeln des guten Tones benehmt, damit alle Leute sehen, daß ihr vornehme Kinder seid. Ich hatte damals gleich gesagt, das Mieder sollte länger zugeschnitten und die Leinwand doppelt genommen werden; aber da kamst du, Sonja, mit deinen Ratschlägen dazwischen: ›Kürzer, kürzer!‹ Nun, was ist dabei herausgekommen? Daß das Kind ganz verunstaltet aussieht … Na, nun weint ihr ja wieder alle! Was habt ihr denn, ihr dummen Kinder? Nun, Kolja, fang an, recht flink, recht flink – ach, was ist das für eine Plage mit dem Kinde! …

›Cinq sous, cinq sous …‹

Schon wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du denn von uns?«

Wirklich drängte sich ein Schutzmann durch den Menschenschwarm hindurch. Aber gleichzeitig näherte sich ihr ein Herr von etwa fünfzig Jahren, im Uniformmantel eines höheren Beamten, mit einem Orden am Halse (dieser letztere Umstand war Katerina Iwanowna besonders erwünscht und verfehlte auch auf den Schutzmann seine Wirkung nicht), und reichte ihr schweigend einen Dreirubelschein. Der Ausdruck seines Gesichtes bekundete aufrichtiges Mitleid.

Katerina Iwanowna nahm den Schein und verbeugte sich höflich, fast zeremoniell, vor dem Geber.

»Ich danke Ihnen, gnädiger Herr.«, begann sie in gewichtigem Tone. »Die Gründe, die uns bewegen haben … Hier, nimm das Geld, Polenjka. Siehst du, es gibt noch edle, großmütige Menschen, die sich sofort bereit finden, einer armen vornehmen Dame im Unglücke zu helfen. Gnädiger Herr, Sie sehen hier vaterlose Waisen vor sich, aus vornehmer Familie, man kann sogar sagen: mit hocharistokratischer Verwandtschaft … Aber dieser Schuft, der frühere Chef meines Mannes, saß da und speiste Haselhühner, … mit den Füßen hat er getrampelt, weil ich ihn störte … ›Euer Exzellenz‹, sagte ich, ›beschützen Sie uns hilflose Hinterbliebene; Sie haben ja den verstorbenen Semjon Sacharowitsch gut gekannt. Heute an seinem Begräbnistage ist seine leibliche Tochter von dem schuftigsten aller Schufte verleumdet worden …‹ Schon wieder dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!« rief sie dem hohen Beamten zu. »Warum belästigt mich dieser Schutzmann? Wir haben uns eben erst vor einem aus der Meschtschanskaja-Straße hierhergeflüchtet … Was geht dich das an, was wir hier tun, du Dummkopf!«

»Das ist auf der Straße nicht erlaubt. Machen Sie keinen Unfug.«

»Du machst selbst Unfug! Ich tue ganz dasselbe wie die Leierkastenmänner; was geht es dich an?«

»Zum Herumziehen mit einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben; Sie veranlassen aber sowieso schon durch Ihr Benehmen einen Volksauflauf. Wo wohnen Sie?«

»Was? Eine Erlaubnis?« schrie Katerina Iwanowna. »Ich habe heute meinen Mann begraben; was brauche ich da noch für eine Erlaubnis!«

»Beruhigen Sie sich, Madame, beruhigen Sie sich!« begann der hohe Beamte. »Kommen Sie, ich will Sie nach Hause begleiten … Hier vor allen Leuten, das schickt sich doch nicht … Sie sind krank …«

»Gnädiger Herr, gnädiger Herr, Sie wissen ja gar nicht, was wir vorhaben!« rief Katerina Iwanowna. »Wir wollen nach dem Newskij-Prospekt gehen … Sonja, Sonja! Aber wo ist sie denn? Sie weint auch! Was habt ihr denn nur alle? … Kolja, Lida, wo wollt ihr hin?« rief sie plötzlich erschrocken. »Ach, die dummen Kinder! Kolja, Lida! Wo laufen sie denn hin? …«

Kolja und Lida hatten sich schon vorher infolge des Menschenauflaufs auf der Straße und des sonderbaren Benehmens der irrsinnigen Mutter in größter Angst befunden, und als sie nun schließlich den Schutzmann sahen, der sie anfassen und wegführen wollte, ergriffen sie auf einmal wie auf Verabredung einander bei den Händen und rannten davon. Schreiend und weinend eilte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war ein trauriger, kläglicher Anblick, dieses hastig laufende, weinende und keuchende Weib. Sonja und Polenjka liefen hinter ihr her.

»Hol sie zurück, hol sie zurück, Sonja! Oh, diese dummen, undankbaren Kinder! … Polenjka! Greife sie … Und ich habe doch nur für euch …«

Sie strauchelte im eiligen Laufe und fiel hin.

»Sie hat sich blutig geschlagen! O Gott!« rief Sonja und beugte sich über sie.

Alle liefen hinzu und drängten sich um sie herum. Raskolnikow und Lebesjatnikow waren ziemlich die ersten bei ihr; auch der hohe Beamte lief hinzu und hinter ihm her der Schutzmann, der »Ach herrjeh!« brummte und mißmutig den Arm schwenkte, im Vorgefühl, daß er von dieser Geschichte noch viele Umstände haben werde.

»Macht, daß ihr wegkommt! Macht, daß ihr wegkommt!« rief er den Leuten zu, die sich herumdrängten, und jagte sie auseinander.

»Sie stirbt!« schrie jemand.

»Sie ist irrsinnig geworden!« meinte ein andrer.

»Gott helfe ihr!« sagte eine Frau und bekreuzigte sich. »Haben sie denn das kleine Mädchen und den Jungen wiedergekriegt? Aha, da bringen sie sie! Die ältere hat sie eingefangen … Nein, diese törichten kleinen Bälge!«

Aber als man Katerina Iwanowna genauer betrachtete, stellte sich heraus, daß sie sich nicht an einem Steine blutig geschlagen hatte, wie dies Sonjas Annahme gewesen war, sondern daß das Blut, von dem das Pflaster gerötet war, sich aus ihrer Brust durch die Kehle ergossen hatte.

»Ich kenne das, ich habe dergleichen schon einmal mit angesehen«, sagte der Beamte leise zu Raskolnikow und Lebesjatnikow. »So geht es bei der Schwindsucht zu: das Blut stürzt hervor und erstickt den Kranken. Einer Verwandten von mir ist es ganz kürzlich ebenso gegangen; ich war selbst dabei; etwa anderthalb Gläser voll Blut, … und plötzlich war es aus … Aber was läßt sich hier tun? Sie wird gleich sterben.«

»Lassen Sie sie dorthin bringen, dorthin, nach meiner Wohnung!« bat Sonja. »Ich wohne hier! … Da, in diesem Hause; das zweite von hier. Nach meiner Wohnung, so schnell wie möglich!« wandte sie sich rechts und links an die Umstehenden. »Holt einen Arzt … O Gott!«

Infolge der Bemühungen des Beamten wurde dies schnell ins Werk gesetzt; sogar der Schutzmann war behilflich, Katerina Iwanowna dorthin zu tragen. Man trug sie, die wie tot war, in Sonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Der Blutsturz dauerte noch fort, aber sie schien wieder zu sich zu kommen. In das Zimmer traten, außer Sonja, gleichzeitig noch Raskolnikow, Lebesjatnikow, der Beamte und der Schutzmann; der letztere hatte vorher noch den Menschenschwarm auseinandergejagt, von dem einige bis an die Tür mitgekommen waren. Polenjka führte Kolja und Lida herein; sie hatte an jeder Hand eines der beiden zitternden und weinenden Kinder. Auch ein großer Teil der Familie Kapernaumow fand sich ein: er selbst, ein lahmer, krummer Mann von sonderbarem Aussehen, mit borstenartigem Kopfhaar und ebensolchem Backenbarte; ferner seine Frau, deren Miene unabänderlich einen Ausdruck von Angst zeigte, und mehrere ihrer Kinder mit starren, beständig erstaunten Gesichtern und offenem Munde. Unter diesem Publikum tauchte plötzlich auch Swidrigailow auf. Raskolnikow blickte ihn erstaunt an, da er nicht begriff, woher er gekommen sein könnte, und sich nicht erinnerte, ihn unter dem Menschenschwarm gesehen zu haben.

Es wurde von einem Arzte und von einem Geistlichen gesprochen. Der Beamte sagte zwar leise zu Raskolnikow, ein Arzt sei jetzt wohl überflüssig, ordnete aber doch an, daß einer geholt werden sollte. Kapernaumow selbst lief hin.

Unterdessen war Katerina Iwanowna wieder zu sich gekommen, und der Blutsturz hatte einstweilen aufgehört. Sie sah mit schmerzlichem, starrem, durchdringendem Blicke die blasse, zitternde Sonja an, die ihr mit einem Tuche die Schweißtropfen von der Stirn abtrocknete; schließlich bat sie, man möchte sie aufrichten. Man setzte sie im Bette auf und hielt sie von beiden Seiten.

»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Hast du sie hergebracht, Polenjka? Oh, ihr dummen Kinderchen! Warum seid ihr fortgelaufen? … Ach!«

Auf ihren vertrockneten Lippen klebte noch Blut. Sie ließ ihre Augen ringsherumwandern und sah sich um.

»Also hier wohnst du, Sonja! Kein einziges Mal bin ich bisher bei dir gewesen … Nun hat es sich so gefügt! …«

Sie blickte sie mit tiefem Grame an.

»Wir haben dich ausgesogen, Sonja! … Polenjka, Lida, Kolja kommt her. Da sind sie alle, Sonja, nimm sie; ich gebe sie in deine Hände, … mit mir ist es aus! … Der Ball ist beendet! …« (Ein mühsamer Atemzug.) »Legt mich hin, laßt mich wenigstens ruhig sterben …«

Man legte sie wieder auf das Kissen.

»Einen Geistlichen habt ihr geholt? … Das war unnötig … Das kostet einen Rubel, und den habt ihr doch gewiß nicht übrig … Sünden habe ich keine … Und Gott muß mir sowieso vergeben; er weiß selbst, wieviel ich gelitten habe! … Und vergibt er mir nicht, nun dann nicht! …«

Sie geriet immer mehr in ein unruhiges Phantasieren hinein. Mitunter fuhr sie zusammen, ließ ihre Augen ringsherumwandern und erkannte alle einen Moment; aber sofort wurde das Bewußtsein wieder von Fieberphantasien abgelöst. Sie atmete röchelnd und nur mühsam; es war, als ob ihr etwas in der Kehle brodelte.

»Ich sagte zu ihm: ›Euer Exzellenz! …‹« rief sie, mußte aber nach jedem Worte eine Pause machen, um Atem zu holen. »Diese Amalia Ludwigowna … Ach, Lida, Kolja! Die Hände auf die Hüften, schnell, schnell, glissez, glissez, pas de Basque! Stampf mit den Füßen auf! … Sei recht graziös!« Dann rezitierte sie aus einem deutschen Liede:

»›Du hast Diamanten und Perlen …‹

Wie geht es doch weiter? Das müßten wir singen …

›Du hast die schönsten Augen …
Mädchen, was willst du mehr? …‹

Na ja! Was willst du mehr? Das wird der Dummkopf auch gerade herausbekommen! … Ach, da ist noch ein andres Lied:

›In einem Tale Daghestans zu heißer Mittagszeit …‹

Ach, dieses Lied habe ich so geliebt; schwärmerisch geliebt habe ich es, Polenjka! Weißt du, dein Vater sang es oft, … als er noch Bräutigam war … Oh, diese schönen Tage! … Das, das sollten wir singen. Nun, wie geht es doch weiter, wie geht es doch weiter? … Ich habe es wahrhaftig vergessen … Könnt ihr mich nicht darauf bringen? Wie war es doch gleich?«

Sie war in gewaltiger Aufregung und versuchte mit aller Kraft, sich aufzurichten. Schließlich begann sie schreiend, mit entsetzlich heiserer, übermäßig angestrengter Stimme zu singen, aber nach jedem Worte fehlte ihr die Luft, und ihre Angst wuchs immer mehr:

»›In einem Tale! … Daghestans! … zu heißer Mittagszeit! … Das Todesblei! … in wunder Brust! …‹

Euer Exzellenz!« jammerte sie plötzlich in herzzerreißender Klage und brach in Tränen aus. »Beschützen Sie die vaterlosen Waisen! Gedenken Sie der Gastfreundschaft, die Sie bei dem verstorbenen Semjon Sacharowitsch genossen haben! … Man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause! …« Qualvoll Luft holend, fuhr sie zusammen, kam auf einmal zur Besinnung und sah alle wie entsetzt an, erkannte aber sogleich Sonja. »Sonja, Sonja!« sagte sie sanft und freundlich, als wundere sie sich, sie vor sich zu sehen. »Liebe Sonja, du bist auch hier?«

Man richtete sie wieder auf.

»Es geht zu Ende! … Meine Zeit ist da! … Leb wohl, du arme Unglückliche! … Nun haben sie die elende Mähre zu Tode gehetzt, … es ging über ihre Kraft!« rief sie voll Haß und Verzweiflung und sank mit dem Kopf auf das Kissen.

Sie verlor wieder die Besinnung; aber diese letzte Bewußtlosigkeit dauerte nicht lange: es trat der Tod ein. Ihr Kopf fiel hintenüber, der Mund in dem blaßgelben, ausgemergeltem Gesicht öffnete sich, die Beine streckten sich krampfhaft aus. Sie seufzte tief, tief auf und starb.

Sonja warf sich über die Leiche, schlang die Arme um sie und verharrte so halb ohnmächtig, den Kopf an die dürre Brust der Toten gelehnt. Polenjka fiel am Fußende des Bettes nieder und küßte die Füße der Mutter unter strömenden Tränen. Kolja und Lida, die noch kein Verständnis für das Geschehene hatten, aber ahnten, daß etwas sehr Schreckliches vorgefallen sein müsse, faßten einander mit beiden Händen an den Schultern, blickten sich wechselseitig starr an, öffneten auf einmal beide gleichzeitig den Mund und fingen an zu schreien. Sie hatten beide noch ihren Putz auf dem Kopfe: der Knabe den Turban, das Mädchen die Kappe mit der Straußenfeder.

Wie war nur jenes Belobigungszeugnis plötzlich auf das Bett neben die Leiche gekommen? Es lag dort neben dem Kopfkissen; Raskolnikow sah es.

Er trat ans Fenster; Lebesjatnikow gesellte sich eilig zu ihm.

»Sie ist tot!« sagte Lebesjatnikow.

In diesem Augenblicke trat auch Swidrigailow heran. »Rodion Romanowitsch«, sagte er, »ich habe dringend ein paar Worte mit Ihnen zu reden.«

Lebesjatnikow räumte ihm sofort den Platz und entfernte sich taktvoll. Swidrigailow führte den erstaunten Raskolnikow noch weiter weg nach der Ecke zu.

»All diese Äußerlichkeiten, ich meine das Begräbnis und das ganze Drum und Dran, nehme ich auf mich. Wissen Sie, es handelt sich dabei doch nur um Geld, und ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich Geld übrig habe. Die beiden kleinen Krabben und diese Polenjka will ich in möglichst guten Waisenanstalten unterbringen und für jedes Kind ein bei erreichter Volljährigkeit auszahlbares Kapital von tausendfünfhundert Rubel deponieren, so daß Sofja Semjonowna über sie ganz beruhigt sein kann. Und auch sie selbst will ich aus dem Pfuhl herausziehen; denn sie ist doch ein gutes Mädchen, nicht wahr? Na, dann teilen Sie also Ihrer Schwester mit, daß ich die ihr zugedachten zehntausend Rubel in dieser Weise verwendet habe.«

»Was für Absichten haben Sie denn bei diesen großartigen Wohltaten?«

»Ach, was sind Sie für ein mißtrauischer Mensch!« erwiderte Swidrigailow lachend. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich diese Geldsumme übrig habe. Na, daß ich es einfach aus Menschenliebe tue, das halten Sie wohl für ausgeschlossen? Aber sie« (er wies mit dem Finger nach der Ecke, wo die Tote lag) »war doch keine Laus wie eine gewisse alte Wucherin. Wenn Sie nun zu entscheiden gehabt hätten, ob Katerina Iwanowna sterben oder Lushin durch den Tod an der Verübung seiner Schändlichkeiten gehindert werden solle, wofür hätten Sie sich entschieden? Und wenn ich hier nicht hülfe, so müßte ja Polenjka diesen selben Weg einschlagen …«

Er sagte das mit lustigem, schlauem Augenzwinkern und blickte unverwandt Raskolnikow an. Dieser wurde blaß und ein Frostgefühl ergriff ihn, als er seine eigenen Ausdrücke, die er Sonja gegenüber gebraucht hatte, wieder hörte. Er wankte zurück und blickte Swidrigailow bestürzt an.

»Wo-woher wissen Sie das?« flüsterte er; der Atem versagte ihm beinahe.

»Ich logiere ja hier, auf der andern Seite dieser Wand, bei Frau Rößlich. Hier wohnt Kapernaumow und nebenan Frau Rößlich, eine alte, treue Freundin von mir. Ich bin Sofja Semjonownas Nachbar.«

»Sie?«

»Allerdings«, fuhr Swidrigailow fort, der sich vor Lachen schüttelte, »und ich kann Ihnen auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie mein lebhaftestes Interesse erweckt haben. Ich habe schon früher einmal gesagt, daß wir einander schon noch nähertreten würden; das habe ich Ihnen vorhergesagt; na, und nun hat sich das verwirklicht. Sie werden sehen, daß ich ein ganz angenehmer Mensch bin und daß es sich mit mir ganz gut auskommen läßt.«

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads